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German Pages 150 [151] Year 2022
Zeitgeschichtliche Forschungen 62
1933 – Die Versuchung der Theologie Von Klaus-Michael Kodalle
Duncker & Humblot · Berlin
KLAUS-MICHAEL KODALLE
1933 – Die Versuchung der Theologie
Zeitgeschichtliche Forschungen Band 62
1933 – Die Versuchung der Theologie
Von
Klaus-Michael Kodalle
Duncker & Humblot · Berlin
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Umschlag: Flaggenhissung des NSD-Studentenbunds an der Berliner Universität, 1938 (© Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo) Alle Rechte vorbehalten
© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 1438-2326 ISBN 978-3-428-18370-8 (Print) ISBN 978-3-428-58370-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Inhaltsverzeichnis Einleitung: 1933 – die Versuchung der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einige Schlaglichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 II. Heiliger Zeitgeist. Eine Vorbemerkung zu den methodischen Grenzen dieser Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 A. Paul Tillich: Auf der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I. 1933: Schwankend zwischen Hoffnung und Enttäuschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 II. Auf der Grenze? Paul Tillichs Verhältnis zum Existentialismus . . . . . . . . . . . . . 19 1. Einleitung: Tillich im Spannungsfeld Kierkegaards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Macht-orientierte Daseinsanalytik. Tillichs begründungsschwache Option für den Vorrang kollektiven Einheitsdranges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3. Die ontologische Priorität von Substanz/Gehalt gegenüber Subjekt/Form . . . 30 4. Macht und Machtverzicht im Kontext ambivalenter Weltstaat-Spekulation
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5. Geschichtstheologie: ,metaphysischer Positivismus‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 6. Christologie: ästhetische Unterbietung des Paradoxes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 B. Emmanuel Hirsch: Nationalsozialistische Existenztheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 I. Nationalsozialistische Existenztheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 II. Mit und gegen Søren Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 C. Karl Heim: Der Wunsch nach Identifizierbarkeit des göttlichen Willens . . . . . . . 60 I. Gegen die Selbstgenügsamkeit der Theologie – für Bewährung im kritischen Diskurs und im Kraftfeld des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 II. Identifizierbarkeit des Göttlichen? Karl Heims Rückfall in Theologisches Wunschdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2. Die unbewusste Dynamik des Einheitsbedürfnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3. Die offene Wunde. Das ,Paradox‘ im Apriori der ,Dimensionen‘ . . . . . . . . . . 64 4. Kontingenzflucht: Die Forderung nach Identifizierbarkeit des Göttlichen und der Wille zur Selbst-Preisgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
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Inhaltsverzeichnis 5. Plädoyer für eingreifende Praxis im Zeichen theologischer Endsieg-Visionen. Gottes ,Ja zum Volkskörper‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 6. Ohnmacht Gottes als Ärgernis. Religiöse Durchhalteparolen im Horizont sicherheitsfixierter Enderwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 7. Die Warum-Frage – „in den Mund zurückgestoßen“. Die Reaktion Bonhoeffers auf Karl Heim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
D. Hans Michael Müller: Nachmetaphysische Theologie – nationalsozialistisch . . . . 83 I. Einleitende Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 II. Unvermeidlicher Individualismus – unvermeidbarer Antagonismus. Die Potenzierung der Militanz durch Glauben und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 III. Ansätze zu einer Kritik des militanten Polytheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 IV. Paradox-Christologie und Systematiken als Dialekte der Heilssucht. Müller im Bezugsfeld von Kierkegaard und Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 V. „Erschreckende Lieblichkeit“: Die Last der Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst. Maßlose Wahrhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 VI. Die unaufhebbare Machtstruktur des Lebens – Der Tod Jesu als Besiegelung und Verklärung eines praxis-immunen Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 VII. Der Einzelne als Opfer der Willkür des Machthaber-Gottes. Eine suizidäre Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 VIII. Gesellschaft als Raum profaner Sachlichkeit und antagonistischer Willensdynamik – Gemeinde als Kraftfeld der Verbundenheit und Spielraum der Freiheit 101 IX. Politische Prophetie als Parteinahme – ,vor dem Evangelium her…‘ . . . . . . . . . 104 X. Die Konstellation von Opferbereitschaft – Geborgenheitssehnsucht – Autoritätshörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 XI. Vom Staatsfeind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 XII. Vitalismus und Drang zur Hingabe an den ,letzten Sinn‘. Generalabsolution aus dem Geist des Evangeliums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Nachtrag: Zur Kritik Müllers an Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 E. Gerhardt Kuhlmann: Aufhebung der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 I. Fragmente einer Biografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 II. Holzwege der Selbstsicherung und einige Sackgassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Inhaltsverzeichnis
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III. Das nichtige Dasein in seiner Transzendenzdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 IV. Der Zusammenbruch des Gesetzes der Verallgemeinerung: Eine divinatorische Rechtfertigung des scheiternden Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 V. Gemeinschaft, Gemeinsamkeiten, das „Sein In der Mitte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 F. Erik Peterson: Der Kierkegaard-Impuls – Abschied vom Protestantismus . . . . . 138 Nachwort: Andeutung einer theologischen Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
Einleitung: 1933 – die Versuchung der Theologie Je größer der zeitliche Abstand zu einer Epoche schwerer Krisen und schuldhafter Verstrickungen ist, desto eindeutiger in moralischer Perspektive wird das Urteil der Zeitgenossen. Sie kennen schließlich nur noch Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Opfer und Täter. Am Ende ist dann jeder, der beispielsweise Mitglied der NSDAP war, angesichts der grauenvollen Geschichte als Verbrecher einzustufen… Es entsteht ein eigentümlich lineares Geschichtsbild, welches – fixiert auf das entsetzliche Geschehen des Zivilisationsbruchs (Holocaust / Shoa) – sich das Verständnis für die Komplexität des Geschichtsprozesses und damit auch das wirkliche Verstehen der Umbruchphase 1932/33 verstellt. Die denkenden und handelnden Personen in dieser Umbruchzeit erscheinen dann sämtlich als potenzielle Verbrecher. Das Label ,NSDAP-Mitglied‘ reicht dann schon zur Abqualifizierung aus. Lernprozesse, die Enthusiasten eines revolutionären Aufbruchs zu neuen Ufern womöglich schließlich in den Widerstand führten und an den Galgen brachten, sind dann natürlich auch nicht einem wirklichen Verstehen zugänglich. Die historischen Konstellationen und ihre Schubkräfte bleiben irgendwie abständig, rätselhaft fremd, opak. Ein Verstehen der Ambivalenzen des geschichtlichen Augenblicks, in dem sich jeder Intellektuelle so oder so zu entscheiden hatte, ist dann überhaupt nicht mehr möglich. Dann ist nur noch Verurteilung angesagt. Die Imagination, man selbst hätte zu den Enthusiasten gehört und hätte in diesem Geschichtsaugenblick sich womöglich auch vom massenhaften Enthusiasmus infizieren lassen, ist dann gar nicht mehr zugänglich. Eine Bemerkung des jüdischen Philosophen Jacob Taubes kann – im Blick auf die Urteilsbildung und richtende Überheblichkeit der Nachgeborenen – zu produktiver Verwirrung beitragen. Hier also ein Selbstgespräch: „Und da hab’ ich mir gesagt: Hör mal, Jacob, du bist nicht der Richter, gerade als Jude bist du nicht der Richter […]“. Und weiter: „Du bist nicht der Richter, denn als Jude warst du nicht in der Versuchung. Wir waren in dem Sinne begnadet, daß wir gar nicht dabei sein konnten. Nicht, weil wir nicht wollten, sondern weil man uns nicht ließ.“ „[I]ch kann nicht sicher über mich selbst sein, ich kann nicht sicher über irgendeinen sein, daß er vom Infekt der nationalen Erhebung nicht angesteckt wird und ein oder zwei Jahre verrücktspielt, hemmungslos“.1
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J. Taubes, Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin 1987, 259.
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Einleitung
I. Einige Schlaglichter Der Musikwissenschaftler, Psychologe und Philosoph Kurt Huber, der das letzte Flugblatt der ,Weißen Rose‘ entworfen hatte und 1943 enthauptet wurde, war sogar erst 1940 der NSDAP beigetreten. Er war durchaus infiziert von der Begeisterung des nationalsozialistischen Aufbruchs und nicht zuletzt von der Frontstellung gegen den Bolschewismus. Der aus Osnabrück stammende Jurist Hans Calmeyer (1903 – 1972) amtierte als Referent zur Klärung rassischer Zweifelsfälle bei der deutschen Besatzungsverwaltung in Den Haag – und sabotierte nach Kräften die Maßnahmen zur „Endlösung“ der Judenfrage.2 Tausenden von Juden rettete er durch die Ausstellung entsprechender Dokumente das Leben. Der Hamburger Kaufmann John Rabe, ein überzeugter Nazi und Direktor von Siemens in China, hat in Nanjing, der damaligen Hauptstadt Chinas, Tausenden von Chinesen unter der Hakenkreuzfahne das Leben vor den die Zivilbevölkerung bombardierenden und massakrierenden, mit Deutschland verbündeten Japanern gerettet. 1938 nach Deutschland zurückgekehrt, wurde ihm von der Gestapo jede weitere öffentliche Stellungnahme verboten. 1950 starb Rabe völlig verarmt in Berlin. Während die Deutschen diesen Mann der Vergessenheit preisgaben, verehrten die Chinesen ihren „Buddha von Nanjing“ wie einen Nationalhelden.3 Albert Göring (1895 – 1966), der jüngere Bruder des Reichsmarschalls Hermann Göring, hat Dutzenden von Nazi-Verfolgten das Leben gerettet.4 Wie Oskar Schindler hat er einen Teil der von ihm Geretteten aufgelistet. (Die Namen konnten überprüft und bestätigt werden.)5 Nach Ende des Krieges wurde Göring von den Amerikanern an die Tschechoslowakei ausgeliefert und in Prag wegen möglicher Kriegsverbrechen angeklagt; im März 1947 wurde er freigesprochen. 1966 starb er verarmt in München.6 Der SS-Mann Kurt Gerstein (1905 – 1945), tief verstrickt in die verbrecherischen Machenschaften der SS, nahm nach einem Aufenthalt in Auschwitz mit verzwei-
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Die Wochenzeitung Die Zeit berichtete in einem Dossier über „Die anderen Schindlers“ (Ausgabe vom 1. April 1994) auch über Calmeyer. 3 Erst recht nach dem Spielfilm John Rabe (2009) suchen Chinesen in Berlin sein Grab; die Stadt Nanking schenkte Berlin eine Bronzebüste mit Sockel zur Aufstellung auf seinem Grab. 4 2012 berichteten alle überregionalen Zeitungen über den Fall, z. B. Spiegel online am 12. 5. 2012. 5 Konfrontiert mit antijüdischen Aktionen mischte er sich ein und prügelte sich mit den SAMännern. Als Manager bei den Skoda-Werken fuhr Göring mit Lastwagen zu einem KZ, gab sich als Bruder des Reichsmarschalls zu erkennen und verlangte Arbeiter für die Skoda-Werke. Als er mit ihnen in Sicherheit war, ließ er sie fliehen. 6 Alle Berichte über diesen Fall in Presse basieren auf den Untersuchungen von W. H. Burke, Hermanns Bruder. Wer war Albert Göring?, Berlin 2012.
Einleitung
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felter Leidenschaft den Kampf gegen die Nazi-Gewaltherrschaft auf und riskierte sein Leben.7 Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, berichtet vom Ende seines Aufenthaltes im Konzentrationslager. Als die Befreiung durch die amerikanischen Truppen unmittelbar bevorstand, versteckten die Gefangenen ,ihren‘ KZ- Kommandanten. Durch eine Indiskretion eines Mitarbeiters aus der Sanitär-Baracke hatten sie in Erfahrung gebracht, dass der Mann seit vielen Jahren bemüht gewesen war, auf den verschiedensten informellen Wegen lebenswichtige Arzneimittel für die Kranken des Lagers zu beschaffen. Er hatte so vielen das Leben gerettet. Die Sprecher der Gefangenen erklärten den Amerikanern, der Mann werde erst herausgegeben, wenn zugesichert würde, dass ihm kein Haar gekrümmt werde. Die Amerikaner sagten das zu und ernannten den Mann sofort wieder zum Lagerkommandanten, der nunmehr offiziell die Aufgabe hatte, mittels eines vorhandenen Lkw die Versorgung der befreiten Insassen zu organisieren. Diese Einzelfälle nehmen sich spektakulär aus. Darüber könnten all jene sog. ,kleinen Leute‘, die rettend eingriffen und die oft aus dem ,einfachen Volk‘ stammten, vergessen werden, deren Zahl in die Tausende geht. Vielen von ihnen blieb, trotz einer Initiative des Berliner Senats in den 60er Jahren, die Anerkennung ihres mutigen Helfens in dunkler Zeit versagt. In dem doku-dramatischen Film Die Unsichtbaren – Wir wollen leben (2017) wird das Leben untergetauchter Juden in Berlin geschildert. Die Retter, die sich zu regelrechten Netzwerken zusammengeschlossen hatten, riskierten tagtäglich ihr eigenes Leben. Am Ende dieses Films wird an eine Retterin die Frage gerichtet, was sie seinerzeit bewogen hat, die Gefährdung ihres eigenen Lebens in Kauf zu nehmen. Die Antwort lautete, sie habe ihr Vaterland retten wollen. Der Kommentar eines von ihr geretteten Juden, der auch das letzte Wort in diesem Film hat, lautete: „Ich meine, es ist ihr gelungen.“ Aus dem Mut, ein solches Urteil zu fällen, spricht die Weisheit des Talmud: „Jeder, der ein Menschenleben rettet, wird betrachtet, als hätte er die ganze Welt gerettet.“8 Auf die absehbare Frage, was diese Profilierung zwielichtiger ,Helden‘ und verkannter Helfer bezwecke, lautet die schlichte Antwort: Aus dem Befund, dass es im großen Bösen das kleine Gute gab, speist sich die schwache Hoffnung, die Menschheit könne im Sumpf ihrer Verbrechen letztlich doch nicht verloren gehen. Werden diese Wirklichkeitsspuren des hier so genannten ,kleinen Guten‘ – jene Einzelakte des rettenden Eingriffs – entweder ignoriert oder marginalisiert, wird das Bild der Geschichte – auch der Geschichte des Nationalsozialismus – entdifferenziert; dann findet der Blick gar nicht mehr jene Lücken und Spalten, in denen das 7 Gerstein war anfänglich sogar in die Beschaffung des Giftes für die Vernichtungslager verwickelt. Costa-Gavras’ beeindruckender Spielfilm „Der Stellvertreter“ (2002) gibt beredtes Zeugnis von Gersteins Lebensweg. Für weitere Informationen: www.kurt-gerstein.de. 8 Mischna, Traktat Sanhedrin IV, 5. Eine andere Übersetzung ist: „wenn einer eine Person erhält, es ihm die Schrift anrechnet, als hätte er eine ganze Welt erhalten“.
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Einleitung
Gute auch in finstersten Zeiten zum Ereignis wurde. Allerdings ist die Strahlkraft der Wirklichkeit des Bösen so stark, dass diese hier angedeuteten Vorgänge immer von einem Zwielicht umgeben bleiben. Schier unauflöslich verheddern sich der öffentliche Anklagegestus und das unterschwellige allgemeine Schuld-Entlastungsbedürfnis. Der zeitliche Abstand begünstigt des Weiteren die Vorstellung, Positionen im Theoriendiskurs, die eine deutliche Aufgeschlossenheit für den nationalsozialistischen Aufbruch formulierten, seien gewiss an einer sehr reduktionistischen Argumentationsform, kurz gesagt: an ihrer Primitivität, erkennbar. Die hier vorgestellten Theorie-Formationen beweisen das Gegenteil. Im Dickicht der leidenschaftlich geführten Orientierungsdiskurse gab es offenbar kein Gespür für so etwas wie den möglichen Umschlag in Barbarei. Das führt in der post-faktischen Diagnose zu dem Befund: „Der Holocaust ist bis zum Augenblick seines Eintretens unvorstellbar gewesen, also hat auch das radikal Böse einen historischen Index.“ (Jürgen Habermas). Damit sei gesagt, dass eine merkwürdige Asymmetrie besteht in der Erkennbarkeit und Vorstellbarkeit des Guten und des Bösen.9 In einer Kurzkennzeichnung der Epoche im Umbruch könnte man, ohne sich auf rechts oder links dabei festzulegen, von einer Vorherrschaft des autoritätsfixierten Denkens sprechen. Befürworter einer nüchternen Diskursivität und der Bindung des normativen Handlungsrahmens an rein rational begründete Standards befanden sich zu dieser Zeit auf verlorenem Posten10 : Die konkurrierenden Orientierungsangebote erreichten ihre jeweilige Akzeptanz durch den Appell an starke, emotional fundierte Glaubenskräfte (wobei hier bei der sehr bewussten Verwendung des Wortes ,Glauben‘ nicht zwingend offenbarungsreligiöse Formationen etwa aus dem christlichen Bestand gemeint sind!). Seit Beginn des 20. Jahrhunderts boten sich diverse Lebensreformbewegungen den nach Orientierung Suchenden an und die Transformation in politische Mythenbildungen lag in der Luft. Die Indienstnahme der Ideen- und Gefühlswelt Richard Wagners mag hier pars-pro-toto als Beispiel dienen (wobei auch jüdische Intellektuelle wie Franz Rosenzweig keineswegs der Sogkraft dieser musikalischen Beanspruchung von Seele und Geist widerstehen konnten). ,Operation Walküre‘ lautete das Codewort für die Aktion der Militärs zur Beseitigung Hitlers. Claus Graf von Stauffenberg, der in der Wendezeit 1933 durchaus das Regime Hitlers begrüßt hatte, führte sein Leben zwar im Überzeugungshorizont des christlichen Glaubens 9 Vgl. „,Über Gott und die Welt‘. Eduardo Mendieta im Gespräch mit Jürgen Habermas“, in: Jahrbuch Politische Theologie 3 (1999), 190 – 209. Das Habermas-Zitat befindet sich auf 208 f. 10 Ebenso waren Vorstellungen eines Rechtssystems jenseits des auf ein bestimmtes Territorium begrenzten Nationalstaates – wenn es sie denn überhaupt in artikulierter Form gab – völlig marginal. Die Idee eines Rechts, das den Menschen als Menschen vor aller Bindung an konkrete Staatlichkeit zukäme, fand im öffentlichen Diskurs der Zeit keinerlei Resonanz.
Einleitung
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(er trug stets eine Kette mit einem Kreuz), aber der Heroismus seiner Aktivität, die ihn das Leben kostete, hatte auch eine starke Quelle in seiner Zugehörigkeit zu dem elitären Kreis um Stefan George. In der grundlegenden Überzeugung, Eigendynamik und Vorrang des Willens gegenüber der universalistischen Ratio zu betonen, spielte die Nietzsche-Rezeption in weiten Kreisen des Bildungsbürgertums eine prominente Rolle. Und selbstverständlich fanden sich in der Fachphilosophie für diese Fokussierung des Erkenntnisinteresses auch die Befürworter.11 In der Theologie jener Jahre und Jahrzehnte war es weniger der Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche als vielmehr Sören Kierkegaard, dessen theologische Begründung für die Aussonderung des Einzelnen in einem heroischen Gottesverhältnis die Aufmerksamkeit der Theologen und religiösen Exzentriker geradezu magisch auf sich zog. Bis heute ist die Kierkegaard-Rezeption in Deutschland geprägt durch die vielbändige Werk-Ausgabe in deutscher Sprache, die im Diederichs Verlag von Emanuel Hirsch vorgelegt worden ist, der ein überzeugter Nationalsozialist war. Entsprechend wird in den hier behandelten Texten der Kierkegaard-Bezug immer wieder durchscheinen. Eine Grundfrage wird sein, ob sich Kierkegaard – etwa unter dem Stichwort ,Heroismus‘ umstandslos für eine nationalsozialistische Ideologie in Dienst nehmen lässt oder ob seine entschiedene Betonung der Nonkonformität (,Nichtidentität‘) des Einzelnen Kräfte des Widerstands gegen eine Vereinnahmung des Selbst in ein ,höheres Ganzes‘ der Gemeinschaft zu stärken vermag.12 – Diese Problemzuspitzung wird im Nachwort zu diesen Studien wieder aufgenommen. Bei den folgenden Rekonstruktionen wird sich jedenfalls herausstellen, dass diese Theologen der Dreißigerjahre offenbar keine Schwierigkeiten damit hatten, ihre Kierkegaard-Faszination mit der Anstrengung zu vereinbaren, die theologische Theorie für den ,Geist‘ der Machtergreifung und der nationalistischen Begeisterung anschlussfähig zu halten.
11 Zur philosophischen Diskurskonstellation um 1930 vgl. K.-M. Kodalle (Hrsg.), „Angst vor der Moderne. Philosophische Antworten auf Krisenerfahrungen. Der Mikrokosmos Jena 1900 – 1940“, in: Kritisches Jahrbuch der Philosophie Bd. 5, Würzburg 2000; U. Sieg, Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2013; Ch. Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Band 1, Berlin 2002. 12 Einen Überblick – nicht: einen Einstieg in interne Theoriestrukturen – bietet W. Greve, „Kierkegaard im Dritten Reich“, in: Skandinavistik 15,1 (1958), 29 – 49.
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Einleitung
II. Heiliger Zeitgeist. Eine Vorbemerkung zu den methodischen Grenzen dieser Studien In der Nachzeichnung der inneren Struktur von theologischen Theorien, die von der Ideologie des Nationalsozialismus infiziert waren, kommt es im Folgenden darauf an, die argumentativen Strukturen und die entscheidenden theoretischen Weichenstellungen herauszuarbeiten. Es bedurfte seinerzeit nur einiger weniger Drehungen des Kaleidoskops – und schon bildeten aus der Tradition sehr vertraute Deutungselemente ein neues Bild, in dem der Zeitgeist ,aufgehoben‘ war. Fundamentale Fragen nach den theologiegeschichtlichen Verankerungen dieser Konzepte, nach den vorausgehenden Schulbildungen und innerkirchlichen Kontroversen, nach den kulturellen, sozialen und politischen heftigen Auseinandersetzungen und Prägungen während der antagonistischen Jahre der Weimarer Republik bleiben hier ebenso ungeklärt wie die generationenbezogenen Zugehörigkeiten der jeweiligen Verfasser, bei denen sich die Menschheitskatastrophe des Ersten Weltkriegs in ganz unterschiedlichen Verarbeitungsszenarien spiegelte. Zur Abklärung all dieser Fragen und Problemanzeigen gibt das folgende Buch eindringlich sowohl umfassend-perspektivenreich als auch höchst detailliert Auskunft: Friedrich Wilhelm Graf, Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011.13 Ein Wort des Dankes gilt Bischof i.R. Professor Dr. Gerhard Müller (Erlangen), der den Autor nach sehr genauer kritischer Sichtung der hier vorgelegten Texte zu deren Publikation ermuntert hat.
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Für eine erste umfassende Orientierung hinsichtlich der theologischen Debatten in der Zeit der Weimarer Republik – unter Berücksichtigung der multiplen kulturellen und gesellschaftspolitischen Triebkräfte – verweise ich auf die folgenden Kapitel: „Einleitung: Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Republik“, 1 – 110, sowie: „,Die antihistorische Revolution‘ in der protestantischen Theologieder zwanziger Jahre“, 111 – 138.
A. Paul Tillich: Auf der Grenze I. 1933: Schwankend zwischen Hoffnung und Enttäuschung Paul Tillich (1886 – 1965), der als Frankfurter Philosophie-Ordinarius die Berufung von Max Horkheimer (Frankfurter Hausberufung) durchgesetzt und als Gutachter die Habilitation Adornos begleitet hatte (Adorno hatte bei Tillich eine Stelle), ist für die Entstehungsphase der Frankfurter Kritischen Theorie ein wichtiger Pate. Später, in New York, entwickelte sich eine enge Freundschaft mit Hannah Arendt (eine Verbindung, die auch aus der Frankfurter Zeit stammte). Seine Schrift „Die sozialistische Entscheidung“ (1932/33) wurde bald nach ihrem Erscheinen aus dem Verkehr gezogen. Paul Tillich, ein Kopf des in seinen theoretischen Begründungen durchaus vielfältigen „Religiösen Sozialismus“, war der erste, nicht-jüdische Gelehrte der Universität Frankfurt, den die Nationalsozialisten aus seinem Amt jagten. Es ist bemerkenswert, dass in der Geschichtsschreibung zur Frankfurter Schule Rolle und Bedeutung Tillichs in der Regel – trotz der engen Freundschaft mit Horkheimer – unterbelichtet bleiben. Diese Blindheit ist vielleicht nicht zufällig, sondern hat womöglich Gründe, die mit der Theorie selbst zusammenhängen. War doch „Die sozialistische Entscheidung“ ein letzter verzweifelter Versuch, mit den Mitteln der Theorie einer ideologisch-bornierten Linken vor Augen zu führen, inwiefern ganz bestimmte zentrale versteinerte marxistische Theoreme geeignet sind und dazu beitragen, die verunsicherte bürgerliche Mitte forciert den Nazis in die Arme zu treiben! Tillichs Theorie der Religions- und Kulturgeschichte, die ich als ein Kapitel „Dialektik der Aufklärung“ auffasse, nimmt sich in nachträglicher post-nationalsozialistischer Betrachtung durchaus ambivalent aus. Bestand dieser Philosoph und Religionswissenschaftler mit allem Nachdruck darauf, dass die für jede moderne Kultur unerlässliche Dimension und Kraft der Aufklärung zurückreiche bis zu den jüdischen Propheten und von da her die Aufklärung und ihre Kritik ideologisierter Religion auch aus den Ressourcen der geschichtlichen jüdisch-christlichen Religionskritik gestützt und getragen werden müsse, zog er doch als basale Schubkraft der Geschichte etwas ganz anderes in Betracht. Die Konstellation von priesterlichprophetisch bzw. philosophisch: Substanz-Subjektivität wird von diesem Theoretiker so gedacht, dass eine bestimmte historische Ausgestaltung des Gemeinschaftsgefühls und Gemeinschaftsbewusstseins („Substanz“) sich in der Geschichte jeweils
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A. Paul Tillich
gerade in den Ausnahmesituationen revolutionärer Durchbrüche als Gestaltungskraft durchsetzt, gegen die sich jeweils die Kraft der Aufklärung / der prophetischen Kritik nur mit großen Mühen – und im Grunde erst wieder nach Herstellung des Normalzustandes – behaupten kann. Im Lichte dieser Konstellation hatte die nationalsozialistisch orientierte Massenbegeisterung der Dreißigerjahre etwas durchaus Irritierendes. Das findet auch in der folgenden Anekdote seinen keineswegs unpassenden Ausdruck. Der Theologe Emanuel Hirsch war mit Paul Tillich eng befreundet. Hirsch war einer der brillantesten Köpfe der Theologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In seinen Büchern zu Philosophen des Deutschen Idealismus erwies er sich auf der Höhe der Zeit – also: ein Denker bester liberaler Tradition. Er entschied sich nicht aus Opportunismus sondern leidenschaftlich überzeugt für den Nationalsozialismus und für die Bewegung der „Deutschen Christen“. – Nun das (für uns Heutige) beklemmend Anekdotische: In einem Brief an seinen Freund Tillich nach dessen Entfernung aus dem Professorenamt schrieb er, dieser Entscheidung der Behörden könne nur ein Irrtum zu Grunde liegen, denn es könne doch kein Zweifel daran bestehen, dass er, Tillich, doch die Kompetenz mitbringe, ,ein kluger und verantwortlicher geistiger Führer‘ des Nationalsozialismus zu werden.1 Heutigen Lesern mag diese Episode abstrus erscheinen. Ich bin freilich zutiefst davon überzeugt, dass man genau solchen Verflechtungen auf den Grund gehen muss, wenn man begreifen will, wie es zu der Ermächtigung des Nationalsozialismus kommen konnte. Bevor ich meine Rekonstruktion der Theologie Tillich – immer auch mit Blick auf die politischen Implikationen! – vorstelle, bleibe ich deshalb noch im vor-theoretischen Raum und umkreise weiter die Situation eines Denkers ,auf der Grenze‘ im Jahre 1933. Obwohl Tillich im Wintersemester 1932/33 erlebt hatte, wie ein Stoßtrupp der SA in seinen Hörsaal gestürmt kam und Studenten verprügelt hatte – er selbst konnte sich nur durch ein Türchen hinter dem Pult aus der Gefahrenzone retten –, hoffte er auch nach seiner Entlassung aus dem Professorenamt der Universität Frankfurt weiter auf eine Möglichkeit, als Hochschullehrer in Deutschland bleiben und lehren zu dürfen! Paul Tillich war ja ein wichtiger Repräsentant der sozialdemokratischen Jungen Rechten, die einen sogenannten marxistisch fundierten wissenschaftlichen Sozialismus bekämpfte und in der glaubenskräftigen Erschließung von sogenannten ,Ursprungsmächten‘ durchaus Berührungspunkte mit bestimmten Kreisen des Nationalen Sozialismus aufwies.2 1 Der Brief vom 14. 4. 1933 ist bislang nicht ediert und liegt im Tillich Nachlass in Harvard: bMS 649/152. 2 Vgl. dazu S. Vogt, Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie. Die sozialdemokratische Junge Rechte 1918 – 1945, Bonn 2007. Siehe auch: S. Vogt, „Die Sozialistische Entscheidung. Paul Tillich und die sozialdemokratische Junge Rechte in der Weimarer Re-
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Zur genaueren Beschreibung des Agierens von Paul Tillich im Jahr 1933 verwende ich hier Zitate aus einer Abhandlung von Friedrich Wilhelm Graf, der die Quellenlage minutiös aufgearbeitet hat.3 Tillich zu verstehen fordert die Bereitschaft, außerordentlich hohe Ambiguitätstoleranz zu entwickeln, also die Fähigkeit, vermeintlich Widersprüchliches, einander Ausschließendes als durchaus kopräsent, miteinander verknüpfbar zu deuten. (S. 11) [T]rotz der Verhaftung politischer NS-Gegner, Reichstagsbrand, Judenboykott und vielfältigem Alltagsterror von SA-Trupps will Tillich auch nach seiner am 13. April „mit sofortiger Wirkung“ erfolgenden vorläufigen Beurlaubung Deutschland nicht verlassen […]. (S. 14) Nicht nur hofft er darauf, wieder in Frankfurt lehren zu können. Vielmehr deutet er die neue politische Lage auch als eine Chance, nun seinen alten, schon 1928 formulierten Traum realisieren zu können, wieder an der Theologischen Fakultät der geliebten Reichshauptstadt Berlin Systematische Theologie zu lehren: als Nachfolger des 1932 emeritierten Systematikers Arthur Titius, nachdem zuvor die von ihm erhoffte und betriebene Berufung auf den Lehrstuhl des radikal antirepublikanischen, völkisch-nationalistischen Systematikers Reinhold Seeberg am Widerspruch des Evangelischen Oberkirchenrats gescheitert war – obwohl dessen Sohn Erich Seeberg, ein begeisterter Nationalsozialist, durchaus interessiert war, Tillich nach Berlin zu holen. Sowohl nationalsozialistische Frankfurter Schüler und Studenten Tillichs als auch die von Nationalsozialisten dominierte Fachschaft der Berliner Theologischen Fakultät werben seit Ende April 1933 im Preußischen Kultusministerium dafür, Tillichs Beurlaubung aufzuheben und ihm einen Ruf auf den Berliner Lehrstuhl zu erteilen. Auch mehrere den Deutschen Christen und der NS-Bewegung verbundene Kollegen in theologischen Fakultäten treten im Ministerium für Tillich ein. Dietrich Bonhoeffer berichtet Erich Seeberg am 21. April, dass der zuständige Dezernent des Kultusministeriums die Studierenden gebeten habe, „möglichst viele Stimmen“ von Nationalsozialisten zugunsten Tillichs zu sammeln, und bittet ihn, sich für Tillich einzusetzen. In einem Brief an den Dekan Adolf Deissmann, der Tillich schon in seiner Berliner und Marburger Zeit sehr schätzte, tritt Erich Seeberg zwei Tage später, am 23. April, für Tillich ein. (S. 15) Sowohl in Berlin als auch in Frankfurt wird das Gerücht verbreitet, dass Tillich sich beim ,Stahlhelm‘ angemeldet habe. Tillich selbst, der noch aus New York Kontakt zu Erich Seeberg hielt, scheint bis in den Juli oder August hinein auf einen Berlin-Ruf gehofft zu haben. (S. 16) Nach seiner Beurlaubung verhielt sich Tillich beamtenrechtlich gesehen äußerst korrekt. Ein Beispiel: Am 5. Mai informiert er den zuständigen Berliner Ministerialrat Georg Gerullis darüber, dass er für den 26. Mai zu einem Vortrag in der ,Philosophischen Gesellschaft der Stadt Zürich‘ eingeladen sei. Auf Gerullis’ Antwort, dass er „nur vorläufig beurlaubt“ sei, „die endgültige Entscheidung in den nächsten Wochen“ fallen werde und das Ministerium ihn deshalb ersuche, „die Entscheidung in Deutschland abzuwarten“, teilt Tillich publik“, in: Ch. Danz/W. Schüßler/E. Sturm (Hg.), Tillich und der religiöse Sozialismus. Internationales Jahrbuch der Tillich-Forschung, Bd. 4, Berlin usw. 2009, 35 – 52. 3 F. W. Graf, „Paul Tillich im Exil“, in: C. Danz/W. Schüßler (Hrsg.), Paul Tillich im Exil, Berlin/Boston 2017, 11 – 77. Die Angaben im folgenden Fließtext beziehen sich auf diesen Aufsatz. In der folgenden Collage aus dem Text von F. W. Graf musste auf die Übernahme der Fußnoten verzichtet werden. Sie enthalten beachtliche weiterführende Hinweise und sind auf den angegebenen Seiten nachzuschlagen.
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A. Paul Tillich dem Ministerium am 17. Mai mit, den Vortrag in Zürich abgesagt zu haben; er werde sich „bis zur endgültigen Entscheidung in Deutschland aufhalten“. Das ihm wohl durch Hans Speier schon im April 1933 unterbreitete erste Angebot Alvin Johnsons, an die ,University in Exile‘ der ,New School for Social Research‘ in New York zu kommen, lehnt Tillich – anders als Eduard Heimann – im Juli 1933 ab. Auch ist er bereit, aus der SPD auszutreten, wenn er dadurch preußischer Beamter bleiben kann; manche seiner Formulierungen in Briefen legen die Vermutung nahe, dass er den Austritt tatsächlich vollzogen hat. Wie einige seiner Freunde und Bekannten, etwa Adorno, ist Tillich im Sommer 1933 davon überzeugt, dass es in Deutschland schon bald wieder zu einem Wechsel der politischen Lage kommen werde. So wartet er ab und hält sich angesichts der ungewissen Lage mehrere Optionen offen […]. (S. 16) [D]ie Tillichs sind viel in Berlin, reisen in der zweiten oder dritten Maiwoche für mehrere – wohl elf oder zwölf – Wochen nach Sassnitz auf Rügen […]. (S. 16) Theodor Adorno berichtet in einem Gespräch mit Wolf-Dieter Marsch 1966, mit Tillich „im Jahr 1933 in Rügen, kurz ehe er nach Amerika ging, sehr viel zusammen gewesen zu sein“; […] „Tillichs völlige Furchtlosigkeit angesichts dessen, was er selbst für absolut tödlich hielt, überraschte ihn.“ Aber Adorno war im August 1933 selbst noch gar nicht bereit, Deutschland zu verlassen. (S. 17) [Einen befreundeten Industriemanager] Erich Faust, einen sehr früh in die Partei eingetretenen, in der Stahlindustrie als Direktor der Röchlinger Eisen- und Stahlwerke in Völklingen tätigen Nationalsozialisten, bittet Tillich darum, in Berlin zu klären, unter welchen Bedingungen er auf seinen Lehrstuhl zurückkehren oder einen Ruf nach Berlin erhalten könne. (S. 17) So bleiben Tillichs Beurteilungen der Lage seit seiner Beurlaubung und seine Entscheidungsprozesse im Sommer und frühen Herbst 1933 weithin im Dunkeln. (S. 19) [N]ichts spricht dafür, dass sich Tillich schon im Juni oder Juli auf New York festgelegt hatte. (S. 23) [Graf erläutert zu den Hintergründen des Zögerns, sich auf das Angebot der Columbia University einzulassen], dass es im Lehrkörper der Universität durchaus begeisterte Anhänger der „Deutschen Revolution“ gab und insbesondere der Präsident Dr. Nicholas Murray Butler, der als Träger des Friedensnobelpreises 1931 auch ein großer, ihm durch zahlreiche Gespräche gut bekannter Verehrer Mussolinis und, so Fritz Stern, „a closet antiSemite“ war, weiter den Austausch mit deutschen Universitäten pflegte und studentische Proteste gegen die Judenverfolgung in NS-Deutschland bis 1937 zu unterdrücken suchte. (S. 24) Erst am 29. August beantragt Tillich beim Berliner Ministerium Urlaub, um als „Visiting Lecturer“ an die Columbia University gehen zu können. Am 9. September, dem Tag nach dem Entzug der Lehrbefugnis Theodor Wiesengrund-Adornos in Frankfurt, wird ihm die Beurlaubung für ein Jahr gewährt. Aber Tillich zögert abermals, sich auf New York festzulegen. Das führt zwischen den beteiligten Institutionen und Organisationen in New York – Columbia University, Union Theological Seminary, Emergency Committee, Rockefeller Foundation – zu einiger Verwirrung. Erst als die Columbia University ein Ultimatum stellt und eine definitive Entscheidung bis zur Sitzung der Trustees am 2. Oktober fordert, sagt Tillich am 27. September zu. (S. 24)
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Am 26. Oktober verlassen Paul, Hannah und Erdmuthe auf der Albert Ballin Deutschland legal, in der Touristenklasse, mit ausdrücklicher Zustimmung des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. (S. 26). Nach der Ankunft im Hafen von New York am 3. November und der Erlaubnis, am Samstag, dem 4. November, das Schiff verlassen zu dürfen, begibt sich Tillich dem Beamtenrecht entsprechend wenige Tage später ins Deutsche Generalkonsulat, um seine Ankunft anzuzeigen und seine New Yorker Adresse mitzuteilen. (S. 29) Am 20. Dezember wird Tillich endgültig entlassen. Erst jetzt beginnt er die Tatsache zu akzeptieren, vom neuen deutschen Staat nicht als Theologe oder Philosoph gebraucht bzw. gewollt zu werden. Aber die Hoffnung, nach Deutschland zurückkehren und Systematische Theologie hier in Berlin lehren zu können, gibt er noch immer nicht preis. Im Zusammenspiel mit deutschen Freunden und Kollegen, die im Berliner Ministerium gegen seine Entlassung protestieren, legt Tillich am 20. Januar beim Ministerium schriftlich Widerspruch gegen den Entlassungsbescheid ein. „Sachlich muß ich gegen die Entlassung auf Grund von Paragraph 4, die das Urteil nationaler Unzuverlässigkeit einschließt, Verwahrung einlegen. Da im Gesetze selbst anerkannt ist, daß die zeitweilige Zugehörigkeit zur ehemaligen S.P.D. allein kein Entlassungsgrund ist, liegt kein Grund für die Beurteilung meiner wissenschaftlichen und politischen Tätigkeit als national unzuverlässig vor.“ Er habe, so Tillich, „als Theoretiker des religiösen Sozialismus von Anfang an den Kampf gegen den dogmatischen Marxismus der deutschen Arbeiterbewegung geführt und habe auf diese Weise den nationalsozialistischen Theoretikern einen Teil ihrer Begriffe geliefert.“ Man mag das äußerst starke Heimweh und den sehr mühsamen Kampf eines 47-jährigen Intellektuellen mit einer fremden Sprache in Rechnung stellen, um diese Formulierungen zu verstehen. Aber man kann Tillich auch für politisch naiv halten. Die aggressive Brutalität der NS-Herrschaft war ihm zu diesem Zeitpunkt ja deutlich bewusst, und man kann nicht recht nachvollziehen, wie er sich denn eine Lehrtätigkeit in Frankfurt oder Berlin unter den neuen politischen Bedingungen konkret vorgestellt hat. Hannah Arendt (die in den 1950er Jahren von Martin Heidegger mehrfach gebeten wurde, Tillich Grüße auszurichten) hat ihren Frankfurter Lehrer und New Yorker Freund 1965 als „eine ausgesprochen moralische Persönlichkeit von großem politischen und physischen Mut“ bezeichnet. Aber sie hat auch behauptet, dass er „im Grunde dumm“, „ohne jedes Urteilsvermögen“ gewesen sei. (S. 30)
II. Auf der Grenze? Paul Tillichs Verhältnis zum Existentialismus4 1. Einleitung: Tillich im Spannungsfeld Kierkegaards Paul Tillich hat einer Retrospektive seines Lebens und Schaffens von Amerika aus den Titel „Auf der Grenze“ gegeben. Der Denker bewegt sich auf der Grenze u. a. der sozialen Klassen, auf der Grenze von Wirklichkeit und Fantasie, Theorie und Praxis, 4 Der folgende Teil dieser Abhandlung ist weitgehend identisch mit: K.-M. Kodalle, „Auf der Grenze? Paul Tillichs Verhältnis zum Existentialismus“, in: Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, hrsg. v. H. Fischer, Frankfurt 1989, 301 – 334.
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Heteronomie und Autonomie, Theologie und Philosophie, Religion und Kultur, Idealismus und Marxismus, Heimat und Fremde. Eine bessere Beschreibung der Daseinsbefindlichkeit eines existentialistischen Denkers lässt sich nicht vorstellen! Tatsächlich räumt Tillich in dieser Rückschau Sören Kierkegaard eine für den eigenen Denkweg ausschlaggebende Bedeutung ein: Neben Schellings Spätphilosophie beruft Tillich sich an zweiter Stelle auf den Einfluss Kierkegaards, den er als den eigentlichen Begründer der Existentialphilosophie würdigt. Freilich attestiert Tillich sich hier selbst eine nur „begrenzte Kenntnis“5. (Daneben zählt er als dritten wichtigen Einflussfaktor die Lebensphilosophie auf.) Die menschliche Existenz, auch das Denken selbst, steht verhängnisvoll im Widerspruch zum Wesen des Menschlichen, welches in der Einheit mit Gott gründet. Das hat für Tillich kein anderer so radikal gefasst wie Kierkegaard (auch Schelling nicht). „Ich selbst“, schreibt er, „konnte mich schon als älterer Student dem Eindruck seiner angreifenden Dialektik nicht entziehen.“6 Der Unwahrheit des liberalen Harmonieglaubens, der borniert-fortschrittlichen Wissenschaftsgläubigkeit des Bürgertums7, der Indifferenz als einer bewussten Strategie der Desensibilisierung angesichts der Sinnfrage8, der Haltung des bloßen Zuschauens in gesellschaftlichen Prozessen setzte Tillich mit Kierkegaard die Leidenschaft entgegen, die die Fesseln bloß theoretisch-distanzierter Betrachtung sprengt.9 In der Leidenschaft kommt „das Lebensblut der Unmittelbarkeit“10, „das Erlebnis der Tiefe“11, zur Geltung. Weil ihm die Lauheit, die Gleichgültigkeit so unerträglich ist wie allen existentialistischen Denkern, greift er in seiner Theorie des Kairos jene Aufbrüche im geschichtlichen Prozess menschlicher Selbstverwirklichung auf, in denen er den geschichtlichen Trott verabschiedet sah. Für Tillich ist es ja das Wesen des Geistes, sich nicht als Kontemplation, sondern als Forderung und Entscheidung darzustellen.12 Tillich stimmt mit Kierkegaard auch darin überein: Jeder Vorgang des Verstehens von historischen Realitäten basiert auf einer Entscheidung des verstehenden Subjekts. Da wird nicht einfach gesammelt und unter Begriffen subsumiert, was man aus der Realität abgezogen hat, ein Allgemeines also als Menge von Einzelerscheinungen; sondern: Verstehen ist zugleich eingreifendes Denken, schließt eine Ent5
P. Tillich, „Auf der Grenze“, in: ders., Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere, GW XII, Stuttgart 1971, 36. 6 A.a.O., 50. 7 P. Tillich, „Die sozialistische Entscheidung“, in: ders., Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, GW II, Stuttgart 1962, 219 – 365, 295. 8 P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. 2, Stuttgart 1958, 83 (im Folgenden: STh II). 9 Tillich, Die sozialistische Entscheidung, 327. 10 P. Tillich, „Masse und Geist“, in: ders., Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, GW II, Stuttgart 1962, 35 – 90, 82. 11 A.a.O., 84. 12 Tillich, Die sozialistische Entscheidung, 230.
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scheidung ein, die immer zugleich Begriff der Sache und ihre Kritik ist! In dieser Grundentscheidung nämlich werden auch die geschichtlichen Möglichkeiten eines empirischen Sachverhalts vorweggenommen. Wenn eine solche Entscheidung im Verstehen das Wahre trifft, legt sie die ideale Macht einer dynamischen geschichtlichen Konstellation frei und erfasst so im Begriff des Prinzips einer Sache die objektive geschichtliche Macht.13 Die übergreifende, allgemein-menschliche Vernunft wird von Tillich bestritten; das Prinzip analytischer Ratio besitzt keine fundierende Kraft für individuelles oder gesellschaftliches Leben.14 Jede geistige Schöpfung ist unlöslich an die jeweils begrenzte Situation gebunden, die immer die Bewährung schöpferischer Kräfte in kämpferischer Auseinandersetzung provoziert.15 Wahrheit also ist situationsgebunden: das lernte Tillich von Kierkegaard ebenso wie von Marx. Für beide galt, dass sein „System der Harmonie“ unwahr sei.16 Die unsägliche Negativität der Existenz muss ausgehalten werden – nur so wird der Umschlag in die Wahrheit denkbar. Die größte Chance für diesen Umschlag findet sich an dem „Ort der höchsten Sinnentleerung, der Verzweiflung, der weitesten Selbstentfremdung des menschlichen Wesens“17: ein Erkenntnisprivileg der Negativität also. Das Gute und die Wahrheit liegen jenseits menschlicher Möglichkeit. Deshalb ist alles, was wir als „Mitte“, als „Vollendung“, fantasieren, in Wahrheit eben doch nur Bruchstück18, Camouflage der Verzweiflung, welche uns an das Krankenlager einer „Krankheit zum Tode“ gefesselt hält, deren eindrucksvollster Interpret eben auch für Tillich Sören Kierkegaard war.19 Das Sein des Menschen in seiner Geschichtlichkeit scheint sich für Tillich darin zu erschöpfen, Frage zu sein.20 Tillich hat durchaus in Übereinstimmung z. B. mit Karl Barth den ideologiekritischen Impuls des Kierkegaardschen Existentialismus aufgenommen: dessen Kampf gegen den „selbstgemachten“ Gott, dessen „Angriff auf die naiv-ideologische Gleichsetzung von Reich Gottes und bürgerlicher Gesellschaft“21. Freiheit ist immer schicksalsverstrickt. Unsere ganze Lebenssituation ist ja geprägt durch die freien Akte anderer und durch das Schicksal der Menschheit als ganzer. Das ändert natürlich nichts an des Menschen Schuldfähigkeit, räumt aber mit der Annahme auf, des Menschen Freiheit sei so unbestimmt, dass er in jedem Moment
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Vgl. a.a.O., 233 f. A.a.O., 307. 15 A.a.O., 297 f. 16 Tillich, Auf der Grenze, 51. 17 Ebd. 18 A.a.O., 57. 19 Tillich, STh II, 84. 20 A.a.O., 20. 21 P. Tillich, „Protestantismus und politische Romantik“, in: ders., Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, GW II, 209 – 218, 216 f. 14
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sich ganz nach eigener Disposition zum Guten oder Bösen entscheiden kann22. Tillich spielt auf Kierkegaard an, wenn er in seinen Untersuchungen zur endlichen, schuld- und schicksalsverstrickten Freiheit die Dimension der „sich ängstigenden Freiheit“ analysiert23 : Der Mensch steht immer im Konflikt „zwischen dem Wunsch, seine Freiheit zu aktualisieren, und der Forderung, seine träumende Unschuld zu bewahren“. Diese Freiheit wird angstvoll als Gefahr erlebt – als „Angst, sich zu verlieren durch Selbstverwirklichung“, und als „Angst, sich zu verlieren durch Nichtverwirklichung“. Als endliches Ich entscheidet sich der Mensch für die Aktualisierung, für die Selbstverwirklichung. Er begibt sich in das schicksalhafte, undurchschaubare „Räderwerk“ von Erkenntnis-Macht-Schuld und bekommt unweigerlich „schmutzige Hände“ (ich wähle nicht ohne Grund Metaphern aus den Schriften Sartres). Es wird jedenfalls auf diese Weise der Satz nachvollziehbar, dass auch die Opfer der Tyrannei in einem Volke sich der Frage an sich selbst nicht entziehen könnten, wieweit sie nicht durch ihr freies Handeln und Unterlassen mitschuldig an der Tyrannei geworden sind.24 Der Übergang zur Aktualität des Lebens ist das ursprüngliche Faktum, durch das die endliche Freiheit charakterisiert ist. Ein Sprung in unserer Existenz, von dem wir gar nichts zu wissen meinen – aber wenn einer an die Glocke schlägt, die wir sind, vielleicht weil er uns liebt, dann hört man am unreinen Klang, dass in diesem Gebilde ein Sprung ist… Selbstverwirklichung, das bedeutet: Sich-Einlassen in den entfremdeten Charakter des Seins und entdecken, dass man sich schon immer in ihn eingelassen hat: „Verwirklichte Schöpfung und entfremdete Existenz sind materialiter identisch.“ Es ist ein Zeichen der Reife, diese universale Entfremdung zu bejahen in „Akten der Freiheit, die Verantwortung und Schuld einschließen“25. „Der Zustand der träumenden Unschuld ist der Zustand der Unentschiedenheit“26, und das ist ein Mangel, nicht etwa Vollkommenheit. Die Sünde, welche ,als individueller Akt das universale Faktum der Entfremdung aktualisiert‘27, „verwandelt das angstvolle Bewusstsein um das Sterbenmüssen in das schmerzvolle Erkennen der verlorenen Ewigkeit“28. Ich führe eine weitere ganz zentrale Aussage Tillichs hier an, die den Systemanspruch eigentlich aufs äußerste erschwert. Tillich verstärkt nämlich den Bann dieser Negativität bis zur hermetischen Geschlossenheit: Alle Menschen „haben den versteckten Wunsch, ,zu sein wie Gott‘“, keiner ist willens, „seine Endlichkeit im konkreten Fall anzuerkennen, nämlich seine Schwächen und seine Irrtümer, sein Unwissen und seine Unsicherheit, seine Einsamkeit, seine Angst“. Und selbst sofern 22 23 24 25 26 27 28
Tillich, STh II, 65 f. A.a.O., 41 ff. A.a.O., 68. A.a.O., 52. A.a.O., 41. A.a.O., 65. A.a.O., 77.
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er sich dazu bereit findet, „macht er aus seiner Bereitschaft ein neues Instrument der Hybris“29. Diese Radikalität zeugt wieder von der großen Nähe zu Kierkegaard, der für diesen Befund die Formel verwendet hatte, „die Subjektivität ist die Unwahrheit“. Gerade die wesenhafte Zugehörigkeit des Menschen zum Ewigen treibt ihn in der existentiellen Entfremdung in das ganz fatale Wunschdenken hinein, „die vergänglichen Zeitmomente […] in dauernde Gegenwart zu verwandeln“. In der Sehnsucht dieses „Wunschdenkens, endgültig hienieden ein Zuhause zu finden – Welt als Heimat –, schlägt sich also eine essentielle Bestimmung in verkehrter Form nieder. Das Gefühl der Ungeborgenheit und Wurzellosigkeit der Existenz kann dann nicht in den Dank für das Abenteuer des Aufbruchs wohin man will“ einmünden, sondern vertieft nur die abgründige Verzweiflung.30 Soweit scheint alles für einen großen Einfluss der Impulse des Existenzdenkens auf Tillich zu sprechen. Indessen: Ich möchte mit wenigen vorläufigen Bemerkungen erste Zweifel wecken, und ich werde schließlich am Ende zu dem Ergebnis kommen, dass in theologisch zentralen Hinsichten Tillich sich mit bedenklichen Konsequenzen von Kierkegaard abwendet. Tillich ist nicht ein Mann des radikalen Entweder/Oder. Er pflegt mit existentialistischen Bestimmungen zu beginnen, doch am Ende resultiert seine Überlegung stets in einem Sowohl-Als auch. Seine Selbststilisierung steht unter dem Wort „Auf der Grenze“. Doch im Text heißt es: „Das Leben kann nicht nur an seiner eigenen Grenze, es muß auch in seiner Mitte, in seiner Fülle stehen.“31 Gewiss, Tillich ergreift Partei für den Existentialismus — als einen Bundesgenossen, dessen Beschreibungen der gefallenen, verfallenden Existenz einen „Glücksfall“ für die Theologie darstellen.32 Tillich solidarisiert sich mit den existentialistischen Zuspitzungen in einer Situation radikalen Zweifels, in der „der Gott der Kirchensprache“ dahinschwindet und Sinn nur noch in der Radikalität des Durchhaltens der Sinnlosigkeit zu bestehen scheint. Während existentialistisches Denken sich in der Kargheit und Öde dieser extremen Daseinsstellung aufhält, dekretiert Tillich mit ,gesunder‘ Selbst-gewissheit: „solch ein extremer Punkt ist kein Raum, in dem man leben kann“. Als Kriterien der Wahrheit seien diese Perspektiven leidlich geeignet, aber nicht als Basis, „auf der die Wahrheit als Ganzes aufgebaut werden könnte“33. Dieser letzte Satz hätte gewiss das satirische Talent Kierkegaards provoziert. Die Wahrheit als ganze auf einer Basis im endlichen Dasein theoretisch oder praktisch aufbauen wollen – ein Vorhaben, das alle existentialistischen Einräumungen zur Makulatur werden lässt. Es zeichnet sich vielleicht schon hier ab, dass Tillich der Intention nach ein Theologe ist, der die scharfen Konturen der Existenzphilosophie wieder aufweicht zugunsten einer metaphysisch-spekulativen Theologie der Wirklichkeit im Ganzen. 29 30 31 32 33
A.a.O., 60. A.a.O., 79. Tillich, Auf der Grenze, 28. Tillich, STh II, 33. A.a.O., 19.
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Der Existentialismus wird vom Theologen zu Hilfe genommen bei der Darstellung der menschlichen Situation, aber keineswegs wird von Tillich die Antwort der Theologie aus diesen Analysen heraus entwickelt. Dazu ist ihm der Existentialismus zu manichäisch, zu skeptizistisch, zu einseitig usw. Nein: „Die Theologie muß sich auf die Seite des klassischen Humanismus stellen, der die geschaffene Vollkommenheit des Menschen gegen […] [die] existentialistische Verneinung der menschlichen Größe und Würde verteidigt.“34 – Erste Zweifel sind also angemeldet. Selbstverständlich bedürften die Theorien des Existentialismus, insbesondere diejenige Kierkegaards, ihrerseits einer eigenen kritischen Befragung und Kommentierung. Das ist hier nicht zu leisten.35 Eine gewisse Überlegenheit des „Kierkegaard-Paradigmas“ wird einfach vorausgesetzt; immerhin muss es sich ja in der Durchführung der Kritik bewähren. Tillich hat sich selbst in das Spannungsfeld Kierkegaards begeben, und etliche seiner Analysen (etwa zu Macht und Sein) berühren sich stark mit Heidegger und Sartre. Die Konsequenz, ja Rigidität des existenz-theoretischen Ansatzes bietet sich deshalb als Folie einer kritischen Überprüfung Tillichs geradezu an. Die Auseinandersetzung konzentriert sich auf drei Themenbereiche: Tillichs daseinsanalytische Theorie der Macht bzw. Machtverhältnisse, seine spekulative Geschichtsteleologie und seine Christologie.
2. Macht-orientierte Daseinsanalytik. Tillichs begründungsschwache Option für den Vorrang kollektiven Einheitsdranges Die Natur des Seins selbst ist für Tillich Macht.36 Natürlich ist er sich dessen bewusst, dass das „ist“ in diesem Satz eine Klärung erheischt. Nicht ohne Grund hatte Hegel am Anfang der „Logik“ sich aus dem Dilemma befreit, indem er, weil über den spekulativen Satz, noch nichts expliziert war, einfach die Satzform sistierte und die Abbreviatur hinschrieb: „Seyn, reines Seyn, – ohne alle weitere Bestimmung“37. Tillich entzieht sich der begriffslogischen Rückfrage an dieser Stelle, indem er qualifiziert, „Macht“ sei eine metaphorische bzw. symbolische Präzisierung für „Sein“. Freilich: kein Bild sei besser geeignet.38 Nach dieser Klarstellung kann es 34
A.a.O., 46. Zur Stellung des Verfassers zu Kierkegaard vgl. K.-M. Kodalle, Die Eroberung des Nutzlosen. Kritik des Wunschdenkens und der Zweckrationalität im Anschluss an Kierkegaard, Paderborn u. a. 1988. 36 P. Tillich, „Die Philosophie der Macht“, in: ders., Die religiöse Substanz der Kultur, Schriften zur Theologie der Kultur, GW IX, 205 – 232, 206. 37 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Teil: Die objektive Logik. 1. Band: Die Lehre vom Sein (1812), hg. v. F. Hogemann/W. Jaeschke, Hamburg 1985, 68. 38 Tillich, Die Philosophie der Macht, 207. 35
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dann heißen: „Sein ist Seinsmächtigkeit.“ Wie aber gelangt diese ontologische dynamische Dimension zur Erfahrung? Das geschieht in den Konfrontationen und Anstößen des endlichen Daseins. Dass es eine ursprüngliche Seinsmächtigkeit als wirkende Kraft gibt, gelangt mir zu Bewusstsein in der Bedrohung meines Soseins. Dem Dasein geht also in seinem Sich-selbst-Verstehen auf, dass das sich zeitigende Sein sich antagonistisch-vielgestaltig ereignet. Wenn sich mir mithin an den Widerständen meines Daseinsvollzuges die Relativität von Sein-in-seiner-Zeitigung erschließt, macht es ontologisch Sinn, den „Widerstand, den die Seinsmächtigkeit überwinden muss“, als Nichtsein zu bestimmen. Das Sein, schreibt Tillich, birgt das Nichtsein in sich.39 Ohne Nichtsein, ohne die Differenz, wäre der Prozess der Verendlichung nicht denkbar, und die Möglichkeit, etwas Bestimmtes auch nur zu definieren, bliebe verschlossen. Der Sinn des Aus-Stehens des Seins in dieser Zeitigung als Existenz kann nur von der Existenz selbst her, vom endlichen Dasein her, zur Sprache gebracht werden. Das müsste eigentlich bedeuten: Ein Sinn des Seienden im Ganzen, als metaphysische Konstruktion, ist damit prinzipiell ausgeschlossen. „Das Leben hat Versuchscharakter.“40 Dies ist ein fundamental existentialistischer Satz. Das Leben hat Versuchscharakter – und es hat sogar nur Lebensqualität, sofern dieser Versuchscharakter in den individuellen Entscheidungen riskant sich manifestiert! Was einer ist, wie stark seine Seinsmächtigkeit ist, weiß er erst und nur, sofern er dem Wagnis der Begegnung nicht ausweicht, in welcher seine ganze Existenz auf dem Spiele steht. Will also der Mensch überhaupt wissen, wessen er mächtig ist, so muss sich diese Macht manifestieren41, „muß eine Entscheidung mit Risiken gesucht werden“42, in der „Begegnung zwischen Mächtigkeit und Mächtigkeit des Seins“43. Ausschlaggebend ist also die Erfahrung der Überwindung eines Widerstandes.44 Und das heißt: die Selbstverwirklichung ist ohne das Risiko der Selbstzerstörung gar nicht möglich. In der Begegnung mit dem Anderen kristallisiert sich die Latenz der Feindschaft heraus. Zerstörerische Gewaltanwendung, schreibt Tillich, kann notwendig sein.45 Ob der Andere, der Fremde, mein Bruder oder mein Feind ist, wird erst in der Begegnung klar. Aber wer nicht dieses Risiko eingeht, wird auch im Fremden den Bruder/die Schwester nicht entdecken! Darin also ist Tillich – der dies 1953 vorträgt – ganz und gar im Denkraum der Existenzphilosophie und -theologie dieses Jahrhunderts verwurzelt, in der man metaphysik-kritisch harmonische sozial-ontologische Weltbilder verabschiedet hatte und in der man, das Sein vom Dasein und Mitsein her neu erschließend, von der Begegnung im Sinne unvordenklicher Konfrontation ausgegangen war. Das entsprach ja auch durchaus der 39 40 41 42 43 44 45
A.a.O., 209. A.a.O., 210. Ebd. A.a.O., 213. A.a.O., 210. A.a.O., 209. A.a.O., 213.
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konfliktträchtigen lebensweltlichen Situation des Jahrhunderts, entsprach aber eben auch der Verabschiedung metaphysischer und moralischer Überbau-Theoreme. Der Andere kann der Freund wie der Feind sein, aber das Bild des eigenen Selbst und seiner Qualität gewinnt sich in der Begegnung mit dem widerständig Anderen. Da und nur da entscheidet sich das Schicksal – welches von Tillich wegen dieser unausweichlichen Struktur „tragisch“ genannt wird. Man zieht eine andere Macht des Seins in sich hinein, und wenn man das tut, wird man entweder gestärkt oder geschwächt; man stößt die fremde Macht des Seins von sich, oder man assoziiert sie völlig in sich; man formt sie um oder man unterwirft sich ihren Forderungen. Man ist in sie hineingenommen und verliert seine eigene Seinsmacht, oder man wächst mit ihr zusammen und stärkt die Seinsmächtigkeit beiderseits.46
Je mehr Widerstand, je mehr „Nichtsein“ überwunden werden muss, desto mehr Seinsmächtigkeit manifestiert sich. An diesem Sprachspiel ist ersichtlich, dass der Begriff „Seinsmacht“ durchaus einen quantitativen Aspekt einschließt. „Die eigentlich politische Unterscheidung ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“47 Paul Tillich trifft sich an diesem Punkt mit Carl Schmitt. Der hätte sich jedenfalls, weil ihm wesenslogische Formulierungen fernlagen, durchaus mit Tillichs Präzisierung einverstanden erklären können, die da lautet: „Der ,Feind‘ ist keine wesensnotwendige, sondern eine wesenswidrige, wenn auch ,existentielle‘ Kategorie.“48 Es ist gerade die Eigenart religiöser Weltdeutung, „die Universalität und Unvermeidlichkeit des Zerstörerischen im Welt-Haben“ aufzuzeigen. Die Unvermeidlichkeit ist Ausdruck der tragischen individuellen Freiheitssituation, die sich „in jedem Teil der Welt und jeder Begegnung“49 abzeichnet. Auch das Problem der Gerechtigkeit wird nur im Kontext von Begegnung und Entscheidung akut. Der Andere in seiner Mächtigkeit begrenzt meine expansive Machtexekution, und erst in dieser Grenze wird das Problem der Gerechtigkeit virulent. Erst in ihr übrigens laufe ich Gefahr, meine eigene Würde zu verspielen, indem ich den Anderen nur für meine Zwecke verwerte.50 Gerechtigkeit ist also an die Erfahrung konfliktreicher bis feindseliger Auseinandersetzung gebunden. Wer nicht bereit ist, den Preis zu zahlen und sich auf diese unvordenkliche Dynamik der Koexistenz einzulassen (und damit auf das, was aus einer Beziehung noch werden kann!), dem hält Tillich vor, er ignoriere damit „die schöpferischen Möglichkeiten des Lebens“51. Gerade der Spielraum des Unentschiedenen zieht uns weiter ins Leben 46
A.a.O., 210. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Hamburg 1933, 7. 48 P. Tillich, „Um was es geht. Antwort an Emanuel Hirsch“, in: Theologische Blätter 14 (1935), 117 – 120; Zitat: 120. 49 P. Tillich, „Religion und Weltpolitik“ (II. Religion und Weltbegriff), in: ders., Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, GW IX, 139 – 192, 180 f. 50 Tillich, Die Philosophie der Macht, 219. 51 A.a.O., 220. 47
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hinein, nötigt uns, Entscheidungen zu treffen. Das geht wohl nicht ab ohne Verletzungen. Der christliche Rechtfertigungsgedanke bewahrheitet sich hinsichtlich dieser Struktur als Geist der Vergebung. Aus solchen Gründen erscheint es schlechthin abwegig und gedankenlos, die tatsächliche, immer schon gegebene seinsmächtige Überlegenheit des einen über den anderen, auch der einen Gruppe über die andere Gruppe, von vornherein als „ungerecht“ zu denunzieren.52 Dass berechtigte überlegene Macht missbräuchlich in Gewalt umschlagen kann, wissen wir aus alltäglichen Verhältnissen. Das entscheidende, der Macht-Kritik Tillichs zugrunde liegende Kriterium ist das folgende: Macht verwirkt ihre Legitimitätsansprüche, wenn sie sich abstrakt verselbständigt, sich als unumstößlich geriert, als prinzipiell unanfechtbar hypostasiert; solche ein prinzipielles Legitimitäts-Apriori beanspruchende Macht entzieht sich der immer wieder neu erfolgenden Infragestellung oder Bewährung in der konkreten geschichtlichen Situation der Begegnung von Individuen, Gruppen, Klassen, Nationen. Nur eine faktische, also stets ihres Infragegestelltseins gewärtige Macht ist nach Tillich „gerechte Autorität“53. Die antagonistische Grundstruktur der Geschichte ist auch im Zeichen der Gerechtigkeitsforderung und der Versöhnungsverheißung niemals überwindbar – solange Geschichte währt. Und es verbindet ja Tillich durchaus mit dem Existentialismus, wenn er als Konsequenz hervorhebt, wir blieben mithin stets in die Gefahren von Gewalt und Vergewaltigung verstrickt. Gerade diejenigen, die sich am deutlichsten in prophetischer Erwartung handelnd exponierten, seien extrem gefährdet.54 Ihre Kampfkraft in gesellschaftlichen Konflikten, der Mut zum Engagement, resultiert nicht aus Einsicht und Aufklärung, sondern aus jenem Ursprung, dessen „Kräfte aus der Fülle und Tiefe des Seins“ dem streitfähigen und konfliktwilligen Bewusstsein zuströmen.55 Wie vereinigt sich „die Universalität der Gerechtigkeit […] mit der Partikularität der Macht, ohne die Gerechtigkeit nicht durchgesetzt werden kann?“56 Die Antwort auf diese Frage soll später versucht werden. Es sei nur daran erinnert, dass Tillich jedenfalls die sozialdemokratisch geprägte Antwort zurückwies, derzufolge die Demokratie „zugunsten des Rechts auf Macht verzichtet“; solche sozialdemokratisch geführten Staaten seien keine Alternative zur Diktatur, „da sie dem ontologischen Charakter der politischen Gemeinschaft nicht gerecht werden“; denn: „Sie vergessen, daß die politische Welt nicht die sittliche Welt ist“.57 Die bislang vorgeführte macht-orientierte Daseinsanalytik hatte spezifisch das individuelle Dasein in den Blick genommen. Gegenüber einer Übertragung der so entfalteten Analytik auf zusammengesetzte Gebilde, also auf Kollektive, hatte ein 52 53 54 55 56 57
A.a.O., 222. A.a.O., 222 f. Tillich, Die sozialistische Entscheidung, 337. A.a.O., 342. Tillich, Religion und Weltpolitik (I. Der Begriff der Welt), 171. A.a.O., 172.
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konsequent existentialistischer Denker (wie Kierkegaard) an dieser Stelle schneidend scharf seine warnende Stimme erhoben. Der Sprung aus der strengen Analytik des Daseins in die Analogie-Spekulation auf die Wirklichkeit überhaupt und im Ganzen ist aber nun das in solchen Kontexten Eigentümliche Tillichs. Was sich an der Selbsterfahrung entdeckt hat, wird als wahr behauptet. Die Folgerungen aus dieser leichtfertigen Universalisierung sind bei Tillich zwiespältig. Wird die qualitative Differenz Individuum-Gemeinwesen eingezogen, schrumpft auch die Einstellung nüchterner Pragmatik im Bereich des Politischen. Über die folgende Brücke entfernt Tillich sich vom Existentialismus: Bei aller Einsicht, dass es eine abstrakte Gerechtigkeit gar nicht gibt, sondern dass diese im Ringen der Konfliktparteien erst geboren wird als geschichtlich-relative Größe, muss man sich doch noch auf eine Kraft berufen, die viel tiefer liegt als jedes Gerechtigkeitskriterium: „das ist die Macht des Einigenden in einer Gruppe“.58 Tillich sieht darin geschichtlich eine Weise der Liebe am Werk. Und Liebe weckt Verbindung zum Gefühl. Genau das ist auch beabsichtigt. „Jede Gruppe hat ihre eigene Art, wie sie sich als Einheit fühlt“59, und dieses drückt sich in religiösen, kulturellen, politischen Symbolen aus. Über diese Symbole vermittelt sich das einheitsstiftende Gefühl. Der rauschhaften Unmittelbarkeit des Massenerlebnisses wird ein privilegierter Zugang zur unbedingten Seinsmacht bescheinigt. In „Masse und Geist“ (1922) ist von der neuen mystischen Masse „mit schöpferischer Kraft“ die Rede: Die mystische Masse trägt in ihrer Tiefe in unmittelbarer, ungebrochener Weise ein einheitliches Prinzips ein fundamentales Weltgefühl, eine Grundstellung des Bewußtseins zu dem Unbedingt-Wirklichen, das selbst unbewußt und ungeformt die Quelle aller Bewußtheit und Formung ist.60
Nur im Medium des Vorbewussten, des archaischen Gemeinschaftserlebnisses, reicht das Ich gleichsam an diese Quelle des Lebens heran. Tillich versteigt sich da zur Apotheose des Gemeinschaftserlebnisses „bis hin zur Menschheit überhaupt als letztes und höchstes Gemeinschaftserlebnis“61, welches als „Gehalt“, „Substanz“, als Befreiung von den Abstraktionen der Moderne gepriesen wird. „Aus der Tiefe eines neuen Gehalts“ sei der Gegensatz von Masse und Persönlichkeit zu überwinden.62 Wo dieser Gegensatz sich aber doch bemerkbar macht, soll der Einzelne den Kürzeren ziehen. Den Prozess der Absorption des Einzelnen hält Tillich für „wertindifferent“; Kritik komme ja schon immer zu spät. Selbstverständlich könne die Unmittelbarkeit des Masseseins primitive biologische Instinkte zur dämonischen Herrschaft bringen, aber ebenso möglicherweise „ein unmittelbar geistiges Prinzip“, das sich nur in der Masse durchsetzen könne. In diesem Falle – „wenn die Masse sich 58 P. Tillich, „Die Philosophie der Macht“, in: ders., Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, GW IX, 205 – 232, 227. 59 Ebd. 60 Tillich, Masse und Geist, 52. 61 A.a.O., 54. 62 A.a.O., 56 f.
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selbst als Masse erlebt“ – werden wir mitgerissen in eine Bewegung voll „Wucht und Gewalt“, „die grundsätzlich ins Unendliche geht“. Die Verherrlichung dieser kollektiven Unmittelbarkeit, in der sich womöglich „geistige Offenbarung“ ereignet, geht einher mit der Denunziation der „unreine[n] d. h. vergangenheitsbelastete[n] subjektive[n] Geistigkeit“.63 Tillich webte also mit an der Antithesis von Reflexion gegen Leben: der Geist als Widersacher der Seele. Das Irrationale – es kann der Wahnsinn von unten sein, aber auch das Schöpferisch-Neue von oben… Bei individueller Geistigkeit assoziiert der frühe Paul Tillich „Hemmungen“. Was wird gehemmt? „Die Kraft der Begeisterung, die Steigerung der Leidenschaften, des Mutes bis zur Selbstaufopferung und Selbstzerstörung“, Prozesse, die erst geschichtlich werden in dem Moment, da sich das Ich dem Erlebnisraum der Masse übereignet. „Intuitionen einfacher, großer Art, Hellsichtigkeiten, können die Masse weit über alle subjektive Intelligenz erheben.“ „Ist der Einzelne klüger, so ist die Masse genialer. Ist der Einzelne weiser, so ist die Masse böser und besser.“64 Natürlich sind Tillich die existenzphilosophischen Gegenargumente geläufig, denn sonst brauchte er ja nicht eigens zu insistieren: „Wer vom Einzelnen aus denkt, kann nie zur Liebe kommen, denn die Liebe steht jenseits des Einzelnen.“65 Fasziniert unterschreibt Tillich die an Kierkegaard erinnernde Devise „Suspension des Ethischen“ – als höchste Gestalt des Gottinneseins. „Machtvoll steht das theologische Vernichtungsurteil über jedem Einzelnen: ,erbrennen mußt du dich wollen in deiner eigenen Flamme. Wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist.‘“66! Tillich denkt form-zerbrechende, überwältigende Offenbarung des metaphysischen Gehalts, der alle „ethischen Inhalte gleichgültig macht“, punktuellen Vorgang – Kairos – des massenhaften Aufbruchs, in dem der Einzelne verschwindet. Subjekte des Prozesses, in denen sich das neue Sein manifestiert, sind für Tillich, so fasst er es in seiner Christologie, stets „historische Gruppen“; wo einzelne bedeutsam werden, geschieht auch das nur „in Verbindung mit historischen Gruppen“67. „Der Messias rettet nicht Individuen auf einem Heilsweg, der sie aus ihrer geschichtlichen Existenz herausführt, sondern er verwandelt die historische Szene selbst.“68 Die mit der Geborgenheitssehnsucht verbundenen Eroskräfte werden geschichtlich durchschlagskräftig, weil und sofern „die Massen […] verwundet und
63
A.a.O., 58. Ebd. = alle Zitate dieses Abschnittes. 65 P. Tillich, „Über die Idee einer Theologie der Kultur“, in: ders., Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, GW IX, 13 – 31, 25. 66 A.a.O., 24. 67 Tillich, STh II, 97. 68 A.a.O., 89. 64
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erschöpft sind in der Freiheit des rationalen Systems“69. Man ist „der Autonomie müde geworden“70, deren „entmenschlichende Folgen“71 in Form rationaler Systeme, die die Lebenswelt verdinglichen, für Tillich auf der Hand liegen.72 Lösung von Ursprungsbindungen und Verdinglichung der Lebenswelt sind Kehrseiten eines Vorgangs. Aus dem Abstraktheitsvorwurf gegen die funktionalen Systeme der Gesellschaft folgt für Tillich, dass eine Strukturierung des sozialen Prozesses „ohne vorstoßende, radikal opferwillige Gruppen und ohne einzelne von überragender Mächtigkeit“73 gar nicht vorzustellen ist. Der politischen Gemeinschaft als „Träger der sittlichen Welt“ kommt laut Tillich der unbedingte Seinscharakter des Selbst zu!74 Demokratie, als Institutionalisierung der kritischen Korrektivfunktion, darf folglich die „Entstehung machttragender Gruppen“ nicht verhindern wollen.75 Keineswegs übrigens geht es an, diese Gedankengänge als bloß frühe, später überwundene Exkurse zu verharmlosen. Noch in Amerika hat Tillich sich affirmativ dazu bekannt, dass er in diesen Essays „die autonom-humanistische Haltung ausdrücklich esoterischen Gruppen zuweise“76. Allerdings – ein interessanter Zungenschlag ist zu beachten: Hatte Tillich in „Masse und Geist“ diese Zuweisung zum Esoterischen mit unterschwelliger Kritik vorgenommen, so deutet er in dieser Rückschau an, ein solcher Rückzug auf „esoterisch bewahrte Autonomie“ könne gegenwärtig „durch historisches Schicksal gefordert“ sein. Gefährlich aber sei das allemal: tendenziell sei damit „Einbuße an Wahrheit und Gerechtigkeit“ verbunden.77
3. Die ontologische Priorität von Substanz/Gehalt gegenüber Subjekt/Form Der Lebensprozess des geschichtlichen Daseins wird von Tillich ontologisch gedeutet mit Hilfe der Kategorien Substanz/dynamischer Gehalt und Form/Ratio. Dynamische Substanz und Form konstituieren ein nach vorn offenes, spannungsvolles Verhältnis. Dynamische Selbsttranszendenz, die jede Form negiert und sich ziellos allem Neuen widmet, ist ebenso zerstörerisch wie eine Form, eine Systemstruktur in Theorie und Handeln, die der Dynamik keinen Raum lässt.78 Gerade auch 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78
Tillich, Die sozialistische Entscheidung, 252. A.a.O., 256. Vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/M. 1981. Tillich, Die sozialistische Entscheidung, 264. A.a.O., 336. Tillich, Religion und Weltpolitik (I. Der Begriff der Welt), 170. Tillich, Auf der Grenze, 29 f. A.a.O., 30. Ebd. Tillich, STh II, 73 f.
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für Tillichs Verständnis des Politischen ist es nun, wie noch abschließend herauszuarbeiten ist, von größtem Gewicht, dass Tillich die Substanz, das tragende produktive Sein, gegenüber der Rationalität, der Form, favorisiert. Die Ratio darf das tragende Sein nicht domestizieren wollen. Zu achten ist nach Tillich darauf, dass dieses Sein sich im Lebensprozess in seiner Stärke auch geschichtlich erweisen, in seiner inneren Unendlichkeit sich erschließen kann, auf dass es die Ratio relativiere; indem es sie „zugleich trägt und einordnet“79. Diese Theorie baut auf die „Kraft ungespaltenen Seins, das über den Zwiespalt hinaus, in den es mit sich selbst geraten ist, auf neue Erfüllung drängt“80. Denn „immer und überall [ist] das Sein maßgebender […] als das Bewußtsein“81. Tillichs Rede von Unbedingtheit hat diese ursprungslogische Fundierung. Autonomie drohe sich stets vom Ursprung zu emanzipieren und schaffe dann jene öden Verhältnisse, in denen nur neues Heidentum aufbricht.82 Allerdings muss man auch hervorheben: Das Seinsmächtige als solches soll nicht heiliggesprochen werden; dagegen müsste der Protestantismus schärfstens im prophetischen Geist Widerspruch anmelden. Dieser Geist des jüdisch-christlichen Lebens bedeutet Umformung der Ursprungskräfte des Seins, Brechung, nicht Auflösung. Die Ursprungsmächte Blut und Boden, Heimat und Nation, Heroismus und Opferwille, Kampf und Spieltrieb, Sehnsucht nach tragender Gemeinschaft und nach Tradition besitzen selbst allerdings religiöse, nicht zu bestreitende Würde.83 Dies nicht zu sehen mache die Blindheit des autonomen Bewusstseins aus und treibe es so immer wieder in jene Einseitigkeiten, die dann die reaktionären irrationalen Gegenkräfte machtvoll heraufbeschwören. Hegelianisch zugespitzt, die Substanz müsse Subjekt werden. Tillich hingegen bringt Substanz und Subjekt in ein angespanntes Verhältnis: Subjektive Geistigkeit zum Beispiel zur höchsten Vollendung zu steigern, kann gleichbedeutend damit sein, die geistige Substanz kritisch zu zersetzen.84 Der Eindruck kann entstehen, Selbstbildung gehe notwendigerweise auf Kosten der Menge, die dadurch zur geistlosen Masse degradiert werde: Die auflösende Kritik des Subjekts drängt in alle sozialen Schichten, die schöpferische Kraft des Subjekts aber ist nur einzelnen gegeben und kann auch da nicht die unmittelbare Kraft des objektiven Geistes ersetzen.85
Hegel hat die Dimensionen des kollektiven Lebens, des Rechts, der Institutionen, des Staates, als Verwirklichung des Sittlichen ausgezeichnet. Aber er hat sie zugleich relativiert im Horizont des absoluten Geistes, hat ihre Geschichtlichkeit und Überholbarkeit gedacht und die unendliche Dignität und Rechtfertigung der ,ato79 80 81 82 83 84 85
Tillich, Die sozialistische Entscheidung, 354. A.a.O., 296. A.a.O., 273. A.a.O., 245. A.a.O., 243; vgl. 308. Tillich, Masse und Geist, 60. Ebd. Hervorhebung von mir.
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men‘ Subjektivität in letzter Hinsicht nicht vom „Lärm der Weltgeschichte“ abhängig gemacht. Kierkegaard waren das schon viel zu starke Zugeständnisse an Staat und Institutionen. Er schnitt jede Möglichkeit ab, den Institutionen über ihre pragmatische Nützlichkeit und Notwendigkeit hinaus eine sittliche Qualifikation zukommen zu lassen. Konnte Hegel mit Hobbes vom Staat als sterblichem Gott reden, bedeutete das für Kierkegaard: ärgerniserregende Depotenzierung der sittlichen Kompetenz des Einzelnen und seiner christlich-religiösen Legitimität. Und Tillich? Er zieht auch noch die hegelschen Differenzierungen zwischen absolutem und objektivem Geist ein, von denen aus sich auch eine Kritik des objektiven Geistes entwickeln ließe, und spiegelt einfach den absoluten Geist im objektiven. Hegel, der doch etwas von „Schicksalsdialektik“ verstand, hat sich nach Tillich viel zu einseitig in der Sphäre der reinen Form aufgehalten – „die formzersprengende Bedeutung des irrationalen Gehalts“ habe er nicht erkannt.86 Damit hat Tillich ein starkes Präjudiz geschaffen, welches den Weg in eine Religionsphilosophie der Kultur, der Macht, des Gemeinschaftserlebnisses usw. freigibt.87 Phänomenologisch mag es sehr aufschlussreich sein, in den Masseformen der Prozession und der Demonstration gemeinsame Formen freizulegen; ich stelle indessen anheim, ob man Tillich darin folgen will, in der Demonstration nur „eine moderne Abwandlung“ der Prozession zu sehen. Dies ist völlig stringent, sobald man darauf abstellt, in der existentiellen Unmittelbarkeit des Gemeinschaftserlebnisses werde der Mensch nicht betrunken gemacht, sondern werde im „Kampf um höchste Werte“ eigentlich erst heroisch der unbedingten Forderung, seiner unendlichen Aufgabe usw., gewahr.88 Im Heiligen selbst wähnt Tillich ein Moment, „das allein durch die Masse zur Offenbarung kommen kann“89. Wird das Absolute als Substanz/ Gehalt und Form/Person gedacht, so legt es sich für Tillich nahe zu folgern, „daß das Grundlegende in der Religion nicht die Bejahung der unbedingten Form, sondern die Sehnsucht nach dem alle Form zersprengenden irrationalen Gehalt ist“90. So rückt der Subjektivitätsvorbehalt unter den traditionellen Hybris-Verdacht – als käme die um Integrität bemühte individuelle Bedachtsamkeit einer Selbst-Verabsolutierung gleich. Die Masse wäre dann deshalb überlegen, weil sie das Ich in die Demut zwingt. Es hätte anzuerkennen, dass sich „die Majestät des Heiligen“ in der Masse „als Gnade offenbart“. Emphatisch ratifiziert wird vom frühen Tillich das qualitative Moment, 86
A.a.O., 75. A.a.O., 83. Auf die auch bei Tillich vorgenommene Unterscheidung von mechanischer, dynamischer und organischer Masse kann ich hier nicht weiter eingehen. – Die später von Tillich sogenannten „Ursprungskräfte“ sind die Geburtsstätte der „Unmittelbarkeit eines geistigen Instinktes“ (a.a.O., 62), eines unbewusst geistigen Prinzips (a.a.O., 66). Und es ist der kongeniale Führer, der durch sein zündendes Wort dieses dunkle revolutionäre Prinzip offenbar machen kann. Als Ziel schwebt Tillich die Vision eines Zustandes vor, „in dem die Masse als solche nicht mehr existiert und der Einzelne eine subjektiv-objektive geistige Formung angenommen hat“ (a.a.O., 63). 88 A.a.O., 68. 89 A.a.O., 71. 90 A.a.O., 71 f. 87
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dass in der Bewegung der Masse „das Einzelne seine Eigenbedeutung verliert“91. Die „Eigenform der Dinge“, die „Selbstheit“, ist nämlich stets auch Verhüllung des ewigen Gehalts. Die Priorität des Gehalts schließt die Priorität des Kollektiven ein; das Individuum muss gezwungen werden, „in unmittelbarer Weise seine periphere Bedeutung anzuerkennen“.92 Wohlgemerkt: zahllos sind die Stellen, in denen Tillich unterstreicht, das Leben müsse in den sittlichen, bewussten Persönlichkeiten und in deren sittlicher Gemeinschaft geistige Form gewinnen. Die ethische Form sei also unbedingt zu bejahen. Nur ändert das nichts an Tillichs Verabsolutierungsverdacht gegenüber dieser unerlässlichen Formierung des Unbedingten. „Das Reich Gottes ist aber unabhängig von jeder Form.“93 Weil der Zweck der ganzen Geschichte „die Durchsetzung der Unbedingtheit und Heiligkeit des reinen Gehalts gegenüber jedem Einzelzweck“ ist94, der Einzelzweck aber der Vorgang der Bestimmung und Übersetzung des Heiligen in geschichtlich verdichtete Konstellationen wäre, muss die Sympathie dieser Theologie den geschichtlichen Durchbrüchen und Aufbrüchen um ihrer selbst willen gelten, jeglichem revolutionären Kairos, was auch immer an geformtem Leben dabei geopfert wird. Tillich verstieg sich in jenen frühen Jahren sogar zur Hypostasierung der „Idee eines kosmischen Schicksals“, dessen Sinn freilich dem Denken „unerfaßlich“ bleiben muss, dessen „Vermittlerin […] für die Welt des Geistes“ die Masse in ihren machtvollen Entscheidungen ist.95
4. Macht und Machtverzicht im Kontext ambivalenter Weltstaat-Spekulation Politische Macht ist immer partikular. Das gilt erst recht zwischenstaatlich. „Der Ausdruck dafür ist […] der souveräne Staat“ und seine Staatsräson.96 Bezogen auf die antagonistische Koexistenz der souveränen Nationalstaaten ist „Welt“ kein politischer Begriff. Nun möchte aber Tillich an der Vorstellung einer „Rettung des politischen Weltbegriffs und damit von Welt überhaupt“ festhalten. Damit eine WeltMacht entstehen kann, welche „Gerechtigkeit zwischen den partikularen Machtgruppen gewährleistet“, ist die nationalstaatliche Souveränität zu überwinden.97 Der einzige für Tillich denkbare Weg zu diesem Ziel ist „die Aushöhlung der einzelstaatlichen Souveränität von innen durch Bildung übergreifender Gemeinschaften als künftiger Träger einer einheitlichen Welt-Macht“98. 91 92 93 94 95 96 97 98
A.a.O., 73. A.a.O., 74. A.a.O., 77. A.a.O., 74. A.a.O., 76. Tillich, Religion und Weltpolitik (I. Der Begriff der Welt), 173. A.a.O., 174. A.a.O., 175.
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Der Gefahren dieses Weges ist sich Tillich durchaus bewusst; leicht kann die eine Weltmacht zur repressiven Gewalt werden: „Der Imperialismus eines Weltbegriffs zerstört das Welt-Haben, das sich nur in einer Gruppe wechselseitig abhängiger WeltBegriffe voll darstellen kann.“99 Aber im Kontext dieser Fragestellung schlägt eben die ontologische Priorität des Einheitsdranges gegenüber der Gerechtigkeitsforderung erneut durch. Ein hypermoralisches Bewusstsein, welches sich mit der eigenen Endlichkeitsverfassung und der Verheißung, uns sei auch diese unvermeidliche Befangenheit in antagonistischer Endlichkeit verziehen, störrisch nicht abfinden will, insistiert ständig auf „Weltverbesserung“; wo es an Kraft mangelt, die eigenen Verhältnisse zum Guten und Gerechten hin wenigstens ein Stück weit in Ordnung zu bringen, wird der Ruf nach Verbesserung „der“ Welt im ganzen ja besonders laut… Als könne er sich diesem Drängen nicht entziehen, lässt Tillich seiner evolutionistischen Wunschlogik freien Lauf und zeichnet die angeblich friedens-freundliche Phantasmagorie eines Weltstaates: Weltstaat „vom Evangelium her gesehen“; Souveränität eines „vereinigten Staates aller Nationen“, als „eine letzte Vereinigung zu universaler Macht und durch ein universales Gesetz“.100 Über das Abschreckende dieser Vision eines potentiellen Polizeistaates verliert Paul Tillich kein Wort, und es ist wohl kaum als eine sehr einschneidende, zur Nüchternheit mahnende Unterscheidung anzusehen, wenn Tillich dieses politische Ziel der Menschheitsgeschichte nicht als „Verwirklichung“ des Reiches Gottes verstanden wissen möchte, sondern nur als dessen „Repräsentation“. Eine solche Vision kollidiert mit der konkreten Gerechtigkeitsforderung! Diese Forderung nämlich ist nach Tillich nur einlösbar, sofern sie in der Begegnung mit dem anderen Selbst zum Erlebnis werden kann. Eine Gesellschaft, die aus klassenspezifischen oder systemlogischen Gründen eine solche lebensweltliche Begegnung nicht mehr ermöglicht, wird auch keinen Erfolg damit haben, ihre abstrakten Regeln als solche der Gerechtigkeit auszugeben: „Je universaler und welthafter eine rechtsmächtige Gemeinschaft ist, desto schwieriger ist das Problem der konkreten Gerechtigkeit“101. Man könnte auch in dieser Weise zuspitzen: Wie lassen sich nationenübergreifende Begegnungen erfahrungsmäßig einlösen? Die Vision eines Weltstaates ignoriert die Grenzen des Politischen – und die „Grenzen des Politischen sind die Grenzen des Menschlichen – und umgekehrt“. Obwohl „die Grenzen des Politischen nicht mit den Grenzen des Seienden identisch sind“, macht Tillich doch ganz klar, „daß die theoretische Welt selbst abhängig ist von der im Politischen sich vollendenden Struktur des Welt-Habens“102. Dass die realen Machtbildungsprozesse und die Kämpfe um Gerechtigkeit an die Unüberschreitbarkeit der Partikularität von Lebensperspektiven und Lebensformen gebunden sind, hindert nicht an einer Betrachtung, welche diese Strukturen relati-
99
A.a.O., 167. Tillich, Das Evangelium und der Staat, 198. 101 Tillich, Religion und Weltpolitik (I. Der Begriff der Welt), 176. 102 Tillich, Religion und Weltpolitik (II. Religion und Weltbegriff), 177. 100
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viert. Ich kann sie betrachten im Lichte einer „überweltlichen Einheit der Liebe“103. Zu betonen ist dann aber das Präfix ,überweltlich‘. Es handelt sich dann um einen Aspekt, um einen anderen Blick auf die Welt, der „überwindend“ und „lösend“ wohl nur genannt werden kann, insofern er ein Blick ist, der die Verzeihung dieser tragisch verfassten Endlichkeit spiegelt. Nicht aber handelt es sich um eine praktisch-politische Überwindung der Entfremdungsverhältnisse. Erst in der Fülle des Reiches Gottes „kommt die Geschichte zur Erfüllung“104. Man gewinnt beim Lesen Tillichs den Eindruck, er habe sich diesen radikalen Konsequenzen nicht verschließen können, habe sie aber auch nicht nachdrücklich akzeptieren wollen. Immer wieder erneut baut er an Kulissen – man denke nur an die Fortschrittsvariante, die um den Begriff der Reife/der Reifung kreist –, mit denen er sich selbst diese radikalen Konsequenzen verstellt. Deswegen kann es nicht schaden, noch einmal deutlich hervorzuheben, dass zum Beispiel Machtverzicht für Tillich kein Politikum ist. Für Tillich steht außer Zweifel, „daß die bürgerlich aufklärerische Anti-Macht-Ideologie Ausdruck des verborgenen Machtwillens des Bürgertums […] war“105. Wahrhaftiger und ehrlicher ist es, sich zur Macht und zum Willen zur Macht zu bekennen, indem man sich dabei und darin „unter die Norm stellt, die als Jenseits der Macht jeder Macht Bestand und Weihe gibt“106. Dies ist nicht eschatologisch, sondern ontologisch von Tillich gemeint: „in jeder Macht ist ein Moment Verzicht auf Macht und von diesem Moment lebt die Macht. Denn das Sein ist angelegt auf Hinausgehen über sich selbst.“107 So entsteht die Aura der Macht, ihr „Heiligkeitscharakter“. Wenn sich eine Gruppe dieser Norm des „Jenseits der Macht“ unterstellt, gewinnt sie erst recht innere Mächtigkeit.108 Den paradoxen Status, radikal „Macht zu haben nur in der paradoxen Form des Verzichtes auf Macht“, traut Tillich der Kirche zu, die damit prinzipiell ihr Transzendieren der Geschichte vollzieht, insofern Geschichte sich im Ineinander und Gegeneinander von Machtansprüchen ereignet.109 Geschichtlich-profan ist in den Macht-Kampf um der Gerechtigkeit willen einzutreten. Dass eine geistige Macht – wie das Wort Gottes – unmittelbar durch seine eigene Wesenhaftigkeit wirkt, ist in der Welt, in der wir leben, „immer nur ein Hereinbrechen, niemals eine neue Form“110.
103 104 105 106 107 108 109 110
A.a.O., 182. Ebd. Tillich, Das Problem der Macht, 207. A.a.O., 208. A.a.O., 205. A.a.O., 208. A.a.O., 206 f. Tillich, Die Philosophie der Macht, 232.
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5. Geschichtstheologie: ,metaphysischer Positivismus‘ Die substanzphilosophisch-ontologische Spekulation ermöglicht es Tillich, die Eruptionen und Brüche der Geschichte auf die Kontinuität eines „tragenden“ Sinnes jenseits bewusstseinsphilosophischer ,Bornierung‘ zu beziehen und die Geschichte selbst zu einem Heilsfaktor aufzuwerten. Die existentialistische Verwerfung metaphysisch-politischer Geschichtspekulationen ist damit zurückgenommen. Propagieren lässt sich nun z. B. die Vorstellung, dass „eine in die Ursprünge zurückreichende Geschichte […] über Christentum und Humanismus zum Sozialismus führt“111. „So kann die Entscheidung für den Sozialismus in einer bestimmten Periode Entscheidung für das Reich Gottes sein“112, auch wenn dieses sich niemals endgültig geschichtlich einlöst. Der metaphysische Objektivismus hinsichtlich der Geschichte drückt sich in Tillichs Überzeugung aus, Handeln, Erwartungen, Projektionen seien nicht subjektive Artikulationen, sondern hätten „ihren Grund im Impuls des Geschehens selbst“113. Geschichte hat für Tillich „in sich eine Richtung, einen Impuls“. „Sie geht immer und überall den Weg von der Ursprungsbindung zur Enderfüllung.“114 Daraus erwächst das Vertrauen darein, es werde durch das menschliche Handeln hindurch sich eine Seinsgestalt zeitigen, die „unabhängig ist von menschlichem Tun“115. Prophetische Erwartung stellt sich auf diese „grundsätzlich unerfaßbare“ Dimension des Seins ein.116 Natürlich: die Offenheit der Zukunft muss gegen falsche religiöse und politische Erwartungen gesichert werden. Und selbstverständlich kann man dem Impuls der Geschichte auch entgegenhandeln, aber es öffnet sich eben doch auch diese herrliche (und ach so fürchterliche) Möglichkeit einer „Gewißheit, mit Sinn und Impuls der Geschichte übereinzustimmen“117. Die existentialistische Kategorie der Leidenschaft wird hier also ihres riskanten abenteuerlichen Freiheitssinnes beraubt, indem sie „mit der Gewissheit verbunden ist, dass die Wirklichkeit selbst für sie kämpft“118, also: Gleichschritt mit dem objektiven „Impuls der Geschichte“! Der theonome Prozess der Geschichte ist „niemals vollendet, immer aber getrieben durch die transzendente Kraft der Vollendung“119. Die Notwendigkeit dieses Prozesses wird metaphysisch gedacht – das heißt: durch empirische Aussichtslosigkeit ist sie nicht falsifizierbar.120 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120
Tillich, Die sozialistische Entscheidung, 280. Tillich, Auf der Grenze, 47. Tillich, Die sozialistische Entscheidung, 312. A.a.O., 328. A.a.O., 312. A.a.O., 318 f. A.a.O., 328. A.a.O., 329. Tillich, Auf der Grenze, 49. A.a.O., 46.
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Die Kontinuität der geschichtlichen Selbstoffenbarung Gottes ist der vorherrschende Gedanke. Die Geschichte selbst ist damit der in der Erkenntnistheorie üblichen Kontingenzbehauptung entzogen und selbst mit absolutem Sinn aufgeladen. Ein Lessingscher Sprung über angeblich garstige Gräben stellt sich konsequent als ein bloß „antikatholisches Vorurteil“ heraus.121 Die Umwandlung des Alten in das Neue Sein erfolgt kontinuierlich.122 Wieder ergibt sich für Tillich daraus eine unumstößliche Gewissheit, nämlich „daß sich in der Geschichte nichts ereignen kann, was das Wirken des Neuen Seins unmöglich macht und daß alles, was sich ereignet, der Verwirklichung des Neuen Seins dienen muß“123. Eingeräumt werden höchstens Umwege, dämonische Verzerrungen, gleichsam kurzzeitige Black-outs der Wirksamkeit des Neuen Seins. Der Hintersinn dieser leicht gebrochenen Geschichtsteleologie wird deutlich im Horizont der aufgewiesenen ästhetischen Übersetzung des Christologieproblems im Zeichen der Darstellungsmetapher: Ständig wirken die erlösenden Kräfte ja in der Geschichte; nur insofern diese Dimension der Geschichte nicht überzeugungskräftig genug vor Augen liegt, ist es, gleichsam didaktisch, sinnvoll, dass sie im Christus in vollkommener Gestalt zur Darstellung gelangt. So kann Christus als Urteilskriterium der ewig sich geschichtlich offenbarenden göttlichen Macht dienen.124 Tillich macht für Kulturen Stile, eine dynamische Struktur von Kontinuität und Diskontinuität aus. Jede Kultur folgt einem nur ihr eigenen Ur-Impuls. Die in ihm enthaltenen Gestaltungsmöglichkeiten können geschichtlich zu „reiner Erfüllung“ kommen. Tillichs spekulativer Ausgriff bemächtigt sich hier auch also gleich der Menschheit im Ganzen und ihres Offenbarungsverhältnisses: Reifen nämlich kann Tillich zufolge auch die Menschheit! Sie reift „zum Vernehmen der Offenbarung“, bis die „volle Offenbarung“ vernommen ist.125 Das ist in Christus zum Ereignis geworden. Seither wird zwar Aneignung immer wieder erforderlich – die Gemeinde wie der Einzelne müssen sich immer wieder zur Reife „hinaufentwickeln“ –, aber im Grunde handelt es sich um Wiederholungen des menschheitlichen Reifeprozesses. – In diesem Zusammenhang ist auch die schwerlich in ihrer Tragweite nach vollziehbare Behauptung zu erwähnen: „Für das Schicksal Einzelner oder einzelner Völker ist negativ und positiv die Menschheit als ganze mitverantwortlich.“126 Solchen folgenlosen, aber zu gemeinen Entlastungszwecken der niederträchtigen 121
Tillich, STh II, 147. A.a.O., 131. 123 A.a.O., 175. 124 A.a.O., 181. In seiner „Systematischen Theologie“ Band 1 (Stuttgart 1956), 151 ff. hat Tillich die Unterscheidung von originaler und abhängiger Offenbarung getroffen. Die sich in der (Kirchen-) Geschichte immer neu ereignende Offenbarung ist neu, aber zugleich abhängig von der originalen Offenbarung in Jesus Christus! „Der göttliche Geist, der die Gläubigen als Einzelne und als Gruppe erleuchtet, bringt ihre kognitive Vernunft in die Offenbarungskorrelation mit dem Ereignis, auf das sich das Christentum gründet“ (a.a.O., 153). 125 Tillich, Religion und Weltpolitik (II. Religion und Weltbegriff), 186. 126 Tillich, STh II, 68. 122
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Individuen immer dienlichen Menschheitsspekulationen versagt ein existentialistisches Denken entschieden die Zustimmung. Keinen Zugang auch fände ein streng existentialistisches Denken zu der Folgebehauptung, menschlich sei jede besondere Umwelt des einzelnen Menschen nur, „wenn er sie als Repräsentation des Universums erleben kann“, denn dieses sei schließlich „der Inbegriff aller schöpferischen Möglichkeiten“127. Von Erschleichung wird man in diesem Zusammenhang auch reden müssen, wenn bei Tillich – sobald epochale geschichtliche Ereignisse bedacht werden – unterstellt wird, nicht der Einzelne, sondern gleich „die Generation“ sei „vor letzte geschichtliche Entscheidungen gestellt“128. Die unbillige, alles verdrehende Kollektivierung der Existenzkategorien betreibt Tillich also völlig übereinstimmend mit Emanuel Hirsch. Ich spitze meine Beobachtung zum Thema Offenbarung und Geschichte weiter zu, indem ich die Folgen dieses geschichtstheologischen Konzepts als metaphysischen Seins-positivismus charakterisiere. Ich könnte auch von einem „dogmatischen Objektivismus“ sprechen. Geschichtliche Subjekte sind bei Tillich in ihrem Handeln erfolgreich und gerechtfertigt, weil sie einem Sein Ausdruck geben, „das unabhängig von ihnen nach Ausdruck und Erfüllung schreit“129. Dieses Drängen aus einer Wirklichkeit an sich schlägt nach Tillich übrigens auch nach innen; er kann Sätze wie die folgenden formulieren: „Die natürlichen Triebreaktionen selbst drängen zur Gerechtigkeit.“130 „All das sind Folgen politisch notwendiger Dinge; und was notwendig ist, hat auch sein Recht vom Heiligen her.“ Der dann folgende Satz „Aber es hat ebenso viel Unrecht wie Recht in sich“131 verwischt schwerlich den Eindruck jenes kruden metaphysischen Positivismus. Am Ende werden schließlich alle Artikulationsformen des Geistes, weil nichts ohne Sinn da sein darf, der universalen Wirksamkeit der Offenbarung eingeordnet. Wobei dann diese Rede von Offenbarung wirklich jegliches Spezifikum, jegliche qualitative Auszeichnung, einbüßt: „In Wirklichkeit ist selbst die Erkenntnis der eigenen Entfremdung und der Wunsch nach Erlösung das Wirken erlösender Kräfte im Menschen, mit anderen Worten Offenbarungserfahrung.“132 Erfahrungen des Zerstörerischen in unserer Lebenswelt sind demnach gleichfalls dem Wirken Gottes zuzurechnen.133 – Ein solches Theoretisieren läuft Gefahr, in einem universalen Beziehungswahn zu enden. Zwar betont Tillich stets die Offenheit der Geschichte, aber man spürt eigentlich nirgends ein Überraschtsein angesichts wunderlicher, fürchterlicher, primitiver Zufälligkeiten der Geschichte; was sich auch immer geschichtsrelevant ereignet hat, wird mit einer theoretischen 127 128 129 130 131 132 133
A.a.O., 71. Tillich, Auf der Grenze, 35. Tillich, Die sozialistische Entscheidung, 278. A.a.O., 329. Tillich, Masse und Geist, 89. Tillich, STh II, 96. A.a.O., 87.
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Erklärung bedacht, die dessen innere Notwendigkeit zu demonstrieren bemüht ist. Metaphysischer Positivismus: was sich als geschichtlich wirksam erwiesen hat, muss – und sei es als das Zerstörerischste – berechtigt sein im Willen Gottes, zu dessen Sprachrohr sich der Theologe hier immer wieder macht. Ich halte es jedenfalls für in höchstem Maße bedenklich, wenn ein Autor seine theoretischen Wendungen und Konzeptualisierungen dadurch legitimiert sieht, dass sie angeblich „von der Geschichte selbst in […] [ihrer] Notwendigkeit bestätigt worden“ sind.134 Solches Reden ist die Konsequenz eines geschichtsphilosophischontologischen Positivismus: Dort, wo geschichtliche Wirkungen zu konstatieren sind, in denen sich mit unbedingter Wucht eine Begeisterung niederschlägt, ist Religion am Werke, und das bringt für den Theologen eben die Verpflichtung mit sich, dem Vorgang in seiner Theorie als berechtigt auch zu entsprechen. In Rückblicken auf Tillichs Denkweg kann man lesen, der Theologe habe den Ersten Weltkrieg als „Katastrophe des idealistischen Denkens überhaupt“ erlebt. Man kann diese Erlebnisverdichtung psychologisch gewiss nachvollziehen; doch die Spiegelung dieser Erfahrung auf der Ebene der Theorie ist kritisch zu hinterfragen. Zuerst wird vorweg der Sinn der Existenz auf zweifelhafte Weise mit empirischgesellschaftlichen Lebensformen und Ereignissen verknüpft, man investiert seine ,heiligsten‘ Energien in einen profanen Kontext, und wenn man dann blutig darauf gestoßen wird, dass dies von Anfang an eine Fehlinvestition gewesen sein könnte, erklärt man, als wäre man nicht selbst der Tor gewesen, Hegel und Schelling für erledigt. Auf diese Weise zum sogenannten Existentialismus zu kommen, mutet gewissermaßen oberflächlich an. Gegen Tillich drängt sich der Einwand auf, dass die Erfahrung des Abgrundes der Existenz nicht vorrangig an das weltgeschichtlichspektakulär Katastrophische gebunden ist, vielmehr lauert das Abgründige in der Normalität.
6. Christologie: ästhetische Unterbietung des Paradoxes Bezogen auf das Zentrum des theologischen Gedankens – die Christologie – verwendet Tillich, neben „Neues Sein“, keinen Terminus so häufig wie den Kierkegaardschen des Paradoxes. Paradox ist nicht mit „irrational“ zu verwechseln. „Irrational ist der Übergang von der Essenz zur Existenz, vom Potentiellen zum Aktuellen, von der träumenden Unschuld zur existentiellen Schuld und Tragik.“135 Dabei handelt es sich nach Tillich um ein ursprüngliches Faktum, das die Übergänge in aller geschaffenen Wirklichkeit kennzeichnet. Gewiss transzendiert das göttliche Geheimnis alle Arten des Begriffs. Doch was nun die Rede vom Paradoxen soll, ist nicht klar. Bei der genaueren Angabe wird die entscheidende Differenz zu Kier134 135
Tillich, Auf der Grenze, 43. Tillich, STh II, 101.
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kegaard deutlich. Tillich definiert, paradox sei, „was der doxa, der Meinung, widerspricht, die auf die alltägliche Erfahrung – sowohl ihre empirischen wie ihre rationalen Elemente – gegründet ist“ und die sich aus der „existentiellen Situation des Menschen, insbesondere den natürlich-vernünftigen Erwartungen in ihr“, ergibt.136 Das Paradox steht also gegen alle Formen der Selbsterlösung, Selbstbeurteilung und lebensweltlichen Erwartung: In dieser Bestimmung liegt zunächst kein Widerspruch zu Kierkegaard vor, sondern eine tiefe Übereinstimmung in einem ganz zentralen Aspekt. Indessen fasste Kierkegaard die sogenannte existentielle Situation selbst radikaler geschichtlich auf. Existentielle Situation bedeutet nicht nur eine Struktur unserer Geschichtlichkeit, sondern: Die konkrete geschichtliche Verfassung unseres Daseins beeinflusst die Fassung des christologischen Geheimnisses. Ich spitze zu, ohne sicher zu sein, dass Kierkegaard beipflichten würde: Die Rede vom Paradox ist selber geschichtlich. Sie war keineswegs zu allen Zeiten sinnvoll. In der konkreten Verfassung der Moderne, im sogenannten Reflexionszeitalter, wächst ihr vielmehr erst der theologische Sinn zu. In dieser Epoche ist die Reflexivität selber infiziert vom Herrschaftswillen und Bemächtigungsimpuls, vom Willen zur Macht, der sich auf Selbst und Welt tendenziell allumfassend richtet. Eine „gute“ Reflexion lässt sich da nicht mehr einfach von ihrem „schlechten“ Gebrauch abheben. Ihr instrumenteller Charakter ist also so radikal wie möglich herauszustellen. Und dann lautet die Pointe: Im Glauben an die paradoxe Geistesgegenwart Gottes wird die Reflexion des Glaubenden mitgekreuzigt. Der Verstand geht in diesem Glauben an eine Realität, die er selber nicht nachvollziehen kann, scheiternd zugrunde! – Dagegen steht Tillichs Erklärung: „Das ,Ärgernis‘, das der paradoxe Christus der christlichen Botschaft erregt, richtet sich nicht gegen die Gesetze der verständlichen Rede“137. Dieser weicheren Fassung des Paradox entspricht die Verwendung des Begriffs der Repräsentation. Christus repräsentiert Gott gegenüber den Menschen. Das bedeutet, dass die Radikalität der Entzweiung, die doch das göttliche Wesen des Menschen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, für Jesus Christus nicht in gleichem Maße gilt. Er repräsentiert nicht den Menschen-im-Widerspruch (von Essenz und Existenz), sondern das wesenhafte Menschsein, das „Bild Gottes, das im Menschen verkörpert ist“138. Damit ist, wie die Wortwahl schon erkennen lässt, geradezu ein höherer Grad an sinnlicher Deutlichkeit dieser Ausnahmeexistenz behauptet! Das Bild wesenhaften Menschseins wird repräsentiert „unter den Bedingungen der Existenz […], ohne von ihnen überwältigt zu werden“139 ! „In Christus ist die ewige Beziehung Gottes zum Menschen offenbar.“140 Kierkegaard hatte noch gemeint: Wenn alle mit dem Glauben es sich leicht zu machen versuchen, komme es darauf an, die Provokation des Ansinnens, an die Gottesgegenwart in Christus zu glauben, so 136 137 138 139 140
A.a.O., 102. Ebd. A.a.O., 103. A.a.O., 104. A.a.O., 106.
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schwer wie möglich zu machen. „Gott ist Mensch geworden“: das ist semantisch zunächst einmal ein sinnloser Satz. Und weil er uns dennoch zugemutet wird, redet Kierkegaard vom subjektiven und objektiven Paradox. Tillich sagt demgegenüber klar und deutlich: der Satz ist nicht paradox, sondern sinnlos141 – und beginnt, ihn solange zu übersetzen, bis er unserer natürlichen Vernunft keine Kopfschmerzen mehr bereitet. Für Kierkegaard wäre es eine Tollheit, das Paradox verstehen und rechtfertigen zu wollen, für Tillich ist das die theologische Aufgabe.142 In Tillichs Sicht genügt es nicht, Christus als den Anstoß zu einem experimentellen Leben des Aufbruchs in die Gottesnähe zu würdigen, nein, er verlangt als Voraussetzung eine ontologische Methode, die „zeigt […], wie die Forderung, sich für das Reich Gottes zu entscheiden, erfüllt werden kann“143. Nichts signalisiert besser die Aufweichung existenztheoretischer Einstellungen als die ständige Rede von Garantien. Der Glaube garantiert, „daß in dem persönlichen Leben“ Jesu „die Wirklichkeit tatsächlich verwandelt wurde“144. Diese ständig wiederkehrenden Sprachspiele der Garantien, Bürgschaften und Gewissheiten des Glaubens sind deshalb für Tillich plausibel, weil der Glaube selbst „die unmittelbare […] Evidenz des Neuen Seins“ ist.145 Freilich wird man fragen dürfen, inwiefern eine evidente Einsicht überhaupt durch den Glauben verbürgt zu werden braucht. Tillich strebt also ,eine verständliche Lösung des christologischen Problems‘ an.146 Kein Wunder, dass seine Rede vom Paradox äußerst schwammig wird. „Es ist das Paradox, daß Gott eine Welt annimmt, die ihn verwirft.“147 Wieso eigentlich ist das paradox? Ebenso meint Tillich, es sei ein Paradox der Erlösung, wenn man bejaht, dass man bejaht ist.148 Ich kann an dieser Korrespondenz, die allerdings nicht das Selbstverständlichste ist, bei Gott nichts Paradoxes entdecken… Christus ist uns erkennbare „unverzerrte Manifestation“149 und damit eigentlich das Ende der Existenz. In diesem einen historischen Punkt ist die existentielle Entfremdung demnach überwunden.150 Der zutage liegenden Erkennbarkeit, die eigentlich die Rede vom Paradox überflüssig macht, entspricht die sich durchhaltende Verwendung des Wortes „Bild“ im christologischen Kontext. Wirkliche Kierkegaardsche Radikalität der Glaubenszumutung einer Offenbarungsbehauptung, die mit dem tatsächlichen Inkognito Gottes, mit seiner abgründigen Verbor141
A.a.O., 104 f. A.a.O., 129. – Zu Tillichs Übersetzungen des Paradoxes in die Verständlichkeit vgl. auch a.a.O., 160. 143 A.a.O., 117. 144 A.a.O., 118. 145 A.a.O., 125. 146 A.a.O., 158. 147 A.a.O., 162. 148 A.a.O., 192. 149 A.a.O., 130. 150 A.a.O., 108. 142
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genheit, einhergeht, wird umgangen, wenn gilt, dass „Jesus sein Bild […] den Seelen seiner Jünger und durch sie allen folgenden Generationen als der Christus eingeprägt“ hat.151 Mit diesem metaphorologischen Konstrukt, dessen systematischer Stellenwert nicht unterschätzt werden darf, hat Tillich, durch alle Entfremdungsverfallenheit der Existenz hindurch, die Kontinuität der Kirche abgesichert.152 Ausdrücklich wendet Tillich sich gegen Kierkegaard, wenn er auf der „Konkretheit des neutestamentlichen Bildes“ für das neue Sein, gegen existentialistische Reduktionen, besteht: „Die umwandelnde Kraft ist das Bild dessen, in dem das Neue Sein erschienen ist.“153 Das Bild strahlt verwandelnde Macht aus, weil sich in ihm die verwandelnde Wirklichkeit Gottes manifestiert. Schlechterdings ist ja nicht zu bestreiten, dass Bildern eine verführerische Ausstrahlungskraft eignen kann. Im Kreuz wird die Brechung aller Heiligkeit des bloßen Seins angeschaut.154 Es war das Bild Jesu, welches machtvoll die konkurrierenden Bilder der Mysterienkulte besiegte.155 „In jeder seiner konkreten Äußerungen erscheint seine universale Bedeutung.“156 Das Kreuz Christi ist „der anschauliche Ort“ des Nein und Ja über die Welt: „Nicht der historische Jesus, sondern das biblische Christusbild ist das Fundament des christlichen Glaubens“; „das in realer menschlicher Erfahrung wurzelnde Realbild des kirchlichen Glaubens“157. – Mittels dieser Transformation ins Medium der Vorstellung wird das Widerständige, Fremde, Anstoßgebende des kierkegaardianisch-christologischen Paradoxes eingeebnet. Im Zentrum der Tillichschen Theologie steht nicht eine paradoxale Selbstvergegenwärtigung Gottes, sondern das Bild des gekreuzigten Christus: Im Ästhetischen einer religiös vermittelten sinnlichen Verdeutlichung wird die paradoxale Zumutung an die Reflexion gleichsam durch einen Transformationsschritt unterlaufen. Im Horizont dieser metaphorologisch gedeuteten Kontinuität der Evidenzerfahrung verwundert es dann gar nicht mehr, von Tillich zu hören, „daß wir niemanden so gut kennen, wie Jesus“158, denn keines Menschen Sein sei uns ja so universal zugänglich, affiziere unsere Teilnahme so stark wie das seine. Diese christologisch-ästhetische Transformation hat Folgen für die Näherbestimmung der Existenz des Glaubenden. Man erinnere sich: die Negativität des Daseins schien für Tillich doch so durchdringend, „daß kein Akt innerhalb des Ganzen der existentiellen Entfremdung die existentielle Entfremdung überwinden kann“159. Kein Ausweg also? Nun, hier kommt die Gnade ins Spiel. Als Einbruch eines neuen Seins in die Geschichte eint sie 151 152 153 154 155 156 157 158 159
A.a.O., 109. Ebd. A.a.O., 125. A.a.O., 163. Tillich, Die sozialistische Entscheidung, 243. Tillich, STh II, 163. Hervorhebung von mir. Tillich, Auf der Grenze, 33. STh II, 127. A.a.O., 87 ff.
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das Entfremdete, schafft sie den Durchbruch, den das entfremdete Dasein in seinem Bann nicht vermag. Der Zwiespalt zwischen essentiellem und existentiellem Sein ist also in der Zeit, als reale Wandlung des Sünders, überwindbar. So ernst ist es also mit der Negativität auch wieder nicht gemeint: In sinnlicher Deutlichkeit und Eindeutigkeit zeigen sich nämlich doch die Spuren der Versöhnung. Fragmentarisch kann man diese Einheit [von Form und Dynamik] bei Menschen sehen, in denen Gnade wirksam ist, sowohl im profanen wie im religiösen Bereich. Sie sind Symbole der Wiedervereinigung von Dynamik und Form.160
Natürlich glaubt Tillich ebenso, wir begegneten in symbolisch zu benennender Sichtbarkeit auch „Menschen ohne Gnade“. Diese ästhetische Transformation findet sich beileibe nicht nur im Innersten des Systems, der Christologie. Auch wenn Tillich zum Beispiel von der ,höchsten Stufe der Kultur‘ spricht, wird für ihn menschliche Existenz in vollendeter autonomer Form sichtbar.161 So dürfte damit verständlich geworden sein, inwiefern Tillich mit seiner Christologie der analogia imaginis, die um die Repräsentation eines Bildes kreist, es uns mit dem Glauben wieder leichter zu machen versucht. Der Wagnis-Charakter des Glaubens scheint in dieser Theologie ausgetrieben zu sein. Tillich nimmt diesen Einwand sogar selber auf. Das Wagnis des Glaubens bestehe darin, dass einer „möglicherweise ein falsches Symbol für das, was uns unbedingt angeht, setzen kann, ein Symbol, das nicht wirklich das Letztgültige ausdrückt (wie z. B. der Gott Dionysos oder die Nation)“162. Genau dieses Wagnis hatte Kierkegaard für eine Nebensächlichkeit erachtet. Für ihn galt, der Mensch sei dann in der Wahrheit, wenn er sich subjektiv wahrhaftig verhalte, selbst wenn sich dieser Glaube (noch) in einer objektiv unwahren Symbolik ausdrücke. Kierkegaard meinte, die angemessene Symbolik zur wahren Verfassung der Subjektivität werde schon wie von selbst sich entwickeln. Abschließend sei die Aufmerksamkeit auf die Problematik der theologischen Redeform gerichtet. Durch eine Simplifikation hinsichtlich der Theologie als Mitteilungsform setzt Tillich sich von Kierkegaard ab und verschafft sich die Erlaubnis zum objektivierenden Reden. Es dürfte allgemein bekannt sein, welchen unsäglichen Anstrengungen sich Kierkegaard unterzogen hatte, aber auch welch fantasievoller Kühnheit und artifizieller Experimentierfreude er sich hingab, um in der Methode der Mitteilung dem paradoxalen Gehalt zu entsprechen. Tillich kann zwar formulieren, Theologie handele vom Paradox „und von nichts anderem“, doch er unterläuft jene Komplexität der Mitteilungsproblematik, indem er dekretiert, die Form theologischer und religionsphilosophischer Rede sei „notwendig objektivierend und dadurch
160 161 162
A.a.O., 73. Tillich, Auf der Grenze, 43. Tillich, STh II, 127.
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verendlichend und nivellierend“163. Wer die Mitteilungsform auch paradox gestalten wollte, der liefe nach Tillich Gefahr, die Form zu dogmatisieren und das wirkliche Paradox zu verlieren. In Abhebung vom Begriff des Geheimnisses stellt Tillich klar: „Die begrifflichen Mittel der Theologie sind dialektisch und rational“164. Wohl sei jeder Begriff der Transzendenz unangemessen, doch das könne die Theologie nicht am Gebrauch einer „an sich“ unzulänglichen Begrifflichkeit hindern.165 Alle Ausdrucksweise hinsichtlich Gottes sei ja symbolisch.166 Durchaus eindrucksvoll hat Tillich deutlich gemacht, dass die Rechtfertigungslehre auch auf das Denken anzuwenden sei und nicht nur aufs Handeln. Auch unser Denken stehe unter dem göttlichen „Nein“.167 Was bedeutet dies? Meint es, niemand, kein Subjekt, kein Gläubiger, keine Kirche, dürfe sich der Wahrheit rühmen. Das wäre doch eine allzu harmlose Pointe. Oder ist mit der anderen Wendung ernst zu machen, die Offenbarung sei eben so paradox, dass sie gar nicht in den Besitz des Denkens gerate?168 Wenn dies gilt, kann aber die Form des Denkens von dieser Einsicht doch nicht unberührt bleiben. Der Existentialismus steht gleichsam unter dem Motto „negativ und nicht anders“. Was als positiv erscheint, muss aus den Konstellationen der Begriffe herausspringen, kann nicht direkt-absichtsvoll aufgezeigt werden. Tillich dagegen will die Realität, die ,offenbarungsschwanger‘ ist, sichtbar machen; er appelliert an das Gefühl des Gebildeten wie der Massen, ja, ihnen will er, der Denker, das Gefühl geben, „daß diese Botschaft sie unbedingt angeht“; dieses positive Gefühl lässt sich in der Tat nicht durch Paradoxien ,wecken‘169. Kierkegaard wusste, dass eine solche Strategie der religiösen Erweckung misslingen muss. Dort wo Tillich vom Erwecken dieses beseligenden Gefühls unbedingter Betroffenheit durch den gläubigen Philosophen spricht, hat Kierkegaard das ganze Arsenal einer Strategie der Abstoßung des anderen entwickelt. Unsicherheit und Ungewissheit, das Wagnis der Entscheidung, sind für Tillich durchzuhalten, weil sie in einer Dimension des Ewigen schon immer aufgehoben sind, in der Sicherheit und Gewissheit walten. Tillich stellt sich das vermutlich so vor, dass untergründig ein durchaus amorphes Sicherheitsgefühl der Gottinnigkeit vorherrscht, welches die mit bestimmten Sachverhalten zwingend verbundene Unsicherheit relativiert und sie damit akzeptabel macht. Diese Unsicherheit bleibt natürlich. Gerade so werde der Mensch instand gesetzt, sich vor falschen Verabsolu-
163 P. Tillich, „Kirche und Kultur“, in: ders., Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, GW IX, 32 – 46, 33. 164 Tillich, STh II, 101. 165 A.a.O., 152 f. 166 A.a.O., 16. 167 Tillich, Auf der Grenze, 33. 168 Ebd. 169 A.a.O., 40.
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tierungen des Sicherheits- und Gewissheitsbedürfnisses zu schützen.170 Wieder sei Kierkegaard herbeizitiert: Auch er hatte ja immer wieder die Formel eingeschärft, der Mensch solle sich zu relativen Zwecken nur relativ und absolut nur zu der einzig absoluten Wirklichkeit verhalten, während wir doch dauernd uns absolut auf relative Zwecke einlassen. Indessen – und hier ist wieder der Unterschied ums Ganze im Spiel –: den Zugang zu jener Dimension des Ewigen, den der Mensch durch seine Borniertheit verspielt hatte, sah Kierkegaard durch die christologische Pforte so verschlossen, dass es das unsäglich Schwerste in der Existenz wäre, sie zu öffnen. Oder anders gesagt: Nach Kierkegaard sind wir durch den Betrieb unserer endlichen Existenz, auch durch unsere religiösen Hoffnungen und Wünsche, so erblindet, dass wir jene kleine Pforte ins Paradies nicht mehr sehen, durch die wir nur zu gehen brauchten. Fazit: Mit Tillich für die Schaffung einer Symbolwelt zu plädieren, welche ,die unbedingte Sicherheit des Sinnes‘171 darstellt, bedeutet, dem radikal existentialistischen Denken den Abschied zu geben. „Welt setzt ein tragendes Prinzip voraus, das zugleich Selbst-Charakter hat.“ „Das letzte Prinzip ist der unaussagbare göttliche Abgrund, das Jenseits von Selbst und Welt.“172 – Dies zu sagen, dass es das letzte Prinzip sei, macht eigentlich schon die Unmöglichkeit dieser Behauptung deutlich, denn sie nimmt ja eine Sprachlichkeit in Anspruch, die von der selbsthaften Differenz lebt. Über diese Logoshaftigkeit hinaus Prinzipienaussagen über ein Letztes zu treffen, das gar nicht aussagbar sein soll, macht keinen Sinn. Vielleicht wäre dies genau der Ort der Paradoxie, auf den alle Sagbarkeit des Sinnes zuliefe – aber das ist gerade nicht Tillichs Lösung.
170 171 172
Tillich, STh II, 83. Tillich, Masse und Geist, 88. Tillich, Religion und Weltpolitik (II. Religion und Weltbegriff), 180.
B. Emmanuel Hirsch: Nationalsozialistische Existenztheologie I. Nationalsozialistische Existenztheologie Emanuel Hirsch (1888 – 1972) – ist ein herausragender theologischer Gelehrter des 20. Jahrhunderts. Er steht auf Augenhöhe mit seinem Antipoden Karl Barth. Die herausragende Qualität zahlreicher Arbeiten dieses Autors – übrigens auch zu Autoren der Philosophie des Deutschen Idealismus! – ist unstrittig. Aber nichts ragt aus dem Schaffen dieses Theologen so heraus wie seine unermüdliche Bemühung um das Werk Kierkegaards, das er insgesamt für die deutsch sprechende Leserschaft übersetzt hat. Auch wenn heutzutage diese Übersetzung ,altväterlich‘ anmutet und die Bemühungen um eine neue Kierkegaard-Ausgabe in vollem Gange sind, bleibt doch festzuhalten: Der exzellente Kierkegaard-Kenner, -Interpret und -Übersetzer Hirsch hat sich um die Kierkegaard-Forschung außerordentlich verdient gemacht. 1945 schied er auf eigene Initiative aus dem Amt des Hochschullehrers aus. Und arbeitete weiter als Privatgelehrter und Schriftsteller. Später, in den fünfziger und sechziger Jahren, sammelte sich um den erblindeten Theologen ein Kreis junger Wissenschaftler, für die Hirsch eine Quelle unverzichtbarer geistiger Anregungen war. Eine ganze Reihe von ihnen besetzte im Nachkriegsdeutschland Lehrstühle für systematische Theologie. Als Anhänger einer liberalen Theologie setzten sie starke Gegenakzente zu der als autoritär-dogmatisch empfundenen Wort-Gottes-Theologie Karl Barths und seiner Schule (,Dialektische Theologie‘). Was das Gesamtbild dieser Gelehrtenbiografie einfärbt, ist eine politische Grundentscheidung: Nicht aus Opportunismus, sondern mit leidenschaftlichem Engagement war Hirsch Nationalsozialist und Mitglied der ,Deutschen Christen‘. Dezidiert hatte er sich 1945 geweigert, sich einem Entnazifizierungsverfahren zu unterwerfen. Konsequent musste er sich nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Universitätsdienst mit einer bescheidenen Rente begnügen. Der Jurist Rudolf Smend, der Erneuerer der Universität Göttingen nach 1945, empfand große Hochachtung für die intellektuelle Brillanz dieses Gelehrten – und schätzte zugleich zutreffend ein, dass dieser politisch so stark belastete Gelehrte im Erneuerungsprozess der Universität untragbar war. Smend hielt sich etwas darauf zugute, sich um die Sicherstellung eines akzeptablen Lebensunterhalts für den Gelehrten bemüht zu haben.
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Rudolf Smend: Als ich nach der Besetzung 1945 den hiesigen akademischen Trümmerhaufen übernahm, war einer unserer ersten Schritte, daß der Kurator und ich Emanuel Hirsch1 aus Göttinger Machtvollkommenheit pensionierten – sonst hätte dieser im Erblinden begriffene Mann nichts gehabt, als vielleicht eine Internierung. Das war ein bescheidener und trivialer Weg gegenüber dem (bei allen Einwänden gegen ihn) doch bei weitem besten Mann unter denen, von denen wir uns trennen mußten, aber er bezeugte ihm und aller Welt doch unseren Respekt.2
II. Mit und gegen Søren Kierkegaard Wenn die Basisthese des Verfassers dieser Untersuchung stichhaltig ist, dass keine Theologie so sehr gegen jede Formation des Kollektivwahns immunisiert wie diejenige Kierkegaards, legt es sich hier nahe, vor allem anderen die eine Frage zu behandeln: An welchen Stellen geht der Interpret auf Distanz, nimmt er Weichenstellungen vor, die sich nur als indirekte oder direkte Dispensierung vom Anspruch Kierkegaards verständlich machen lassen.3 1. Hirsch sucht sich die Schärfe der paradox gegenwärtigen unendlichen Forderung Gottes in folgender Wendung zu verdeutlichen: Das christliche Gottesverhältnis verpflichte uns auf „ein Ziel hin […], das wir, indem wir es ahnend schauen, nicht einmal mehr wollen können, sondern allein erleiden müssen, weil es das Leben selbst und damit auch die Basis des Wollens zersprengt“ (3 – 304)4. Sich darauf leidenschaftlich einzulassen und – vom Endlichen hergesehen – sich in diesem unruhevollen Schweben zu halten, das ist Kierkegaards Herausforderung. Genau an dieser Stelle nun verdächtigt Hirsch Kierkegaard, er sei mit der eigenen christlichen Erkenntnis konkret nicht zurechtgekommen, weil er nämlich das Verhältnis zum Bestehenden als Christenheit oder Kirche „weder christlich bejahen noch christlich zerstören oder verwandeln kann“ (ebd.). Das Interesse hinter dieser KierkegaardKritik muss nicht eigens ertastet werden. Hirsch selbst gibt an, es gelte – über 1
Smend legte Hirsch nahe, aus gesundheitlichen Gründen seine Pensionierung zu beantragen. Dazu die Darstellung des Sohnes R. Smend, „Eine Fakultät in kritischer Zeit. Die Göttinger Theologie zwischen 1920 und 1950“, in: ders., Zwischen Mose und Karl Barth. Akademische Vorträge, Tübingen 2009, 170 – 203, 195 f.; vgl. auch S. Korioth, „Evangelischtheologische Staatsethik und juristische Staatslehre in der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik“, in: Konfession im Recht, hrsg. v. P. M. Cancik/Th. Henne/Th. Simon, Frankfurt 2009, 121 – 145. 2 Vgl. „Auf der gefahrvollen Straße des öffentlichen Rechts“. Briefwechsel Carl SchmittRudolf Smend 1921 – 1961, hrsg. v. R. Mehring, Berlin 22012 (Brief Nr. 92 vom 9. Juli 1950). 3 Die folgenden Ausführungen sind weitgehend textidentisch mit dem Kapitel „Nationalsozialistische Existenztheologie“ in Kodalle, Die Eroberung des Nutzlosen, Kap. 14, 270 – 280. 4 E. Hirsch, Kierkegaard-Studien I–III, Gütersloh 1930 – 1933. Zitiert wird wie folgt: Die Zahl 3 vor dem Bindestrich bezieht sich auf das Dritte Heft mit den Studien 2 u. 3 „Das Werk des Denkers“; nach dem Bindestrich die gesonderte Seitenzählung dieses Heftes.
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Kierkegaard hinaus – einen „Begriff vom christlich Guten zu finden, der in der über uns verhängten Wirklichkeit dem Wagnis der Liebe konkret einen Weg des Handelns eröffnet“ (ebd.). Offensichtlich bestätigt sich, was Kierkegaard sarkastischer formuliert hätte: dass keine noch so brillante, vielleicht unübertrefflich philologischhermeneutische Einfühlung geeignet ist, das Bedürfnis nach einer alle Menschen verbindenden und verpflichtenden Wegweisung zu überwinden, wenn es denn nun einmal vom gesunden Menschenverstand festgehalten wird. Theoretischer gefasst, hört sich das so an: „In dem Kierkegaard bestimmenden Denken kommt der Gesetzesoffenbarung keine Stellung unabhängig vom Evangelium zu.“ (3 – 305). Keineswegs bringt Hirsch diese seine eigene Akzentsetzung nur im Abschluss seiner Kierkegaard-Studien zum Ausdruck. Er behauptet vielmehr schon zuvor des Öfteren, polemisch gegen die „deutschen Kierkegaardianer“ gewendet, sehr dezidiert, deren Kierkegaard habe dem christlichen Paradox „eine allgemeine Unterlage im menschlichen Leben überhaupt“ gegeben (3 – 84); „aller Scheidung zum Trotz“ enthülle sich bei Kierkegaard eine zugrunde liegende „Wahlverwandtschaft des Humanen und des Christlichen“ – „einer der Kierkegaard eigentümlichen großen Züge, die den deutschen Kierkegaardianern völlig verschleiert geblieben sind“ (ebd., Anm. 2). Für Hirsch heißt das: „Im Glauben ist Kontinuität durch das Diskontinuierliche hindurch.“ (3 – 84). Es kommt Hirsch also darauf an, alle Kategorien Kierkegaards als Gestalten „allgemeine[r] Einsicht in das Wesen des Geistigen überhaupt“ zu deuten (3 – 85), wobei ihm schlicht entgeht, dass Kierkegaard die Möglichkeit unterminiert, dieses „Wesen“ als das Wahre eigens reflexiv zu objektivieren – denn genau das wäre ja die Methode der so kräftig angeprangerten Spekulation. Für Hirsch hingegen gilt das Christliche „als vertiefende Vollendung der humanen Existenz“ (3 – 86). Hirsch kann auch formulieren, an den existenzaufschließenden Kategorien wie „Augenblick“, „Paradox“ u. ä. werde ablesbar, dass Kierkegaards Lehre gerichtet sei „auf jenes zugleich Abgrenzung und Wahlverwandtschaft, Umkehrung und Vertiefung bedeutende Verhältnis des Christlichen zum Humanen“ (3 – 92). Es ist faszinierend zu beobachten, wie Hirsch Kierkegaard geradezu in die Logik dieser sogenannten Wahlverwandtschaft nötigen möchte. Im Falle des Zentralbegriffs der Gleichzeitigkeit (des Glaubenden mit Christus) versagt dieser Zugriff – es fehlt „an diesem Punkte […] nun jener Aufweis einer entsprechenden allgemeinen Kategorie im humanen Verhältnis zum Historischen“ (3 – 100). Trotzig beharrt der Interpret, es sei doch wirklich „nicht einzusehen, warum das Wunder des Christentums gefährdet worden wäre durch solchen Aufweis, wenn nur ebenso wie bei den anderen Begriffen die Wahlverwandtschaft qualitativ begrenzt worden wäre“ (3 – 100 f.). Hirsch nimmt diese angeblich „offene Wunde des Gedankengangs“ zum Anlass einer Empfehlung, mit Kierkegaard über Kierkegaard hinaus zu denken. Über den Begriff des „Wunders“ ließe Kierkegaard sich nämlich noch vereinnahmen; dass er hingegen in seiner Radikalität die „formelle Sinnlosigkeit“ nicht scheut, bringt „in sein ganzes theologisches Denken einen eignen
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Klang“ (3 – 101) – einen Klang, der abstößt und deswegen wenigstens nachträglich interpretativ zu bearbeiten ist. Das muss im Kern der Christologie natürlich seinen Niederschlag finden: Hirsch kommt es darauf an, dass der Glaube „am ,absoluten Faktum‘ mehr als die Unkenntlichkeit Gottes besitzt“ (3 – 104). Kierkegaard müsse das eigentlich auch meinen, nur sei „seine Dialektik […] der von ihm selbst gemeinten Sache nicht gerecht geworden“ (3 – 106, Fortsetzung der Anmerkung von Seite 104). 2. „Bruch und Zusammenstoß im Innern, Gestaltung und Mitarbeit im Äußern bilden für unsere Haltung einen charakteristischen Kontrast“ (3 – 343). Hirsch signalisiert seine Distanz zu Kierkegaard mit den offenen Worten „ich habe es Sören Kierkegaard nicht abnehmen können“ (3 – 344). Zwar sei die differentia specifica des heutigen zum neutestamentlichen Christentum unübersehbar, doch der Pointe Kierkegaards, dies sei auf „unseren in Unwahrheit sich zum Siege des Glaubens umschminkenden Abfall vom Christentum“ zurückzuführen, bricht Hirsch die Spitze: Ihm zufolge nämlich liegt der Ursprung jener Differenz „in der anderen geschichtlichen Lage, in die uns Gott gestellt hat, den andern Aufgaben, die er uns gegeben hat“ (3 – 344). Indem Gott Urheber und Subjekt jenes geschichtlichen Prozesses wird, der auch die gegenwärtige Verfassung der Wirklichkeit umgreift, schlägt sich das Denken an genau der Stelle, an der Søren Kierkegaard „Abfall“ und „Verrat“ schrie, auf die Seite profaner Erbaulichkeit: Es stellt sich positiv den „Aufgaben“ der Situation, die Gott angeblich uns gegeben hat. Der geschichtliche Status quo der Volkstümer ist beileibe nicht für ihn ein Anlass, Zeter und Mordio zu rufen, denn er ist ja geprägt, in seinen Ordnungen wie in seinem geistigen Leben vom „bleibenden und erziehenden Einfluss des Christentums“ (3 – 344 f.). Der ganze Negativismus der Kierkegaardschen Analyse und Denunziation des objektiv Bestehenden ist hier weggewischt. Denn Hirsch ist ja dessen gewiss: „alle Mächte der Entchristlichung haben die […] tief eingetragenen Spuren [dieser gott-gewollten Positivität] […] nicht wegätzen können“ (3 – 345). Der radikal gegen alle sinnstiftenden Verzweckungen gerichtete Grundzug der kierkegaardschen Existenzbestimmung ficht Hirsch überhaupt nicht an. Der ganze subtile Nachvollzug des ingeniösen Kierkegaard-Interpreten, -Übersetzers, -Vermittlers schrumpft auf null. Für die eigene Gegenwart scheint Kierkegaard geradezu bedeutungslos zu werden: Wenn der Antichrist diese vom Christentum geformte „Art“ zu zerstampfen droht, ist es an der Zeit, dass „man das Christentum auch dazu braucht, diesen Volkstümern […] ihre vom Christentum mitbestimmte, ihm irgendwie geöffnete oder wahlverwandte Volklichkeit, Staatlichkeit und Geistigkeit zu erhalten und zu erneuern“ (3 – 345). Hirsch gibt vor, der Wille Gottes und was gegen ihn gerichtet ist, seien vom Christen, „in Hörsamkeit gegen Gottes Ruf“, identifizierbar. Sitz im Leben dieser Identifizierungsmöglichkeit ist die – hier als Bezeichnung geschichtlicher Lebensform gemeinte – Empfindung eigener „Art“ gegenüber dem Bedrohlichen des „schlechthin Fremdartige[n]“ (ebd.). So weit allerdings strahlt Kierkegaard jedoch noch auf Hirsch aus, dass die Bildung „allgemein ethisch-religiöser Art, geübt von den Kirchen, geübt auch von jedem Christen an
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B. Emmanuel Hirsch
seiner Stelle im Volksganzen“, nicht unmittelbar als „christlich im eigentlichen Sinne“ ausgegeben wird. Seine christliche Weihe erhält dieses Kollektiv-Engagement aber allemal, denn nach Hirsch steht es „doch unter christlicher Verantwortung“, ja es empfängt „aus dieser Verantwortung die gestaltende Macht“ (ebd.). Auch wenn die Kategorie des „in der Nachfolge Jesu für die Wahrheit leidenden Zeugen“ nach der Auffassung von Hirsch hier deplatziert wäre, da man diese Aktivität entfalten kann, „ohne in den innerlichsten Ernst des Christentums gekehrt zu sein“, gibt er doch „dies zweideutig Menschliche […] im Glauben als eine – in sich Tieferem geöffnete – Vorgestalt echten Christseins“ aus (3 – 345)! – Es bedarf sicherlich keiner näheren Explikation, dass solcher Theo-Logik der „Vorgestalten“ von Kierkegaard die stärkste Abfuhr erteilt worden wäre. Sein Interpret aber macht sich eifrig an die Konstruktion eines Dualismus, der Auffangpositionen für jene sicherstellt, denen der ganze Kierkegaard nun doch zu schwer, zu belastend vorkommt. Hirsch spricht ausdrücklich von „einem zwiefachen von Gott gewollten Verhältnis der einen christlichen Wahrheit zu unserer menschlichen Wirklichkeit“: hier der unbedingte Ernst des Glaubens, also Kierkegaard authentisch – dort „ein […] auf das Christentum zu vorgestaltetes allgemeines Leben“ (3 – 346). Was hier das Erste ist, auch darüber lässt Hirsch keinen Zweifel; da Hirsch aufgrund einer pragmatisch-lebensteleologischen Erwägung davon überzeugt ist, dass irgendwie der Boden für das Christentum des Einzelnen ja geschichtlich bereitet sein muss, wird klargestellt, dass das unbedingte Gottesverhältnis sich dem Eingebettetsein in jenes allgemeine Leben verdankt und sich deshalb gefälligst dessen „in christlicher Erkenntnis […] dankbar […] zu erinnern“ hat (ebd.). Dass der Einzelne nach Kierkegaard gänzlich aus dem Wahrheitsbezug herausgefallen ist und über keinerlei Möglichkeit verfügt, sich erinnernd wieder in die Wahrheit zu integrieren, das kann dann nicht mehr systematisch ernst genommen werden, wenn man den gegen-utilitaristischen Grundzug in diesem Ansinnen nicht als das schlechthin Denken und Handeln Bestimmende begreift. Dann liegt es gewiss nahe, angesichts des Strudels, in den Kierkegaard hineinreißt, nach Affirmationen Ausschau zu halten, die nicht nur Gebilde meiner Einbildung sind. Dabei suggerieren schon solche Sprachspiele wie das von „der uns gegebenen geschichtlichen Lage“ (ebd.), dass diese Lage ihre bestimmte Qualifikation nicht durch meinen Eingriff erfährt, sondern ihre Dignität als so und nicht anders von Gott gewollte in sich besitzt. Gott verändert die Geschichtslage – er lässt, zum Beispiel, „die Mächte der Entchristlichung […] Herr werden über unsre Volkstümer“ – und wir haben das zu erkennen und uns darauf einzustellen (3 – 347). Der Mangel an Gespür für den gegenutilitaristischen Impuls, der alle Versuche untergräbt, den christlichen Glauben auf allgemeine Zwecksetzungen eines für ein Volk verbindlichen Ethos festzulegen, wird in der Wortwahl erkennbar, etwa wenn es heißt, es sei der christlichen Wahrheit gemäß, Kirche und Menschen „zur Durchwirkung des Ganzen“ zu brauchen (3 – 346). Der anti-kierkegaardianische Dualismus setzt sich in vielen So-wohl-als-auch-Gliedern fort: die eine Christenheit sei beides, „greifbare menschlich-irdisch verfasste Menge und Gottes heimliche Kämpferschar, […]
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möglichst alle unter dem Namen Christi umfangende Geschichtsgestalt und in den von Gott gekannten Wenigen eine der Ewigkeit zugehörige Herrschaft Jesu Christi über das Herz“ (3 – 346 f.). Die christliche Wahrheit, „als ethisch-religiöse Idealität lebendig entbindende und gestaltende Macht im allgemeinen Leben und seinen Ordnungen“, hat ihren Daseinsreflex in der Gewähr von „Tiefe“ und „Ausrichtung“, „Halt“ und „Zucht“ – Existenzbestimmungen, die schwerlich von Kierkegaard inspiriert sind (3 – 346). Hirsch versteht sein Vorgehen als Bereinigung dessen, was in Kierkegaards Angriff auf Christenheit und Kirche „schief“ sei und eine „Unwahrhaftigkeit im Gebrauche Kierkegaards“ durch pensionsberechtigte Kirchenbeamte befördert habe (vgl. 3 – 348 und 348, Anm. 1 plus 2). Die später für unliebsame Zwischenrufer in Deutschland bekanntgewordene Formel „geh‘ doch in den Osten“ wird hier denen entgegengehalten, die sich zwar auf Kierkegaard berufen, aber sich auf ihren Pensionen und Besitzständen ausruhen: deren „grundsätzliches Christsein würde sich zur Zeit am wohlsten in Russland befinden“ (3 – 348). Dass ein bloßer theologischer Verbalradikalismus kaum die Intentionen Kierkegaards trifft, mag man einräumen. Allerdings hätte Kierkegaard darauf bestanden, die Dialektik von Kritik am und Liebe zum Bestehenden sei in den Fällen offenkundiger anti-christlicher Staatlichkeit und in denen christlich geprägter Lebensordnung jeweils eine andere. Und die letztere wäre sicherlich auch die schwierigere, denn in ihr hätte, wie zu zeigen ist, das Inkognito eine entscheidende Rolle zu spielen. Für Hirsch indessen sind mit dem aufgezeigten Dualismus die Weichen für ein Engagement im Rahmen der sogenannten Vorgestalt des Christlichen gestellt. Es kommt Emanuel Hirsch sehr darauf an hervorzuheben, dass Kierkegaard den Kampf gegen das Bestehende nicht in eine Solidargemeinschaft der Kämpfenden einmünden lassen wollte, die sich dann gegenüber dem Bestehenden aussondern könnte; „jeder für sich“ habe den Widerstreit gegen das Bestehende zu durchleiden (3 – 337). Jede Institutionalisierung, auch die zu einer Kampfkirche, versieht ihre Repräsentanten mit Ehre und Ansehen und verfehlt deshalb „die Dialektik der Nachfolge im leidenden Zeugen für die Wahrheit“. Die Gegenspannung zum Staat als solche ist also nicht ausschlaggebend, sondern die Binnenstruktur von Institutionalisierung überhaupt. Jede Form der Institutionalisierung bedeutet nämlich, dass „die kämpfende Wahrheit durch eine kirchliche Organisation vertreten“ wird, gleichsam einen „Spezialauftrag“ Gottes für sich reklamiert. Auf die Vorstellung eines „streitend-leidenden Bezeugen[s] der Wahrheit ,en compagnie‘“ hätte Søren Kierkegaard nur Satiren verfasst – die Attacken gegen den „Klerikalismus einer bestimmten Altersschicht innerhalb der deutschen evangelischen Pastorenschaft“ lassen sich so mit Kierkegaard führen. Allerdings ist ebenso zu konstatieren, dass sich Hirsch in seiner Theologie gegen die Radikalität Kierkegaards gegenüber allen Formen der Faszination, die vom Kollektivwahn ausgehen, erfolgreich immunisiert hat (vgl. 3 – 337, Anm. 1 = zum Vorigen). Freilich will Hirsch auch glaubwürdig machen, dass selbst in dem so gestalteten Existenzrahmen die „mein Gewissen verwundende Kraft“ Kierkegaards für ihn nicht erledigt ist, denn
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B. Emmanuel Hirsch nur im Wagnis erschließt sich uns das, was unser Christsein im Leben ausdrücken für uns heißt, und dabei müssen die neutestamentlichen Bestimmungen von Nachfolge, Leiden und Selbstverleugnung uns zugleich fragen und hemmen und stacheln, bis wir die gerade von uns geforderten Bestimmungen in Situation erfasst haben (3 – 349).
Man kann durchaus dem Gericht des Angriffs Kierkegaards auf die Christenheit verfallen, wenn man das Christliche ,eitel nimmt‘. – Wir haben hier nur unsere spezifische Differenz hinzuzufügen: Nur wenn jene neutestamentlichen Bestimmungen aus einem kohärenten gegen-utilitaristischen Selbstverhältnis die individuelle Praxis des Lebens bestimmen, sind sie dagegen gefeit, für irgendwelche Lebenszwecke funktionalisierbar zu sein. Hirsch räumt ein, „dass unser Telos schon, nicht etwa bloß unser Handeln, in Zweideutigkeit liegt“ (3 – 350). Dennoch ist es für ihn klar, aufgrund des großen christlichen Plus-Zeichens vor der Klammer, dass wir „durch unsre Aufgabe gezwungen [sind], dieser Wirklichkeit gegenüber auf Mitgestalten und Mittragen und Mithelfen unsern Willen zu richten“; solche Einstellung stößt dann, konsequent, mit diesem Allgemeinen auch „höchstens sekundär […] zusammen“ (3 – 350). Wie sich alle zentralen Kierkegaardschen Kategorien geradezu rasant verkehren, mag man sich an der „Durchsichtigkeit seiner selbst vor Gott“ verdeutlichen: Diese letzte kaum kommunikable Ausformung des Selbstverhältnisses schlägt hier um in eine Beschreibungskategorie des Weltverhältnisses: „Wer so in Durchsichtigkeit vor Gott seinen Weg in der heutigen Christenheit und Kirche geht“ (3 – 350). Die Durchsichtigkeit der Existenz ist hier der Affirmation einer bestimmten lebensweltlichen Entscheidung zugeordnet, nicht aber bezeichnet sie das Schwierigste: das absolute In-Gott-Sein; vielmehr konfrontiert Hirsch dann erst den so sich selbst vor Gott angeblich durchsichtig Gewordenen mit einer sekundären Verunsicherung: mit der „vom Kreuz des Herrn ausgehenden Erinnerung an die Gefahr des Selbstbetrugs in allem, aber auch in allem, was an christlichem Leben und christlicher Wahrheit an uns und um uns vorhanden scheint“ (3 – 350). Was für Kierkegaard in den Kernbereich theologischer Selbstreflexion gehörte und ihn in den Radikalismus einer Überwindung jeglicher vorgegebener Sinn-Teleologie, Substanzhaftigkeit des allgemeinen Bestehenden usw. nötigte, wird hier bei Hirsch gleichsam im Modus der Erinnerung eingeführt als ein ständiges Monitum, das aber, wie sich ja gezeigt hat, die Umkehrung der Fronten nicht verhindert. So auf den zweiten Rang im Selbstverhältnis gesetzt, die theologische Affirmation in Bezug auf das geschichtlich Bestehende des ,objektiven Geistes‘ im Innersten nicht tangierend, kann Hirsch dann jene Kierkegaardsche Pointe durchaus mit eindrucksvollen Worten – aber eben: nachträglich – einbeziehen. Was uns Macht der christlichen Wahrheit im allgemeinen Leben scheint: es kann auch christliche Verbrämung eines wider das Christliche sich selbst verfestigenden, sich heimlich selbst vergötternden allgemeinen Lebens sein. Was uns als das Christliche lebendig haltender, die Menschen ans Christliche heranziehender echter Dienst unsers Kirchentums an der göttlichen Wahrheit erscheint, es kann auch Dienstbarkeit unsers Kirchentums unter irdische Strebungen und Gewalten, verhüllt durch schön klingende fromme Reden sein. Was
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uns Verwirklichung des Christwerdens im Gehorsam unter eine von Gott gestellte Lebensaufgabe scheint, es kann auch die Scheinbewegung eines weltlich klugen Menschenhirnes mit christlicher Maskierung sein. Was uns Tiefe des Versöhnungsglaubens scheint, es kann auch der Missbrauch der Gnade zur Selbstberuhigung in einem den Bruch mit der eignen Sünde scheuenden Leben sein. Und so könnte man bis ins Unendliche fortfahren. Wir denken, es ist Gottesdienst, und es ist Gotteslästerung. Wir denken, es ist Gemeinschaft mit dem Herrn, und es ist Missbrauch seines Namens. Wir denken, wir sind in der Aneignung der Wahrheit, die Christus ist, und wir bauen uns in Arglist einen Schutzwall wider sie auf. Wir denken, er ist gegenwärtig in unsrer Gemeinschaft, und er ist es auch, aber so wie einst bei der Austreibung im Tempel. Es gibt nichts an der Christenheit und an der Kirche und am einzelnen Christen in Christenheit und Kirche, wider das nicht von dem unbedingten Soll Gottes in Christus her diese Frage möglich wäre. Das sagt uns Gott durch Kierkegaards Angriff auf die Christenheit, auf dass wir es nicht vergessen und uns nicht überheben. (3 – 350/351)
Das bloß Konditionale und konsequenzlos Prinzipielle der so eingeführten radikalen Infragestellung ließe sich in ein Apriori jedes theologischen Satzes umformen, wenn man sich dem gegen-utilitaristischen Sinn der Paradox-Theologie nicht so eklatant verschlösse. Dass Hirsch im letzten nicht wahrhaben will, wieweit die Aufhebung der natürlichen Sorge-Struktur des Daseins reicht, drückt sich in der besorgten Frage aus, ob das Kierkegaardsche Ärgernis „noch die radikale evangelische Selbstkritik und nicht vielmehr christlicher Nihilismus“ sei (3 – 151). Menschliche Verleumdungssucht, ja eigene Verzweiflung tendieren nihilistisch dazu, die christliche Wehrlosigkeit vor dem Unbedingten sich zunutze zu machen (3 – 352). Hirsch sieht recht, dass es keine mitteilbaren, theoretisch fassbaren Garantien gibt, welche die Verkehrung des christlichen Ärgernisses in Verzweiflung verhindern könnten (ebd.). Dieses besorgende Erwägen ist nämlich selbst aufzugeben! Denn mag Jesus Christus selbst von Gott „in unser Leben hineingestellt“ sein „zum Glaubenlernen“, so vollzieht sich dieser Lernprozess doch jedenfalls „in der Möglichkeit des Ärgernisses“ (3 – 353). Es bleibt also dabei: Die christologische Erschließung ,neuer Lebensmöglichkeit‘ erfolgt ohne Gewähr, sie enthebt nicht einer Unruhe, die nie sich erschöpft (vgl. 3 – 354). Hirsch sieht, abschließend, auch noch Kierkegaards letzten Angriff auf die Christenheit unter die Dialektik gestellt, die für den Propheten Jona zur Erfahrung wurde: Nichts schließt aus, dass die von der Radikalkritik Getroffenen „aus eigenem Wagen wider den Bußprediger selbst den Entschluss finden […], in sich bekennender Reue des Glaubens zu Gottes Gnade die Zuflucht zu nehmen“. (Diese Relativierung haben wir selbst vorgenommen, als wir die Explosion des Angriffs als eine mögliche extreme Grundstellung zum Bestehenden charakterisierten, die nicht immanent-teleologisch als der letzte und höchste Sinn der Kierkegaardschen Verhältnisbestimmungen auszulegen ist.) Was nach dem bislang Aufgezeigten hellhörig stimmt, ist vielmehr der Versuch von Hirsch, jene dem Wagnis des Einzelnen obliegende Einstellung zu Kierkegaards Angriff zurückzubinden in eine unabschließbare „Dialektik von Versöhnungsglaube und Lebensgehorsam“ (3 – 354). Die Kategorie
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B. Emmanuel Hirsch
Lebensgehorsam zeigt die radikale Distanz zu Kierkegaard an; dessen Denken in solchen Rahmen zu stellen, verrät es. 3. Die hier in dieser Analyse in Betracht gezogenen Kierkegaard-Studien ließen erkennen, dass sich Emanuel Hirsch sehr genau der Punkte bewusst war, an denen er sich zum authentischen Sören Kierkegaard in Distanz befand. Welches Gewicht diesen Differenzen zuzumessen ist – ob sie also als zentral oder als marginal anzusehen sind –, das bleibt strittig. Hirsch selbst hat seinen Akademischen Vorlesungen zum Verständnis des deutschen Jahres 1933: „Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung“5 sehr bewusst und sehr plakativ ein Kierkegaard-Motto vorangestellt: Wenn einer in Aufrichtigkeit wagen will, so bekommt er wohl schon Kräfte genug in der Entscheidung… Es ist gewiss: die Zuversicht, mit der man wagt, gibt übermenschliche Kräfte. Aber es ist auch gewiss (oh wunderlich, wie genau es stimmt): wer die Zuversicht hat, der versteht sie auch nicht. Siehe, das große Kriegsschiff bekommt seine Bestimmung erst zu wissen auf hoher See, die Schute weiß alles im voraus. (S. Kierkegaard)
Dieses repräsentativ an den Anfang der Schrift gesetzte Motto signalisiert für alles Folgende, dass der Verfasser im Grunde überzeugt ist, aus dem Geiste Kierkegaards zu argumentieren. Die namentliche Berufung auf Kierkegaard als den Ausgezeichnetsten unter allen Großen erfolgt durchgehend (13, 47, 50, 85, 110, 111, 158)6, und die Terminologie spiegelt die Vertrautheit mit Kierkegaard allenthalben. Unser Vorurteil, welches im Folgenden als begründet erwiesen werden soll, lautet demgegenüber: Das erkenntnisleitende Interesse von Hirsch verkehrt Kierkegaards Denken in das Gegenteil seines Sinnes; jene herausgearbeitete Differenz ist also zentral; sie stellt eine Verkehrung der mit Kierkegaards Namen verbundenen Eroberung des Nutzlosen dar. Wenn einer, dann war es Sören Kierkegaard, der die Offenbarung christologisch konzentriert hatte. Hirsch geißelt das, wie schon an den „Kierkegaard-Studien“ ersichtlich geworden ist, als Verengung und behauptet eine „vorlaufende Offenbarung und vorlaufende Gnade“ (117). Das argumentative Basis-Konstrukt sieht, entflechtet, so aus: Religion will Wirklichkeit von Gott her deuten, aber Wirklichkeit erschließt sich uns nur im unmittelbaren Lebensgefühl. In ihm kristallisiert sich „das uns von Gott gesetzte Menschsein“, durch das „Gott zu uns spricht und an uns handelt“. Es komme darauf an, sich an diese irdische Wirklichkeit ganz hinzugeben. Wer diesem Lebensgefühl die sogenannte gotterleidende Innerlichkeit des einsamen Glaubens überordnet (die Hirsch übrigens auch als „Wirklichkeitsempfindung“ kennzeichnet) und mit ihr jenes Lebensgefühl ,totschlägt‘, der macht sich des Ungehorsams gegen 5
E. Hirsch, Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung. Akademische Vorlesungen zum Verständnis des deutschen Jahres 1933, Göttingen 1934 (165 Seiten). 6 Im Text nur mit eingeklammerten Seitenzahlen zitiert.
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Gott schuldig, seine Frömmigkeit entartet – und wie der ähnlichen Charakteristika mehr lauten mögen (vgl. 158 f.). Die „religiöse Angst“ vor dieser Unmittelbarkeit wird eigens attackiert (159). – Das der argumentativen Logik zufolge wirkliche Absolute ist mithin das religiös aufgeladene unmittelbare Lebensgefühl. Anders gesagt: Hirsch optiert mit einem empirisch Absoluten, dem unmittelbaren Lebensgefühl – dem das Dogma von der Heiligkeit des Lebens korrespondiert (161) – und einer Gegenwart des göttlich Absoluten: der „gotterleidende[n] Innerlichkeit“. Der Mensch gerät in den „Widerspruch“ dieser Bestimmungen (157). Dass von Kierkegaard her keine Brücke in diesen Sumpf einer Verabsolutierung des Lebensgefühls führt, muss nicht eigens herausgearbeitet werden. Kierkegaards Kritik der sich selbst missverstehenden, weil eben aufs Ganze sich richtenden Reflexion und deren Spiegelung als Praxis ersetzende Diskussion wird von Emanuel Hirsch als Sprungbrett benutzt, um sein Plädoyer für eine den Menschen ursprünglich ergreifende Gewalt, „jenseits seiner Reflexion“, zu profilieren (13). Der Horror vor der „gottlos vagabundierenden Reflexion“ (37) reicht soweit, dass Hirsch selbst der nachträglichen reflexiven Verarbeitung dieses Ergriffenwerdens noch den Boden entzieht (vgl. 28); wäre doch dann ein Pluralismus der ,Ideale‘ so gut wie unvermeidlich und der ,bittere Ernst‘ könnte sich im Leben existentiell nicht entfalten. Natürlich hält Hirsch es für ganz unstrittig, dass das Ewige noch ganz etwas anders ist als der letzte Sinn des sich aus sich selbst bewegenden Irdischen, dass es ebenso die überschwängliche, das Irdische verzehrende, allein unbedingt geltende Gründung und Zielung unsers Menschseins in der Verborgenheit Gottes ist (156).
Dieses Äußerste einer alles ,erschütternden und segnenden Macht‘ festzuhalten, sei dem Christentum sogar „mit den letzten Tiefen vorchristlicher Religion gemeinsam“ (ebd.). Mit solchen Beteuerungen ist nun freilich solange nichts anzufangen, wie nicht deren genaue Verhältnisbestimmung zu den einzelnen Momenten der Existenzauslegung erfolgt. Sie werden sich als salvatorische Klauseln herausstellen. Denn jenes „letzte Offensein“ der „Volklichkeit und Staatlichkeit“ für den Herrn der Geschichte, ausgegeben als abgründige Ungesichertheit auch des Kollektivs (75), begründet für Hirsch gerade die Vollmacht der endlichen Instanz (73). Die Unverfügbarkeitsmetapher sanktioniert gerade das ,heilige Muss‘ (103). Dient doch die Metapher der Unverfügbarkeit Gottes nur dazu, das gegenseitige Verständnis zwischen Führer und Volk noch emphatisch als eine „freie Gabe Gottes“ aufzuwerten; der darin auch verborgene Unsicherheitsquotient betrifft nicht die religiöse Deutung jenes all-,gemeinen‘ Einverständnisses, er erstreckt sich vielmehr nur auf die Zeit-Perspektive: Niemand könne wissen, ob jenes machtvolle Einverständnis auch dauerhaft Bestand vor Gott haben werde (vgl. 64). Die sogenannte „furchtbare Paradoxie“, „dass die letzte Entscheidung über das Menschsein in diesem vor Gott ein Einzelner sein liegt, welches für keine Volksordnung […] verfügbar ist“ (143), trägt für den geschichtlichen Status quo der Kollektiv-Einheit qualitativ
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B. Emmanuel Hirsch
überhaupt nichts aus! Denn die Wahrheit dieses Einzelner-seins bewährt sich doch nur im Dienst, als Hüter und Wahrer der neuen Bewegung (144). Nur keine Erwartung der Sinn-Bedürftigen enttäuschen – das ist der oberste Leitsatz von Hirsch (146). Und weiß Gott: auf solche Gottesverkündigung wird im Volk immer gewartet… (vgl. 149); wer an dem Warten und Suchen des Volkes vorüberginge, würde dadurch schuldig (150). – Wie unvermittelt dieser theologische Denktypus im Übrigen in die anmaßende Usurpation göttlicher Besorgtheit umschlägt, wird verräterisch an der Prognose von Hirsch ersichtlich, ohne diesen Beistand werde das deutsche Volk „den Weg ins Heidentum antreten – und daran sterben“ (144). Ein weiterer Schritt in der Eskalation einer Verkehrung Kierkegaards ist mit dem Angriff auf die „kleinen abgesonderten Kreise“ jener Theologie getan, die sich dem Einzelnen zwar in der Liebe Gottes widmen, die aber diese Liebe nicht auf das ,allgemeine geistige Geschick von Volk und Kultur‘ zu übertragen gewillt seien (83 f.) und die nicht begreifen wollen, dass man ein religiöses Schicksal fröhlich zu bejahen habe als etwas, das „Glaubende und Zweifler und Spötter“ gebannt hält (104). Hirsch deutet also den absoluten Vorbehalt geradezu als Freibrief für das wilde religiöse Engagement, das „in unseren irdischen Entscheidungen […] einen Gottesruf […] wagend“ vernimmt (157). Terminologisch wird Kierkegaard dauernd beerbt, wenn Hirsch z. B. jene Lebenshaltung als eine paradoxe charakterisiert. Sachlich wird Kierkegaard dauernd verhöhnt, wenn Hirsch die Vergänglichkeit alles Irdischen vor Gott in einer Affirmation sich niederschlagen lässt, welche dem Krieg die Bedeutung einer existentiellen Schlüsselerfahrung des Gottesverhältnisses verleiht. Deshalb erscheint es Hirsch persönlich „wahrscheinlich, dass in dem Hass gegen den Krieg zu großen Teilen einfach die Notwehr des Menschen wider diese Aufdeckung des letzten Widerspruchs unserer Existenz […] steckt“ (164 f.)! Im 1. Weltkrieg hatte Hirsch mit den Deutschen Gott erfahren (44) – jetzt spürt er diese Erfahrung dem Führer ab (49). Letztes irdisches Gegebenes, ,verborgener Souverän‘, ist der natürlich-geschichtliche Blutbund des Volkstums; ihm haben Einzelner wie Staat zu dienen (60 f.). Hirsch wählt für den ,gottgewirkten‘ Aufbruch und Umbruch (59) auch die Spezifikation einer ,irdischen Unbedingtheit‘ (117); sie ist seinen Gedankengängen in der Tat angemessener, als es die konsequenzlosen Hinweise auf ein absolutes Transzendieren sind. Kierkegaard, der die falschen geschichtlichen Kontinuitäten sogar in Bezug auf die Heilsgeschichte zerbrach; welchen Hohn hätte er über ein Denken ausgeschüttet, für welches „das empfangene Bluterbe in der Kette der Geschlechter“ die letzte irdische Bindung symbolisieren sollte (19). Solchem Mythos des Geschichtskollektivs, das natürlich seine Opfer produzieren muss, denn es besteht ja in Abgrenzung, folgt die prophylaktische Selbstentschuldung auf dem Fuße: Was da in der Geschichte ursprünglich-gewaltsam durchbricht, das sei „von keinem einzelnen Menschen gemacht, sondern im Ganzen des Volks lebendig“; und
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mit Blick auf das Verhältnis zu den Juden: „An dieser geschichtlichen Lage ist kein Einzelner schuld. Sie ist göttliches Verhängnis, das erlitten werden muss.“ (23) Besonders aufschlussreich für die Kollektivierung der Existenzkategorien ist die Tatsache, dass Hirsch selbst der Metapher „Krankheit zum Tode“ das Volk bzw. die Nation als Subjekt unterschiebt (56, 97). Diese Kollektivierung der Existenzkategorien ist perfektioniert: Hirsch postuliert, wir bräuchten „eine wagende Kirche“ (129). Nur eines darf offenkundig diese Kirche nicht mehr wagen: der Masse des Volkes und seinen Ambitionen Ärgernis zu geben (135). Denn damit schnitte sich der Glaube von den eigenen geschichtlichen ,Lebensmöglichkeiten‘ ab (134). Nicht nur eine Verantwortung aus dem Evangelium für das Volk konstatiert Hirsch, sondern auch eine Verantwortung „dem Volke gegenüber“ leitet er aus dem Evangelium ab. Entsprechend scheint Hirsch keine Verunsicherung des Status quo so sehr zu scheuen wie die Narren in Christo, die Schlemihle, in seinen Worten: ,die verunglückten Nachahmer der Stimme eines Engels vom Himmel‘ (139 f.). Mit dem „ganzen Ernst des Religiösen“ sei die deutsche Wende zu ergreifen, damit ein bestimmter geschichtlicher Inhalt im Augenblick der Entscheidung geheiligt und als „Gottesbegegnung“ qualifiziert werde, und zugleich das Ich mit seinem „pulsierenden Zielwillen“ (37) sich hinauswage über das Besondere und den Augenblick, hinaus „in das Verborgene Gottes“ (42 f.)! Der Einzelne, „fügend-verfügt von dem Einen, Letzten ergriffen“ (49), hat da in der Tat nichts mehr zu lachen. Indem ein geschichtlicher Inhalt als Auftrag erfasst wird, macht sich das Ich in diesem Wagnis selbst zum leidenden Werkzeug, „das Gott nach seinem unenthüllten Rate braucht über es selbst hinaus zu seinem überschwänglichen Walten“ (43). Diese entwürdigende Formel vom „Werkzeug“ und von der „wehrlosen Hingegebenheit“ Gott gegenüber in der Teilnahme an der geschichtlichen Wende (71) hält sich stereotyp durch (vgl. 68, 75, 82). Das bindungssüchtige religiöse Subjekt definiert sich gleichsam apriori als Werkzeug des Allmächtigen, dessen Wirken es zu spüren bekommt (36): Freiheit ist nichts als das „Sichvollziehen des Dienstes am Ganzen aus dem Ganzen heraus in verantwortlichem Sichentscheiden und Führen und Gehorchen“ (40). Es ist Sache eines ,Walters des Ganzen‘, den Einzelnen verantwortlich zu machen (41), in ihm die „Erinnerung an Blut und Rasse“ (35) zu wecken, an jene ursprüngliche „Flamme, die wir im Ringe umschreiten“ (33 und permanent). „Wer nicht den Ruf der Fahne hört, der weiß auch nicht, was Freiheit ist.“ (41). Eine persönliche Entscheidung des Einzelnen unter Berufung auf das Herzensgeheimnis des Glaubens mag Indifferenz gegenüber dem geschichtlich Allgemeinen zur Folge haben – theologisch legitim ist sie für Hirsch nur, soweit sie allgemein irrelevant bleibt. Denn emphatisch-fromme Rede konzediert dem „Herzensverhältnis zu Gott“ zwar den höheren Rang; Kriterium der Authentizität bleibt aber die Übereinstimmung mit dem neuen geschichtlichen Aufbruch des Allgemeinen (69 – 71). Denn Gottes majestätischer Wille ist a priori bei Hirsch gemeinschaftsbildende Macht (75). Die Rede von der „Paradoxie, die geschichtlicher deutscher Art innewohnt“ (72), führt also nur die unfreiwillige Satire
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B. Emmanuel Hirsch
auf Kierkegaard fort. Mag eine Entscheidung auch stets einzelhaft sein, der Einzelne bewegt sich nur in der Wahrheit als „tathafter Erleuchter und Vollstrecker des Nomos des Ganzen“ (ebd.). In Entscheidung und Tat des Einzelnen vollzieht sich der ursprüngliche Nomos; „Volksverbundenheit“ ist „Grund und Ziel“ der Praxis des Einzelnen (51), der sich „einweben“ lässt „in den Logos des Geschichtsganzen“ (76). Gott nämlich zerbricht die Selbstmacht des Menschen, indem er „durch Volkstum und Vaterland mir begegnet […] mit einer bindenden und segnenden und spannenden Wirklichkeit“. Der absolute Vorbehalt erweist sich dem Christen in der Überzeugung, dass auch die Mächte des Volkstums selber vergänglich sind. Dass das irdische Leben seinen konkreten irdischen Sinn nur findet, indem es sich seinem Volk und Land opfert, weil es von da seinen Sinn empfängt – daran ändert sich durch jenen Überschritt zu einer absolut alles begrenzenden Macht Gottes gar nichts (vgl. 162). „Der echte christliche Individualismus, der sich in Gott frei, in Gott ein Einzelner weiß“ (163), stellt also keinerlei Potential der Uneinnehmbarkeit und Nonkonformität dar. – Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: das Theologumenon vom Einzelnenin-Gott perfektioniert die Anpassung ans Kollektiv! Der Trotz gegen den „nicht vor Gott bestätigten Anspruch des Irdischen“ wird ja völlig überholt, wo ein Irdisches als von Gott bestätigt phantasiert wird. Also gibt erst jene theologisch vorgenommene Akzentuierung „dem Sichhineingeben in das Irdische, auch in das Volkstum, die Wucht des Entschlusses aus Gott“. Der Dienst am Ganzen erhält die Dignität unbedingter Pflicht. Diese unbedingte Treue des „Ja aus Gott zum Dienste“ wäre aus der bloßen irdischen „Hoheit des Volkstums“ gar nicht vorstellbar. Sie regeneriert sich also aus der göttlichen Sanktionierung dieser frei-willigen Selbst-Preisgabe (163 f.). Indessen: Nicht einmal die Freiwilligkeit der Selbstpreisgabe im Opfer fürs Volksganze wird schließlich noch als Kriterium respektiert. Hirsch teilt ,die tiefe innerliche Freude‘ des Volkes angesichts eines Regimentes, das hart zupackend ,jeden Einzelnen dem gemeinsamen Opfer eingliedert‘ (26). Schließlich waltet in der ganzen Geschichte ja die heimliche Gnade göttlicher Fügung, und deshalb darf das begeistert, aber, freilich, diskussionslos geopferte Ich wissen, „dass der Saum der durch die Geschichte wandelnden Gottheit uns gestreift hat“ (27). Da kann es ja nicht mehr schwerfallen, sich an die herrische Art des Befehls und „die alles durchgreifende Zucht“ (28), ja selbst an den „rücksichtslosesten Zugriff“ zu gewöhnen (37). – Die Satire auf Kierkegaard vervollkommnet sich, indem das „echte deutsche Denken“, das die bloße Überredung als Gewalt denunziert und die rücksichtslose Gewalt als Gottes Macht verherrlicht (37 f.), von Hirsch auch noch als Sokratik ausgegeben wird (27, 47). Nachbemerkung
Die in diesem Kapitel greifbar gemachten, auf die Wurzeln des kierkegaardschen Denkens zielenden Vorbehalte von Emanuel Hirsch finden sich, wenngleich viel moderater und indirekter formuliert, in seiner „Geschichte der neuern evangelischen
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Theologie…“7. Die Beschränktheit der Perspektive Kierkegaards zeigt sich Hirsch in dessen Unfähigkeit, „das Christentum […] mit den Augen des echten unbefangenen Zweiflers zu sehen“ (488). Ich habe mit meiner „gegen-utilitaristisch“ genannten Rekonstruktion in meinem Buch „Die Eroberung des Nutzlosen“ einen Vorschlag unterbreitet, den Sinn kierkegaardschen Denkens trotz der „Urbefangenheit“ in ,absoluten theologischen Prämissen‘ (490) zu entfalten. Genau daran liegt indessen Hirsch gar nichts: Nicht der gegen historische Relativierungen immune Sinn des radikalen Denkens interessiert ihn, sondern der Aufweis, dass Kierkegaard vom „echten Forschersinn und der schlichten, nicht christlich vorgeprägten Menschlichkeit“ her – der gegenüber er sich verschlossen habe – zu relativieren ist (vgl. 490).
7 E. Hirsch, Geschichte der neueren evangelischen Theologie; im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 5, Gütersloh 1968, 53. Kap., 433 – 491.
C. Karl Heim: Der Wunsch nach Identifizierbarkeit des göttlichen Willens I. Gegen die Selbstgenügsamkeit der Theologie – für Bewährung im kritischen Diskurs und im Kraftfeld des Politischen Zwischen 1920 und 1933 ist Karl Heim (1874 – 1958) „derjenige, der neben Karl Barth unter den theologischen Lehrern in Deutschland die größte Anziehungskraft ausgeübt hat“.1 Wenn man sich heutzutage in theologischen Debatten Karl Heims erinnert, geschieht das zumeist im Kontext der Frage nach dem Verhältnis Theologie/ Naturwissenschaften. Respektvoll werden Heims Beiträge gewürdigt, wenngleich ihnen häufig nur noch historische Bedeutung zugebilligt wird. Die Karl-Heim-Gesellschaft allerdings bringt – in ihrem Jahrbuch „Glaube und Denken“ – die Überzeugung zum Ausdruck, Heims Werk berge insgesamt unabgegoltene Denkanstöße für die Gegenwart; sowohl in systematisch-wissenschaftlicher wie in erbaulicher Absicht hält sie in ihrem Jahrbuch die Erinnerung an Karl Heim wach.2 Tatsächlich empfand Karl Heim, der über viele Jahrzehnte in der evangelischtheologischen Fakultät der Universität Tübingen Systematische Theologie gelehrt hatte, schon sehr früh in seiner Laufbahn, dass die Selbstgenügsamkeit der Theologie, ihre Selbstzufriedenheit mit der inneren Kohärenz ihrer Sprachspiele, aufgesprengt werden müsste, indem sie die von der Theologie erörterten Grundfragen im Diskurs mit der philosophischen Erkenntnistheorie, mit Logik, Mathematik, den naturwissenschaftlichen Wirklichkeitserschließungen zur Bewährung aussetzen müsse. Heim sieht sich in der Kontinuität mit Anselm, den Reformatoren und mit Sören Kierkegaard3. Er stellt sich selbst – natürlich nicht vorbehaltlos – in jene Bewegung, 1
K. Kupisch, Zwischen Idealismus und Massendemokratie, Berlin 1955, 172. Ein Verzeichnis der Schriften Heims sowie eine umfassende Bibliographie der Sekundärliteratur bis 1990 findet sich bei R. Hille, Das Ringen um den säkularen Menschen. Karl Heims Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie und den pantheistischen Religionen, Gießen/Basel 1990, S. 446 – 614. 3 H.-R. Müller-Schwefe, „Karl Heim (1874 – 1958)“, in: M. Greschat (Hg.), Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert II, Stuttgart 1978, 298, berichtet, dass Heim seine Arbeit zum „Gewißheitsproblem“ als Auslegung von Kierkegaards Schrift „Die Krankheit zum Tode“ verstanden habe. – In einer Besprechung von Heims „Das Wesen des evangelischen 2
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„die von Kierkegaard über Dostojewski, Overbeck, die Luther-Renaissance bis zur Dialektischen Theologie führt“4. Zur Explikation des Kerns seines Ansatzes bedient sich Heim wiederholt des Paradox-Begriffs. Für Heim indiziert das Paradox „nicht eine Ausschaltung aller Denkformen, sondern die streng logische Form, in der zwei Dimensionen gegeneinander abgegrenzt werden“.5 Das Paradox ist also die Qualifikation eines Verhältnisses. Mithin ist Kierkegaard ständig im Fokus der Aufmerksamkeit dieses Theologen. Bezüglich Kierkegaards weiß Emanuel Hirsch an Heim zu loben, dieser habe „tiefer verwirklicht“ als jeder andere zeitgenössische Theologe, was Kierkegaard vom Theologen fordere: „Daß jeder Gedanke über Gott und die göttlichen Dinge auf die individuelle Existenz bezogen sei.“6 Bevor die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser auf Heims Versuch gerichtet wird, die existenzielle Ernsthaftigkeit des einzelnen Menschen vor Gott im Kontext der politischen Neuordnung nach 1933 auszulegen, soll hier zum Abschluss dieser einleitenden Bemerkungen angezeigt werden, welche Würdigung der Theologe nach 1945 durch Adolf Köberle (der damals ebenfalls in Tübingen lehrte) erfahren hat: Adolf Köberle hat in der Gedenkrede „Theologie der Kontakte“7 bündig zusammengefasst, worin die Ausstrahlungskraft und Größe dieses so beachtlichen Gelehrten bestand: Das wahrhaft Vorbildliche an diesem Leben war, wie hier Größe des Geistes mit Demut des Herzens und warmer Liebesgüte vermählt waren. Wie oft ist doch in der Welt Gescheitheit und ruhmreicher Erfolg mit Hochmut und selbstgefälligem Wesen gekoppelt. Karl Heim, der auf der Höhe seiner Wirksamkeit die vollsten Hörsäle in unserer Universität hatte, der Ehrendoktor von Halle und Edinburgh, um dessen Berufung sich Princeton, wohl die angesehenste Universität von ganz Amerika, bemühte, dessen Bücher in hohen Auflagen standen und in vielen Sprachen übersetzt waren, in dessen Gottesdienste die Hörer in Scharen strömten, der Ehrenbürger unserer Stadt Tübingen, er hätte allerlei Grund gehabt, sich zu erhöhen. Aber er zog es vor, mit dem Neuen Testament zu sprechen: Was hast du, das du nicht empfangen hast; so du es aber empfangen hast, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen.8
Christentums“ (1925) registrierte Emanuel Hirsch allerdings auch eine Schwäche: Heim fehle „die schlichte Hingabe des Auges an die geschichtliche Beobachtung“ (ThLZ 22 [1925], 520 – 523). 4 Karl Heim, Glaube und Denken. Philosophische Grundlegung einer christlichen Lebensanschauung, Berlin 1931, 406. 5 Heim, Glaube und Denken, 311. 6 E. Hirsch, „Rez. v. K. Heim, Das Wesen des evangelischen Christentums“, ThLZ 14 (1936), 381 f., 381. 7 A. Köberle, „Theologie der Kontakte. Gedenkrede für. Prof D. Dr. K. Heim“, ThLZ 2 (1959), 148 – 152. 8 A.a.O., 152. Vgl. auch A. Köberle, „Die Gegenwartsbedeutung der Theologie Karl Heims“, in: NZSTh 16 (1974), 121 – 130.
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II. Identifizierbarkeit des Göttlichen? Karl Heims Rückfall in Theologisches Wunschdenken 1. Vorbemerkung Im Zentrum stehen im Folgenden die Ausführungen Karl Heims aus den Jahren 1931 bis 1937, „Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart“. Die für damalige Verhältnisse durchaus unspektakulären Weichenstellungen zugunsten eines Anschlusses an den herrschenden Zeitgeist finden sich vor allem in den Bänden 2 und 3. Hinsichtlich der damaligen politischen Kampfzonen innerhalb der evangelischen Kirche sei angemerkt, dass Heim weder den ,Deutschen Christen‘ noch der ,Bekennenden Kirche‘ angehörte. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf jene Aspekte des Heim‘schen Werkes, die eine innertheoretische Aufgeschlossenheit für den Zeitgeist der revolutionären Wende 1933 erkennen lassen. Die Angewiesenheit auf Führerschaft wird sowohl christologisch als auch geschichtstheologisch in gewisser Weise verankert. Auch die zur damaligen Zeit schon durch Martin Buber prominent gewordene IchDu-Philosophie wird von Heim in eigenständiger Weise in Anspruch genommen. Seine um den Begriff der ,Dimension‘ kreisende Erkenntnistheorie versteht sich wohl als modernitätsadäquate Anknüpfung an Kant. In der differenzierten Nachzeichnung einer für Machtergreifung und Führerprinzip aufgeschlossenen Theologie werden die folgenden Schriften Karl-Heims zugrunde gelegt: „Der evangelische Glaube und das Denken der Gegenwart. Bd. 1 Glaube und Denken. Philosophische Grundlegung einer christlichen Lebensanschauung, Berlin 1931 (zitiert: mit Seitenzahl); Bd. 2: Jesus der Herr, Berlin 1935 (zitiert: H); Bd. 3: Jesus der Weltvollender, Berlin 1937 (zitiert: W).
2. Die unbewusste Dynamik des Einheitsbedürfnisses Vor allem darf eine Untersuchung Karl Heim nicht übergehen, die das Problem eines absoluten Sinnes angesichts der die Existenz umtreibenden Dynamik des Wunsches und des Projizierens zum Thema hat. In seinem großangelegten Werk „Glaube und Denken“ hat Heim nämlich die Logizität wissenschaftlichen Vorgehens auf eine existentiale Tiefenstruktur des Wünschens und des Bedürfnisses zurückgeführt. Scheint die Warum-Frage gerade dazu zu dienen, uns des Sinnes unserer verschiedenen Orientierungsleistungen zu versichern, hebt Heim diese Aufgabenzuweisung aus den Angeln, indem er in diesem Prozess kritisch das bloße Wunschdenken am Werk sieht. Heim nämlich misst dem Sensationsbedürfnis, das sich auf jede neue Impression stürzt, nur eine Oberflächenrelevanz zu. Das ästhetisch orientierte Bewusstsein überdeckt damit nur eine innere Unruhe, die daraus resultiert,
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dass wir uns schon immer in der Entzweiungserfahrung von ,einem und Anderem‘ vorfinden. (Diese Entzweiung ist bewusstseinsstrukturell, „eine quantitative Spaltung von identischen Qualitätseinheiten“ [176], hier also noch nicht zum Gegensatz von Ich und Du spezifiziert.) Das uns begegnende Neue hat herausfordernden Charakter und macht uns das Entzweit-sein unserer Bewusstseinsverfassung erneut vorstellig. Unser So-einfach-Dahinleben wird durch wirklich Neues in der Erfahrungswirklichkeit aus dem Gleichgewicht gebracht. Diese Gleichgewichtsstörung löst Unruhe aus und mobilisiert den „Wunsch, aus dieser Unruhe erlöst zu werden“. Und „die Warum-Frage samt allen mehr oder weniger befriedigenden Antworten, die auf sie gegeben werden, ist die Form, die das Streben annimmt, die Gleichgewichtsstörung zu beseitigen, die das Auftreten eines Unterschiedes mit sich bringt“ (178). Das Unbehagen am Neuen reduziert sich erheblich, wenn das Ich glauben darf, es lasse sich auf schon Dagewesenes reduzieren (vgl. 179). Begründungen, Erklärungen, die ein solches Widerfahrnis einem Allgemeinbegriff unterordnen, tragen diesem Wunsch nach Welt als Heimat noch spezifisch, nämlich durch streng methodisierte Verfahrensformen, Rechnung. Theoreme, die darauf zielen, das Gegebene als Wiederholung des schon von Anfang an Dagewesenen, als bloße Variation eines ursprünglich „immer schon“ Gegebenen vorstellig zu machen, gehorchen der gleichen Interessendynamik. Ihr liegt nach Karl Heim ein naturhafter, unbewusster Impuls zugrunde, der letztlich zum unerreichbaren Ziel hat, den verunsichernden Wechsel der Erfahrungen, das Unerwartete, Überraschende, Unberechenbare gänzlich auszulöschen und sich selbst in die entspannende, homogene Einheit des Seins aufzulösen (vgl. 179). Mittels dogmatischer Konstruktionen trägt das Bewusstsein diesem „Einheitsbedürfnis“ der Vernunft wenigstens annäherungsweise Rechnung (180). Von dem „überstarken Wunsch“, „vor allen unerwarteten Erscheinungen geschützt zu sein“, anders gesagt: seine Erfahrungswirklichkeit stets durch Erklärung souverän beherrschen zu wollen, zehrt die Faszination, die von den sogenannten „Weltformeln“ ausgeht. Heim stellt klar, dass wir uns der unbewussten Wunschdynamik, ,der das kausale Deutungsverfahren entspringt‘, auch dann nicht einfach entschlagen können, wenn wir glauben, ihre Wirksamkeit zu durchschauen (132). Denn das kausale Deutungsverfahren gehört ja „notwendig zum Wesen der gegenständlichen Erfahrung“ (183) und kann darum gar nicht sistiert werden. Freilich, „das nicht-gegenständliche Ich“, Subjekt aller Vergegenständlichungsprozesse, ist damit auch diesem Deutungszugriff entzogen. Aber unser Wohlbefinden verstärkt sich allemal, wenn das bedrohlich Fremde, Neue entdramatisiert ist und wir die Regel bestätigt finden Es gibt nichts Neues unter der Sonne (176). Heim deutet noch die wissenschaftstheoretische Maxime ,je kleiner die Zahl unbeweisbarer letzter Unterscheidungen – desto seriöser das wissenschaftliche Konzept‘ im Lichte dieser wunschgeprägten Vereinheitlichungsdynamik der Vernunft.
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3. Die offene Wunde. Das ,Paradox‘ im Apriori der ,Dimensionen‘ Unter Berufung auf Kierkegaard führt auch Karl Heim den Begriff des Paradoxons ein (vgl. z. B. 63). Er benötigt ihn, um im Rahmen seiner Erkenntnistheorie der „Dimensionen“ zum Ausdruck zu bringen, was es heißt, die Unendlichkeit sei begrenzt (wie im Falle des sogenannten ,qualitativen Unterschieds‘ zwischen Gott und Mensch). Bei Heim findet sich übrigens auch eine Abbildung der Kierkegaardschen Differenz „System des Seins – System des Daseins“: Das Schema der Dimensionen, mittels dessen wir überhaupt Seiendes erkennend bestimmen, ist „immer zunächst unbewusst da“, es ist „nichts Erdachtes oder durch Erfahrung Erworbenes“; die Entdeckung mittels der Reflexion erfolgt also nachträglich (65). Dass eine neue Dimension in der Erkenntnis aufbricht, liegt demnach „nicht in unserer Gewalt“ (66). Sind wir doch in ein „Schema der Dimensionen […] noch diesseits der Sinneswahrnehmung“ hineingestellt; das Schema wird reflexiv entdeckt, es kommt aber nicht „durch reines Denken“ zustande (73). In Dimensionen existiert man und nimmt aus ihnen heraus wahr. Über die Geltung der ineinander gefügten Dimensionen der Welterfahrung „kann nicht mit Gründen und Gegengründen […] diskutiert werden“, denn sie „macht alle logischen Argumentationen erst möglich“ (74). (Heim verdeutlicht das insbesondere am Widerspruchssatz.) In unserem Sprechen über die Realität sind diese apriorischen Dimensionen inkarniert, versteht der andere, was gemeint ist, so teilt er de facto gemeinsam mit dem Sprechenden die ursprüngliche Einsicht in die Geltung der gleichen hierarchischen Dimensionierung (74 f.). „Das gegenständliche Dasein des Leibes inmitten einer Umwelt“ gibt Heim zu bedenken als „Inkarnation eines Urvorganges, der selbst keiner Erklärung mehr zugänglich ist“ (237), der aber seinerseits das „Gesamtbild“ der Weltwahrnehmung überhaupt erst jeden Augenblick neu entstehen lässt (238.) Der schon immer passierte Objektivationsprozess ist nur als Tatsache hinzunehmen (239). Es ist danach ein unbewusster Prozess, in dem sich ,ein unanschaulicher Prozeß in die Sprache der Leiblichkeit übersetzt‘ (239) und damit den Gegensatz von ich-haftem Leib und dessen Umwelt erst konstituiert (242). Die reine Gegenwart ist schlechthin unanschaulich. Der Paradox-Begriff hat in der Kennzeichnung des Verhältnisses der Dimensionen zueinander seinen besonderen Stellenwert. Wollen wir einen Sachverhalt im Lichte einer neu aufgetauchten Dimension aussagen, kann das „innerhalb der vorher bekannten Mannigfaltigkeit immer nur in Form eines Paradoxon ausgedrückt werden“: „Das Paradoxon ist der Ausdruck der Grenze, die zwei Dimensionen voneinander scheidet.“ (68) (Heim beschreibt eindringlich das zutiefst Erschütternde, wenn eine bisher verborgene Richtung des Daseins aufbricht; 75 f.) Als paradox kennzeichnet Heim übrigens auch die existentielle Fähigkeit des Abstrahierens: obwohl wir Dimensionen stets nur in ihrem Zusammenhang ,haben‘, wir uns ihrer überhaupt nur bewusst werden können, wenn sie als gegenseitig sich bedingende Plural da sind, können wir doch von einer Dimension künstlich absehen; wir scheiden
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Hinsichten auf das Seiende, „die einander doch gegenseitig jeden Augenblick bedingen“ (71). Bei allen Infragestellungen letzter Qualifikatoren zur Seinsbestimmung bediene ich mich schon immer der Logik, etwa des Satzes vom Widerspruch. Und doch ist die Reflexion vermöge der Abstraktionsfähigkeit in der Lage, auch dieses scheinbar unhintergehbare Kriterium zu relativieren. Die Möglichkeit einer Erfahrungsdimension ist nicht prinzipiell auszuschließen, die einem anderen Prinzip Priorität einräumt. Mit dieser Erwägung ist mir auch kein Widerspruchsprinzip, ohne welches ich, kontingent, keinen Satz zu formulieren weiß, „als objektives Gebilde gegenübergetreten“ (289). Meine ruhelose Selbstvergewisserung über die letzten Grundlagen der Erfahrung kann sich bei der bloßen Faktizität der Geltung nicht beruhigen. Heim bezeichnet die „Möglichkeit der Unterscheidung des Untrennbaren“ als selbst paradox (270). Es mag bei diesen wenigen Hinweisen zu Heims Theorie der objektivierenden, gegenständlichen Erfahrung sein Bewenden haben. Denn in kierkegaardscher Perspektive relevant wird diese Theorie erst, wenn sie sich mit dem Problemdruck auseinandersetzen muss, der aus der Widerständigkeit eines Erfahrungsgehalts entsteht, der sich zumindest seinem Anspruch nach als personales Anderes nicht meinem Weltbild gemäß homogenisieren lässt. Natürlich: insofern der andere sich mir in seiner Körperlichkeit entgegenstellt, ist er selbstverständlich „ein Stück meiner Gegenständlichkeit“ (244). Das so erscheinende Du wird notwendigerweise als Er oder Es behandelt (251). Doch darin geht – sozusagen wider Erwarten – das Anderssein des anderen nicht auf. „Im Akt des Geschehens […] begegnet mir der andere.“ (256). Für diese Konfrontation, die ja nicht im Erinnerungsraum zu lokalisieren ist, gibt es deshalb „in der Es-Welt […] keinen Anhaltspunkt“ (259). Was sich hier vielmehr an einer bestimmten Stelle der Erfahrungswelt ursprünglich-unberechenbar manifestiert, nennt Heim eine „dimensionale Spaltung“ (259). Die Dimension direkten Zusammentreffens von Ich und Du, diesseits also aller Verobjektivierung und aller Distanz der Erinnerung, nennt Heim in Übereinstimmung mit der Terminologie des damals in Jena lehrenden Philosophen Eberhard Grisebach „Gegenwart“9. Die Erinnerung des Ich versetzt den anderen hingegen in ein ,gegenständliches Gebilde‘ (261). Am Umgang mit diesem Phänomen ist erkennbar, wie eingehend Karl Heim, neben Martin Buber, Grisebach rezipiert hat; mit dessen 9 Eberhard Grisebach (1880 – 1945). Dieser Philosoph, der bis 1933 in Jena lehrte und dann auf einen Lehrstuhl in Zürich wechselte, war für die theologische Diskussion der Dreißigerjahre von großer Bedeutung. Dietrich Bonhoeffer beispielsweise stellte in seiner Habilitationsschrift Akt und Sein Grisebach und Heidegger einander gegenüber. Übrigens hatte Griesebach schon in einer Besprechung des Kant-Buches von Heidegger festgestellt, diese Philosophie werde einmal bei der akademischen Jugend die Begeisterung für die Diktatur wecken. Ein ausdrückliches nationalsozialistisches Engagement Heideggers lag zu diesem Zeitpunkt noch außerhalb der Betrachtung. Ein Hauptwerk Grisebachs erschien 1928, ein Jahr nach Heideggers Sein und Zeit, im selben Verlag: Gegenwart. Eine kritische Ethik, Halle 1928. Vgl. dazu K.-M. Kodalle, Schockierende Fremdheit. Nachmetaphysische Ethik in der Weimarer Wendezeit, Wien 1996.
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Aporetik möchte er sich auf keinen Fall abfinden. So nimmt er denn einfach an, Ich und Du seien auf „dieselbe“ Welt gerichtet, denn nichts scheint so dringlich wie das Bedürfnis nach dieser Einheit; wir müssen, heißt es, die Weltvorstellungen „irgendwie zur Deckung bringen und in eins setzen“ (209). Derselben Welt werden in einer paradoxen Aussage (214) plurale Mittelpunkte perspektivisch zugeordnet (210). Diese Einheitsunterstellung freilich enthebt die Subjekte doch nicht des Kampfes gegeneinander, denn: zwei Mittelpunkte für eine Welt, das widerstrebt geradezu der Logik und stellt das eigene Selbstbewusstsein in Frage (212 f). Nähe und Ferne durchdringen sich – es entsteht „ein Verhältnis der immerwährenden Begegnungen“ zwischen Fremden (214). Das fremde Du steht nicht zur Disposition meiner Willkür: „Es ist immer da, es liegt wie eine Last auf mir, die sich nicht abwälzen lässt“ (214). In der Begegnung mit dem Du verschränken sich Tun und Leiden (215). Handelnd erfahre ich Widerstand und werde so leidend des Du inne (219). Erst im Akt der Distanznahme und der Verobjektivierung ,erstarrt das Du zu einem Es‘ (220). Der nächste wichtige Schritt in dieser Rekonstruktion handelt von der unwillkürlichen Übertragung der bestimmten kontingenten Du-Erfahrung auf das Weltganze; dieses „tritt uns ja im nichtgegenständlichen Stadium als eine du-artige Willensmacht gegenüber, der wir uns wollend entgegensetzen“. Damit dieses Wollen sich selbst-reflexiv profilieren kann, unterlegen wir dem kontingenten Widerfahrnis „einen inneren Zusammenhang“ (222). Erst im Widerstandserlebnis, „in dem ich mich existentiell gegen ein Du abgrenze“, finde ich mich selbst. Hinfällig, das zeigt Heim überzeugend, sind mithin alle Wirklichkeitskonzepte, die „die Welt“ aus einem isolierten Ich zu konstruieren sich bemühen, als könne man von da aus „durch einen Schluß zum Du […] gelangen“ (224). Die Infragestellung des geschlossenen Weltbildes eines Ich durch ein unverrechenbares Du kennzeichnet Heim markant als „offene Wunde“ (227; Verweis auf Grisebach u. a. 247)10 : „Wir dürfen also nichts tun, um den Widerstreit zu harmonisieren“; Heim gibt sogar zu verstehen, dass man jene Verallgemeinerung, die sich in der Rede von einem „Reich von Persönlichkeiten“ abbildet, nur als paradoxe Aussage vertreten kann (251). Paradox allerdings nur insofern, als Heim ein Zugleich erzwingt, welches in sich widerstrebig ist: Durch die Ich-Du-Beziehung hat sich offenbart, dass die beiden Ich-Es-Gesamtbilder unvereinbar sind; dennoch sollen bzw. müssen sie nach Heim „ineinandergeschoben und irgendwie zur Deckung gebracht werden“ – und dies, obwohl Heim als Konsequenz absieht, dass „dann immer die Rechnung nicht aufgehen will, weil an irgendeiner Stelle etwas nicht stimmt“ (251). Auf jeden Fall geht dem Ich erst in dieser Dialektik die Differenz von Wirklichkeit an sich und subjektivem Weltbild auf (263). Von hier aus ist auch der Eindruck begreiflich zu machen, es gebe eine Welt, die für mich und den anderen dieselbe ist (265). – Das ursprüngliche unbewusste Einheitsbedürfnis, das in diese 10 Nicht unerwähnt bleiben sollte der Tatbestand, dass auch der Theologe Friedrich Gogarten einen intensiven Briefwechsel mit Griesebach geführt hat.
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Paradoxie zwingt, wird von Heim nicht mehr eigens kritisch hinterfragt (vgl. 252), sondern als notwendiges Moment der Ich-Du-Beziehung ausgegeben (vgl. 264) – freilich als ein unheimliches, rätselhaftes, undurchsichtiges, denn die Einheit ist „unvorstellbar“ (269). Der Aporetik näher kommt Heim, wenn er die Möglichkeit erwägt, vielleicht seien es doch „Verschiedene Welten, die beziehungslos koexistieren“. Zumindest phänomenologisch dürfte zutreffen, dass wir gar nicht anders können, als uns zwischen den beiden Vorstellungen der Identität der Welt und der beziehungslosen Koexistenz der Welten hin und her zu bewegen (274). Dann freilich wäre eher Skepsis gegenüber der apodiktischen Behauptung geboten, die Wirklichkeit sei „gar nichts anderes als die Einheit, die entsteht, wenn alle Weltaspekte zur Deckung gebracht werden“ (293); das ist gewiss der plausibelste Gedanke schlechthin; aber was entspricht dem eigentlich in der Wirklichkeit der individuellen Erfahrung und ihrer nicht-expansiven Deutung? Heim spricht von der Todesgrenze als besonderem Ausdruck „für die Art, wie ich mich dem mitseienden Du gegenüber abgrenze“ (272 f.). Dieser Ansatz wird, ohne Erwähnung Heideggers in diesem Zusammenhang, in ein, wie mir scheint, wichtiges Kritikargument an Heidegger überführt, welches ihn in die Nähe eher von Sartre rückt: Tod wie Geburt sind nicht Erfahrungen ,für mich‘, sondern nur ,für andere‘; „ich finde mich selbst nur, indem ich abgegrenzt bin gegen andere Ich-Welten, die, zeitlich gesehen, vor mir und nach mir sind. Ich bin gleichsam eingekreist“ und: „Nur in dieser Einkreisung durch andere bin ich ein in sich geschlossenes Ganzes.“ Und zwar handelt es ich dabei um „eine nicht gegenständliche, absolut unanschauliche Grenze“ (273). Mit dieser Bestimmung schneidet Heim dem Ich die von Heidegger in Sein und Zeit so intensiv bedachte Möglichkeit ab, durch ein Vorlaufen zum Tode die eigene Ganzheit vorgreifend zu konstituieren und sich auf diese Weise des Sinnes des eigenen Daseins zu versichern. Die individuelle Ganzheit erscheint heterogen: „Ich empfange die Welt gewissermaßen aus den Händen anderer und lege sie in ihre Hände zurück.“ (274). Indessen, was Heidegger beabsichtigte, sucht Heim gleichsam nachträglich einzulösen. Zwar trifft es zu, dass uns die unendliche Ganzheit des eigenen Ich nur durch die heterogene Konfrontation mit den andren aufgeht, doch damit ist mir auch ein Raum rationaler Selbstbezüglichkeit erschlossen, der mir ermöglicht, nunmehr autosuggestiv mit mir umzugehen und mich als Ganzes in eigener Regie abzugrenzen! Ich fingiere – das ermöglicht mir die Entdeckung der mir existentiell zugehörigen mehrdimensionalen Selbstbezüglichkeit – den Standpunkt eines anderen, betrachte mich mit dessen Augen und ,komme zu mir selbst‘: Wenn mir also kein anderer begegnet, wenn demnach die immer vorhandene Du-Dimension leer ist, so drückt sich diese Leere darin aus, daß ich selbst in den leeren Du-Raum trete und von dort her mich selbst anspreche. (276)
Ich übernehme auf diese Weise „die Rolle des anderen, der es gut mit mir meint und über mein Leben mit mir redet, sei es als Tröster oder Richter und Kritiker“
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(277). Was ich selbst unmittelbar bin, bleibt mir auch in dieser Verdoppelung ein Geheimnis. Auf diese Weise entrinne ich allerdings nicht dem selbstkritischen Verdacht, über diese Fiktion des Du mich nur in eine – sei es schön gefärbte, sei es negativistische – Wahnwelt einzuhausen. Die Du-Relation, als Existential genommen, signalisiert dann zwar die unendliche Offenheit meiner Identitätsbildung; was ich mir aber sage, wie ich diese Identität ethisch-lebenspraktisch verendliche und also eingrenze, das verdankt sich dann einer untergründig mono-logischen Dynamik, die über Projektion und unterschwellige Wunsch-Kompensationen doch ein Ich-System, wenngleich ein symbolisch offenes, produktiv aus sich heraussetzt. Das daseiende Ich verabsolutiert sich selbst weiterhin im Prozess seiner ständigen Wiedergeburt im Wechsel der Inhalte (281); es bekundet in der Selbstinfragestellung das tendenziell Falsche des Prozesses, aber entbehrt eines Kriteriums für ein Lebensverhältnis, welches wahrhaft absolut gerechtfertigt wäre (vgl. auch 389). Der Bemächtigungswille bleibt so als Struktur relationaler Art intakt, wenn er sich auch nicht mehr direkt als wissende Einsicht in das innerste Geheimnis des Ich als seines „Wesens“ einlösen lässt (vgl. 230 f.). Das Wissen ist freilich nicht mehr zu überdecken, dass alle Überzeugungen, einen anderen Menschen nun wirklich verstanden zu haben, radikal fraglich geworden sind: Nichts gibt mir mehr Gewissheit, dass ich nicht nur „das Innenbild des anderen nach meinem eigenen Bilde konstruieren und ihn in mein System einordne“ (293).
4. Kontingenzflucht: Die Forderung nach Identifizierbarkeit des Göttlichen und der Wille zur Selbst-Preisgabe Mit der abgründigen Kontingenz des Daseins verbindet Heim schließlich die Kategorie des Ganzen in teleologischer Perspektive: „Wozu das Ganze?“ Ist diese Frage unbeantwortbar, dann „ist die Lage einfach zum Verzweifeln“ (303). Die Nichtdurchschaubarkeit des Daseins unterminiert nach dieser Auffassung die Erfahrung von Sinn, und der Theoretiker nimmt entschieden die Arbeit gegen das Kontingenzsyndrom auf. Denn der Relativismus wäre, ernst genommen, eine „Krankheit zum Tode“ (306). Wir leiden am Dasein (309). Durch die Supposition einer Wirklichkeit des „Ganz Anderen“ soll „die Last der Willkürlichkeit unseres Daseins“ abgetragen werden (312). Denn dieses X kann gar nicht in einen Gegenstand des Erinnerungsraumes umgewandelt werden. Heim spricht von einem Gegenwärtigen, welches nie Gewesenes werden kann (314), ein „Du, das nie zu einem Er werden kann“ (315) und in dem die Geschiedenheit aller Ich-Welten aufgehoben ist: „Gott ist das Du aller.“ (317) Es unterliegt nicht der Macht unserer objektivierenden Projektionen. – Indessen, so müssen wir Heim fragen, meinen wir das nicht in jeder Du-Beziehung, jedenfalls in der der Liebe?
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Begleiten wir sie nicht mit dieser Gewissheit? Und ist es nicht so, dass wir uns eher urplötzlich dabei ertappen, das Du in die Objekt-Ebene der Verfügungsmöglichkeiten gerückt zu haben? Geht es uns nun mit dem absoluten Du nicht ebenso? Wir wissen, dass die Souveränität Gottes ein Ausdruck für die absolute Unverfügbarkeit ist. Aber unternehmen wir nicht alle erdenklichen Anstrengungen, das Göttliche für unsere Lebenszwecke dienstbar zu machen? Und wenn wir nicht über ontologische Einsichten in das Geheimnis Gottes verfügen – ist dann Gott für uns nicht abscondit und da nur in Gestalt unserer Götzen? Wir leben dann im frommen Bewusstsein und befinden uns doch in der größten Gottesferne! Wir reden uns dann allerdings ein, unser Dasein habe einen guten Sinn, denn wir rufen ja „Herr, Herr“. – Fazit: Mag das Denken auch die absolute Subjektivität Gottes als schlechthinnige Unverfügbarkeit eines perennierenden Du entwerfen – welches ist die authentische Wirklichkeitsgestalt dieser Idee im endlichen Dasein? Inwiefern ist das Konzept nicht nur die allerletzte Trostkonstruktion unserer Einbildungskraft? Für Sören Kierkegaard entschied sich dies im paradoxen christologischen Bezug. Wir werden sehen, dass sich Heim auf diesen Boden der absoluten Unberechenbarkeit nicht begeben will und deshalb Zuflucht sucht bei einer grandiosen metaphysischen und geschichtstheologischen Teleologie des Absoluten. Entsetzen hätte Sören Kierkegaard beschlichen bei dem Ansinnen, die Gottesgegenwart ohne Brechung durch indirekte Kommunikation zu beschreiben. Die entschieden ideologie-kritische Stoßkraft der Paradox-Christologie wäre depotenziert. Anstatt zu der Suche nach einem Halt in einem Du, „an das er sich klammern und für das er leben darf“, in entschiedene Distanz zu gehen und diese Figur der Instrumentalisierung des eigenen Lebens ebenso wie die Anstrebung, mit sich „fertig“ zu werden und „zur Ruhe“ zu kommen, radikal zu hinterfragen, verschafft Heim dieser Selbst-Instrumentalisierung im gesellschaftlichen Kontext noch theologisch das gute Gewissen, indem er die Dimension des absoluten Du direkt in den sozialen Beziehungen aufscheinen lässt. Das Verhältnis zwischen einander nahestehenden Menschen sei entweder eine latente Verzweiflung, (weil die Suche nach Halt vergeblich sei) oder „es kommt in dieser menschlichen Beziehung zur Begegnung mit dem ewigen Du. Im anderen Menschen kommt Gott auf uns zu. Der andere darf im Namen Gottes von uns verlangen, daß wir uns für ihn opfern. Dann kommt die menschliche Du-Beziehung in Gott zur Ruhe.“ (318 – 319). Einwand: Die Tatsache, dass die absolute Dimension der Existenz nicht extra, als sie selbst, zur Erscheinung kommt, dürfte noch lange nicht Anlass dazu sein, sie mit einem bestimmten Gestus der Kommunikation zu identifizieren. Genau das legt Heim nahe (vgl. auch 321 f.), um der Verzweiflung zu wehren, die sich aus dem Relativismus und der Willkür aller Bezüge nährt. Verscheucht werden soll so die Angst, die mich umfängt, „weil die Zukunft, der ich jeden Augenblick entgegengehe, immer gleich dunkel und ungewiss auf mich zukommt“ (297). Maßstäbe, ethische Richtlinien o. ä. erscheinen dann wie ein Spiel an der Oberfläche – angesichts der reinen Kontingenz aller meiner Entscheidungen. Mir selbst durchschaubar, soll der Praxis meines Lebens Notwendigkeitscharakter zuwachsen (vgl. 326 f.). (Diese Notwen-
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digkeit möchte Heim allerdings nicht mit kausaler oder logischer Notwendigkeit verwechselt wissen; vielmehr gewinnt hier alles Einzelne eben seinen Sinn, weil das endliche Ich sich interpretiert im Lichte einer ihm erschlossenen Ganzheit.) Wie mit dieser Verschränkung noch jene spezifische Differenz durchsichtig gemacht werden könnte, die darin liegt, dass das „Verhältnis zum ewigen Du in einer allen innerweltlichen Verhältnissen entgegensetzten Dimension“ besteht (329; Hervorhebung von mir), bleibt dann unerfindlich. Dabei kommt es Heim durchaus darauf an, die unbegreiflich gewisse Nonkonformität des einzelnen Christen zu betonen, den die anderen alle für verrückt halten mögen und der sich dennoch immunisiert gegen die „verführerische Massensuggestion“ (332). Heim zitiert: „Die ganze Welt kann dich mit Schmutz bewerfen, wenn du nur das Lächeln Gottes hast“ (329). Der Wille Gottes dürfe nicht auf innerweltliche Zwecksetzungen und Begründungen projiziert werden; unter Berufung auf Kierkegaards Hinweis lehnt Heim „die Frage nach Sinn und Zweck“ ab (330). Im Handeln werde ich unabhängig von Erfolg oder Misserfolg, Lob oder Tadel, wenn sich mit dem Ja zu einer Tat des Bewusstseins die Vorstellung unbedingter ewiger Notwendigkeit eben dieser bestimmten Handlungsmöglichkeit verbindet. Ausschlaggebend für alle Folgeprobleme ist Heims Insistieren auf der sinnlichen Deutlichkeit einer Orientierungsinstanz jetzt und hier! Meine Willkür soll so aufgehoben werden, dass für mich das richtunggebende „Gott will es“ in einer anderen Instanz zur Erscheinung kommt, sei dies „ein Grundsatz oder ein Ideal oder ein autoritativer Mensch“ (333)11. Abstraktionen müssen danach personal vermittelt sein: „Ein Gesetz, das mich absolut bindet, kann mir nur ein anderer geben.“ (345). Überhaupt scheint die kantische Prämisse keineswegs mehr als umstandslos-zwingend, das Leben sei gemäß Regeln zu beherrschen und unser Handeln einem unbedingten Sollensgesetz entsprechend auszurichten und so mit dem aller anderen gleichzuschalten (301). Diese Instanz, von der Heim redet, mag gegenständlich gesehen nur eine unter vielen Möglichkeiten sein. Heim hebt also die Torheit der Nonkonformität des Christseins nicht auf, schließt sie aber mit einer sinnlich daseienden Möglichkeit kurz, deren Ewigkeitsdimension sie existierend bezeugt. Die Nonkonformität gereicht demnach auch nicht, wie bei Sören Kierkegaard ganz eindeutig, zur Entscheidungshilfe. Denn die sichtbare Verdeutlichung der ausgezeichneten Möglichkeit kann mich zwar ganz allein betreffen, sie „kann aber ebenso gut ein Kollektivauftrag sein“ (335), bei dem „mir Millionen von Menschen […] zu jubeln“ (338), weil ich einen Gesamtwillen durchführe, „von dem eine ganze geschichtliche Bewegung getragen ist“ (339). Die Sichtbarkeit eines göttlichen Akzents auf einer relativen geschichtlichen Erscheinung ist der von Heim selbst genau gesehene gravierende Differenzpunkt zu Karl Barth (417).
11 Müller-Schwefes Skizze einer Heim-Biographie schildert die Bekehrung 1893 mit Heims eigenen Worten als den „Hammerschlag“ einer „bedingungslosen Kapitulation“ (MüllerSchwefe, Karl Heim, 292).
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Heim verdeckt die Bedeutung, die er der Instanz zuspricht, wieder, wenn er stellenweise den Eindruck erweckt, die Auszeichnung bestehe im Grunde nur in der Evidenz, mit der etwas (zum Beispiel das Ergebnis einer Überlegung) für mich absolut bedeutsam wird (vgl. 335 f.). Entscheidend für ihn ist ja gerade, sich an etwas binden zu können, wenn die unendliche Reflexion „alles, was ich in mir selbst vorfinde, […] bis auf den letzten Rest zersetzt hat“ (417). Seine Lösung gegenüber Barth, der die „Autopsie des Selbstbewusstseins“ eben nicht aufsprengen könne: „Ein und dasselbe Erfahrungselement muß in zwei entgegengesetzten Dimensionen stehen.“ (421). Barth hingegen rekapitulierte die Differenz zwischen Gott im Himmel und uns auf der Erde in einer Weise, dass alles, was wir tun, „im Grunde ganz bedeutungslos“ wird: unser Tun hat seinen Sinn nur darin, dass dadurch der unendliche qualitative Unterschied zwischen Gott und Mensch ausgedrückt wird (422). Dieser ,Theologen-Demut‘ begegnet Heim mit der Unterstellung, sie sei „eine letzte Sicherung gegen Gott und seinen Eingriff in unser Leben“; hochmütig also benütze hier der Mensch seinen Abstand von Gott dazu, um mittels der These von der absoluten Majestät Gottes – nur scheinbar demütig – „im Ernstfalle des alltäglichen Lebens sich Gott gegenüber seine Freiheit zu wahren und selbst über sein Leben zu verfügen. Woher wissen wir denn, daß es vor Gott im letzten Grunde gleichgültig ist, was wir in diesem Augenblick tun?“ (425; auch 424). Die Loslösung der Lehre von der Versöhnung von einem konkret praktischen Auftrag, „an dessen Unerfüllbarkeit mein Gewissen erschrickt“, lasse die Dialektische Theologie zu einer moralisch verheerend wirkenden „Absolutionsformel“ verkommen (425). In dieser Sicht erscheint dann immer noch die frühere Verbindung der Theologie des Worts mit dem „religiösen Sozialismus“ attraktiver, während jetzt zum Beispiel „die politischen Kampfmethoden“ nicht mehr eigens spezifisch thematisiert würden (ebd.). Wenn doch alles vor Gott „umsonst“ und „unser Leben […] nur ein unwesentliches Spiel“ sei, könnten wir ja „eigentlich machen, was wir wollen“ (426). Die devote Aufgabe aller Verfügungsmöglichkeiten verbinde sich mit der Hoffnung, es möchte nicht wirklich und letztlich dabei sein Bewenden haben: „,Noch am Grabe‘ aller seiner eigenen Verfügungsmöglichkeiten ,pflanzt er die Hoffnung auf‘“. (432) – Das Abwehrmittel gegen diesen Vorwurf einer negativen Absicherungsstrategie – die Entfaltung des Kierkegaardschen Korrektiv-Verständnisses – hat Karl Barth aus der Hand gegeben, spätestens als er sich von Kierkegaard abwandte.
5. Plädoyer für eingreifende Praxis im Zeichen theologischer Endsieg-Visionen. Gottes ,Ja zum Volkskörper‘ Sein Plädoyer für eingreifende Praxis verbindet Heim mit der auch von Kierkegaard her bekannten Polemik gegen ein kontemplatives Geschichtsverständnis, welches dem Ernst der Lage, dem Wagnis, in undurchsichtiger Situation zu handeln, ausweicht in die Theaterloge der Zuschauerposition (vgl. 392). Das Ich macht sich
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selbst abstrakt: „Man sucht eine Deckung zu gewinnen, wo wir vor der Ratlosigkeit einer Entscheidung gesichert sind“ (395), gibt dem „Wunsch nach einem Refugium“ nach, „in dem wir vor allen Wechselfällen des Lebens geborgen sind“ (397). Im eskapistischen Sicherheitsstreben sieht Heim einen geradezu „wunderbaren Instinkt“ am Werke (408). Heim selbst schien ein Kriterium doch anzuvisieren, welches den Selbstbetrug zersetzen könnte: Der an mich gerichtete Anspruch kann schlechterdings nicht aus mir herausgesetzt sein, weil er mich schier überfordert und insofern zu einer zermalmenden Belastung zu werden droht (336). Anders gesagt: Er fragt nicht nach meinen Wünschen (vgl. 342)! Diese Berufung schließt mithin das schwerste Leiden ein, ein Dasein, „gegen das sich alles in uns aufbäumt, dem wir darum aus dem Wege gehen, solange wir irgend können“ (337). Angesichts dieses Ewigkeitsballastes, der sich ja auch auf eine Entscheidung zugunsten einer kollektiven Affirmation erstreckt – denn vor Gott ist ja auch sie ein „Wagnis“, tilgt Heim die Differenz zwischen individuellem und kollektivem Auftrag: Auf der Waage der Ewigkeit ist das Wagnis in beiden Fällen gleich groß (339). Alle wichtigen Kierkegaardschen Differenzierungen gehen damit verloren. Hatte der sich so eindrücklich um die Formen eines Lebens aus zweiter Hand bemüht, um die christliche Existenz davon abzuheben, wird es für Heim restlos gleichgültig, „ob ich als erster eine bestimmte Entscheidung treffe oder mir eine bereits getroffene Entscheidung aneigne. Denn vor Gott kann ich mich ja nie auf die Autorität anderer berufen.“ (339). „Ich stehe immer als einzelner in einsamer Verantwortlichkeit vor Gott.“ – So redete auch Sören Kierkegaard; aber der zerschlug die Existenzmöglichkeit, sich als dieses Selbst-Verhältnis einem Kollektiv einzuverleiben und diesem dann die Weihe einer Wirklichkeitsgestalt der Identität mit dem Göttlichen zu verleihen (zur Distanz gegenüber Kierkegaard an diesem Punkt vergleiche z. B. 347). Heims Auffassung in Kierkegaards Terminologie: Absolut verhalten wir uns zu relativen Zwecken dann, wenn die Praxis „unserem natürlichen Wunsch entspricht“ (350). Wird diese natürliche Wunschorientierung gebrochen, kann die Tätigkeit für den relativen Zweck durchaus mit ewigem Sinn aufgeladen werden, kann sich, anders gesagt, auf den „richtunggebenden Inhalt der Ton des göttlichen Auftrags“ legen (357). Gegen die Teleologie des eigenen natürlichen Wünschens fasst Heim den Bezug zu Christus so, „daß wir ihn auch im Tiefpunkt seiner Ohnmacht nur um seiner selbst willen lieben und ihm sein Kreuz nachtragen“ (H. 201). Nicht also hat Heim sich gänzlich das Gegen-Utilitaristische der Christologie verstellt. Er sieht Ärgernis und Enttäuschung gerade ausgelöst, weil Christus „sich für keinen unserer Zwecke gebrauchen lässt“ (H. 201). Den Wünschen der Welt nachzukommen, bedeute in den „Augen der Ewigkeit“: Niederlage. Obwohl Karl Heim seine Christologie durchaus im Gegenzug zur Versuchung des „Kulturchristentums“ formuliert, bleibt sie jedoch nicht frei von kollektivistischem Infekt des Zeitgeistes. Eine geschichtstheologische Macht-Theorie, die Fixierung auf vorläufigen Machtaufschub und auf die endgültige Machtexekution Gottes ist dafür ausschlaggebend. Als könnte man die Ich-Struktur der Selbstreflexivität völlig nivellieren, nimmt Heim das „Ja zu allen Grundformen der Leibwerdung des Willens“
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zum Ausgangspunkt seines Gedankens; da fehlt es dann plötzlich an kategorialer Differenziertheit, um individuelle Leiblichkeit und „kollektive Lebenseinheit des Volkskörpers“ qualitativ noch zu unterscheiden (W. 200). Der Unterschied wird ein bloß relativer (W. 201): Ein Volk ist seiner Struktur nach genauso ein organischer Körper wie der Zellenstaat, aus dem ein Individuum besteht […]. In Notzeiten bricht aus den dunklen Tiefen des unterbewussten Lebens der starke Instinkt hervor, der die Glieder des Volkskörpers zu Organen eines einheitlichen Willens macht (W. 201).
Das von den „Boten des Auferstandenen“ verkündete „Ja zum Volkskörper“ sensibilisiert anscheinend besonders für dessen „Schwächung, Entartung und Bastardisierung“ (W. 201). Heim warnt deshalb vor der Nivellierung der Rassengegensätze, vor wurzellosen Weltbürgern und Geistesaristokraten (W. 202). Die „Kraft des auferstandenen Christus“ wird in der Arbeit im Rahmen der Volksgemeinschaft ,in die Tat umgesetzt‘ (W. 203). Bar jeder Reflexion auf den ideologischen Gestus einer partikularistischen Vereinnahmung Christi proklamiert Heim: „Der lebendige Christus ist ja in allen Jahrhunderten mächtig durch die deutsche Geschichte geschritten […] Christus war bei allen Wendungen der deutschen Geschichte der unsichtbare Mitkämpfer.“ (W. 265).12 Mittels eines geradezu abenteuerlichen Argumentationskniffs entzieht sich Heim am Ende doch noch dem Würgegriff totaler Gleichschaltung. Ich entflechte den Text der letzten Seite von „Jesus der Weltvollender“ (W. 265) und rekonstruiere: Wir, die mit unserem ganzen Sein in der deutschen Geschichte wurzeln, können darum [!] von dem Glauben nicht lassen, daß auch der heilige Sturm, der jetzt durch unser Volk geht, nur die welken Herbstblätter von den Bäumen schüttelt [!], um Raum zu schaffen, für das Erwachen einer neuen tieferen Christuserkenntnis.
Verschwendet Heim auch explizit keinen Gedanken an die Opfer dieses Sturms (welke Herbstblätter…), gibt er doch dem Duktus seines Redens eine überraschende plötzliche Wende, indem er offensichtlich von dieser Bewegung aussagt, sie bedeute, „mit ganzer Leidenschaft gegen Christus kämpfen“! Diese Bewegung steht demnach in der Nachfolge des Saulus – und ihr wird widerfahren, was sich für Saulus ereignete: dass ,ihm plötzlich ein Lebendiger gegenüberstand‘, „dessen überwältigende Gegenwart ihn zu Boden warf, der Lebendige, dem niemand entrinnen kann“13. 12 Noch in einer Gedenkrede zum hundertsten Geburtstag Heims hat A. Köberle hervorgehoben, jedem Leser Heims müsse auffallen, wie verantwortlich dieser Gelehrte mit der Sprache umgegangen sei (ders., Die Gegenwartsbedeutung, 122). Dabei stellt Köberle „Unzeitgemäßes“ in der Theologie Heims nicht in Abrede (127). 13 Dass sich Heim dem zeitgenössischen Jargon mit fatalen Folgen für seine Theorie angepasst hat, ist ja unübersehbar. Umso überraschender ist, was H. E. Eisenhut („Im Gedenken an Karl Heim“, in: ThLZ 10 [1958], 660) unterstreicht: Heim sei in der Hitlerzeit mehrfach Bedrängnissen ausgesetzt gewesen. „Eine Predigt, die er in Stuttgart nach der Verhaftung des
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Sich dieser heute kompromittierten Überlegungen anzunehmen, lohnte der Mühe nicht, stünde nicht dahinter eine sehr dezidierte Geschichtstheologie, die sich Sören Kierkegaard verpflichtet weiß und ihn doch im Kern der Sache verrät. Kurz: die völkische Vereinnahmung kann nur statthaben, weil „auch dieses Volk im Lichte des Endsiegs, den uns Gott gegeben hat durch Jesus Christus“ (W. 202, Hervorhebung von mir), seine Mission erfüllt. Schon sprachlich kann gar nicht exakter zum Ausdruck kommen, wie die Vision des Endsiegs zur Usurpation eines ideologischen Verfügungswillens über die Geschichte verleitet. Die Fixierung auf den ausstehenden Endsieg nährt die Überzeugung, man sei zum Kampf für den Endsieg berufen. Nicht gebrochen wird also die Vorstellungsfixierung auf eine absolute Teleologie: „Wenn über unserer Lebensarbeit ein unbedingtes Wozu und Wofür steht, demgegenüber die Arbeit selbst ganz unbedeutend und nebensächlich wird, ist eine volle Hingabe an diese Arbeit möglich“ (351). Die Arbeit für die „relativen Gemeinschaftsgebilde“ wird ausdrücklich unter die Kategorie des „Mittels“ subsumiert und so auf etwas bezogen, „was unendlich viel größer ist als sie selbst“ (352). Dieser Selbstvermittlung korrespondiert die Vorherrschaft der heteronomen Kategorie des Befehls im Gottesverhältnis. Begründungsunbedürftigkeit hatten wir im Kontext Kierkegaards als selbstverständliches Merkmal der Gegenwart des Absoluten festgestellt; die Bestimmung Befehl/Gehorsam perpetuiert jedoch die ontologische Differenz (vgl. 370): Wir können uns nach Heim zum Absoluten gar nicht rein, also absolut verhalten, das in christlicher Verkündung verschärfte Bewusstsein dieser Differenz potenziert geradezu das Schuldbewusstsein; mithin kann sich das Bewusstsein ,unbedingter Unterwerfung unter die absolute Macht‘ auch nur des Appells bedienen, dem Begründungsbegehren zu entsagen (362). Nach prinzipiellen Ableitungen soll nicht mehr gefragt werden (363). „Denn die absolute Hingabe, das ganze reine ungeteilte Wollen, das Gott von uns verlangen muß, bleibt eine unerfüllbare Forderung.“ (369) In diesem Horizont der Forderung und des Sollens wird übrigens die modern anmutende Wende Heims zur Propagierung narrativer Theologie verständlich, denn in diesem Medium ist eine Apodiktizität erlaubt, die sich der zwingenden Verbindlichkeit der Begründungslogik entzieht (vgl. 361). In diesem Lichte des Plädoyers für die narrative Fortschreibung der Gottesbetroffenheit über die Dogmatik hinaus sind auch die Vorbehalte Heims gegen die „Dialektische Theologie“ einschneidend: Bischofs Wurm gehalten hatte, wurde nach dem Druck sofort beschlagnahmt. Er hatte über das Wort gepredigt: ,Im Reiche dieses Königs hat man das Recht lieb‘ (Psalm 99,4). Dann wurde ihm Landesverrat vorgeworfen, weil er die Verbundenheit im Glauben mit einem Christen auch auf der feindlichen Seite behauptet hatte. Ein direkter Angriff auf das System wurde darin gesehen, dass er in seiner Ethikvorlesung nach einer Hitlerrede das Anwachsen der Selbstmordziffer zu bedenken gab… Im Grunde stand Karl Heim während dieser 12 Jahre im Schatten. Trotzdem hat er 1937 einen Ruf an die Theologische Fakultät in Princeton mit ihrer riesigen wissenschaftlichen Bibliothek abgelehnt. Der Hauptgrund war der, dass er in den Zeiten der Bedrängnis sein Vaterland und seine Heimatkirche nicht im Stich lassen wollte.“ Wie sich Heim kirchenpolitisch 1933 verhielt bzw. welcher Gruppierung in der alt-preußischen Union er 1933 angehörte, dazu vgl. Kupisch, Zwischen Idealismus, 210 f.
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Sie hat Worte von Menschen, die ,krank wurden an Gott‘, in die alltägliche Schulsprache eingeführt und dadurch die Gefahr heraufbeschworen, dass diese furchtbaren Worte vielleicht gar nicht mehr verstanden werden könnten, wenn ein Mensch sie einmal wirklich und im Ernst aussprechen sollte. (410) – Der Fehler liegt in der Missachtung des Kierkegaardschen Weges der indirekten Mitteilung (412).
Dass Heim sich von dem Ansinnen „deutungsloser Anerkennung der Situation“ und der Konzentration auf die Ansprüche des kontingent Nächsten distanziert, muss daran liegen, dass er auch seine Aufnahme des Kierkegaardschen Grundmotivs der „Gleichzeitigkeit mit Christus“ (363) noch in eine subkutane teleologisch-utilitaristische Heilsökonomie einordnet. Zwar qualifiziert Heim das Verlangen nach einer Befriedigung meines Sinnbedürfnisses, diesen scheinbar unabweisbaren sehnsuchtsvollen Wunsch, als ,unreinen Ausdruck eines ichhaften Anspruchs‘ (377 f.) – doch er bringt meines Erachtens nicht die Konsequenz auf, die von ihm selbst gesehene christologische Aufsprengung eines metaphysischen oder praktischen Verwertungsdenkens – „das Geheimnis des Christentums“ (364)! – auch wirklich zu denken, denn das hätte einschneidende Folgerungen für den Begriff des Absoluten. Bei Heim verharrt der Mensch in der Rolle des Objekts einer göttlichen souveränen Subjektivität (vgl. z. B. 389) und begreift sich auch „ganz und gar“ als Objekt im ohnmächtigen Zusammenbruch des Eigen-Sinnes „unter der Vision einer ganz neuen Art“, sich zum Leben zu verhalten (411, 416). Die Vorstellung eines Herrn, der nicht Bestimmtes befiehlt und „uns Freiheit lässt“ (414 f.), disqualifiziert Heim als „negative Verfügung über Gott“ (433); sie könne demnach für das praktische Leben nicht entscheidend bedeutsam werden: „Ich brauche [!] irgendeine [!] Weisung, die meiner Entscheidung die Richtung gibt.“ (431). Für diese Zerreißung des Netzes aus Wünschen und Projektionen, welches sich über die Wirklichkeit gelegt hat, steht bei Heim die Metapher „Gleichzeitigkeit mit Christus“ ein (433). Ihr Sinn wird nur deutlich, wenn man Heims Gedanken auf eine letzte absolute Teleologie der Geschichte bezieht.
6. Ohnmacht Gottes als Ärgernis. Religiöse Durchhalteparolen im Horizont sicherheitsfixierter Enderwartung Dass Jesus die Machtfrage „zunächst völlig ungelöst“ lässt, bezeichnet Heim als das eigentliche Ärgernis (W. 64). Einer, dem angeblich alle Gewalt gegeben ist, versagt sich und, entsprechend, denen, die ihm nachfolgen, jegliche Gewaltanwendung. Ja, er steigt „Schritt für Schritt tiefer hinab in die Ohnmacht“ (W. 64). Heim sieht sich außerstande, in diesem Vollzug ein Wesensmoment göttlicher Gegenwart im menschlichen Dasein zu entdecken. Wie der Mensch, der fixiert bleibt auf das Moment der expansiven Ausbeutung seiner eigenen endlichen Lebensmacht, konzentriert Heim seine theologische Aufmerksamkeit auf die Frage, wie zu erklären
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sei, dass die volle Machtübernahme Gottes in Jesus Christus ausbleibt (66). Das Göttliche als Göttliches soll gefälligst zur Erscheinung kommen. Der Mensch bei Heim versteht sich geradezu als Kämpfer „um die Eroberung der Sichtbarkeit“ der göttlichen Macht (W. 207)! Den kierkegaardschen Gedanken, das Schlimmste für die Menschen könnte womöglich sein, dass Gott sie vergisst, hält Heim für nicht erwägenswert. Das hieße ja, „im Kampf um die Sichtbarkeit vor der Gegenmacht kapituliert“ zu haben „und dem gegen Gott gerichteten Vernichtungswillen den Raum der Öffentlichkeit kampflos [zu] überlassen“ (W. 208). Soll Gott das letzte Wort behalten, darf er, nach Heim, das wichtigste Werkzeug, „nämlich die öffentliche Propaganda“ (ebd.), nicht dem Feind überlassen. – Dass die Nutzung dieses entmündigenden Mittels gerade dem Diabolischen spezifisch entsprechen könnte, lässt sich Heim von Kierkegaard nicht sagen… Die Emanzipation vom Zweckgedanken in der Dimension des Göttlichen ist nämlich bei Karl Heim ausgeblieben. Dass „dieses unsichtbare Zu-Tode-gemartertwerden von Hunderttausenden […] tatsächlich für nichts“ geschieht, weil es „nirgends in die Erscheinung tritt“, so dass auch ,niemand sich daran stärken‘ kann, stellt für Heim eine elementare Anfechtung dar. Die Frage nach dem letzten „Wozu“ – „wozu sich dieser Erdball dreht“ – dringt hier noch auf eine definitive Beantwortung (vgl. W. 210). Die Auslegung der Souveränität Gottes gemäß teleologischen Vorstellungskategorien spiegelt sich in einer teleologisch-zweckrationalen Dynamik des Antichristen. Auch das Verhältnis von göttlicher Ohnmacht und weltwirksamer Gegenmacht muss daran konsequent einer planvollen Struktur, einer Strategie (W. 235), unterliegen. (War schon in Zweifel gezogen worden, dass die Einheit einer Verfallsgeschichte, wie der späte Kierkegaard sie zeichnet, theoretisch haltbar sei, es liegt auf der Hand, dass wir diesen heimschen Geschichtsspekulationen mit noch unendlich verstärkter Skepsis entgegentreten.) Im jetzigen Weltzeitalter hält Gott […] aus ganz bestimmten Gründen seine Macht noch zurück. Er entfesselt also dadurch selbst den Sturm des Aufruhrs, der gegen ihn gerichtet ist […]. Die Kraft der Gegenbewegung besteht […] darin, daß sie nach einem großangelegten Plane von einer zentralen Machtstelle aus geleitet wird […] und planmäßig das eine Ziel verfolgt, die Gemeinde des auferstandenen Christus zu vernichten […]. (W. 211 f.)
Die Empörung gegen Gott muss „erst in ihrer ganzen Furchtbarkeit zur Durchführung kommen“; „Satan muß Gelegenheit haben, sein wahres Gesicht zu zeigen“ (W. 239)14. 14 A. Köberle (Theologie der Kontakte, 150) referiert, Heim habe den Widerstand gegen Gott „in einem widergöttlichen Gesamtwillen“ wirksam gesehen, „der wie ein Riesenschatten über der ganzen Schöpfung liegt“. Respektvoll heißt es, Heim habe es gewagt, „seine Christologie ganz von diesem willensbeseelten dämonologischen Hintergrund her aufzurollen. Jesus kämpft nicht gegen ein leidvolles Schicksal, das die Menschen befallen hat, er kämpft gegen eine Willensmacht, die sich im Menschenherzen und weit darüber hinaus in der ganzen Schöpfung gegen Gott auflehnt.“
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Wenn einmal die Bühne freigegeben ist für das große strategisch geplante Geschichtsdrama der metaphysischen Mächte, ist der Schritt zur genauen Identifizierung der gotteswidrigen Geschichtsmacht nur noch ein kleiner: ihr Sitz ist Moskau (W. 212). Es hilft da nur wenig, wenn Heim einräumt, er gebe „natürlich nur eine vorläufige Deutung“ (W. 239). Die wirkliche Nonkonformität des christlichen Einzelnen erfährt in diesem Licht ihre Würdigung natürlich auch nur nach metaphysischen Zweckgesichtspunkten: „mitten im großen Abfall auf verlorenen Posten“ auszuhalten, qualifiziert für die Zugehörigkeit zur von Gott beabsichtigten „Auslese einer neuen Menschheit“ (W. 218). Die Bilder und Symbole einer absoluten Teleologie formatieren das individuelle Bewusstsein, welches den Endsieg zur Stabilisierung seines Ausharrens verrechnet – „genauso ernst und nüchtern wie der Bauer“, der um den bevorstehenden Wechsel der Jahreszeiten weiß (W. 231). Mit diesem Rechnen auf das Kommende steht und fällt alles. Das unsichtbare Fundament der Gemeinde ist ein Ereignis, „das noch ganz Zukunft ist“ (W. 232)! „Sie setzt alles auf diese eine Karte“ der Erwartung (ebd.). Ausdrücklich wendet sich Heim von der kierkegaardianischen Akzentuierung des Wagnisses ab Heim: „Aber dieses Schweben über der bodenlosen Tiefe ist kein Wagnis, kein Abenteuer, kein Vabanquespiel.“ Das subtile Psycho-Kalkül Heims sieht wie folgt aus: Die seelische Energie des Lebensmutes ist endlich und deshalb erschöpfbar und nicht enttäuschungsresistent. Die „weltüberwindende Kraft“ muss sich deshalb aus einer gewissen „EnderwarPaul Althaus, „Das Kreuz und der Böse. Bemerkungen zu Karl Heims Lehre vom Werke Christi“, in: ZSTh 15 (1938), 163 – 193, hebt hervor (167), dass in „Jesus der Weltvollender“ der entscheidende Gesichtspunkt für das Verständnis des Kreuzes Christi der Gesichtspunkt des Kampfes sei. Das Entscheidende der Versöhnung sei nicht, wie bei Anselm zum Beispiel, die forensische Funktion der Sühneleistung in einem Strafverfahren, sondern sei die Beziehung auf den Satan. Nach Althaus ist in diesem Ansatz eine Rehabilitierung der griechischen Theologie zu sehen. Nun werde aber doch – so registriert Althaus über Heim (168 f.) – in den synoptischen Evangelien bei der Erörterung der Sinndeutung des Todes Jesu der Satan gerade nicht erwähnt. Althaus warnt deshalb vor einer einseitigen Betonung des Satansgedankens. Heim sage „nirgends deutlich, daß die Verhaftung an den Satan im Grunde Verhaftung an Gottes Zorn ist“ (179). Althaus erinnert an Luther (180), bei dem das Kreuz Christi als „Auseinandersetzung Gottes mit sich selbst, nämlich mit seinem Zorn“ zu verstehen sei. Entsprechend ergeben sich Bedenken gegen Heims „spekulative Auswertung des Begriffs der Feindschaft gegen Gott“; damit werde die Sünde – wenn auch nicht die Schuld der Sünde – abgeschwächt (182). Im Übrigen müsse gerade auch der bolschewistische Kampf gegen Gott zunächst (!) als „letzte Menschenmöglichkeit“ begriffen werden, „ehe wir an die Stelle gelangen, an der wir durch die Wirklichkeit des Bösen im Menschen gezwungen werden, über den Menschen hinaus zu blicken auf den Satan“ (185). – Solches Argumentieren, wie Althaus es hier vorführt, ist freilich nur allzu wohlfeil: Man plädiert zunächst für mehr Nüchternheit in der Deutung, erteilt dann aber in letzter Perspektive der satanologischen Politikdeutung doch eine theologische Lizenz. So spricht schließlich Paul Althaus von der „Wirklichkeit des Satanischen in der Geschichte“ (185). Auch H. Schröer, Die Denkform der Paradoxalität als theologisches Problem: eine Untersuchung zu Kierkegaard und der neueren Theologie als Beitrag zur theologischen Logik, Göttingen 1960, 181 distanziert sich von Heims einseitiger Dialektik „Christus/Teufel“, weil doch der Dialektik „Christus/Sünder“ der Vorrang zukomme.
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tung“ regenerieren, „die nicht das Geringste mit einem Wagnis zu tun hat“: „Die Hoffnung, von der sie lebt, muß ein anstrengungsloses Ruhen sein, das gar keine Kraft kostet.“ (W. 233). Wenn Karl Heim einmal suggeriert, die großen bewegenden Fragen könnten „nur im Feuer der Hoffnungslosigkeit entschieden werden“ (W. 13), so trifft er mit dieser Wendung ins Schwarze. Es zeigt sich dennoch, dass seine starke Bindung an eine apokalyptisch-eschatologische Sicht der Geschichte ihn auf politisch- theologische Abwege gebracht hat. In schöner Offenheit gibt Karl Heim zu erkennen, dass es einer psychologisch aufzuhellenden Überlebensstrategie der Frommen entspringt, wenn die jesuanische Konzentration auf den gegenwärtigen Augenblick unterlaufen wird. Zwar lenke Jesus die ganze Konzentrationskraft auf die Gegenwart, doch wir Endlichen bedürfen soweit eines Vorblicks auf das grandiose Weltende, „damit wir durchhalten können“. Jesus, so Karl Heim, will Nachfolger, die im Kampf der Gegenwart in seine Fußstapfen treten und Schritt für Schritt hinter ihm hergehen, um ihm das Kreuz nachzutragen. Er darf uns darum nichts sagen, was uns von der Gegenwartsaufgabe ablenkt. Dennoch muß er uns über die Zukunft, der er uns entgegenführt, soviel mitteilen, als wir unbedingt wissen müssen, damit wir durchhalten können und den Mut nicht verlieren. Darum ist jedes Wort, das Jesus uns über die Weltzukunft sagt, von der größten Wichtigkeit. (W. 157)
Die Kierkegaardsche Intention bleibt gegen den Zeitgeist aufrechterhalten: unabhängig zu sein oder zu werden von der „Macht der öffentlichen Meinung, von Spott oder Beifall der Massen“ (W. 55). Doch will sich bei Heim das theologische Denken des Weges selbst in diese Unabhängigkeit versichern. Der einzelne ringt um die „Gewissheit des letzten Auftrags“ (W. 55) – mitzuwirken bei der ,großen Schlussabrechnung Gottes‘ (W. 234 f.). Ohne diese Durchsicht, die er uns erlaubt, „die schreienden Dissonanzen“ des Weltverlaufs als bloßen „Übergang“ zu begreifen – als ,unheimliche Stille vor dem Vernichtungsfeuer‘ (W. 235) – und in der Antizipation dieses Ganzen unsere Sinnerwartung einzulösen, müssten wir nach Heim „am Sinn des Weltgeschehens verzweifeln“ (W. 234)15. Dass Jesus von Nazareth ein neues Verhältnis von Gott zu Mensch erschlossen hat, welches womöglich auf der Zurücknahme absoluter Machtexekution beruht, geht Heim nicht auf (obwohl er doch so trefflich formuliert, in der Zurückhaltung der göttlichen Machtkundgebung liege gerade die höchste Kraft; W. 237). Heim muss folglich zu erklären trachten, dass Gott trotz Jesu Erlösungstat noch nicht seine 15 Noch in seinen Lebenserinnerungen „Ich gedenke der vorigen Zeiten“ (Hamburg 1957) hat Heim als Ziel seiner Arbeit angegeben, er habe „den sich vorbereitenden endgeschichtlichen Entscheidungen“ dienen wollen (a.a.O., 311). Dazu passt das Lob von Eisenhut (Im Gedenken, 658), Heim habe es „immer im besonderem Maße verstanden, die konkrete Situation zu erhellen“. In diesem Sinne sei – jedenfalls meint das Köberle in seiner Gedenkrede (Theologie der Kontakte, 148) – von Heim zu lernen, dass die Theologie „nahe dran bleiben [müsse] am Ringen der Zeit, sie darf sich nicht im Selbstgespräch erschöpfen“.
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Machtfülle zur Durchsetzung bringt. Für Heim bleibt deshalb der Mensch bloßes Objekt göttlich-omnipotenter Verfügung. Obwohl er sich doch ständig auf Kierkegaard bezieht, nimmt er dessen einschneidende Kritik der Omnipotenz nicht zur Kenntnis. Leitend bei Heim bleibt die Struktur einer Metaphysik verfügender omnipotenter Befehlsdynamik, der aufseiten des Subjekts die Absenz jeder Freiheitsregung korrespondiert. Der paramilitärische Ton ist nicht zufällig: „Es ist der souveräne Akt, durch den er [Gott] Menschen sich einverleibt und zu Organen macht, durch die er handeln kann.“ (W. 253). Christus lehnt uns entweder als untauglich ab, oder er reiht uns in seine Kerntruppe ein, „mit der er seine Schlachten schlägt“, die uns das Leben kosten (W. 252 f.). Das Verschlingende dieser die Individualität missachtenden Vorstellungswelt, derer militaristischer Jargon nicht wie des Kaisers alte Kleider abzustreifen ist, spiegelt sich in dem ausdrücklichen, christologisch ,begründeten‘ Postulat des völligen Verzichts auf jede Selbstführung (W. 257) – so, als seien „Selbstführung“ und „eigene Machgelüste“ synonym zu verstehen (vgl. W. 262). Es kann dem Eindruck einseitiger Rekonstruktion entgegenwirken, wenn wir betonen, dass Heim diese Christologie auch gegen die seinerzeit gängige Beanspruchung von Schöpfungsordnungen und ihre Festlegung auf bloß menschliche Autoritäten wendet (vgl. W. 250 f.); bekanntlich optimierte die Theologie der Schöpfungsordnung die Einpassung des Evangeliums in die nationalsozialistische Wahnwelt. Der eigentliche Erklärungs- und Problemdruck, der „mit jedem Jahrhundert schwerer und drückender wird“, geht also aus von der „Unbegreiflichkeit der göttlichen Machtzurückhaltung“ (W. 240). Nach der „Versöhnung der Gewissen“ durch Jesus wird nun „die Geduld der Brautgemeinde auf die schwerste Probe“ gestellt (67). „Warum diese Pause…?“ Warum nur „Entrechtung“, nicht aber „Entmächtigung“ der anti-göttlichen Mächte? In dieser Zwischensituation hat sich jedenfalls die kerygmatische Betroffenheit durch die Verkündigung des Wortes Gottes Heim zufolge als Praxis zu bewähren: sie fordert zu einem „gestimmten Verhalten“ auf (H. 203). Alle Lessing-/Kierkegaard-Aporien überspringend, postuliert Heim strikt: „Die gegenwärtigen Weisungen Jesu müssen mit den Befehlen des historischen Jesus übereinstimmen, wenn echte Führung vorliegen soll.“ (H. 209). Diese Führung ist also bei Heim schlicht erforderlich als Pausenfüller: die Lücke zwischen Jesu Leben und der eschatologischen Katastrophe muss überbrückt werden. Dezidiert stellt Heim klar, dass sich in dieser theologischen Interpretation durch das Ereignis Jesus Christus in der Beziehung zwischen Gott und Mensch strukturell „nichts geändert hat, darum sind wir bis zum Ende der jetzigen Weltform für den Verkehr mit dem Vater ganz auf den Sohn angewiesen“ (H. 211). – Dass die so verstandene Erwartung, die sich ja in den Evangelien zweifelsfrei artikuliert findet, selbst christologisch zu kritisieren sein könnte, kommt Karl Heim nicht in den Sinn. Als Interpret, der insbesondere die Kierkegaard-Bezüge im Werk Karl Heims zu würdigen bemüht war und alle Möglichkeiten zu einer differenzierten Darstellung des theologischen Anliegens genutzt hat, halte ich es doch für richtig, zum Schluss den Leserinnen und Lesern durch Abdruck einer längeren Textpassage vor Augen zu
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führen, welcher Art von zeitgeist-abhängiger ,Denkerei‘ diese Differenzierungen abgerungen wurden. In den leeren Raum, der nach Kriegsende durch das Erlöschen der ganzen Ideenwelt der Aufklärung, der französischen Revolution und des deutschen Idealismus entstanden ist, tritt nun der neue Inhalt hinein, der als unsichtbarer Machtfaktor an die Stelle aller Ideen und Lebensprogramme treten soll, das Erlebnis der Führerschaft. Die großen Bewegungen werden seitdem alle nicht mehr von Ideen getragen. Sie kristallisieren sich um irgendeinen Mann wie Lenin oder Gandhi oder Mussolini, der Führerqualitäten hat. Was den Führer zum Führer macht, ist nicht mehr das blaue Blut, die königliche Herkunft, die glänzende Hofhaltung. Es ist auch nicht ein Titel oder ein Rang oder eine Beamtenstellung. Es wird auch nicht durch Geld oder Verbindung mit der Hochfinanz erworben. Es stützt sich auch nicht auf Heere und Flotten und polizeilichen Schutz. Was Millionen in Bewegung setzt, sodass sie zusammen strömen, sobald der Führer spricht, was Tausende aufruft, dass sie sich ihm bedingungslos zur Verfügung stellen, ist nichts was sich von seiner Person loslösen lässt. Es ist nur er selbst, Il Duce, der Führer. Was ihn zum Führer macht, ist nicht das Programm, das er durchzuführen verspricht, nicht die Weltanschauung oder die Ethik, die er vertritt. Auch das ließe sich ja von ihm selbst loslösen. Die wahre Führerschaft hängt nur an der Person des Führers. Wo echte Führung vorliegt, haben sich ihm die Geführten bedingungslos angeschlossen. Sie haben ein grenzenloses Vertrauen zu ihm gefasst. Sie verlangen nicht von ihm, dass er sich auf ein Zukunftsprogramm festlegt. Sie brauchen sein Kommando nur für die heutige Stunde. Sie brauchen noch nicht zu wissen, was morgen geschehen soll. Sie sind ein für alle Mal in den ,Feuerring seiner Führerschaft hineingesprungen‘, haben sich auf Tod und Leben an ihn gebunden und stehen zu seiner Verfügung. Er trägt ihr Schicksal in seinen Händen. (H. 71 f.) Der Kultus des ,Herrn‘ hat also eine eigene neue Kategorie geschaffen, die Kategorie des Kyrios. Und diese Kategorie findet in Christus ihre Erfüllung. Eine ähnliche Bedeutung, wie sie der Kyrioskult in jener Zeit des Untergangs der antiken Götterwelt gehabt hat, hat heute der Gedanke der Führerschaft. (ebd. 70) [A]n die Stelle einer Führung, die nur ein Teilgebiet unseres Daseins umfasst, wird hier die echte Führung, die unsere ganze Existenz umspannt, nicht nur das Schicksal unseres Körpers, sondern auch unser ganzes Wollen und Erkennen, nicht nur unser Leben bis zum Tode, sondern unser ganzes kommendes Schicksal bis in alle Ewigkeit […]. (ebd. 71) [W]o echte Führerschaft vorliegt, gibt es nichts mehr in meinem Leben, ,das mir selbst gehört‘, und dass ich für mich selbst behalten kann. (ebd. 71) Es ist uns ein Führer geschenkt (heißt es mit Bezug auf Christus, siehe ebd. 73). [D]as Dasein der Führergewalt ist völlig unabhängig davon, ob die Massen, die zum Gehorsam aufgefordert sind, den, der ihr geborener Führer ist, sofort als den Mann anerkennen, der ihrer Art gemäß ist, oder ob sie sich in unglaublicher Verblendung von ihm abwenden. Die Führervollmacht ist genauso da, wenn Millionen begeistert dem Ruf folgen, wie dann, wenn der Führer von allen verlassen, ,wankend und allein‘ die Fahne vorwärts trägt. Die Führergewalt beruht nicht auf Abstimmung und Majoritätsbeschluss der Geführten. Sie ist entweder da, dann erfährt sie jeder sofort in ihrer ganzen befreienden Gewalt, der in den Feuerring der Führung hineingesprungen ist, und wäre es auch nur ein einziger. Oder die Führergewalt ist nicht da, dann kann sie auch dadurch nicht herbeigeführt werden, dass Millionen einen Mann auf den Schild erheben, der ihnen artgemäß erscheint. Wenn also
Der Wunsch nach Identifizierbarkeit des göttlichen Willens
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Jesus als ,der Herr‘ bezeugt wird, so gibt es diesem Zeugnis gegenüber nur zwei Möglichkeiten. (ebd. 74) [D]ann können wir unter seiner Führung das richtige Verständnis gewinnen für unser völkisches Schicksal, für die Bedeutung des Rassenkampfes, in dem wir stehen, und für den letzten Sinn des Gegensatzes zwischen jüdischem und germanischem Volkstum. (ebd. 75)
Heim zitiert zustimmend Hans Michael Müller und dessen Werk, Glaube und Macht (1932), dem wir uns im nächsten Kapitel zuwenden werden (ebd. 73).
7. Die Warum-Frage – „in den Mund zurückgestoßen“. Die Reaktion Bonhoeffers auf Karl Heim16 Dietrich Bonhoeffer hat in einem ausführlichen Kommentar aus dem Jahre 1932 zwar Heims Schema der Dimensionen nachvollziehen können, nicht jedoch die Kategorie der „letzten Dimension“; dieser Begriff sei „definitionsgemäß“ unvollziehbar. Der Zweifel richtet sich auch auf Heims Hilfsformulierung von der „Dimension der Dimensionen“; auch dieser Begriff sei „mathematisch wie philosophisch leer“ und hebe den Begriff der Dimension geradezu auf (151). „Der Dimensionsbegriff widersetzt sich in seiner unkritischen Ontologie dem Offenbarungsverständnis.“ (152). Eine „echte Ontologie“ hätte bei der Offenbarung einzusetzen (157). Wichtiger aber scheint mir, dass Bonhoeffer – ohne Kenntnis der Jesus-Bücher Karl Heims! – der Interpretation des Schicksals als „Führung“ und des Handelns als „Auftrag“ eine so klare Absage erteilt (154). Er sah „gefährliche Konsequenzen“ dieses Ansatzes voraus (ebd.) und ahnte „etwas ganz Ungeheuerliches“: ein theologisches Denken, das die eigene Praxis mit der Kategorie des Auftrags verschränkt, läuft Gefahr, die Negativität im Schicksal mit zu sanktionieren und zu übersehen, daß der Teufel sich gerade hier in den Engel des Lichtes verwandeln kann. […] Das ganze Drängen Heims auf Konkretion ist darum am falschen Ort eingesetzt, weil es den sinnfragenden, und gerade nicht den verzweifelten Menschen ,heilen‘ soll. Er soll wissen, was er zu tun hat, damit er die Angst seines Nichtwissens überwindet […]. (154 f.)
Eine Existenz unter dem „Auftrag“ prolongiert nur das Leiden der Verzweiflung ins Unermessliche (158). Das Angestrengte dieser Existenzforderung macht Bonhoeffer diese Lösung verdächtig, erweckt die Assoziation des ,religiösen Titanentums‘ bei ihm (158) und nötigt ihn zum Gegenhalten: Der seiner Nichtigkeit bewusst Gewordene, dem die Vergebung zur innersten Gewissheit geworden ist, ist auch „fröhlich in seiner Arbeit“ (159; Pr 5, 18).
16 Die Seitenzahlangaben in Klammern beziehen sich auf: D. Bonhoeffer, „Karl Heim ,Glauben und Denken‘“, in: ders., Vorlesungen – Briefe – Gespräche (1927 – 1944), Gesammelte Schriften III, hrsg. v. E. Bethge, München 1960, 138 – 160.
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Für unsere zentrale Fragestellung ist von ausschlaggebender Bedeutung, wohin diese kritischen Vorbehalte gegenüber Heim Bonhoeffer führen: zu einer Kritik der Verbindung von Sinn-Verständnis und Warum-Frage! Heim erkennt, so Bonhoeffer, „die Warum-Frage des unter dem Dasein Leidenden als die Gottesfrage“ (152). Diese Frage gibt gleichsam den Rahmen für das Verstehen der Gottesgegenwart vor. Die Verzweiflung an der Kontingenz des Daseins ist nicht die Verzweiflung des Menschen, die nach Gott fragt, sondern die nach einem ,Sinn des Lebens‘ in Gestalt eines beantworteten ,Warum‘ fragt. In dieser Warum-Sinnfrage aber steht nicht die Existenz des Menschen auf dem Spiel; denn sie umgeht die Wirklichkeit des Bösen. Darum kann sie nicht nach Gott fragen. Über Sinn oder Unsinn des Lebens vermag der Mensch sich zu erheben als der, der in der Lage ist, das Leben selbst auf Sinn und Unsinn zu befragen und auch im Unsinn noch seine Existenz in der Haltung des Heroismus unangefochten zu bewahren. Die Verzweiflung am Unsinn ist die letzte erfolgreiche Flucht aus dem Existieren müssen […]. (152 – 153)
„Die Warum-Frage ist die unmögliche Mitte zwischen Philosophie und Theologie.“ (157). Ohne ihn hier zu erwähnen, richtet Bonhoeffer Kierkegaards Einwände auf: dieser hatte darauf bestanden, der christliche Glaube sei nur unter der Prämisse zu entfalten, dass die Subjektivität in ihrer Vorfindlichkeit die Unwahrheit ist, anders gesagt: dass das Ich durch seine Schuld gänzlich von der Wahrheit abgeschnitten ist und sich deshalb durch keinen eigenen Akt, etwa der Erinnerung, wieder mit ihr versöhnen kann. Bei Dietrich Bonhoeffer heißt das: Die biblische Verkündung gilt dem Bösen (159). Allein in der Verzweiflung […] an meinem Bösen, in dem ich der Welt und dem Du begegne, ist meine Existenz auf‘s Spiel gestellt. Vor meinem Bösen allein kann ich mich nicht mehr retten […]. Was geht mich der ewige Sinn eines Daseins an, das gar nicht meins sein kann, wenn ich nicht weiß, ob mir mein Böses vergeben ist…?“ (153)
Mit dem Augenblick, da den Menschen Gottes Wort absolut trifft, ist auch schon die „Frage nach dem ,Wert‘ nach dem ,Sinn‘ seines Daseins, als […] Warum-Frage“ zertrümmert. In dieser Frage geht es dem Ich nur um sich selbst, sie bereitet deshalb nicht vor auf die Eröffnung eines absoluten Sinnes, sondern: diese Frage zu stellen, ist gerade Ausdruck der eigenen boshaften Verfassung (153)! Über diese Frage ergeht also gerade das Gericht. – Freilich, die Heftigkeit der bildhaften Formulierung, dem Fragenden werde die Frage „in den Mund zurückgestoßen“ (153), ist auch unangemessen, weil überflüssig, denn sie bewegt sich noch auf der Ebene des Kampfes mit der Negativität; im unbedingten Betroffensein löst sich schlicht das Bedürfnis auf, diese Fragestellung zu fixieren! Ordnet doch Dietrich Bonhoeffer selbst die Sinnfrage der von Gott „ungetroffenen Existenz“ zu (154).
D. Hans Michael Müller: Nachmetaphysische Theologie – nationalsozialistisch I. Einleitende Vorbemerkungen Zur Person: Hans Michael Müller (1901 – 1989) wurde nach Promotion und Habilitation an der Universität Jena dort 1933 zum Professor an der Theologischen Fakultät ernannt. Im selben Jahr wurde Müller beurlaubt, um als Referent des Reichsbischofs Müller (nicht mit ihm verwandt) tätig zu werden. 1934 – 1945 hatte er eine Professur für Systematische Theologie an der Universität Königsberg inne.1 In Müllers Theologie, die trotz ihrer nationalsozialistischen Option an vielen entscheidenden Punkten ganz deutliche Parallelen zur Systematischen Theologie Karl Barths aufweist, wird die Geschichte, so scheint es, entladen von aller absoluten Bedeutsamkeit; keine Theorie der Schöpfungsordnung, die Strukturen göttlich sanktionierter Vor-gegebenheit auszeichnen möchte, kann noch Anspruch auf Glaubwürdigkeit erheben. Die Haltung des Christen gegenüber der Welt heute gleiche „derjenigen der eschatologischen Weltanschauung der Apostelzeit“ (471)! Von dieser Prämisse aus, die zur klaren Ablehnung einer religiösen Auszeichnung deutscher Christen führen muss, gelangt Müller dennoch zur Entscheidung für den Nationalsozialismus und zu leitenden Kirchenämtern unter dessen Regime. Was könnte lehrreicher sein, als die theologische Begründungsstruktur für diese Entscheidung eines militanten theologischen Scharfmachers herauszukristallisieren? Dem prüfenden Blick fällt zunächst auf, dass sich Müllers Theologie in ihrem Kernbereich wie einer der seriös-ernsthaftesten Versuche ausnimmt, die existenzielle 1
Von 1945 bis 1954 lebte Müller in Elmau; er war Mitglied der Familie des berühmten Theologen Dr. Johannes Müller, dessen Vorträge und Publikationen deutschlandweit Beachtung und Anerkennung gefunden hatten. Hans-Michael Müller starb 1989 in Augsburg. Informationen über Müllers Gesinnung und Gesinnungswandel finden sich in den nachgelassenen Schriften von Hans-Joachim Iwand, der in Königsberg als Kollege von Müller lehrte. Bevor Müller sich politisch eindeutig exponierte, war Karl Barth schon auf ihn aufmerksam geworden. Eine interessante Einschätzung Müllers findet sich im Briefwechsel Karl Barths mit Eduard Thurneysen. Müllers scharfsinniges Werk Macht und Glaube (München 1933) liegt der folgenden Darstellung zugrunde. Die im Text ohne Siglum angegebenen Seitenzahlen beziehen sich darauf. Sporadisch wurde auf die Propagandaschrift Der innere Weg der deutschen Kirche (Tübingen 1933) Bezug genommen (=W/Seitenzahl). Die Schrift, in der Müller sich gesondert mit Carl Schmitt auseinandersetzt, wird hier ebenfalls einbezogen: Vom Staatsfeind, Hamburg 1934 (=St/Seitenzahl).
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Aneignung der Glaubenswahrheit christlicher Offenbarung so radikal zu fassen, dass sie gegen alle ideologische Fernnutzung der Religion für Wunscherfüllungsphantasien verzweifelter Sinnsucher immunisiert und abgehärtet wird. Widerstand also gegen die Verbindung existenzieller Wahrheitsorientierung-im-Glauben mit den politisch-metaphysischen Kräften, Sehnsüchten, Orientierungsbedürfnissen? Im Zuge der Entfaltung dieses theologischen Denkgebäudes wird sich diese Suggestion als eine groteske Irreführung herausstellen. Doch der möglichst genaue Nachvollzug der müllerschen Theologie erscheint insofern unumgänglich, als hier essenzielle Bestandteile einer unbestreitbar seriösen theologischen Theorie – eben der sogenannten ,dialektischen‘ – in einer zynischen politisch-theologischen Transformation verwendet werden. Große historische Distanz zu dem rhetorischen Gestus des Machtergreifers Müller erledigt ja nicht die viel grundsätzlicher angreifende Frage, ob womöglich zentralen Bestandteilen theologischer Theoriebildung die Anfälligkeit für ideologische Verwertungen gar nicht auszutreiben ist, man – anders gesagt – mit der Versuchbarkeit und Ideologieanfälligkeit der Theologie leben muss, wenn denn die Dimension des Glaubens dem Menschsein überhaupt unerbittlich innewohnt. Zum Ausgangspunkt: Entmythologisierung des ,an sich‘ Profan-Politischen: dieses an sich vernünftige Projekt ist ein zentrales Anliegen dieser durchaus spektakulären Theologie. In unserer Darstellung dieser theologischen Position beschreiben wir einen Kreis: Wir nehmen den Ausgang bei dem Begriff des antagonistischen individuellen und gesellschaftlichen Lebens und seiner metaphysischen Überhöhung durch religiöse Verabsolutierung und politische Theologie, wenden uns dann erst den prinzipiellen theologischen Erwägungen Müllers zu und fragen rückkehrend und abschließend danach, wieweit sie das Verständnis jenes antagonistischen geschichtlichen Lebens berühren bzw. modifizieren.
II. Unvermeidlicher Individualismus – unvermeidbarer Antagonismus. Die Potenzierung der Militanz durch Glauben und Theologie Jedes Wollen eines Ich ist bestimmtes Wollen als Wollen von etwas Bestimmtem. Wer will, will dabei stets auch „sich selbst in diesem seinem Wollen gegen die Widerstrebenden“: „Es ist leicht auf den Pharisäismus zu schelten, ihn wirklich abzulegen unmöglich.“ (23). Für seine Zuspitzung „Das Ich ist das Böse“ zitiert Müller den Jenaer Philosophen Eberhard Grisebach (24). Müller wehrt sich dagegen, die aus dieser Struktur erwachsende ontologisch unvermeidbare Logik der Selbstbehauptung als primitiv oder schäbig zu denunzieren. Aus dieser ursprünglichen
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Verfassung des Menschen entspringe vielmehr „das Unheimliche aller Absolutismen, aller ewigen Süchte und Sehnsüchte“ (321). Die Religion dient im menschlichen Leben der Verabsolutierung dieser expansionistischen Willensstrebungen des mit sich selbst zerfallenen Menschen. Insbesondere jede monotheistische Fassung des Sinngehalts der Existenz schließe die „Bereitschaft zur Vergewaltigung“, schon analytisch gesehen, ein (58): „Nach Entscheidung und Vereinfachung drängt der Mensch und kann nicht anders.“ (59) Das Allgemeine ziele auf Befriedung, das Besondere auf Erregung (108). Das Produkt seiner individualistischen Eifersucht nennt der Mensch ,Gott‘ und „seine Vereinfachung betet er an“ (60). Auf diesem Grunde eines entzweiten Wesens gewinnt der Individualismus die Konturen von „Empörung und Revolte“. In der individualistischen Verabsolutierung manifestiere sich „der Gott nachäffende Charakter des Menschen“ (59). Unter dem Stichwort „Verabsolutierung menschlicher Leidenschaft“ propagiert Müller, es gelte, die konkrete Zweckgebundenheit jeder Leidenschaft zu sehen und doch den „absoluten Affekt“ und das „sachliche Anliegen“ auseinanderzuhalten (53). Dass eine jede ursprüngliche Entscheidung in den politischen Antagonismus gerät, liegt an der Zweck-Mittel-Ratio, die für diese Sphäre spezifisch ist. Das heißt: jeder Schritt in die Öffentlichkeit des Wirkens wird zwangsläufig von dieser Ratio infiltriert, selbst wenn sein Anliegen gar nicht mit der Intention auf Machtergreifung oder Herrschaft in Verbindung gebracht war (vgl. 324 f.). Insofern der individuellen Entscheidung die antagonistische Komponente eingepflanzt ist – sonst wäre sie gar nicht individuell –, verfällt sogar eine leidenschaftliche Entscheidung zur Selbstlosigkeit den Gesetzmäßigkeiten der auf Widerstände reagierenden Selbstbehauptungslogik (vgl. 27): „wo immer Menschen aufs Ganze gehen, [wird] unweigerlich ein Gott-mit-uns bekannt und erprobt“ (93). Pazifist oder Militarist: „Die individualistische Befriedigung des eigenen Lebensgefühls bei der Vernichtung des Gegners, bzw. beim Risiko des eigenen Unterliegens, ist die gleiche.“ (311). Gegen eine vorschnelle Berufung auf das höchst Individuelle, das Gewissen, möchte Müller zwar zur Geltung bringen, „daß wir aufeinander angewiesen sind, um in dieser Welt mit dem irdischen Leben gemeinsam fertig zu werden“ (21) – und die Formel vom „Dienst zur Besserung menschlicher Gemeinschaft“ (302) kommt ihm gleichfalls über die Lippen –, doch Müller verurteilt es zugleich als elende Täuschung, wollte man vorgeben, intentional könne das Gegeneinander in eine letzte Gemeinsamkeit überführt werden (46, 52). Also folgt für Müller bündig: Der Krieg ist die „Konsequenz des Kulturwesens überhaupt“, seiner unvermeidlich individualistischen verabsolutierten Gegensätze (309). Dabei stellt die existentielle Zweckorientierung ein besonderes Ingredienz dar: Müller pflichtet Max Weber bei, der den Unterschied des Todes im Kriege von dem gewöhnlichen Tode damit erklärte, dass im Kriegsfall eine letzte Zweckbezogenheit waltet, insofern „in dieser Massenhaftigkeit, nur hier, der Einzelne zu wissen glauben kann: daß er ,für‘ etwas stirbt“ (310).
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Rasant entlarvt Müller – analog zu Carl Schmitt – auch die Rede von den „Glaubensinteressen“. Der Glaube erhöht die Durchschlagskraft jedes Interesses (vgl. 37). „So viel Glauben, so viel Interessen. Hinter jedem Interesse, wie leicht ein Glaube und ein Gott“. Zwischenfazit: „Die praktische Bedeutung der Gottesfrage ist, daß sie zur letzten Machtfrage sich erhebt“ (36). „Wer nicht glauben wollte, lief immer das Risiko, dran glauben zu müssen.“ (ebd.). Übrigens bedient sich Müller zu Zwecken der Deskription – ebenfalls wie Carl Schmitt und in dessen Sprache – der politischen Mythologie: „Heute regieren am Firmament der Glaubensinteressen zwei Bilder souverän die Stunde: Rutenbündel und Sowjetstern.“ „Wer sich nicht angliedert und kein Bekenntnisbuch vorweisen kann, über den wird bei jeder Krise als ,Unorganisierten‘ hinweggegangen.“ (39). Die individuelle Freiheit zählt nicht (40). Die Politik greift, ziemlich unabhängig von bestimmten Zwecken, ständig auf die Religion zurück. Durch seine Bezogenheit auf die Sünde und deren Eingrenzung, bildlich: auf Gott und Teufel, präfiguriert der Glaube absolut die Freund-Feindbeziehung. Er ist also „mehr als politischer Zweck und äußeres Machtinteresse“: „Darum allein vermag er politisches Tun zu begründen, ihm Weihe und transzendente Legitimierung zu geben.“ (183). Müller hat mit diesen Formulierungen Carl Schmitts Konzept der „Politischen Theologie“ übernommen und rekapituliert. S. 184 – 187 setzt sich Müller mit Carl Schmitt kritisch auseinander. Grundthese der Kritik: Schmitt habe die Priorität des Glaubenselementes in allen Verabsolutierungen und Parteinahmen nicht angemessen gewürdigt. Ausschlaggebend darin sei die Bezugnahme auf einen letzten Zweck: „Es gibt keine […] politische Selbstbehauptung ohne die wesenhaft religiöse Selbstrechtfertigung vor einem letzten Zweck.“ Schmitts Basiskriterium, die Freund-Feind-Unterscheidung, sei bloß abgezogen von dieser Grundstruktur. Müller erkennt – im Jahre 1932 – hinter dieser Verschiebung bei Carl Schmitt eine selbst wiederum eminent politische Absicht, die man Schmitt nach dem Kriege nicht mehr abnehmen wollte: Offenbar habe Schmitt, so mutmaßt der Theologe, den „Versuch einer Neutralisierung der Glaubenskräfte, des religiösen Momentes in der Politik“, unternehmen wollen (185)! Doch Müller übersieht deshalb nicht das Gemeinsame: „Carl Schmitts formalistische Definition bietet den Vorteil, mit dem Hinweis auf den Kampf zwischen […] Glaube und Gegenglaube, gefüllt werden zu können.“ (187). Politische Rivalität „setzt den Pluralismus von Freund und Feind als zu Recht bestehend voraus“. Der Gegner ist ebenbürtig. Metaphysische Rivalität kennt demgegenüber nur den „diffamierenden Dualismus von Gott und Teufel“ (328). Denn sie hierarchisiert die Gegensätze im Lichte eigener, als substantiell ausgegebener, angeblich unbedingter Überlegenheit. „Die Politik versteht sich nun als Mission.“ (330). Sie schlägt um in Ressentiment, Demagogie, religiösen Wahnsinn, Inquisition (322). Da die Glaubensurteile fundamental, nämlich „Motor aller Politik“ (329) sind, die Freund-Feind-Beziehung mithin das Zweitrangige ist, ist es schon eine Leistung enormer „Einklammerung und Kontrolle“, das „Wesen und die
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Reinheit der Politik […] begrifflich und praktisch, ethisch und taktisch zu erfassen“ (328). – Carl Schmitt hat das Verhältnis von Formalität der Struktur des Politischen und Verabsolutierung genau umgekehrt gesehen (s. o.); Müller kritisiert das (328 f.). In seinen Darlegungen geht Müller von dem simplen Tatbestand aus, „daß je ein und dieselbe konkrete Politik mit vollendet gegensätzlicher Theologie […] begründet werden kann, und andererseits absolute politische Gegensätze von ein und derselben Theologie her sich legitimieren lassen“ (282). Man könnte demnach von einer immer wirksamen „Transposition des politischen Weltwesens an den christlichen Begriffshimmel“ (338) sprechen. „Wer wollte der Wirklichkeit des Menschen entrinnen? Sie heißt Parteinahme.“ (4). – Diese Gegebenheit nun verfällt bei Müller allerdings in dem Augenblick der Kritik, in dem sie bestreitet, dass Gottes Gnade allen, mithin auch dem Gegner gilt (12). „Gottes Name wird geachtet und gerühmt, während man auf Erden ächtet, um den Teufel zu verachten.“ (17). Müller, der der nationalsozialistischen Entscheidung beipflichtete, unterzieht auch die Äußerungen von Joseph Goebbels einer kritischen Sichtung, um zu erweisen, dass das Junktim zwischen politischem ,Ausmerzen‘ und moralischer Erledigung des anderen bei gleichzeitiger Entlastung des eigenen Gewissens unakzeptabel ist (vgl. 18 f.). Obwohl Sympathisant der Nationalsozialisten, stellt Müller an die theologischen Ideologen unter seinen Zeitgenossen doch die richtigen Fragen: „Was trägt die theologisch geforderte ,Unterordnung unter Gott‘ aus, wenn der Streit darum, wer politisch über andere ,erhöht‘ ist, im Namen des Schöpfergottes und je ,vom Evangelium her‘ betrieben wird?“ (281). Der jeweils Besiegte werde sich schön bedanken für „die religiöse Demut der Siegreichen und Vergewaltigenden“ (ebd.). Der theologische Vorbehalt befördere also noch die praktische Rücksichtslosigkeit (283). „Nicht zu vergötzen, ist daher sein Pathos, Vorbehalte zu machen seine Leidenschaft, und daraufhin mit herzlicher Zuversicht den Hammer ,Gott will es‘ zu schwingen seliger Beruf.“ (341). „Der praktische Gebrauch jedes Bekenntnisses ist politisch.“ (25). Für kein auch heute gängiges Theologumenon bringt Müller so viel Sarkasmus auf (und zu Papier), wie für den eschatologischen Vorbehalt, der doch nur „eine qualitative Vorherrschaft in Demut zu erzielen“ sucht (104). Alle demütigen ihren Mut: Wir danken Dir, Gott, daß wir nicht sind, wie diese da und jene dort. Und wir danken es Dir allein. Denn nicht wir haben es ,verdient‘, sondern Du hast es gewährt, geschenkt, gegeben. Und alle folgern: Vorwärts, Brüder, zeigt es ihnen. Wie viele Wege bieten sich dar, Gottes Absicht den anderen exemplarisch zu zeigen, durch Wort und Tat, durch zarte oder hinreißende Gewaltsamkeit! Si vis pacem, para bellum. Den Frieden lieben, heißt zum Kriege rüsten. Daraus folgt philosophisch, politisch, religiös: Bete und vernichte. (22 f.) Wir leben in einer Zeit der höchsten philosophisch-theologischen Nuancierung, inmitten eines unerhörten Fleißes beim Bau systematischer Staubecken für die Wasser der Gnade. Die religiösen Dammarchitekten und Zuleitungsingenieure versichern alle in gleichförmigem Rhythmus: Das Becken ist leer, die Mauern kahl, der Zement sinnlos, unser Werk vergeblich, Menschenkraft verloren – wenn nicht die Wasser aus einer anderen Dimension gegeben werden, wenn nicht die Gnade selbst, wo und wann es ihr gefällt, sich selber gibt
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D. Hans Michael Müller und im Rinnsal, Strom oder Sturzbach bei uns einfällt! Und jenseits des Hügels […] sind […] andere Deiche und Stauseen im Bau und Betrieb […]. Aber die Erbauer rufen auch hier in frommem Takt: Unser Damm, unser Beton, unser Werk aus sich selbst – tut’s nicht, kann’s nicht, will’s nicht. Aber wenn überhaupt, wenn anders Wo und Wie (wo und wie Gott will), dann zuerst und zuvörderst unser Damm, unser Beton, unser Werk; nicht aus sich selbst – aber eben dieser dann Gnadendamm und Gnadenbeton als begnadetes Werk, weil dann aus Gott! Und sie kommen mit Schaufeln und Spitzhacken singend gegangen zur Ehre ihrer Werke, die aus sich nichts sind, aber wenn anders Gott ist und sein wird, durch ihn und aus ihm dann alles sein werden; die also unter diesem Vorbehalt jetzt alles schon sind. Welche Arbeit aus welchem Glauben werden die Schaufeln und Spitzhacken tun, wenn die Lobsingenden sich treffen und nach dem Gesang die entscheidenden Begegnungen geschehen? (232)
Es ist eine alte Praxis, Gott die eigenen Wünsche subtil in einer Strategie des Selbstopfers zu unterschieben – in den verschiedensten ,Dialekten der Hoffnung‘ (vgl. 208 f.). Auch die existentialistische Kategorie des Wagnisses gerät in den Sog dieser theologischen Ideologiekritik: „Vergöttern will man durchaus nicht. Aber anschauliche Klarheit darüber, was denn nun Gott wohlgefällig sei, soll durch das Wagnis selbst, ganz abgesehen von seinem rechnerischen Erfolg, geschafft werden.“ (346). „Ökumenisch sind die Kompromisse, monotheistisch die Radikalismen, polytheistisch der Tatbestand.“ (67). Bei grundsätzlicher Entrüstung diene Theologie der systematischen Aufrüstung (67 f.). Geschichtlich gesehen war der Glaube immer politisch nutzbar, weil er das berühmte „Zwar/Aber“ nicht aufkündigte: „Zwar dürfen irdische Gestalten nicht vergöttert werden, aber im Irdischen leuchte uns das Ewige auf.“ (190). Mit dieser insgeheim Kampfbereitschaft einschließenden Argumentationsfigur bringt sich der Glaube a priori um die Möglichkeit, die „Verabsolutierung politischer Werte“ abzuwehren (190 f.). Der Kategorie „Ernst“ kommt bekanntlich in Sören Kierkegaards Denken eine herausragende Bedeutung zu. Auch Müller nimmt sie für seine Verfremdung der Existenztheologie in Beschlag. Der letzte Ernst als „Kriterium […] ethischer Qualifikation“ soll bedeuten, dass „jegliche Ernsthaftigkeit als persönliche Lebensentscheidung respektiert und Blut und Gewissen geachtet werden“ (5). Der letzte Ernst, der aller Fähigkeit zu Empörung und allem Heroismus in der Geschichte zugrunde liegt, wird bei Müller in immer neuen Wendungen zur Schlüsselkategorie der Existenz: Aus ihm lebt der moralische Vorsatz und psychische Einsatz, die Begeisterung, emporgerissen zur Disziplin […]. Allen Halben zur Warnung sei es gesagt: Wissenschaft der Vernichtung aus Glauben ist der Letzte Ernst. Fruchtbarste Einigung von Theorie und Praxis schafft sich hier Bahn. (7) Starkstrom aus der Ewigkeit, Druck aus den Tiefen einer Welt, die wirklicher als die unsere ist, gleichsam magisches Elixier der großen Charaktere, auf welchen Fronten immer sie standen und stehen. (8)
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Alle, alle sind sie gerufen, hoffnungsfrohe Legionen lebensdurstiger Menschen. Betet an die Schöpferkraft mächtigster Gebilde, den Genius aller Epochen, den Organisator von Kulturkreisen und Revolutionen: Du bist das Göttliche selbst, das uns alle verbindet, trägt und erhält, Letzter Ernst! Wir sind gerüstet, ehrlich die Freunde zu lieben und ohne Falsch zu hassen die Gegner. Wir sind bereit, bereite uns Du! (8 f.)
Müller fügt dem unmittelbar an: „Der allgemeine Glaubenseifer hat gesprochen, und wir müssen zunächst einfach Ja dazu sagen. Tiefgreifende Umwälzungen sind das Werk letzten Ernstes.“ Nur dürfe nicht übersehen werden, dass alles so zustande gebrachte „Menschentat“ ist – „nüchtern oder wahnwitzig“. Die fundamentale Selbst-Täuschung erwachse eigentlich aus der Schizophrenie von mono-theistischer Selbstinterpretation als Ideologie und fanatischer poly-theistischer Faktizität: Der jeweils letzte Ernst der Tat ist nämlich niemals der einzig letzte (2). Dies ist die Voraussetzung dafür, dass „unentwegt geglaubt, gebetet und verfolgt“ wird. „Monotheistisch bekennen und poly-theistisch verfahren“ (4). „Dieser polytheistische Tatbestand ist […] die Krisis aller Religion“ (2). „Der edle Wunsch nach einem tiefsten Grunde der Gemeinsamkeit wird durch das harte Gegeneinander des letzten Ernstes und einer ewigen Pluralität als ein schönes aber gefährliches Märchen widerlegt.“ „Anlass und Stachel zu Kampf und Anspannung“ wird durch das Theorem „Unvollendbarkeit der Welt“ ontologisch vorgegeben und verstärkt (3).
III. Ansätze zu einer Kritik des militanten Polytheismus Dieser letzte Ernst wird bei Müller einer massiven Kritik insoweit unterzogen, wie er sich mit einer teleologischen Ideologie vermengt – als dienten wir mit dem jeweils letzten Kampf gar dem Frieden Gottes, als hülfen wir dazu, „daß es wirklich ,gut‘ sei in der Welt“ (10) und dienten einem „höchsten Zweck des Daseins“ (14). Was dabei herauskommt als „das durchschnittliche Fazit eines Miteinanderseins ist eine einzige Ungeheuerlichkeit“ (15). In entideologisierter Praxis ist der egoistische Trieb schließlich zumindest besser beherrscht; sie bekämpft im jeweils anderen dann nur „ein existentiell andersartiges Programm“ (213). Mit anderen Worten: Müller unterscheidet die stets zweckmäßige „Eigengesetzlichkeit eines Sachgebiets und Sinnbezugs“ von der „letzten Lebensfrage nach Sinn und Widersinn der persönlichen Existenz“ (113). Für die von den linken und rechten Ideologen verhöhnte „,gemeine‘ Kompromißwirtschaft“ bringt Müller sogar Verständnis auf, weil sie doch allemal „den fanatisierten Polytheismus mildert“ (29). Ja sogar das „ausgleichende, vermittelnde und sichernde Moment phraseologischer Zweideutigkeit“ findet bei Müller eine vorsichtige Billigung, denn es hat „für das Miteinanderauskommen der Menschen eine große Bedeutung“ (171). Diese entideologisierende Stoßrichtung des Gedankens hat unmissverständlich eine Verteidiung des relativistischen Pluralismus zur Folge. Müller macht am Beispiel der Kirche klar, dass es „im Protestantismus immer ein Gegeneinander theologischer Richtungen geben darf und geben wird“ (268). Dieser in sich streitige Pluralismus gemahnt daran, dass alles Stückwerk ist
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(269) und falsche Sicherheiten destruiert zu werden verdienen. Auch hier schließt sich Müller übrigens eng an entsprechende Ausführungen Karl Barths an (vgl. 269 – 272, 278 f. u. immer wieder). In solchem Kontext des Geltenlassens der Pluralität unterläuft es Müller, dass er eine direkte Auswirkung der Bestimmtheit des Glaubens auf das Zusammenleben doch einräumt: „Nicht über Gott verfügen heißt, nicht über die Mitmenschen und ihre Wege verfügen“ (270).
IV. Paradox-Christologie und Systematiken als Dialekte der Heilssucht. Müller im Bezugsfeld von Kierkegaard und Barth Dort, wo Müller eigens auf Kierkegaard eingeht, stellt er in genauer Unterscheidung heraus, dass zwar dessen strategische „Absicht und Argumentation […] unmißverständlich sinnvoll“ ist, dass es aber einem groben Missverständnis des Gehalts der Paradox-Theorie gleichkäme, wollte man diese so aufschlüsseln, als ließe sich daraus „ein aufregendes, aber gut kontrollierbares Training“ machen (173). Gegen eine Kierkegaard-Interpretation, die suggeriert, noch das absolute Paradox sei schließlich „dem eigenen Denken und Existieren verfügbar“ (174), besteht Müller auf dem wesentlich gegen-utilitaristischen Sinn des absoluten Paradox, welches doch nur „in je meinem Überwundenwerden durch Gott als Ereignis“ (174) zu erfahren sei: „Das ,einübende‘ Begreifen dieser Notwendigkeit ist a posteriori ein nachzeichnendes Konstruieren und gerade nicht ein Durchschauen und Durchhauen der vorgegebenen und je bevorstehenden Wirklichkeit.“ Müller trifft mit dieser Anmerkung sehr wohl den authentischen Sinn des Kierkegaardschen Vorgehens. – Und es bedarf, gerade wegen der politischen Zielsetzung des Müllerschen Werkes, besonderer Beachtung, mit welcher uneingeschränkten Deutlichkeit Müller sich auf Karl Barths Seite stellen kann (vgl. 175 f.). Karl Barth bringe zur Einsicht, „was jeder sinnvolle Glaube tut: Absurditäten werden verworfen, die Begriffe für das Geheimnis aber als Paradoxien formuliert“ (176). „Ohne das Unaussprechliche kein Gespräch, ohne das Unbegreifliche kein Begriff, ohne das Unbedingte kein Bedingtes – ohne Paradoxie keine Dialektik.“ (177). „Die grundlegende Formulierung selbst ist niemals paradox. Es ist Ursprung und Ende je eines Paradox.“ (178). Das christologische Problem der Transzendenz-für-uns wird immer in Paradoxien ausgesprochen, die aber gegensätzlichen Sinngehalten entsprechen. Jeder Glaube ist Hingabe an die Autorität einer für ihn sinnvollen Grundparadoxie. Sein Heilsparadox bleibt anderen gegenüber unverbindliches Ärgernis – absurd oder phrasenhaft. (164 f.)
In der Pluralität der Christusbilder reflektiert sich eine Erfahrung des ,Seins Gottes für uns‘: wir verdeutlichen uns, dass nicht wir unseren Existenzsinn schaffen, sondern dass wir schon immer auf „eine erlösende Vorgegebenheit unserer Existenz“
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verwiesen sind. Demnach bildet uns das jeweilige Heiland-Bild, „indem es unsere Geschöpflichkeit verständlich macht und Durchsicht schafft […] auf einen unbedingten Sinn-für-uns“ (121). Müllers Beschreibung der christologischen Selbst-Orientierung ähnelt zumindest der Kierkegaardschen Fassung: Das geschichtliche Ereignis ,Christus‘ zwingt insofern zu einer Anerkenntnis im Glauben, als es „als Vorgegebensein all meines Begreifens und begrifflichen Bildens unerschlossen, unerschließbar mir entgegensteht und widersteht“ (127). Hier trifft Müller durchaus den gegen-utilitaristischen Grundzug dieses Bildungsprozesses. In dieser Anerkenntnis von Offenbarung „verliert das Leben die Mühsal des Suchens und es wird sinnvoll, Fülle fällt ihm zu, es geschieht der große beglückende Zu-fall.“ (128). In dieser glückend-beglückenden Kontingenz wird indessen auch der Grund der Veruneinigung (128) greifbar: Dieser ,begründende Vorfall‘ löst gerade die allerlebhaftesten Projektionen und Bemächtigungen aus (129) und mündet schließlich ein in die Pluralität „streitender Christusse“ (130). Denn die absolut deutungslose Einstellung zu diesem extraordinären Historischen misslingt stets – schon allein, weil wir fragen, was Christus für uns bedeute (132 f.). „Immer also wird die Sinndeutung, die Intention der Anerkennung, das ,metaphysische‘ Interesse, in das Heilsbild hineingebildet und wird ergriffen im Glaubensbegriff.“ (134). Und diese Sinndeutungen treten wiederum mit Allgemeinheitsanspruch auf. Denn die Akzeptanz des sogenannten Nur-Faktischen wäre für Müller identisch mit absoluter Sinnlosigkeit (135). Worin bestünde auch ihre Offenbarungsqualität? Nur wenn „die universal-christologische Fragestellung“ des Dogmas der Alten aufrechterhalten bleibt, lässt sich überhaupt klären, „ob und wie eine legitime Vielheit möglicher Auffassungen den lebendigen Christus in gleicher Weise respektieren könne“ (139). Beide Hinsichten sind zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. Müller bindet die Grenze metaphysischer Systematisierung des Heilsanstoßes an die unvergleichlich individuelle Erfahrung des Leidens. Das Leiden steht „unter der Frage nach dem Sinn des Daseins“ in all seiner Zerrissenheit; in diesem Leiden entspringt die Hoffnung auf eine „Transzendenz-für-uns“ (141). Hier werden dann „Systematiken erprobt“. Was aus diesen Antrieben herauskommt, ist „das Erschließen sinnvoller Beruhigung und besinnlicher Tröstung“ (142). Das ändert freilich nichts daran, dass die „Mannigfaltigkeit von Christus-Auffassungen“ umschlägt in den „Polytheismus streitender Christusse“ (143). Die jeweilige Systematik gehorcht einer Logik der Kompensationen; je nach spezifischer Identifikation der Leidensursache oder Färbung der Dissonanzerfahrung, je nachdem also, „was […] als Einheit fehlt oder als Lösung vorenthalten ist, unterscheiden sich die Dialekte der Sehnsucht und die Anrufungen des Heils, das bei Gott steht und ihm allein vorbehalten ist“. Das Heilsbedürfnis möchte den „Traum der Kontinuität“ wieder herstellen (143). Wo sich die Christologie in diese polyphonen Dialekte der Sehnsucht und des ,Heilsanliegens‘ einpasst, verfilzt sie bereits mit der natürlichen „Freizügigkeit“ der Selbstbehauptung des Individuums. Diese
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natürlichen Heilsinteressen gelte es darum zu bändigen. Die zweckrationale Argumentationsstruktur ist Müller dabei ein wichtiges Falsifikationsmoment, denn eine so „durchschaubare“ Christologie lässt sich bequem auf ihre „menschliche Herkunft“ zurückführen (144 ff.). Es entspricht gewiss einem Kierkegaardschen Motiv, dass Müller die Verstehbarkeit und rationale Nachvollziehbarkeit als Anlass dafür wertet, einer solchen Systembildung die ,übermenschliche‘ Qualität abzusprechen (219). Die Voraussetzungen einer Rationalität, die von der Intention lebt, „alles gleich gut verstehen zu können“, nennt Müller ästhetisch – was nicht ausschließe, dass man in diesem ästhetischen Lebensverhältnis ethisch existieren könne (168). Mit Karl Barth stellt Müller die Gleichung auf, Religion sei Gesetz, wie jegliche Systematik (ob sie nun theologisch oder politisch ist); „Glaube als psychischer Akt und logische Intentionalität sind menschliche Heilsbemühung, Selbstbestätigung und Selbstgerechtigkeit“ (233). Dagegen bedeute das Evangelium ein Ende von Gesetz und Religion (229). Denn religiös werde nach Gott doch nur gefragt im Modus eines „menschlich süchtige[n] Fragen[s] als Habenwollen“ (W/20): Jesus Christus wurde das Opfer eben dieser Heilssucht! Insofern ist Jesus „kein Religionsstifter, sondern ein Religionsopfer“; gerade dadurch sei er „der Offenbarer des Reiches Gottes“ geworden (351).
V. „Erschreckende Lieblichkeit“: Die Last der Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst. Maßlose Wahrhaftigkeit „Was wir tun sollen, liegt immer nahe zur Hand, bei uns selbst, in uns selbst.“ (369). Das Gesetz der Liebe Gottes ist in uns aufgerichtet und offenbart uns zugleich unsere Sündhaftigkeit. Müller nimmt ganz die Kierkegaardsche Ausrichtung der Glaubens-problematik auf die Wahrhaftigkeit des Selbst an, wenn er mit Luther betont, jeder sei sich selbst der Wegweiser (368): Die Rechenschaft über den Inhalt des ,Was‘ wird uns von keiner autoritativen Fürsorge abgenommen; die Entscheidung wird uns selbst aufgebürdet. Und zugemutet wird uns vor allem immer wieder das Tun, das Handeln. Es liegt eine gewisse Rücksichtslosigkeit in dem Bescheid: ,was du willst, daß dir getan werde, das tue auch andern wieder‘. Das heißt die Last der Verantwortung dem Einzelnen zuschieben – ihm allein: dem Ich, keinem Du, keinem Es – und sie seiner Beurteilung, seiner Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst anheimgeben. Eine so radikale wie massive Ver-Einzelung wird vorgenommen. Die Haftbarmachung und Privathaft im Persönlichsten geschieht mit einem Gleichmut und einer Kühle, die für Problematik und Programme allem Anscheine nach weder Zeit und Interesse noch auch nur ein Organ hat! An diesem Punkte verstehen wir beides: einerseits das Achselzucken programmatisch bewegten Reformwillens gegenüber einer einfältigen Spruchweisheit, und andererseits Luthers Staunen, sein Entzücken und seinen Überschwang über die Tiefe und Weite, über
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die erschreckende Lieblichkeit und den umfassenden Liebesernst eben desselben Wortes. Was wir tun sollen, liegt immer nahe zur Hand, bei uns selbst, in uns selbst. (369) Ist das wenig? Gibt es mehr? Wer kann mehr wissen und mehr wollen? Und weiter, noch höher hinaus: Wer kann mehr tun? Wer hat die Kraft, wer wüßte irgendeine Kraft Himmels und der Erden, die mehr, die ein Übriges, ein Darüber und Hinzu erstreben und tun wollte? Wer dies Maß anwenden und danach leben würde, der wäre wahrhaftig ,gesinnt, wie Jesus Christus auch war‘. Da trüge unter allen Umständen und auf jeden Fall ,einer des anderen Last‘ und ,so‘ würde ,das Gesetz Christi erfüllt‘. ,Denn alle Gesetze werden in einem Wort erfüllt, in dem, Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘. ,Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung‘. (370) In uns und nirgend sonst haben wir den höchsten Maßstab und lebt ein jeder sein eigens ,Wie Gott‘ – das doch in Gottes Hand und Sein Gesetz bleibt, und unsere Sünde uns offenbaren muß – nicht wann wir wollen! Wir leben das ,Wie Gott‘ der Verantwortlichkeit, des Gesetzes und des Gewissens uns selbst zu Nutzen, zu Lob, zu Ehre und Entschuldigung, aber nicht allein zu des Nächsten Nutzen, Lob, Ehre und Entschuldigung. Täten wir das, dann wäre unser Leben allerdings zu Lob und Ehre Gottes! Denn nur der Mensch lobt und ehrt den Herrn, der seinem Nächsten gegenüber nicht ,wie Gott‘, sondern ganz ohne Anmaßung sein Diener ist: und also dadurch Gottes Knecht wäre, daß er das Gottsein Gott allein überließe. Weil und sofern das nicht geschieht, heißt es je und je: ,An DIR allein hab ich gesündigt‘. Das individualistische ,Wie Gott‘ des Menschen, das jeder in der Liebe zu sich selbst nur wie von ferne in seiner ganzen Unerhörtheit ermessen kann – dieses ,Wie Gott‘ verweigert dem wirklichen Gott, der Herr ist, dem Einen, der gut ist, seine Ehre. Es enstellt alles Lob seiner Herrlichkeit, weil wir uns selbst vergötzen gegenüber dem Nächsten und Gott lästern in unserer ,Götterei‘. (371)
Wohl ist der Gedanke wahr, das Ich gehe in keiner seiner Objektivationen auf. Doch legt das Evangelium gerade frei, das in dieser Befindlichkeit auch eine elementare Unwahrheit der Subjektivität waltet, die vom Ich nicht aus eigener Kraft zu überwinden ist, weil der Mensch „niemals ohne vorzügliche Befriedigung des eigenen Lebensgefühls (worinnen er sich Gott entzieht) Gutes tut und gut in der Gesinnung ist“ (372). Müller schließt sich einer Äußerung von Ferdinand Kattenbusch an, die Entschlossenheit des homo religiosus bedeute, „vor seinem Gott sich den Finger auf den Mund zu legen und nicht nach dem Warum und Wieso zu fragen“ (150). „Wer glaubt, ist voller Lust und hat Genüge. Die Frage nach der Absolutheit des Christentums ficht ihn nicht an.“ (356). – Gute Argumente sprechen für die These, die Rede vom absoluten Sinn der Existenz ziele darauf, souveräne Zweckfreiheit dem eigenen Dasein einzubilden. Genau diesen Gedanken vertritt Müller durchaus mit Emphase: Wo sich Liebe „ganz und gar alltäglich“ und doch „verborgen“ ereigne, als „nichtbekennerische, unstandesgemäße“, da sei es angemessen, von „Tat Gottes“, vom „mysterium absconditum“ zu sprechen. Diese Liebe aus dem Frieden Gottes „gibt sich hin, ohne Gott und Kreatur zu verrechnen“, sie reflektiert erst gar nicht auf das ihr inhärente ,Umsonst‘; sie ist unscheinbar, „wie ein Gast, der schon verschwunden ist, wenn er gesucht wird“. Dieses Widerfahrnis befähigt den Menschen sogar, dann auch ,vom letzten Ernst‘ abzulassen. (Erinnert sei daran, dass auch Sören Kierkegaard den
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dominanten ,letzten Ernst‘ der Existenz auf die Instanz ,Scherz der Endlichkeit‘ bezogen hatte!) – Diese „Linderung der allseitigen Anspannung“ und des Geltungswillens blitzt nur auf in vergänglichen Augenblicken: Müller registriert das – aber maßt sich dann doch indirekt an, über die Reichweite und Kraft dieser Erfahrung theoretisch zu verfügen, indem er erklärt, warum sich diese „,reine‘ Profanität von Person zu Person […] nicht festhalten“ lasse: weil des Menschen Herz sie nicht ertrage! „Es ist und bleibt wesenhaft von sich selbst, im Interesse einer höchsten Sache, besessen.“ „Immer kommt zuletzt die Stunde, daß radikal getroffen, zerschnitten, abgehauen werden muß.“ (Zitate: 31 f.). Und doch weist Müller – gegen die ideologische Totalpolitisierung gewandt – auf eine ursprünglichere Dimension im Kulturleben hin, eine Kraft, die im Verborgenen bleibt. Diese vitale Tiefendynamik wirke „unkommandiert und ungesehen“ (299) – „unabhängig von politischen Erfolgen und Mißerfolgen um sie her, weil im Unscheinbaren stark und unerschütterlich“ (300). Die „Stillen im Lande“ repräsentieren ,nichtorganisierbare Charakterstandards‘ (303), die „Genialität des Herzens“ als Gegengewicht zur totalitären Macht und Ideologie. Bleiben sich diese Stillen im Lande nur treu, „wächst neue Einfachheit und Opferwilligkeit um sie auf, dann läutert auch die Not einer einseitig entwickelten Herrschaftsgewalt das Volk.“ (301). Diese ursprüngliche, weder pflichtmäßige noch technisch übersetzbare Bewährung von Gemeinschaft überwindet die weltanschaulichen Gegensätze gerade nicht „durch politische Unterwerfung und Entmächtigung des Gegners“ (304), vielmehr durch „die Erfahrung vorurteilsloser Beziehungen und scheinbar standpunktloser Liebe“ (306). „Machtströmungen, die ohne Berücksichtigung und Ehrfurcht vor der Not, der Bescheidung und gewaltlosen Größe eines wirklich neu Werdenden verfahren, erreichen auf die Dauer nichts.“ (304). Die Authentizität dieser ursprünglichen Erfahrung, die querliegt zu allen Herrschaftsmechanismen, erweist sich auch darin, dass sie das Gefühl der Selbstzufriedenheit gar nicht erst aufkommen lässt; diese Art von „sachlicher Besessenheit“ schließt Leidensbereitschaft ein. Im Grunde bleibt es dann niemandem erspart, „daß die erhöhte Temperatur des Lebensgefühls und des Anspruchs der Überheblichkeit ernüchtert und in selbstlosen Dienst verwandelt wird“ (312). Müller hat offenkundig hier eine Praxis im Blick, die sich „systematisch“ gar nicht erfassen lässt und die er als „Dienst von unten“ beschreibt (263). – Dennoch ist diese ursprüngliche Dimension der Lebenserfahrung nicht dagegen gefeit und immun, in der Austragung ideologischer Gegensätze funktionalisiert zu werden. In diesem Fall kann durchaus der Eindruck menschlicher Größe hervorgerufen werden, „im Krieg wie im Frieden“ (312). Aber Müller gibt auch zu, dass diese Ursprungsdimension humanen Lebens in der ideologischen Besessenheit zerrieben werden kann (313). Erstaunlich jedoch bleibt, dass Müller darauf besteht, die Verkündigung dürfe „nicht ohne reale menschliche Hilfsbereitschaft“ bleiben: Immer aber wird dem Evangelium dann gedient, wenn Verfolgte und Bedrängte Schutz und Trost finden beim Nächsten und Ihrer Verzweiflung verkündet wird: daß eben da […] Gott ihnen besonders bedrängend und verheißend nahe ist. (424 f.)
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Die christliche Gemeinde übrigens bleibt ihrer Aufgabe darin treu, dass sie gegen politische Vereinnahmungen den Vorwurf der Gotteslästerung ausdrücklich erhebt! Die Bereitschaft „zum vorbehaltlosen, stellvertretenden Eingehen in fremde Absicht, Sorge, Verwirrung und Verirrung“ stimme mit der Verheißung des Evangeliums überein und sei „das allgemeine freie Priestertum des evangelischen Menschen“ (403). Die Gemeinde erhält bei Müller also ihre vornehmste Aufgabe mit dem Ansinnen zugewiesen, „,Samariterdienst‘ zu tun innerhalb und zwischen den Fronten aus Vitalität und Gewissen“ (349). – Eine der wichtigsten Voraussetzungen dieser theologischen Ideologiekritik übrigens ist die Erkenntnis, „daß nicht nur Gott ein Verborgener ist, sondern auch der Teufel“ (426)! Der Teufel ist diabolus absconditus, auch seinen Namen sollen wir nicht unnütz führen (427).
VI. Die unaufhebbare Machtstruktur des Lebens – Der Tod Jesu als Besiegelung und Verklärung eines praxis-immunen Glaubens Wir haben eine Reihe wichtiger Charakteristika einer intentionslosen, zweckfreien Ausrichtung der Existenz und Koexistenz zusammengetragen. Dabei sollte das Bemühen spürbar geworden sein, besonders die Stärken des jeweiligen Gedankengangs herauszu-streichen – also das zu betonen, was uns daran auch heute noch betreffen könnte, wenngleich Müllers Jargon zuweilen befremdlich, zuweilen abstoßend sein mag. Nunmehr soll nachdrücklicher die kritische Sonde angelegt werden, soll geprüft werden, ob die Lektüre ad bonam partem bei näherem Hinsehen standhält, oder ob es Müller schließlich fertig bringt, eine Sinndimension der Existenz, in welcher Authentizität als gelebte Zweckfreiheit der Existenz und Koexistenz aufschien, doch noch zu unterminieren. Am Kernstück der Theologie, nämlich der Christologie, wird sich zeigen, wes Geistes Kind Müller wirklich ist. Es wird sich im Folgenden herausstellen, dass die Trennung der Hinsichten – hier der Sinn einer letzten Zweckfreiheit, dort die Strukturen eines Lebens, welches der Dynamik des eigenen Heilsbedürfnisses folgt – nur dazu dient, den evangelischen Glauben um seine ins Leben eingreifende Potenz zu bringen! Die Bedeutung der Christusbotschaft hebt Müller von der Vision der „Offenbarung eines neuen Gottes“ ab und entschlüsselt sie als „die ewige […] Zusage, die dem Menschen Friede, Freude und Freiheit zum kreatürlichen Dasein gibt“ (210), „zur Natur und zur kreatürlichen Welt“ (216). „[D]ie kreatürlich profane Praxis ist deshalb und insofern legitime Bereitschaft für das Reich Gottes, als sie nicht mehr vorgibt, selbst die Brechung der Selbst-Sucht zu leisten, bzw. vorzubereiten“ (212). Die evangelische Botschaft von dem Gott, der lebt, „wenn wir sterben in dem, womit wir zu leben gedachten“, gibt dem Einzelnen, wenn er damit nur nicht die Hoffnung auf göttliche Bevorzugung verbindet, die Freiheit, „Vertreter und Verfechter der Sachen zu werden, die uns schicksalhaft, milieu-, blut- und geisthaft die nächsten […] sind: in
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Reibung, Kampf und Leidenschaft, in Freundschaft, Liebe, Haß“ (216 f.). Im Selbstverständnis des Christen schränkt sich damit die praktische Relevanz seines Glaubens auf das Eingedenken der eigenen Ichsucht ein. Zugespitzt: er darf sich sogar gerechtfertigt glauben in seinem Hassen, wenn er nur bedenkt, dass der Hass „stets aus Unsicherheit, Angst und Schwäche geboren und die menschliche Selbstgerechtigkeit in großer Steigerung ist“ (217). An die Stelle ,imperialistischer oder pazifistischer Evangelismen‘ habe „das fairplay der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit“ zu treten (221). Darin bestehe die allein vornehme und allein mögliche Solidarität (222). Um der Indifferenz der geschichtlichen Optionen vor Gott auch noch ihre gegen-utilitaristische Sinn-Komponente abzunehmen, greift Müller zu einer abenteuerlichen christologischen Konstruktion: Er wertet die Bestimmtheit der Bergpredigt-Maximen als Ausweis ihrer bloß geschichtlichen Relativität. Der Tod Jesu scheint bei Müller die Praxis der Bergpredigt, die Jesus ja lebte, selbst relativieren zu sollen! Wenn die individuelle Vollkommenheit Jesu als unwesentlich und vergänglich erwiesen wurde durch den Tod, um wieviel mehr ist jede sonstige moralische Erfüllbarkeit des Gesetzes ein Vergängliches und Verfängliches, weil immer individualistisch Bestimmtes! (354)
Jesu Tod zeigt dem Glauben an, dass auch Jesu menschliche Vollkommenheit gekreuzigt wird. Darin ist freilich auch verheißen, dass die von uns nicht zu behebende Logik der Herrschaft und des Zwanges in sich selbst kontingent und von Gott her zur Disposition steht (vgl. 390 f.). Die angemessene Ein-stellung des evangelischen Gläubigen ist demnach höchstens eine der „rechten Hoffnung“. In der Bergpredigt haben wir somit „den unnachsichtigen Spiegel“ des Guten, „das zu üben jeder einzelne schuldig ist“ (373). „Das ,Gesetz‘ Christi sagt nichts irgendwie Besseres, Reineres und Vollkommeneres als was die Stimme jedes Gewissens jedem Menschen sagt, wenn er sich selbst in die Lage des Nächsten versetzt.“ (377). Das ernsthafte Praktizieren dieser Bergpredigt liefe indessen auf „wesentlich individualisierte Abgrenzung gegen andere und das heißt: Sündigkeit“ hinaus (358)! Gottes Gnade dürfe von keinem „exemplarisch ins eigene Wesen übernommen“ werden. – Durch die nicht zwingende Einfügung des Wörtchens „exemplarisch“ baut Müller den Verweis auf Verallgemeinerungsintentionen ein; aber ist nicht gerade der Dispens von aller Verallgemeinerungssucht ursprünglich mitgemeint? Und schließlich: sogar ein Leben nach den Weisungen der Bergpredigt könnte im Modus der Werkgerechtigkeit geführt werden. Auch es stünde also unter Vorbehalt. Ist es aber deshalb gleichrangig mit allen Formationen direkter Macht- und Selbstbehauptung? Müller suggeriert diese Auffassung. Dass Jesus die Wechsler mit Schlägen aus dem Tempel trieb, das wird, nach Müller, in seinem Ende am Kreuz mit-desavouiert! „Weil Schläge, von Menschen ausgeteilt, gerade nicht zum Ziele der Herrschaft Gottes führen, darum allein mußte Jesus ans Kreuz geschlagen werden.“ (381). Müller entwindet mit dieser Interpretation allen die frivole Legitimation, die zuschlagen, indem sie sich selbst zur „Exekutive des Zornes Gottes“ ernennen (382). Allerdings: er selbst nimmt „das Leben“ ontologisch von aller Kritik aus: es zwinge uns dazu,
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dreinzuschlagen (381). Nur dürfe die Bergpredigt nicht dazu missbraucht werden, dem auch noch Vorschub zu leisten (383). Weil jede Existenzbestimmung, auch die im Sinne der Bergpredigt, tendenziell werkgerecht ist, zieht Müller die kurzschlüssige Konsequenz, es sei festzuhalten, dass die Machtproblematik des Daseins „unaufhebbar bleibt“ (361)! „Die Machtproblematik des Daseins ist unbekehrbar. Gottes Herrschaft nimmt ihren Weg frei und mitten durch sie hindurch […]. Darein mische sich aber kein Mensch“ (363). Fazit: Jesus ist danach nicht Exempel für unser Tun, sondern das Erstlingsbeispiel für Gottes Tun, leibhaftige Offenbarung und Verheißung dessen, was uns widerfahren soll. Er […] offenbart, wie das Reich Gottes zu denen kommt, die wesenhaft selbstisch sind. (354)
Damit ist ein extremer, praktischer Dualismus perfekt: kein wie auch immer beschaffenes Prinzip politischer Organisation könnte das Evangelium aufheben – „so wenig es aus ihm ableitbar ist“ (98).
VII. Der Einzelne als Opfer der Willkür des Machthaber-Gottes. Eine suizidäre Theologie Trinität und Christologie möchte auch Müller, wie Karl Barth, als einzig adäquate Auslegungsformen des Offenbarungsglaubens anerkennen (94); die Bedeutung des Bekenntnisses zur Gnade erschließt sich auch ihm im Horizont der Prädestination (112). „Gott macht seine Geschichte ohne viel Federlesens mit allen Kreaturen, die er dazu gebrauchen kann. So wirbeln Stürme viel Spreu daher, die dann aber bald dahinschwindet wohin sie gehört.“ (W/47). – Eine Theologie, welche die Geschichte als Objekt zweckorientierter allmächtiger Herrschaftsverfügung konzipiert, überträgt die Handlungsqualifikatoren monologischer und nicht kommunikativer Herkunft auf die Gottesvorstellung. Jener Satz bekommt ja erst sein ganzes Gewicht, wenn man in Betracht zieht, dass Müller in diesem Kontext die Anwendung des Arierparagraphen auf kirchliche Ämter rechtfertigt. Die Leitidee ,Souveräntität Gottes‘ wird bei Müller auf die Ebene einer herrschaftsfixierten Omnipotenz-Vorstellung heruntergebracht. „Souverän, frei, prädestinierend schafft Gott, schaltet und waltet er, verhüllt und offenbart er, verzeiht und überfällt er.“ (267). Keine Bedenken hegt Müller gegen diese ungeheuerliche Apotheose purer Verfügungswillkür. Dieser Gott ist nichts anderes als verherrlichte Gewaltwillkür, deren Gnade wir uns im Selbstopfer, im Sich-selbst-zum-Werkzeug-machen, zu erschleichen trachten: „Wir fallen vor Gott nieder, weil er uns überfallen hat.“ Gott hat das Kommando (121). Die in gleichsam subjektlosen Ereignissen durchaus zutage tretende untergründige Teleologie nennt Müller auch Kausalität, „deren Wesen keine Systematik entwerfen
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kann“ (30). Die Unaufhebbarkeit des Gegenübers von Mensch und Gott, wie in der dialektischen Theologie expliziert, fundiert eine festgehaltene Dualität von ,hier irdisch – dort himmlisch‘. Dies ist der einfache, ja trivial einfache Kern für die Folgerungen, die Müller zieht. Die Sündhaftigkeit wird zur wesenhaften Verfassung des Menschen umgemünzt. Die Neuqualifizierung des Selbst im Glauben bricht mithin nicht dessen leidenschaftliche „Selbstbesessenheit“! Alles andere wäre für Müller Verwässerung des Evangeliums (99). Was der Mensch von sich aus vollzieht, ist falsch und verlogen, so richtig Form und Absicht, so treu Inhalt und Intention im Denken, Wollen und Leiden auf Gott bezogen sein mögen. Nicht der Mensch, Gott entscheidet. Alles, was der Mensch hat, ist ihm gegeben, aber daß er es wirklich als Gabe ehrt, ist Gnade. (101)
Indem Müller die Dichotomie von verkrampfter Selbstbehauptung und göttlichem Gericht nicht so aufhebt, dass sich die Allmacht der Liebe dem Selbstverhältnis lebendig jetzt und hier einprägt, weil er vielmehr das Barthsche absolute Gegenüber potenziert, kann „Erlösung“ nur als das über uns verfügte Ende „unserer ,ewigen‘ Interessiertheit und Selbstdurchsetzung“ in den Blick geraten (397). Das Handeln Gottes an uns, welches dem Wagnis wie der Autorität ein Ende setzt, nötigt die Einzelnen in ihre Rolle als Opfer innerhalb einer heteronomen absoluten Teleologie, die Müller auf ihren horrenden Zumutungscharakter nicht weiter hin befragt: Gott „setzt mit diesem Ende unserem Ich sein Ziel und bringt, die er tötet, dem Nächsten dar, in dem Ihm allein wohlgefälligen Opfer.“ (263; vgl. auch 265 u. ö.). Christsein bedeutet also, „frei und gefangen, in Gottes Hut geborgen und, wär‘s wider eigenes Wünschen, wunschlos ihm zu willen sein“ (266). Zunächst wird die Emanzipation der Theologie vom Bann des Wunschdenkens durch Müller bejaht – und dann wird sie grotesk pervertiert, indem die Absage an die eigene Wunschdynamik mit dem Werkzeug-Charakter als Gegenstand einer vergewaltigenden, objektiven göttlichen Teleologie verflochten wird. Die Zurücknahme der Verabsolutierung, das Innehalten, das „Sich-je-und-jeaufschrecken-und-wachhalten-lassen“, verdankt sich bei Müller, wie wir sehen, keiner vorgeschichtlichen absoluten gegen-utilitaristischen Neuqualifikation des Selbst-Verhältnisses. Prompt kann an genau dieser systematischen Stelle der Überlegungen der Hinweis auf den Gott in der Geschichte nicht ausbleiben: Weil das Ich aus seinem Absolut-in-Gottes-Souveränität-Gründen die Sündhaftigkeit nicht überholt, muss Müller es schließlich doch anweisen: „hinzuhorchen auf die durch die Geschichte hallenden Schritte des Höchsten, der in Wahrheit Machthaber ist“ (347)! Aufgrund der theologischen Deutung im Lichte des Opfers, die alle Menschen ja zu bloßen Mitteln und Objekten der Omnipotenz degradiert, legt es sich zwingend nahe, alle Vorrangansprüche fahrenzulassen und die „eifersüchtige Konkurrenz in und um Demut“ zu beenden (475). Denn wir dürfen ja allemal unsere Macht im parteinehmenden Engagement partikularistisch ausagieren, weil und insofern wir auf „das freie Kommen des Reiches Gottes“ vertrauen (474), das sich stets nur im Verborgenen meldet.
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Die geheime Teleologie des Willens Gottes gibt die Grundlage ab für die Überzeugung, dass „Gewalt und Macht neu sinnvoll und Ordnung und Herrschaft neu wesenhaft werden muß“: „Der Glaube der Vitalität […] weiß, daß zwar unendliche Kräfteverschwendung im Gange ist, daß aber das Chaos der Leidenschaften dennoch in erhabener Konsequenz einem verborgenen Ziele zustrebt.“ (469). Die Idee der Rechtfertigung des Nutzlosen wird verdreht zur göttlichen Sanktionierung eigenmächtig betriebener vollkommener Selbstvernichtung. Nicht führen wir dann ein Leben mit dem Ingrediens der Nutzlosigkeit, das wir gleichsam gegen unsere ,natürliche‘ Verfasstheit zu erkämpfen hätten, sondern: obwohl wir eigensüchtig unsere Daseinsbehauptung gegen andere zu behaupten trachten, kann sich, nachträglich, herausstellen, dass es vergebens war. Und dann dürfen wir uns noch mit der Verheißung der Herrlichkeit trösten! Nichts könnte besser als dieser obszöne Gedankenkomplex lehren, dass wir das Abenteuer der Nutzlosigkeit existentiell nur eingehen dürfen, wenn auch der letzte Rest einer vom Menschen her reklamierbaren Verfügungsattitüde aus der Gottesimago eliminiert ist. Für Müller ist Gott Herr über uns „nicht als moralisierender Zuchtmeister menschlicher Art, der die unnützen Zöglinge relegiert und preisgibt; sondern sein Reich ist nahe herbeigekommen für die Unnützen! Wenn untergehen muß, was unbrauchbar wurde, so haben doch wir, die scheitern, die Verheißung der Herrlichkeit Gottes – nicht nach und neben der Katastrophe, sondern in ihr und durch sie hindurch. Unnütze Knechte sind wir alle, und als solche alle berufen und angewiesen auf seine Gnade. Wen Gott auswählt, ist seine, nicht unsere Sache.“ (470 f.)
„Es ist möglich, daß der Gang der Geschichte anders verläuft, als wir ihn zu lenken gedachten. Was liegt daran? Reich Gottes muß uns doch bleiben.“ So gilt auch der Ruf nach Umkehr und Buße und Sinnesänderung nicht dem Zweck, „dadurch der Katastrophe der irdischen Mächte zu entgehen“, sondern er erfolgt, „weil Gottes Reich nicht fern ist“ (471)! „Feiglinge mögen feig sein, und Helden kühn – Reich Gottes kommt zu beiden in der gleichen Weise, nach Gottes Willen. Uns aber ist unbenommen zu wählen. Wir wollen keine Feiglinge, wir wollen furchtlos sein.“ (473). Obwohl in der Perspektive der göttlichen Prädestination das Zum-Opfer-Werden eine so große Rolle spielt, ist die individuelle Opferbereitschaft keineswegs ein Indikator wahrhaft christlicher Existenz; zielsicher entzieht Müller ihr die christliche Legitimation: „Opferbereitschaft, Selbstverleugnung, Hingabe bis zum Äußersten, Demut und reinster Einsatz für andere, ja selbst Martyrium ist an sich in keiner Weise ,christliches‘ Ziel der Ethik.“ (380). Auf die Annahme der Endlichkeit in allen Konkretionen eines Ethos komme es an; die Liebe durchkreuzt frei alle Satzungen rechtlicher, moralischer oder religiöser Art. Blendend – und das ist hier wörtlich gemeint – lässt sich also die existentialistische Parole ,Kampf den bürgerlichen Sicherungen‘ in diese suizidäre Theologie einbauen. Die edelsten Motive des theologischen Denkens werden durch eine Drehung des Kaleidoskops in der Hand Müllers verhunzt. Wie sollte man z. B. be-
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streiten, dass es eine Schwäche des Glaubens wäre, vermöchte man „dem Risiko des Kampfes“ und der Möglichkeit des Unterganges […] nur so ins Auge [zu] sehen […], daß man sich und die Seinen einer wenn auch nur relativ größeren Nähe zu Gott versichert, und damit natürlich einer besseren Aussicht für den Ausgang des Ringens (472).
Aber der evangelische Glaube ist nicht nur die Bedingung der Möglichkeit für die Fähigkeit, „metaphysische Bestätigungen für sein Tun und Lassen“ nicht länger erfinden zu müssen (472), er verführt Müller eben auch – darum das Etikett „suizidär“ – dazu, zwischen der Negativität unserer Erfahrung und der Positivität des Willens Gottes ein fatales Junktim zu knüpfen. Weil das unverbindliche Wirken Gottes der Inhalt und die Zusage des Universums ist, darum ist der äußerste Ernstfall in der Christenheit – ihr Ruin – kein Infragegestelltwerden der Reich-Gottes-Botschaft, sondern vielmehr das Fanal dafür, daß es unerhört ernst wird mit der Verheißung. Daß nun in dem Maße und nach Art unserer ,Fortschritte‘ Gott nahe herbeikommt auf seine Weise! Was uns Gericht ist, bringt in Wahrheit seine Herrlichkeit – ,für uns‘. Das ist unsere Zuversicht (473).
Die Selbstermächtigung regeneriert sich immer aufs Neue: Praxis des Risikos in der Selbstbehauptung wird als „Kraftprobe“ verherrlicht, als ,eigentlicher Prüfstein und praktische Bewährung des evangelischen Glaubens‘! Sie, so scheint man folgern zu sollen, ist zu wagen, weil Sieg wie Niederlage gleichermaßen im Kalkül des unabhängigen Reiches Gottes stehen. Gut lässt sich an der brisanten Argumentation Müllers lernen, wie, kryptisch, Weichenstellungen vorgenommen werden, die fast unmerklich die abwegigen Resultate vorbereiten: Sehr zutreffend beschreibt er eine seelische Disposition unmittelbarer Zwanglosigkeit, welche „die leidenschaftliche Hingabe und das Zuwarten auf die Frucht des Vonselbst“ einschließt; dem stellt er einen anderen unmittelbaren Gestus der Subjektivität gegenüber, in dem Reflexion, Pflicht, Organisation, der „Eifer um Wahrheit und Gerechtigkeit, um machtvolle Verwirklichung von Zielen“ vorherrschen (316 f.). Müller begibt sich jeder Chance, zu diesen Dispositionen unter dem Gesichtspunkt der aus ihnen folgenden menschlichen Praxis in ein kritisches Verhältnis zu treten; sein argumentativer Trick hat Methode: die beiden oben charakterisierten Grundeinstellungen werden zu unmittelbaren Typen der Lebenseinstellung fixiert und so als unveränderlich und naturhaft gegeben bestätigt. Das eine ist dann eher der lutherische Mensch, das andere der eher calvinistische (316 f.). Diese Differenz in den Subjektverfassungen verhalte sich gleichgültig zu den Interaktionsformen. Dies leuchtet sogar Müller-immanent schon deshalb nur schwer ein, weil doch offenkundig die „lutherisch“ genannte Konstitution eine viel größere Nähe zur Dimension des nicht-funktionalen verborgenen Werdens (der stillen Revolution) verrät. Natürlich ist Müllers Antwort auf diesen Einwand leicht zu rekonstruieren: Auch der Wille zum Gewaltverzicht trete öffentlich in den Streit um Anerkennung und Durchsetzung ein und habe sich in irgendeiner Form als Macht zu betätigen – mit allen Denunziationen, dessen die Reinen fähig sind: „Hinter jeder
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Lebenshaltung […] steht ein kämpfender Einsatz, ein Brechen von Widerständen und ein Aufbruch, eine Entscheidung und ein Anspruch in die Gemeinschaft hinein.“ (317). Auch der Entscheidung zur strikten Passivität kann Wirksamkeit nach Für und Wider nicht abgesprochen werden. Nichts, was als Botschaft unter den Menschen auftritt, bringe den Frieden; unweigerlich werde der jeweils Widerstrebende diffamiert. „Kampfwillig ist alle geistige und innere Mächtigkeit und jede Alternative…“ (318).
VIII. Gesellschaft als Raum profaner Sachlichkeit und antagonistischer Willensdynamik – Gemeinde als Kraftfeld der Verbundenheit und Spielraum der Freiheit Müller ist bestrebt, Kirche als weltliche Organisation und Evangelische Gemeinde „als lebendige Zeugenschaft“ klar zu unterscheiden (455). Aus dem evangelischen Bekenntnis heraus nimmt die Gemeinde Abstand „gegenüber hierarchischen, angeblich vom Evangelium her begründeten Forderungen“ (404). Im Rahmen dieses Problemkomplexes mobilisiert Müller mittels eines großen Pathos all jene Erwägungen, die auf eine theologische Endideologisierung zielen. „Entgiftung des Kampfes, heilige Ernüchterung, menschenwürdige Entmythologisierung, gottgewollte Entgötzung tut not und ist möglich.“ (246). Die Entmythologisierung soll die Weltlichkeit der Welt zum Ausdruck kommen lassen, der „Ruf zur Sachlichkeit“ dient der „wahrhaftigen Profanität“ (vgl. 244). Auf dem Boden solcher wahrhaftigen Profanität könnten die Klassen und Rassen „sich finden in einer letzten Verbundenheit“ (247), teilhabend an einem „Abglanz des ewigen Friedens“: Kirche als Ort der Begegnung und „Stätte der Bruderschaft“, gleichsam als „Unterpfand“ des göttlichen Friedens (248). Müller grenzt den wesentlichen Sinn der evangelischen Gemeinschaft als Spielraum der Freiheit vom Ethischen ab: als ein Feiern, Ausspannen, Atemholen. Evangelischer Glaube, der als Gemeinschaft sich vollzieht und doch in den Nöten dieser Welt unsicher und gegen Hemmungen widerwillig und darin gegen Gott schuldig bleibt, sucht ohne Unterlaß Gemeinde. In seiner Unrast und im Verlangen nach Kraft strebt er durstig nach ihr, um da Zuspruch, Trost und herzhafte ,Absolution‘ zu finden. Hier Vergewisserung zu geben, das ist einhellig Beruf, Verheißung und Amt des Kultus, der Predigt und der Sakramente, der Seelsorge und des Gebets. (394)
Gemeinde im Bezugsfeld der Machtproblematik bewährt zwar nicht ihr Proprium, indem sie die hierarchisierenden Ordnungsvorstellungen reproduziert – doch sie hat auch davon abzulassen, die Machtdynamik des Daseins „abzuschaffen“ (vgl. 387). Sinn und Zweck des evangelischen Kultus bleibt für Müller „die unverkürzte Buße“ (389). Die Solidarität der Buße nimmt die „bedingungslosen Verabsolutierungen“ zurück (222).
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Politische Prophetie bleibt dann dem evangelischen Zeugnis treu, wenn sie nicht unterlässt, darauf hinzuweisen, dass das Reich Gottes „ohne unser ,prophetisches‘ Zutun, aus und in eigener Kraft kommt“ (468). Gelassenheit erwachse, wenn man im Horizont des Evangeliums, unter der Devise „Vor dem Evangelium her“, auf die Inanspruchnahme der Legitimation „Vom Evangelium her“ Verzicht leiste (vgl. 474). Die Gelassenheit soll wohl einer Freiheit im Bewusstsein der Bescheidung korrespondieren, wonach es in der Welt auf alle Fälle „auch ohne uns, ja gegen uns“ ,weitergehen‘ werde (474). Nichts, was konstitutiv vergänglich ist, dürfe, gar noch im Zeichen des Kreuzes, festgehalten werden. Müller, Sympathisant der Nationalsozialisten, hat sich am Vorabend der Machtergreifung getraut, ausdrücklich auch das Schicksal Deutschlands dieser Infragestellung auszusetzen: Wer die Augen davor verschließe, dass womöglich „auch Deutschland und das christliche Europa einmal untergehe“, der möchte eben „aus der Verheißung des Evangeliums nur eine billige Vertröstung für unseren Kulturkreis machen“ (475)! Nur wer sich die Vergänglichkeit aller Objektivationen des Geistes eingesteht, gibt zu erkennen, dass seine Freiheit zugleich die Wahrheit Gottes bezeugt. Konkret bedeutet das: das Rechte tun und dabei „weder die Gegner verteufeln noch unser Beginnen verklären, sondern uns der Gnade Gottes befehlen, frei auf dem Gewissen stehen und, wenn es denn sein muss, Platz machen dem, was nach uns kommt“ (475). Mit dieser ja durchaus eindrucksvollen, klaren Beschreibung einer christlich inspirierten Lebensperspektive schließt Müllers brisantes Buch. Doch unsere Analyse dieses Ansatzes, der so pseudo-aufgeklärt auch noch eine nationalsozialistische Inanspruchnahme Gottes zurückzuweisen scheint, gelangt jetzt erst zu ihrer entscheidenden Wendung. Denn die hier vorgestellte bewusste Entsakralisierung schlägt sich nicht in einer Theorie der Fehlformen des objektiven Geistes, etwa ihrer falschen ideologischen Stabilisierung, nieder. Apodiktisch ist vielmehr festzustellen: Der Dualismus der Lebensdimensionen wird bei Müller geradezu perfektioniert, die entsakralisierte antagonistische Profanität wird selbst doch wieder mit Leidenschaft aufgeladen; eine ausschlaggebende Rolle spielt dabei eine metaphysisch-teleologische Interpretation der Schlüsselkategorie des Opfers. Wie sieht des Näheren diese abenteuerliche Argumentationsfiguar aus? Müller propagiert Entschlossenheit aus Vitalität (474). Die in der damaligen Theologie, gerade auch gegenüber den Nationalsozialisten, geltend gemachte Unterscheidung von Weltanschauung und Kirche hält Müller für eine bloße Abstraktion – „grundsätzlich und faktisch unzutreffend“ (462). Müller vertritt im Grunde eine Auffassung, wonach jegliche Form von Institutionalisierung die Integrität jeweils erhobener Geltungsansprüche gefährdet. Entscheidend sind nicht die theologisch-theoretischen Erwägungen, sondern die Strukturen. Will Kirche „im Staate von Grund auf mitbestimmend sein“, weil sie die öffentliche Meinung beeinflussen und im Grunde „die Voraussetzungen des Staates selbst kontrollieren“ will, so ist faktisch darin ihr Anspruch „total“. Im Geiste der Philosophie des Thomas Hobbes formuliert Müller: „Politische Mitbestimmung und Kontrolle im Staat über den Staat ist nun aber faktisch – Staatwerden“ (462).
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Weltanschauungen pflegen direkt eine bestimmte Staatsform setzen zu wollen, während die Kirchen in ihrer Politik noch viel radikaler Staat werden [wollen], nämlich indirekt, von der Wurzel aus, an besondere Staatsformen nicht gebunden – vielmehr universal im Anspruch und Vorbehalt, und in diesem Sinne ,katholisch‘ […]. Das gilt für den Protestantismus wie für den römischen Katholizismus (462).
Das Mitbestimmenwollen als Organisation bedeutet deshalb in eins und zumal Übernahme von Herrschaftsmechanismen. Institutionalisierung und ,prinzipieller Verzicht auf Herrschaft‘ lassen sich nicht vereinbaren (463). Dem Unausweichlichen soll man sich ehrlich und ohne Flucht in Illusionen stellen: Immer trat der Anspruch, zu neuen Ufern aufzubrechen, gegen omnipotente Mächte auf, denen er die Freiheit des Gewissens abforderte, und er suchte doch zugleich möglichst umfassend in seinem Sinne die Gewissen zu bestimmen. In dieser Spannung drückt sich nach Müller eben „das Wesen der Politik“ aus. Er registriert einen dynamischen „unvermeidlichen Zirkel von Macht und Sinn“: „Immer bestimmt einerseits der ,freie‘ Sinn die Macht, andererseits erprobt sich innere Mächtigkeit stets im Zwang nach außen.“ Da die antagonistische Pluralität der kirchlichen und weltanschaulichen Intentionen unaufhebbar ist, schreibt Müller (mit Carl Schmitt) dem Staate die Aufgabe zu, als übergeordnete Macht die politisch entfesselten Kräfte des Weltanschauungskampfes zu bändigen (464). Wie bei Schmitt lautet darum die kulturpolitische Entscheidungsfrage: „Totaler oder autoritärer Staat?“ (465). Da es für die Kirche als Institution unausweichlich ist, in Machtkämpfe verwickelt zu werden, obliege es ihr vor allem, politische Forderungen und evangelische Verheißung ganz klar zu trennen. Gerade vom Glauben her müsse die Kirche „im Bereich der Machtfragen streng ausgerichtet auf irdisch-weltliche, gewissensmäßig-politische Argumente“ agieren; die Berufung auf das Evangelium wäre hier schlicht irreführend. Der Gemeinde sei zu verkünden, daß die Substanz der Tradition und der Glaube an das Evangelium keine politisch zu schützende allgemein religiöse Größe ist, sondern die Gewißheit um Gottes wunderbares Kommen zu uns. Wenn dieser Tatbestand ernstlich verkündet, geglaubt und festgehalten wird, kann kein politischer und kein sozialer Umbruch, keine Geisteswende und keine Weltanschauungsmode der evangelischen Christenheit etwas anhaben. (466)
Die alttestamentliche Prophetie hatte sich in Gegensatz zu Staat und ,Kirche‘ gestellt. Müller nun propagiert für die eine Christenheit eine Arbeitsteilung, die jenen Gegensatz seiner Sprengkraft berauben soll: Das Kirchenregiment nimmt im Verhältnis zum Staat die Aufgabe politischer Prophetie wahr, die Gemeinde hingegen – die im allgemeinen Priestertum „klerikale[] Sonderreligiösität und den etwaigen Sakralismus des Staates“ bereits überwunden hat – lebt evangelische Prophetie. „Die Gegensätze zwischen Staat und Kirche berühren sie nicht, sie selbst greift Staat und Kirche niemals [!] an.“ (466). Die Gemeinde überhöbe sich, so Müller, wollte sie „der rettenden Herrschaft Gottes […] Beihilfe und Vorbereitung leisten“ (467). –
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Allerdings stellt sich rasch heraus – angesichts der zentralen Kategorie des Opfers –, welchen Zwecken jene scheinbar lupenreine Scheidung der prophetischen Rollen dienstbar ist. Schon im theologischen Redegestus vom evangelischen Dienst kündigt sich eine politische Verformung an: Die evangelische Prophetie dient vom Boden der Gemeinde aus dem politischen und dem verborgenen Kulturwerden, das auf dem Grunde des Menschentums ganz allgemein gedeiht. Sie geht in diesem Sinne vor dem Evangelium her. Mit dem Evangelium aber ist sie den religiös-politischen Kompetenzstreitigkeiten enthoben. (467)
Wer wollte bestreiten, dass es guten Sinn macht, „vom Evangelium her“ vorgenommene Rechtfertigungen von Macht- und Heilsansprüchen zurückzuweisen und die Unabhängigkeit evangelischer Prophetie von „Systematiken, Kirchenbehörden, staatlichen Organen“ zu betonen. Doch zu bedenken wäre hier, was Sören Kierkegaard als Strategie indirekter Praxis, indirekter Kommunikation und als Theologie des Incognito entwickelt hat. Davon nimmt Müller in seine systematische Überlegung nichts auf. Seine Kennzeichnung ist denkbar einfach: Jede individualistische Ausformung eines Lebens „vom Evangelium her“ wird schon deshalb als „grundsätzlich anti-christliche Praxis“ charakterisiert, weil sie als individualistische auch partikular ist und insofern unweigerlich den gesellschaftlichen Antagonismus befördert. „Unevangelisch“ und „individualistisch“ werden gleichgesetzt (467). – Die Frage stellt sich und bleibt zunächst offen, wie denn dann überhaupt die Wahrheit in lebendiger Gestalt bezeugt werden kann. Was indessen, zumindest vordergründig, imponiert, ist die rabiate Entsakralisierung von Herrschaftsansprüchen und -interessen. Direkter Heilsanspruch wäre die Zusicherung und der Vorbehalt besonderer Gnade für eine Parteinahme im Sinne des eignen Sachinteresses; dem entspricht das Abstreiten rechter Glaubensgewissheit und bleibender gleicher Verheißung auf seiten der Widersacher. (467)
Die schöpferischen Kräfte der Kulturbildung sind in den politischen und sozialen Umwälzungen wirksam und lassen sich doch angemessen nicht versprachlichen. Diese Handlungsdimension lässt sich ohne Selbstwiderspruch nicht direkt und programmatisch im öffentlichen Diskurs darlegen. Primär charakteristisch für diese Handlungsdimension ist das Zeugnis gelebter Erfahrung: „Der Anspruch der Worte ist hier das Zweite, das Zeugnis der Tat und des Seins – ohne Ansprüche zu ungunsten anderer – ausschlaggebend das Erste.“ (468).
IX. Politische Prophetie als Parteinahme – ,vor dem Evangelium her…‘ Die Schrift „Der innere Weg…“ ist das Exemplum von Müllers eigenem Verständnis politischer Prophetie. Sie dokumentiert, wie sich absoluter eschatologischer Vorbehalt und Theologie der Schöpfungsordnung auf verwerfliche Weise strukturell
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verschränken. Hier formuliert Müller dann für seine Option apodiktisch: „Die Zukunft ist mit uns.“ (W/10). Als hätte es mit der spezifischen Qualität der evangelischen Gemeinde gar nichts mehr auf sich, wird deren Bestand auf denjenigen der empirischen Gesellschaft zurückgeführt: „Von der Gläubigkeit der breiten Masse hängt der äußere Bestand der Gesellschaft ab, in deren Mitte Kirche werden und evangelische Gemeinde wachsen soll.“ (W/15). Kirche als amtliche Organisation hat alle weltweiten Möglichkeiten zu nutzen „im Interesse der Verkündigung“, und unter diesem Interessengesichtspunkt könnte es dann höchstens noch pragmatisch opportun sein, zum Beispiel die generelle Gewissensfreiheit als Prinzip zu verteidigen (vgl. 460). Mittels der eingeschärften Unterscheidung „vom Evangelium her“/ „vor dem Evangelium her“ schafft Müller sich den Raum, der politischen Prophetie der Kirche als Parteinahme eine notwendige, wenngleich nicht heilsbedeutsame Aufgabe zuzusprechen. Sie kündet also als politische Prophetie weder „die Bedingungen des Heils“, noch erklärt sie sich selbst zur unfehlbaren Instanz der Deutung des Willens Gottes „vom Evangelium her“: Ihr Inhalt ist nicht Kreuzesbereitschaft; sie geht also „vor dem Evangelium her – der Verheißung sachlich voraus und ohne sie darzubieten“ (432). „Vor dem Evangelium her“, d. h. auch: von der Verheißung für alle her lässt sich danach höchstens eine freiwillige Selbstkontrolle der Prophetie postulieren – „sie fordere inhaltlich und gesinnungsmäßig was auch immer“ (433); diese Prophetie agiert im Raum der vergänglichen geschichtlichen „Situationsforderungen“, sie ist sich des stets auch Trennenden ihrer parteiischen Entscheidungen und Optionen im Machtkampf bewusst. Die von Sören Kierkegaard in ihrem ganzen komplexen Bedeutungsfeld umschriebene Möglichkeit, die Kategorie des Außerordentlichen in Anspruch zu nehmen, wird hier, bei Müller, der politischen Prophetie der Gemeinde vindiziert: „Jede außer-ordentliche Begabung im Ringen um bessere Gemeinschaft ist prophetisch.“ Alles Geniale – sei es christlich, sei es pagan – hat hier folglich „prophetischen Charakter“: „Prophetie gilt stets einer Umkehr und Neuordnung in der Gemeinschaft.“ (434). Sie zielt charismatisch auf „praktisch brauchbare, eindeutige Weisung“ (435). Wichtig für das Verständnis dieser Intentionen sind Müllers Prioritäten: Primär sei „unser schon Bestimmtsein […] durch Gemeinschaft“; das „individuelle Miteinander und der Wille der Individuen ist grundsätzlich das Zweite“ (14)! Mit der Prophetie des Alten Testaments, die ja gemessen am politischen Erfolg und Sieg jeweils kläglich versagt habe, will sich diese Art von Prophetie allerdings nicht vergleichen lassen (vgl. 435 ff.), denn dort, in Israel und Juda, herrschte ja permanent „vollendete Konfusion, Kollision, Rivalität“ (439). Während das Bedürfnis der Zeit nach Prophetie die Eindeutigkeit der Weisung einer überragenden Gestalt erwartet, habe es im Alten Testament Prophetie nur als „vollendete Vieldeutigkeit“ gegeben. Die Propheten redeten im Horizont eines Verzichts auf Machtdurchsetzung; der Bewahrung des Jahwe-Glaubens, nicht der politischen Erhaltung des Volkes galt ihr Augenmerk (439 f.). Deshalb mussten sie mit allen Machthabern und mit den Massen zusammenstoßen. Müller setzt sich von diesem
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Verständnis der Prophetie ganz entschieden ab, obwohl nach seinen eigenen Worten das Evangelium dieses Scheitern der alten Propheten würdigt und ihnen vor Gott recht gibt (441 f.)! Der Horizont des Evangeliums vom Kreuz ist das ewig Unwandelbare der Verheißung Gottes, er ist „das direkte Gegenteil aller Politik“. Politische Prophetie aber ist bestrebt, sich an der gegenwärtigen Situation „vor dem Evangelium her“ zu bewähren; sie hat eine andere Quelle: sie lebt nach Müller „schöpferisch aus den Tiefen des Menschentums selber“ (442). Auch Luther habe die mit prophetischer Kraft vorgenommenen ordnenden Eingriffe ins öffentliche Leben nicht „vom Evangelium her“ begründet; er besaß „Instinkt für Schöpfungsordnung, Zucht und Billigkeit“ im Namen der natürlichen Vernunft (443). – Nach dem Durchgang durch das ganze ideologiekritische Potential der Theologie gelangt Müller zur Rechtfertigung einer Schöpfungstheologie, die sich auf fatale Weise an geschichtsteleologischen Aspekten ausrichtet: „Beide, Staat und Kirche, wollen das Innerste und Letzte im Menschen mobilisieren und potentiell beherrschen. Beide können das nur konkret, nur im Dienste bestimmter Ziele.“ (454).
X. Die Konstellation von Opferbereitschaft – Geborgenheitssehnsucht – Autoritätshörigkeit Die Teleologie eines endlichen Sinnganzen müsste eigentlich durch den unendlichen Sinn des Evangeliums angefochten und aufgebrochen werden. Müller sieht das anders: Wenn der Mensch „unter Kämpfen zu einer Linie“ in seinem Leben gelangt, gewinnt er „Geschlossenheit und Prägung“ (325). Das Sinn-Verständnis bleibt mit schlimmen Konsequenzen an die ,Erfahrung‘ endlicher Ganzheit gebunden. Die erstrebte Ganzheit spiegelt sich im jeweiligen individuellen Weltbegriff; die Menschen sind bekanntlich sogar bereit, ihre Welt preiszugeben, „um sie allererst zu gewinnen; sei es im Wagen einer Katastrophe […] oder in Ausübung von Entsagung“. In allen Aktivitäten, die danach streben, Defizite des Lebenszusammenhanges zu beheben, waltet somit eine opferbereite Hingabe an ein (gemeinschaftlich) größeres Ganzes, „das uns selbst erst zur Ganzheit verhilft“ (326). – Die Bindung individueller Sinnerfahrung an Ganzheit-im-Endlichen tendiert – das zeigt sich an Müllers Position – zur Totalisierung partikularer Vor-Haben; sie ist in einem radikalen Sinne destruktiv, denn sie redet der Anpassung ans Kollektiv das Wort: „Unsere Zeit will kollektivistisch, bzw. von Totalitäten her bestimmt werden.“ (306). „Das Lebensgefühl einer Zeit an sich ist Herrschaft; ihm innerlich widerstreben und ein anderes vertreten, ist ebenso riskant und verpflichtend, verletzend und erhebend wie die revolutionäre Umwälzung selbst.“ (307). Die Erfahrung der Massen wird hier zum Indiz der Berechtigung einer Ideologie. Dass sich das Verständnis des evangelischen Glaubens nach den Bedürfnissen des Volkes zu richten habe, erscheint als göttliche Weg-führung (W/27 f.). Die vorbereitete Denunziation des Einzelnen
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mündet ein in dessen Funktionalisierung auf „das Ganze“ hin – als stünde dieses nicht gleichfalls unter der schlechten Dialektik der Partikularität. Ausschlaggebend für diese Blindheit ist die bei Müller noch völlig ungebrochene Theo-Logik des Opfers: „Es kommt im Leben nicht auf das Glück an, sondern das Sichopfern ist der Weg zum Leben!“ (W/27). Die „Pflicht, der Gemeinschaft zu dienen“, setzt dem ,religiösen Eigenleben‘ nach Müller entschieden Schranken (W/37). Als fundamentum inconcussum enthüllt sich hier „die Gesundheit völkischen Empfindens“. Müllers nationalsozialistische Option verdeckt ihm die Notwendigkeit, seine theologische Ideologiekritik auch auf alle Inanspruchnahme der „Ganzheit“ für endliche Gebilde durch endliche Subjekte auszuweiten. Die Ideologie der Ganzheit ist indessen das Einfallstor für alle törichten Sinnvorstellungen, die dann verhängnisvoll in die Prozesse der Verallgemeinerung eingeführt werden. Auch Müller meint, das Evangelium verhalte sich zur „Geborgenheit-in-Ganzheit“ radikal kritisch (459). Doch das bedeutet seiner Meinung nach offensichtlich nichts für die reale menschliche Praxis. Als wäre schon gerechtfertigt, was wir brauchen, propagiert Müller Geborgenheit und Unangefochtenheit: „Da, wo wir innerlich nicht wanken und nicht weichen können, sind wir geborgen; denn da sind wir treu.“ (W/25). „Unser Leben schwingt von Anbeginn um Widerstand und Hingabe. In der Entscheidung zwischen Gegensätzen existieren wir, im Willen zu ihrer Überwindung beharren wir.“ (149). Der Mensch möchte demnach stets beides: „Streitbar und beständig sein“ (95). Schöpfungsordnung ist die Metapher für die Beständigkeit der Existenz; Müller beklagt: „Heute fehlt das alles.“ (469). Diese Situation empfindet der Theologe offenkundig als widernatürlich; der Natur des Menschen nämlich wohnt seiner Auffassung nach strukturell die Verwiesenheit auf eine absolute Teleologie inne: das Inter-esse zwischen Geburt und Tod schreibe „unwidersprechlich“ vor, dass sich unser Leben „auf einen endgültigen Ruhepunkt, auf ein erlösendes Ziel, auf eine absolute Heimat hin“ zubewegt (177). Die Dynamik dieser Bewegung der Innerlichkeit ist gebunden an die schon immer partikularisierte Macht und insofern an Kampf. „Das Wesen der Innerlichkeit […] manifestiert sich nirgendwo anders als in der Art, wie gekämpft und Mächtigkeit gewonnen wird.“ (316). In der inneren Auseinandersetzung bereitet sich die äußere vor: „Was einer in sich bewältigt hat, […] gibt ihm Gewalt nach außen; es ist ohne sein Zutun Macht.“ (317). Die souveräne Daseinsäußerung (ein Schlüsselbegriff der Theologie K. E. Lögstrups) tritt hier bei Müller auf als eine zur Verabsolutierung jenseits von Gut und Böse tendierende „Kampfeignung in der Welt“, als eine quasi-instinktive Gestaltungskraft und unmittelbare Autorität, jenseits aller Programmatik (322). Müller fasst den „Pendelschlag“ der Machtproblematik bündig zusammen: „einerseits legitimiert der Sinn in Freiheit die Macht, andererseits die Mächtigkeit im Zwang den Sinn“ (347). Da nun diese Bewegung ziel-orientiert vorgestellt wird, muss sich die Ziel-Approximation auch in der Gegenwart schon abzeichnen. Unter der Signatur eines angeblichen universalen Naturgesetzes erscheint deshalb das Prinzip der Auslese (324 f.), das eine „Heiligung“ favorisiert, für die der Mensch
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selbst verantwortlich zeichnet (417). Sogar diese Rede von Verantwortlichkeit wird indessen naturalisiert durch die Reduktion auf die Instinkt-Kategorie: „Die Genialität des Herzens und das Zartgefühl der Hingabe gibt es nicht erst seit Christus. Beides ist so alt wie der Instinkt der Selbst-Liebe, aus welchem Instinkt der Mensch wesenhaft lebt.“ (368). Im Wagnis der individuellen Festlegung auf einen bestimmten – und schon darin einseitigen – Sachverhalt, der sinn-voll erscheint, erwächst nach Müller, sozusagen in Binnenkonsequenz, das Problem der Autorität. Der Verfall des Ich an das eigene Bedürfnis nach Geborgenheit findet in der Autorität seine Bestätigung. Sie bietet inmitten aller Unsicherheiten des Lebens die Chance, im Gehorsam „wesenhaft Geborgenheit“ zu erfahren, „Heimathaben und Kindsein“. Dieser Gehorsam vollzieht sich als Verantwortlichkeit, die im Antworten nicht mehr auf sich selbst zielt, sondern fraglos ,reagiert‘ hat und weiter im Hinhören fest ist. Der Gehorsam steht ständig in der Entscheidung, also in der Verantwortlichkeit. Aber die letzte Verantwortung trägt er nicht, sie ist ihm abgenommen. Das ist das Wesen alles echten Gehorsams: niemals die Autorität verantworten zu wollen, sondern ihr schweigend hörig zu sein. (250)
Der gegen-utilitaristische Lebenssinn, der in der Zweckfreiheit des Daseins kulminiert, wird von Müller zwar als „das lebendige Korrektiv“ zum frommen Partikularismus genannt (262), wird aber ganz der Dimension eines rein-transzendenten Gottes zugewiesen, dessen Gnade tatsächlich „Erfüllung und Ende jeglicher Autorität“ sei (259). Infolge dieser abstrakten Zuweisung darf sich das endliche Ich – bleibt es nur jener absoluten Dimension eingedenk – mit ganzer Kraft auf die autoritär vermittelten endlichen Zielsetzungen des sozialen Lebens einlassen. Der je vorgegebene Zweck des Tuns, die Grundabsicht und der Sinn einer Entscheidung, das absolute Woraufhin der Verantwortlichkeit ist Autorität und Gnade. Jede definitive Instanz, jedes unerschütterliche Ziel begnadet. Was fest steht und nicht schwankt, was Wege weist und eindeutig befiehlt, ist voller Macht, ist Vollmacht und schenkende Autorität. So viele Mächte und Gewalten, so viele Autoritäten und Wagnisse des Gehorsams. Aber wo immer einer es wagt, im Ernst einer Aufgabe gehorsam und also ihr fraglos hörig zu sein, da sind alle Fragen, die er noch hat, gleichsam nur Erkundigungen und Anfragen, die im Grunde schon erhört und beantwortet oder gerichtet sind, d. h. in Richtung gebracht, auf das Ziel hin verwiesen und von ihm her beurteilt. (250)
Das lebendige Korrektiv – wieder eine verfälschende Beerbung Kierkegaards durch Müller – steht hier (total im Gegensatz zu Kierkegaard) über den Parteien im Protestantismus (262); es ist deshalb auch nicht umzumünzen in ein „polemisches Argument“: Die „Gemeinde der unsichtbaren Kirche […] wird vom Kampf der Parteien überhaupt nicht berührt“ (363). „Wo Autorität und Wagnis ist, da ist Gesetz, und sei es Glaubensgesetz, Heilsgesetz.“ (262). Diese theologische Theorie konstruiert also eine pervers parataktische Ordnung: Man formuliert als Aufgabe, „die kämpfende Wirklichkeit des Menschen ungebrochen in evangelischer Gläubigkeit zu bejahen“, und schafft daneben Raum „für
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die Einfalt und Reinheit der Verkündigung“ (IV). Diese Theologie des Nebeneinander besteht folglich darauf, „daß nur unter Anerkennung der vitalen und geistigen Machtspannungen wirklich ,evangelisch‘ nach dem Reiche Gottes getrachtet werden kann“ (III, Hervorhebung von mir).
XI. Vom Staatsfeind In der 1934 erschienenen Abhandlung „Vom Staatsfeind“ (Hamburg 1934) hat Müller viele differenziert vorgebrachte Betrachtungen aus „Macht und Glaube“ weit hinter sich gelassen. Dennoch enthält auch diese Schrift, trotz der primitivisierenden Zuspitzungen, einige Erwägungen, die Beachtung verdienen. Stellt Müller sich doch ausdrücklich mit seiner Theologie in einen Theorie-Kontext, der durch die Vorgaben Carl Schmitts geprägt ist, welcher in seiner berühmten Schrift „Der Begriff des Politischen“ (1927) der Kategorie des Feindes die Schlüsselstellung in der Theorie des Politischen zugesprochen hatte. Da zur Politik Leidenschaft und Begeisterung gehören, ist auch die Verbindung von Vernunft und Fanatismus für Müller unabwendbar (St/93). Gerade die naheliegende Absicht, die Politik zu temperieren und sie „im Eingeständnis ihrer eigenen Profanität und Vorläufigkeit festzuhalten“, kennzeichnet Müller als „schwärmerisch“ (St/93). Zur Natur des Menschen gehöre nun einmal die Leidenschaft, die allerdings in vitale „Selbstsucht und Selbstvergötterung“ umschlagen kann (St/94). „Fanatismus und Nüchternheit […] gehören auch in der Politik zusammen.“ (St/95). Gott arbeite in der Geschichte mit dem fanatischen Glauben – er „überträgt seine Kraft dem einzelnen und den Totalitäten solange Er will“ (St/94). Und dieser göttliche Wille ist weder durch „die knarrenden Räder der Kritik“ noch durch die „rauschenden Flügel des Beifalls“ beeinflussbar (St/95). Obwohl Müller durchaus für Sachlichkeit und Nüchternheit plädiert und vor den ,Lobrednern‘ ebenso wie vor den ,Kritikastern‘ warnt, polemisiert er doch gegen den großen Trugschluss der „Nüchternheitsapostel“, die wähnen, „sie könnten ihre Aufgabe vollziehen, ohne für eine sachliche und politische Stellungnahme Partei zu ergreifen“ (St/32). Anders gesagt: wer „die Leidenschaft des vitalen Einsatzes unterbinden will“ – und sei es um der Ehre Gottes willen –, der unterliegt dem Irrglauben, „durch Kastration der emotionalen Voraussetzungen aller Politik“ mit den „Dämonien dieser Welt“ fertig werden zu können (St/33). Eine nur pragmatische Bevorzugung des Nationalsozialismus – anstelle eines unbedingten Glaubens – gilt also als ausgeschlossen: Die politische Wirklichkeit des Nationalsozialismus besteht in der Zielsetzung und Lebendigkeit seines Glaubens; lässt dieser nach, so stirbt jener ab. […] Wer sich ihm nicht unbedingt zur Verfügung stellen kann, verwirft ihn bedingungslos […] (St/29).
„Glaubensfragen können theologisch und sie können politisch behandelt werden. Beides ist sachgemäß zu unterscheiden und nach Möglichkeit zu trennen.“ (St/5). Kein Zweifel: in dieser Schrift nimmt Müller sich vor, noch stärker als in seinen
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früheren Büchern die Fragen des Glaubens als politische Fragen zu behandeln. Die politischen Ergebnisse der Machtergreifung werden apodiktisch verstärkt: „Gegen die äußere Gleichschaltung gibt es keinen Widerstand mehr, sie hat gesiegt.“ (St/7) – Was einen heutigen Leser noch an diesem Elaborat interessieren kann, ist die systematische Konsequenz, mit welcher der Nationalsozialismus auf ethische Entscheidungen bzw. eben: Glaubensentscheidungen zurückgeführt wird. Wesen und Weg des Nationalsozialismus aber sind in größerem Maße von ethischen Imponderabilien abhängig als bei irgendeiner Revolution zuvor. Glaubensgehorsam spielt für ihn die entscheidende Rolle. (11) Als ,Glaube‘ lebt der Nationalsozialismus und als solcher wird er bestritten. Nur als Kleinglaube würde er verfallen. Die vom Nationalsozialismus ernstzunehmende Reaktion in Deutschland ist grundlegend nicht Programm, sondern Unglaube. (21)
Noch einmal: „Der Nationalsozialismus war von Anfang an weniger Programm als Glaube.“ (St/27) Übrigens wird von Müller skrupellos der politisch-theologisch vom Führer und für den Führer in Anspruch genommene Vorsehungsglaube als Verstärkung eingesetzt: Wer dessen unmittelbaren Vorsehungsglauben und die daraus folgende Frömmigkeit der Tat und der eigenen Leistung verwirft, ist ein politischer Gegner Adolf Hitlers und seiner Bewegung. […] Wenn die Bejahung des ,Gebots der Stunde‘ als göttlicher Willenskundgebung unchristlich sein soll, dann hat man den Nationalsozialismus verworfen (St/30).
Müller räumt ein, dass diese theologische Terminologie insofern befremdlich sein mag, als hier nun einmal „Gottes großer lebendiger Wille“ sich auf anderen Wegen erschlossen hat als auf den ,theologisch kontrollierten‘ von Bibel und Predigt (St/ 31 f.). Müller, der sich die Lizenz für solches Reden von Luther holt: schließlich habe Gott die staatliche Herrschaft durch die Geschichte über uns gesetzt (St/89, vgl. 92), besteht dennoch darauf, die Botschaft des Evangeliums wende sich im Kern nicht an Institutionen und Bewegungen, sondern verkünde dem Einzelnen das Kommen des Reiches Gottes (St/98): die Verheißung des Ganzanderswerdens, „das weder Staat noch Mensch, weder Kirche, noch Gemeinde in der Hand haben“ (St/98). Das Kreuz ist demnach nicht machtpolitisch verwertbar – aber es lässt eben doch die leidenschaftliche Politik frei! Gottes Gesetz trifft die Menschen immer auch als einzelne; wenn ein Ereignis uns aufhorchen läßt, als ob eine Warnung, ein Schreckschuß oder ein Ruf zur Besinnung erginge. Dieses Gestelltwerden und sich Entscheidenmüssen ist nicht Sache des gedruckten Zitates, aus Bibel und Bekenntnisschriften der Gegenwart nahegelegt, sondern geschieht unmittelbar an Fleisch und Blut, an Seele, Geist, Vernunft und Gewissen, am ganzen Menschen wie er leibt und lebt. In all den Augenblicken, in denen ein Mensch – aus welchen Gründen immer – im Innersten erschüttert wird und schwankt, wenn der Boden unter den Füßen bröckelt, die Seele vor dem Nichts und dem All erzittert, die Nacht des Schicksals hereinbricht, die Verzweiflung des Mitleids das Herz bedrückt, die Einsamkeit mitten in
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brandender Gemeinschaft uns betäubt, überall wo Furien oder Schicksalsschläge uns zu verfolgen scheinen, da ist die richtende und sichtende Macht Gottes in unerträglicher Direktheit über uns. Da werden wir entweder verzehrt und vergehen, werden verdammt im Unglauben, oder aber wir haben den Mut, Schuld zu bekennen und um die Kraft der Vergebung zu bitten. Das geschieht, wenn wir die Botschaft fassen und festhalten: Hier sucht uns Gott und will unser Bestes. (St/96)
Müller betont, solche Konstellationen seien epochenunabhängig, seien kennzeichnend für den Menschen, wie er nun einmal ist – ob er nun in einem totalen Staat lebt oder nicht. Wir erfahren eben zuweilen das Leben als durchaus feindlich; und dann stehen wir auf dem Spiel – als einzelne vor Gott (St/86 f.). Der in seiner ,Argumentation‘ zuweilen brachial anmutende Nationalsozialist Müller stellt vor diesem Hintergrund auch in dieser Kampfschrift, die sich gegen alles richtet, was er als „reaktionär“ definiert, eindeutig heraus, dass der Staat Anstrengungen zu unterlassen hat, die auf die Gleichschaltung der Kirchen hinausliefen: Alles lässt sich innerhalb eines Volkes gleichschalten, weitgehend auch das sittliche Empfinden des Gewissens, das Fragen nach Gott im Tiefsten niemals. Zu seiner Art gehört es, ein bedrängender, beunruhigender und unerbittlich jenseitiger Faktor zu sein. (St/66)
An den „Bruchstellen des Alltags in der Gegenwart“ werde diese Dynamik erahnbar (St/67). Für Müller gilt, dass beide – Religion und Politik – wesentlich immer ,aufs Ganze gehen‘ und insofern „eine verzehrende Kraft“ entbinden (St/34). (Dabei bestreitet der Theologe Müller übrigens, gegen Karl Barth gewendet, eine Überlegenheit der Kirche gegenüber dem Staat!) Der Einheits- und Geltungsanspruch jeder Religion, die sich nicht verflüchtigt hat, sondern das Leben noch durchdringt, sei unausweichlich exklusiv (St/35). Da das gleiche auch für die Ansprüche des tendenziell totalen Staates gilt, müsse zwischen diesen beiden Leit-Institutionen ein „Kompromiß gegenseitiger Achtung und Begrenzung“ erstrebt werden (St/36)! Angesichts dieses Plädoyers für den Kompromiss und für Minimal-, nicht: Maximalforderungen wird nachvollziehbar, warum Müller die Definition Carl Schmitts, das Politische zentriere sich in der Freund-Feind-Unterscheidung, für „untragbar“ hält (St/36). Die „staatspolitische Schulung“ seitens des Staates dürfe deshalb „nicht als verkappte Religionsbekämpfung oder -propagierung“ betrieben werden (St/37); vielmehr werde sie, überkonfessionell, ganz bewusst gegenüber den religiösen Entwicklungen Zurückhaltung üben und sogar „das Moment der Selbstkritik immer positiv im Auge behalten“ (St/39)! Der Nationalsozialist Müller verkündet, allein die Leistung und Entschlossenheit und Lebenskräftigkeit des Staates werde gegen das „Pathos der Reaktion“ obsiegen – nicht Polemik und nicht Programmatik (St/40). Das Stichwort „Kompromiss“ zeigt an, wo sich Müller von Carl Schmitt absetzt. In seiner Kritik des Liberalismus allerdings nimmt Müller Schmitts Anstöße auf. Zwar sieht er den Deutschen „unausrottbar auf Individualität hin angelegt“, doch deren Überbetonung sei der „heutigen Generation fremd und anstößig geworden“ (St/41). Mit Carl Schmitt also trägt Müller eine Diagnose der kulturellen und poli-
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tischen Krisenentwicklung vor, die in der Kritik am Parlamentarismus, an der Unfruchtbarkeit der Permanentdebatten und dem Verlust der „Befähigung und Berufung zu Entscheidungen großen Stils“ kulminiert: „Es entlud sich kein hindurchgreifendes Gericht und es zündete kein Ideal der Versöhnung für alle.“ (St/42). „So wurden die einzelnen immer wieder auf sich selber zurückgeworfen.“ (St/43). Demgegenüber bedeute der Nationalsozialismus einen „Durchbruch elementarer Kräfte“, wenngleich wahrlich nicht behauptet werden könne, dieser Boden sei schon standfest genug. Allerdings: „Die Schiffe des Liberalismus sind hinter uns verbrannt.“ (44). Der insbesondere von Dietrich Bonhoeffer prominent gemachte Gedanke, die ethischen Verantwortungsverhältnisse im Zeichen der Stellvertretung zu interpretieren, wird von Müller benutzt, um die Akzeptanz der tödlichen Gefährdungen des Individuums noch zu erhöhen! Müller konnte ja, angesichts der Zeitumstände, gar nicht übersehen, dass immer wieder einzelne durch ,böse Zufälle‘ bzw. ,von Fehlentwicklungen oder Missgunst getroffen‘ und ,in offenbarer Unschuld vom Gang der Ereignisse zur Seite geschleudert werden‘. Es sei verständlich, aber auch „betrübend und niederschmetternd“, wenn diese Menschen, „die […] Unrecht leiden, nicht stellvertretend für ihr Volk zu leiden verstehen“ (St/45). Der Einzelne solle sich nicht so wichtig nehmen und bereit sein, „in den Strom des Opfers einzutauchen“ (St/45). Müller registriert, die Bedeutung von Einzelerlebnissen sei nun einmal, ganz abgesehen von ihren Inhalten, gesunken (St/46). Man müsse jetzt endlich begreifen, „daß der Genius des Opfers mit Feuerbränden unter die Menschheit trat, daß wir im Jahrhundert der Aufopferung für das Ganze leben“ (St/47). Wobei genau auf den Ausdruck zu achten ist: nicht bringt sich der Einzelne zum Opfer für das Ganze, sondern er wird zum Opfer (St/47). Wer gegenüber dieser Entwicklung durch die Instanz der Kritik Sicherungen anbringen wolle, gleiche einem Kind, „das bei einem Gewitter an Hochspannungsdrähten spielt“ (St/47). „Wer mit Unrechtleiden kokettiert, entwürdigt den Gedanken des Martyriums, indem er sich hinter ihm verstecken möchte.“ (St/65). Es gelte, auch das politisch verhängte Unrecht mit Würde zu tragen und sich nicht reaktionär moralisierend und wehleidig darüber zu erregen (St/66). Die Selbst-Instrumentalisierung kündigt sich in der Verwendung der WerkzeugMetapher an: „Oft müssen wir Werkzeuge des Zorns und der Vernichtung sein.“ (St/ 84). Bedenkenlos werden hier also im Anschein, sich selbst zu instrumentalisieren, die Kategorien des göttlichen Zorns und der göttlichen Vernichtung für den Machtkampf in Anspruch genommen. Das Stellvertretungstheorem deckt auch noch Strategien eines Tötens aus angeblichem Mitleid ab: Wer in evangelischem Geist die Last der Verantwortung auf sich nimmt, der wird zum Helfer, und wäre es darin, wie er jemandem den Tod gibt. Das ist das starke positive Mitleid, die Kraft, mit einem andern und also für ihn leiden zu können. So hat Jesus bekannt vor Gott und den Menschen. So sollte es auch unter uns immer möglich sein. Noch aus der Angst des Mitgefühls und aus der Verzweiflung, nicht stellvertretend einstehen zu können, kann Erbarmen sprechen, und eine befreite Welt in kreatürlicher Erregung sich ankündigen. (St/84)
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Wenn es überhaupt einen Punkt gibt, in dem sich Nationalsozialismus und Evangelium begegnen, so ist es der Grundsatz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“. Er rechtfertigt das Ansinnen stellvertretender Hingabe des Lebens (St/28). „Der einzige Freihheitsbeweis, der uns nicht notwendig individualistisch vereinzelt, sondern in Gemeinschaft bringen kann, ist die Opfertat“, die allerdings „den rechten Sinn des Augenblicks treffen und ihn erfüllen“ muss (St/78). „Das natürliche Leben erfüllt sich in der Liebe zur Gemeinschaft und in den Kämpfen, die ihretwegen entbrennen.“ (St/78) Es entspricht den Strukturen, die wir an den ,seriöseren‘ Schriften Müllers freigelegt haben, dass er bereits 1934 das Postulat der unerbittlichen Hingabe im Opfer nicht nur militärisch verstanden wissen wollte; vielmehr sei eine Hingabe gemeint, „die auch im Alltag vorbildlich unterzugehen versteht“ (St/28)! Diese Bereitschaft, sich dem Kampf und der Gefahr auszusetzen, wird übrigens dem Selbstmord des vereinzelten verzweifelten Daseins entgegengestellt (St/78). Diese unbedingte Opferbereitschaft ist für Müller der existentielle Ausdruck des evangelischen Durchbruchs. Dieser setzt nämlich nach Müller das Vertrauen in eine ungeheure Vereinfachung des Daseins frei, die den Menschen instand setzt, angstfrei „dem Leben sich zur Verfügung [zu] stellen, ohne sich selber noch wichtig zu nehmen“ (St/82). Es ist die Renitenz des sündigen Bewusstseins, das sich mit dieser ihm anstößig erscheinenden ,Vereinfachung‘ des Lebens nicht abfinden will und sich deshalb ständig mit der Warum-/Wozu-Frage herumschlägt (St/83). In dieser ganzen Schrift singt Müller das Loblied der abenteuerlichen Existenz, die sich der „ungeheuren Vereinfachung, die mit der Nähe des Todes gesetzt ist“, stellt und im Heroismus der Hingabe eine ungeheure Steigerung des Lebens, eine ,Vervielfältigung der Intensität des Lebens‘, erfährt (St/58 f.). Diese ganze spezifische Theorie des Opfers stellt eine politische Umfunktionalisierung von Denkanstößen des Philosophen Grisebach dar. Dessen Skepsis gegenüber der deutungsexpansiven Rationalität wird von Müller übernommen und gegen eine theoretische und metaphysische Ausdeutung des Nationalsozialismus – „von welchem Standpunkt auch immer“ – gewendet; das führe nur zu wachsender Distanz gegenüber der „praktischen Weltanschauung und dem unmittelbaren Lebensgefühl seines Ursprungs“ (St/38 f.). Insofern übrigens hält Müller eine „staatsgebundene Religiösität“ ebenso für verzichtbar, wie er gegen eine staatsfeindliche Grundeinstellung ankämpft. Zustimmend zitiert Müller Mussolinis Auffassung, „daß der Staat nicht eine eigene Religion habe“. Die ideologisch-pervertierende Transformation Grisebachscher Denkimpulse zeigt sich in Müllers Betonung des Mutes zur Ungesichertheit, der Bejahung des Unberechenbaren und des Verzichts auf „Programmklarheit“ durch den Willen zum Ungewissen (St/64). Dass der Nationalsozialismus als politische Gestalt sich in diesem Horizont durchsetzen konnte, lag allerdings an einer in der Bewegung wirksamen Gewissheit, die primär eine des Lebens, nicht der Politik war (St/64). Der Nationalsozialismus, wie Müller ihn versteht, reißt also die Menschen mit sich, weil – oder obwohl? – er ihnen einen Sprung aus der zweckrational ausgerichteten bürgerlichen Existenz ins Unberechenbare zumutet. Allein diese Loslösung von der kalkulierenden Selbstvergewisserung oder dem individuell-erlebnismäßigen Genuss
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des Aufgehens ins Kollektiv scheint die Totalpolitisierung zu ermöglichen, die der Nationalsozialismus faktisch erreicht hat (vgl. St/61). Wohl räumt Müller ein, es gäbe gar kein Leben ohne Berechnung, Ordnung, Organisation und Technik. „Aber der […] belebende Funke ist die Genialität, die sich am Unberechenbaren entzündet“ (St/79). Die Bezugnahme auf das „Mysterium des Blutes“ (St/21 ff.) soll eine Dimension des Lebens bezeichnen, die schlechthin sperrig ist gegen das Kalkül des ich-bezogenen verwertenden Tausches! Die Willkür ich-bezogener Verfügung wird insbesondere den Intellektuellen nachgesagt, weil man – so Müller (St/22) – „nur Geistesprodukte […] willkürlich verfeilschen und vertauschen“ kann: Der Geist des Kapitalismus als Geist grenzenloser Verfügung über die eigenen Produkte spiegelt sich in der Haltung jener Intellektuellen, die ihr Pro und Contra zum Nationalsozialismus egomanisch am Erlebnisgefühl festzumachen suchen. Selbst der Wunsch, am Massenerlebnis um den Preis der eigenen individuellen Besonderheit teilzunehmen, ist noch Ausdruck der egomanischen Selbstüberschätzung. Die entwurzelten Intellektuellen kennen nur das individualistische oder aber kollektivistische Erlebnis. Sie wollen Persönlichkeit haben gegen die Masse oder selbstmörderisch ihre Persönlichkeit der Masse zum Opfer bringen. Beides ist Wahnsinn und tödlich. Beides hat mit dem Mysterium des Blutes […] nichts zu tun. (St/23)
So wenig das Erlebnisgefühl für Müller ein Wahrheitsausweis ist, so wenig ist es die Kraft theologischer Reflexion. Gerade der explizite Anspruch, „rein“ theologische oder „rein“ religiöse Erwägungen gegen den Nationalsozialismus vorzubringen, diene nur dazu, die eigene individuelle Unangreifbarkeit zu sichern und verdecke nur den Sachverhalt, dass auch die abstrakten, angeblich rein theologischen Perspektiven und Prinzipien „unheimliche politische Wirkung“ erzielen (St/90 f.). Der Korruptionsvorwurf gegen die theologische Reflexion spiegelt sich in dem Satz, der lebendige Gott habe „mit theologischer Begriffsgötterei schlechterdings nichts zu tun“ (St/ 91). Die riskante Selbstexposition im abenteuerlich-ungewissen Wagnis des Lebens ist ausdrücklich nicht als Selbstzweck auszulegen: sie „bleibt unbedingt Mittel zum Zweck – zur Möglichkeit des denkbar höchsten konkret erreichbaren Erfolges“ (St/ 81). Diese intentionale Aussicht und Ausrichtung auf Erfolg im kollektiven Lebensprozess kennzeichnet die nationalsozialistische Variante einer „Eroberung des Nutzlosen“, die das Kierkegaardsche Erbe – wonach „der Einzelne“ die höchste Kategorie ist – längst verraten hat, auch wenn sich die Rhetorik zuweilen sehr ,existentialistisch‘ anhört.
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XII. Vitalismus und Drang zur Hingabe an den ,letzten Sinn‘. Generalabsolution aus dem Geist des Evangeliums In unserem Leben haben wir „mit den irdischen Dingen gemeinsam fertig zu werden und […] das Nötige nach bestem Ermessen zu ergreifen […] und zu gestalten“. Geschieht dies, dann macht sich der Mensch dazu „geschickt, Werkzeug, das sich vergißt, zu sein“ – aber eben: Werkzeug, und zwar des Gottes, der angeblich das Gute allein an uns Ichsüchtigen vollzieht (98). Die abwegigste ,Technik‘, dieses Werk Gottes fördern zu wollen, wäre nach Müller „die religiöse Leidenslust“. Im Glauben sieht Müller vielmehr die optimale Bevollmächtigung, frei und […] mit ganzer Kraft ,das Menschliche‘ zu treiben (98). Der Drang nach einem sinnvollen Tun, das Erfolg hat und befriedigt, und gegebenenfalls die Rücksichtslosigkeit der Vitalität gehören zum Menschen. (316) [D]er Mensch kann nur leben, wenn er vital lebt, d. h. wenn er einseitig eintritt für immer ein besonderes Anliegen unter anderen mehr […], [so] scheint er wesenhaft auf Gelegenheiten zu unerbittlicher Opposition angewiesen zu sein. […] Je […] ,scheuklappenbegrenzter‘ geglaubt wird, desto intensiver, so heißt es, pulsiert das Leben. (204 f.)
Religion und Vitalität verflechten sich, weil der Mensch einem Drang „zur Hingabe an einen letzten Sinnbezug“ unterliegt (230), inklusive der „Bereitschaft zum letzten Opfer“ (231). Da Gottes Reich ohnehin immer „quer zu einer jeden solchen […] politischen Aufopferung“ kommt (231), kann und darf die evangelische Botschaft mithin die faktischen Vollzugsformen dieser Vitalität nicht tangieren – dürfen doch „die inneren Bedürfnisse der Menschenseele nicht ungestraft vergewaltigt werden“; Müller propagiert vielmehr das Gegenteil: „die Notwendigkeit ihrer Befriedigung um der Gesundheit, d. i. um der Sauberkeit willen“ (230 f.)! – Im innersten Kern dieser theologischen Position, die so viel von der Souveränität Gottes spricht, stoßen wir auf die Weigerung, die Starrheit der Gegenüberstellung von Mensch und Gott in den Prozess ihrer Einheit aufzulösen. Man darf sich über das in vielfacher Hinsicht scharfsinnige Konzept im Grunde solange nicht empören, solange man diesen traditionellen theologischen Rahmen nicht in Frage stellt. Müller schließt sich der Auffassung Kierkegaards an, das Evangelium sei heute mit einer nur „christlich übertünchte[n] Kulturwelt“ konfrontiert. Wer sich handelnd auf diese gesellschaftliche Wirklichkeit einlasse, müsse – in Konsequenz der eingetretenen Entwicklung – prinzipiell darauf verzichten, die Geltung sogenannter „christlicher Maßstäbe“ aus ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit abzuleiten; das Engagement des Christen müsse in programmatischer Rückhaltlosigkeit erfolgen – „ohne Vorzugsbehauptungen“ für die eigene Handlungsmotivation (396 f.). Angesichts dieser Preisgabe der traditionellen, für allgemein verbindlich angesehenen Normierungen fragt es sich, welche Beweggründe denn überhaupt noch einen Menschen veranlassen sollten, dem Appell an die Gewissenhaftigkeit zu folgen. Die Antwort Müllers auf diese Frage ist systematisch-konsequent, wenngleich höchst
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fragwürdig: Das Gefühl der Befriedigung und Beruhigung des Gewissensanspruchs soll den Ausschlag geben. Die Stimme des Gewissens verlangt nämlich „Tue das, was mir, Deinem besseren Ich, Ruhe gibt“ (W/41). Kommt das Gewissen infolge der Tat zur Ruhe, so bedarf es nach Müller eigentlich keines weiteren Beurteilungskriteriums. Das Phänomen des irrenden Gewissens, der Korruptionsanfälligkeit des Gewissens, bleibt außer Betracht. Es erübrigt sich deshalb auch für Müller, ,gegen die hochfahrenden Wünsche unseres Selbst Hand anzulegen‘ (238). Jemand, der das von ihm für gut Erachtete im gesellschaftlichen Machtkampf mit absoluter Entschlossenheit umsetzt, wird dazu neigen, sein Handeln auch durch die Inanspruchnahme religiöser Symbole zu rechtfertigen; für Müller ist es ausreichend, dass diese religiöse Rechtfertigung im Lichte des Evangeliums als „heimliche Süchtigkeit“, das eigene Selbst mit Gott zu verwechseln, durchschaut und in der Buße einbekannt wird (239). Es wird nicht mehr Verwunderung auslösen, dass Müller sofort den – an sich ja richtigen – Gedanken hervorhebt, auch Bußübungen könnten dazu angetan sein, vom ängstlichen Ich zu Zwecken der Selbststabilisierung verwertet zu werden. Die Bekämpfung der Ich-Sucht kann als religiöses Programm auch solche anziehen, die auf ihre Selbstbehauptung fixiert bleiben (241 ff.). In einem religiösen Nutzenkalkül töten sie sich selbst ab, um „Gottes Willen aufzunehmen ins eigene Streben“. Gegen diese starke Mauer der Selbstbehauptung anzurennen, hält Müller für „nutzlose Kraftvergeudung“ (235). Alles Leben hat nun einmal „seine Leidenschaft und sein irdisches Recht in sich selber“ (475). In dieser Perspektive fällt es Müller offenkundig nicht schwer, die ,Kräfte der Verwesung‘ in der gegebenen historischen Situation zu identifizieren; das mündet in die Forderung ein, mit aller Macht und unter Einsatz des eigenen Lebens jene destruktiven Kräfte zu bekämpfen. Die Gesinnung des reinen Herzens, welche für den evangelischen Christen aus der Preisgabe eines religiös-moralischen Vorrangs resultiert, rechtfertigt einen Dezisionismus, der sich nur scheinbar von der zweckrationalen Frage nach dem Wozu der Praxis abgekoppelt hat; nur scheinbar, weil auf die Selbststabilisierung im Zeichen eines absoluten Sinnes nicht verzichtet wird: Die sachliche Klarheit des Machtkampfes, und der bedingungslosen Bereitschaft zur Parteinahme in ihm, beginnt. Wir wollen uns hergeben in blanker Entschlossenheit und reinen Herzens. Das ist unsere menschliche Ehre und wir lassen den anderen die ihre. (475)
Aus solchen Worten spricht unzweifelhaft eine bestimmte Gelassenheit und diese wiederum zieht ihre Kraft aus einer bestimmten theologischen Version des Seinszum-Tode: All diese Erwägungen beziehen ihre Binnenplausibilität aus der Anerkennung einer Gottesimago, in der bei etwas kritischer Distanz die dämonische Grimasse des Verschlingend-Göttlichen erkennbar ist, welches die Einzelnen und die Kollektive im Opfer heischenden Gestus funktionalisiert: Der Mann kann sterben, ohne das, woran und wogegen er stirbt, zu schmähen. Gott bereitet vollkommene Hingabe und macht Menschen neu auf allen Fronten des Lebens und des Sterbens. Zu dem Ihm wohl gefälligen Opfer werden alle, diese und jene und wir, nur durch ihn selber. (475)
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Auf dem Boden solcher Auffassungen wächst dann auch eine ,fromme‘ Gleichgültigkeit gegenüber staatlichen Machtanmaßungen: „Wenn ein Staat den ganzen Menschen will, so ist in der Erwartung des Reiches Gottes zu sagen: Warum sollte er ihn nicht haben?“ (457). Wenn man für Einschränkungen plädiere, so ließen diese sich wohl aus der politischen Klugheit und Urteilskraft herleiten, nicht aber aus der Perspektive des evangelischen Glaubens. – Wer die Erwartung des entscheidenden eschatologischen „Ganzanderswerdens“ zur herrschenden Perspektive der Lebensführung und der Interpretation des Lebenssinnes macht, der kann offensichtlich auch, ohne in innere Konflikte zu geraten, den totalen Staat akzeptieren. Dessen Bedrohung der Gewissensfreiheit bedeutet dann für den Glauben weder Stärkung noch Schwächung – denn das Evangelium kann gar nicht bedroht werden (458 f.). „Ein Werden unter Schmerzen und eine große Zuversicht hat uns ergriffen. Diese unsere Sehnsucht, unsere Not und Verheißung heißt Schöpfung.“ Schöpfung verweise auf einen „letzten gemeinsamen Urgrund“ des im Endlichen notwendigerweise absolut Verschiedenen, eine Macht und Herrschaft, die über Anfang und Ausgang […] befindet und alles in ihrer Hand behält, richtend und lenkend, prüfend und führend, vollendend und beendend (W/5). Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind (Ernst Jünger, zitiert bei Müller). Der Gedanke, nichts als Werkzeug und ausführendes Organ zu sein, ist für alles echte Führertum typisch. (337) Wo Herzen ergriffen werden und Menschen im Dienste eines unbedingten Zieles Gewalt einsetzen und Gewalt leiden, um einen Frieden zu erzwingen, der sie aufatmen läßt – da ist Kulturwesen und -wille in universaler, bzw. partieller Einhelligkeit heute wie ehedem […] (293).
„Aufbau auf Kosten systematischer Vernichtung kennzeichnet Kultur und […] ,Religion‘“ – kennzeichnet den Kulturwandel „nach dem Gesetz der Auslese“ (293 f.)! Dass die alltägliche Tätigkeit in Wissenschaft, Arbeit und Kultur als zweckbezogene „einen letzten Sinn haben muß, wenn sie nicht kulturlos, barbarisch, inhuman […] sein soll, […] ist gar kein Problem“ (290). Schöpfung wird zum Inbegriff von Ordnung und Harmonie; das Wagnis des Lebens in Hingabe und Opfer wird zurückgestellt in eine absolute Teleologie des Willens Gottes: „Der Tod selber lebt von dem, der ihn töten läßt.“ (W/6). Das verleiht dem Töten wie dem Sich-opfern einen, wenngleich undurchschaubaren, letzten Sinn. Denn: „Das Grauen gehört mit zur Schöpfung.“ Heroisch bringt das Ich also den „Gleichmut der sicheren Selbsterhaltung in allem Untergang“ auf. Wille zum Leben und Einsatz des Lebens gelten ja als gleichermaßen fraglos und unbedingt (W/7). So eingestimmt, ,ringt‘ das Subjekt um Schöpfung und erfährt es „Schöpfung heute, Schöpfung hier und jetzt“ (W/9). In diesem abstoßenden schöpfungstheologischen Horizont wird auch das biologische Konstrukt der Artgleichheit theologisch umgemünzt: „Die Gattungen und Rassen haben ausnahmslos einen tiefen, ursprünglichen, edlen Sinn.“ In allem „Hochwertigen“ „spiegelt sich der Wille des Schöpfers klar“, „in Krankheit und Jammer, in Gebrechen und Siechtum ist der Befehl dieses Schöpfers erkennbar“ (W/5). Da nimmt es nicht mehr Wunder, dass der Nationalsozialismus mit dem
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Durchbruch des Programms einer neuen Schöpfung gleichgesetzt wird (W/9 f.). Wer beim „Anblick von unvermeidbaren Härten und Untergängen“ unheroisch herumnörgelt, dem wird die „hohe Gnade“ vorgehalten, die darin waltet, „Neuschöpfung von Gott aus, selber handelnd mitzuerleben“: „Er, Adolf Hitler, war schöpferisch und für uns Deutsche Werkzeug der Schöpfung wie niemand und nichts sonst.“ (W/11). Hatte Müller in dem 1932 abgeschlossenen umfangreichen Werk „Macht und Glaube“ noch entschieden die These vertreten, Gericht und Verheißung seien dem göttlichen Handeln vorbehalten, so werden nach der realen Machtergreifung durch die Nationalsozialisten die Distinktionen eingezogen: Der ganzen evangelischen Welt soll nunmehr „eine durch den Nationalsozialismus als Gericht und Verheißung vermittelte Hoffnung“ geschenkt werden (W/59). Angesichts des überwältigenden Eindrucks der geschichtlichen Wendeerfahrung wächst dem pur Historischen theologische Normativität zu: „gegen den Anprall der Geschichte kann man nicht sprechen“ (W/62). Die Mission des Nationalsozialismus ist „gottgewollt“; wer das bejaht, „steht im Strom der Zeit“ (W/65). Die eschatologische Kategorie der Verheißung wird in die Apologie der eigenen Optionen eingebunden: „Die Verheißung gehört der organisch entfalteten Ungleichheit der Völker, die von unabhängigen Führern gelenkt werden.“ (W/10). Die erregende Betroffenheit durch Adolf Hitler wird zum Zeichen der Vorsehung, seine „Befehlsgewalt“ zum „Gnadenerweis“. Die heilsutilitaristische Deutung ist also permanent zur Hand: „Weil Gott diese Menschen gebraucht, werden sie zu den Erfolgen geführt, die Gott durch sie erreichen will.“ (W/27). An der Stellungnahme zum nationalsozialistischen Rassismus lässt sich am besten ablesen, zu welchen Verrenkungen dieser theologische Ansatz befähigt. Die vom Evangelium verheißene Wiedergeburt gilt unterschiedslos allen Menschen, denn alle haben sie gleichermaßen nötig. Die Gleichheit vor Gott kollidiert nicht mit der faktisch-geschichtlichen Ungleichheit. Diese wird vom Staat organisiert, der zum Beispiel feststellen kann: „in eine völkische Ordnung paßt der Volksfremde nicht“ (W/28 f.). Müller unterbaut das schöpfungstheologisch: „Jedes Volk hat ein artgemäßes seelisches Grundgefühl.“ (W/34). Entsprechend fällt auch die Frage nach Gott „artgemäß“ aus. Zwar verkündet das Evangelium auch der nationalsozialistischen Weltanschauung das Gericht Gottes – „Die Endentscheidung ist noch offen und bleibt in Gottes Hand“ (W/23) –, aber dies widerstreitet nicht dem historischen Totalitätsanspruch dieses Staates (W/35). Sind alle Gläubigen auch vereinigt im „Recht des gleichen Glaubens und der gleichen Hoffnung für alle“, so begründet das für Müller noch lange nicht eine Notwendigkeit, dieser Überzeugung in der kirchenrechtlich-technischen Organisation der historischen empirischen Kirche irgendwie Rechnung zu tragen (W/48): „Die organisierte […] Ungleichheit im Bau der Kirche folgt aus der natürlichen Ungleichheit der Menschen, ist nicht bedingt in der Substanz der Kirche“, die „ungeteilt allen“ gehöre (W/49). Wer also die Regelungen des Arierparagraphen und seine Anwendung im Raum der Kirche unter Berufung auf das Evangelium angreift, zieht sich Müllers Vorwurf der Häresie zu – der falschen Gesetzesfrömmigkeit –, denn er nimmt das allgemeine Priestertum nicht wirklich
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ernst und hält offenkundig Satzungen für heilsrelevant (vgl. W/50 f.). Er macht sich, Müller zufolge, des Weiteren einer Nivellierung der schöpfungsmäßigen Ungleichheiten schuldig (W/52). Fazit: „Die Einführung des Arierparagraphen ist weder heilsnotwendig noch heilsschädlich.“ (W/53). „Wenn wir […] als deutsche Menschen unsere Art erfüllen und dabei auf das zugesagte Eingreifen Gottes vertrauen, sind wir deutsche Christen.“ (W/45). Die immanente Qualität menschlicher Praxis bleibt von diesem Vorbehalt unberührt: Wo Handlungen wirklich reinen Herzens geschehen, da sei „Reich Gottes“ mitten unter uns (W/46). Das „übervölkische Evangelium“ setzt die Erneuerung, die der Nationalsozialismus verkörpert, als „treffliche Gabe Gottes“ voraus! Es „bestätigt“ sie, auch wenn es eigentlich von dem eschatologischen Gericht kündet (W/41). Wie sehr Müller selbst seine eigene Theorie von 1932 verbiegen musste, um sich 1933 den Machthabern als besonders linientreu anbiedern zu können, mag man daraus ersehen, dass er noch 1932 in „Macht und Glaube“ jenen theologischen Ideologen eine klare Abfuhr erteilt hatte, die mit dem theologischen Konstrukt einer Schöpfungsordnung beabsichtigten, Politik zu beeinflussen: „Der Gedanke der Schöpfungsordnung gehört ins Gebet, nicht in die Politik; und zwar so ins Gebet, daß nicht dieses selbst wieder zum Politisieren mit Gottesbegriffen mißbraucht wird.“ (391) In dem gleichen Buch verfiel auch der Rassismus eindeutiger Kritik: Er sei wie alle anderen zeitgenössischen Vereinnahmungen und Verabsolutierungen als pure „Vergötzung“ „leicht durchschaubar“ (399). Allerdings fügte Müller schon in dieser Publikation die Bemerkung hinzu, es dürfe doch auch nicht unter den obligaten theologischen Vorbehalten ,alles weitergehen wie bisher‘ (400).
Nachtrag: Zur Kritik Müllers an Karl Barth Es verwundert natürlich nicht, dass Müller angesichts der heftigen tagespolitischen Gegensätze Karl Barth scharf kritisierte. Sein Argument scheint freilich auch den eigenen Ansatz zu treffen. „Die dialektische Theologie beginnt und endet im Relativismus der Werte unter dem Hinweis auf die Absolutheit der Offenbarung.“ (W/23). Der dialektische Kontrast wirke schließlich monoton, er zerbreche an seiner eigenen Abstraktheit. Barth habe „Krisis als Methode“ entwickelt: „Die zum Prinzip erhobene Selbstaufhebung des Menschen, bzw. erwartete Aufhebung des Menschen durch Gott, ist nur eine neue Art der Selbstbestätigung, der Erhebung über andere.“ (W/21). Die gewusste und gepflegte Demut sei selbst eifernd und schlage Wunden. Der Dialektischen Theologie konzediert Müller ihr genuines Recht für eine geschichtliche Situation des Durchbruchs: „Im Augenblick ihres Auftretens hatte die dialektische Theologie in Deutschland recht.“ „Sie macht Schicksalsschläge verständlich, indem sie Gottes Gericht bejaht.“ Dem entsprechend könne sie heute in anderen Ländern, in deren Kulturkrisen, durchaus angebracht sein. Ethisch, bezogen auf die Normalität einer Lebensform, sei hingegen die Dialektische Theologie der Unfruchtbarkeit zu zeihen; Müller beruft sich dafür auf eine ominöse Größe: die
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empirische Belastbarkeit des „Volkes“. Die Dialektische Theologie verdächtige alles Werdende: Länger als ein paar Jahre erträgt das aber kein Volk. Die ethischen Notwendigkeiten sind auf die Dauer stärker als das theologische Interesse am dialektischen Kontrast. Dieser […] ermangelt […] des zur notwendigen Tat hinreißenden Impulses. (W/22)
Als Folge dieser schmählichen Abstinenz von den impulsiven Taten des Volkes finde sich die Dialektische Theologie auf der Seite dessen wieder, was menschlicher Abschaum sei: „Alles Sentimentalische, Schwächliche, Verbitterte, Unwillige, Lebensunfähige drängt sich heute hinter Karl Barth“ (W/62 ff., 69 ff., Anmerkung 11). – Womöglich hatte Müller schon 1932 diese angebliche ,Dekadenz‘ im Visier, als er in den „erstarrenden Gebärden der christlich genannten Welt“ eine Menschlichkeit zu erkennen glaubte, „die nicht selten gemein ist“ (285).
E. Gerhardt Kuhlmann: Aufhebung der Theologie1 I. Fragmente einer Biografie Gerhardt Kuhlmann (1903 – 1949), Theologe u. a. in Jena, ist Zeitgenosse jener theologischen Autoren, die der Versuchung des Jahres 1933 ausgesetzt waren und deren Denkstrukturen hier nachvollzogen bzw. rekonstruiert worden sind. Diesem Autor war nur eine kurze Lebenszeit vergönnt, sodass auch seine Spuren in der Geschichte von Theologie und Philosophie nicht sehr stark ausgeprägt sein können. Dennoch kommt er hier sehr ausführlich zu Wort, denn die Radikalität seiner kritischen Hinterfragung theologischer Grundannahmen ist in jener Epoche einer schrecklichen ideologischen Verführung der Theologie unübertroffen. Dieser Denker ist wie die anderen hier erörterten Theologen dem fatalen Zeitgeist der dreißiger und vierziger Jahre ausgesetzt gewesen; das ist seiner ganzen Terminologie anzumerken, doch er hat es, anders als jene, vermocht, den Impuls einer radikal-kritischen Selbstinfragestellung der Theologie aufrechtzuerhalten. Die Biografie dieses Theologen nachzuzeichnen, ist nur unter großen Schwierigkeiten möglich. Die Quellenlage ist extrem lückenhaft. Kuhlmann hatte seit 1924 Theologie und Philosophie in Breslau, Erlangen, Rostock, Berlin und Jena studiert. 1928 erfolgte die Promotion in den Fächern Philosophie (Erlangen) und Theologie (Jena). In Jena scheinen seine zentralen Bezugspersonen der Philosoph Eberhard Grisebach und der Theologe Friedrich Gogarten gewesen zu sein. Gogarten war Pfarrer in Dorndorf/Saale in der Nähe von Jena und er habilitierte sich an der dortigen Universität 1927. Der kontinuierliche Kontakt Kuhlmanns mit Friedrich Gogarten dürfte auf die Jenaer Zeit zurückgehen. Für die Zeit von 1927 – 1948 ist eine ziemlich regelmäßige Korrespondenz mit Friedrich Gogarten zu verzeichnen.2 Der Philosoph Grisebach mit seiner radikalen Kritik an der Theologie ist insofern auch für den jungen Gelehrten Kuhlmann immer im Blickfeld, als dieser ein herausragender Gesprächspartner des Theologen Gogarten mindestens seit 1921 war. 1
Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Schrift: Theologische Anthropologie im Abriß, Tübingen 1935. 2 Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen: „Korrespondenz Kuhlmann/Gogarten“.
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Ein Briefwechsel zwischen dem Philosophen und dem Theologen aus den Jahren 1921/22 wurde publiziert.3 1932 arbeitete Kuhlmann als Assistent an der Universität in Berlin im Bereich der Systematischen Theologie. Die Neubesetzung von Professuren in diesem Bereich war damals immer auch ein Politikum und deshalb höchst umstritten. Man erinnere sich nur an Paul Tillichs vergebliche Bemühungen um eine Professur – unter Einschaltung politischer Stellen und studentischer Mobilisierungskräfte. Es steht jedenfalls zu vermuten, dass Gerhard Kuhlmann dort bereits 1932 in der diffusen politischen Konstellation aus der akademischen Laufbahn heraus gedrängt wurde. Von 1942 bis etwa 1945 ist ein akademisches Wirken Kuhlmanns in Halle/Saale bezeugt. Kuhlmann nimmt später (1946/1947) auch an der Universität Bonn eine Dozentur im Fach systematische Theologie wahr (vermutlich Lehrstuhlvertretung).4
II. Holzwege der Selbstsicherung und einige Sackgassen In dem ursprünglichen Bemühen, sich der Integrität des eigenen Daseins, seines Grundes, zu versichern, verliert sich der Mensch nur allzu leicht auf Irrwegen. Gehen wir z. B. aus von der Erfahrung der eigenen Lebenskraft als einem Potential, auf das man sich stützen kann, insofern es mehr und mehr in die eigene Verfügung wächst. Trotz aller Verfallserfahrungen im eigenen Dasein neigt das Ich dazu, auf diesem Wege Zutrauen zu sich selbst zu gewinnen als dem „Gott, der sein Sein im Kosmos richtig erfassen kann“, und zwar vermöge der „in allem Sein wirksamen Schöpferkraft der Natur selbst“. „Der Mensch ist selbst der Gott, zu dessen heimlichem Wesen er fliehen muß, wenn ihn die Sorgen des Daseins ersticken wollen.“ Die Widrigkeiten des Lebens lösen sich derart in Nichts auf, wird doch der Mensch „identisch mit der Natur selber, dem Inbegriff von Schöpferkraft“ (6 f.). Phänomenologische Analyse legt „am schlichten ungedeuteten Dasein des Menschen“ frei, wie sehr dieses schon immer zuinnerst von einer bestimmten Ausrichtung seiner Transzendenz geprägt ist, die geeignet ist, das Sinnbedürfnis zu befriedigen (16); die Extreme dieser Transzendenzbewegung bringt Kuhlmann unter den Stichworten „Sehnsucht zur Klarheit seiner selbst“ und „Wille zur Heimatlosigkeit“ zur Sprache. Diese divinatorische Kompetenz zur Selbst-Sanierung bricht Kuhlmann mit einem radikalen Ideologieverdacht auf. Schöpfungstheologie diene der Unwahrhaftigkeit des „sich selbst als seinen Gott erfassenden Menschen“ (7), sie sei bloße Verbrämung dieser falschen Identität der Selbstermächtigung. Die Lyrismen vom Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit stellen demnach nur eine Oberflächenstruktur jenes 3
Philosophie und Theologie in realer Dialektik. Briefwechsel Eberhard Grisebach – Friedrich Gogarten, 1921/22, hrsg. v. M. Freyer, Rheinstetten 1979. 4 Ich danke Herrn M. Rosin (FSU Jena) für – hier verarbeitete – Hinweise zur Biografie Gerhardt Kuhlmanns.
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religiösen Selbst dar, das sich gerade darin seiner Stärke versichert. Nimmt doch der Mensch die Gottheit in sich hinein, „um selbst der Meister in allem zu sein“. Die Subjektivierung der Wahrheit hat so gerade darin ihre Pointe, dass sie einer möglichen absoluten Infragestellung von außen den Boden entzieht. Auch hinsichtlich der theologischen Rede von „Schöpfung“ ist Heidegger für Kuhlmann der ausgezeichnete Bezugspunkt. Schöpfung meint ja ursprünglich die gehorsame „Anerkenntnis eines irrationalen Schöpferwillens“: „Der Mensch kann und darf nicht fragen, was er und warum er so ist, wie er sich vorfindet, er kann nur in Gehorsam gegen seinen Schöpfer er selbst sein.“5 Und dieser Gott beansprucht auch, den Menschen radikal in Frage zu stellen. In Heideggers Philosophie hingegen „spricht sich der Mensch das Recht und die Fähigkeit zu, so radikal in der Kraft seiner selbst nach seinem Wesen fragen zu können, daß er selbst mit dem Wesentlichen seines Seins in die Frage gerät“. Solange die Selbst-Verfehlung erkannt wurde im Horizont des göttlichen Gesetzes (also: als Sünde), war „ein Versinken in die bodenlose Tiefe gottlosen Zweifelns an dem Sinn des Seins selbst“ eigentlich ausgeschlossen. Mit Heideggers Durchbruch zur radikalen Fraglichkeit des Daseins hat sich für die Theologie die Ausgangslage entscheidend geändert: „Die Existenz eines Schöpfergottes [ist] durch das faktische Zustandekommen seiner [des Menschen] radikalen Selbstreflexion als Schein erwiesen.“6 Wer jetzt noch von ,natürlicher Theologie‘ reden möchte, „müßte zunächst die innere Unmöglichkeit solcher radikalen Selbstreflexion nachweisen“.7 Ansonsten fällt er hinter den authentischen Ausdruck des gegenwärtigen Wahrheitsbewusstseins zurück und „treibt […] Vogel-StraußPolitik“.8 Kuhlmann hat Heidegger den höchsten Rang zugewiesen – als Purgatorium für die stets anlehnungssüchtige Theologie. Mit Heidegger der Stoßrichtung folgend, die der Philosoph Grisebach angezeigt hat, legt es Kuhlmann darauf an, metaphysische Naivitäten in der theologischen Urteilsbildung bloßzustellen. Keineswegs aber macht sich Kuhlmann selbst Heideggers Perspektive zu eigen. Vielmehr grenzt er sich in schärfster Kontrastierung ab: Sofern sich das Ich, in der Leidenschaft der Existenz selbst als kosmischen Ursprung und Sinn einer Welt erfasst und darin letztlich sich selbst genügt, muss Kuhlmann diese Philosophie als eine Form des Ausweichens in das Ästhetische zurückweisen. Wovor aber weicht nun diese Philosophie zurück? Die Antwort auf diese Frage lautet bei Kuhlmann nicht anders als bei Karl Löwith oder, in unseren Tagen, bei Emmanuel Levinas: Heideggers Ontologie verfehle das Problem des „Anderen“. Dass der Andere im „Mitsein“ bei Heidegger vorkommt, ändert an der Kritik nichts; „Mitsein“ steht nach Kuhlmann für eine identifizierende Vereinnahmung des Anderen.9 In der Abgrenzung von Heidegger und Bultmann einerseits und dem Hegelschen panlogischen Idealismus an5
G. Kuhlmann, „Krisis der Theologie?“, in: ZThK 12 (1931), 139. Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 G. Kuhlmann, „Zum theologischen Problem der Existenz. Fragen an Rudolf Bultmann“, in: ZThK 10 (1929), 56. 6
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dererseits formuliert Kuhlmann seinen eigenen theologischen Ansatz, den er in Übereinstimmung mit der kritisch-ethischen Philosophie Grisebachs zu umreißen versucht: Das Grundproblem der Theologie sei nicht als eines der eigenen Existenzerfassung zu beschreiben, sondern als das einer situationsbezogenen Erfahrung der Begrenzung durch den „Anderen“. In der Konzentration auf diese Problemkonfiguration ist der Begriff des „Paradox“ nicht – wie in der Existentialontologie – auf das „Daß“ und „Wie“ des Glaubens zu beziehen, sondern auf das „Was“, also den paradoxen, unbegreiflichen Inhalt der Offenbarung. Kuhlmanns Denken umkreist ein „Geschehen“, das sich als „wirkliche Begrenzung je meines Daseins durch ein fremdes“ ereignet.10 In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt dann die Kategorie der „Anfechtung“ und, in der Konsequenz, der Begriff der „Verheißung“ einer Rechtfertigung „von außen“. Auf diese Weise könnte, meint Kuhlmann, die Christologie zum Hinweis auf das „Problem des wirklich Guten“ werden. Kuhlmann verlegt sich indes nicht aufs Entlarven einer letztendlich die eigene Lebenskraft nur genießenden Selbststeigerung. Er will zeigen, dass der Umschlag vom sogenannten Vitalismus zum sogenannten Idealismus sich im Vitalismus selbst abzeichnet. Die radikale Subjektivierung des Göttlichen impliziere eine Verabsolutierung des Einzelnen, die der Mensch gar nicht aushalten kann: „Am Ende dieses Weges steht er allein, denn der Gott ist wesenhaft einzig.“ Trotz aller Immunisierungsanstrengungen macht sich in der Dynamik des selbst-süchtigen Daseins eine Unruhe bemerkbar, die zeigt, dass es mit der angestrebten metaphysischen Selbst-Befriedigung nicht weit her ist: Eine geschärfte Beobachtung stößt auf die Spuren des Ekels vor sich selbst (8). Kuhlmann hat wie Heidegger den Herrschaftsanspruch der Subjektivität an Hand der platonischen Ideenphilosophie exemplifiziert. Scheint dort alles von einer dem Subjekt vorrangigen transzendenten Idealität abzuhängen, so fragt Kuhlmann nach dem treibenden Motiv, „in mythologischen Bildern […] ein System der ganzen Welt“ zu entwickeln (9). Wir begegnen hier einem Gedanken, den später Camus ganz dezidiert ausgeführt hat: Ein Sinn-Deutungssystem, das mir die Gewissheit vermittelt, in ein universales zweckhaftes Gefüge total integriert zu sein, enthebt mich der Konfrontation mit der Faktizität meiner ständigen Todesbedrohtheit. Totalschau als Totalverfügung, die sich über die radikale Endlichkeit des Menschen hinwegmogelt: „Der Mensch ist der Gott, der das Sein überschaut, mag er auch in Wiedergabe des Geschauten nur die Rolle der Aussagemöglichkeit der transzendenten Idee spielen. Alle Sterblichkeit fällt von ihm ab als dem Seher transzendenter Herrlichkeit.“ (9). Was den Menschen immer wieder veranlasst, in die metaphysisch-politischen geschichtlichen Totalitäten zu fliehen, ist die Angst. Der Mensch hält die radikale Einsamkeit nicht aus; so entwirft er sich seine jeweilige Welt aus dem Antrieb heraus, endlich seinen Platz zu finden „in der Geschichte seiner Familie, seines Volkes oder der Menschheit“ (39). In der Einsamkeit hingegen ängstigt sich das Ich abgründig vor seinem jederzeit möglichen Tod: „Der Geist des Menschen [aber] möchte leben“; 10
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diese leibhaftig existentielle Basis der Unsterblichkeitssehnsucht treibt zur Ausbildung der „gesamten religiösen Symbolik“ an (39). Indem aber der Mensch nach einer prinzipiellen Fassung seines Seins sucht, um es auf diese Weise in den (Be-) Griff zu bekommen, zersetzt er zugleich unwillkürlich die ihm kontingent gewährten kommunikativen Möglichkeiten. Er stilisiert sich „mit Hilfe der transzendenten Idee zur Transzendenz seiner selbst“. Der Mensch entdeckt so zwar die Idee der Transzendenz, aber aufgrund seiner Endlichkeit erfüllt er sie nie (10). Wie bei Sartre muss sich dieser Mensch zwingend als „creator mundi“ aufspielen. Dieser heroische Gestus wird ästhetisch kompensiert: Im Bezugsfeld der Idee des Schönen lässt sich der Blick von der brutalen Negativität abziehen, indem die Dissonanzen in eine sie instrumentalisierende teleologische Bestimmung der Harmonie des Seins aufgehoben werden. Dahinter verbirgt sich die zweckrationale, vom Wunschdenken diktierte Kompensations- und Verdrängungsstrategie (Kuhlmann: ,heimliches Telos‘): Die Projektion erfolgt, „um die Brutalitäten des qualvollen Daseins auf der Erde vergessen zu können“ (11). Was dem Kritiker als Flucht und Illusion erscheint, bezieht seine täuschende Überzeugungskraft aus der parasitären Verortung im Kraftfeld der Wirklichkeit: Es sind tatsächlich schöpferische Kräfte, die auch den Seinsentwurf gemäß der Idee des Schönen tragen, ihn überhaupt lebbar erscheinen lassen (12). „Die Unruhe ist das Wesen des Menschen.“ (20). Was immer in seinen Kräften steht, überführt der Mensch in Veranstaltungen, die dem „Zweck einer letzten Beruhigung der Existenz“ dienen sollen. Illusion, Traum, Selbsttäuschung: so lauten die Umschreibungen für das vergebliche Bemühen, die eifrig betriebene Beruhigung der Existenz als wahrhaftiges Werk des Gottes auszugeben. „Die geballte Wucht des Wunsches, aus dem unruhigen Sein herauszukommen, vermag, dass der Mensch gleichsam wie in einem Traum eingewiegt wird, wo er die Schmerzen der Unruhe nicht mehr fühlt.“ (21) – Solche Augenblicke des Ausruhens, als wäre man schon angekommen in einer Welt als Heimat, werden selbstbetrügerisch gern als Erscheinung der Transzendenz ausgegeben. Es sind Erfahrungsmomente, die anmuten wie „ein allen empirischen Begriffen oder Bildern Entrücktes“, wie eine mystische Grunderfahrung „vor allem Reden und vor aller Schau“ (20). Dieser Regression, den Augenblick einer Ruhepause stillzustellen, konfrontiert Kuhlmann die Anstrengung jenes Augenblicks, in dem meine Projektionswelt schmerzvoll am Gegenüber des fremden Nächsten zerschellt. Auch in jenen Fällen, in denen Menschen versuchen, ihrem Dasein ein genialisches Profil zu geben, legt es sich nahe, besondere Aufmerksamkeit der Kategorie des Augenblicks zu zollen und darauf acht zu geben, wie deren Sinn auf subtile Weise ausgehöhlt wird. Der genialische Mensch ignoriert oder überspringt das Entsetzen, das aus der negativitätsdurchdrungenen Gegenbewegung von endlicher Transzendenz-Anstrengung und absoluter Entmächtigung dieser Transzendenz resultiert; vielmehr behauptet er nachdrücklich, „in der Intuition des Augenblicks seine Transzendenz wirklich zu erfahren“ (25). Das Identitätssystem gipfelt gleichsam in der Affirmation des genialischen Ich; Kuhlmann spricht von einer ,Monumentalisierung des Individualismus‘; das genialische Ich trachtet danach, sich seiner schöpferischen Potenz durch „die Heraussetzung eines besonderen Werkes“ unmittelbar zu versichern. Diese aus der eigenen
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Selbstmächtigkeit heraus geleistete Identifikation des Absoluten und Endlichen mag durchaus den Anstoß zu einer Kollektivbildung mit religiöser Aura geben. Was in diesen Prozessen völlig außer Betracht bleibt, ist indessen jegliche Kritik des Willens zur Macht und des herrschaftsorientierten Wunschdenkens und Projizierens. Doch die Hoffnung ist trügerisch, unter solchen Umständen zu einer Beruhigung des Daseins zu gelangen; treibt doch der „innere Drang des Daseins“ sogar „zum Fragen über das Nichts hinaus“; dieser Drang zielt, so behauptet Kuhlmann, auf das ,AllEine über dem Sein und dem Nichts‘ (26). Die in der Geschichte des Denkens immer wieder einmal auftretende Apotheose des homo ludens erweckt nur den Anschein, als würde hier einer Logik der Herrschaft des Geistes bzw. einer Logik des Geistes der Herrschaft abgesagt. Man glaubt, den ganzen Belastungen und Anspannungen wirklichkeitsschwerer Existenz entrinnen zu können, indem man Zuflucht sucht bei der Verabsolutierung eines ,Prinzips des Nichts‘. Kuhlmann entzieht einer Ästhetisierung des religiösen Verhältnisses den Boden, indem er darauf besteht, es lasse sich auf dieser Ebene der Ästhetisierung kein Kriterium benennen, welches der Verwechslung des Terrestrischen mit dem Olympischen entgegenstünde. Denn im Grunde setzt die existentielle Logik des Spieles ein Subjekt voraus, „das sich für Gott hält, seine Handlungen also für olympische Spiele ausgibt“ (24). In einer Phänomenologie der idealtypischen Existenzformationen lässt sich noch eine weitere interessante Variante freilegen, in der künstliche Reflexionsabstinenz und Selbstnegation mit religiösem Anspruch einhergehen: Gemeint ist der vom „Willen zur Heimatlosigkeit“ exzentrisch Angetriebene, der im Grunde beides verachtet: das bürgerliche Streben nach Nischen der Sicherheit und das emanzipatorische Streben nach Selbstdurchsichtigkeit. Der Mensch dieser exzentrischen Orientierung „will im Grunde nichts […]. Er verschwendet sich in seinen Gesichten und gibt sich preis in seinen Taten. Er kennt sich selber nicht und denkt, daß ihn so […] der Urgrund des Seins an sich in sich gesogen habe“ (16). Gewiss, diese gelebte Unmittelbarkeit vermag die Grenzen eines gegenstandsbezogenen systematisch-kategorialen Wissens bloßzulegen, doch noch in dieser scheinbar demütigen Zurücknahme des Selbst ist nach Kuhlmann der Antrieb wirksam: Gott sein zu wollen. Denn noch dieser Selbstaufgabe liegt eine Intentionalität zugrunde, in der Kuhlmann heimlichen Hochmut am Werke sieht. Kapriziert sich dieses Ich womöglich nur deshalb auf die Idee eines Gottes, der „mehr sein soll als der Mensch“, damit es sich in der faktischen Übung seiner Demut immer von neuem einreden kann, es sei dabei, seine Abständigkeit und Vereinzelung zu überwinden (vgl. 17 f.)?
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III. Das nichtige Dasein in seiner Transzendenzdynamik Insbesondere unter dem Titel „Die Offenbarung des Nichts“ deutet Kuhlmann Daseinsanalysen an, die Sartre,11 aber in religionsphilosophischer Hinsicht auch W. Weischedel12 vorgreifen: Wir leben aus dem Nichts, unser Transzendieren zielt auf „das ewig Unerreichbare“ (20). „Ich bin gehalten vom Nichts in meiner Existenz.“ (23). Das Dasein ist „Sein in Nichts“; das Sein ist nichtig; das Nichts setzt „ständig die Existenz als ein Ich der Erfahrbarkeit aus sich heraus“. Mithin kann dieser schon immer dynamische Selbstvollzug auch nicht vergegenständlicht und so zur abgeschlossenen und damit überprüfbaren Erfahrung gebracht werden. In allen Modalitäten der Verneinung verkündigt das Ich jedoch, dass das Nichts ein schöpferisches Bedingungsmoment der Transzendenzbewegung ist (23). Von diesem Nichtigen können wir uns gar nicht distanzieren, um es vergegenständlichend vor uns zu bringen und namhaft zu machen. Allem Bestimmten widerfährt seine Bestimmung doch nur im Horizont des vom Nichts durchdrungenen Seins. Wie Sartre sieht auch Kuhlmann Freiheit als Ort des Seins, in dem das Nichts waltet: Das Nichts ist ausgezeichnet durch die Möglichkeit, im Menschen und nur in ihm von allen Erscheinungen des Seins zur Erfahrung kommen zu können. Die Freiheit wird zur Notwendigkeit. Das Nichts ist Phänomen des Daseins des Menschen im strengen Sinne. Jede Transzendenz des Menschen ist ihrer Möglichkeit nach eine solche des Nichts als des Schöpfers von Sein überhaupt. (24)
Die Macht des Daseins – und nicht die Ohnmacht – erweist sich gerade darin, „in der Erschütterung der Angst das Nichts wesenhaft als den Schöpfer des Alls zu begreifen“. Dass „die Frage nach dem Warum von Sein überhaupt“ letztlich ohne Antwort bleibt, wenn sie nur radikal genug gestellt wird, ist für Kuhlmann deshalb nicht weiter verwunderlich, „weil sie selbst schon Ausdruck eines transzendierenden Seins ist, das in sich selber Sinn und Ziel hat“. Anders gesagt: jene Grundfrage nach dem Warum von Sein überhaupt „repräsentiert selbst die Transzendenz des Daseins im Denken als der Möglichkeit, nach der Wahrheit als dem Wesen des Seins zu fragen.“13 Die logische Bestimmung eines Etwas zehrt von dem ursprünglichen Nichts im Gesamt des Seins – dessen Konstitution schon immer ,im Rücken‘ aller unserer Extrapolationen liegt. Die theologische Kategorialität von „Schöpfer“ und „Geschöpf“ ist mithin gleichfalls nur ein Ausdruck dieser Binnenstruktur unserer Daseinsverfassung. Das drückt Kuhlmann treffsicher in der Frage aus: „Wie […] kann das Nichts erfahren werden als selbst der Schöpfung unterworfen, wo es doch 11 Vgl. G. Schmidt, Der Ausgang neuprotestantischer Theologie aus der kritischen Philosophie Eberhard Grisebachs, Bern 1953. Schmidt hat in seiner Abhandlung Kuhlmann einen „Alleszertrümmerer“ genannt und sich die Frage gestellt, „ob wir es […] letztlich mit einem verkappten Atheisten zu tun haben“ (a.a.O., 300). 12 Vgl. W. Weischedel, Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, 2 Bände, Darmstadt 1971/72 (als Taschenbuch 1979). 13 G. Kuhlmann, Theologie am Scheidewege, Tübingen 1935, 25.
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selbst allererst so etwas wie Schöpfer und Geschöpf aus sich heraussetzt im logischen Sinne?“ (28). Das verkrampfte Bemühen, Transzendenz dingfest zu machen, durchdringt gerade auch die Schöpfungstheologie: „Der Mensch bildet sich ein, Geschöpf zu sein, um im Auftrage seines Gottes handeln zu können.“ Mittels seiner Einbildungskraft macht sich der Mensch also auf der Basis dieses Verständnisses von Endlichkeit tatsächlich selbst benutzbar, um dadurch eine Aufwertung des Daseins zu erreichen (25). Insofern das Logische nur aufgrund der Gegebenheit von Differenz ist, entwickelt es sich aus dem Nichts. Dieser Befund – dass daseiende Endlichkeit in ihrer Selbsterfassbarkeit als Logos dem Nichts entspringt – kann auf zwiefache Weise dem Versuch unterworfen werden, die Transzendenzbewegung in einer selbstsichernden Gründung stillzustellen: entweder der Logos „wird zum beziehungslosen Repräsentanten einer alles begreifenden Wahrheit, die darum nicht mehr endlich ist“ (24), oder – und hier hat Kuhlmann wohl Heidegger im Visier – der Mensch bringt sich in Sicherheit, indem er im Bemühen um seine Endlichkeit diese selbst als Ganzheit existential affirmieren zu können glaubt; im Modus einer logischen Ontologie ist er dann „das endliche, seine Transzendenz im Nichts als dem Ursprung des Logos bejahende Dasein“ (25). „Endlichkeit“ als ontologisch gesicherter Bestand verdankt sich demnach dem Sicherungsinteresse, ist, nach Kuhlmann, nur ,vermeintlich‘ bzw. ,eingebildet‘ (25). Der Mensch, so verstanden, hätte sich selbst endlich im Griff mittels der „Macht einer logisch bestimmten Existentialität“; sein Wesen „als konkretes Wiegottseinwollen“ wäre eingelöst. Denn auch „dem Nichts kann die Schöpferkraft noch einmal entrissen werden vom Menschen selbst“. In äußerster Verwegenheit kann sich das Ich ,für ein Nichts verschwenden‘, um so die letzte Größe und die Gewissheit eines Lebenssinnes sich selbst zu verdanken.14 Auf diese Weise entzieht der Mensch dem Nichts gleichsam heroisch die Schöpferkraft, die er sich – auch noch im Scheitern souverän – aneignet; er „verlacht noch die Drohung des Nichts“: „Er reißt sein Leben an sich und geht mit freudiger Entschlossenheit für sich selbst zugrunde.“15 Dieser im Zeichen der Selbstmächtigkeit interpretierte intentionale Charakter des Daseins ist von Heidegger ontologischmetaphysisch freigelegt worden. Für Kuhlmann ist damit die „Destruktion jeder theologisch-dogmatischen Seinsspekulation erwiesen“.16 – In seiner Schrift „Theologie am Scheidewege“ von 1935 hat Kuhlmann die ontologische Entfaltung der metaphysischen Frage durch Heidegger mit den folgenden Sätzen charakterisiert: In der freien Selbst-Wahl begibt sich das Sein als Dasein in sich hinein, um in sich selbst den Urgrund alles Seins in der Erschütterung durch das Nichts zu erfahren […]. Einen anderen Sinn kennt das Dasein nicht, als für sich selbst zugrunde zu gehen in der Einsamkeit der Fraglichkeit seiner selbst. Der Mensch ist sich selbst Offenbarung, wenn ihn die Unheimlichkeit der Dinge im ganzen erzittern läßt und die Angst vor dem Nichts durchfährt.17 14 15 16 17
Vgl. Kuhlmann, Krisis der Theologie?, 141. Ebd. Ebd. Kuhlmann, Theologie am Scheidewege, 27.
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Auch der logische Idealismus Hegels verfällt der Kritik: In ihm glaubt Kuhlmann eine abgründige Spaltung des animalischen und intellektuellen Seins entdecken zu können (vgl. 12 f.). Trügerisch wähne der Mensch, der den Grund seiner Existenz sucht, diese Aufgabe eingelöst zu haben, wenn er das eigene empirische Ich umgebildet und ausgeweitet hat zur Stätte der „Offenbarung des Logos im Logischen als die Transzendenz seiner selbst“. Wenn wir uns an diese Beschreibung halten und die Frage nach der Hegel-Philologie beiseite lassen, dann wird zumindest nachvollziehbar, dass Kuhlmann der Auffassung sein kann, ein solches Ich müsse die Durchsichtigkeit der Identität von Wahrheit und Welt mit einem totalen Seinsverlust bezahlen: „Der Intellekt des Menschen hat sich seine eigene Weltansicht geschaffen: er sieht nur sich selbst an. Dieses Dasein kreist in sich selber, welches kreisende Spiel es die einzige Wirklichkeit nennt“ (13). Auf diese scheinhafte Gestalt der Selbstdurchsichtigkeit lässt das Ich sich ein, weil es seine Faktizität an einen absoluten Grund zurückbinden will, dessen es zugleich mächtig ist. Im Modus des Wissens, der Erkenntnis, erfragt es die „ewigen Bindungen“. „Das Sein […] transformiert sich in den Kanon des Erkennens.“ Völlig Sartre-analog heißt es: „Über sich selbst hinaus fragend will er in diesem Fragen selbst seine eigene Transzendenz möglicherweise sein.“ Indem der Mensch diese Transposition auf die Ebene des reinen Wissens vornimmt, kann er sich in der Fiktion einer Objektivität und Identität von Welt ergehen, die die eine für alle sei (14). Das jeweils Nichtidentische der Gegenwart von Sein wird „restlos vom Wissen aufgesogen“. Darin verspricht sich dem so sich aus der eigenen schöpferischen Produktivität heraus transformierenden Ich eine göttliche Mächtigkeit; es gewinnt die trügerische Gewissheit, „alles in allem“ zu sein (15). Gegen diesen spekulativen Intellektualismus richtet sich der Verdacht, im Horizont einer so begriffenen Welt werde das Handeln entkräftigt, so dass „die Schwere des Seins“, das ganze Gewicht des Lebens, nicht mehr zur Erfahrung kommt (13): „Preisgabe der Existentialität“ (15). „Befreit von der Angst des Kindes erfährt er sich nun als Gott dieser Welt, die doch nur eine Illusion höheren Grades ist.“ (15). Damit scheint doch – im Gegenzug zu dieser Hegel-Sicht – alles darauf hinzudeuten, dass S. Kierkegaard für Kuhlmann besonders aufschlussreich gewesen sein muss. Und tatsächlich denkt Kuhlmann wie sein Lehrer Grisebach im Horizont der von Kierkegaard eröffneten Fragestellungen. Aber: gleichfalls wie Grisebach profiliert er die eigene Position durch distanzierende Anmerkungen zu dem Denker des 19. Jahrhunderts. Das Verhältnis zu Kierkegaard ist zwiespältig. Denker wie Kuhlmann wurden Zeugen einer sehr diffusen und zugleich enthusiastischen KierkegaardRezeption. Es verwundert nicht, dass er im Gefolge Grisebachs sich auch von der Autorität „Kierkegaard“ abzugrenzen sucht. Schließlich war durch Heidegger in der Philosophie und durch Bultmann in der Theologie der Zugang zu Kierkegaard gleichsam besetzt. Und: Kierkegaard war in Kuhlmanns Sicht auch theologisch nicht radikal genug! Wohl wird ihm gegen Hegels Idealismus zugestimmt, aber er selbst unterlag nach Kuhlmann dem Missverständnis, „die eigene dialektisch erfaßte Existenz als Selbstbewegung des Unendlichen in der endlichen Zeit zu verstehen“.18 18
Kuhlmann, Zum theologischen Problem, 49.
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Dass es Heidegger gelang, an Kierkegaard anzuknüpfen, indem er durchaus erfolgreich alle theologischen Momente ausschied und das Dasein rein aus sich selbst, ohne Inanspruchnahme der Offenbarung, als Ursprünglichkeit erfasste und auf diese Weise den Kierkegaard’schen Existenzbegriff zu Ende dachte, ist für Kuhlmann ein Ausweis der Berechtigung, Kierkegaard so scharf zu kritisieren, wie sein philosophischer Lehrer Grisebach dies bereits 1924 getan hatte.19 Kierkegaard sei eben von bestimmten philosophischen (humanistischen) Voraussetzungen ausgegangen, die er nur in das Gewand einer christlichen Terminologie gekleidet habe. Kierkegaard unterlag demnach einer Selbsttäuschung, wenn er „das Paradox seiner eigenen Existenz als das christliche ausgab“.20 Weil Heidegger die Existenzdialektik Kierkegaards erfolgreich zu profanisieren verstand, verfällt auch eine Theologie wie diejenige Bultmanns der Kritik, denn sie bezieht sich ja systematisch auf eben diese Dialektik der Existentialien und fügt sich so dem „Zirkel“ der Auslegung des Daseins aus seinem eigenen Wesenshorizont ein.21 Gerade weil Heidegger darin rechtzugeben ist, dass seine Ontologie letztlich atheistisch ist, also einer theologischen Überhöhung nicht bedarf, taugt sie nach Kuhlmann auch nicht als Fundament zur Profilierung eines eigenständigen Sinnes der Theologie. Anhand von Heideggers Philosophie lässt sich freilegen, dass die steile Theologie der Offenbarung nur schlechte Philosophie, nämlich Metaphysik ist, die den Tatbestand der Anfechtung, als ,Pfahl im Fleisch‘, ignoriert.22 Allerdings: insofern der Mensch nicht nur vorfindliche Faktizität ist, muss er die Frage nach dem Sinn stellen. „Der Mensch hat an sich die Möglichkeit, sein eigenes Existieren zu erfragen […] Der Mensch existiert in und aus der Frage nach seinem selbsteigenen Sinn.“ (14). Die fatalen Verfallsformen des Daseins ergeben sich aus der verkrampften Bemühung, das eigentliche Sein in seiner Einheit um jeden Preis sichern zu wollen. Demgegenüber stellt Kuhlmann schon frühzeitig die Frage, ob die ursprüngliche Einheit – „vor der Zerspaltung in Nursodasein und Wissen“ –, „wenn es sie gäbe“, sich überhaupt explizieren lasse. „Diese Einheit bin ich je selbst mit allen meinen Vermögen.“ Muss sie also nicht an den puren „Augenblick dieses Explizierens“ gebunden bleiben (15)? Oder ist womöglich die Reue das einzig authentische Verhältnis zu den zu kurz oder zu weit greifenden Antworten auf die Frage nach dem Seinsgrund, sozusagen: Authentizität nur im Widerruf (13)? Wie Kuhlmann „Idealismus“ und „Ontologie“ interpretiert, haben Theologie und Philosophie – trotz ganz unterschiedlicher Sprachspiele – letztlich denselben Gegenstand: den individuellen Menschen und seinen Gott23 : „Der Theos ist dann nur der Gott des individuellen Menschen, sein höchstes Ideal oder sein tiefstes Selbstverständnis“. So wie es diesem individuellen Menschen immer um seine Selbstbehauptung gehen wird, so konkurrieren auch Philosophie und Theologie 19 20 21 22 23
254.
E. Grisebach, Die Grenzen des Erziehers und seine Verantwortung, Halle 1924, XII ff. Kuhlmann, Zum theologischen Problem, 50. Ebd. A.a.O., 51, A. G. Kuhlmann, „Entweder-Oder. Eine Frage an Emanuel Hirsch“, in: ZThK 15 (1934),
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im Zeichen der Selbstbehauptung um das Interpretationsmonopol. Wo Selbstbehauptung dominiert, infiltrieren Gesichtspunkte der“ Verbündung“ und „Verketzerung“ den Diskurs und die politisierende Logik der Freund-Feind-Konfrontation wird vorherrschend. Gegen Emanuel Hirsch wendet Kuhlmann nachdrücklich ein, dass die Theologie, einmal auf dieses Niveau gesunken, wirklich, in der staubigen Arena der Politik kämpfen müsse und keinerlei Privilegien emphatisch für sich in Anspruch nehmen dürfe. Kuhlmann selbst freilich ist überzeugt, dass – wie immer auch dieser ideologische Kampf ausgehen mag – die Theologie besser daran täte, „von der Bühne der Geschichte abzutreten, ehe es an den Tag kommt, wer der sachlich Stärkere und – Berechtigtere ist: die Philosophie oder sie“. Die Theologie meint ja zuweilen, besonders radikal zu sein, wenn sie den Menschen in eine letzte Erschütterung hineintreibt „vor irgendeinem Absoluten, welches sie dann Gott nennt“. Dabei betrügt sie sich freilich nur selbst, denn die profane Philosophie vermag es womöglich sogar besser, weil glaubwürdiger, den Menschen in den „Wirbel von Verzweiflung und Glaube“ zu stürzen.24 Für eine authentische Theologie sieht Kuhlmann nur eine Aufgabe: Sie „sucht ihren Weg abseits von aller Politik, unter Umständen verfolgt, auf jeden Fall aber verlacht von ihr; in der stillen Verkündigung der Hilfe für den, der den Nächsten auszuhalten sucht, weiter nichts“.25 Solche verantwortungsbewusste Theologie besitzt nicht die Wahrheit; sie vermag, so Kuhlmann, nicht einmal zu sagen, was die Wahrheit sei. Sie ist ja eine Suchbewegung des Selbst, das darauf verzichtet hat, diesem Selbst irgendeine metaphysische Bedeutsamkeit zuzuschreiben. Indem sie in dieser Suchbewegung auf die Stimme des fremden Anderen hört, wächst der Kategorie des Gehorsams im Durchbrechen aller herrschaftsbezogenen Hierarchien ein neuer Stellenwert zu.26 Vor die Entscheidung, diese zugespitzte Perspektive lebenspraktisch zu ergreifen, sieht Kuhlmann die Theologie gestellt gerade und insbesondere durch die „nationale Revolution“. Nachdem die systematische Theologie die Systeme des Geistes durchgearbeitet hat, verfügt sie sozusagen über das Reservoir, über das argumentative kritische Potential, die Menschen vor den Herrschaftsansprüchen der Systeme und des hinter ihnen stehenden Selbst-Verständnisses zu bewahren. Für Kuhlmann ist damit die Ausarbeitung wissenschaftlicher Konzepte zur Gottesproblematik oder zur Heilsdogmatik obsolet geworden. Theologie als Wissenschaft hat sich auf „die Abwehr eines weltanschaulichen Übergriffs im konkreten Fall“ zu beschränken. Kuhlmann ist überzeugt, „die wahre Demut des Nichtwissens um die Wahrheit des Seins“ sei ständig gefährdet durch die friedensstörenden totalitären Systemansprüche in Philosophie und Theologie. Nur in der wirklichen Gemeinschaft der Menschen könne der Einzelne – eventuell! – einen Halt finden und eine Grenze, an der er sich zum „wahren Menschen“ bilden kann. In dieser Konfrontation mit dem Anderen stelle sich auch das Gottesproblem neu.27 Erst in dieser Konfrontation erfährt der 24 25 26 27
Ebd. Ebd. Vgl. Kuhlmann, Theologie am Scheidewege, 42. A.a.O., 42 f.
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Mensch „Anfechtungen“ und eröffnet sich ihm womöglich „Verheißung“.28 Dass die Wahrheit als solche zweideutig ist, hat sich für Kuhlmann als Urgegebenheit herausgestellt. „Der Wahrheitsbegriff entläßt aus sich die beiden großen Möglichkeiten ontologischer und idealistischer Seinsdeutung, ohne daß er einer von ihnen die Wirklichkeit garantieren kann.“29 Damit hat sich für Kuhlmann ein für allemal die Möglichkeit zerschlagen, zur Sicherung des Seinszugangs auf einen, schöpferischen Ursprung‘ zurückzuweisen. Die Behauptung einer Identität von Schöpfergott und Erlösergott scheint unhaltbar geworden zu sein.30
IV. Der Zusammenbruch des Gesetzes der Verallgemeinerung: Eine divinatorische Rechtfertigung des scheiternden Willens Will der Mensch die „Spiegelungen des eigentlichen Seins in der vermeintlichen Erscheinung der Transzendenz“ widerrufen, muss er „den Gott oder den Teufel […] in sich selbst überwinden“ (21). In der Offenbarung der eigenen daseins-ontologisch fundierten Sucht nach Selbstbegründung lässt sich ein Kriterium für das Göttliche oder Anti-Göttliche dieser Gründungsdynamik – Gott sein wollen – gar nicht mehr ausweisen. Allemal lautet in theologischen Kategorien die Bestimmung dieses Vorgangs als Sünde: „Erfinden selbst eigener Transzendenz“ (30). Der Logos mit seinen Inanspruchnahmen des Nichts ist einer Konstitution unterworfen, deren er trotz aller Anstrengung nicht Herr zu wird. Eine Rede von Transzendenz, die sich nicht in den Konstrukten endlicher Strukturen verfängt, bewahrt ihren Anspruch auf Wahrhaftigkeit, sofern sie sich auf eine Verdeutlichung ihres Fundamentaldilemmas im Zeichen des „sacrificium intellectus“ einlässt: Demonstrativ bricht das Ich die Macht des Logos „in einem Werk, das ohne ein dieses Sein in seiner Gesamtheit streng transzendierendes Sein sinnlos wäre“ (28). Ein Gottesbegriff oder Gottesbild, das ein für allemal Geltung beansprucht, ist also aufzugeben. Die schlechthinnige Nicht-Erfahrbarkeit der Transzendenz wird indirekt sichtbar gemacht in einem Akt der Selbstunterwerfung. „Unser Dasein mit je seiner Welt ist heimatlos in seinen illusionären Weisen, transzendent zu sein“; es ist „in sich selbst ruhelos und in die Nacht des Irrtums getaucht“ (7). Eine christlich inspirierte Problemlösung bedenkt also eine vor-reflexive Transzendenzbewegung in einem Sein, welches selbst unerfahrbar bleibt (27). „Der Mensch beugt sich in seinem Verstande als dem Inbegriff seines wissenden und wollenden Ich unter die doppelte Wahrheit, daß es nach seinem Verstande anders ist als in Wirklichkeit.“ (31). Diesem Befund entspricht das ungeheuerliche Ansinnen, in einem „fortwährenden Irresein an sich selber“ zu leben. 28 29 30
Vgl. Kuhlmann, Zum theologischen Problem, 52. Kuhlmann, Krisis der Theologie?, 143. A.a.O., 144.
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An der Verzweiflung dieser Daseinsweise offenbare sich die wesenhaft unerkennbar bleibende Transzendenz (31); in der „Uneigentlichkeit seines Daseins“ (30) umfängt den Menschen die Verheißung (Gnade), dass es bei der Verzweiflung nicht sein Bewenden haben muss. Die radikale ,Aufhebung‘ jener Intentionalität, die sich und die Welt zur Einheit formen will und damit unvermeidlich auch die anderen im Zeichen dieser Einheit vereinnahmen muss, ist das Charakteristikum schlechthin dieser ungeheuren Existenzanstrengung: Freiheit nicht einfach nur von allem herrschaftsorientierten Ehrgeiz, sondern – radikaler – von der Nötigung zur Verallgemeinerung im Sinne moralisch-praktischer Gesetzlichkeit! Dieser Mensch macht sich „frei von dem inneren Zwang seines Daseins, etwas Bestimmtes als sein Gesetz, nach welchem er angetreten (Goethe), tun zu müssen“. Das heißt letztlich: der Anspruch, durch eigene Kraft der Gestaltung das Leben zur Ganzheit vollenden zu wollen, wird preisgegeben; dies bezeugt der symbolische Akt des Sich-Beugens unter eine stets sich entziehende unbekannte Transzendenz. Nur so bleibt der Mensch dem unabschließbar Vorläufigen der eigenen endlichen Existenz treu. Die Selbstbeugung des sacrificium intellectus ist also primär und vor allem identisch mit einer gründlichen Absage an alle Intentionen auf Verallgemeinerung. Die Radikalität Kuhlmanns zeigt sich nun darin, dass er sich nicht einfach für die simple Gegenposition – eine Lebensform der Demut und Ohnmacht – aussprechen kann: Wenn das Existential des geschichtlichen Daseins der Wille zur Macht ist, dann erscheint es als naiv, einfach schlicht das Ruder herumwerfen zu wollen und das Prinzip der Machtlosigkeit zu propagieren. Jene Demut ist ja auch infiltriert von Selbsttäuschungen. Sie möchte „mit Hilfe einer religiösen Terminologie“ sich als Lebensform etablieren. Noch darin waltet ein Glaube, der gerade als „System der Macht im eigensten Sinne“ gebrandmarkt wird: Die Menschen bleiben so, wenngleich subtil, einer untergründigen finalen Logik der Selbstdurchsetzung verhaftet. Sie supponieren einen Gott/eine Idee/ein Absolutes, „an welches sich alle Menschen im totalen Sinne weggegeben haben müssen, um ihre Eigentlichkeit wiederzuholen“ (40). Kuhlmann hat erkannt, wie stark die Ressentiments der Ohnmächtigen und Schwachen sind. Aus dem intensiven Wunsch, „doch alle anderen Menschen anders haben“ zu wollen, und der Mischung aus Verzweiflung und Hass angesichts der Erfahrung, dass die anderen „nicht sein wollen, wie er will“, sucht ,der Mensch der bewussten Demut‘ in der herrschaftsfreien Kommunikation ein Mittel seiner Durchsetzung; er macht sich auf, die anderen „in der Liebe zu besiegen“ (40). Auch Machtlosigkeit, zum allgemeinen Prinzip erhoben, zehrt noch, so gesehen, in ihrer praktischen Verallgemeinerungs- und Vereinnahmungstendenz vom untergründigen Willen zur Macht. Selbstverständlich hat sich Kuhlmann der Anfrage zu stellen, inwiefern nicht das sacrificium intellectus als das letzte Werk der Demut auch nur Hybris im Gewande der Demut, also insgeheim ungeheuerliche grandiose Werkgerechtigkeit sei. Auf diesen Verdacht, auch das sacrificium intellectus könne noch einer abgründigen Selbsttäuschung entspringen, reagiert Kuhlmann etwas hilflos bzw. abrupt: Dann sei eben „alles hinfällig“; wer hier weiter und weiter frage, müsse wesensmäßig ohne Antwort bleiben, denn er wolle ja immer noch den Sinn seiner Existenz durch evidente Antworten in Sicherheit bringen (vgl. 29 ff.). Wenn sich in
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der logisch-begrifflich ausgerichteten Weltaneignung bereits der Bemächtigungswille und das triebdynamische Konglomerat von Wunschdenken und Sicherungsabsicht auswirken, wenn zudem jegliche scheinbar gelingende Erfahrung von Transzendenz zu kontrastieren ist mit der Überzeugung, gerade darin habe sich die wahre Transzendenz entzogen, dann rückt auch die christliche Heilsantwort in ein nur schwer aufhellbares Zwielicht. Denn dann bildet ja auch Jesus Christus, den der Glaube so gern als die anormale, aber doch exemplarische unmittelbare Identität des menschlichen und göttlichen Willens festhalten möchte, keine Ausnahme von jener fatalen Bemächtigungsdialektik. Jesus Christus ist dann der schlichten Dialektik von Illusion und schöpferischer Dynamik nicht entronnen (vgl. 35). Sein Leben dokumentierte zwar die radikal verstandene Absicht, „dem Gesetz seiner selbst zur Macht zu entgehen“ (41), aber er verzichtete nicht auf das Ansinnen an die anderen, sich in ein „Reich“ des Neuen, eine gemeinsame Lebensform der äußersten Machtlosigkeit also, einzufügen. Jesus machte demnach „trotzdem sein Sein zu einem Gesetz für viele, er rief die Vielen aus ihrem bisherigen Sein heraus und verstand sein von allem Sein entleertes Dasein […] als Form des Reiches des Vaters“ (41). Gerade vor diesem für Kuhlmann fatalen Hintergrund lässt sich jedoch sogar die exklusive Repräsentanz des Absoluten in Christus zur Sprache bringen: Den Schlüssel liefert die besondere Bedeutung der Kreuzigung. Bewusst hatte Jesus nicht den lebensfremden bzw. unmöglichen Ausweg des einfachen Nichtmehrwollens gewählt, denn auf diesem Irrweg würde sich ja dann der Wille zur Macht noch in einem letzten ungeheuerlichen Akt des Sich-zum-Verschwinden-Bringens bewähren (Kuhlmann verweist auf LaoTse). Jesus lebte jene Intentionalität der Machtlosigkeit: Indem der Glaube bekennt, dass die Kreuzigung zum Wesen dieses Geschehens gehört, gibt er zu verstehen, dass nur in der Erfahrung der leidvollen Betroffenheit, in der Kreuzigung der eigenen Intentionen durch andere, eine Freiheit aufgehen mag, die nicht vom Willen zur Macht vergiftet wäre: Jesus wird diesem Gedanken zufolge also zum „Hinweis darauf, daß der Mensch nur im Verhältnis zu einem anderen Menschen, der seinem Willen nicht gehorcht, frei wird von seinem je eigenen Willen zur Macht“.31 Dieses Denken, das den Absurditätsvorwurf nicht scheut und noch gegen die zwangsläufigen Verallgemeinerungsformen von Sprache überhaupt andenkt, muss es sich selbstverständlich versagen, die Überzeugung, existentiale nichtidentische Wahrheit gehe in der gesetzes-konformen Verallgemeinerung nicht auf, ihrerseits noch als allgemein evident – also als oberstes Gesetz – zu formulieren (38). Was sich so – in dem Ausgeliefertsein an den Fremden/Anderen – unvorhersehbar zeitigt, kann ja wohl – dem gesunden Menschenverstand zufolge – die Selbstauslieferung an ein allemal sehr machtbewusstes Subjekt bedeuten; es kann aber eben, meint Kuhlmann, auch bedeuten, daß dem Ich Wirklichkeit Gottes als Gemeinschaft widerfährt: „Die 31 Dazu fügt sich gut eine Äußerung Grisebachs in einem Brief an den Altphilologen Werner Jäger in Berlin: „Im Protestantismus handelt es sich um eine Ernüchterung zur Bereitschaft für ein Kreuztragen im Alltag und um eine Stärkung für den unausweichlichen Konflikt der Gemeinschaftsglieder. Nur in dieser letzteren wird uns das Reich Gottes als ,nahe‘ verkündet, während es in der Humanität als Idee in weite Ferne rückt.“ (Quelle: Grisebach-Nachlass im Universitätsarchiv Zürich).
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Gnade geschieht am Einzelnen durch das Sein des Nächsten.“ (40). In Übereinstimmung mit Grisebachs Wendung gegen einen sogenannten Idealismus vertritt also Kuhlmann die Auffassung, „daß einzig das Problem des Nächsten mir in meinem Beimirselbstsein die Frage stellt, ob ich gut oder böse handele“ (10). Die Liebe, die „in der Not des Augenblicks“ von mir gefordert ist, könne gar nicht durch transzendentale Bestimmungen getroffen werden. Ein Darüber-Reden „belästigt“ nur, es bricht die unmittelbare Praxis der Nächstenliebe (10). Kuhlmann stellt klar, dass diese Qualität unvordenklicher Kommunikation auf die Erfahrung gegenseitiger Auslieferung in der Beziehung-zu-zweit einzuschränken ist und keineswegs als tiefe Idee einer neuen „Gemeinschaft“, etwa gegenüber der zweckrationalen Organisation der „Gesellschaft“ (vgl. F. Tönnies) aufgeladen werden darf: „Wirkliche Gemeinschaft ist nur zwischen zwei Existenzen in der nackten Vollkommenheit ihres schlechthinnigen Einsamseins.“ (41). – Wieder drängt es sich auf, an Sartres Analysen der Liebe in „Das Sein und das Nichts“ zu erinnern.
V. Gemeinschaft, Gemeinsamkeiten, das „Sein In der Mitte“ Die konkrete Bezüglichkeit dieses Gegeneinander ist – wie nach allem Gesagten einleuchten dürfte – für die Beteiligten schlechthin unberechenbar. Impliziert ist damit natürlich auch die Gefahr, einer völlig irrationalen Feindseligkeit ausgeliefert zu sein. Wollen die Beteiligten dieser Gefahr entfliehen, indem sie sich gemeinsam auf ein Drittes, ihnen Äußerliches beziehen, welches sie als ihr logisch explizierbares Absolutes „Gott“ nennen mögen, verfällt sofort die zerbrechliche Praxis einer machtfreien Kommunikation. Über dieses Dritte lässt sich dann reden, es wird Gegenstand von Verhandlungen, in denen sich die beteiligten Subjekte ihrer Gemeinsamkeiten unter diesem imaginären Dritten versichern (40 f.). Sobald also der Mensch im Vergesellschaftungsprozess diese Gemeinschaft anstrebt, sie sich als Ziel strategischen Handelns vornimmt, verfehlt er sich; in Kuhlmanns radikaler Perspektive produziert dann sein Wille nur Gemeinsamkeiten, die fälschlicherweise als wirkliche Gemeinschaft ausgegeben werden (40). Offenkundig ging es Kuhlmann um die Idee einer geschichtlichen Allgemeinheit, die nicht mittels der Logik der Identität und der prinzipiengegründeten Verallgemeinerung einzukreisen wäre. Für diese geschichtliche Gegenwart wählte er den Ausdruck „Sein in der Mitte“. Gemeint ist ein Verweisungszusammenhang, in dem die an sich unerkennbare Transzendenz im Modus der Stellvertretung ihre Spur im Leben hinterlässt. Über Stellvertretung bleibt die Indirektheit der Gegenwart von Transzendenz gewahrt. Das hat zur Folge, dass keiner Institution unmittelbar religiöse Autorität zuzubilligen ist. „Stellvertretung der wesenhaft unerkennbar bleibenden Transzendenz“ (28) vollzieht sich in einem kommunikativen Raum, dessen allgemeiner Sinn gerade darin besteht, dass sich die Menschen ihre verabsolutierungswütige Partikularität verzeihen: „Alle müssen die Vergebung ihres individuellen Seins zur una sancta catholica empfangen.“ (33).
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Allein deshalb, weil hier keine alle Beteiligten bindende, zur Weltgestaltung taugende Positivität propagiert, sondern nur eine unbekannte Transzendenz vertreten wird, kann und darf der einzelne ohne Angst vor Selbstverlust sich in die ja stets vorläufigen und gerade nicht verabsolutierbaren Ordnungen dieser Kommunität einlassen (vgl. 32 f.). – Dennoch soll nicht verschwiegen werden, dass Kuhlmanns nähere Angaben hinsichtlich des sogenannten ,Seins in der Mitte‘ irritieren und nicht völlig in ein kohärentes Verhältnis zu unserem Nachvollzug zu setzen sind. Ich reihe einige Aussagen aneinander, deren unausgewiesene autoritäre Sprachgesten einer Korrektur bedürften, wenn unsere Charakteristik dieser non-konformen Sozialität zuträfe: „Das Sichverstehen als Stellvertretung wird zum Inbegriff der hierarchischen Deutung der Welt.“ (32) – Vielleicht soll dies gelten, weil das Ich erst dann, wenn sein eigener Herrschaftswille wirklich gebrochen ist, rein funktional begründete Unter- und Überordnungen frei anerkennen kann. – „Jedem Menschen wird sein Platz im Sein im Ganzen angewiesen vom Sein in der Mitte. So kann der Mensch allererst sein, was er sein soll.“ (32). „Das Sein in der Mitte beherrscht das Miteinandersein der Menschen, um in der Ordnung des politischen Lebens den Menschen in seinem Ansichsein allererst klar herauszustellen.“ (33) – Der Mensch wird womöglich dann eine Autorität und eine Aufgabenstellung, die von außen an ihn herangetragen wird, ohne Gefahr des Selbstverlustes akzeptieren, wenn er sie aufgrund seiner Selbstbeugung nicht mehr kontrastiert mit einem Ziel, das er eigentlich erreichen müsste… – zwischen der „Macht“, die sich da als una sancta catholica artikuliert, und einer Extraposition seines eigenen Bedürfnisses nach Macht zwecks Selbstverwirklichung ist insofern kein Zusammenhang herstellbar (vgl. 29 f.). Da die unbedingte Wirklichkeit der Kommunikation, die in der Begegnung zweier Menschen zum Ereignis werden kann, sofern sie sich vorbehaltlos aufeinander einlassen, sich aller Mitteilbarkeit entzieht, lenkt Kuhlmann mit dem „Sein in der Mitte“ die Aufmerksamkeit auf eine sichtbare Instanz, die sozusagen zwischen dem an sich unerkennbaren Sein der Transzendenz und den Ambitionen des natürlichen Daseins situiert ist: Diese sichtbare Instanz soll ein direkt nicht Manifestierbares repräsentieren und dadurch zum Symbol einer Infragestellung aller jener Vergesellschaftungsprozesse werden, die funktional und zweckrational am Selbstsicherungs-, Selbstbehauptungs- und Selbstverwirklichungsinteresse ausgerichtet sind. Dem entspricht gewiss die Idealvorstellung von Kirche. Da es aber allein auf die bestimmte Qualität der Institution ankommt, hat nach Kuhlmann die geschichtliche traditionelle Erscheinung konfessioneller Kirchen durchaus kein Apriori-Monopol; an ihre Stelle können irgendwelche „Bindungen“ treten, „die eine Gruppe von Menschen als Verpflichtung ansehen“ (29). (Für Kuhlmann persönlich gilt freilich, dass er in der Kirche als „Fortsetzung des Christus“ die Präsenz der wahrhaften Transzendenz, die unverfügbar in unser Dasein hineinragt, gesehen hat [2].) Die komplizierte Annäherung an diese Verbindlichkeit geht mit der Hoffnung einher, ein geschichtlicher Raum der Kommunikation werde sich unwillkürlich ergeben, in dem die Brechung des Logos (sacrificium intellectus) nicht der Selbstauslieferung an die Macht eines irrational agierenden Kollektivs gleichkäme. Die abgründige Fremdheit bleibt ja bestehen: Beugt sich das Ich auch demütig einem Anspruch, so bleibt dieser
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doch wesenhaft unerkennbar und „an sich sinnlos“ (38). Das „eigentümliche Zwischensein“, auf das die Formel „Sein in der Mitte“ hinweist, gewinnt ein berechtigtes geschichtliches Profil eben nur, sofern es bezogen wird auf das Selbst des sacrificium intellectus (29). Auf diese Weise glaubt Kuhlmann die Annahme durchhalten zu können, die Transzendenz, die ja nur vertreten wird, sei absolut gegeben und nicht bloß vom endlichen Ich aus sich heraus projiziert.
F. Erik Peterson: Der Kierkegaard-Impuls – Abschied vom Protestantismus Wie ist die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf einen vergessenen Denker wie Erik Peterson im Kontext der Gruppe bisher behandelter Theologien zu rechtfertigen? Erik Peterson (1890 – 1960) ist ein evangelischer Denker, der auf Augenhöhe mit Karl Barth und Emanuel Hirsch in Göttingen seine theologischen Konzepte entwickelte. Von 1920 – 1924 lehrte er als Privatdozent Kirchengeschichte und Christliche Archäologie in Göttingen. 1924/25 folgte er einem Ruf an die evangelisch-theologische Fakultät derUniversität Bonn für das Fachgebiet Kirchengeschichte und Neues Testament. 1929/30 kam es dann zu der für Petersons Denken und Leben fundamentalen Zäsur: er verließ die Fakultät, der er auch als Dekan vorgestanden hatte und trat im Dezember 1930 in Rom in die katholische Kirche ein. Peterson starb 1960 in Hamburg und wurde in Rom, in einem Familiengrab, beigesetzt.1 Wieder haben wir es hier mit einem Denker zu tun, für den es keinen größeren Anreger als Kierkegaard gab. Der (zu erwartende) Hinweis auf Kierkegaards tiefe Verwurzelung im Protestantismus kann einen anderen, vielleicht tieferen Sachverhalt nicht überblenden: Es geht darum, dass Kierkegaard den einzelnen Christen zur absoluten Nonkonformität, zur Existenz als wahrhaft Einzelner ermutigte. Die Frage, von welchen ,objektiven‘ Gegebenheiten sich dieser Einzelne abstößt, um den eigenen Weg für den wahrhaftigen Ausdruck seines Glaubens zu finden, ist dann gewissermaßen sekundär. So wie für Kierkegaard selbst die evangelische Staatskirche zum Stein des Anstoßes wurde, so für Peterson das Gesamtgeflecht der evangelischen Theologie im 20. Jahrhundert. Im Sich-Abstoßen von den Entwicklungen der Liberalen Theologie und ihres Bemühens, den christlichen Glauben mit dem Ethos der modernen Lebenswelt zu vermitteln (Emanuel Hirsch), und ebenso von der Radikalität der auf die 1
Ausführliche Angaben zur Biografie finden sich in dem folgenden Buch: Erik Peterson. Die theologische Präsenz eines Outsiders, hrsg. v. G. Caronello, Berlin 2012, 633 f. – dieser umfangreiche Sammelband bietet den aktuellen Stand der Forschung zu Werk und Wirkung Petersons. Dass heute Petersons Werk umfassend zugänglich ist, verdankt sich den Arbeiten von Barbara Nichtweiß, die nicht nur in einer fast 1000 Seiten umfassenden Darstellung Petersons Werk erschlossen hat, sondern auch dessen Schriften in Neuausgaben zugänglich gemacht hat. (Inspirator und Unterstützer dieser Bemühungen um das Werk Petersons war übrigens Karl Kardinal Lehmann, der in einem Aufsatz Peterson einen Theologen von gestern für die Kirche von morgen genannt hat): B. Nichtweiß, Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, Freiburg/Basel/Wien 1992.
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Symptomatik der Krise fokussierten dialektischen Theologie Barths suchte Peterson das Fundament einer klaren Affirmation des kirchlichen Dogmas zurückzugewinnen. Diese Eindeutigkeit, welche die Theologie zu orientieren hat und nicht von ihr zerfasert oder aufgelöst werden darf, fand er eher in der katholischen Auffassung von Dogma als in seiner heimischen protestantischen Kirche.2 Peterson, der auf sein Bonner Professorenamt zu verzichten hatte, ging damit einen schweren Gang: von allen guten Geistern im Protestantismus sich absetzend, fand er in der katholischen Kirche keineswegs eine komfortable Aufnahme. So wie Kierkegaard, als er zusammenbrach, mittellos war, da durch seine schriftstellerischen Aktivitäten und Drucklegungen das väterliche Erbe aufgezehrt war, so trat jener Einzelne Erik Peterson mit seiner Konversionsentscheidung 1930 und seinem Wechsel 1933 nach Rom auch einen Weg in eine viele Jahre andauernde Armutsexistenz und eine dunkle Phase der Resonanzlosigkeit an (wenngleich er im Unterschied zu Kierkegaard auf die reale Gestalt der Liebe [Heirat, Kinder] nicht verzichtete). Die von mir bei nicht wenigen Gelegenheiten betonte absolute Zweckfreiheit der Glaubenserschließung in der Existenz des Einzelnen sucht die Manifestationen dieses Glaubens davor zu bewahren, für irgendwelche Zwecke in der Welt der Gesellschaft bzw. des Politischen in Anspruch genommen zu werden. Die Wahrheit des Glaubens ist gleichsam dysfunktional. Zu dieser Grundauffassung steht der folgende Sachverhalt in einer gewissen Korrespondenz: Bestärkt durch seine intensiven Forschungen zu der Konstellation von Hellenismus-Judentum-Urchristentum bestand Peterson auf dem Fazit, der in dieser Konstellation erschlossene Glaube bedeute im Kern das Ende aller politischen Theologie. Sein früherer Bonner Kollege Carl Schmitt bezog dazu die Gegenposition. Petersons Schrift von 1935 (!) „Der Monotheismus als politisches Problem“ veranlasste Schmitt, sich in verschiedenen Schriften mit dem Theologen, dem er Respekt nicht versagte, auseinanderzusetzen.3 Der Dysfunktionalität dieser Glaubensauffassung entspricht bezüglich der Geschichte die Betonung von Diskontinuität und bezüglich der Darstellung die Würdigung des Fragments gegenüber dem System (alles genau wie bei Kierkegaard…). Für Peterson war übrigens, wie die Interpreten betonen, damit auch eine bestimmte Aufgeschlossenheit für die Mystik bzw. das Mystische im Glauben verbunden. Nach all diesen Ausführungen ist es unvorstellbar, Peterson in die Nähe einer theologischen Aufgeschlossenheit für das politisches System des Nationalsozialismus zu rücken. In der Tat ist das abwegig. Aber eine Theologie kann in ihren Intentionen und Ambitionen noch so klar gegen politische Vereinnahmung positioniert 2 Hinweis auf einige zentrale Publikationen Petersons: Göttinger Habilitationsschrift „Heis Theós“ (1924); Vortrag „Was ist Theologie?“ (1925); Traktat „Die Kirche“ (1928); Veröffentlichung einer „Trilogie“ (1935/1937) beim Verlag Jakob Hegner: „Der Monotheismus als politisches Problem“ (1935), „Das Buch von den Engeln“ (1935) und „Zeuge der Wahrheit“ (1937); Sammelband „Frühkirche, Judentum und Gnosis“ (1959). 3 Vgl. zuletzt: M. Nicoletti, „Erik Peterson und Carl Schmitt. Wiederaufnahme einer Debatte“, in: Erik Peterson, hg. v. G. Caronello, 557 – 608.
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sein – das macht doch die Überprüfung nicht überflüssig, ob es indirekte Rückkopplungen in den Zeitgeist gibt. Hier nun rückt die kleine Abhandlung von 1933 über das Verhältnis von Christentum und Judentum in den Blickpunkt des Interesses. Die Sache ist in der Ausgangslage ganz einfach: Während die Nationalsozialisten den Gedanken eines ,auserwählten Volkes‘ aus dem Judentum übernehmen, begründen sie ihre radikale Verfolgung der Juden mit Rasse-Argumenten. Ein solches Narrativ kommt für Peterson selbstverständlich nicht infrage. Die Grundlage seiner Argumentation ist eschatologisch, d. h. sie bezieht sich auf das Ende der Zeiten im Rahmen einer heilsgeschichtlichen Perspektive zwischen der Erschließung der Gegenwart Gottes in Jesus Christus und der die Geschichte abschließenden Gottesgegenwart (Wiederkunft Christi).4 Damit ist, so könnte man sagen, einer die jüdische Existenzform kritisierenden und abwehrenden Argumentation der Giftstachel gezogen. Ist das wirklich so? Reicht die hier vorgenommene Klarstellung aus, um den schrecklichen Formulierungen, die wir zitieren werden, ihre befremdliche Aggressivität durchgehen zu lassen? Ist es nicht fürchterlich naiv, zu glauben, die politische Verwertbarkeit einer solchen theologischen Rhetorik könne außer Acht gelassen werden? Verführt die tiefe Überzeugung von der reinen Zweckfreiheit des Glaubens, der Glaube sei in seinem Kern gegen die politische Vereinnahmung immun, zu einer Naivität, die man als gefährlichen Leichtsinn brandmarken muss? Gab es in der Endphase der Weimarer Republik bei den Eliten der Theologie vielleicht eine Art Selbstgefälligkeit und Betriebsblindheit, die für die politische Gefährdung des Menschen durch den Nationalsozialismus zu wenig Gespür aufbrachte und deshalb in einer gewissen Ahnungslosigkeit agierte?
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Es ist nicht gar so verwunderlich, dass manche schnellen Leser – wie zum Beispiel Giorgio Agamben – sich zu der These verstiegen, Petersons Denken sei nationalsozialistisch infiziert, seine Reflexionen zur himmlischen Liturgie der Engel und Märtyrer dokumentierten eine Art protofaschistisches Ritual. Christoph Schmidt, der Peterson als ,antivölkischen Theologen par excellence‘ charakterisiert, hat in einer gründlichen Auseinandersetzung mit Agamben diese Interpretation scharf zurückgewiesen. Petersons Konstruktion eines Zusammenhangs zwischen dem Ausbleiben der Parusie, der Existenz der Kirche und der Heilsverweigerung der Juden sei mit der antisemitischen Politik eines nationalen Führerstaates grundsätzlich unvereinbar. Zur Abstützung seiner kritischen Zurückweisung des Nationalsozialismus-Vorwurfs nimmt er ausführlich Bezug auf die jüdische Eschatologie von Franz Rosenzweig im „Stern der Erlösung“ (1921). Auch dieses Werk ordnet das Verhältnis von Juden und Christen in eine eschatologische Perspektive ein. Auch dort finden sich Passagen, in denen deutliche Drohungen formuliert werden – in der Überzeugung, dass die Christen am Ende der Zeiten sich werden bekehren müssen zum jüdischen Vater Gott… Schmidt liegt in seinem Aufsatz dar, dass die Eschatologien auf der gleichen argumentativen Ebene liegen und sich – mit den jeweils unterschiedlichen Vorzeichen – genau spiegelbildlich zueinander verhalten. Vgl. Ch. Schmidt, „Die Rückkehr des Katechons. Giorgio Agamben contra Erik Peterson“, in: Erik Peterson, hrsg. v. Giancarlo Caronello, 609 – 632.
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Im ominösen Schlüsseljahr 1933 erscheint Eric Petersons Schrift „Die Kirche aus Juden und Heiden“.5 Das Vorwort ist datiert auf den 1. Februar 1933. Dieses Datum ist mit der von Kanzler Adolf Hitler beim Reichspräsidenten von Hindenburg erwirkten Auflösung des Reichstags und der Ansetzung von Neuwahlen verbunden. Indem Peterson ausdrücklich dieses Datum in den Vordergrund rückt, regt der seinerzeit hoch geachtete Gelehrte seine Leser an, Bezüge vom Theologischen zum Politischen selbst herzustellen. Nicht um die Auseinandersetzung mit den theologischen Argumenten im einzelnen soll es hier gehen; vielmehr ist beabsichtigt, einen bestimmten Typ des theologischen Diskurses vorzustellen, der noch im 20. Jahrhundert sich an die „Logik“ Augustins und seine abschreckende Vision von Gottes Barmherzigkeit anschließt. Petersons Überlegungen zum Judentum galten damals als geradezu avantgardistisch. Das Antijüdische in diesem Text wurde kaum wahrgenommen. Betonte doch der Verfasser nachdrücklich genug, dass die Vollendung der Welt am Ende der Zeiten nur mit den Juden und nicht ohne sie vorstellbar sei – vorausgesetzt, sie bekehren sich zu Christus. Und Petersons Texte zum Verständnis der Kirche aus dieser Zeit lassen keinen Zweifel aufkommen: Kirche und Bekenntnis dürfen sich dem Wandel der politischen Herrschaftsordnung und dem Führerkult nicht anpassen, die Grenzen zwischen „Gemeinde“ und „Volk“ müssen klar gezogen bleiben und semantische Anpassungen an den Jargon der neuen Ideologie sind zu vermeiden. Politisch war Peterson mithin alles andere als naiv. Man sagt ihm nach, er habe durch Vortragsreisen und Publikationen während der NS-Diktatur sich durchaus auf subtile Weise in Form von Schrift- und Geschichtsdeutung ideologiekritisch geäußert. Besonders seine schon erwähnte Studie „Der Monotheismus als politisches Problem“ (1935) zielte mit der These von der „Erledigung jeder politischen Theologie“ darauf ab, den Missbrauch des christlichen Glaubens für politische Zwecke zurückzuweisen. Peterson entwickelt seine Gedanken wie Augustinus in Form einer Auslegung der Briefe des Apostels Paulus. Betont wird das Erbarmen Gottes, aber in Kraft bleibt ein Gottesbegriff6 schlechthinniger Willkür:
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E. Peterson, Die Kirche aus Juden und Heiden, Salzburg 1933. – Diese Schrift ist nicht sehr umfangreich, so dass in der folgenden Darstellung auf eine Angabe von Seitenzahlen verzichtet werden kann. 6 Gegen alles Abwiegeln wird hier bis in die Übernahme der Terminologie (Juden als „Gefäße des Zorns“ Gottes) schlaglichtartig die fatale Wirkmächtigkeit des fürchterlichen Augustinus-Textes sichtbar Zu dieser distanziert-abschätzigen Augustinus-Beurteilung verweise ich auf meine Ausführungen in: K. M. Kodalle, Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse, München 2013; dort das Kapitel: „Der Geist der Verzeihung und sein Schicksal im Christentum“; darin der Abschnitt vier: Erbsünde und Göttliche Gnadenwahl – Verzeihung ohne Sinn und Verstand: Augustinus, 297 – 302.
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Gott ist nicht ungerecht, wenn er Esau haßt und Jakob liebt. […] Gott wäre ungerecht, wenn er sich binden ließe, […] Gott ist also auch nicht ungerecht, wenn er scheinbar dem von ihm auserwählten Volk ein anderes Volk vorzieht; tatsächlich bleibt er sich immer gleich. Immer erwählt er ein Volk aus seiner Liebe heraus. Er läßt sich nur nicht von den Juden Bedingungen für diese seine Erwählung vorschreiben.
Während im Judentum eine natürliche Ordnung, das biologisch bestimmte Volk, im Mittelpunkt stehe, konzentriere sich die Kirche auf die geistige Ordnung. Als von Gott durch Christus zur Liebe Befreite haben die Gläubigen an der Freiheit Gottes teil; da diese Freiheit sich im Erbarmen bekundet, so sollten auch die Christen sich von der Liebe Christi gedrängt fühlen, ihre Freiheit in der Liebe zu verwirklichen. – So weit, so gut.7 Wie aber charakterisiert der Theologe nun die Gegenwart Gottes im Judentum? „In der Synagoge [also: der jüdischen Glaubensgemeinschaft] […] ist Gott gebunden.“ Die Synagoge selbst wird als „die Unfreie“ beschrieben, „die alle ihre Kinder in die Unfreiheit führt.“ Kein Wunder also ist es in der Sicht dieser Theologie, dass die Juden ein Leben der Unfreiheit und Enge im äußeren wie im inneren Sinne führen. Folglich haben die Juden es sich selbst zuzuschreiben, dass sie immer wieder in die Knechtschaft geraten. Das fleischliche Israel = die Synagoge solle dem geistigen Israel = der Kirche dienen – bis dass Israel frei werde mit der gesamten Kreatur, das heißt: bis Gott auch ,die Gefangenen Zions‘ erlösen wird. Ausschlaggebend ist, wie Peterson auf den Begriff der Auswahl, der Erwählung eingeht. Er macht klar, dass der Begriff in die eschatologische Sprache gehört, nicht in die empirisch-geschichtliche. Aber was mag das im Jahr 1933 heißen? Gewiss wird betont, die Sonderung der beiden Völker, die Berufung des geistigen Israel in der Kirche und die Verwerfung des fleischlichen Israel in der Synagoge, sei nicht etwas, was in der Weltzeit, sondern was in der Gotteszeit, in der eschatologischen Zeit vor sich geht. Aber man fragt sich, wie es wohl auf das lebensweltliche Wahrnehmen und Urteilen durchschlägt, wenn ständig mit Paulus eingehämmert wird, dass die Juden „Gefäße des Zorns Gottes“ sind, die Gott gerade noch erträgt. Gott erträgt ja das fleischliche Israel im Grunde nur so wie der Herr im Gleichnis Jesu, der sich bestimmen lässt, den Baum, den er eigentlich umschlagen lassen wollte, noch ,dieses‘ Jahr stehen zu lassen. Peterson: 7 In der Karfreitagsliturgie wird auch für die Christus ablehnenden und insofern ungläubigen Juden gebetet. Im Zentrum der innerkatholischen und katholisch-jüdischen Debatten steht hier – in begriffsgeschichtlicher und theologischer Hinsicht – der Begriff der perfidia. Welche Bedeutung ist vorherrschend: Beharrlich-störrisch im Unglauben? Oder: beharrlichstörrisch verstockt? – und dies bedeutete dann auch eine moralische Disqualifizierung. Beide Bedeutungen waren natürlich – mit unterschiedlicher Gewichtung – immer im Spiel. In der ohnehin anti-jüdisch gesinnten Volksfrömmigkeit war die moralische Disqualifizierung von der eigentlich gemeinten theologischen nicht abzuspalten. Mit Studien aus dem Jahr 1935 hat Peterson zur Begriffsklarheit und einem angemessenen theologischen Verständnis beitragen wollen. Vgl. die Untersuchung von A. Nicolotti, „Perfidia iudaica. Die schwierige Geschichte eines liturgischen Gebets vor und nach Erik Peterson“, in: Erik Peterson, hrsg. von G. Caronello, 511 – 556.
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Dieses ,noch dieses Jahr‘, das ist die eschatologische Zeit, das ist die Gotteszeit, das ist die Zeit der Langmut Gottes gegenüber den Juden. Daß die Juden noch nicht untergegangen sind, […] das ist ein Zeichen der eschatologischen Langmut Gottes, die immer noch ,dieses Jahr‘ auf die Bekehrung des fleischlichen Israel wartet.
Da verschlägt es nicht viel, dass nach Petersons Überzeugung keine Macht der Welt das Judentum wird ausrotten können. Der Jargon belegt zur Genüge, dass Peterson sich der Macht, die dieses Vorhaben trotz solcher Vorbehalte der Theologie in Angriff zu nehmen sich anschickt, voll bewusst ist. Es mutet wie eine Beschwörungsformel an, wenn Peterson insistiert, Synagoge und Kirche gehörten bis zum Jüngsten Tag zusammen. Denn ein Zweifel besteht für ihn ja nicht, dass allein die Kirche aus Heiden und Juden „zur Glorie von Gott vorherbestimmt“ ist. Dabei läßt sich der folgende Satz geradezu als Warnung an die vermessenen Ideologen des Nationalsozialismus lesen: „In der Weltzeit ist und bleibt Israel allein das auserwählte Volk, und keines der Heidenvölker kann je in das Volk Gottes aufgenommen werden oder gar den Versuch machen, die Rolle des auserwählten Volkes noch einmal zu spielen.“ So unangenehm zwielichtig der theologisch-politische Jargon Petersons ist, so läßt doch diese Aussage an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Die nationalsozialistische Ideologie eines an die Stelle des Judentums tretenden arischen Volkes ist hier eindeutig zurückgewiesen. Aber die geistige Haltung einer theologisch begründeten disqualifizierenden Überlegenheit der christlichen Kirche wird in einer Semantik vorgebracht, die uns heute vorkommt wie von einem anderen Stern. Der Geist dieser Disqualifizierung durchweht Petersons Ausführungen insgesamt. Dass Gott sein Volk nicht verstoßen hat, wird an dem ,Rest‘ deutlich gemacht, der aufgrund von Gnadenauswahl in der Kirche da ist. Die bekehrten Juden innerhalb der Kirche sind der von Gott verheißene Rest! In dem Begriff „Rest“ kommt wieder nur zum Ausdruck, „daß die Auswahl Gottes immer Gnadenauswahl ist“. Die ungläubigen, Christus nicht als Messias anerkennenden Juden sind „versteinert, verachtet, verstockt“. „Sie halten sich die Ohren zu wie damals, als der heilige Stephanus vor ihnen Zeugnis ablegte. Obwohl alle Juden von Christus wissen, stellen sie sich doch dumm.“ Sie verstellen sich und „tun so, als ob sie das Zeugnis der Kirche nicht verstünden“. Über die lebensgefährlichen Konsequenzen ihrer Verstocktheit müssen sich die Juden dann auch nicht wundern: „daß sie in die Schlinge treten, daß sie in die Falle geraten, ist geweissagt“. Der gekreuzigte Christus ist den Juden eine Falle geworden (während er den Heiden nichts als Torheit ist). Dieser Hinweis auf die Falle markiere, wie es bei Peterson nicht ohne eine gewisse Häme heißt, die „Grenze der vielgerühmten jüdischen Klugheit“. Denn das steht doch unumstößlich fest: „Jeder katholische [!] Christ ist einem noch so gescheiten Juden aus den Voraussetzungen seines Glaubens heraus überlegen.“
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Die Juden haben sich in der Schlinge verfangen. Das bedeutet freilich noch nicht, daß sie auf dem Boden liegen. Sie haben eben einen falschen Schritt getan, sie sind gestolpert und gestrauchelt. Nun hat Gott Israel, seinem Weibe, die Jungfrau, die Ekklesia, vorgezogen. Ist es zu verwundern, daß seitdem eine gewisse Hysterie zum metaphysischen Charakter des jüdischen Volkes gehört?
Neben der Hysterie, die den metaphysischen Charakter der Juden ausmacht, identifiziert Peterson eine abgründige Zweideutigkeit als weiteres Wesensmerkmal: Der Jude ist ein Feind Gottes, weil er dem Evangelium ungehorsam ist, er ist es um unseret willen, um der Heiden willen. Aber er ist ein von Gott Geliebter, um der Erwählung in den Vätern willen. So ist seine ganze Existenz zweideutig, und die Zweideutigkeit dieser jüdischen Existenz wird erst dann aufhören, wenn ganz Israel gläubig geworden ist.
Über die Steigerungsformen des göttlichen Erbarmens und dessen zeitliche Abfolge ist dieser gelehrte Theologe besonders gut informiert. Hebt er doch nachdrücklich hervor, dass das göttliche Erbarmen nicht mit einem allgemeinen göttlichen Wohlwollen zu verwechseln ist. Da gibt es Unterschiede und Steigerungen. Gott wird sich der Heiden wie der Juden erbarmen. Aber: „Es ist nicht ein zeitloses Wohlwollen Gottes, das in gleicher Weise Juden und Heiden zuteil wird, sondern es ist ein göttlicher Überschwang, der nacheinander Heiden und Juden in seinen Kreis bezieht.“ Während in heutiger Zeitgenossenschaft und Urteilsperspektive der Leser nur mit Befremden und im mehrfachen Sinne „abgestoßen“ reagiert, ist der Forschungsliteratur die These zu entnehmen, der Traktat „Die Kirche aus Juden und Heiden“ habe sogar dazu beigetragen, dass sich die Haltung der katholischen Kirche zum Judentum im positiven Sinne gravierend wandelte. Dennoch: Die Borniertheit, die den Heutigen ins Auge springt, ist leicht zu charakterisieren: ein praxisferner Vorrang des Lehrgehalts, der Wahrheitsdoktrin, der auch bei sog. großen Denkern die politische Urteilskraft verdampfen lässt. Sofern sie ihr Reden und Schreiben nicht am Respekt des individuellen Rechts eines jeden einzelnen Menschen (egal, welcher Religion er zugehört) ausrichten, scheinen sie gar nicht zu bemerken, dass und wie sie in fürchterlicher Weise einem menschenfeindlichen totalitären Regime in die Hände arbeiten. Sie schreiben über Gottes Barmherzigkeit – und merken gar nicht, dass sie politisch daran mitwirken, ,reinsten Gewissens‘ indirekt Menschen der Mordmaschinerie auszuliefern – eben durch die Art und Weise, wie sie ihn in eschatologischem, also von der Vision eines Endgerichts geprägtem Jargon bedrohen. Keiner hat so treffsicher und doch so dezent diese Vereinnahmungs- und Exklusionsmentalität bloßgestellt wie der große G. E. Lessing. Als Nathan dem Klosterbruder schildert, wie er in einem Pogrom all seine Kinder verlor und er unmittelbar danach das kleine Christenmädchen an Kindes statt aufnahm und erzog, da ruft der Klosterbruder tief gerührt und voller Hochachtung aus: „Bei Gott, Ihr seid ein Christ! Ein beßrer Christ war nie!“ Und Nathan erteilt die Antwort, welche die Differenz nicht leugnet, aber human relativiert: „Wohl uns!
Der Kierkegaard-Impuls – Abschied vom Protestantismus
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Denn was mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir zum Juden!“8 Dieser Lessingsche Durchbruch ist offenkundig geschichtlich folgenlos geblieben.
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G. E. Lessing, Nathan der Weise, 4. Aufzug, 7. Auftritt.
Nachwort: Andeutung einer theologischen Alternative Es hat sich gezeigt, wie leicht es historisch exzellent gebildeten und theoretisch versierten Exponenten der Theologie seinerzeit gelungen ist, die Zeitgeist-Impulse des neuen autoritären Führerstaates in das komplexe Gewebe ihrer Theorien zu integrieren – sehr unterschiedlich, jeder auf seine ganz eigene Weise, aber immer bemüht, die Vermittlung mit dem theologisch-traditionellen dogmatischen Denken bzw. Denken des Dogmas nicht abbrechen zu lassen. Paul Tillich und Erik Peterson – beides Theologen, die der Parteinahme für den Nationalsozialismus gar nicht zuzurechnen sind – wurden hier den Lesern mit einigen Theoriestücken präsentiert, weil sich so die Komplexität des ,Denkraumes 1933‘ in ihrer Differenziertheit zur Darstellung bringen ließ. Galt es doch, nicht nur unmissverständlich eindeutige Entwicklungen zu beschreiben, sondern die Versuchung der Theologie erfassbar zu machen. Eine moralgesättigte Abfertigung zum Abschluss dieser Studien wäre viel zu leichtgewichtig. Dass man 75 Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes nicht mehr in dieser Art und Weise denken kann, versteht sich doch von selbst. Eine ganz andere Herausforderung besteht darin, Konturen eines religionsphilosophisch-theologischen Denkens zu umreißen, welches gegenüber ähnlichen Versuchungen einer politischen Theologie, die ja zum Beispiel auch eine linke Stoßrichtung haben könnte, immun wäre. (Dabei bleibt die Artikulationsform von Kirche als Moralagentur in inzwischen weitgehend kirchenfernen Gesellschaften hier im Folgenden außer Betracht, denn das existenzielle Selbstverhältnis des einzelnen in einer irgendwie gearteten Relation zum Absoluten wird von diesen kirchlichen Aktivitäten, in denen man sich zum Beispiel um die ethische Begründung von Tempolimits sorgenvoll kümmert, ja gar nicht tangiert.) Selbstverständlich ist es möglich, aus den hier vorgestellten politisierten Theologie-Formationen die verhängnisvollen ideologischen Verknotungen gleichsam herauszukämmen, um die ,reinen‘ Denkformen des Dogmas in den vertrauten Aussagestrukturen zurückzubehalten bzw. herauszudestillieren, mit denen dann wieder zuversichtlich zu arbeiten wäre. Ungeprüft bliebe dabei, wie weit nicht diesen Denkformen selbst womöglich eine gewisse Korruptionsanfälligkeit innewohnt. Vielleicht motivierte diese Ahnung Dietrich Bonhoeffer zu seinen rätselhaften Andeutungen, es gelte, sich auf ein religionsloses Christentum einzustellen. Diese Andeutungen Bonhoeffers lassen sich als ein Gedankenexperiment charakterisieren. Gemeint ist damit die Gegenwart des Absoluten in individueller Zeugenschaft und
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Nachfolge Jesu, in der sich eine begründungsunbedürftige Souveränität bekundet und die insofern auch nicht angemessen als Kompensation von menschlichen Schwächen auslegbar ist. Erst recht ist eine Rückführung dieser Geistesgegenwart auf Strategien zur Bewältigung individueller oder kollektiver Grenzerfahrungen und Ängste unzutreffend. Eher ist bei dem von Nietzsche beeindruckten Bonhoeffer an eine nachdrückliche Bejahung des von welchen Schubkräften auch immer zerrissenen Daseins zu denken. Die Vision eines religionslosen Christentums, das nicht mehr verrechenbar und funktionalisierbar für irgendwelche Stabilisierungszwecke ist, entwickelte Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis, angesichts der drohenden Hinrichtung. Die Zeit, der in sich möglichst geschlossenen kompakten Mitteilungsform dogmatischer Theologie, hielt bereits Sören Kierkegaard, von dem einige Denkimpulse hier in gebotener Kürze aufgenommen werden sollen, schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts für überholt. In seiner Theorie ,indirekter Mitteilung‘ setzte er im Verhältnis zur göttlichen Wahrheit wie zu demjenigen, der sie zur Sprache bringt, eine soziale und psychologische Grundstruktur der Nichtidentität voraus. Ein philosophisch-theologisches Fragen und Antwortsuchen im Umkreis der Anregungen Kierkegaards wird mithin der Mitteilungsform des Gedankenexperiments einen hohen Stellenwert einräumen. Gewiss ist die Verständigung über Wahrheit immer ein kommunikativer Prozess. Daraus leitet sich die Verwiesenheit auf Gemeinschaft, auf Kirche, auf Staat ab. Doch der Personkern geht in diesen Vermittlungsprozessen nicht auf, wird nicht substanziell ,aufgehoben‘. Der Stachel der Nonkonformität hat sich in jedem kirchlich oder politisch angesagten Verallgemeinerungsprozess zur Geltung zu bringen.1 Gewiss, die nonkonforme Existenz kann sich aufspreizen, kann sich aufplustern zur negativistischen Kritikinstanz, der jeder affirmative Schritt in Vergemeinschaftungsformen im hyperkritischen Urteil zerbröselt. Aber diese Gefahr für authentische Lebensführung wird hier für weniger relevant erachtet als die Auflösung des nonkonformen Selbst in Prozessen einer nicht selten mit Begeisterung einhergehenden Formierung von Gemeinschaft bzw. Gemeinschaften, deren Absorptionskraft durch suggestive wie machtvolle politisch-religiöse Deutungsstrategien verstärkt wird. Wie auch sehr kritische Geister in diesen Sog geraten können, und welche Rolle dabei traditionelle religiöse und kirchliche Denkmuster spielen, das wurde in den hier vorgelegten religiös-politischen Konstellationen vorgeführt. In den sechs Abhandlungen wurde auch deutlich, dass die eingehende Befassung mit Kierkegaard in den Krisenjahren der Weimarer Zeit für alle relevanten Kräfte ein ,Gebot der Stunde‘ zu sein schien. 1
Das war übrigens auch ein Anliegen des radikalen Denkers Max Stirner (1806 – 1856), der wegen seines Insistierens auf einem nicht-vereinnehmbaren Personkern des Selbst auf die aggressive Gegnerschaft von Marx und Engels stieß. Da er seine Theorie der Nichtidentität ohne jede theologische Bezugnahme entwickelte, ist es nachvollziehbar, dass er in den TheologieFormationen, die in dieser Studie erörtert wurden, keine Rolle spielte.
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Der Mann, der damals in ungeheurer Radikalität seinen einsamen Kampf gegen die dänische Staatskirche und gegen eine spießbürgerliche Anpassung des Christentums geführt hatte, wurde offenbar in Zeiten des kollektiven Heroismus knapp 100 Jahre später zu einer Gestalt, in der sich der Wunsch nach eigener Radikalität und nach Heroismus spiegeln konnte. Diese Vereinnahmung im Zeichen des kollektiven Heroismus hat der große dänische Schriftsteller nicht verdient. Gerade für die Gegenposition einer freiheitlichen Selbstbestimmung in der Gegenwart des Absoluten wird er nun hier zum Abschluss in Anspruch genommen: das Selbst in absolut gerechtfertigter Nichtidentität2 – eine Grundierung des Denkens, die gegen jegliche Gestalt eines verführerischen Kollektivwahns zu immunisieren vermag.3 Sich im Gedankenexperiment auf diese ,Denkart‘ einzustellen, bedeutet, mit sehr unbequemen Situierungen im gesellschaftlichen Gefüge zu rechnen. Wenn sich eine neue Ideologie, ein neuer Fundamentalismus, ein neuer hypermoralischer Gesinnungsterror vieler Menschen in einer Gesellschaft bemächtigt, dann könnte es – so formulierte es Kierkegaard einmal – für den wahrhaft Einzelnen zur höchst unangenehmen Aufgabe werden, angesichts der Gemeinheit der Allgemeinheit als Vomitiv4 zu fungieren. Die inspirative Wirkkraft des Kierkegaard-Impulses zur Nonkonformität bewährt sich in der fundamentalen Kritik des Wunschdenkens und der Fixierung des Daseins auf Zweck und Nutzen. Was ist der Sinn von „Sinn – jenseits allen Machens“ (Adorno)? Die Auseinandersetzung ist zu führen mit im Grunde anthropologisch verankerten Konzepten der Tausch- und Zweckrationalität, die eine auf Selbstbehauptung und Selbstsicherung fokussierte Lebensführung dominieren und durchdringen. Im Grunde geht es darum, die existenzielle Fixierung auf individuelle und kollektive Ausgestaltungen der Selbst-Sicherung zu hinterfragen. Auch ein die Wissenschaft vorantreibendes Streben nach Gewissheit, kann, wenn es auch die lebenspraktischen kommunikativen Verhältnisse durchdringt, zu einer Art Austrocknung der Existenz führen, zu einer Abschottung gegen das Wagnis des Neuen, des Unverhofften, das sich als eine Erweiterung der Lebensperspektive nur zeigt, wo ein Mensch in einer Art Sprung sich aus den Netzen befreit, die aus der Sorge um die Selbstsicherung in der Lebenswelt gewoben worden sind. Dieses Existenzdenken kreist um eine Art ,befremdliches‘ Glück, das sich gerade nicht der intentionalen, also: strategischen Besorgung um ein glückendes Dasein erschließt. Leute, die sich gern als ,ganz normale Menschen‘ titulieren, müssen diese Stoßrichtung absurd finden, geht es doch um die Zumutung, die Risse im Dasein 2 Diese Formulierung bringt eine – vorsichtige – Nähe zu einigen zentralen Gedanken Adornos in der „Negativen Dialektik“ zum Ausdruck. 3 Eine differenzierte Ausarbeitung findet sich in meinem Buch „Die Eroberung des Nutzlosen. Zur Kritik des Wunschdenkens und der Zweckrationalität im Anschluss an Kierkegaard“, Paderborn u. a. 1988. 4 Brechmittel.
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nicht mit politisch-ideologischen Trostpflastern (auch nicht religiösen…) zuzukleistern, sondern in den Strukturen der Entzweiung die Leichtigkeit des Seins zu entdecken und die Dinge zum Tanzen zu bringen (Camus: „Man muss sich Sysiphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“). Religionswissenschaftler und empirisch arbeitende Religionssoziologen hätten keine Schwierigkeiten nachzuweisen, dass, wie in manchen anderen Religionen auch, es im Christentum Grundstrukturen eines religiösen Bedürfnisses gibt, das Verhältnis zu „Gott“ gerade als eines einer Garantie für letzte Sicherheit und Gewissheit aufzufassen, auch als hoffnungsvolle Kompensation „irdischer“ Erfahrungen des Leidens, der Ungerechtigkeiten, des Scheiterns. Gott als Funktion eines Bedürfnisses oder eines bestimmten Typs von Wunschdenken. Dass diese Funktionen von Religion massenhaft nachweisbar sind, steht außer Frage. Kierkegaard freilich steht an der Spitze einer theologisch-philosophischen Religionskritik, die wohl differenzierter ist als die Feuerbach-Marxsche. Das ,Überschüssige‘ des im Kierkegaard-Denkanstoß umkreisten Sinn-Horizontes ist nicht beweisbar, sondern es bezeugt sich im Inkognito einer authentischen Lebensführung, die allerdings im Ausnahmefall, gefordert durch die Umstände und die niederträchtige Mediokrität, auch gesellschaftlich-politisch als Mut zum nonkonformen Handeln gegebenenfalls auch historisch in Erscheinung tritt. Dem Urteil der sozialen Umwelt ist dann übrigens am wenigsten zu trauen. Nicht die Zeitgenossenschaft, erst die Nachwelt weiß eine solche Person womöglich angemessen zu würdigen (vgl. den Fall Dietrich Bonhoeffer). Aber auf diesen Zuspruch, auf diesen Beifall derer, die in der gefahrvollen Situation es vorzogen, in Deckung zu bleiben, legt der Einzelne, der – entschlossen zum Widerstand – aus dem Inkognito heraustritt, auch gar keinen Wert. Er weiß sich in seiner Freiheit absolut gerechtfertigt. Für dieses ,Überschüssige‘ finde ich im Blick auf die soziale Umwelt keinen anderen Begriff als den des Bezeugens, des Zeugnisses. Die kritische Verstandesreflexion bleibt hier allerdings unbefriedigt. Sie hat sich abzufinden mit einer alle Theoriekonstrukte überschreitenden, absolut gegründeten Freiheitsdimension. Setzte sich im 20. Jahrhundert auch die Überzeugung durch, das Absolute sei gleichsam „verhängt“ – man vergleiche Kafkas Werke und seine Tagebücher –, so lässt sich mit eben diesem Schriftsteller das Problem einer für jede Zeitgenossenschaft neu in Angriff zu nehmenden Einkreisung absoluter Nonkonformität in einem bündigen Satz aus den „Nachgelassenen Schriften“ zusammenfassen: „Glauben heißt: das Unzerstörbare in sich befreien oder richtiger: sich befreien oder richtiger: unzerstörbar sein oder richtiger: sein.“5
5 The Kafka Project, Unpublished manuscripts: Fall 1916–Spring 1918, Oktavheft G (II, 2), Eintrag vom 31.11./1.12. 1917. – Kafka notiert in diesem Kontext einen offenbar als Präzisierung gemeinten Hinweis: „Das Wort ,sein‘ bedeutet im Deutschen beides: Dasein und Ihmgehören.“
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Was dieser Aphorismus besagt, wäre im Erfahrungshorizont einer aktuellen Zeitgenossenschaft in philosophischer Gründlichkeit zu erschließen. Wer sich als Einzelner darauf einließe, der entdeckte zuvörderst, dass kein Kollektiv, kein angeblich ,wahrhaft Allgemeines‘, ihm die riskante Erkundung des Grundes seiner Existenz abnehmen kann. Dass aber Kierkegaard für diese Suchvorgänge und die in ihnen erhoffte Entdeckung eines Sinngrundes der Existenz das Terrain am gründlichsten bearbeitet hat, scheint mir außer Frage zu stehen.6 Wenn eine Theorie absolut resistent erscheint gegen jeglichen Infekt des Massenwahns, dann ist es diejenige des dänischen Schriftstellers. Es bleibt darum ein rätselhafter und nach wie vor irritierender Befund, dass um 1933 Theologen diesen Denker zu schätzen wussten, die doch bereit waren, die nationalsozialistischen Vorstellungen von Machtergreifung und Führerstaat theologisch zu rechtfertigen.
6 Eine literarische Selbstbespiegelung der Subjektivität, die verdient, in einem bestimmten Sinne „kierkegaardianisch“ genannt zu werden, ist das Werk des Portugiesen Fernando Pessoa (1888 – 1935). Dieser Autor verfasste wie Kierkegaard seine Werke unter einer ganzen Reihe von Pseudonymen bzw. Heteronymen, aber auch unter dem eigenen Namen, wobei unter „Pessoa“ im portugiesischen auch „Person“ ebenso wie auch „Niemand“ verstanden werden kann. Das zentrale Werk ist „Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares“. „Das Buch der Unruhe“ ist ein außerordentliches Werk der Weltliteratur, das sich aus vielen einzelnen Notizen, Beobachtungen, Reflexionen zusammensetzt. Radikaler als bei Camus und Sartre, tiefgründiger und komplexer als bei Joyce oder Beckett entfaltet sich hier literarisch ein Selbst, dessen Wahrnehmungen und Deutungen radikal in der Nachfolge eines Kierkegaard stehen – allerdings mit dem alles entscheidenden Unterschied: der Löschung eines das Ich in seiner ,Nichtidentität‘ zentrierenden Transzendenz-Bezuges. Zeitgenossen, die Kierkegaards enorme Anstrengung, die säkular entwickelte Subjektivität im Gottesverhältnis zu halten, befremdlich finden oder diese Anstrengung in verbissenem Agnostizismus für überholt erachten, ist dieses wahrhaft unerschöpfliche Buch – ein Schlüsselwerk der Moderne – zu empfehlen.