Die Vernunft der Erfahrung: Eine pragmatistische Kritik der Rationalität 9783787333271, 9783787331918

Die moderne Philosophie steht im Schatten des Skeptizismus: Alle Wissensansprüche scheinen fallibel, alle Theorien nur v

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German Pages 356 [357] Year 2018

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Die Vernunft der Erfahrung: Eine pragmatistische Kritik der Rationalität
 9783787333271, 9783787331918

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Die Vernunft der Erfahrung Eine pragmatistische Kritik der Rationalität Jörg Volbers

Meiner

Jörg Volbers

Die Vernunft der Erfahrung Eine pragmatistische Kritik der Rationalität

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3191-8 ISBN eBook: 978-3-7873-3327-1

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © Felix Meiner Verlag Hamburg 2018. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, s­ oweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werk­ druck­­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Autonomie und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Formale Vernunft: Der Erfahrungsbegriff des Wiener Kreises. . . 55 Kritik der formalistischen Erfahrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Rehabilitierung der Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Zwischenreflexion: Der Ort der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Die pragmatistische Transformation der Erfahrung . . . . . . . . . . 221 Die Möglichkeit der Autonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

Einleitung »Wissenschaft aber und Kunst gehen für den Menschen aus der Erfahrung hervor.« Aristoteles

§ 1  Die vorliegende Untersuchung verteidigt die moderne These, dass wir die menschliche Vernunft als die Fähigkeit zur Kritik verstehen können. Dieser Zusammenhang von Kritik und Vernunft kann auf mindestens zwei Weisen konzipiert werden. Eine Möglichkeit ist, die kritische Fähigkeit der Vernunft als ein spezifisch rationales Vermögen zu erläutern. In dieser Perspektive steht das kritische Denken dem Menschen als gegebenes Potenzial zur Verfügung, und es kommt philosophisch vor allem darauf an, dieses Potenzial reflexiv zu identifizieren. Diese Untersuchung nimmt einen anderen Standpunkt ein. Sie argumentiert, dass die kritisch zu verstehende Vernunft sich nur durch Erfahrung konstituiert – durch konkret situierte, praktisch und körperlich vermittelte Erfahrungsprozesse. Die Erfahrung kann damit nicht als ein bloßer Gegenstand einer kritisch zugreifenden Vernunft verstanden werden. Sie ist als die praktische Form selbst zu verstehen, in der allein Kritik sich verwirklicht. Erst in dieser Perspektive, so die hier entwickelte Argumentation, kann die moderne These Fuß fassen, dass die m ­ enschliche Vernunft als eine kritische Vernunft verstanden werden sollte. Das Thema der Kritik ist ein ständiger Topos der modernen Philosophie. Angefangen mit Kants Behauptung, »das eigentliche Zeitalter der Kritik« (KrV A, 9) sei angebrochen, bis hin zu Latours (Latour 2004) skeptischer Zeitdiagnose, die Wertschätzung der Kritik sei umgeschlagen in eine selbstreferentielle Kultur des Hinterfragens, spielt die Frage nach der Natur und der Legitimation von Kritik immer wieder eine zentrale Rolle in der philosophischen Selbstverständigung.1 Ein wesentlicher Grund dafür, dass die Kritik Zur Begriffsgeschichte von »Kritik« vgl. immer noch : Röttgers 1975.

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so stark diskutiert wird, liegt in ihrer Verbindung zu dem ebenso modernen Leitthema der Autonomie. Kritik ist so relevant, weil sie die Möglichkeit einer selbstständigen Stellungnahme verspricht, in der die Vernunft allein darüber bestimmt, ob ein Urteil gerechtfertigt ist oder nicht. Vernunft in diesem kritischen Sinne ist nur sich selbst verpflichtet, ihrem eigenen Gesetz, und nicht etwa einer äußeren Autorität oder dem Wunschdenken. Hier wird die Position vertreten, dass das moderne Interesse an der Kritik sich aus der Tatsache erklärt, dass die recht verstandene Kritik sachgebunden ist. Bei aller Kritik an der Kritik steht sie für das Versprechen, der Sache selbst ihr Eigenrecht zu lassen. Auch dieser Gedanke findet sich bereits bei Kant, dessen Kritik der Vernunft ja die Kritik einer Meta­physik ist, die keine kontrollierbare Sachbindung mehr kennt und daher in ein »bloßes Herumtappen« verfällt. Diese Kritik ist eine Selbstkritik und damit die Ausübung der Autonomie zum Zwecke der stärkeren Sachbindung des Denkens. Eben dieser Zusammenhang wird durch den Fokus auf den Erfahrungsbezug des Denkens sichtbar. Kritik ist nicht das beliebige Spiel von Meinung und Gegenmeinung, noch spricht sich in der Vernunft die Autorität einer allzu selbstsicheren Aufklärung aus, die letztlich alles, was ihr nicht ähnlich sieht, blindwütig unterdrückt und verwirft. Die hier eingenommene Position sucht also einen Kurs zwischen der Skylla einer nur noch selbstrefenziellen Postmoderne (Rorty 1979) und der Charybdis einer allzu negativen Dialektik der Aufklärung (Adorno 1966). Die kritische Vernunft muss, so die These, als eine in der Praxis durch die Erfahrung konstituierte Form der gebundenen Freiheit verstanden werden : Gelingende Kritik befähigt dazu, sowohl die Möglichkeiten als auch die Zwänge zu begreifen, die für den je gegenwärtigen Spielraum des Denkens und Handelns von Relevanz sind. Diese gebundene Freiheit ist eine Vernunft der Erfahrung, insofern sie sich der Erfahrung nicht entgegengesetzt, sondern im Gegenteil auf sie verwiesen bleibt. Kritik muss, ja darf sich nicht von der Erfahrung isolieren, um sich als autonom zu begreifen. Die kritische Selbstbestimmung des Denkens, seine Autonomie, ist nur durch Erfahrung möglich und wirklich. § 2  Damit ist die hier eingenommene Position grob umrissen. Die vorliegende Untersuchung entwickelt dieses Verständnis der kriti8  |  Einleitung 

schen Vernunft, indem sie nacheinander fünf philosophische Posi­ tionen des 19. und 20. Jahrhunderts sichtet : Den Logischen Empi­ rismus Carnaps, die postanalytischen Empirismuskritiken von Davidson und McDowell sowie die Erfahrungskonzeptionen der Pragmatisten Peirce und Dewey. Alle fünf nehmen Stellung zu der Frage, wie das Verhältnis von Vernunft und Erfahrung bestimmt werden muss. Sie alle verstehen ihre Position als eine Artikulation und Anerkennung der modernen Idee, dass Erfahrung zur Kritik befähigt. Der Erfahrungsbezug ist somit der rote Faden, der die Diskussion dieser Positionen miteinander verbindet und es erlaubt, sie auch systematisch aufeinander zu beziehen. Deweys pragmatistische Philosophie der Erfahrung ist nicht nur das Ende, sondern auch der vorläufige Abschlusspunkt dieser Untersuchung. Dewey konzipiert Kritik konsequent als eine praktische Form der gebundenen Freiheit, als die situierte und erfahrungsgeleitete Praxis der inquiry (dt. »Untersuchung«). Seine Position entspricht somit dem, was hier als systematisches Desiderat einer Erläuterung der Kritik vorgestellt wurde : Für Dewey gewinnen wir Autonomie nur in der Praxis durch Erfahrung. Doch es geht in dieser Untersuchung nicht primär darum, ­Deweys Verständnis der Kritik als Erfahrung zu entwickeln. Dazu hätte es ausgereicht, sich nur mit Dewey zu beschäftigen. In der hier entworfenen Konstellation wird Deweys Position erkennbar als eine mögliche Antwort auf eine allgemeine moderne Pro­blemlage, die weit über den Pragmatismus hinausgeht. Durch die differenzierenden Bezüge auf andere mögliche Positionierungen wird Deweys Philosophie der Erfahrung nicht einfach als eine sachlich angemessene Position hingestellt, sondern an der Sache selbst gemessen. Die historische Breite der hier vorgenommenen Untersuchung – mit Autoren von 1870 bis zur Gegenwart – lässt verständlich werden, dass die hier in den Blick genommenen Positionen gemeinsame Antworten auf eine geteilte Pro­blemwahrnehmung sind. Ein Pro­ blem, das sich nicht nur linear in der Entwicklung einer philosophischen Tradition entfaltete (wie etwa der analytischen Philosophie), sondern über die jeweiligen Traditionszusammenhänge hinaus geht und sie verbindet. Die Vielfalt der gegebenen Antworten und ihrer systematischen Bezüge untereinander lässt deutlich werden, dass die hier behandelten Autoren sich alle – auf je eigene Weise, und Einleitung  |  9

mit jeweils guten Gründen und Argumenten – mit dem Pro­blem beschäftigen, das hier im Vordergrund steht : Das moderne Pro­blem der Kritik. § 3  Zwei Ergebnisse dieser detaillierten Diskussion sollen hier, zum Zwecke der Einleitung, vorausgeschickt werden. Sie helfen die interne Gliederung dieser Studie nachzuvollziehen, also die systematischen Beziehungen, die die hier verhandelten Autoren untereinander einnehmen. Die erste wichtige begriffliche Unterscheidung, die in dieser Untersuchung vorgenommen wird, ist die Gegenüberstellung eines formalistischen Ansatzes zur Erläuterung des Verhältnisses von Autonomie und Erfahrung und seiner postformalistischen Kritik. Dieser Unterschied beschreibt das Verhältnis zwischen der ersten detailliert untersuchten Position, dem Logischen Empirismus, zu den restlichen Autoren, ob nun postanalytisch oder pragmatistisch : Während der Logische Empirismus das Denken formalistisch beschreibt, vertreten die anderen Autoren die Auffassung, dass mit einem Formalismus die kritische Autonomie gerade nicht zu fassen ist. Der Begriff des Formalismus dient dabei zunächst nur einer Charakterisierung des Logischen Empirismus’ von Rudolf Carnap. Dessen Position hat in der vorliegenden Untersuchung die Funktion, exemplarisch aufzuzeigen, wie das Kritik ermöglichende Ver­ hältnis von Autonomie und Erfahrung nicht konzipiert werden kann : Der Logische Empirismus, so die hier vertretene These, missversteht die notwendige Verbindung von Kritik und Erfahrung auf eine charakteristische Weise. Für ihn ist die Erfahrung immer nur ein Gegenstand rationaler Bezugnahmen, der dem Denken zur weiteren Reflexion gegeben ist. Obgleich der Logische Empirismus sich von dem Subjektbegriff des klassischen britischen Empirismus verabschiedet hat und die wissenschaftliche Vernunft als eine intersubjektive sprachliche Praxis konzipiert, hat er strukturell das gleiche Erfahrungsverständnis. Die Wissenschaft, wie sie der Wiener Kreis konzipiert, bedient sich der Erfahrung und bleibt damit immer auf Distanz zu ihr, was schließlich zwangsläufig in den Skeptizismus mündet. Anders gesagt : Erfahrung bleibt hier ein lediglich kontingentes Moment einer formalistisch abstrakten Vernunft. Dieser formalistisch zugespitzte Empirismus ist der Kontrapunkt, von dem 10  |  Einleitung 

sich alle anderen hier diskutierten Positionen – von Davidson bis zu Dewey – kritisch absetzen. Carnaps Formalismus lässt das hier verhandelte Pro­blem in aller Deutlichkeit zu Tage treten : Für ihn sind die logischen Beziehungen des Denkens reine Strukturbeziehungen, die für sich genommen keinen konstitutiven Bezug zur Wirklichkeit aufweisen müssen. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion wird für ihn im Medium der formalen Logik realisiert, in Form von objektiv definierbaren Theo­ riesprachen und Strukturbeschreibungen, die in der intersubjektiven Praxis der Wissenschaft vorgeschlagen und reflektiert werden können. Die Logik ist für Carnap das eigentliche Versuchsfeld der Wissenschaft, auf dem unterschiedliche Strukturen entworfen werden können, die sich dann erst in der konkreten Konfrontation mit der Erfahrung (durch Protokollsätze) bewähren. Dieser Formalismus ist somit deutlich identifizierbar als eine ebenso moderne wie pro­blematische Artikulation der Kritik : Die konsequente Trennung von formaler Logik und empirischem Inhalt soll gleichermaßen die Freiheit der rationalen Selbstbestimmung wahren wie auch die kritische Bindung durch die Erfahrung verteidigen. Carnaps Formalismus scheitert, wie ich zeigen werde, auf mehreren Ebenen : Als Beschreibung der Wissenschaft ist er zu theo­rie­ lastig und als Beschreibung der Autonomie führt er in den Skeptizismus. Der Logische Empirismus hat also ein Pro­blem mit der doch eigentlich von ihm offensiv behaupteten Sachbindung der wissenschaftlichen Vernunft. Dieses Pro­blem verdichtet sich – und das lässt den Wiener Kreis zu einem so guten Ausgangspunkt für die weitere Diskussion werden – im Erfahrungsbegriff. Der Formalismus kann nicht erläutern, wie die objektiv »gegebene« Erfahrung verbindlich für das Erkennen sein kann und dabei dem Denken die Möglichkeit belässt, sich kritisch auch von der angemaßten Autorität der Erfahrung zu distanzieren. Auf diese Weise lässt der Formalismus erkennbar werden, dass im Namen der Kritik zwei konfligierende Forderungen an die Erfahrung herangetragen werden : Die Erfahrung soll das Denken verbindlich leiten und ihm zugleich doch die Distanz gewähren, ohne die es sich nicht als eine kritische Ratio­nali­tät verstehen kann. Am Formalismus wird damit gerade der Konflikt erkennbar (und artikulierbar), der die ganze weitere Diskussion bestimmt : Der Konflikt zwischen der Autonomie des Einleitung  |  11

Denkens und der gleichzeitig erforderlichen Sachbindung durch die Erfahrung. § 4  Dieser vom Formalismus aufgeworfene, aber nicht gelöste Konflikt zwischen Autonomie und Erfahrung ist das Leitmotiv der weiteren Diskussion. Alle weiteren besprochenen Positionen sind Versuche, zu diesem Konflikt Stellung zu nehmen. Mit dieser Feststellung kommen wir zu der zweiten zentralen begrifflichen Unterscheidung, die diese Studie strukturiert : die Frage, ob dieser Konflikt als ein Pro­blem wahrgenommen wird, das gelöst werden muss, oder aber als ein Konflikt, den eine Theo­rie der kritischen Vernunft anerkennen sollte. Während die hier verhandelten postanalytischen und pragmatistischen Autoren zwar unter dem Banner des Postformalismus vereint werden können, wird durch den Blick auf den Erfahrungsbegriff ein maßgeblicher Unterschied zwischen ihren Ansätzen sichtbar. Summarisch formuliert : Während die postanalytische Philosophie, der Tradition des Logischen Empirismus folgend, die Erfahrung weiterhin als einen Gegenstand des Denkens thematisiert, begreift der klassische Pragmatismus den Konflikt zwischen Autonomie und Erfahrung als einen praktischen Konflikt in der Erfahrung selbst. Die postanalytische Philosophie orientiert sich an einem, wie ich es nennen möchte, deklarativen Erfahrungsbegriff. Die Erfahrung wird an dem Paradigma des Zeigens thematisiert. Erfahrung ist danach das, worauf wir – zum Beispiel in Diskussionen oder Experimenten – hinweisen können. Ein Indiz für ein deklara­tives Erfahrungsverständnis ist, wenn die Diskussion sich immer an konstativen Sätzen der Form »das ist rot« oder »dieser Würfel« orientiert. Das ist der Sinn der »Deklaration« : Es geht darum, den rationalen Gehalt dieser Erfahrungen festzulegen, so wie auf einem Paket deklariert wird, was in ihm steckt. Der Logische Empirismus hat diese Richtung vorgegeben, indem er alle für die Kritik relevante Erfahrung auf »Protokollsätze« beschränkte ; doch auch noch M ­ cDowells formalismuskritische Philosophie orientiert sich, wie ich in dem entsprechenden Kapitel zeige, weiterhin an diesem deklarativen Grundverständnis. Das schwerwiegende Pro­blem dieser deklarativen Erfahrungskonzeption ist, dass sie die zeitliche Dynamik der Kritik nicht zu 12  |  Einleitung 

erläutern vermag. Sie thematisiert Erfahrungsurteile immer nur als Einzelereignisse. Diese Einschränkung erzeugt eine systematische Blindheit : Der deklarative Ansatz kann erläutern, wie wir im Urteil die Erfahrung bestimmen, aber nicht, wie die Erfahrung uns – also das Denken – bestimmt. Dadurch aber wird die behauptete Sachbindung durch die Erfahrung immer noch zu einseitig gefasst. Solange die Erfahrung als ein passives Ereignis vorgestellt wird, dessen Gehalt »deklariert« wird, ist der Formalismus noch nicht wirklich überwunden. Dieses Pro­blem wird greifbar durch den Kontrast mit dem Verständnis der Erfahrung, das der klassische Pragmatismus als Gegenvorschlag unterbreitet. Der pragmatistische Ausgangspunkt zur Erläuterung des rationalen Weltbezugs ist nicht der zu deklarierende Erfahrungsgehalt, sondern die Erfahrung, die wir nicht verstehen. Was Peirce »irritation of doubt« und Dewey »indeterminate situation« nennt, sind Erfahrungen, auf die sich eben gerade nicht erklärend hinweisen lässt. Sie sind vielmehr in ihrem Gehalt immer erst unbestimmt, es kann noch nichts deklariert werden. Gerade in dieser Unbestimmtheit findet der Pragmatismus aber die konstitutive Verschränkung von Autonomie und Erfahrung : Die Unbestimmtheit der Erfahrung lässt sie überhaupt erst zu einem Pro­blem wer­ den, so dass die kritische Reflexion, die sich des Pro­blems annimmt, von vornherein mit ihr verbunden ist. Die pragmatistische Erläuterung der Vernunft setzt also nicht bei einer Konfrontation der Vernunft mit der Erfahrung an, sondern bei der Praxis, durch die diese unbestimmte Erfahrung erst eine sinnhafte Gestalt gewinnt. Das ist die Praxis der inquiry. Die pragmatistische Kernthese ist, dass diese Praxis sich sachlich zu binden vermag, wenn sie sich der als unbestimmt erfahrenen konkreten Situation zuwendet und von ihr affizieren lässt. Die Praxis der inquiry ist eine Praxis der Artikulation der Erfahrung, die dann gelingt, wenn sie die pro­blematische Erfahrung in ihre Praxis mit einbezieht, anstatt nur über sie zu urteilen.2 Die artikulativ-transformative Auffassung der inquiry ist nicht zu verwechseln mit Brandoms (1994) neopragmatistischer Strategie, bereits logisch wirksame Normen zu explizieren. Das Resultat der inquiry legt keinen verborgenen Gehalt der Erfahrung frei, sondern nimmt, in gebundener Freiheit, Stel2

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Anschaulich greifbar wird dieses pragmatistische Grundverständnis in der wissenschaftlichen Praxis des Experiments. Das Experiment wird von Peirce und Dewey als eine Praxis der bewussten Manipulation von Erfahrungen verstanden. Diese Praxis vermag das Verständnis des Gegenstands zu erweitern, indem sie neue und womöglich überraschende Zusammenhänge in der Erfahrung – etwa durch den Einsatz von Instrumenten – provoziert. Denken wird in dieser pragmatistischen Perspektive somit nicht als eine rein kognitive Operation begriffen, sondern als ein Eingriff in die irritierende Situation selbst, als eine Veränderung der Erfahrung durch die konkrete Praxis der inquiry. Damit markiert der pragmatistische Gegenbegriff zum deklarativen Verständnis der Erfahrung ein transformatives Verständnis der Erfahrung. Der Konflikt zwischen den beiden Forderungen an die Erfahrung, deren Unvereinbarkeit der Formalismus so klar bloßlegt, wird in dieser pragmatistischen Perspektive in der initialen Erfahrung der Unbestimmtheit selbst verortet. Anders als im Formalismus und bei den hier behandelten postanalytischen Philosophen fordert der klassische Pragmatismus nicht dazu auf, diesen Konflikt aufzulösen, sondern begreift ihn als das eigentlich kontrollierende Moment der sachgebundenen Praxis der Kritik § 5  Mit dem Kontrast zwischen dem deklarativen und dem transformativen Erfahrungsbegriff ist die zentrale These und das Ergebnis dieser Untersuchung benannt : Erst die Anerkennung, dass der Konflikt zwischen Autonomie und Erfahrung einen konstitutiven Teil der Erfahrung darstellt, ebnet den Weg zu einer angemessenen Artikulation der Kritik. Denken und Erfahrung sind in der Erfahrung konflikthaft aufeinander bezogen. Der Pragmatismus beschreibt diesen Zusammenhang mit der These, dass Ideen, Vorstellungen und sprachliche Bedeutungen einen irreduzibel antizipa­ tiven Charakter haben. Eine Überzeugung zu haben, heißt demnach, bestimmte praktische Konsequenzen zu erwarten. Erfahrung ist, dass sich diese Erwartungen nicht, oder nicht in der Form, erfüllen. In der hier eingenommenen Perspektive wird deutlich, dass lung zu ihr. In der inquiry verändert sich sowohl das Bezugsobjekt als auch das Subjekt der Stellungnahme. 14  |  Einleitung 

diese Diskrepanz zwischen Erwartung und Erfüllung rationalitätstheoretisch zu lesen ist. Der pragmatistische Hinweis auf die Spannung von Erwartung und Erfüllung soll uns nicht dazu ermuntern, bessere Erwartungen zu fassen.3 Im Gegenteil ist es gerade diese Diskrepanz, die uns erst zu denken erlaubt. Sie drückt eine Spannung aus, die konstitutiv ist für denkende, und d. h. hier : sich in der Erfahrung orientierende Wesen. Um diese Neuperspektivierung der Kritik konsequent zu artikulieren, ist es erforderlich, über die vom Formalismus gezogenen thematischen Grenzen hinauszugehen. Das ist eine weitere zentrale Einsicht der vorliegenden Untersuchung : Die postformalistische Kritik am Erfahrungsbegriff weist über sich selbst als philosophisches Thema hinaus. Um den Konflikt von Autonomie und Erfahrung angemessen zu verstehen, greift die vorliegende Untersuchung immer weiter aus. Die anfängliche thematische Engziehung des Wiener Kreises, Kritik nur als ein Pro­blem der »wissenschaftlichen Vernunft« zu sehen, weicht einer zunehmenden Kontextualisierung. Nicht nur die Praxis der Vernunft muss als eine situierte Praxis verstanden werden – auch das Pro­blem der Kritik, das zu der Reflexion auf diese Praxis auffordert, erweist sich als ein situiertes Pro­blem. Von besonderer Bedeutung ist das vom Formalismus völlig ausgeblendete moderne Naturverhältnis. Es erweist sich als eine maßgebliche Voraussetzung für das moderne Pro­blem der Kritik. Daher rücken mit McDowell und Dewey auch zwei formalismuskritische Philosophien in den Blick, die ihre Rekonfiguration der Erfahrung mit einer Kritik des modernen Naturbildes verbinden. Sie richten sich gegen das Verständnis der Natur als ein »entzaubertes« Reich objektiver Verhältnisse, in dem Bedeutungen und Werte keinen Platz finden (Daston 2014). Hier zeigt sich eine thematische Parallele zwischen dieser naturalistischen »Entzauberung« der Welt Hier zeigt sich eine Differenz zwischen Peirce und Dewey, die ich im vorletzten Kapitel ausführlich erläutere. Peirce konzipiert die Praxis der inquiry immer noch empiristisch, insofern er der Wissenschaft das ideale Ziel unterlegt, im unendlichen Forschungsprozess auf eine »ultimate opinion« zu konvergieren – was nichts anderes hieße, als die Diskrepanz von Erwartung und Erfüllung aufzulösen. Obgleich Peirce dieses Ziel als ein Ideal (und dann sogar nur noch als eine Hoffnung) markiert, widerspricht es seiner eigenen rationalitätstheoretischen Einsicht in die intrinsische Spannung von Denken und Erfahrung. 3

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und der Leitfrage, wie objektive Erfahrungen das Denken normativ zu binden vermögen. In beiden Kontexten scheint Bedeutung nur durch Zuschreibung möglich zu sein, durch eine Projektion auf ein für sich genommen normativ unempfängliches Material. Beide Autoren, Dewey und McDowell, verbinden ihre Formalismuskritik daher mit einem revidierten Naturalismus, der verständlich werden lassen soll, wie die Vernunft als ein Teil der Natur begriffen werden kann und nicht als ihr Gegenüber. Die Dominanz des hier thematischen Leitkonflikts von Autonomie und Erfahrung zeigt sich dann auch daran, dass diese beiden Autoren ihren revidierten Naturalismus jeweils ganz anders anlegen. Während M ­ cDowell sich am aristotelischen Ideal einer konstitutiven Einheit von Natur und Vernunft orientiert, entwirft Dewey das lebendige Naturverhältnis, unter Rückgriff auf Darwin, als grundsätzlich konfliktbehaftet (Särkelä 2015). Wieder lässt sich die gegensätzliche Tendenz beobachten, den Konflikt zwischen Autonomie und Erfahrung entweder philosophisch zu lösen (oder aufzulösen) – oder aber ihn zu einem konstitutiven Moment des menschlichen Lebens, ja in Deweys Fall sogar der lebendigen Natur überhaupt, zu erklären.4

Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung einer Habilitationsschrift, die dem Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin vorgelegt wurde. Ich danke diesem Fachbereich sowie allen Kollegen am Institut für Philosophie, die mich in der langjährigen Forschung zu diesem Thema unterstützt und gefördert haben. Auch danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Förderung dieses Projektes und dem Meiner Verlag für das freundliche Lektorat. Besonderer Dank geht, in alphabetischer Reihenfolge, an Andreas Antić, Georg Bertram, Fabian Börchers, Maria Buzhor, Stefan Deines, Daniel-Martin Feige, Roberto Frega, Stefan Gosepath, Michael Hampe, Mark Halawa-Sarholz, Hilge Landweer, Jan Müller, Andrew Norris, Dorothea Katharina Ritter, Jan Slaby und Christian Straub. Nicht zuletzt sei Stefanie Volbers & der quirligen Berliner crew gedankt, für so Vieles und noch viel mehr. 4

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Autonomie und Moderne Die Modernität der kritischen Vernunft § 6  Das philosophische Interesse dieser Untersuchung gilt der Frage, wie der Begriff der Erfahrung konzipiert sein sollte, wenn wir die Vernunft als wesentlich kritisch begreifen. Zu diesem Zweck werden drei historische philosophische Positionen näher in den Blick genommen : Die postanalytische Philosophie, der Pragmatismus und der Wiener Kreis. In diesem Kapitel soll der wichtigste Grund für diese Auswahl näher beleuchtet und reflektiert werden. Diese drei Positionen, so lautet die hier zu diskutierende Rechtfertigung für ihre Gegenüberstellung, sind genuin modern, und das in einem sowohl historischen als auch systematischen Sinne. Modern sind die hier diskutierten Autoren zum einen als Zeitgenossen einer philosophischen (und kulturellen) Moderne, deren allgemeine Konturen, die auch heute noch bestimmend sind, sich im 19. und 20. Jahrhundert ausgebildet haben. Ihre Philosophien entstehen in Zeiten durchgreifender technologischer, gesellschaftlicher und politischer Umwälzungen, die sie implizit und teils auch explizit reflektieren.5 Ihre Ansätze sind zweitens aber auch inhalt­ lich genuin modern, da sie ein zumindest im Grundsatz prinzipiell affirmatives Verhältnis zu dieser Moderne einnehmen. Alle drei begreifen Vernunft als wesentlich kritisch, und dies auch in dem weiteren Sinne, dass sie die moderne Wissenschaft als Paradigma einer solchen kritischen Vernunft ansehen. Das kritische Verständnis der Vernunft drückt sich vor allem in der Annahme aus, dass kein Urteil und keine Erkenntnis »immun« ist (wie es Quine ausdrückt) Explizite Überlegungen zur historischen Situation der eigenen Philosophie finden sich etwa im Manifest des Wiener Kreises (Neurath 1981), in Mc­Dowells (1996) Selbstverortung als »minimaler Empirist« sowie in Deweys (1988) emphatischer Identifikation der Vernunft mit der wissenschaftlichen Methode. Analog zeichnet Peirce (EP I, 109 – 129) die Wissenschaft als einzigen rationalen Zugang zur Realität aus. 5

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gegenüber dem Druck weiterer Erfahrung und neuer Urteile. Dieses Bild der Vernunft verkörpert sich – so der weitere gemeinsame Gedanke – paradigmatisch in der Praxis der Wissenschaften, die somit als beispielhaft kritisch gelten. Es lässt sich auf diese Weise eine historische und systematische thematische Leitlinie ziehen, die die europäische Moderne, die neuzeitliche Entstehung der erfahrungsorientierten Naturwissenschaften und die Vorstellung, Vernunft sei konstitutiv kritisch, miteinander verbindet. Diese in vielerlei Hinsicht typisch moderne Konstellation, in der die hier diskutierten Texte stehen, kann jedoch nicht einfach ungefragt vorausgesetzt werden. Dies zunächst deshalb, weil die hier behaupteten Gemeinsamkeiten durchaus auch bestritten werden können. Wir werden uns im nächsten Teilkapitel daher der Frage widmen, wie weit die behauptete Modernität dieser Texte konkret reicht. Es gilt, das selbst charakteristisch moderne Missverständnis zurückzuweisen, wonach einige Texte nur deshalb, weil sie historisch weiter zurückliegen – was vor allem beim Pragmatismus der Fall ist –, im Grunde den Titel einer genuin modernen und kritischen Reflexion auf die Vernunft nicht verdienen. Es wird also darum gehen, den hier behaupteten Kern eines durchgängig modernen Selbstverständnisses, das Vernunft mit Kritik identifiziert, bei allen drei Positionen freizulegen. Sowohl in ihren internen Beziehungen zueinander als auch in ihren Stellungnahmen zur philosophischen Tradition wird dieser Kern bei den hier verhandelten Positionen sichtbar. Viel wichtiger aber ist noch, diese geteilte Auffassung selbst auch historisch und kritisch zu reflektieren. Gerade mit Blick auf das Leitmotiv, dem zufolge sich diese kritische Vernunft exemplarisch in der Wissenschaft verkörpere, sind nämlich Zweifel anzumelden. Dabei sind die Indizien für dieses moderne Verständnis der Wissenschaft durchaus überzeugend. Der Blick in die Geschichtsbücher zeigt, wie die Wissenschaft immer wieder ihre eigenen Urteile und Annahmen revidiert hat und somit sich als ein im Kern kritisches Unternehmen ausweist. Phlogiston ist Geschichte, Newtons Gravitationstheo­rie ist relativiert worden und die Einheit von Quantentheo­rie und Relativitätstheo­rie steht noch aus. Das Wissen unterliegt einem ständigen Wandel. Dieser Wandel war immer schon das Grundprinzip aufgeklärter wissenschaftlicher Forschung, die diesem Verständnis nach ja gerade dadurch historisch Fuß ge18  |  Autonomie und Moderne 

fasst hat, dass sie die tradierten aristotelischen und scholastischen Annahmen über Natur und Kosmos in ihrem Grundsatz revidierte. Die Neuzeit war demnach Zeugin einer »wissenschaftlichen Revolution« (Koyré), in deren Folge unser Welt- und Selbstverständnis gründlich erschüttert und neu justiert worden ist. Dieses gängige Bild ist wichtig für unsere Untersuchung, denn es verbindet die behauptete kritische Potenz der Wissenschaft mit ihrer systematischen Rücksichtnahme auf die Erfahrung. Autoren wie Bacon, Locke oder Kant sahen die experimentelle Methode als das entscheidende Merkmal der kritischen Wissenschaft. Sie verleiht ihr demnach das bilderstürmerische Potenzial. Indem die Erfahrung als »Prüfstein« (Kant) des Wissens eingesetzt wird, können auch Tradition und eigener Irrglauben einer objektivierenden Prüfung unterzogen werden. Gerade mit Blick auf die hier behandelten philosophischen Posi­ tionen wird jedoch deutlich, dass dieser Zusammenhang zwischen Erfahrung und Kritik nicht so einfach zu haben ist, wie es das verbreitete Bild will. Alle drei Positionen pro­blematisieren diese Verbindung von Erfahrung und Kritik ; sie befragen die Rolle, die Erfahrung für das kritische Moment des Denkens spielen kann. So hebt der Wiener Kreis hervor, dass Erfahrungen nur im Rahmen der Theo­rie sinnvoll interpretiert werden können, wodurch nur noch intersubjektiv logisch nachprüfbare Erfahrungen (ausgedrückt in Protokollsätzen) Gegenstand kritischen Denkens sind. Die nachklassische analytische Philosophie rückt im Anschluss das Pro­blem ins Zentrum, wie Erfahrungen diese korrigierende Rolle überhaupt einnehmen können, ohne dabei in ihrer Funktion als unmittelbar gegebene Evidenz sich auch der theoretischen Korrektur zu entziehen (»Mythos des Gegebenen«). So zweifelt der postanalytische Philosoph Davidson schließlich daran, dass der Begriff der Erfahrung in seinem epistemischen Verständnis überhaupt noch sinnvoll verteidigt werden kann und plädiert für eine Abkehr von dieser langen Tradition. Ähnliche kritische Reflexionen finden sich bei den Pragmatisten. Sie verteidigen zwar ein starkes Verständnis der Erfahrungsbindung des Denkens, sehen sich aber dazu gezwungen, dafür den Erfahrungsbegriff selbst fundamental zu revidieren.6 Dieser Absatz fasst das Resultat der weiteren Diskussionen zusammen.

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Die Modernität der kritischen Vernunft  |  19

Diese philosophische Reflexion korreliert mit den Befunden der im weitesten Sinne post-positivistischen Wissenschaftsgeschichte. Sie weist historisch (und nicht nur begrifflich) die Auffassung zurück, die Leistungsfähigkeit moderner wissenschaftlicher Forschung falle ausschließlich »der« Erfahrung zu. Kuhn etwa, um ein bekanntes Beispiel zu nennen, sieht in der sozialen Organisation der Wissenschaft, und zwar in Form der konservativen Beharrungskraft etablierter wissenschaftlicher »Paradigmen«, einen entscheidenden nicht-empirischen Faktor. Und wo Kuhn mit dem Begriff des Paradigmas noch weitestgehend an der Idee der einen Wissenschaft und der wissenschaftlichen Methode festhält, rücken später zunehmend auch die Vielfalt wissenschaftlicher Methoden und ihre Verflechtungen mit der politischen und sozialen Praxis in den Vordergrund.7 Ein weiteres Pro­blem, das wir berücksichtigen müssen, ist das dem Begriff der Moderne eingeschriebene Narrativ eines scheinbar ungebrochenen Fortschritts, der sich in der historisch bewegten Epoche von der Neuzeit bis hin zum 19. Jahrhundert Bahn brach. Dieses Narrativ, das die wissenschaftliche Revolution mit anderen revolutionären Umwälzungen in der Politik oder der Ökonomie verbindet, kann heute nicht mehr ungebrochen fortgeführt werden. Aus den unterschiedlichsten Perspektiven – geschichtlich, philosophisch, wissenschaftshistorisch, postkolonial, begrifflich – ist die Annahme widerlegt worden, die Zeit der »Moderne« lasse sich als eine einheitliche, allein auf Fortschritt und humaner Vernünftigkeit eingeschworene Entwicklung begreifen.8 Wir werden uns im Folgenden also auch dieser Kritik an der Moderne, an ihrer Einheitlichkeit, Kohärenz und Fortschrittlichkeit, zuwenden müssen, um die These der Modernität der hier diskutierten Ansätze nicht nur behaupten, sondern auch einordnen Davidson steht im Zentrum des nächsten Kapitels ; die pragmatistische Kritik der Erfahrung ist Gegenstand des vorletzten Kapitels. 7 Neben dem Klassiker von Kuhn 1973 sei hier noch auf die Beiträge in Galison 1996 verwiesen, die der Idee einer Einheit der Wissenschaft auf den Leib rücken. Die Schwierigkeiten einer sauberen Abgrenzung von Theo­rie und Praxis verfolgen, in historischer Perspektive, Shapin und Schaffer 2011 sowie ethnographisch Latour und Woolgar 1979. 8 Vgl. etwa Pippin 1991  ; Toulmin 1992 ; Foucault 1994 ; Kittsteiner 2006 ; ­Latour 2008 ; Wagner 2009. 20  |  Autonomie und Moderne 

zu können. An dieser Kritik freilich manifestiert sich ein Muster, das selbst wiederum die Moderne als historische Epoche prägt : Wie kaum eine andere Zeit zuvor ist die Moderne mit der Frage konfrontiert, ob es so etwas wie ›die‹ Moderne überhaupt gibt und wie diese Moderne zu verstehen ist. Dieses Denken der Moderne, das sich selbst in Frage stellt, ist charakteristisch für das moderne Den­ ken, wie es hier verstanden wird. § 7  Wie muss Kritik aber gedacht werden, wenn die Moderne nicht als ein einfacher Fortschritt hin zu mehr Freiheit, Wissen und Vernunft verstanden werden kann ? Diese Frage berührt, wie erkennbar wird, nicht nur das Verständnis der Moderne. Sie berührt auch die Frage, wie die Erfahrung zum kritischen Potenzial der Vernunft beiträgt. Das klassische Fortschrittsnarrativ geht von einer gegebe­ nen Vernunft aus, die endlich die Last von Dogma und Tradition durchbricht, indem sie sich von den Fesseln dieser Autoritäten löst und die Erfahrung an ihrer Stelle sprechen lässt. In diesem Kapitel soll ein anderes Bild der Moderne gezeichnet werden. Ich werde argumentieren, dass der Begriff der Moderne vor allem als eine historische Antwort zu verstehen ist und daher ein genuin passives Moment aufweist, welches das Fortschrittsmodell übersieht. Am historischen Anfang der Moderne standen demnach historische Entwicklungen, die sich zunehmend als Umbrüche erwiesen, die der Interpretation bedürfen. Im Europa der Aufklärung etablierten sich in so verschiedenen Bereichen wie der Politik, der Wissenschaft, der Ökonomie und der Religion jeweils neue, im Vergleich zur Tradition durchaus stark gewandelte Ansichten, Denkweisen und Institutionen. Das ist die Wahrnehmung, oder besser formuliert : die Erfahrung, auf die der Begriff der Moderne Bezug nimmt. Diese Wahrnehmung eines Bruches verläuft jedoch nicht synchron zu den jeweiligen historischen Entwicklungen. Erst in Folge der gemachten Erfahrung wird erkennbar, dass sich hier ein radikaler Wandel, ein Umbruch, ereignet hat, der kollektiv gedeutet wird. Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug in der Dämmerung. Der Begriff der Moderne bringt diese retrospektive Haltung auf den Punkt, indem er die Neuzeit als eine Epoche fasst, deren Wesen darin besteht, sich von der Vormoderne – der »Tradition« – abzugrenzen. Diese Wahrnehmung ist mehr eine Frage als eine BehaupDie Modernität der kritischen Vernunft  |  21

tung. Sie fordert dazu auf, näher zu bestimmen, wie dieser Bruch der »neuen Zeit« zu verstehen ist. So überkreuzt sich die historische Perspektive mit dem systematischen Ansatz der hier verfolgten Diskussion. Die philosophische Frage, wie Kritik möglich ist, erweist sich als ein philosophischer Versuch der Deutung dieser tiefgreifenden und weitreichenden modernen Erfahrung. Die Moderne zu affirmieren heißt in dieser Perspektive zunächst vor allem, eben jene fundamentale Irritation der eigenen Maßstäbe zu akzeptieren, mit der die Moderne ihren eigenen Anfang setzt. In eben diesem Sinne sind, wie wir noch genauer sehen werden, alle hier diskutierten Positionen affirmativ modern. § 8  Vor dem Hintergrund dieses revidierten Verständnisses der Moderne ist es erforderlich, die hier zur Diskussion stehenden Begriffe so zu fassen, dass eine vorschnelle Gleichsetzung von Kritik und wissenschaftlicher Ratio­nali­tät vermieden wird. Das proble­ matische Verhältnis von Kritik und Erfahrung muss aus der Scheinalternative entlassen werden, Ratio­nali­tät orientiere sich entweder kritisch an Erfahrung oder aber verlöre unweigerlich ihre kritische Kompetenz. Mit Blick auf die historischen und soziologischen Einbettungen der Wissenschaften (in ihrer Pluralität) muss zudem Distanz eingenommen werden zu der Annahme, es gebe eine einheitliche Form »der« Wissenschaft, die ihrem Wesen nach das unanfechtbare Paradigma rationaler Argumentation sei. Nicht zuletzt ist eine solche Distanzierung selbst ein Erfordernis moderner Kritik : Nur wenn die Praxis der Wissenschaft und die vernünftige Kritik nicht immer schon zusammenfallen, ist es möglich, auch an der Wissenschaft und ihren Resultaten Kritik zu üben, ohne damit bereits irrational zu sein. Wenn irgendetwas Wahres an der Annahme sein soll, dass die Moderne in einem wesentlichen Sinne mit Kritik verbunden ist, muss dieses kritische Potenzial anders begriffen werden können. Einen solchen alternativen Zugriff auf die Pro­blematik leistet der Begriff der Autonomie. Er dient der weiteren Bestimmung des Zusammenhangs von Kritik und Erfahrung als Ausgangspunkt. Denken im skizzierten modernen Sinne ist demnach wesentlich kritisch, weil es autonom ist. Nach dieser These hat die Vernunft, oder das vernünftige Denken, vor allem eine irreduzibel reflexive 22  |  Autonomie und Moderne 

Form. Diese Form ist es, die der Begriff der Kritik zum Ausdruck bringt. Das Denken hat die Kraft, die Möglichkeit und unter Umständen dann auch die Pflicht, sich selbst und die eigenen Inhalte reflexiv zu korrigieren. Dieses formale Verständnis der rationalen Autonomie lässt offen, welche Gründe »gut« sind oder nicht. Vernunft ist hier weder Lob noch Tadel. Es legt sich nicht darauf fest, ob diese Vernunft eine natürliche Eigenschaft ist, ob sie sich allein in der Logik realisiert oder ob sie die Gestalt einer diskursiven Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen annehmen muss. Nicht zuletzt ist im Folgenden ausschließlich von der rationalen Autonomie die Rede, ohne damit bereits auf die praktische Idee der Autonomie als individueller Selbstbestimmung einzugehen. Es geht hier also nicht um Autonomie als Form eines ›gelingenden‹ eigenen Lebens.9 Trotz dieses Abstands zum praktischen Autonomiebegriff führt die formale Bestimmung der Vernunft als Autonomie, wie wir sehen werden, im Verlauf der weiteren Untersuchung zu einer Aufhebung der Idee einer kategorischen Trennung von praktischer und theoretischer Vernunft. Denn gerade in der Fokussierung auf die formale Selbstbezüglichkeit der Vernunft wird deutlich, dass gar nicht klar ist, was es eigentlich heißt, der kritischen Reflexivität eine stabile Form zuzuschreiben. Diese Frage steht im Zentrum der weiteren Detailuntersuchungen zu den hier diskutierten Autoren. Ist die Form der Vernunft selbst formalistisch zu verstehen, wie es der Wiener Kreis vorschlägt ? In diesem Verständnis besteht die rationale Autonomie gerade darin, dass das Denken frei ist von der Welt und ihren Einflüssen. Wir können uns, anders formuliert, immer wieder neu und anders zu ihr verhalten ; ein Gedanke, der nicht zuletzt die Geschichte der ständigen Umbrüche der wissenschaftlichen Moderne ernst nimmt und in das Verständnis der Vernunft einschreibt. Eine andere Deutungsmöglichkeit ist, die Freiheit des Denkens als eine intrinsisch mit der Welt verbundene, ja letztlich verwickelte Form zu verstehen. Diese postformalistische Alternative vertreten der Pragmatismus und die postanalytische Philosophie. Bei ihnen ist die Freiheit der Selbstbestimmung eine gebundene Freiheit in der Welt und damit eine Autonomie, die – wie die Mo­ Vgl. zu diesem Themenkomplex etwa Rössler 2017.

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derne selbst – wesentlich mit Momenten der Fremdbestimmung verbunden ist. An dieser Stelle ist vor allem wichtig, dass beide Positionen die moderne Bestimmung der Vernunft als Autonomie auslegen. Wenn der Begriff der Moderne für die Behauptung steht, das moderne Leben sei durch die Idee der Autonomie geprägt und stehe unter dem Anspruch der Selbstbestimmung und der Selbstkritik, dann ist die kritische Selbstbefragung der Moderne die Frage nach ihrer eigenen Form. In dieser Frage verbindet sich die historische mit der systematischen Dimension der kritischen Vernunft.

Drei Traditionen der Moderne § 9  Einige Eckdaten und theo­riegeschichtliche Zusammenhänge verdeutlichen die verbindende und zugleich differenzierende Modernität der hier verhandelten Positionen. Chronologisch am Anfang steht der klassische Pragmatismus, zu dem hier die Schriften von Peirce, James und Dewey gezählt werden. Der Pragmatismus hatte in den ersten zwanzig Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts seine Blütezeit. Im Jahr 1907 erschien die wohl bekannteste pragmatistische Schrift, James’ Vorlesungen Pragmatism : A New Name for Some Old Ways of Thinking. Peirce’ heute bekanntesten pragmatistischen Aufsätze erschienen bereits in den 1870er Jahren, erhielten aber erst durch James vermehrte Aufmerksamkeit. »Pragmatismus« wurde zu einem lose mit James, Dewey, Peirce und – heute oft vergessen – F. C. S. Schiller verbundenen Sammelausdruck. Der Pragmatismus stieg zu internationaler Beachtung auf, wurde breit rezipiert und auch kontrovers diskutiert. Das Ende dieser klassischen Zeit markiert die Publikation der beiden wohl bekanntesten Werke von Dewey, Experience and Nature und The Quest for Certainty.10 Danach nahm der Einfluss der Pragmatisten, international wie auf der nationalen Ebene der amerikanischen Philosophie, deutlich ab. Mit der »analytischen« Philosophie, anfangs vor allem verbunden mit Russells Methode der logischen Analyse und dann Quest for Certainty ist 1926 erschienen, Experience and Nature im Jahre 1929. 10

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der Wissenschaftstheo­rie des Wiener Kreises, etablierte sich eine schließlich weltweit dominierende philosophische Strömung. Die mit ihr verbundene methodische Neuorientierung fiel so umfassend aus, dass sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter pragmatistisch geneigten Autoren immer wieder Klagen finden, die Klassiker des Pragmatismus würden gerade in dem Land, in dem diese Philosophie doch entstanden ist, gar nicht mehr ernsthaft gelesen.11 Spätestens mit der erzwungen Emigration der Mitglieder des Wiener Kreises in die Vereinigten Staaten setzte dann aber auch schon die Phase der kritischen Weiterentwicklung ihrer Ideen ein. Die ursprünglich ausschließlich logische und sprachphilosophische Orientierung wich einer zunehmenden Berücksichtigung von Fragen der Handlungspraxis sowie einer verstärkten Pro­ble­ matisierung der nicht-sprachlichen Kontexte und Bedingungen der Sprache. Aus dieser kritischen Fortentwicklung des ursprünglich idealsprachlichen Ansatzes des Wiener Kreises entwickelte sich die postanalytische Philosophie, die vor allem mit den Namen von Quine, Sellars, Davidson und später Rorty verbunden ist.12 Zwischen Peirce und Putnam liegen also mehr als hundert Jahre, in denen sich der Pragmatismus, der Logische Empirismus und die postanalytische Philosophie entfalten konnten. Wie verhält es sich nun mit der behaupteten inhaltlichen Gemeinsamkeit dieser Ansätze ? Von den philosophiegeschichtlichen Rekonstruktionen, die diese Frage an die hier interessierenden Traditionen stellen, sind vor allem zwei Darstellungen hervorzuheben. Sowohl Cheryl Misak (2013b) als auch Richard Rorty (1979) betonen, dass der Pragma Eine solche Klage formuliert, noch ganz unter dem Eindruck dieser Entwicklung, Richard Bernstein (1966, 166 ff.). Eine umfassende Rückschau auf die Verdrängung des Pragmatismus in der Nachkriegszeit findet sich bei Anderson 2009. Louis Menand (2001 und auch 2005) vertritt die These, diese Entwicklung sei auf die politische Situation der Nachkriegszeit zurückzuführen. Cheryl Misak (2013b) widerspricht der These einer temporären Verschattung (»eclipse«) des Pragmatismus mit Verweis auf die pragmatistischen Elemente im postanalytischen Denken. 12 Der Ausdruck »post-analytisch« wird, wie auch »analytisch«, oft unterschiedlich und teils gegensätzlich gebraucht. Hier soll er vor allem negativ die zunehmende Abwendung der analytischen Diskussion von ihren klassischen Ausgangspositionen, dem Logizismus und Empirismus, markieren. Vgl. dazu auch Schnädelbach 2004. 11

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tismus und die postanalytische Philosophie übereinstimmend eine fallibilistische Grundhaltung einnehmen und damit das Pro­blem der Kritik in den Mittelpunkt stellen.13 Die Frage ist freilich, wie dieser Fallibilismus einzuordnen ist. Wo nimmt er dieselbe Gestalt an, wo gibt es signifikante Unterschiede ? Und vor allem : Wodurch sind Übereinstimmung und Differenzen zu erklären ? Die von Rorty und Misak jeweils gegebenen Antworten fallen unterschiedlich aus. Rortys Narrativ ist das bekanntere. Er schildert in The Mirror of Nature die Geschichte einer zunehmenden Emanzipation der Philosophie von dem Bedürfnis, die Welt in der Reflexion abzubilden ; eine Fortschrittsgeschichte, die in die postanalytische Kritik am epistemischen Fundierungsstreben (und damit auch in Rortys eigene Absage an jede Erkenntnistheo­rie) mündet. Diese Erzählung hat jedoch den Konstruktionsfehler, dass sie allein die postanalytische Philosophie, also Rortys philosophische Gegenwart, als Ausdruck eines adäquaten modernen Fallibilismus – oft auch als antifounda­ tionalism bezeichnet – anzuerkennen bereit ist. Ältere Positionen sind in dieser Perspektive immer schon defizitär. Auch Kant und der Wiener Kreis – zwei wichtige Bezugspunkte postanalytischer Diskussion – begreifen die Vernunft wesentlich kritisch und bekämpfen ein reifizierendes und dogmatisches Denken. Trotz dieser Gemeinsamkeiten werden sie von Rorty aber ausschließlich als Vertreter eines foundationalism gelesen, als zum Scheitern verurteilte Versuche, weiterhin einen privilegierten Standpunkt des Wissens und Erkennens abzusichern. Für Rorty liegt erst in der postanalytischen Philosophie ein intellektuell respektabler antifoundationalism vor, weshalb er in ihren Vorläufern und Einflüssen vor allem die dogmatischen Irrtümer hervorhebt, die dann endlich überwunden wurden. Selbst Dewey, einer der drei »Heroen« in Rortys Narrativ der Emanzipation von der Tradition, wird daher vorgeworfen, sich nicht vollends vom Empirismus Lockes und damit vom foundation­ alism, gelöst zu haben (Rorty 1982, 81). Ein drittes Narrativ bietet Alasdair MacIntyre (2007) an, der die Geschichte der analytischen Philosophie als eine Geschichte des (auch kulturellen) Verfalls erzählt, gegen den nur die Rückkehr zu vormodernen »communities whose central bond is a shared vision of and understanding of goods« (2007, 258) hilft. 13

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Dieses Narrativ einer sukzessiven Befreiung von den Fesseln der abbildenden Erkenntnistheo­rie ist nicht hilfreich, da es nicht bereit ist, den Fallibilismus der postanalytischen Philosophie als die eigenständige Artikulation eines bereits bestehenden Pro­blems anzusehen. Rorty zeichnet zudem ein nach heutiger Forschungslage eindeutig verzerrtes Bild des Pragmatismus und des Logischen Positivismus (Volbers 2014b). Im Unterschied dazu greift Cheryl Misak historisch deutlich weiter aus. Sie platziert den antifounda­ tionalism, den auch sie als Kern postanalytischen Denkens sieht, bereits an den Anfang einer umfassenden Traditionslinie, die vom Pragmatismus bis hin zur Gegenwart reicht. Sie sieht die Kritik am epistemischen Fundamentalismus entsprechend nicht als eine endlich gefundene Lösung, sondern als das verbindende inhaltliche Pro­blem dieser Debatten. Ihre Leitthese ist, dass diese Ansätze sich bei allen Unterschieden darin einig sind, dass die wissenschaftliche Forschung keinen epistemischen Halt außerhalb der menschlichen Praxis finden kann. Die Herausforderung der Philosophie bestehe entsprechend darin, dass die reflexive Erläuterung jener Standards und Maßstäbe, an denen sich die Vernunft orientiert, selbst bereits auf diese Standards und Maßstäbe angewiesen ist. In Misaks eigenen Worten : We must try to explain our practices and concepts, including our epistemic norms and standards, using those very practices, concepts, norms, and standards (2013b, 252).

Misaks Feststellung lässt sich unmittelbar als Variation eines klassischen Themas der philosophischen Moderne identifizieren : Die Vernunft – hier in einem Vokabular der Praktiken, Normen und Maßstäbe beschrieben – bleibt in ihrem Geschäft der (kritischen) Reflexion vollends auf sich selbst verwiesen. Diese Kennzeichnung der Philosophie als ein wesentlich reflexives, auf sich selbst zurückgeworfenes Denken ist ein guter Ausgangspunkt für weitere Über­ legun­gen. Misaks chronologisch gereihte Einzelstudien (versammelt in Misak 2013b) zu prominenten Klassikern des Pragmatismus und der postanalytischen Philosophie belegen ausführlich, dass dieses gemeinsame Grundverständnis nicht zuletzt auf einen nachhaltigen (wenn oft auch eher impliziten) Einfluss des klassischen Pragmatismus zurückzuführen ist. Ein prominentes Beispiel dafür ist Quine. Drei Traditionen der Moderne  |  27

Er beschreibt seine äußerst effektive Kritik an den »Dogmen« des Logischen Empirismus explizit als einen Schritt hin zu einem »more thorough pragmatism« (1951, 41), und er lobt Dewey dafür, dass dieser bereits eine antirepräsentationalistische Bedeutungstheo­ rie vertrat, als Wittgenstein noch einer »copy theory of language« (1969, 27) anhing.14 Misaks Darstellung leidet unter der Einseitigkeit, dass sie diese pragmatische Wende der analytischen Sprachphilosophie allein auf den Einfluss der Klassiker des Pragmatismus zurückführt. Für sie liegt hier ein »Amerikanischer Pragmatismus« (so ihr Buchtitel) vor, zu dem nicht nur Peirce, sondern auch Quine und McDowell zu zählen sind. Dieser Versuch, rückblickend eine durchgängige nationale Tradition zu verteidigen, mutet ebenso gewaltsam wie provinziell an. In seiner Fixierung auf nationale Trennlinien wirkt er geradezu bizarr. Neben dem Pragmatismus waren die wichtigsten Einflüsse der »amerikanischen« analytischen Sprachphilosophie der Wiener Kreis, Wittgenstein und die britische Sprachanalyse, mithin tief europäisch verwurzelte Autoren und Traditionen.15 Zudem wirkten diese Positionen wechselseitig aufeinander ein : Der Pragmatist William James bezieht sich positiv und mit Sachkenntnis auf die Wissenschaftstheo­rien von Ernst Mach und Pierre Duhem ; er war – als ein auch in Deutschland ausgebildeter Psychologe – ein Kenner dieser »europäischen« Diskussion.16 Umgekehrt beeinflusste der Pragmatismus, der ja international diskutiert wurde, die Debatten, die im Logischen Empirismus geführt wurden, wie auch Wittgensteins Philosophie (vgl. Goodman 2002). Eine Klassifizierung Quine selbst distanziert sich freilich von dieser Identifikation mit dem Pragmatismus und hebt vierzig Jahre nach dem Erscheinen von Two Dogmas hervor, dass er den Begriff im Sinne Carnaps verstanden hatte : »I was merely taking the word from Carnap and handing it back« (Quine 1991, 272). Zu ­Quines Pragmatismus vgl. ausführlicher Misak 2013b, 197–208, sowie Nevo 2013. 15 Zu Wittgensteins Verankerung im Wiener fin de siècle vgl. die klassische Studie von Allen Janik und Stephen Toulmin (1973). Uebel 2000 und vor allem Stadler 1997 belegen die Wiener Verwurzelung der Positivisten im Detail. 16 So stellt James, auf die Wissenschaftstheo­r ie des 19. Jahrhunderts zurückblickend, fest : »human arbitrariness has driven divine necessity from scientific logic«, und nennt als Belege für diese These »Sigwart, Mach, Ostwald, Pearson, Milhaud, Poincaré, Duhem, Ruyssen« (1987, 511). 14

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wie »amerikanische Philosophie« blendet den globalen Charakter aus, den die Philosophie schon damals längst hatte, und erinnert in dieser Hinsicht an die ebenso unhaltbare Trennung zwischen einer analytischen und einer kontinentalen Philosophie.17 Solche Unterscheidungen sind hilfreich, um bestimmte Themen und Diskus­ sions­zusammenhänge zu unterscheiden, und zu diesem Zweck werden sie auch in der vorliegenden Untersuchung eingesetzt. Doch sie dürfen nicht den Blick davon ablenken, dass die Unterschiede vor dem Hintergrund gemeinsamer oder zumindest verwandter Fragestellungen und Pro­blemwahrnehmungen stehen. § 10  Die Pointe der Zurückweisung von Misaks Strategie der Natio­ nalisierung des Pragmatismus ist, dass der Pragmatismus wie auch die postanalytische Philosophie in einen weiteren Kontext eingebettet werden müssen. Sie sind als Teil der philosophischen Moderne zu verstehen, dessen grundlegendes Pro­blem darin besteht, dass in ihr die Vernunft sich selbst radikal fragwürdig geworden ist. Wir müssen also noch einen Schritt weiter gehen als Misak und die von ihr ›pragmatistisch‹ genannte fallibilistische Einstellung historisch weiter vorverlagern. Für diese Ausweitung bietet es sich an, bis auf die Klassiker der philosophischen Moderne, also zu Kant und die auf ihn folgenden ›postkantischen‹ Debatten, zurückzugehen.18 Misaks Situierung der Philosophie, wonach wir ›unsere‹ praktisch genutzten Begriffe und rationalen Standards nur unter Rückgriff auf diese Begriffe und Standards klären können, formuliert in dieser erweiterten Perspektive ein kantisches Vorgehen pragmatistisch um. Auch wenn Kant mit der Theo­rie transzendentaler Subjektivität noch versuchte, in der philosophischen Reflexion einen Standpunkt absoluter Notwendigkeit (und Gewissheit) zu gewinnen, erhebt er bereits auf eine äußerst radikale Weise die reflexive Kritik zum Inbegriff dessen, was es überhaupt heißt, vernünftig zu sein. Bereits bei Kant geht es, wie Herbert Schnädelbach formuliert, »um Kritik Ich schließe mich hier den Analysen von Hans-Johann Glock (2008) an, der mit großer Sachkenntnis nachweist, dass zwischen der analytischen und der kontinentalen Philosophie keine absolute inhaltliche (bezogen auf Themen) oder auch nur formale (bezogen z. B. auf Geographie oder behandelte Autoren) Trennlinie gezogen werden kann. 18 Habermas 1985 ; Pippin 1991 ; Pinkard 2002. 17

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der Vernunft durch die Vernunft selbst, und nur dadurch beweist sie ihre Vernünftigkeit« (Schnädelbach 2007, 8). Und es ist Hegel, der in kritischer Reaktion auf den kantischen »Kritizismus«, wie er es nannte, bestrebt war, den kantischen Formalismus in dieser Vision der Philosophie zu tilgen – also Kants Annahme, eine solche kritische Reflexion müsste sich auf das Postulat einer transzendentalen, von aller Erfahrung unabhängigen Subjektivität stützen.19 Die Klassiker der Moderne müssen wiederum nicht erst an die hier interessierenden Traditionen herangetragen werden. Ihnen dienten Kant und Hegel als zentrale Bezugspunkte, ob nun als Vorbild oder zur Kritik. So begann sich der klassische Pragmatismus – wie übrigens auch die analytische Philosophie – zu einer Zeit zu formieren, als der Idealismus die dominierende akademische Strömung in den englischsprachigen departments war.20 Dewey fing seine philosophische Karriere als Hegelianer an, und Peirce verstand sein Werk als eine nicht nur kritische Reaktion auf Hegel.21 Auch ist die postanalytische Philosophie bekannt dafür, dass Autoren wie Sellars oder später auch Brandom und McDowell explizit hegelianische Motive in die analytische Tradition einführen. Einige Interpreten sprechen gar von einer postanalytischen »Rückkehr zu Hegel« (Redding 2007). Was den Wiener Kreis betrifft, hebt die neuere Forschung die starke Bedeutung der Philosophie Kants für die Gründungsfiguren des Logischen Positivismus hervor (Friedman 1999). Der lange als dogmatisch geschmähte Wiener Kreis wird heute wieder vermehrt als eine produktive Wiederaufnahme kantischen Schnädelbach (2007) liest Hegel als eine Kulmination Kants, der das Prinzip der transzendentalen Gewissheit auf das absolute Subjekt überträgt und so das letzte Mal versucht, eine gegen alle Kontingenz abgesicherte philosophische Notwendigkeit zu behaupten. Für Schnädelbach ist Hegel also im Grunde der letzte vormoderne Philosoph. Eine andere Lesart findet sich etwa bei Sedgwick 2012 und Emundts 2012. Ihnen gilt Hegel gerade als der Versuch, die Lektionen der Moderne beim Wort zu nehmen und das Denken radikal von der Erfahrung abhängig zu machen. Charakteristischerweise spielt das absolute Subjekt in diesen Interpretationen nicht die zentrale Rolle, die Schnädelbach ihm zuweist. 20 Bernstein (2013, 89) schreibt : »The second half of the nineteenth century in America witnessed a strong interest in German philosophy, especially in Kant, Hegel, and, more generally, the tradition of German Idealism… In Great Britain, too, a version of idealism was flourishing«. 21 Zu Hegels Einfluss auf den Pragmatismus vgl. Bernstein 2013, 89. 19

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Denkens diskutiert, die – darin durchaus undogmatisch – versucht, auf die Idee eines synthetischen Apriori vollständig zu verzichten. Damit tritt auch er ungebrochen in den Kreis der modernen Philosophie ein, die versucht, die Vernunft reflexiv mit Blick auf ›unsere‹ gegebenen Praktiken und Standards zu bestimmen.

Moderne als Erfahrung und Interpretation § 11  Der Pragmatismus, die postanalytische Philosophie wie auch der Wiener Kreis wurzeln in einem weiten historischen Grund, der über nationale Grenzen ebenso hinausgeht wie über eine progressive Überwindung der Tradition. Alle drei Positionen müssen als Positionen der Moderne verstanden werden, als die Pro­blematisierung einer Vernunft, die prinzipiell und essentiell kritisch zu verstehen ist. Diese »Moderne« gilt es nun näher zu bestimmen. Als Ausgangspunkt kann uns die bereits einleitend in diesem Kapitel vorgestellte Beobachtung dienen, dass der Begriff der Moderne untrennbar mit der Idee eines starken, ja revolutionären Bruches verbunden ist. Je nachdem, welcher Bereich genau in den Blick genommen wird, ergeben sich dabei abweichende Auffassungen des Beginns »der« Moderne.22 Der demokratische Umbruch lässt sich auf das 18. Jahrhundert datieren, gestützt auf die französische und die amerikanische Revolution. Wesentlich für diesen Umbruch sind das Ideal nationaler Selbstbestimmung sowie die Abschaffung der aristokratischen Herrschaft. Die industrielle Revolution markiert einen radikalen Umbruch in der Produktionsweise und die Einführung effektiven kapitalistischen Wirtschaftens, wie wir es heute kennen. Dies ist der Beginn der ökonomischen Moderne mit ihrer ständigen Steigerung der Produktivität und einer zunehmenden technischen Beherrschung der Natur und des Menschen. Sie tritt vor allem im 19. Jahrhundert in aller Deutlichkeit zutage. Die wissenschaftliche Revolution schließlich steht für den im 17. Jahrhundert begonnenen Aufbau der modernen, experimentell arbeitenden Wissenschaften und ihre institutionelle Etablierung in den Universitäten. Sie gilt als eine »radikale geistige Revolution, deren 22

Die folgende Dreiteilung orientiert sich an Wagner 2009, 16 u. ö. Moderne als Erfahrung und Interpretation  |  31

Wurzel und zugleich Frucht die moderne Naturwissenschaft ist« (Koyré 2008, 11). Diese Veränderungen in der Wissenschaft, der Gesellschaft und der Wirtschaft in Europa (und weltweit) motivieren ganz wesentlich zu diesem falliblen und selbstkritischen Bild der Vernunft, das hier im Zentrum steht. Wenn wir verstehen wollen, was mit der modernen Diskussion der Erfahrung und der Vernunft im Grunde auf dem Spiel steht, ist es hilfreich, sich diesen außerphilosophischen Kontext zu vergegenwärtigen. Doch der Rückgriff auf »die Moderne« kann hier nicht stehen bleiben. Auch das wurde bereits erwähnt : Dieser Epochenbegriff ist viel zu kontrovers, um heute noch einfach so übernommen werden zu können. Es ist eine zu grobe Vereinfachung, so zu tun, als seien in historischen Geschichtsereignissen mit einem Male die modernen Naturwissenschaften, die Demokratie und die moderne Ökonomie in die Welt getreten, um fortan eine ungebrochene und irreversible Dominanz auf das menschliche Denken und Handeln auszuüben. Doch diese Kritik darf nicht dazu verleiten, in ihr Gegenteil umzuschlagen. Weder kann so getan werden, als könne die Moderne einfach rückgängig gemacht werden, noch ist mit der bloßen Negation des bestimmenden Narrativs der Moderne begrifflich etwas gewonnen. § 12  Die moderne Vernunft, so stellt es ein pointiert formulierter Buchtitel dar, muss offenbar sowohl gegen ihre modernekritischen »Verächter« als auch gegen ihre »Liebhaber« verteidigt werden, die zu schnell die Moderne kritiklos affirmieren.23 Wie ist dieser ambivalente Bezug auf »die Moderne« zu verstehen  ? Die Moderne, so die hier verfolgte These, lässt sich am besten als eine historisch entstandene Ausdeutung konkreter geschichtlicher Entwicklungen begreifen. Es geht nicht darum, sich für oder gegen die Moderne zu positionieren – sondern spezifisch modern ist dieser widersprüchliche Streit darum, wie diese Entwicklung, und damit die eigene historische Position, zu verstehen ist.24 »Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter« (Menke und Seel 1993). 24 Gerade aus pragmatistischer Perspektive ist es selbstverständlich, dass eine solche Ausdeutung in den sozialen Regeln, Normen und Praktiken verkörpert sein muss und nicht einfach nur »gedacht« wird. 23

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Mit diesem Ansatz folge ich einem methodischen Vorschlag des Soziologen Peter Wagner (2009). Er verzichtet bei der Behandlung des Themas der Moderne auf jede immanente Fortschrittserzählung, ohne jedoch die Idee eines markanten (wenn auch schwer zu benennenden und zu identifizierenden) Umbruchs fallen zu lassen.25 Am Anfang der Moderne stehen für Wagner demnach Geschichtsmomente (Wagner 2009, 16), also markante Ereignisse und Vorgänge. Diese Entwicklungen in der Wissenschaft, der Poli­ tik und der Ökonomie aber, so Wagner, verstehen sich nicht von selbst. Sie sind Erfahrungen, die, in sich gleichsam ungesättigt, der Interpretation bedürfen und erst durch kollektive Deutungen ihre spezifische Gestalt annehmen. Dieses Schema einer wechselseitigen Bestimmung von Zukunft und Vergangenheit dynamisiert die Moderne. Was die Erfahrungen bedeuten, welche Fragen sie aufwerfen und welche Antworten zu geben sind, bleibt demnach konstitutiv offen und kontrovers. Dieser methodische Zugriff bricht keineswegs vollständig mit dem klassischen Narrativ. Er übernimmt die Annahme, dass sich mit der Moderne ein starker erklärungsbedürftiger Bruch mit der Tradition etabliert hat – die Trennung von Moderne und Vor­ moderne.26 Doch er geht auf den kritischen Einwand ein, dass dieser Bruch nicht mehr als ein einmaliger zeitgeschichtlicher Einschnitt hingestellt werden kann, durch den die Vormoderne Vergangenheit wird. Denn darin liegt ein ganz wesentliches Pro­blem im Umgang mit Zuschreibungen wie ›modern‹ und ›Moderne‹ : Die geradezu selbstgefällige Beschreibung der historischen Veränderungen als eine unvermeidlich auf den Fortschritt zielende ›Modernisierung‹ sowie das modernistische Vokabular der ›Revolution‹, das ja auch auf die moderne Wissenschaft und die Industrialisierung angewendet wird, unterstellen der Geschichte eine unvermeidbare Logik, die weder umgekehrt noch sinnvoll bestritten werden kann. Das Adjektiv ›modern‹ ist in diesen Verwendungsweisen, wie Bruno Latour Diese Paradoxie erkennt Steven Shapin in seiner Monographie zur »Wissenschaftlichen Revolution« der Neuzeit gleich im ersten Satz unumwunden an : »There was no such thing as the Scientific Revolution, and this is a book about it« (Shapin 1998, 1). 26 So auch Latour 2008, 18; Wagner 2009, 16. Auf die christlichen Ursprünge der Revolutionsmetaphorik macht Pippin (1991, 17 f.) aufmerksam. 25

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kritisch festhält, »doppelt asymmetrisch : Es bezeichnet einen Bruch im regelmäßigen Lauf der Zeit, und es bezeichnet einen Kampf, in dem es Sieger und Besiegte gibt« (Latour 2008, 19). Der klassische Begriff der Moderne fasst die Geschichte als einen Prozess, in dem sich bestimmte Werte und Institutionen – vor allem Freiheit, objektive Wissenschaft und Demokratie – Bahn brachen und ihre Überlegenheit demonstrierten. Und genau dieses asymmetrische Narrativ wird von den Kritikern der Moderne – ihren »Verächtern«, wie es in dem oben zitierten Buchtitel zuspitzend heißt – in Frage gestellt. So beschreibt Latour die Moderne als das Projekt einer »großen Reinigung«, das zur Verteidigung und Weiterführung des Fortschritts Natur und Geist säuberlich zu isolieren versucht. Richtig aber wäre es, so Latour, die Kontinuitäten und Verwicklungen dieser Seiten (die »Mischungen«, wie Latour sie nennt) anzuerkennen. Ähnlich weisen Autoren wie Foucault und Derrida kritisch darauf hin, dass sich die Idee eines »reinen Wissens« oder einer »reinen Bedeutung« nicht aufrechterhalten lässt. Wissenschaft ist demnach immer auch eine diskursive, sich über Ausschlüsse stabilisierende Praxis ; scheinbar selbstpräsente Bedeutungen verweisen in einer differentiellen Drift immer wieder auf ihr supplément.27 Die historische Asymmetrie von Moderne und Vormoderne korrespondiert mit einer epistemischen und bedeutungstheoretischen Asymmetrie, und beide sind abzulehnen. Diese Kritiken stärken noch einmal den Punkt, dass die historischen Umbrüche der Moderne nicht so verstanden werden können, als würde sich in ihnen ein reines, unverfälschtes Prinzip anzeigen – der Dreiklang von Freiheit, Wohlstand, Demokratie –, das gleichsam nur noch auf den (geistigen) Begriff gebracht werden muss. Eben das hebt auch der Nexus von Erfahrung und Interpretation hervor, den Wagner einführt : Sowohl das kulturell etablierte Verständnis als auch ihre historischen Bezüge ergeben sich in einem wechselseitigen Deutungsprozess, der sich gerade dadurch als genuin modern erweist, dass er immer wieder auch mit Alternativen konfrontiert wird. Latour und Woolgar 1979 ; Rouse 1996, 2002 ; Foucault 1977 ; Derrida 2006. Wir werden der Idee eines suppléments im letzten Kapitel auch in ­Deweys Instrumentalismus wiederfinden. 27

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§ 13  Besonders deutlich wird die Fruchtbarkeit dieser Kritik einer asymmetrischen Moderne im Fall der sogenannten wissenschaftlichen Revolution. Dieser Begriff wurde unter anderem stark von Alexandre Koyré geprägt, der in den 1950er Jahren davon ausging, dass das 17. Jahrhundert Zeuge eines revolutionären Ereignisses wurde, in dem sich »die« moderne Naturwissenschaft gegen den Widerstand des Aristotelismus etablierte und den Sieg davon trug. An die Stelle des kosmischen Bildes einer »geschlossenen Welt« trat demnach die abstrakte Leere des »unendlichen Universums« der modernen Physik. Hier zeigt sich deutlich die doppelte Asymme­ trie, von der Latour spricht – die Revolution als Ereignis und als Triumph des Wissens. Spätere Wissenschaftshistoriker freilich konnten den Glauben an eine solche Revolution immer weniger teilen.28 So bemerkt Steven Shapin, mit ironischer Distanz an der Schwelle zum 21. Jahrhundert stehend : Some time ago, when the academic world offered more certainty and more comforts, historians announced the real existence of a coherent, cataclysmic, and climactic event that fundamentally and irrevocably changed what people knew about the natural world (Shapin 1998, 1).

Wir können Koyrés Gedanken nicht mehr aufrechterhalten, mit der modernen Wissenschaft breche sich eine einheitliche moderne Weltsicht Bahn, in der »die« wissenschaftliche Methode endlich zu sich selbst komme und althergebrachte Überzeugungen für immer widerlege. Dagegen betont die heutige Wissenschaftsforschung die Diversität der kulturellen Praktiken, in deren unsystematischen Verflechtungen sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse ausbilden und verbreiten. So zeichnen Shapin und Simon Schaffer in ihrem Klassiker über »Leviathan & the Air Pump« (2011) die Beziehungen von Politik und Wissenschaften nach und heben hervor, dass die Idee objektiver experimenteller Evidenz eng mit einer klaren politischen Vision der richtigen gesellschaftlichen Ordnung verflochten war. Diese historisch detaillierte Analyse der Entstehung der Experimentalwissenschaft im 17. Jahrhundert führt vor, dass die Wissenschaften keineswegs eine autonome Manifestation un Eine Kurzgeschichte der wachsenden Zweifel an der Gültigkeit des Konzepts der wissenschaftlichen Revolution geben Shapin und Schaffer (2011, ­x xviii  – xxxi). 28

Moderne als Erfahrung und Interpretation  |  35

abhängiger Ratio­nali­tät sind. Die Grenzen zwischen dem, was als »Wissenschaft« gilt und von ihr auszuschließen ist, waren und sind immer fließend. Sie bilden einen Gegenstand von Aushandlungen, aber auch von Kämpfen, Setzungen und Zufällen.29 Die Pointe dieser Kritik ist nicht, dass Wissenschaft, oder wissenschaftliches Forschen und Argumentieren, keinen Wert hat. Sie weist vielmehr darauf hin, dass bestimmte Werte des Wissens sowie bestimmte Leitvorstellungen dessen, was ›vernünftig‹ ist, in einem so starken Maße auf Idealisierung beruhen, dass sie besser nicht (mehr) ungefragt angenommen werden sollten. Die klassisch modernistischen Vorstellungen der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Vernunft lassen sich nicht (mehr) ungebrochen übernehmen. Auf ein aktuelles Beispiel für die große Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit weisen Shapin und Schaffer gegen Ende ­ihrer Studie hin. Dem Idealbild zufolge sollte modernes Wissen ­öffentlich und transparent sein – Gegenstand eben ständiger Kritik und Neuperspektivierung, wie sie auch hier thematisch ist. Faktisch aber wird das Wissen – so die Autoren im Jahre 1985 – nur von einer verschwindend kleinen Elite verstanden und diskutiert. Wir leben, wie es die Soziologie später formulierte, in einer »Wissensgesellschaft«, ohne jedoch recht über die Mittel zu verfügen, das Wissen wirklich für alle zugänglich und damit auch kritisch revidierbar zu halten.30 »A form of knowledge that is the most open in principle has become the most closed in practice« (Shapin und Schaffer 2011, 343). An dieser Diskrepanz zeigt sich exemplarisch die Bedeutung der Modernekritik : Eine Demokratie, die sich programmatisch auf ein solches Wissen stützt und nicht sieht, dass dieses Ideal keinen Platz in der Wirklichkeit hat, verschließt sich faktisch gegenüber ihren Mitgliedern. § 14  Die Kritik der Moderne ist als der Hinweis zu lesen, dass das klassische moderne Selbstbild eben nicht das letzte Wort sein kann zu der Frage, wie Natur, Geist, Freiheit oder Wissenschaft zu verstehen sind. In diesem Sinne ist die Moderne, wie Lyotard es Vgl. auch Foucault 1977. Eine Verteidigung der »Wissensdemokratie«, die gerade auf der Anerkennung der begrenzten Gültigkeit des Wissens aufbaut, bietet Innerarity 2013. 29

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prominent behauptet hat, eine Metaerzählung, die durch solche Kritiken nicht widerlegt oder ausgehebelt, sondern neu geschrieben (»réécrire«) wird (Lyotard 1988). Es geht darum, die Einseitigkeiten des klassischen Narrativs aufzubrechen. Zumindest diese Intention ist wiederum selbst klassisch modern : Es geht um die Kritik eines Selbstbildes, das sich als dogmatisch einseitig und unsensibel gegenüber neuen begrifflichen, historischen und empirischen Befunden ­erwiesen hat. Eine solche Sensibilität fängt Wagners Auffassung der »Moderne als Erfahrung und Interpretation« gut ein. Spezifisch modern ist nach diesem Verständnis nicht das Ereignis, d. h. der Umbruch, der sich durchaus über Jahrzehnte hinweg entwickeln kann und erst im Rückblick deutlich abgrenzbare Konturen annimmt. Spezifisch modern ist vielmehr die in konkreten Institutionen, Begriffen und Werten verkörperte Form, die die Deutung dieser historischen Erfahrungen annimmt. Auf diese Weise lässt sich die Rede von der Moderne lokalisieren und versachlichen. Sie ist ein Streit um die Deutungen dessen, was in den modernen »Revolutionen« eigentlich geschehen ist – und damit zugleich auch ein Streit darüber, was unsere Gegenwart mit diesen Geschichtsmomenten verbindet. Jede der vorgeschlagenen Deutungen ist dabei, wie Wagner betont, »von Anbeginn umstritten« und wird »im Lichte weiterer Erfahrungen und deren Konsequenzen weiterhin der Revision ausgesetzt« (Wagner 2009, 17).

Autonomie § 15  Der übergreifende Vorschlag dieses Kapitels ist, die theoretischen Diskussionen des 20. Jahrhunderts vor dem weiten, aber eben doch historisch konkretisierbaren Horizont der Moderne zu lesen. Erst so nimmt das leitende Pro­blem der Kritik Kontur an. Wagners Modell der »Moderne als Erfahrung und Interpretation« stellt nun einen allgemeinen Rahmen zur Verfügung, in dem sich diese Pro­ blematisierung der kritischen Vernunft produktiv situieren lässt. Wagner schlägt nun im Weiteren vor, die Besonderheit der Moderne darin zu sehen, dass sie die Fragen, die sie sich stellt, unter einem ganz bestimmten Gesichtspunkt zu beantworten und zu diskutieren Autonomie  |  37

versucht – unter dem Eindruck eines umfassenden Ideals der Auto­ nomie im Denken und Handeln.31 Modern ist demnach die Ansicht, dass sich das menschliche Handeln und Denken zur Selbstbestimmung »verpflichtet«, wie es Wagner formuliert, und sich in diesem allgemeinen Sinne das eigene Gesetz selbst aufzuerlegen versucht : Das heißt einerseits, dass moderne Antworten auf diese Fragen nicht mit Bezug auf externe Autoritätsquellen gegeben werden können. Andererseits impliziert dies, dass jede vorgeschlagene Antwort der Kritik und Infragestellung ausgesetzt ist (Wagner 2009, 15).

Der Gedanke der Autonomie fasst den modernen Gedanken eines Bruchs mit der Vormoderne, der zugleich eine Kritik und eine Korrektur der traditionellen Positionen und Verhaltensweisen sein soll, auf seinen logischen Punkt zusammen. Die Vorgaben der Tradition, der Offenbarung, des Glaubens oder der Natur müssen auch dann, wenn sie richtig sein sollten, von der Vernunft selbst noch geprüft und anerkannt werden. Verweise auf solche Vorgaben sind freilich weiterhin möglich. Sie haben jedoch keine abschließende Autorität. Auch das scheinbar Selbstverständliche muss unter modernen Bedingungen noch reflexiv gerechtfertigt werden : Es muss aufgezeigt werden können, dass der Verweis auf die Autorität, auf die Tradition oder auf empirische Evidenzen auch wirklich ein Grund für bestimmte Konsequenzen ist. Die Moderne muss ihre »orientierenden Maßstäbe«, wie es Habermas formuliert, mit den Mitteln kritischer Reflexion vollständig »aus sich selber schöpfen« (Habermas 1985, 16). Der Autonomiegedanke bringt die allgemeine Form der Antworten zum Ausdruck, die, unter dem Eindruck der zeithistorischen Umbrüche der Wissenschaft, der Politik und der Ökonomie, als »modern« gelten können. Wagner unterscheidet zwischen der »politischen«, der »wirtschaftlichen« und der »philosophischen« Moderne. Hier werden jeweils Pro­blemkomplexe behandelt, die durchaus auch schon vor der Moderne diskutiert wurden : In politi Wagner (2009, 13–34 und passim). Die klassische Quelle dieser Sicht auf die Moderne sind Kant und Hegel ; auf Kant werden wir unten noch näher zu sprechen kommen. Die Verbindung von Moderne und Autonomie heben auch Castoriadis 2006, Schneewind 1998 sowie aus hegelianischer Perspektive Pippin 1991 hervor. 31

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schen Debatten steht die Freiheit im Vordergrund, in der Ökonomie die Verteilung von Gütern und die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse und in der epistemisch orientierten Philosophie die Möglichkeit verlässlichen Wissens. Für die Moderne erweist sich in all diesen Pro­blemkontexten die Forderung nach einer Autono­ mie sichernden Lösung als bestimmend : Gesucht wird nach einem Verständnis, das der menschlichen Selbstbestimmung möglichst großen Raum gibt. Es ist ratsam, noch einmal zu betonen, dass diese »moderne« Auffassung eine Perspektive darstellt, ein prägendes Selbstverständnis, und keineswegs die einzige, zu einer bestimmten Epoche historisch wirkliche Position. Völlig zu Recht spitzt Wagner seine methodische Position auf die Aussage zu, dass »modern« und »Modernität« als eine »Anschauungsweise« zu entziffern sind, nach der »Menschen ihr Leben verstehen« (Wagner 2009, 15). So können, wie Wagner gleich hinzufügt, auch bestimmte Aspekte des antiken griechischen Selbstverständnisses als »in vielerlei Hinsicht hochmodern« (2009, 17) gelten. Trotz dieser Beweglichkeit ist die Verbreitung dieser Auffassung in der Neuzeit kein Zufall. Das moderne Selbstverständnis, dem zufolge das menschliche Denken und Handeln sich keiner fremden Autorität zu beugen hat und sich wesentlich selbst bestimmt, hat in den drei bereits erwähnten historischen Umbrüchen konkrete institutionelle Gestalt gewonnen : in der Demokratie, in der Wissenschaft und in der kapitalistischen Produktionsweise. In ihnen verkörpert sich die typisch moderne »interpretative Beziehung zur Welt«, die unter dem Stichwort der Autonomie »eine Reihe von Pro­blematiken offenlegt oder vielleicht eher : hervorbringt« (Wagner 2009, 363). § 16  An der Geschichte des Autonomiebegriffs lässt sich Wagners Feststellung bestätigen, dass hier eine ›Anschauungsweise‹ zum Ausdruck kommt, die sich auch unter anderen historischen Bedingungen zumindest teilweise entfalten konnte. Der Begriff der Auto­ nomie bezeichnet ursprünglich die Forderung antiker Stadtstaaten nach politischer Selbstverwaltung und Unabhängigkeit (Ritter 1971). Diese antike Bedeutung wurde in der Neuzeit neu aufgegriffen und damit auch transformiert. In den politischen und juristischen Debatten gewann die Autonomieforderung die aufklärerische Autonomie  |  39

Prägung, dass sich nicht nur ein politisches Gemeinwesen, sondern auch das Individuum möglichst selbst regieren sollte, ohne sich einem fremden Souverän zu unterwerfen.32 Wie kein anderer Philosoph vor ihm hat dann schließlich Kant die Selbstreflexion und Selbstbestimmung des Individuums auch explizit an das Grundprinzip der Autonomie gebunden. Seine Philosophie überträgt den politischen Leitgedanken der Selbständigkeit in das praktische und theoretische Feld : Aus der legislatorischen Selbstverwaltung wird bei Kant die subjektiv-rationale Selbstgesetzgebung des Handelns sowie die Selbstbestimmung der Vernunft. Im Opus Postumum bringt Kant seine Philosophie ganz auf den Begriff der Autonomie : »Die Transscendentalphilosophie ist Autonomie« (Kant 1963, 57). Kant brachte mit der Verbindung von Vernunft und Autonomie ein bereits bestehendes Ideal der Aufklärung auf den Punkt. Es artikuliert sich beispielsweise in Des­cartes’ radikalem Zweifel, mit dem die Meditationen beginnen. Dort nimmt Des­cartes sich vor, »Alles zu verwerfen, wo ich irgendeinen Grund zum Zweifel antreffen werde« (Des­cartes 1992, 1). Bemerkenswert ist vor allem, dass Des­ cartes den Zweifel methodisch nutzen will, um zu sicherem Wissen zu gelangen. Dieses Vorgehen impliziert, was der Autonomiebegriff auf den Punkt bringt : Die Vernunft kann für »Alles« einen Grund einfordern und trägt daher, wenn es nötig erscheint, den Zweifel sogar von außen – »methodisch« – an die Sache heran, um sie kritisch zu prüfen. Des­cartes zählt nicht zur Moderne, wie sie hier verstanden wird. Er sucht ein Fundament des Wissens und räumt der Kritik somit nicht den obersten Rang ein, der hier als kennzeichnend für die Moderne genommen wird. Gleichwohl zeichnet seine Philosophie, an der Schwelle zur Moderne stehend, bereits den starken modernen Begriff der Autonomie vor. Des­cartes beschreibt das umfassende kritische Potenzial der Vernunft, indem er ihr die Autorität zuspricht, methodisch alles in Zweifel zu ziehen. Diese umfassende Autorität koppelt Des­cartes jedoch an einen Grundbegriff, der für die spätere philosophische Diskussion der Moderne dann auch ­wesentlich prägender wurde als der Autonomiebegriff : das Subjekt. Vgl. Schneewind 1998. Foucault verbindet mit der Moderne eine zunehmende »intensification du problème de la conduite … prenant … une forme non spécifiquement religieuse et ecclésiastique« (Foucault 2004, 236). 32

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Erneut gelesen, fällt am bereits zitierten Anfang der Meditationen auf, dass Des­cartes alles verwerfen will, »wo ich irgendeinen Grund zum Zweifel antreffen werde« (Des­cartes 1992, 1, meine Hervorhebung). Des­cartes radikalisiert den sokratischen Gedanken der vernünftigen Selbstprüfung, indem er dieser mit dem Subjekt einen privilegierten Ort zuweist. Denn das Subjekt ist vor allem ein topologischer Begriff : Mit ihm wird alles zum Gegenstand kritischer Prüfung und Reflexion, sofern es innerhalb des Bereichs des Subjekts liegt. Das Subjekt steht somit gleichsam für den Raum der vollständigen Reflexivität, in dem sich die Reflexion das Recht nimmt, alles zu prüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Mit dieser Verbindung von Subjektivität und Vernunft legt Des­cartes den Grundstein für die spätere moderne Auffassung des Denkens als vollständig reflexiver Selbstbestimmung. Die denkende Prüfung und Legitimierung wurde als eine genuin subjektive Tätigkeit verstanden, die von einem auf Selbständigkeit drängenden Individuum – schon Des­cartes zweifelt ja in der ersten Person Singular – ausgeübt wird. Insbesondere Hegel, in vielen Punkten ein aufmerksamer Beobachter der Veränderung, die das philosophische Denken in der Neuzeit erfahren hat, machte auf die zentrale Rolle der Subjektivität in der gesamten Philosophie der Neuzeit aufmerksam und zeichnete ihre Bedeutung nach.33 Es führt jedoch nur zu unnötigen Komplikationen, die Autonomie des Denkens direkt an Subjektivität zu koppeln. Der Begriff des Subjekts ist zwar ein erster, aber kein guter Leitfaden für eine Diskussion der modernen Konzeption der Vernunft. Mit der von Des­cartes vorgegebenen ausgreifenden Zuständigkeit versehen, nimmt dieser Begriff Konnotationen an, die insbesondere im 19. und 20.  Jahrhundert die Diskussion deutlich verzerrten. Das Subjekt, eingeführt als ein logischer Raum der Selbstbezüglichkeit, wurde zunehmend primär psychologisch gedeutet : als der Raum des individuellen Bewusstseins. Heute dominiert diese Perspektive. Das Subjektive steht für Individualität und Innerlichkeit ; für die eigene, unverwechselbare Perspektive ; für Willkür, Träume und bloße Meinungen. Dieses Subjektive wird dann von dem »objektiven« Wissen und den Tatsachen Habermas (1985, 26–33) gibt eine Übersicht zu Hegels Identifikation der Subjektivität als Grundbegriff der Moderne. 33

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scharf getrennt. So hat sich vor allem im 19. Jahrhundert ein Bild von Subjektivität und Objektivität etabliert, das diese Begriffe als unversöhnliche Gegensätze auffasst. Im Endergebnis wurde der bei Des­cartes zu beobachtende Grundgedanke umgekehrt : Stand die Subjektivität bei Des­cartes noch für den Raum der logischen Reflexivität, die Objektivität erst im Wege der Selbstprüfung garantieren konnte, wird sie durch die Identifikation mit dem bewussten Individuum zu einem Hindernis, das es im Namen objektiver Erkenntnis auszuräumen gilt. Vor allem in den Naturwissenschaften, aber nicht nur dort, galt Subjektivität geradewegs als ein Störfaktor objektiver Erkenntnis, der mit strenger Methode ausgeschaltet werden musste (Daston und Galison 2007). Gegenüber diesem Subjektbegriff mit seiner wechselhaften und überdeterminierten Begrifflichkeit eignet sich der Begriff der Autonomie wesentlich besser zur Diskussion des modernen Vernunftverständnisses. Er weist vor allem einen Vorteil auf : Das Subjekt bezeichnet eine absolute Entität, die vorliegt oder nicht ; Konzepte dynamischer Subjektivität müssen auf Begriffe wie »Selbst« oder eben »Subjektivität« ausweichen. Autonomie hingegen ist von Anfang an eine – wie ich es nennen möchte – skalierbare Größe. Die Autonomiethese sollte als eine Idealvorstellung begriffen werden, die in ganz unterschiedlichen Weisen realisiert werden könnte und darüber hinaus auch Abstufungen und unterschiedliche Grade ihrer Verwirklichung zulässt. In dieser Perspektive stellt Kants Philosophie eine extreme und nicht unbedingt hilfreiche Ausprägung des Autonomiegedankens dar. Kant unterschied so rigoros zwischen Autonomie und Heteronomie, dass keine Abschattungen und Zwischenstufen mehr möglich sind. Er vertrat somit eine Konzeption absoluter Autonomie, die entsprechende konzeptionelle Schwierigkeiten nach sich zieht. Christoph Menke (2010) weist (im Anschluss an Pinkard 2002) darauf hin, dass Kants Autonomieverständnis mit der Paradoxie des Selbstanfangs behaftet ist. Wie kann ein Subjekt frei entscheiden, sich autonom selbst zu bestimmen ? Wenn es bereits frei ist, bedarf es dieses Entschlusses nicht. Wenn es also nicht bereits frei in die Selbstbestimmung hinein tritt, dann ist diese Autonomie nur scheinbar frei, da sie an eine Bedingung gebunden ist, die sie selbst nicht kontrollieren kann. »Deshalb bleibt die Autonomie angewie42  |  Autonomie und Moderne 

sen auf eine Tat der Befreiung, die selbst keine autonome Handlung sein kann« (Menke 2010, 676 f.). Diese Paradoxie entsteht jedoch nur, wenn die Autonomie – wie auch die mit der Autonomie verbundene Freiheit – absolut verstanden wird, als ein unbedingter Bruch, als den die Moderne sich ja auch immer wieder selbst zu verstehen versucht hat. Die unterschiedlichen Formen, die Autonomie im politischen Bereich annehmen kann, lassen dagegen deutlich werden, dass diese Annahme nicht zwingend ist. Autonomie kann durchaus in Graden wachsen, so wie auch Freiheit unterschiedliche Grade kennt. Sie kann mehr oder weniger, besser oder schlechter realisiert werden ; und vor allem kann umstritten bleiben, worin genau Autonomie besteht, ohne dass sich diese kritische Diskussion damit bereits sofort in einen Selbstwiderspruch verstrickt.

Erfahrung und Wissenschaft § 17  Die moderne Auffassung, dass Vernunft in einem wesentlichen Sinne als autonom verstanden werden muss, bleibt unvollständig ohne den Begriff, der im Zentrum dieser Untersuchung steht : den Begriff der Erfahrung. Wenn die Frage der philosophischen Moderne lautet : Wie ist die kritische Kompetenz des Denkens überhaupt möglich ?, dann lautet ihre immer wieder pro­blematisierte Antwort : durch die Erfahrung. Kritik ist nicht nur der Anspruch, sich seiner eigenen Urteile und Maßstäbe reflexiv zu vergewissern. Sie schließt auch die Auffassung mit ein, dass diese kritische Ratio­nali­tät sich gegenüber der Erfahrung offen hält, sich von ihr irritieren, affizieren und damit letztlich auch korrigieren lässt. Die kritische Vernunft ist selbstkritisch und erfahrungsoffen, oder genauer : sie kann selbstkritisch sein, insofern sie erfahrungsoffen bleibt. Als Paradigma dieser Auffassung von Kritik müssen die Natur­ wissenschaften gelten. Gerade für das klassische Narrativ der Moderne ist die Naturwissenschaft ein Unternehmen, das durch die gelungene Synthese von Selbstkritik und Erfahrungsbindung die ›wissenschaftliche Revolution‹ ermöglichte. Freilich ist diese Auffassung nicht die einzige Quelle der modernen Idee kritischer Selbstbestimmung. Mit Charles Taylor (1998) müssen als weitere Erfahrung und Wissenschaft  |  43

Momente die protestantische Betonung der inneren Subjektivität genannt werden sowie die damit einhergehende Aufwertung, ja »Bejahung« des gewöhnlichen Lebens (affirmation of ordinary life). Das gute Leben wird nicht mehr in einem speziellen Bereich von Tätigkeiten gesucht, die als »höherwertig« gelten und einer Elite – etwa Aristokraten, Mönchen, Priestern oder Gelehrten – vorbehalten sind. Mit der Neuzeit entwickelte sich vielmehr die Auffassung, dass gerade das alltägliche, praktische Leben in seiner Gewöhnlichkeit der Schauplatz des spirituellen Dramas von Gnade, Berufung und Bewährung ist. Hannah Arendt bezeichnet diese Entwicklung gar als eine »Umkehrung der überkommenen hierarchischen Ordnung von Vita contemplativa und Vita activa« (Arendt 1996, 367–375). Erst durch diese Umwertung wird die Ansicht plausibel, dass das Denken seinem Wesen nach kritisch ist – bei allen denkenden Wesen und in allen Belangen. Diese doppelte Aufwertung der Innerlichkeit und des Gewöhnlichen ist eine wichtige Quelle der modernen Konzeption der Kritik. In Fortsetzung der bisherigen Diskussion werde ich mich hier jedoch auf die Rolle der Wissenschaft beschränken. Die Wissenschaft, oder ein bestimmtes Bild von ihr, ist immer wieder der Bezugspunkt epistemischer und rationalitätstheoretischer Diskussionen, im positiven wie auch – man denke etwa an die Dialektik der Aufklärung – im negativen Sinne. Oft sind sich dabei Gegner und Befürworter darin einig, dass mit der Wissenschaft eine Praxis vorliegt, die sich keiner externen Autorität beugt und den Anspruch erhebt, sich allein an den Sachen selbst zu orientieren. Für diesen Anspruch steht der Begriff der Erfahrung. § 18  Die starke Auffassung von Kritik und Autonomie, die kennzeichnend für die Moderne ist, korrespondiert mit einem ebenso starken Begriff der Erfahrung, die nun – wohl schon bei Bacon, spätestens aber seit Locke – immer wieder als ein dem Denken ex­ terner Maßstab verstanden wird. An ihm kann die Vernunft ihre Auffassungen prüfen, ohne sich in Dogma und Tradition zu verstricken. Erfahrung und Autonomie sind damit zwei Seiten derselben kritischen Medaille. Das Denken kann seine Autonomie verwirk­ lichen, insofern es mit der Tradition brechen und sich der Erfahrung zuwenden kann. 44  |  Autonomie und Moderne 

So beschreibt Peirce (EP I, 110) das moderne naturwissenschaftliche Denken als eine Methode der Wissensbegründung, die sich weder auf »authority« noch allein auf »reason« stütze. Und Kant verteidigt die empirische Bindung der Erkenntnis als zentrales Kriterium rationalen Wissens, welches verhindert, dass die Vernunft »im freien Fluge« (KrV B, 8) über die Grenzen möglicher Erkenntnis hinausstrebt – es verhindert also eben jenen Zustand, in dem die Meta­physik seiner Meinung nach sich längst verstrickt habe, weil hier jede Meinung gleichermaßen gelten kann und keinen »Prüfstein« in der Erfahrung finde. Erst der kritische Abgleich mit der Erfahrung befähigt nach dieser verbreiteten Haltung dazu, sich sachlich zu informieren, anstatt in dogmatischen (oder, wie es dann im Wiener Kreis heißt, ›metaphysischen‹) Begriffsverwirrungen zu verharren. Erfahrung in dieser Funktion steht für den verbindlichen und korrigierenden Kontakt mit der Wirklichkeit, sei dieser nun durch die Sinne, durch Falsifikationen oder durch unbezweifelbare Beobachtungssätze gewährleistet. So verstanden ist die Erfahrung ein Garant und ein Motor des autonomen Denkens. Dieses positive Verständnis der Erfahrung stützt sich ganz wesentlich auf die experimentelle Praxis der Naturwissenschaften, der aus diesem Grund auch eine herausragende Bedeutung für die Moderne zukommt. Die oben entwickelten Zweifel über den Wert der Behauptung einer ereignishaften »Revolution« der Wissenschaft sind dabei zu berücksichtigen. Die moderne Naturwissenschaft ist nicht das Resultat der einen, umwälzenden Revolution, die das traditionelle Weltbild vollständig umstürzte und ersetzte. Auch ist es ratsam, Abstand zu der klassischen Glorifizierung der Wissenschaft zu nehmen, die in ihr die ausschließliche Form rationalen Denkens sieht. Gleichwohl muss anerkannt werden, dass sich eine herausragende epistemische Praxis mit den bekannten technologischen und weltanschaulichen Konsequenzen etablierte. Die Leistungsfähigkeit der Naturwissenschaften und des naturwissenschaftlichen Wissens verleiht dem modernen Verständnis kritischer Vernunft seine Plausibilität. Es etablierte sich ein Wissen, das inhaltlich überraschend anders war und sich zugleich beeindruckend effektiv anwenden und vertiefen ließ. Hier liegt durchaus eine Gestalt rationalen Handelns vor, die in einem bis dahin ungekannten Ausmaß Kritik auszuüben vermochte. Erfahrung und Wissenschaft  |  45

Von Anfang an diente der Begriff der Erfahrung den ersten ›Naturphilosophen‹, wie sich die Wissenschaftler damals noch nannten, zur Abgrenzung dieses neuen (also neuzeitlichen) Verfahrens von der scholastischen Konkurrenz. Von Anfang an zeigte sich dann aber auch schnell, dass diese positive Rolle der Erfahrung schwer reflexiv einzufangen ist. So waren sich die frühneuzeitlichen Philo­ sophen von Bacon bis Hobbes durchaus einig in der Feststellung, dass in ihren Augen der Erfahrungsbezug die revolutionären Umwälzungen des Wissens vorantrieb. Die Erfahrung war es, die das »neue«, moderne Wissen gegenüber der scholastischen Tradition abhob und auszeichnete : »In principle … the moderns’ recommendation was clear : obtain experience yourself ; mind not words nor traditional authority but things« (Shapin 1998, 80). Die empirischen Wissenschaften scheinen ihre Kraft und Wirksamkeit aus der Erfahrung zu beziehen ; der Erfahrungsbezug unterscheidet ihre Praktiken von den scholastischen Traditionen, ermöglicht ihre Fortschritte. Doch in der Reflexion zeigte sich, dass gar nicht klar ist, worin genau dieser Erfahrungsbezug besteht. Es blieb kontrovers, methodisch wie philosophisch, was den spezifisch wissenschaftlichen Umgang mit der Erfahrung ausmacht. Schon in der Neuzeit war also unklar, wie genau die Erfahrung kritisches Denken ermöglichen kann (Shapin 1998, 80 f.). Diese Vieldeutigkeit bestätigt noch einmal die historisch-methodische These, dass die Zuschreibungen der Moderne selbst Interpretationen historischer Erfahrungen sind : Der Übergang zur neuzeitlichen Naturphilosophie gleicht mehr einem Prozess, der der Deutung bedarf, als einem einfachen Durchbruch progressiver Vernunft. § 19  Die »neue« Wissenschaft und ihr Ideal des Erfahrungswissens stellte der modernen Philosophie eine unabweisbare, aber zugleich auch der Auslegung bedürftige rationale Praxis zur Verfügung. Die Erfahrung – als Teil des skizzierten Idealbilds »der« Wissenschaften – ist ein zentrales Bezugspro­blem der neuzeitlichen und dann der modernen Debatten über das kritische Potenzial des Denkens. Diese Feststellung gilt selbst für Des­cartes.34 Zwar erhebt der Ratio­ Ich danke Fabian Börchers dafür, dass er mich auf diese Möglichkeit der Des­cartes-Deutung hingewiesen hat. 34

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nalist sich in seinen Meditationen in die metaphysischen Höhen des Gottesbeweises und argumentiert für die Möglichkeit eines unbezweifelbaren und daher von aller Empirie getrennten fundamentalen Ausgangspunktes rationalen Denkens. Doch nachdem dieser höchste Punkt der Gewissheit und der Selbstvergewisserung erreicht ist, verteidigt Des­cartes in der letzten Meditation die vernünftige Reflexion als ein Verfahren, das sich an dem orientiert, was sie aus der Erfahrung gewinnt. Nach der metaphysischen Absicherung steht dem Zeugnis der Sinne kein prinzipieller Zweifel mehr entgegen : »so brauche ich nicht weiter zu fürchten, daß das mir von den Sinnen täglich Dargebotene falsch sei« (Des­cartes 1992, 161). Das cogito dient der Absicherung der Erfahrung. Und so beteiligte sich Des­cartes ja auch in seinen naturphilosophischen Schriften kräftig an den wissenschaftlichen Diskursen seiner Zeit, deren Möglichkeit seine metaphysischen Reflexionen verteidigen. Kant unternahm nicht mehr den Versuch, die empirischen Wissenschaften zu begründen. Er ging vielmehr von dieser Praxis aus und stellte sie als gegebenen Maßstab auch der philosophischen Reflexion hin. Er begründet das Projekt einer Kritik der reinen Ver­ nunft mit dem Hinweis auf das Vorbild erstens der Mathematik und zweitens der Naturwissenschaft, »so fern sie auf empirische Prinzipien gegründet ist« (KrV B, XII). Diese Wissenschaften sind endlich auf »den sicheren Gang einer Wissenschaft« gelangt, und die Meta­ physik soll von diesen Vorbildern lernen, um ihre eigenes »Herumtappen« zu überwinden. Kant schwebte dabei kein Reduktionismus vor ; seine Philosophie ist motiviert von dem Bestreben, das Feld des Wissens einzugrenzen, um auf diese Weise Wissenschaft und Moral, Freiheit und Determinismus vereinen zu können. Doch er etablierte ein einflussreiches Ideal der Philosophie als eine letztlich selbst wissenschaftliche Form des Denkens, an das bei aller Kritik an Kant auch die postkantische Tradition festhielt. Umgekehrt waren es dann die romantischen Kritiker der Vernunftphilosophie, die sich von dem Paradigma der Wissenschaften entfernten und die Kunst als gleichwertige oder sogar überlegene Form der Wirklichkeitserschließung verteidigten.35 Vgl. dazu Pippin (1991), der die Romantik als eine Art »Postmoderne avant la lêttre« (das ist meine Formulierung) beschreibt. 35

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Nach Hegels Tod schließlich treten wir in das lange Jahrhundert ein, in dem sich der Pragmatismus, der Logische Empirismus und die postanalytische Philosophie herausbildeten. Alle drei begriffen sich als eine philosophische Ausdeutung der Lehren »der« Wissenschaft. Peirce und Dewey wählten, worauf wir im vorletzten Kapitel vertiefend eingehen werden, das wissenschaftliche Experiment als Paradigma gelingender Vernünftigkeit ; der Logische Empirismus verfocht eine »Wissenschaftliche Weltauffassung« (Neurath 1981) mit sozialrevolutionärem Pathos, die durch konsequente Anwendung des wissenschaftlichen Erfahrungsbezuges eine Befreiung von lähmenden Vorurteilen und Dogmen versprach. Quine (1951) und Sellars (1963), um nur zwei Beispiele aus der postanalytischen Tradition zu nennen, argumentierten im Namen einer Verteidigung der selbst-korrigierenden wissenschaftlichen Ratio­nali­tät gegen den Wiener Kreis, der ihnen noch zu dogmatisch war. Selbst zahlreiche Kritiker dieser wissenschaftsaffinen Traditionslinie der Philosophie, wie etwa Nietzsche und Foucault, sahen ihre Korrekturen dessen, was sie für eine moderne Selbstüberschätzung der Vernunft hielten, gedeckt durch die faktischen Einsichten in die psychologische Natur des Menschen sowie durch eine genealogische Berücksichtigung der konkreten und damit eben nicht nur idealisierten Geschichte (Saar 2007). Auch die Kritiker der Moderne wollen auf den objektivierenden Erfahrungsbezug als Hebel der Kritik nicht verzichten.

Die skeptische Moderne § 20  Es wird deutlich, dass die moderne Fraglichkeit der Vernunft und damit ihre Bestimmung als eine kritische Institution eine klar konturierbare Geschichte hat. Sie orientiert sich in großen Teilen an der Praxis der Wissenschaft, weil diese wie kaum eine andere Praxis das Ideal der autonomen Vernunft verkörpert. Hier scheint – zumindest im idealisierenden Blick vieler Philosophen – eine Praxis vorzuliegen, in der durch eine selbstbestimmte, von fremden Einflüssen unbehinderte Reflexion die Sache selbst ihr Recht erhält. Diese Sicht setzt die Erkenntnistheo­rie, also die Pro­blematisierung der Möglichkeit des objektiven Wissens, in das Zentrum der modernen Philosophie. Die Wissenschaften verkörpern ein schwieri48  |  Autonomie und Moderne 

ges, aber anhaltend attraktives Paradigma der kritischen Autonomie des Denkens. Zur Moderne gehört jedoch nicht nur der Glaube an die Wissenschaften und ihren Vorbildcharakter, wie er bei Des­cartes und dann in seiner reifen modernen Form bei Kant auftritt. Zur Moderne gehört auch der selbstkritische Zweifel an der Tragfähigkeit dieser Auffassung. Dieser Punkt ist wichtig für die angemessene Situierung des Pragmatismus, der postanalytischen Philosophie und des Logischen Empirismus. Alle drei argumentieren bereits vor dem Hintergrund einer skeptischen Moderne, die das Ideal der Wissenschaft nicht mehr ungebrochen übernehmen kann. Zwar spielt bei ihnen die Wissenschaft nach wie vor eine paradigmatische Rolle bei der Frage, was es heißt, Wissen zu erwerben. Doch der Erfolg der Wissenschaften steht nun unter dem Vorzeichen eines verstärkten Bewusstseins der Endlichkeit und Geschichtlichkeit alles Wissens. Dies setzt die Reflexion (und die Verteidigung) des Autonomie­ ideals unter erhöhten Druck, denn es scheint, als könnten immer weniger Inhalte in den Bereich der sich selbst bestimmenden Vernunft mit aufgenommen werden. Auch Terry Pinkard (1999) greift zur Einordnung der Philosophie im 20. Jahrhundert auf diese skeptische Dimension der Moderne zurück. Ähnlich wie die vorliegende Studie erklärt er den starken Fallibilismus, der für lange Zeit die theoretische Philosophie dominierte, als eine Reaktion auf inner- und außerphilosophische Ereignisse. Pinkard spricht von einer umfassenden »skeptischen Erfahrung« (Pinkard 1999, 189), die charakteristisch ist für die Moderne überhaupt. Diese Erfahrung ist vor allem eine historische Erfahrung – also eine Erfahrung der Geschichtlichkeit und damit der prinzi­ piellen Fehlbarkeit von ehemals festen Überzeugungen und Wissensansprüchen. Pinkard verweist auf die geradezu schwindelerregende Dynamik, die das 19. und das 20. Jahrhundert in der Wissenschaft, aber eben auch in der Politik und der Kultur erlebt hat. Beispiele für diese Dynamik sind etwa die Entwicklung der Relativitätstheo­ rie und der Quantenphysik, der Zerfall der Monarchien in Europa, die starke Industrialisierung, der technologische Fortschritt sowie die zunehmende Vernetzung der Kommunikation.36 Eine andere, für Jürgen Osterhammel (2009) spricht von einer »Verwandlung der Welt« im

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die Vereinigten Staaten und damit für den klassischen Pragmatismus sehr prägende Erfahrung war der Amerikanische Bürgerkrieg (­Menand 2001). Ehemals feste Überzeugungen und stabile Grenzen wurden im Zuge dieser Dynamiken verschoben oder gar verflüssigt – in der Politik, in der Gesellschaft und in der Wissenschaft. Daraus resultiert der Skeptizismus, den Pinkard anspricht. Diese Skepsis ist keine epistemologische Position über die Unmöglichkeit der Erkenntnis, sondern eher eine historisch informierte Zurückhaltung bei der Verteidigung von Wissensansprüchen. Die vielen politischen Wandlungen und intellektuellen Korrekturen, die seit der Mitte des 19. Jahrhundert ein ›moderner‹ Mensch innerhalb der Spanne seines Lebens erleben konnte, legen die rückblickende Wahrnehmung nahe, sich so gut wie immer geirrt zu haben. Die Behauptung, im Besitz festen und unangreifbaren Wissens zu stehen, wird so im Nachhinein zu der skeptischen Feststellung, dass – wie Pinkard es formuliert – »›we‹ both collectively and individually are prone to fool ourselves« (Pinkard 1999, 189). § 21  Mit Blick auf die bisherige Rekonstruktion der Moderne lässt sich feststellen, dass diese skeptische Erfahrung schon in der Selbstidentifikation der Moderne als einem revolutionären Umbruch enthalten ist. Schließlich bezieht die Moderne ihren Gründungsimpuls aus der Feststellung, dass – um Pinkards (1999, 189) oben verwendete Formulierung aufzugreifen – die Vormoderne durchaus geneigt war, sich zu täuschen und zu betrügen (»to fool oneself«). Im 19. und 20. Jahrhundert wurde immer deutlicher, dass diese Veränderungen nicht zu einem Abschluss zu kommen scheinen. Das Pro­blem der Kritik wird auf diese Weise reflexiv gesteigert. Nicht nur die Ansichten »der Tradition« haben sich als irreführend erwiesen ; auch die modernen Lehren selbst verlieren offenbar irgendwann an Grund. Freilich ist es selbst wiederum irreführend, aus dieser Entwicklung den genuin skeptischen Schluss zu ziehen, alle irrtümlichen Meinungen seien eine völlige Täuschung gewesen. Es ist das Merk19. Jahrhundert ; Steffen Martus (2015) beschränkt sich auf das Deutschland des 18. Jahrhunderts, erzählt aber eine ähnliche Geschichte des ständigen Wandels auf geistiger, technischer, politischer und nicht zuletzt religiöser Ebene. 50  |  Autonomie und Moderne 

mal des kartesischen epistemischen Fundamentalismus, aus der Erfahrung des Irrtums die Abwertung des ganzen bisherigen Wissens zu schließen. Tatsächlich handelt es sich aber um die Erfahrung, dass das bisherige Wissen in einer spezifischen Hinsicht mangelhaft ist. Das neue Wissen baut auf das alte auf, und sei es auch nur dadurch, dass die alten Antworten nicht mehr weiterverfolgt werden müssen.37 Gleichwohl ist Pinkard darin zuzustimmen, dass diese Dynamik eine skeptische Zurückhaltung erzeugt, ein verstärktes Bewusstsein für die Irrtumsanfälligkeit alles Wissens. Diese Zurückhaltung spiegelt sich auch in den philosophischen Diskussionen wider. Folgt man der Entwicklungslinie von Empirismus, Idealismus und Posi­ tivismus, so lässt sich eine zunehmende Pro­blematisierung der wissenschaftlichen Methode und ihres Vorbildcharakters für die Philosophie feststellen. Waren Des­cartes und Kant noch der Meinung, sie könnten die Naturwissenschaften und die Mathematik als solide Grundformen der Welterschließung verteidigen, setzte im 19. Jahrhundert eine Pluralisierung und Historisierung der Wissenschaften ein. Es zeigte sich überdeutlich, dass die objektiven Theo­rien und Erkenntnisse von gestern aus heutiger Perspektive immer nur Zwischenschritte und Teilperspektiven sind. »Die Theo­rien«, so schreibt Ernst Mach bereits im Jahre 1872, »sind wie dürre Blätter, welche abfallen, wenn sie den Organismus der Wissenschaft eine Zeit lang in Atem gehalten haben« (zitiert in Uebel 2000, 226). Die organizistische Metaphorik verweist indirekt auf das Pro­blem, dass bereits gar nicht mehr klar ist, was die Wissenschaft als solche ausmacht : Ein Organismus wird nicht mehr begründet oder gerechtfertigt ; seine Existenz wird schlicht als Faktum hingenommen. So kommt es zu einer anhaltenden »epistemologischen Krise« (Rheinberger 2007, 15–35). Kuhns unglückliche These der Inkommensurabilität wissenschaftlicher Paradigmen hat viel dazu beigetragen, den Wandel der Theo­rien immer wieder als eine Geschichte diskontinuierlicher Brüche zu sehen. Doch Einsteins Relativitätstheo­rie, um nur ein Beispiel zu nennen, ist keineswegs ein kompletter Neuanfang, der Newtons Physik verwirft oder auch nur unverständlich macht ; vielmehr begreift sie diese als einen Spezialfall ihrer eigenen Beschreibung. Und nur so kann es auch sein, wenn denn nicht alle Resultate als falsch gelten sollen, die sich auf die bisherige Theo­rie stützen. 37

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Diese Krise ist paradoxerweise ein Ergebnis des großen Erfolgs der wissenschaftlichen Methode. Die positiven Wissenschaften emanzipierten sich von den philosophischen Versuchen ihrer Legitimierung, sie forderten Autonomie für sich selber ein. Auch erhoben neue Disziplinen wie die Psychologie und die Soziologie den Anspruch, klassische Kernbereiche der Philosophie fortschrittlicher, nämlich objektiv und empirisch, zu klären. Doch wurde parallel zu diesem institutionellen Erfolg das Begründungsdefizit immer deutlicher. So verteidigte Emil Du Bois-Reymond (1912) in einer auch im Jahre 1872 gehaltenen Rede offensiv die Ansicht, dass gerade die Grundbegriffe von Materie und Kraft, auf die sich die naturwissenschaftliche Theo­rie unvermeidlich stützen muss, nicht weiter begründet werden können. Seine Forderung ist deutlich : Von den Forschern müssten sie »mit männlicher Entsagung« (Du Bois-Reymond 1912, 464) als schlicht unerklärlich hingenommen werden. Theoretische Entsagung, in Form eines zunehmenden Verzichts auf weiterreichende Erklärungsansprüche, war tatsächlich die Reaktion der Epistemologien dieser Zeit. Kant glaubte, mit den Wissenschaften und ihrer experimentellen Methode die Meta­physik aus ihren Selbstwidersprüchen befreien zu können. Im 19. Jahrhundert zerbrach diese Allianz von Philosophie und Wissenschaft. Der Aufruf zur Wissenschaftlichkeit wurde zum Schlachtruf gegen die Meta­physik, welche dann wiederum mit der Philosophie selbst identifiziert wurde.38 Die Wissenschaft war kein Vorbild mehr für eine umfassende philosophische Welterkenntnis. Sie wurde nur noch als ein »systematisches Mittel zur Klassifikation von Erfahrungsdaten und ihren Regelmäßigkeiten« gesehen (Uebel 2000, 220). In der Wissenschaftstheo­rie entwarfen Autoren wie Mach, Poincaré und Duhem einen Konventionalismus, der sich von onto­ logischen Aussagen fernhielt. Der moderne Positivismus entwickelt ein im Verhältnis zur Neuzeit deutlich reduziertes Verständnis der wissenschaftlichen Vernunft und ihrer welterschließenden Kraft. Der vor allem vom Logischen Positivismus ausgesprochene Bann »der« Meta­physik hatte freilich nur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts übergreifenden Bestand. Seit Strawsons deskriptiver Meta­physik (2011) sind auch innerhalb der analytischen Tradition metaphysische Debatten wieder möglich (Laurence und Macdonald 1998). 38

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§ 22  Die Positionen des Pragmatismus, des Wiener Kreises und der postanalytischen Philosophie sind vor dem Hintergrund dieser epistemologischen Krise zu sehen. Ihre Überlegungen stehen auch gerade dort, wo sie weiterhin die Möglichkeit der Erkenntnis verteidigen, unter dem Eindruck eines radikalen Fallibilismus, für den das wissenschaftliche Wissen kein abschließendes Fundament mehr kennt und sich ständig im Fluss befindet. Sinnbild dieses zutiefst skeptischen Verständnisses ist Otto Neuraths bekannter Vergleich des Wissens mit einem Schiff auf hoher See. Nach diesem Gleichnis gibt es keine Hoffnung, dass das Schiff des menschlichen Wissens je auf ein Trockendock gestellt werden könnte, wo es sich von Grund auf neu zusammenbauen ließe. Der Umbau des Schiffes – also die Kritik – hat nur das eigene Material sowie zufälliges »Treibgut« (so Neurath) zur Verfügung. Das Wissen lässt sich nicht zerlegen und neu zusammenfügen, seine Revisionen finden gleichsam immer nur in vivo statt, auf offener See.39 Neuraths Schiff ist ein Emblem für das fallibilistische Grundverständnis, vor dessen Hintergrund ein Großteil der theoretischen Philosophie des 20. Jahrhunderts operiert.40 In dem postanalytischen Zweig der englischsprachigen Philosophie ist Neuraths Gleichnis, wie Terry Pinkard (1999, 188) festhält, in den Rang einer regelrechten Orthodoxie aufgestiegen. Affirmativ zitiert oder para­phrasiert wird es beispielsweise von Quine (1970, 3), Davidson (2009b, 169), Rorty (1972, 663), und McDowell (1996, 81). Aber auch bei Peirce findet sich, hundert Jahre vorher, eine ähnliche Metapher (zitiert in Misak 2013a, 1109 f.). Der Pragmatist vergleicht die Tätigkeit der Forschung mit dem Marsch durch einen Sumpf, in dem jeder feste Grund schließlich unter den Füßen nachgeben Thomas Uebel (2000, 21) listet über fünf Stellen auf, wo Otto Neurath dieses Bild verwendet. 40 Dieser Fallibilismus ist freilich nie die einzige Stimme in der Erkennt­ nistheo­rie gewesen. Glock 2008 zeigt, wie selbst innerhalb der ja insgesamt sehr wissenschaftsaffinen analytischen Philosophie auch apriorisches, onto­logisches und metaphysisches Denken wieder neu erblühen konnte. Allgemein scheint mir im 20. Jahrhundert jedoch diese fallible Haltung, die ja auch im Postrukturalismus, der Phänomenologie und der Hermeneutik zu finden ist, zu überwiegen. Der aktuelle Boom des »Neuen Realismus« (Meillassoux 2013 ; Gabriel 2014) belegt diesen Eindruck indirekt, da sie sich als eine revolutionäre Abkehr von den skeptischen Tendenzen der Moderne versteht. 39

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wird. Beide sprachlichen Bilder, das Schiff und der Sumpf, betonen die Prekarität des Wissens und damit die provisorische Natur aller Wissensansprüche, einschließlich derer der Naturwissenschaften. Die theoretische Philosophie des 20. Jahrhunderts – eingeschlossen den Pragmatismus – ist als eine reflexive Pro­blematisierung dieser Wahrnehmung zu lesen.

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Formale Vernunft : Der Erfahrungsbegriff des Wiener Kreises Die Bedeutung des Wiener Kreises § 23  Dieses Kapitel stellt eine bekannte Philosophie in den Vordergrund, die heute kaum noch systematisch diskutiert wird : der Logische Empirismus des Wiener Kreises. In den 1920er bis 1960er Jahren war die Situation anders. Der Wiener Kreis dominierte die analytische Sprachphilosophie und Wissenschaftstheo­rie, und ein Großteil jener Autoren der analytischen Tradition, die hier als »postanalytisch« bezeichnet werden – wie etwa Davidson –, arbeitete sich regelrecht an den Thesen und Positionen des Logischen Empirismus ab. Diese Kritik erwies sich als äußerst effektiv. Zahlreiche Grundannahmen des Wiener Kreises wurden verworfen, und seine Repräsentanten galten schließlich als konservative Wissenschaftsverehrer, deren Theo­rie nicht mehr auf der Höhe der Zeit war.41 Historisch ist der Wiener Kreis also bedeutsam, weil er den Debatten der postanalytischen Kritiker bis in unsere Zeit hinein entscheidende Impulse gegeben hat. Das gilt besonders für die Frage, wie Sprache und Welt verbunden sind. Wie hängt sprach­liche Bedeutung, als Medium des Denkens, Urteilens und Handelns begriffen, mit der Wirklichkeit zusammen, auf die sich die in der Sprache formulierten Sätze beziehen ? Dieser Klassiker der sprachphilosophischen Diskussion des 20. Jahrhunderts wurde nicht zuletzt durch die provokante verifikationistische These des Wiener Kreises befeuert, wonach der Sinn von Aussagen ausschließlich in der Me Peter Godfrey-Smith (2003) gibt eine konzise Übersicht der Positionen des Wiener Kreises und weist auch auf die schlechte Reputation hin : »they were seen as stodgy, conservative, unimaginative science-worshipers« (2003, 30). Die Wahrnehmung, dass der Wiener Kreis nur noch den Fortschritt hemmte, spiegelt sich auch in dem persönlich gefärbten Bericht eines Kritikers, der sich erinnert : »Suddenly we knew the war had been won« (Suppe 2000, S 102). 41

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thode ihrer Verifikation liege.42 Nur das soll verständlich sein, was eine objektive – und das hieß für den Wiener Kreis : wissenschaftlich nachweisbare – Verankerung in der ›empirischen‹ Wirklichkeit hat. Andernfalls, so die im Grunde extrem sprach­skeptische These des Wiener Kreises, müsste konsequent zugestanden werden, dass diese Aussagen ohne Sinn seien. Diese These ist sprachphilosophisch gleichermaßen kühn wie unhaltbar. Aber die damit gestellte Frage durchzieht die postanalytische Diskussion bis in die Gegenwart hinein : als der Streit darüber, ob wir über die diskursiven Sprachbeziehungen hinaus noch die Annahme brauchen, in ihnen spiegele sich eine davon unabhängige Welt, an der diese Beziehungen zu messen sei.43 Der polemische Ton, der diese Debatte vor allem in den 1980er Jahren prägte, hat sich im 21. Jahrhundert etwas gemildert ; unter anderem auch deshalb, weil der starke linguistic turn an Einfluss verloren hat.44 Auch wenn Sprache in der postanalytischen Philosophie immer noch im Zentrum der Thematisierung unseres Welt- und Selbstverhältnisses steht, wird nicht mehr davon ausgegangen, dass allein die philosophische Reflexion auf die Sprache im Stande ist, diese Fragen zu klären. Die Diskussion des sprachlichen Verstehens wird wieder in allgemeinere Begriffe des Geistigen eingebettet, zu denen dann auch naturgegebene Fähigkeiten oder die konkrete intersubjektive Praxis des Umgangs mit der Welt zählen können. Aus der reduktiven Konfrontation von Sprache und Wirklichkeit wird so das umfassendere Spannungsverhältnis von »Geist und Welt« (­McDowell 1996). Das Pro­blem des Weltbezugs und die Auseinandersetzung mit Realismus, Skeptizismus oder Konstruktivismus sind damit freilich nur in einen weiteren Rahmen gestellt worden – was nicht weiter verwundern sollte, ringt die Erkenntnistheo­rie doch seit der Neuzeit immer wieder vor allem mit dieser Pro­blematik.

Klassisch Carnap 1931b, 221–224. Repräsentativ für diese Diskussion ist etwa Rortys als Provokation aufgenommene Behauptung, mit der Sprachphilosophie müsse die Konzeption einer objektiven Welt, die unsere Erkenntnis spiegele, ohne Trauer endlich aufgegeben werden (Rorty 1972, 1979). 44 Mit dieser Sicht auf die postanalytische Philosophie als eine Abkehr vom dogmatischen linguistic turn folge ich Bertram et al. 2008. 42 43

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§ 24  Vor dem Hintergrund dieser skizzierten theo­riegeschichtlichen Zusammenhänge ist es jedoch umso fragwürdiger, hier gerade auf den Wiener Kreis einzugehen. Was kann systematisch gewonnen werden, wenn wir uns mit einer Theo­rie beschäftigen, deren Defizite bereits von vielen Seiten aufgedeckt worden sind ? Der Wiener Kreis soll hier als eine exemplarische und damit auch bestimmende Artikulation einer Pro­blematik eingeführt werden, die über den Wiener Kreis hinaus reicht. Methodisch lehnt sich dieses Vorgehen an das Verfahren der Genealogie an, wie es in den Werken von Nietzsche und Foucault – aber etwa auch bei Bernard Williams (2002) – eingesetzt wird. Der Wiener Kreis ist der historische Ausgangspunkt, von dem aus das Pro­blem der Erfahrung seine für die postanalytische Debatte prägende Gestalt annahm. Indem wir danach fragen, unter welchen historischen Bedingungen sich dieses Pro­blem herausbildet, zeigen wir, dass seine Fragestellungen eben nicht selbstverständlich sind. Die Position des Wiener Kreises wird hier also nicht als eine weitere Stellungnahme im zeitlosen Streit zwischen Rationalismus und Empirismus aufgefasst, sondern als der nachhaltig die Debatte formende Versuch, innerhalb einer historisch konkreten Situation auf diese zu antworten.45 Von einer wirklichen Genealogie im historisch-kritischen Sinne kann hier freilich nicht die Rede sein. Es werden keine Archive konsultiert, und der Blick bleibt stets auf die engeren philosophischen Fragen fokussiert. Doch es soll, eben in Anlehnung an die genealogische Methode, nachgezeichnet werden, wie ein intellektuelles Phänomen überhaupt zu einem als drängend empfundenen Pro­ blem wird, das bis in die Gegenwart hinein ragt. Wie konnte es dazu kommen, dass die für den Logischen Empirismus charakteristische ­Mischung von wissenschaftlicher Forschung und streng formaler Logik als attraktiver Ausgangspunkt für eine Artikulation des Verhältnisses von Geist und Welt gesehen wurde ? Zur Beantwortung dieser Frage muss die Philosophie des Wiener Kreis eingebettet werden in seinen umfassenderen historischen und theo­riegeschichtlichen Foucault bezeichnet diesen Prozess, in dem sich überhaupt erst ein Pro­ blem als Pro­blem herausbildet, als »Pro­blematisierung« : »The pro­blematization is an ›answer‹ to a concrete situation which is real« (Foucault 2001, 172 ; vgl. auch Rabinow 2004). Mit Dewey gesprochen artikuliert der Wiener Kreis das Pro­blem der Erfahrung und bestimmt es dadurch. 45

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Kontext, der es erlaubt, den Einsatz dieser Diskussion weiter zu fassen. § 25  Einen exemplarischen Status hat der Wiener Kreis, weil er auf die philosophische Herausforderung der Moderne, die im vorigen Kapitel skizziert wurde, eine sehr konsequente und gerade deshalb pro­blematische Antwort zu geben versucht. Der Wiener Kreis verteidigt die These der rationalen Autonomie in einer extremen Fassung : Die Vernunft gilt als ein autonomes Vermögen, das sich keinen externen Quellen beugt – außer der objektiven Erfahrung. In ihrer allgemeinen Stoßrichtung stellt diese These keinen Sonderfall dar. Insbesondere Kants Vernunftphilosophie steht ja für dasselbe Ziel, das dann auch im Anschluss an Kant – vom deutschen Idealismus bis hin zur Phänomenologie – immer wieder neu aufgegriffen und re-artikuliert wurde. In all diesen philosophischen Ansätzen wird die Frage thematisiert, wie unterschieden werden kann zwischen der reflexiven kritischen Selbstbestimmung der Vernunft und einer Welt, auf die sich diese Reflexion bezieht. Der Wiener Kreis jedoch trifft diese Unterscheidung auf eine, wie ich zeigen werde, charakteristisch radikale und zugleich falsche Art und Weise – er trifft sie formalistisch. Der Begriff des Formalismus ist ein Leitbegriff der vorliegenden Untersuchung. Er wird uns in den folgenden Darstellungen immer wieder zur Kennzeichnung einer zutiefst pro­blematischen und letztlich nicht haltbaren Beschreibung der modernen Vernunft dienen, deren Grundmerkmal darin besteht, Autonomie so zu verstehen, dass der Vollzug des Denkens getrennt wird von der Wirklichkeit, auf die es sich bezieht. Der Formalismus begreift die Form des selbstkritischen Denkens, und damit die Form des rationalen Selbstbezugs, als etwas, das unabhängig von der Welt Bestand haben muss. Eine explizite Artikulation dieser Position findet sich vor allem bei Rudolf Carnap, auf dessen Philosophie wir daher ausführlicher eingehen werden. Die übergreifende Interpretationsthese ist, dass sein Formalismus eine symptomatische Bedeutung hat : Er bringt in aller Deutlichkeit eine Perspektive zum Ausdruck, die weit über Carnaps Philosophie und auch den Wiener Kreis hinausgeht. Diese übergreifende formalistische Perspektive lässt sich in drei Behaup­tungen zusammenfassen  : 58  |  Der Erfahrungsbegriff des Wiener Kreises 

1. Denken ist Form : Erstens wird davon ausgegangen, dass das Denken als eine rein formale Aktivität begriffen werden kann, die unabhängig von den Inhalten des Denkens sinnvoll verstanden und reflektiert werden kann. Im Unterschied zum aristotelischen Formbegriff wird in diesem modernen Verständnis also davon ausgegangen, dass das Denken konstitutiv von den Inhalten unabhängig ist : Es hat seine eigene Verfasstheit (Konstitution) unabhängig davon, was es jeweils erfasst. Diese Unabhängigkeit wird in den jeweiligen Diskussionen vor allem daran sichtbar, dass die empirische Bindung des Denkens an die Welt primär als ein Pro­blem des empirischen Inhalts verstanden wird und nicht als ein Pro­blem des Denkens mit sich selbst. Anders formuliert : Das Denken hat im formalistischen Verständnis keine Geschichte. 2. Inhalt ist stets wohlgeformt : Zweitens wird davon ausgegangen, dass dem Denken Inhalte nur in rationalen Formen zugänglich sind. Der Begriff des »Wohlgeformten« (engl. well-formed) bedeutet in der Logik, der Linguistik und der Informatik, dass ein Ausdruck auf syntaktischer Ebene gegebenen Regeln entspricht. Die ästhetische Assoziation, wonach »wohlgeformt« soviel wie schön und angenehm heißt, ist jedoch nicht unwillkommen. Der Widerspruch oder die Unordnung wird im Formalismus nicht als ein Pro­blem des Inhalts, sondern als ein Pro­blem der Form verstanden. Anders formuliert : Widerspruch und Fehler gelten als Folgen einer falschen Theo­rie und nicht als Bestandteil der Welt, auf die diese sich bezieht. 3. Transparenzthese : Drittens schließlich wird davon ausgegangen, dass alle konstitutiven Elemente des Denkens und Wissens explizit benannt und reflektiert werden können. Das Denken ist sich in dem Sinne durchsichtig, dass es seine eigene Funktionsweise – also die Logik – erfassen und begreifen kann, ohne dass diese Reflexion der so identifizierten Logik noch etwas Eigenständiges hinzufügen oder abziehen könnte. Die Reflexion der Logik und die philosophische Artikulation dieser Reflexion ist damit prinzipiell abschließbar.

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§ 26  Die drei Behauptungen des Formalismus sind, für sich genommen, keine historische Besonderheit des Wiener Kreises. Der Logische Empirismus steht in dieser allgemeinen Perspektive Kants Konzeption der transzendentalen Subjektivität nahe, die vergleichbare Behauptungen aufstellt (Erfahrungen haben eine vom Verstand vorgegebene kategoriale Form ; Widersprüche gelten als ein Widerstreit der Vernunft mit sich selbst ; und in der Selbstreflexion kann das Denken systematisch erschöpfend seine Möglichkeiten und Grenzen bestimmen).46 Im Unterschied zu Kant ist der Wiener Kreis jedoch bestrebt, jeglichen festlegenden Inhalt aus der formalen Selbstbestimmung des Denkens auszuschließen. Insofern stellt die These, dass das Denken als reine Form gedacht werden kann, den spezifischen Beitrag des Logischen Empirismus dar, der ihn von vergleichbaren Ansätzen abhebt. So nehmen es auch die Mitglieder dieses Diskussionszirkels selbst wahr. »Die wissenschaftliche Weltauffassung«, so heißt es im Manifest des Wiener Kreises, »kennt keine unbedingt gültige Erkenntnis aus reiner Vernunft, keine ›synthetischen Urteile a priori‹, wie sie der Kantischen Erkenntnistheo­rie und erst recht aller vor- und nachkantischen Ontologie und Meta­ physik zugrunde liegen« (Neurath 1981, 307). Das Denken – die Logik – wird explizit als eine ausschließlich formale Operation konzipiert. Schließen, das ist demnach der formal korrekte Übergang von einem Satz zu einem anderen – nicht mehr und nicht weniger. Diese Radikalisierung der ersten formalistischen These (»Denken ist Form«) steht im Dienste der anderen beiden Annahmen. Mit der formalen Auffassung der Operationen des Denkens soll auf möglichst präzise Weise eben jene Ebene der Reflexion isoliert werden, auf der die Vernunft ihre Autonomie und Selbstkritik ungehindert ausüben kann. So verbindet sich die erste These mit den beiden anderen hier angeführten Behauptungen zu einem formalistischen Ganzen. Charles Taylor zählt in einer vergleichbaren Perspektivierung der modernen Diskussion um das geistige Weltverhältnis die beiden anderen Thesen – die formale Vermittlung und die reflexive Identifizierbarkeit aller echten Erkenntnis – zu den Grundzügen einer »Topologie von Geist und Welt« (2013, 61), die er für charakte Dieser Kontinuitätslinie entsprechend verteidigt Michael Friedman (1999) den Wiener Kreis als einen modernisierten Kantianismus. 46

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ristisch für die Neuzeit und die Moderne hält und bis zu Des­cartes zurückverfolgt. Taylors Hinweis auf Des­cartes stellt auch ein hilfreiches Bild zur Verfügung, mit dem die vom Wiener Kreis gezogene Grenze zwischen Sprache und Welt gut verständlich wird. Taylors Beschreibung des Kartesianismus trifft, wie sich im Laufe dieses Kapitels zeigen wird, letztlich auch auf den Wiener Kreis und insbesondere für die Philosophie Carnaps zu (so auch Putnam 1995, 69–71). Die Welt wird als etwas gesehen, das von einem einzigen, gleichsam ausdehnungslosen Punkt aus begriffen und reflektiert wird – vom erkennenden Subjekt aus oder durch die intersubjektive Sprache. Die formal verstandene Vernunft ist nicht in dieser Welt, sondern nimmt zu ihr Stellung. Um diese von Taylor behaupteten Gemeinsamkeiten zu erkennen, ist es freilich nötig, einige Übersetzungsarbeit zu leisten. Auf den ersten Blick ist die Behauptung, der Logische Empirismus liege auf einer Kontinuitätslinie mit dem Kartesianismus, nicht plausibel. Der Wiener Kreis steht ja mit vielen seiner Positionen für einen Ansatz, der sich nicht mehr der Tradition der Bewusstseinsphilosophie – und damit dem Kartesianismus – verpflichtet fühlt. Er versucht, zahlreiche Fallstricke der philosophischen Tradition zu vermeiden. Der Logische Empirismus geht nicht vom einzelnen Subjekt aus, sondern von einer kollektiven wissenschaftlichen Vernunft, die in intersubjektiv überprüfbaren Sätzen reflektiert. Er thematisiert zwar subjektive Erlebnisse – wie etwa Wahrnehmungen und Beobachtungen –, doch nicht mehr im Verhältnis zu inneren Vorstellungen, sondern im Verhältnis zu Sätzen. Er will kein »Subjekt« postulieren, das von der Außenwelt getrennt auf diese blickt. Für ihn ist Wissenschaft, und damit Vernunft, eine empirisch orientierte, kollektive begriffliche Arbeit an einem weit gesponnenen Netz des Wissens. Und dennoch : Auch für den Wiener Kreis ist die objektive Welt nur in der Form der Theo­rie zugänglich, und wie bei Des­cartes ist die formal verstandene wissenschaftliche Vernunft in der Reflexion sich selbst absolut transparent. Insofern ließe sich der Formalismus mit Taylor auch als Kartesianismus beschreiben. Doch die Diagnose des Formalismus hat nicht nur den Vorteil einer größeren historischen Präzision. Gerade weil der Logische Empirismus zu dieser in Grundzügen kartesischen Position gelangt, ist er hier von einem Die Bedeutung des Wiener Kreises  |  61

besonderen Interesse : An ihm lässt sich erkennen, dass die Trennung von Geist und Welt einen Grund hat, der vom Subjektbegriff unabhängig ist. Dieser Grund ist das moderne Ideal der Kritik : Die Überlegungen der Mitglieder des Wiener Kreises werden programmatisch motiviert durch ein äußerst radikales Verständnis der Kritik, durch ein aufklärerisches Ideal der »universellen Hinterfragbarkeit«, das potenziell alle Erkenntnisansprüche der Prüfung unterstellt (Uebel 2000, 24 ; vgl. auch Neuber 2011). Dass der Wiener Kreis trotz seiner Anerkenntnis der Kontingenz und Endlichkeit der Erkenntnis der Meinung ist, die allgemeine Form des richtigen Denkens und jeder wirksamen Kritik isolieren zu können, erzeugt schließlich die pro­blematische Distanz zur Wirklichkeit. Das Pro­blem des Wiener Kreises, wie ich es hier rekonstruieren möchte, ist seine einseitige Auffassung von Kritik und rationaler Korrektur. Im formalistischen Verständnis des Wiener Kreises ist Kritik entweder Selbstreflexion (und weist damit keinen Sachbezug auf) oder rein sachbezogen (und damit keine Frage der Selbstreflexion). § 27  Das dichotome Bild der Kritik, und damit der Vernunft, wird besonders deutlich am Umgang des Wiener Kreises mit dem Erfahrungsbegriff. Der Logische Empirismus reduziert, wie ich in den weiteren Abschnitten dieses Kapitels im Detail zeigen werde, den objektiven Sachbezug des Denkens auf einen rein epistemischen Begriff der Erfahrung, der zudem Erfahrung nur in einer ganz bestimmten sprachlichen Form (als Protokollsatz) zulässt. Nicht alles, was als Erfahrung gelten kann, wird unter der Maßgabe dieses formalen Verständnisses der Vernunft noch als rational relevant erachtet. Gefühle, moralische und religiöse Wertungen, Farbeindrücke oder ästhetische Empfindungen werden explizit und bewusst ebenso außerhalb der Vernunft gerückt wie die Erlebnisse praktischer Nötigung und die Wahrnehmung von Entscheidungsdruck. Die Welt dringt, wie man sagen könnte, nur durch den Kanal einiger zugelassener Wahrnehmungen, wie etwa Empfindungen von Temperatur und Farbqualitäten, in das Denken ein. Auf diesen dünnen Kontaktstellen lastet für den Wiener Kreis das ganze Theo­ riegebäude der mathematisch-empirischen Wissenschaften, und wenn man die logisch-empiristische These der Einheitswissenschaf62  |  Der Erfahrungsbegriff des Wiener Kreises 

ten ernst nimmt, auch noch sein sozial- und geisteswissenschaft­ licher Anbau dazu. Der Wiener Kreis erweist sich systematisch somit als einer der zentralen Gegner der Auffassung von Erfahrung, für die der klassische Pragmatismus einsteht. Der Eindruck, dass hier zwei gleich gesonnene Verteidiger der Erfahrung und der wissenschaftlichen Aufklärung Schulter an Schulter stehen – ein Eindruck, der etwa dadurch gefördert wird, dass Dewey zu Neuraths »Enzyklopädie der Einheitswissenschaft« beigetragen hat – täuscht. Obgleich beide Ansätze oft von »Erfahrung« sprechen und die empirische Natur der Wissenschaft als Vorbild des Denkens hinstellen, setzt der Logische Empirismus eine abweichende Konzeption der Erfahrung, und damit auch der Wissenschaft, voraus. Werte und Tatsachen, die der Logische Empirismus dezidiert voneinander isoliert, sind für den Pragmatismus von James und Dewey Erfahrungen, deren Verbindung rational reflektiert werden kann. Erfahrungen des Zweifels und vage Vermutungen, die für den klassischen Pragmatismus insgesamt eine große Rolle spielen, fallen beim Wiener Kreis völlig aus der Betrachtung heraus. Dieser reduziert die Erfahrung auf die punktuellen epistemischen Behauptungen der Art, wie sie in ›Protokollsätzen‹ oder ›Basissätzen‹ festgehalten werden können. Alles andere mag zwar ein Gegenstand der Erfahrungswissenschaften sein, etwa der Psychologie oder der Soziologie, und wird in diesem Sinne auch durchaus weiterer Untersuchung anempfohlen (vgl. Neurath 1981, 315). Es kann aber nicht in ihre Logik mit einfließen. Die Erfahrung tritt im Wiener Kreis nur als ein Gegenstand der Reflexion auf, als ein möglicher Satz, zu dem Stellung genommen wird oder nicht. § 28  Die Motivation hinter dieser Wiener Konzeption der Erfahrung muss historisch verortet werden. Die »Wissenschaftliche Weltauffassung« des Wiener Kreises folgt dem klassisch modernen Fortschrittsnarrativ, in dem die wissenschaftliche Vernunft die Rolle der Befreierin von den Vorurteilen und Dogmen der Vormoderne einnimmt. Es wird ein äußerst affirmatives Bild der Wissenschaft gezeichnet, das kaum noch kritische Distanz zulässt. Schließlich geht dieses formale Autonomieverständnis einher mit einer ebenso formalen Idee der Freiheit, dem zufolge die Freiheit des Menschen Die Bedeutung des Wiener Kreises  |  63

darin besteht, Abstand von den Zumutungen der Welt zu nehmen, um auf sie souverän zu reflektieren. Hier hilft eine Erinnerung daran, dass die Philosophie des Wiener Kreises eine Reaktion auf die (im vorigen Kapitel beschriebene) epistemologische Krise des späten 19. Jahrhunderts ist. Seine Frage­ stellungen sind geprägt von einem wissenschaftlichen Klima, in dem Historismus, Theo­riewandel und die Ausdifferenzierung der Wissenschaften den Eindruck verstärkt haben, dass der moderne, vor allem durch Kant artikulierte Anspruch auf Autonomie und Reflexivität der Vernunft zumindest stark relativiert werden muss. Erkenntnis scheint historisch bedingt, sozial situiert und psychologisch unzuverlässig zu sein, und dies wurde nicht nur vom Wiener Kreis als eine Bedrohung der Objektivität der Erkenntnis empfunden.47 Der Wiener Kreis reagiert auf diese epistemologische Krise mit einer Kompromissformel : Wir gewinnen die gefährdete Autonomie der Vernunft zurück, indem wir sie auf die formale Dimension beschränken. In diesem Bild spielen Geschichte, Körper, gesellschaftliche Strukturen und materielle Kontexte der Erkenntnis keine Rolle. Doch gerade in dieser Abstraktion sieht der Wiener Kreis seinen entscheidenden Vorteil gegenüber konkurrierenden Ansätzen. Indem er die Strenge und Exaktheit der formalen Methoden, die im 19. Jahrhundert einen massiven Fortschritt erfahren haben, zum Inbegriff des wissenschaftlichen Denkens überhaupt erklärte, konnte er sich mit diesem Fortschritt selbst identifizieren und die epistemologische Drift anerkennen. Eben diese Strenge wurde dann auch von Zeitgenossen als die entscheidende Innovation des Wiener Kreises wahrgenommen, als nachgerade revolutionär.48 Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass die Art und Weise, wie der Wiener Kreis den Erfahrungsbezug diskutiert, motiviert ist Neben Frege (1962) ist hier vor allem noch Husserl (1950) zu erwähnen. Beaney 2013 gibt eine gute Übersicht über diesen gemeinsamen Hintergrund des analytischen und kontinentalen Denkens. 48 So schreibt Gilbert Ryle, aus dem Jahre 1956 zurückblickend : Der Wiener Kreis »shook the equanimity of philosophers« (Ayer 1956, 5), weil er – im Bund mit Russell und Moore – »the rapid advance of studies in mathematics, the logic of probable and statistical reasoning, the logic of induction and the methodology of social sciences« (Ayer 1956, 4 f.) auf die Philosophie übertrug. 47

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durch dieses auf Exaktheit und Präzision drängende Verständnis der wissenschaftlichen Vernunft, das sich bewusst von dem Wandel der Geschichte zurückzieht, indem es das Denken auf die bloße Form reduziert. Die Erfahrung muss vermitteln zwischen diesem formalen Denken und dem jeweiligen objektiven Sachbezug. Dabei wird ihr eben jene Bürde auferlegt, die wir im weiteren Verlauf dieses Kapitels nachzeichnen werden : Die Erfahrung muss ineins das Denkens sachlich binden und doch immer auch diese Distanz bewahren, aus der allein – in der Perspektive des Wiener Kreises – Kritik im 20. Jahrhundert noch möglich ist. Die folgenden Teilkapitel werden, nach einer vertiefenden historischen Einordnung des Wiener Kreises in den Gesamtzusammenhang der Moderne, Schritt für Schritt dessen Formalismus und das mit ihm korrespondierende Verständnis der Erfahrung entwickeln. Dabei rückt vor allem die Philosophie Carnaps in den Mittelpunkt. An ihrem Beispiel wird abschließend gezeigt, dass die formale Vernunft die von ihr behauptete kritische Potenz nicht einlösen kann. Diese Schwierigkeit tritt charakteristischerweise bei der Frage auf, wie der Konflikt zwischen konkurrierenden Theo­riemodellen aufgelöst werden kann – also dort, wo die Erfahrung nicht mehr nur als Inhalt einer gegebenen formalen Theo­riesyntax verstanden werden kann. Carnap verkürzt das Denken und die rational relevante Erfahrung so stark, dass er eine wirkliche Antwort auf diese für die Kritik entscheidende Frage schuldig bleiben muss. Innerhalb einer Theo­rie sind Widersprüche und Konflikte, dem Kriterium der Wohlgeformtheit gemäß, deutlich erkennbar und identifizierbar. Zwischen konkurrierenden Theo­rien aber entziehen sie sich der rationalen Reflexion, wie sie im Formalismus gefasst wird. Carnaps Philosophie kann somit ausgerechnet jenen Pluralismus der Perspektiven, auf den der Wiener Kreis reagiert, nicht begrifflich einfangen. Es ist nicht mehr klar, wie die unterschiedlichen Theo­rien und Strukturbeschreibungen als sachliche Stellungnahmen zu einer objektiven Wirklichkeit verstanden werden können – was jedoch genau der Anspruch der Kritik ist, den zu verteidigen der Wiener Kreis angetreten ist. An dem deutlich überforderten, da zu ›schmalen‹ Erfahrungsbegriff des Wiener Kreises wird somit die paradoxe Grundanlage des von ihm vertretenen Ratio­nali­tätsverständnisses sichtbar : Die Die Bedeutung des Wiener Kreises  |  65

moderne kritische Verpflichtung zur rationalen Selbstkorrektur kann nicht so gedacht werden kann, als sei die Erfahrung etwas, auf das sich die Vernunft stets in souveräner Distanz bezieht. Gerade weil diese Pro­blematik im Wiener Kreis mit jener systematischen Konsequenz und Klarheit ausgearbeitet wird, zu der sich die ›analytisch‹ nennende Philosophie immer wieder als methodisches Ideal bekennt, eignet er sich zur Entfaltung dieses Pro­blems in seinen historischen und begrifflichen Dimensionen.

Die Modernität der Wissenschaftlichen Weltauffassung § 29  Die hier eingenommene Sicht auf den Wiener Kreis profitiert von einer ernsthaften Neubeschäftigung mit dieser Tradition, die seit den 1990er Jahren, im Zuge einer allgemeinen vertiefenden historischen Selbstreflexion der analytischen Philosophie, zu verzeichnen ist.49 Nur so ist es überhaupt möglich, an den Wiener Kreis wieder das Pro­blem der Kritik heranzutragen. Infolge der empirismuskritischen Wende der Wissenschaftstheo­rie und der analytischen Sprachphilosophie gerieten die Wiener in den Ruf, eine dogmatische, unflexible und epistemisch fundamentalistische (foundationalist) Theo­rie zu vertreten, deren Hauptmerkmal gerade die völlige Abwesenheit von Kritik ist. Dieser Ruf ist nicht völlig unbegründet. Gerade in der Spätphase, nach seiner Emigration, verwandelte sich der Logische Empirismus in eine weitgehend apolitische, technische und übermäßig professionalisierte philosophische Disziplin, die keine Spuren mehr trug vom ursprünglichen sozialen und revolutionären Pathos, das etwa das 1929 entstandene Manifest zur »Wissenschaftlichen Weltauffassung« prägt.50 Die neueren Studien blicken jedoch weiter zurück. Sie würdigen den Wiener Ansatz als eine durchaus innovative Form der »Vernunftkritik« (Uebel 2000, 27), die in einer engen Beziehung zum Eine repräsentative Auswahl von Themen und Autoren, die zu dieser Neubewertung beitrugen, bietet der Cambridge Companion (Uebel und Richardson 2007). Einen guten Einblick in die neuere Forschungsdynamik gibt der Literaturbericht von Neuber 2011. 50 Die Depolitisierung des Wiener Kreises in der Nachkriegszeit belegt Reisch 2005 ausführlich. 49

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allgemeinen Modernismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts in der Malerei, Architektur und Kunst stand. Peter Galison (1988) weist darauf hin, dass die Hoffnung, in der Logik eine zugleich universale wie reduzierte Sprache der Wissenschaft und des Denkens zu finden, eine große Nähe zu den ästhetischen Manifesten und Programmatiken aufweist, die damals das Bauhaus, den italienischen Futurismus oder den russischen Konstruktivismus begründeten. Gemeinsame Züge sind etwa das Pochen auf Vereinfachung, die Konzentration auf einige wenige, aber dafür universale Grundformen sowie ein funktionalistischer Verzicht auf Ornamente und Schnörkel. Was das Bauhaus in der Architektur schuf, übertrug der Wiener Kreis auf die Philosophie : At the time Carnap was fighting for a reduction of all science to proto­ col sentences, the leading Bauhaus architects were advocating an abandonment of the superfluous ornamentation of traditional buildings and a reduction to the elementary forms of geometry (Galison 1988, 201).

Ein weiterer, wesentlich moderner Zug des Wiener Kreises ist sein Fortschrittsglaube. Er zeigte sich überzeugt davon, Zeuge und auch Motor eines philosophischen und gesellschaftlichen Fortschritts zu sein, der auf die Errungenschaften in den Formal- und Naturwissenschaften aufbaut. Noch 1956 gibt Ayer einem Sammelband zur Entstehung der analytischen Sprachphilosophie den Titel »The Revolution in Philosophy« (Ayer 1956) – die Rede ist also nicht von einer Revolution, sondern von der Revolution der Philosophie schlechthin. Auch das Manifest der »Wissenschaftlichen Weltauffassung« drückt die Überzeugung aus, mit den neueren Instrumenten der logischen Analyse endlich die Schwierigkeiten aller bisherigen Philosophie überwunden zu haben. Die Entwicklung der formalen Logik mit ihrem neuen, aus der Mathematik des 19. Jahrhunderts gewonnenen Ausdruckspotenzial wird in dem Manifest gefeiert als die Entdeckung einer »von den Schlacken der historischen Sprachen befreiten Symbolik« (Neurath 1981, 305). Alle früheren philosophischen Bemühungen werden pauschal als »traditionelle Philosophie« oder auch als »Meta­physik und Theologie« verworfen. Die Befreiung der Wissenschaft trägt zudem progressive Züge : An die Stelle des nationalen Denkens tritt ein Ethos der internatio­ Modernität der Wissenschaftlichen Weltauffassung  |  67

nalen Kooperation (»Kollektivarbeit«, Neurath 1981, 305), an die Stelle des Hochmuts der klassischen Philosophie tritt die Demut der Wissenschaftslogik. So inszeniert das Manifest die Geste aller Modernität schlechthin : den befreienden und vollständigen Bruch mit der Tradition. § 30  Der Wiener Kreis muss daher dezidiert als eine Philosophie der Moderne begriffen werden. Ungeachtet der vielen Differenzen, die etwa Neuraths kohärentistische Epistemologie von Schlicks Korrespondenztheo­rie trennen, steht dieser Diskussionszirkel als Ganzes für den Versuch, das moderne Ideal der Autonomie der Vernunft in einer starken Ausprägung konsequent zu verteidigen. Die modernen Konturen dieses Gesamtprojektes lassen sich anhand von drei Merkmalen nachzeichnen, die charakteristisch sind für den Wiener Kreis. Dessen Autoren vertraten erstens einen Universalismus der wissenschaftlichen Vernunft, sie bekämpften zweitens jede Form von onto­logischer Festlegung und sie sahen drittens die Aufgabe der Philosophie primär in der Kritik. Diese drei Merkmale sind nicht nur deutliche Hinweise auf die Modernität der »Wissenschaftlichen Weltauffassung«, sie zeigen auch, wie zentral das Ideal der reflexiven Autonomie das Selbstverständnis dieses Ansatzes regiert.51 Ich werde diese Merkmale im Folgenden darlegen, ohne sie dabei einer umfassenderen kritischen Diskussion zu unterstellen. Hier geht es um die allgemeine Gestalt der Auffassung von Ratio­ nali­tät, die hinter dem Formalismus des Wiener Kreises steht und ihn philosophisch grundiert. § 31  Mit seinem universalistischen Szientismus folgt der Wiener Kreis – das ist das erste hier zu erörternde Merkmal – dem verbreiteten modernen Impuls, in den seit der Neuzeit entstandenen mathematisierten Naturwissenschaften den Schlüssel schlechthin für eine zeitgemäße Artikulation der Vernunft zu sehen. Der Wiener Kreis erkennt, mit anderen Worten, das naturwissenschaft­liche Nicht nur modern, sondern modernistisch im Sinne der künstlerischen Avantgarde des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ist der Wiener Kreis für Avat Matar (2006, 27–44). Er weist (2006, 30) u. a. auf eine Selbsteinordnung Carnaps hin (Carnap 1932a, 109 f.), wo dieser seine Physikalisierung der Psychologie in eine Reihe mit Darwin, Marx, Nietzsche und Freud stellt. 51

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Wissen als Paradigma der Kritik an und fragt, wie schon Kant, wie sich »unsere« Vernunft in Relation zu diesem Wissen selbst verstehen kann.52 Der Begriff der Wissenschaft wird vom Wiener Kreis dabei explizit nicht auf eine einzelne Disziplin beschränkt. Er vertritt vielmehr die These der Einheitswissenschaft, die vor allem besagt, dass alle wissenschaftlichen Disziplinen trotz ihrer tiefen grundbegrifflichen Differenzen letztlich als ein universales System der Welterschließung aufgefasst werden können. Die Idee einer Einheitswissenschaft ist für den Wiener Kreis gleichbedeutend mit der Annahme, »daß die Wissenschaft ein einheitliches System ist, innerhalb dessen es keine grundsätzlich verschiedenen Objekt­ bereiche gibt« (Carnap 1968, 248). Es gab innerhalb des Wiener Kreises Dissens über die genaue Ausgestaltung dieser Einheit. Carnap war der Überzeugung, die Physik müsse das Vokabular zur Verfügung stellen, in das sich letztlich alle anderen wissenschaftlichen Aussagen »gehalttreu« (Carnap 1968, 248) übersetzen lassen. Neurath sah hier das Pro­blem, dass die Philosophie gleichsam ›von außen‹ eine Wissenschaft gegenüber den anderen auszeichne und sich auf diese Weise über deren inhaltliche Selbstverständigung hinwegsetze. Die Wissenschaften sollten besser im Zuge einer fortlaufenden Selbstverständigung ihr einheitliches Vokabular selbst finden (vgl. Potochnik 2011, insb. 307). Diese Differenzen betreffen also die Einschätzung der wissenschaftlichen Einzeldisziplinen und ihrer Selbständigkeit gegenüber der Philosophie. Carnap (1931a) setzte die Physik als Maßstab und sah in der physikalistischen Sprache das Grundvokabular der Einheitswissenschaft ; Neurath hielt die Idee eines großen wissenschaftlichen Systems für eine »Lüge« (Neurath 1935, 17) und begriff die Einheitswissenschaft, auch in ihrer semantischen Dimension, als ein praktisches Projekt. Sally Sedgwick (2012, 142–150) zeigt, dass Kant die apriorischen Formen der transzendentalen Subjektivität am Inhalt der naturwissenschaftlichen Forschung gewinnt, die somit unkritisch als »gegeben« hingenommen werden. Allgemein bringt die Methode der formalen begrifflichen Klärung (bzw. der transzendentalen Analyse) die Schwierigkeit mit sich, dass sie ein bestimmtes inhaltliches Vorverständnis investiert, welches ihr aber dann als Vorbedingung der Analyse nicht mehr sichtbar wird, da die formale Abstraktion diese inhaltliche Dimension gerade ausblendet. 52

Modernität der Wissenschaftlichen Weltauffassung  |  69

Ob das Vokabular der Einheitswissenschaft nun bereits zur Verfügung steht oder nicht, die These der Einheitswissenschaft selbst muss angesichts der massiven Unterschiede zwischen den Einzelwissenschaften, die sich im 19. Jahrhundert in aller Deutlichkeit etablierten, als ein Ideal gekennzeichnet werden. Und genau dies ist auch ihre logische Rolle. Sie ermöglicht es, trotz der faktischen Divergenzen innerhalb der Naturwissenschaften und erst recht im Verhältnis der Naturwissenschaften zu den Sozial- und Geisteswissenschaften von einer wissenschaftlichen Ratio­nali­tät zu reden. Nach der Maßgabe der »Wissenschaftlichen Weltauffassung« ist Ratio­nali­tät im strengen Sinne immer wissenschaftliche Ratio­nali­ tät, und die These der Einheitswissenschaft erlaubt die Abstraktion von den einzelnen Disziplinen hin zu ihrer allgemeinen logischen Form. Das Postulat der Einheitswissenschaft ist daher von zentraler Bedeutung für das formalistische Grundprojekt : Erst der Gedanke der Einheitswissenschaft lässt es plausibel erscheinen, dass es nur eine Form gibt, in der sich ›echtes‹ wissenschaftliches Denken bewegt. Der Vergleich mit Kant legt sich hier, einmal mehr, nahe. Das Postulat der Einheitswissenschaft ist ein regulatives Ideal ganz in dem Sinne, wie Kant auch die systematische Einheit der Verstandeserkenntnis als ein regulatives Ideal der Vernunft ansah (KrV B, 673). Der Rückgriff auf Kant macht einen Zusammenhang sichtbar, der dem bloßen Postulat der Einheitswissenschaft selbst nicht zu entnehmen ist : Ohne die Annahme eines systematischen Zusammenhangs aller Erkenntnisse, also ohne die Annahme, dass sich die Einsichten aus verschiedensten Erkenntnisbereichen aufeinander beziehen lassen, wäre das Ideal einer vollständigen reflexiven Autonomie der Vernunft hinfällig. Kant sah deutlich, dass dieser perspektivische Punkt, der alle Erkenntnis aufeinander bezieht, nicht wieder Gegenstand möglicher empirischer Erkenntnis sein kann. Die Transzendentalphilosophie betrachtet die Vernunft als ein »System aller Begriffe und Grundsätze, die sich auf Gegenstände beziehen, ohne Objekte anzunehmen, die gegeben wären« (KrV B, 873 f.). Auch der Wiener Kreis nimmt diese Perspektive ein, beschränkt das »System der Begriffe und Grundsätze« aber im Wesentlichen auf die logische Sprache und ihr Ausdruckspotenzial. In beiden Fällen wird eine Abstrak70  |  Der Erfahrungsbegriff des Wiener Kreises 

tionsebene eingezogen, die programmatisch verspricht, von der konkreten wissenschaftlichen Praxis und den unterschiedlichen theoretischen Grundvoraussetzungen der jeweiligen Disziplinen absehen zu können. Das Ideal einer Einheitswissenschaft ist fundamental für die Identifikation der »wissenschaftlichen Vernunft« mit der Vernunft schlechthin. § 32  Wenden wir uns dem zweiten Merkmal zu, das die Modernität der »Wissenschaftlichen Weltauffassung« auszeichnet : der konsequente Verzicht auf jegliche Ontologie. Die Wissenschaft besteht für den Wiener Kreis erstens aus einer logischen Struktur, die sich in der Theo­rie und den logischen Verhältnissen ihrer Sätze untereinander abzeichnet, und zweitens aus der Erfahrung, auf die diese Struktur in Form von Beobachtungssätzen Bezug nimmt. Das philosophische Ziel ist dabei nicht, diese Struktur auf die Erfahrung zu reduzieren. Vielmehr soll die Struktur Deutungsmöglichkeiten der Erfahrung erschließen, in deren Wechselspiel dann Erkenntnis entsteht. Die Erfahrung hat somit keinen eigenständigen Ausdrucksgehalt, den es zu entziffern gäbe ; sie ist inhaltlich nicht stark vorbestimmt. Die in der Theo­rie artikulierte logische Struktur trägt vielmehr erst dazu bei, ihren Erkenntniswert zu konstituieren ; ja, sie bestimmt erst überhaupt den objektiv mitteilbaren Sinn der Erfahrung.53 Das Gesamtbild ist das einer »flachen« Konzeption von Erfahrung, die sich bei aller empirischen Kontrolle offen hält für mannigfache Ausdeutungen. »In der Wissenschaft gibt es keine ›Tiefen‹ ; überall ist Oberfläche«, heißt es entsprechend im Manifest (Neurath 1981, 305). Für den Wiener Kreis sind wissenschaftlich konstruierte Entitäten – wie etwa Vitamine, Atome oder Kraftfelder – immer nur theoretische Konstruktionen. Nicht nur die Meta­physik wird also zum Opfer der logischen Analyse, sondern überhaupt jede onto­logische Festlegung, die sich nicht relativ zu einer bestehenden Wissenschaftssprache versteht. In den Wissenschaften gehe es nicht um das »Wesen« der Wirklichkeit, sondern allein um die »Struktur (Ordnungsform) der Objekte« (Neurath 1981, 308). Neuber 2013 zeigt die Unterschiede der Strukturbegriffe innerhalb des Wiener Kreises auf, in dem Carnap die strengste onto­logische Enthaltung vertrat. Mayer 1991 zieht Parallelen zwischen Carnaps neu­tralem Strukturbegriff und Husserls epoché. 53

Modernität der Wissenschaftlichen Weltauffassung  |  71

Diese kontroverse Absage an die Realität wissenschaftlicher Forschungsgegenstände ist hier vor allem deshalb erwähnenswert, weil sie ganz deutlich anzeigt, wie sich der Wiener Kreis die Rolle der Vernunft denkt.54 Die onto­logische Enthaltsamkeit, wenn sie denn verteidigt werden kann, stützt eine extreme Variante der Autonomie. Die Selbstreflexion der Vernunft wird transformiert in die Selbstreflexion der Wissenschaft. Der Wiener Kreis ist bekannt für seine Kritik der traditionellen Philosophie und ihrer vorgeblichen Anmaßung, sich »neben oder über d[ie] Gebiete[] der einen Erfahrungswissenschaft« (Neurath 1981, 314) zu stellen. Im Grunde gibt er aber das traditionelle philosophische Privileg der bewussten Selbstreflexion nicht auf. Es wird depotenziert in das Verfahren der »logischen Klärung der wissenschaftlichen Sätze, Begriffe und Methoden« (ebd.), das gleichwohl dieselbe Bedeutung und Reichweite haben kann wie die klassische philosophische Reflexion. Denn wenn die Realität kein eigenständiges Wesen mehr hat, liegt in der einheitlichen Form aller wissenschaftlichen Theo­rien und Behauptungen der normative »Raum der Gründe« potenziell vollständig vor. Die logische Reflexion verspricht somit die Sichtung aller möglichen Implikationen und Zusammenhänge, so wie sie die klassisch moderne Philosophie, ja wie schon Des­cartes es immer schon angestrebt hat. § 33  Mit dieser Einordnung ist bereits das entscheidende dritte moderne Merkmal der »Wissenschaftlichen Weltauffassung« ausgesprochen : Nach ihrem Selbstverständnis ist die Vernunft wesentlich kritischer Natur. Die logische Analyse soll »von hemmenden Vorurteilen« (Neurath 1981, 314) befreien, wie die Aufklärung immer schon traditionell die von ihr kritisierten Auffassungen (wie etwa Religion) als ein hemmendes Vorurteil gesehen hat. Ihr Hauptgeschäft ist die Kritik. Die kritische Vernunft, wie sie der Wiener Kreis konzipiert, soll sich dabei in der Wissenschaft verorten und versteht sich als ein Teil von ihr. Die philosophische Aufgabe der logischen Klärung ist keine externe Begründung des Erkenntnisanspruchs der Wis Peter Godfrey-Smith 2003 zeichnet nach, wie die post-positivistische Wissenschaftsphilosophie sich wieder mehr und mehr in Richtung eines wissenschaftlichen Realismus entwickelte. 54

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senschaften, sondern eine interne Reflexion auf ihren Erfolg. »Es gibt keine Philosophie als Grund- oder Universalwissenschaft neben oder über den verschiedenen Gebieten der einen Erfahrungswissen­ schaft« (Neurath 1981, 314, Hervorhebung im Original), heißt es entsprechend im Manifest. Analog zu der onto­logischen Enthaltsamkeit der Wissenschaft versteht sich diese Kritik explizit nicht als eine zwingende oder normativ verbindliche Vorgabe. Sie schreibt den Wissenschaften, wie allgemein dem Leben, nichts vor. Ihr Ziel ist vielmehr, mit Wittgenstein gesprochen, die »übersichtliche Darstellung«, die es erlaubt, sich informiert und aufgeklärt zu orientieren. Die logische Klärung stellt der Forschung »einen möglichst vollständigen Bereich formaler Möglichkeiten zur Verfügung, aus dem die zu der jeweiligen Erfahrung stimmende auszuwählen ist« (ebd.). Wir werden am Ende des Kapitels noch einmal auf diese instrumentalistische Sicht der Vernunft eingehen, die das Pro­blem aufwirft, dass sie die Ratio­nali­tät praktischer Entscheidungen nicht einzufangen vermag.

Die Form aller möglichen Erfahrung § 34  Wir können die These, dass der eingeengte Erfahrungsbegriff des Wiener Kreises eine systematische Konsequenz seines modernen Ratio­nali­tätsverständnisses ist, nun präziser fassen. Das starke Verständnis der Autonomie, das von den Verfassern des »Manifestes zur Wissenschaftlichen Weltauffassung« vertreten wird, stützt sich vor allem auf einen Gedanken : Alles, was für das vernünftige Verstehen der Welt relevant ist, lässt sich vollständig erfassen, beschreiben und analysieren. Auf diese Weise ist eine restlose reflexive Analyse dieses Verständnisses möglich. Ihr steht – so die Idee – keine andere Form der Ratio­nali­tät gegenüber, die sich einer Übertragung in die einheitlich wissenschaftlich-diskursive Form der Theo­riebildung widersetzt. Das Denken ist sich selbst prinzipiell vollständig transparent. Wir sind mit dieser Feststellung im Kern unserer Rekonstruktion des Wiener Kreises als einer Instanz des modernen Denkens angelangt. Das starke Autonomieverständnis des Wiener Kreises wird möglich durch die Annahme einer prinzipiellen reflexiven TranspaDie Form aller möglichen Erfahrung  |  73

renz der wissenschaftlichen Vernunft. Diese Transparenzannahme wiederum wird plausibel, wenn wir das formalistische Verständnis des Denkens teilen, für das der Wiener Kreis argumentiert. Der Formalismus ist das zentrale Bindeglied, das den reduzierten Erfahrungsbegriff an dieses moderne Ratio­nali­tätsverständnis kettet, welches der Wiener Kreis in einer besonders konsequenten Ausprägung vertritt. Die drei oben angeführten Merkmale der »Wissenschaftlichen Weltauffassung« – Universalismus, onto­logische Zurückhaltung und restlose Kritik – verdichten sich in der Grundthese des Formalismus. In diesem Abschnitt möchte ich zeigen, dass dieses formalistische Ratio­nali­tätsverständnis sich von vornherein auf eine bestimmte Sicht auf die Erfahrung festlegt : Es muss die These vertreten, dass alle Erfahrung eine durchgängige allgemeine Form hat. Diese These ist eine Konsequenz des konstitutiven Merkmals des Formalismus, dem zufolge die Vernunft für sich genommen keinen Erfahrungsbezug aufweisen muss. Denn natürlich wird davon ausgegangen, dass die kollektive, intersubjektive wissenschaftliche Arbeit in einer Praxis stattfindet, in der Menschen Erfahrungen machen ; diese empirischen Erfahrungen sind es gerade, auf die eine wissenschaftliche Ratio­nali­tät im Sinne des Wiener Kreises zu achten hat. Doch der Wiener Kreis will (etwa im Unterschied zu Kant) noch nicht einmal den kategorialen Rahmen vorgeben, in dem solche Erfahrungen stehen könnten. Die Dynamik der »Wissenschaftlichen Weltauffassung« kennt, ihrem Selbstverständnis nach, keine Kategorientafel. Jede Bestimmung der Erfahrung soll der wissenschaftlichen Selbstreflexion überlassen bleiben. Das heißt aber, dass der Erfahrungsbezug des Denkens rein formal gedacht werden muss. Die wissenschaftliche Vernunft gründet ihre Erkenntnisse auf Erfahrungen, aber lässt offen, welche Erfahrungen das sind. Nur auf diese Weise kann die Vernunft ihre volle »Autonomie« in dem Sinne einer prinzipiellen Unabhängigkeit von der Wirklichkeit bewahren.55 Die Reduktion auf das Formale soll gewährleisten, dass die offene Form der wissenschaftlichen Vernunft bereit ist für alle möglichen wechselnden Inhalte. In diesem Sinne sprechen Bertram et al. 2008 von der »autonomen Struktur« im formalistischen Holismus. 55

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Ich möchte dies die Annahme einer Formgleichheit der Erfahrung in all ihren epistemischen Rollen nennen. Nach dieser Vorstellung nimmt die Erfahrung für die reflektierende Vernunft immer dieselbe Form an, egal, welcher Inhalt in ihr vorkommt. Die Form ist damit dem konkreten Inhalt äußerlich.56 Diese Annahme ist, wie wir mit Blick auf die kritische Dimension des Logischen Empirismus feststellen können, ein integraler Teil seines Selbstverständnisses. Sie eröffnet erst jenes wichtige Register der Kritik, für das der Wiener Kreis vielleicht am besten bekannt ist : die Kritik an »Scheinpro­blemen« und »Scheinsätzen«. Der Wiener Kreis geht davon aus, dass alle Sätze und Behauptungen sich daran messen lassen müssen, ob sie empirisch prüfbar sind. So kritisiert Carnap (1931b) in einem inzwischen klassischen Dokument des Logischen Empirismus Heideggers Vortrag über das »Nichts«, indem er in einer Analyse aufzeigt, dass dessen Thesen sich nicht empirisch operationalisieren lassen. Diese Schwierigkeit wird von Carnap nicht als ein Defizit in Heideggers Artikulation verstanden, noch als ein Hinweis auf mögliche Grenzen der empiri­ schen Verifikation. Für Carnap zeigt sich hier vielmehr, dass im Grunde nichts gesagt wird : Im strengen Sinn sinnlos ist dagegen eine Wortreihe, die innerhalb einer bestimmten, vorgegebenen Sprache gar keinen Satz bildet. Es kommt vor, daß eine solche Wortreihe auf den ersten Blick so aussieht, als sei sie ein Satz ; in diesem Falle nennen wir sie einen Scheinsatz. Unsere These behauptet nun, daß die angeblichen Sätze der Meta­physik sich durch logische Analyse als Scheinsätze enthüllen (Carnap 1931b, 220).

Der von Carnap angesprochene Schein eines sinnvollen Satzes wird möglich, weil er mit den wirklich sinnvollen Sätzen dieselbe grammatische Form teilt. Eben gerade darin liegt ja auch der Sinn der von Russell (1918) eingeführten Methode der logischen Analyse : Sie zerlegt einen Satz in seine konstituierenden Komponenten, um diesen Unschwer ist hier auch die neuzeitliche kartesische Tradition zu erkennen, die alle Erfahrung als mentale Ereignisse konzipiert und dadurch das Pro­ blem der Spaltung von Subjekt und Objekt provoziert. Das Beispiel des Wiener Kreises zeigt jedoch, dass diese Spaltung sich auch in eine Beschreibung der Vernunft einschleicht, die auf den ersten Blick frei ist von den pro­blematischen Voraussetzungen der traditionellen Bewusstseinsphilosophie. 56

Die Form aller möglichen Erfahrung  |  75

Schein als Schein zu entlarven. In dieser Logik des Scheins spricht sich erneut das Primat der Form gegenüber jedem Inhalt aus, das wir oben auch an dem Begriff der Erfahrung herausgearbeitet haben. Scheinsätze und Scheinpro­bleme sind nur der Form nach Sätze, und nur dadurch können sie in die Irre führen. Sie täuschen qua Form Inhalte vor, die sich in der kritischen Reflexion nicht ausweisen lassen. Die Analyse kann zeigen, dass keine mögliche Empirie vorliegt. Dafür zerlegt sie den Satz in die Form, die ihn auch empirisch prüfbar macht. »In dieser Weise«, so erläutert Carnap seine kritische Analyse von Heideggers Aufsatz, »wird jedes Wort der Sprache auf andere Wörter und schließlich auf die in den sogenannten ›Beobachtungssätzen‹ oder ›Protokollsätzen‹ vorkommenden Wörter zurückgeführt«. Und erst in dieser analysierten Form offenbart das Wort dann, wie Carnap (1931b, 222) fortfährt, seine Bedeutung. Carnap unterscheidet hier, in Übereinstimmung mit der klassischen analytischen Tradition seiner Zeit, zwischen einer Ober­ flächenform des Satzes und seiner echten (da konstitutiven) Form. Allein die echte Form legt den potenziellen empirischen Gehalt von Sätzen frei. Diese Operation der ›Freilegung‹ ist jedoch dem Anspruch nach selbst keine inhaltliche, sondern eine formale. Der Unterschied zwischen Schein und (möglichem) Sein wird formalisiert. Und dieser Unterschied muss für den Wiener Kreis formal bleiben, wenn sich die Scheinsätze dadurch auszeichnen sollen, dass sie absolut sinnlos – also bar jeden Gehalts – sind. Worauf sonst soll die Illusion des Gehalts zurückzuführen sein, wenn nicht auf die täuschende Ähnlichkeit mit ›echten Gehalten‹ auf der Ebene der Oberflächenform ? Einer solchen Täuschung kann aber nicht mit vertiefter Einsicht begegnet werden, da ihr Pro­blem ja gerade die Vortäuschung von Inhalten ist. Sie bedarf der formalen Präzisierung, der Arbeit an der Form.57 Diese zentrale Annahme, dass eine solche rein formale reflexive Kritik möglich sei, setzt dem Denken der Erfahrung zwingende Grenzen. Wenn der Unterschied zwischen Schein und Sein bereits Diese Logik ist freilich nur zwingend unter dem Eindruck einer starken Dichotomie zwischen sinnlosen und gehaltvollen Sätzen, wie sie auch von bivalenten wahrheitskonditionalen Semantiken nahegelegt wird. Sie verliert ihre Plausibilität, sobald Bedeutungen auch Grautöne und Zwischenräume bewahren dürfen. 57

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durch die Analyse der Form erkennbar sein muss, dann kann das Sein (der »empirische Gehalt«) überhaupt nur noch in der Form angesprochen werden, die ein korrekt analysierter Satz aufweist. Es wird sichtbar, dass diese Leere der Form ein ganz entscheidender Gewinn ist für eine Philosophie, die sich der wissenschaftlichen Aufklärung und der empirischen Kritik verpflichtet sieht. Sie verleiht dem Denken eine gleichsam selbstreinigende Kraft. Zugleich jedoch unterwirft sie die Erfahrung der einschränkenden Bedingung, die hier im Vordergrund steht : Die mögliche Erfahrung wird von vornherein auf die Form zugeschnitten, die ihr am Ende in der Analyse zugewiesen wird. Wie dies im Detail geschieht, ist Gegenstand des nächsten Abschnitts.

Carnaps Formalismus § 35  Die allgemeinen Aussagen zum Formalismus des Wiener Kreises und seinem Erfahrungsbegriff lassen sich am konkreten Beispiel der Schriften von Rudolf Carnap belegen und vertiefen. Carnap kommt in unserer Argumentation eine repräsentative Bedeutung zu, die nicht unbedingt die innere Vielfalt des Wiener Kreises spiegelt, der keineswegs ein homogenes Theo­riegebäude entwarf.58 Doch mit Carnap steht hier der Autor im Vordergrund, der sich am stärksten dafür einsetzte, die auch im Manifest als Grundpfeiler der »Wissenschaftlichen Weltauffassung« gepriesene logische Analyse in ein durchführbares philosophisches Programm zu übersetzen. Seine Philosophie wurde, auch durch die spätere Kritik von Quine und Sellars, immer wieder als Ausdruck der Position des Wiener Kreises gesehen und angegriffen. Gerade durch die Konsequenz, mit der er das formalistische Programm zu verteidigen versuchte, sind bei ihm die wesentlichen Züge dieser Idee um so besser zu identifizieren. Vor allem Thomas Uebel (1996, 2000) verteidigt Otto Neurath als einen anti-essentialistischen und in seinen Grundzügen deutlich »postmodernen« Denker als Gegenfigur zu Carnap. Dass Carnap systematisch zu Recht im Zentrum der Debatten um den Wiener Kreis steht, dafür argumentiert auch Neuber (2011, 102–105) mit Hinweisen auf zahlreiche Neuerscheinungen zu Carnaps Werk. 58

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Das erste Merkmal von Carnaps Philosophie, das hier erwähnt werden muss, ist seine explizit formalistische Konzeption der Sprache als ein rein formales System, das prinzipiell unabhängig von jedem beliebigen Inhalt ist. Er rekonstruiert die wissenschaftliche Sprache als ein Kalkül, in dem Regeln angegeben werden zur Bildung und Umformung von Zeichen.59 Diese Regeln sind formal in dem Sinne, dass sie nur die Ordnung der Zeichen selbst betreffen. Sie geben nur an, wie diese Zeichen geordnet oder verändert werden können, ohne dabei von sich in Anspruch zu nehmen, damit etwas über außersprachliche Zustände – also über die Welt – auszusagen. Eine logische Syntax, wie Carnap dieses Kalkül auch nennt, besteht ausschließlich aus »Formbestimmungen und Umformungsbestimmungen« (Carnap 1968, 2), mit denen Sätze gebildet und ineinander überführt werden können. Carnap greift zur Illustration auch zu dem oft bemühten Vergleich der Sprache mit einem Schachspiel.60 Nach dieser Analogie sind die die einzelnen Ausdrücke vergleichbar mit Spielfiguren, und das Kalkül regelt den Raum der möglichen Beziehungskonstellationen, in den diese Ausdrücke gestellt werden können : »Die Formregeln bestimmen die Figurenstellungen … die Umformungsregeln bestimmen die erlaubten Spielzüge, d. h. die zulässigen Umformungen einer Stellung in eine andere« (Carnap 1968, 5). Die historische Voraussetzung dieser Position ist die im 19. Jahrhundert entstandene moderne Logik. Sie stützt sich auf die erfolgreiche Formalisierung in der Mathematik – insbesondere der Geometrie – mit ihren teilweise revolutionären Resultaten (wie der ›Entdeckung‹ einer nicht-euklidischen, algebraischen Beschreibung des Raums). Nach diesem modernen Verständnis drückt die Logik keine Gesetze des Denkens aus, wie es noch die Logik von Port Royal sah. Sie spiegelt auch nicht die universellen Verhältnisse der Wirklichkeit wider, wie Russell annahm. Vielmehr steht sie für ein inhaltsleeres, eben rein formales Kalkül, das erst in einem zweiten Schritt auf die Wirklichkeit angewendet wird (oder werden kann). Die folgenden Ausführungen beziehen sich hauptsächlich auf Carnap 1966 und 1968. 60 Carnap steht mit dem Schachspiel-Vergleich in einer langen Tradition, worauf Bertram et al. (2006, 155, Fn.8) hinweisen. 59

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Ein Kalkül ist, für sich genommen, aber noch kein philosophischer Formalismus. Entscheidend ist die Interpretation dieser Analogie, ihre Übertragung auf den denkenden Weltbezug. Ein Formalismus liegt vor, sobald diese im Kalkül etablierte Form als eine Form verstanden wird, die sich auf einen möglichen Inhalt beziehen kann. Und so ist es auch bei Carnap. Er nimmt an, dass die logischen Beziehungen, obgleich sie formal erfasst werden können, durchaus einen verstehbaren Sinn konstituieren. Zur Präzisierung dieses Gedankens führt Carnap den Begriff des Gehalts ein, der seitdem aus der analytischen Tradition nicht mehr wegzudenken ist (Carnap 1968, 38). Der Gehalt wird definiert als eine Menge von nicht-analytischen Folgebeziehungen, die sich aus einem Satz ergeben. Diese Definition ist rein formal. Mit ihr erhebt Carnap dennoch den Anspruch, eine präzise Definition dessen gegeben zu haben, was gewöhnlich als »›Inhalt‹ oder ›Sinn‹ eines Satzes« (Carnap 1968, 38) angesprochen wird. So wie beim Schach das Verständnis der Spielfiguren darin besteht, die Regeln zu kennen, mit denen sie bewegt werden können, ist der Sinn von Sätzen demnach durch die Folgerungen konstituiert, die sie ermöglichen. Ob ein Satz sinnvoll ist, so Carnap, bestimme allein die Syntax der Sprache. Die Grundidee dieser formalistischen Semantik ist eine holisti­ sche Erläuterung der Bedeutung, wie Georg Bertram und seine Mitautoren (2008) herausarbeiten. Als Holismus lässt sich allgemein die Auffassung bezeichnen, dass der »Gehalt« eines einzelnen Elementes innerhalb einer übergreifenden Ordnung durch seine Beziehungen zu anderen Elementen bestimmt wird.61 Wie bei vielen philosophisch einflussreichen Positionen liegt diesem Gedanken eine naheliegende Intuition zugrunde. Wenn wir ein Wort verstehen, wie etwa »Hund«, dann heißt das aus holistischer Perspektive vor allem, dass wir an diesem Ausdruck vielfältige Beziehungen gewinnen können : Ein Hund ist keine Katze, er hat vier Beine, er kann bellen, er ist ein Tier usw. Diese Beziehungen bestimmen unser Verständnis des Ausdrucks ; von einem Hund wird erwartet, dass er vier Beine hat, bellen kann, ein Tier ist usw.62 Umgekehrt heißt Zum Holismus vgl. die Beiträge in Bertram und Liptow 2002. Ein solcher Gedanke muss natürlich noch weiter ausgearbeitet werden. Auch dreibeinige Hunde sind Hunde, und ein Roboterhund kann vier Beine haben und bleibt dennoch eine Maschine. Hier geht es nur um die leitende 61

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das dann, dass die Bedeutung des Ausdrucks aus seiner holistisch gefassten Stellung im Gesamtsystem zu erklären ist. Es ist also nicht so, dass der Wiener Kreis einen atomistischen epistemischen Fundamentalismus vertreten hat, dessen Untragbarkeit erst durch die holistische Kritik von Quine (1951) sichtbar wurde. In der Frage der wissenschaftlichen Prüfung vertraten die Logischen Empiristen einen konsequent holistischen Standpunkt : »Die empirische Nachprüfung«, so lesen wir bereits bei Carnap, »bezieht sich aber nicht auf den einzelnen Satz, sondern auf das System der Sätze oder auf ein Teilsystem«(Carnap 1931a, 437). Quines Holismus ist jedoch wesentlich radikaler. Für Carnap ist der Holismus begrenzt auf ein System oder Teilsystem theoretischer Sätze der Wissenschaftssprache ; Quine spricht dagegen von der »totality of our so-called knowledge or beliefs« (1951, 39). Carnaps formalistischer Holismus ist also nur ein partieller Holismus, der klare Grenzen zieht zwischen Theo­rien und Theo­riesystemen der Wissenschaft sowie zwischen der Wissenschaft und den außerwissenschaftlichen Überzeugungen.63 Diese Grenzen werden in der weiteren Diskussion, wenn es um den daraus resultierenden Erfahrungsbegriff geht, noch deutlicher hervortreten. Intuition des formalistischen Holismus, nicht um seine Verteidigung. Cavell 1979 argumentiert mit Wittgenstein, dass Kriterien letztlich das sprachliche Verständnis nicht erschöpfend definieren. In dieser Perspektive ist das Projekt einer Theo­rie der Bedeutung aussichtslos geworden. Brandom 1994 wiederum versucht mit Hilfe des Sellar’schen Begriffes der materiellen Inferenz das Leitmotiv einer formalistischen Semantik in pragmatisierter Form zu retten. 63 Folgt man der Begriffsbestimmung von Bertram und Liptow, setzt der Holismus voraus, dass »die Menge der bestimmenden Elemente oder Zusammenhänge … nicht auf eine prinzipielle Weise abgegrenzt werden kann« (Bertram und Liptow 2002, 8 f.). Carnap ist nach diesem Kriterium kein Holist, da er eine solche Grenze mit Begriffen wie »Theo­rie« und »Logik« explizit zieht. In einer späteren Publikation zum Holismus (2008) verzichten diese Autoren auf das Ausschlusskriterium und stellen den Wiener Kreis dann auch explizit als einen formalistischen Holismus vor. Dieser Sprachregelung folgend, verwende ich »Holismus« hier vor allem als methodischen Gegenbegriff zum »Atomismus« : Der Holismus berücksichtigt die Vielfalt der Beziehungen, die »etwas« mit »allem anderen« unterhält, als konstitutive Beziehungen, während der Atomismus das »etwas« in Isolation betrachtet. Wie radikal dieser Holismus dann ist, indem er auf »das Ganze« ausgreift, bleibt hier unberücksichtigt. Martin Seel (in Bertram und Liptow 2002, 30–40) verteidigt die Möglichkeit eines Holismus, der nicht alles mit allem unterschiedslos verbindet. 80  |  Der Erfahrungsbegriff des Wiener Kreises 

§ 36  Mit seinem Bestreben, den Holismus formalistisch zu artikulieren, war der Wiener Kreis in seiner Zeit nicht allein. In der Sprachtheo­rie de Saussures und dem aus ihm entstehenden Strukturalismus wurde ebenso ein holistischer Ansatz verfolgt, der sich – ähnlich wie auch Carnap – am Begriff der »Struktur« orientiert und davon ausgeht, dass sprachliche Bedeutungen sich allein durch die innersprachlichen formalen Differenzen untereinander konstituieren.64 Auch der linguistische Strukturalismus beschreibt die Sprache als »ein System, dessen Glieder sich alle gegenseitig bedingen und in dem Geltung und Wert nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des anderen sich ergeben« (de Saussure 1967, 136 f.). Hier lässt sich eine größere historische Linie ziehen, die vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Nachkriegszeit reicht. Der Begriff der Struktur hatte, woran unter anderen Peter Galison und Lorraine Daston (2007) erinnern, in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts eine ganz besondere Anziehungskraft, was wiederum in der zweiten Hälfte zu einer Blüte »post-strukturalistischer« oder »post-positivistischer« Kritiken an der Dominanz des Strukturbegriffs führte. Die Attraktivität dieses Ansatzes liegt in eben dem Merkmal, das ihn auch für Carnap, wie für den Wiener Kreis im allgemeinen, hilfreich erscheinen lässt : Strukturale Beziehungen können auf die unterschiedlichste Art und Weise realisiert werden und bleiben sich als Struktur doch gleich. Aus strukturalistischer Sicht lässt sich somit Bedeutung auf eine Weise fassen, die alle konkreten individuellen Differenzen transzendiert. Daston und Galison weisen darauf hin, dass der Strukturalismus über konkrete Beispiele verfügte, die diesen Gedanken ebenso selbstverständlich wie modern erscheinen lassen : Carnap erklärte seinen Lesern am Beispiel der Eisenbahnkarte des europäisch-asiatischen Bahnnetzes, was er unter einer Struktur verstand. Diese Karte mußte nicht maßstabsgerecht gezeichnet sein ; die Namen der Städte waren womöglich nicht eingetragen ; alle geographischen Merkmale waren gelöscht. Trotzdem könnte man nur durch die Betrachtung topologischer Eigenschaften des Netzes, zum Beispiel der Knotenpunkte von Bahnstrecken – der Menge der ankommenden und Georg Bertram und seine Koautoren (Bertram et al. 2008) belegen die inhaltliche Parallelentwicklung zwischen französischem (Post-)Strukturalismus und (post-)analytischer Philosophie. 64

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abfahrenden Zugverbindungen –, anfangen Stationen zu identifizieren (Daston und Galison 2007, 307).

Die »Bedeutung« eines einzelnen Bahnhofs ergibt sich aus seiner strukturellen Stellung im Netz als Ganzem, etwa durch eine prominente Position im Zentrum des Netzes, von der aus alle Linien erreicht werden können. Die so verstandene Bedeutung lässt sich unabhängig von der konkreten Tunnelführung und der exakten geographischen Position der angefahrenen Stationen darstellen und erfassen. Ja, sie wird eigentlich erst durch eine solche abstrahierende Übersicht wirklich begreifbar – eine Übersicht, die sich allein auf die Beziehungen der Elemente untereinander konzentriert.65 § 37  Die durch den Begriff der Struktur eingeführte Entkopplung des Sinns von der Wirklichkeit verspricht aus der Perspektive eines Denkens der Autonomie, wie es der Wiener Kreis sucht, einen doppelten Gewinn. Sie eröffnet die Möglichkeit, das Denken selbst vollständig auf formaler Ebene zu analysieren, also einen Gewinn an Reflexivität. Und er gibt dem Denken die Möglichkeit, immer wieder neue Strukturen und Theo­rien zu entwerfen und an der Wirklichkeit zu überprüfen. Ich werde diese beiden Versprechen der Formalisierung – weiterhin am Beispiel von Carnap – kurz vorstellen, da sie der Maßstab sind, an dem Carnap sein eigenes philosophisches Projekt bemisst. Damit lege ich die Grundlage für die im nächsten Abschnitt ausgeführte Kritik am Formalismus, die auf die Einsicht hinausläuft, dass der Formalismus an seinem eigenen Maßstab gemessen scheitern muss, die zwei Versprechen also nicht zu halten vermag. Der erste mit dem Formalismus verbundene Vorteil ist ein beeindruckender Zuwachs an Reflexivität. Carnap hält das für den eigentlichen philosophischen Wert der Formalisierung. Er geht davon aus, dass es möglich ist, die formalen Regeln einer Sprache (ihre »Syntax«) vollständig reflexiv zu erfassen. Mit dieser Auffassung setzt Carnap sich bewusst von Wittgenstein ab, der im Tractatus Medienhistorisch legt sich der Gedanke nahe, dass erst die konkrete Praxis der Vernetzung (etwa durch die Eisenbahn) dem Strukturalismus eine solche Plausibilität verlieh. Jedenfalls ist die Metaphorik langlebig und wird den neuen technischen Errungenschaften angepasst : Bourdieu (1994, 88) verweist 60 Jahre später auf die U-Bahn in derselben strukturalistischen Funktion. 65

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behauptete, dass die logische Form der Sprache nicht selbst zum Gegenstand diskursiver Erörterungen werden kann (Carnap 1968, 208). Für Wittgenstein lässt sich die logische Form nur zeigen. Dieser Gedanke ist motiviert durch ein realistisches Verständnis der Logik, das Carnap nicht teilt. Für den jungen Wittgenstein ist die logische Form das, was die Sprache mit der Wirklichkeit teilt ; in ihr werden beide Seiten füreinander transparent. Hans-Julius Schneider (2006) vergleicht dies mit der Logik der Notenschrift : Ein sprach­ liches Zeichen kann nach dieser realistischen Auffassung nur etwas ausdrücken, wenn die ihm korrespondierende Erfahrung gegeben ist ; so wie auch ein musikalisches Notenzeichen nur verständlich wird durch den Ton, der mit ihm verbunden wird. Umgekehrt erlaubt die formale Notation, diese innere Struktur dieser Erfahrung – das Musikerlebnis einer Melodie – klar und deutlich zu erfassen. Unter realistischen Prämissen muss die logische Analyse, wie Wittgenstein sie versteht, eine logische Struktur enthüllen – die Logik dessen, was der Fall ist. Carnaps holistisches Verständnis der Logik, das keine Abbildbeziehung mehr kennt, erlaubt ihm, von dieser Restriktion abzuweichen. Bei ihm gibt es keine immanenten Grenzen des Sagbaren. Die »formale Methode«, so Carnap, sei in der Lage, »alle logischen Pro­bleme« zu erfassen, »auch die sogenannten inhaltlichen oder Sinn-Pro­bleme« (Carnap 1968, 208). Auch Aussagen über Gegenstände sowie, eine Stufe höher, Aussagen über Aussagen über Gegenstände lassen sich als Beziehungen zwischen unterschiedlichen Aussageklassen rekonstruieren. Und diese Beziehungen seien rein formal verständlich, so Carnap : »die Feststellung, ob der eine Satz eine Folge des andern ist oder nicht, braucht auf den Sinn der Sätze nicht Bezug zu nehmen« (ebd., 201). Durch die Formalisierung ist es nicht mehr nötig, sich in metastufigen Diskussionen zu fragen, ob eine Aussage auch mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Entsprechend fordert Carnap dazu auf, in der Philosophie auf solche Erörterungen zu verzichten, die eine verfälschende inhaltliche Redeweise aufwiesen. Um miteinander zu reden und sich dabei nicht zu verwirren, ist es nötig, an die Stelle solcher fehlleitenden inhaltlichen Erörterungen allein ihre konstitutiven »syntaktischen Bestimmungen« zur Diskussion zu stellen (Carnap 1968, 45). Entscheidend ist die formale SchlüssigCarnaps Formalismus  |  83

keit von Sätzen im Rahmen eines gegebenen Kalküls, der »Syntax«, wie Carnap es nennt. Die Sinnebene wird durch die Form konstituiert und nicht umgekehrt. Was intensional als ein subjektives »Sinnverstehen« begriffen wird, ist für Carnap letztlich nur ein Netz formaler Beziehungen : »Es ist theoretisch möglich, die logischen Beziehungen (Folgebeziehung, Verträglichkeit, usw.) zweier chinesischer Sätze festzustellen, ohne den Sinn der Sätze zu verstehen, wenn nur die Syntax der chinesischen Sprache gegeben ist« (Carnap 1968, 201).66 § 38  Der Formalismus bringt auf diese Weise – das ist sein zweiter hervorzuhebende potenzielle Gewinn – eine neue Freiheit in die vernünftige Selbstreflexion ein. Aussagen sind nach formalistischem Verständnis nur dann nicht klar diskutierbar, wenn ihr Referenzrahmen verschwiegen wird. Ein solches »absolutistisches Verständnis«, wie Carnap es nennt, tut so, als sei die gewählte Ausdrucksweise, und damit das in ihr angelegte logische Vokabular, absolut gültig. Dagegen zeigt der Formalismus, dass eine Aussage immer nur relativ zu einem ganzen Aussagensystem gültig ist. Die philosophische Selbstreflexion beginnt in diesem Verständnis immer mit der Feststellung, auf welches Sprachsystem sich eine Aussage bezieht und für welche Sprachsysteme der Satz Gültigkeit beansprucht (Carnap 1968, 226). Schon durch diese Explikation des sprachlichen Bezugssystems werden, so Carnaps Überzeugung, zahlreiche Mehrdeutigkeiten und missverständliche Aussagen aufgelöst. Carnap listet zahlreiche Fragen auf, die durch die Übersetzung in die formale Redeweise völlig ihrer »metaphysischen« Konnotation einer unergründlichen beraubt würden (ebd., 225–235). Das Freiheitsversprechen besteht also in der Auffassung, dass diese Fragen nun rational entscheidbar werden, anstatt uns in ihrem Bann zu halten. Der stärkste Ausdruck des Freiheitsgewinns, den Carnap mit der Formalisierung verbindet, ist das sogenannte »Toleranzprinzip der Syntax« (Carnap 1968, 44 f.). Da Satz und Satzsystem einan John R. Searle (1982) führt Carnaps Behauptung ad absurdum, indem er am Gedankenexperiment des »Chinese Room« zeigt, dass der rein formale Umgang mit unverständlichen chinesischen Zeichen wirklich nicht als eine Instanz des Verstehens von Bedeutungen aufgefasst werden kann. 66

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der bedingen, ist es für Carnap möglich und auch empfehlenswert, unterschiedliche Sprachformen miteinander zu vergleichen, um ihre jeweiligen Vor- und Nachteile zu diskutieren. »In der Logik gibt es keine Moral«, heißt es entsprechend (ebd., 45). Das soll bedeuten : Die Logik stellt keine Verbote auf, sondern sie stellt nur fest, welche formalen Übergänge innerhalb eines gegebenen Satzsystems möglich sind und welche nicht. Für die Wahl des Satzsystems selbst gibt es aber keine Vorschriften. »Jeder mag seine Logik, d. h. seine Sprachform, aufbauen wie er will« (ebd.). Verbindlich ist nur die Forderung, diese Sprachform auch zu explizieren, um jede mögliche Verdunkelung zu vermeiden. Der Ratio­nali­tätsanspruch wird auf diese Weise in ein festes Verfahren übertragen : Was auch immer behauptet wird, die Formalisierung hilft zu verstehen, was gemeint ist, und eröffnet dadurch die Chance einer diskursiven Klärung der fraglichen Behauptung. Zugleich zeigt das Toleranzprinzip, wie flexibel Carnap sich diesen Vorgang vorstellte. Auch wenn für ihn die Erfahrung die Basis der Wissenschaft darstellt, bleibt die Frage der korrekten systematischen Erfassung dieser Erfahrung offen und sollte flexibel gehandhabt werden.67 Die Erfahrung ist das, was der logischen Form gegenübersteht und zu dem sie in ein Verhältnis gesetzt wird. Unterschiedliche Sprachformen lassen unterschiedliche Erläuterungen zu und stellen damit unterschiedliche Ausdeutungen der Erfahrungen zur Verfügung. Die Frage ist freilich, ob eine solche Konzeption der Erfahrung wirklich verständlich werden kann – oder ob sie nicht, wie ich im Folgenden argumentieren werde, letztlich an den Vorgaben des Formalismus zerbricht.

Das wissenschaftshistorische Motiv hinter diesem Prinzip, so ist zu vermuten, ist die v. a. von Einstein vorangetriebene Kritik der klassischen Physik und die damit verbundene Neubeschreibung zahlreicher Grundbegriffe (und Phänomene) der klassischen Physik. Vgl. dazu die Erwähnung der Relativitätstheo­rie im Manifest (Neurath 1981, 310) sowie Don Howards (1994) Diskussion des Einflusses der neuen Physik auf den Wiener Kreis. 67

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Die Verkürzung der Erfahrung § 39  Wir haben rekonstruiert, wie für Carnap der Formalismus die Reflexion vollständig auf die Ebene der Form verlegt und damit – in seinen Augen – befreit. In diesem Abschnitt geht es nun darum, zu zeigen, dass diese formalistische Konzeption der Autonomie systematisch ein so stark reduziertes Erfahrungsverständnis impliziert, dass die vom Toleranzprinzip behauptete Offenheit und Flexibilität der Wissenschaft gegenüber alternativen Strukturbeschreibungen nicht verteidigt werden kann. Genauer formuliert : Zwar lässt Carnaps Formalismus die Möglichkeit offen, andere und alternative Beschreibungsformen zu finden, doch er kann nicht erläutern, wie wir diese konkurrierenden Ansätze als auf die Sache bezogene Alternativen begreifen können. Der Formalismus öffnet die Wahl zwischen Theo­riesystemen der Willkür, indem er diese Entscheidung von Erfahrungen bestimmen lässt, die nach den strengen Prinzipien des Logischen Empirismus eigentlich keine rationale Relevanz haben sollten – also etwa auf ästhetische Eindrücke oder auf Praktikabilitätsabwägungen, die in der Theo­rie gerade zum Zwecke der Formalisierung ausgeschlossen wurden. Es geht hier also nicht einfach um eine externe Kritik an Carnaps Formalismus, sondern um den Aufweis, dass der Formalismus an der von ihm vorgenommenen Verkürzung der Erfahrung scheitert – an seiner Vorabfestlegung dessen, was »Erfahrung« im rational relevanten Sinne ist und sein kann. Ich möchte diese Behauptung in drei Schritten entwickeln, in denen dann auch zunehmend die skeptische Kehrseite des Formalismus sichtbar wird. Erstens muss die Erfahrung eine bestimmte Form annehmen, um überhaupt rational greifbar zu sein. Diese Forderung führt zu der offensichtlichsten Reduktion der Erfahrung, zur Beschränkung der rational relevanten Erfahrung auf ›Protokollsätze‹ oder ›Beobachtungssätze‹. Zweitens schließt diese Formalisierung andere Formen der Erfahrung explizit – und nicht nur in der kritischen Rückschau – aus. Es kommt zu einer bewusst in Kauf genommenen Spaltung der Erfahrung in einen innertheoretischen Anteil, der rational relevant ist, und einem außertheoretischen Anteil, der aus dem Raum der Gründe ausgeschlossen wird. Drittens schließlich führt diese Spaltung der Erfahrung zu dem Paradox, dass die Wahl zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Theo­ 86  |  Der Erfahrungsbegriff des Wiener Kreises 

rien oder Sprachformen nach den eigenen Maßstäben selbst nicht mehr rational genannt werden kann. Die Instabilität der Erfahrung, ihre Doppelrolle als kontingenter empirischer Inhalt und als rationale Form, kollabiert in einen Dezisionismus der Theo­riewahl, der die gesuchte Autonomie des Denkens unterläuft. § 40  Der Einstieg in diese Erörterung des Formalisierung der Erfahrung muss dabei jedoch einen indirekten Weg gehen. Die Behauptung, der Formalismus verkürze die Erfahrung, berührt nämlich ein großes philosophisches Pro­blem. Sie klingt, als würde sie von einem absoluten Außenstandpunkt aus gefällt werden, dem es möglich ist, beide Seiten des epistemischen Erfahrungsbezugs in den Blick zu nehmen : die ›rohe‹ Erfahrung, wie sie an sich vorliegt, und die ›Form‹, die sie in Aussagen oder Behauptungssätzen des Wiener Kreises annimmt. Nur aus einer solchen absoluten Per­ spektive, die beide Seiten überblickt, scheint es möglich, hier von einer Einschränkung der Erfahrung zu sprechen, die der Formalismus vornimmt. Aber woher nehmen wir als Theo­riebeobachter die Gewissheit, dass unser Verständnis der Erfahrung die unverkürzte, unverfälschte Wirklichkeit trifft, während der Logische Empirismus sie verfehlt ? Um diese Debatte über den eigenen Standpunkt zu vermeiden, werde ich die Beschränkung der Erfahrung, die der Wiener Kreis vornimmt, aus dem Inneren seiner theoretischen Position heraus rekonstruieren. Ein guter Ansatzpunkt ist das Ideal der Einheitswissenschaft, das der Wiener Kreis entwirft. In der Einheitswissenschaft arbeiten die Philosophie und die Wissenschaften vereint, aber mit getrennten Aufgaben, für den Fortschritt : Die empirischen Fragen werden von den Wissenschaften beantwortet, die logischen werden philosophisch ›geklärt‹. Diese Aufgabenteilung ist nur unter der Bedingung realisierbar, dass die Trennung von Form und Inhalt, die ja den Formalismus durchzieht, auch als ein Unterschied zweier Arten von Fragen erkennbar wird. Nur wenn verlässlich entscheidbar ist, ob ein Pro­blem inhaltlicher oder formaler Natur ist, kann es unter formalistischen Vorgaben einer – dann aber endgültigen – Lösung zugeführt werden. So beschreibt Carnap die Wissenschaft als ein streng arbeitsteiliges Gebiet, in dem eine klare Verteilung der Kompetenzen und der Zuständigkeiten vorherrscht : Die Verkürzung der Erfahrung  |  87

Die wissenschaftliche Arbeit betrifft entweder den empirischen lnhalt der Sätze : man beobachtet, experimentiert, sammelt und bearbeitet das Erfahrungsmaterial. Oder es geht um Klarstellung der Form der Wissenschaftssätze, sei es ohne Rücksicht auf den Inhalt (formale Logik), sei es im Hinblick auf die logischen Beziehungen bestimmter Begriffe (Konstitutionstheo­rie, Erkenntnistheo­rie als angewandte Logik) (Carnap 1931a, 433).

Wenn dies mehr ist als eine soziologische Behauptung, dann muss die Entscheidung, ob ein Satz in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie oder der Wissenschaften fällt, prinzipiell immer möglich sein. Woher nimmt der Wiener Kreis die Gewissheit, dass diese Möglichkeit immer gegeben ist ? Ein Formalismus kann darauf nur eine Antwort geben : Der Unterschied zwischen Form und Inhalt muss selbst ein formaler sein. Er steht vor jeder Erfahrung. Nur auf diese Weise kann vorausgesetzt werden, dass er der Selbstreflexion der wissenschaftlichen Vernunft (zu der ja für den Wiener Kreis auch die Philosophie gehört) immer zur Verfügung steht. Wenn diese Unterscheidung vor jeder Erfahrung feststeht, heißt das aber nichts anderes, als dass sie sich jeder empirischen Prüfung entzieht. Der Unterschied zwischen analytischen Sätzen, die von aller empirischen Prüfung befreit sind, und synthetischen Sätzen, die sich der Erfahrung gegenüber verantworten müssen, wird damit selbst der reflexiven Korrektur entzogen – er wird dogmatisch. Das ist die Kritik, die Quine (1951) später gegen Carnap richtet. Und Quine sieht auch, dass dieses Dogma die Konsequenz hat, dass der Erfahrungsbegriff künstlich verkürzt wird. Der Logische Empirismus muss von vornherein wissen, in welcher Form wir Erfahrungen in das System der Wissenschaft einbringen, weil nur so die grundsätzliche Trennung von formaler Reflexion und inhaltlicher Prüfung aufrechterhalten bleibt. Quine selbst spricht auch von dem Dogma des »Reduktionismus« der Erfahrung, der im Wesentlichen (»at root«) mit dem Dogma der Trennung von analytischen und synthetischen Sätzen zusammenfalle. Die formale Vorfestlegung der Erfahrung ist somit die Bedingung der Möglichkeit der Kritik, wie sie der Formalismus entwirft. Carnap trennt säuberlich zwischen den Protokollsätzen, die möglichst neu­tral Bericht über die Wirklichkeit erstatten, und ihrer logischen Ausdeutung (Carnap 1932b, 221). Die vom Wiener Kreis 88  |  Der Erfahrungsbegriff des Wiener Kreises 

vorgenommene Arbeitsteilung zwischen Logik und Empirie legt die Erfahrung auf eine konstante Form fest. Diese Festlegung besteht also unabhängig von der Frage, ob die Protokollsätze – wie bei Schlick – als das Protokoll subjektiv infallibler Wahrnehmungen konzipiert werden, das keiner Bestätigung oder Bewährung bedarf, oder ob auch sie in den Raum der rationalen Kritik und Revision gestellt werden, wie Neurath es vorschlägt. Auch Neuraths Kohärenztheo­rie bleibt dem formalistischen Credo treu, indem sie behauptet, dass alle wissenschaftlichen Sätze (Neurath : »wenn wir von den Tautologien absehen«) aus genau zwei Arten von Sätzen bestehen, nämlich »a) Protokollsätze« und »b) Nichtprotokollsätze« (Neurath 1932, 207). Gerade hier zeigt sich, dass der Formalismus eine fundamentalere Bedeutung für die Grundkonzeption des Wiener Kreises hat als der zumeist mit ihm assoziierte ›epistemische Fundamentalismus‹ (foundationalism). Entscheidend für den Wiener Kreis ist nicht die Fundierung des Wissens in der Erfahrung, sondern die dafür vorgenommene formale Trennung der Protokollsätze von anderen möglichen Formen der Beschreibung. Erfahrung tritt nur in einer Form in den wissenschaftlichen Diskurs ein, als Protokollsatz. § 41  Dass diese Festlegung der Erfahrung auf eine spezifische Form auch eine Einschränkung der Erfahrung darstellt, ist nun der zweite hier zu diskutierende Aspekt der formalisierten Erfahrung. Nicht alle Erfahrung ist in dem gewünschten (oder erforderlichen) Sinne formalisierbar. Bestimmte Formen der Erfahrung müssen aus dem Reich dessen, was rational verständlich ist, kategorisch ausgegrenzt werden – die Erfahrung wird in zwei Teile gespalten. Auch diese Behauptung ist nun keine Kritik aus einer theoretischen Distanz, die sich aus einer Außenposition gegen den Wiener Kreis wendet. Die Grenzen der Formalisierung werden vielmehr von den Verfassern des Manifestes selbst eingeräumt. In ihren Augen ist die Einschränkung auf bestimmte Erfahrungstypen jedoch kein Mangel. Sie sehen sie vielmehr als ein Weg zu mehr Objektivität und Exaktheit. Für sie ist die Formalisierung ein Verfahren, das den objektiven Anteil des Wirklichkeitsbezugs zu erfassen vermag und dadurch die subjektive Natur der Erfahrung produktiv trans­ zendiert. Denn die subjektive Seite wird als störend empfunden auf Die Verkürzung der Erfahrung  |  89

der Suche nach Erkenntnis, als zu unzuverlässig. Daher steht für die Autoren des Manifestes fest, dass sie mit gutem Gewissen all jene »privaten« oder idiosynkratischen Aspekte der Erfahrung fallen lassen können, die im 19. Jahrhundert mit zunehmender Eindringlichkeit empirisch dokumentiert wurden. So zeigte sich etwa an damals prominent diskutierten sinnesphysiologischen Untersuchungen zur Farbwahrnehmung, wie unterschiedlich die individuellen Wahrnehmungen sind : Rotwahrnehmung ist nicht gleich Rotwahrnehmung, auch wenn die Wellenlänge der jeweils wahrgenommenen Farbe konstant bleibt.68 Der Wiener Kreis glaubt, durch Formalisierung jene konstante Dimension einfangen zu können, die sie für einzig relevant hält bei der Erschließung der objektiven Wirklichkeit : Das die Menschen in der Sprache Verbindende sind die Strukturformeln ; in ihnen stellt sich der Inhalt der gemeinsamen Erkenntnis der Menschen dar. Die subjektiv erlebten Qualitäten – die Röte, die Lust – sind als solche eben nur Erlebnisse, nicht Erkenntnisse ; in die physikalische Optik geht nur das ein, was auch dem Blinden grundsätzlich verständlich ist (Neurath 1981, 308).

Das Gedankengebäude der »Wissenschaftlichen Weltauffassung« kennt somit zwei Arten von Erfahrungen. Erfahrungen, die objektiv zur Erkenntnis beitragen (können), erhalten Zutritt zu diesem Gebäude. Das sind die Protokollsätze ; ihre sprachliche Form ist zugleich die Form objektivierbarer Erfahrung. Außen vor gelassen werden – wie es im Manifest heißt – jene »Erlebnisse [wie] die Röte [und] die Lust«, die sich aufgrund ihres subjektiven oder, wie es dann auch heißt, »psychologischen« Charakters einer Formalisierung entziehen. Diese Gefühle und Empfindungen sind aus der strengen Perspektive der Wissenschaft formlos. Sie haben keine rationale Form ; sie sind nicht anschlussfähig für den logisch organisierten Diskurs. Der Vergleich des Blinden mit dem Sehenden, den das obige Zitat zieht, ist hier aufschlussreich. So unterschiedlich auch die subjektiven Erlebnisse und Erfahrungsqualitäten sind, sie sollen keine Rolle spielen im objektiven Diskurs der Ratio­nali­tät. Einem lebensweltlich so wichtigen Unterschied wie dem zwischen Blindheit und Sehfähigkeit kann aus formalistischer Sicht jegliche Siehe dazu die Diskussion von Daston und Galison (2007, 281–305) sowie die umfassendere Studie von Jonathan Crary 1996. 68

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Bedeutung abgehen. Die Erfahrung wird somit gespalten nach Maßgabe ihrer Formalisierbarkeit. § 42  Diese Spaltung der Erfahrung ist nun drittens nicht nur dann ein Pro­blem, wenn der eingeschränkte Erfahrungsbegriff des Wiener Kreises nicht geteilt wird. Sie führt auch nach den Maßgaben des Formalismus selbst zu einer Paradoxie, die das formalistische Grundmodell schließlich ad absurdum führt. Wir werden mit dieser Diagnose die Diskussion des Wiener Kreises abschließen, da sich hier zeigt, dass sich der formalistische Grundansatz im Kern nicht halten kann, insofern er seinen eigenen Anspruch auf rationale Autonomie nicht zu verteidigen vermag. Zur Feststellung dieses Widerspruchs ist es weiterhin nicht nötig, aus der Theo­riekonstruktion des Wiener Kreises auszutreten. Er erscheint an einer Stelle, die von entscheidender Bedeutung ist für die moderne Gesamtkonstruktion der »Wissenschaftlichen Weltauffassung« und die von den Vertretern des Wiener Kreises selbst thematisiert wird. Die Rede ist von dem Pro­blem der Sprachwahl. Wir hatten oben bereits Carnaps Toleranzprinzip eingeführt, dem zufolge die Logik, wie Carnap es formuliert, keine Moral kenne. Bei der Wahl der theoretischen Sprache, die zur Erfahrung passt, dürfe es keine außertheoretisch motivierten Hemmungen oder Einschränkungen geben. Dieses Toleranzprinzip steht ineins für das Prinzip der (wissenschaftlichen) Autonomie wie auch für die fallibilistische Flexibilität der Erkenntnis : Wir dürfen, ja sollen bei Bedarf unter den verschiedenen möglichen Theo­rien wählen, und diese Wahl darf nicht irgendwelchen »dogmatischen« oder »metaphysischen« Vorgaben unterliegen. Eine solche Entscheidung, die sich zwischen den unterschied­ lichen theoretischen Sprachformen stellt, führt jedoch innerhalb des formalistischen Rahmens über die Grenzen der Vernunft hinaus. Dies hat Carnap deutlich gesehen. Er unterscheidet in einer späten Schrift zwischen ›internen‹ Fragen der Wissenschaft, die sich auf das Theo­riegebäude und seine interne Logik verlassen können, und ›externen‹ Fragen, die das einzunehmende Verhältnis zu diesen Sprach- und Denkformen betreffen.69 Für Carnap ist klar, dass eine Dieser Aufsatz von Carnap stammt zwar aus dem Jahre 1950, seine Ideen

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Entscheidung zwischen den unterschiedlichen Theo­rien nicht mehr ›intern‹, also innerhalb einer präzisen Wissenschaftssprache, geklärt werden kann – was aber wiederum heißt, dass sie keine eindeutige Ratio­nali­tät mehr kennt. »This choice among precise explications cannot«, so fasst A.W. Carus Carnaps Argumentation zusammen, »be settled internally within the language of any particular precise explication« (Carus 2004, 329). Durch die Trennung von internen und externen Fragen fließen in die Theo­riewahl Faktoren ein, die im Vergleich zur rigiden Theo­ riesprache äußerst vage erscheinen müssen. Es muss eingeschätzt werden, wie effektiv eine Theo­rie im Vergleich zu einer anderen ist, oder es wird auf der Grundlage entschieden, wie einfach ein Vokabular im Vergleich zu einem anderen ist. Carnap markiert diesen Qualitätsunterschied dadurch, dass er diese Kriterien nicht mehr als theoretische anspricht. Es handele sich hier um »a matter of practical decision« (Carnap 1950, 23), mithin also um Entscheidungen, die sich an Werten – an Normen des Erstrebenswerten – orientieren. Die Übernahme eines Sprachsystems wird zu einer Frage der allgemeinen, wertbezogenen Akzeptanz eines Beschreibungssystems. Diese Akzeptanz fußt zwar teilweise auf theoretisch informierten Gründen und Erwägungen, ist aber für Carnap nicht selbst theoretischer Natur. § 43  Carnaps Position lässt sich positiv als eine verantwortungsvolle Anerkennung des bloß instrumentellen Wertes der Theo­rie deuten. Theo­rien sind Mittel zum Zweck, sie unterstehen einer ständigen Arbeit des »engineering«, wie A. W. Carus (2004, 329) es nennt. Eben das werde beim Pro­blem der Theo­riewahl deutlich, und so zeige sich – so Carus weiter –, dass sich Wissen und Werte auch im Logischen Empirismus gegenseitig bedingten. Carus zieht hier den Vergleich mit Platons dialektischen Dialogen und sieht in dieser Position eine Fortsetzung des modernen metaphysikkritischen Grund­impulses des Wiener Kreises : Meta­physik ist pro­ble­matisch, weil sie eben diese ›dialektische‹ Flexibilität in der Wahl der Mittel und Perspektiven untergrabe, indem sie von vornherein festlege, finden sich aber auch in einem Aufsatz aus dem Jahre 1933 (Carnap 1975) sowie in der Syntax von 1934 (Neudruck Carnap 1968, 249). 92  |  Der Erfahrungsbegriff des Wiener Kreises 

was ist.70 Die ›externe‹ Dimension der Theo­riewahl ist somit Ausdruck der Wiener Grundüberzeugung, dass der vernünftige Mensch seine Mittel und Ziele am besten selbst bestimmen könne und solle : From his earliest writings, it was Carnap’s deep conviction that human kind had a responsibility to choose and shape its own institutions … rather than to accept them passively (Carus 2004, 349).

Diese Deutung kommt dem Selbstverständnis Carnaps entgegen und fasst die dahinter liegende Motivation gut zusammen. In einer allgemeinen Perspektive ist gegen diese typisch moderne Anerkennung der Selbstverantwortlichkeit des Menschen zunächst auch nichts einzuwenden ; sie ist das Leitmotiv dieser Untersuchung, die nach der Möglichkeit und der genauen Bestimmung dieser Autonomie in rationalen Belangen fragt. Doch hier ist festzuhalten, dass Carnaps »Voluntarismus« der Theo­riewahl, wie ihn Carus auch nennt, selbst wieder eine pro­blematische rigide Trennung einführt : Während innerhalb der Theo­rien nur Logik und Fakten regieren sollen, wird außerhalb der Theo­rie die Herrschaft von Werten, Hinsichten und Zielen anerkannt, die sich nach der offiziellen Logik der wissenschaftlichen Weltauffassung jeder rationalen Überprüfung entziehen. Und diese rigide Trennung entlang der Grenze der Theo­ rie ist keine späte These Carnaps. In einer kurzen Stellungnahme zu »Theoretischen Fragen und Praktischen Entscheidungen« führt sie Carnap schon in den 1930er Jahren ein (Nachdruck in Carnap 1975). Sein Beispiel ist trivial, aber dafür um so deutlicher : Ob man einen Apfel essen solle oder nicht, so Carnap, könne nicht theo­ retisch entschieden werden. Die Theo­rie mag gute Gründe für oder gegen diese Entscheidung finden, aber die Entscheidung selbst kann Es lässt sich jedoch argumentieren, dass diese Auffassung das Wesen der Meta­physik missversteht. Wolfram Hogrebe (in Krämer 2007, 281–292) hebt hervor, dass gerade die transzendente platonische Idee die »Sichtbarkeit der Welt« (Hogrebe) sichert, da sie erlaubt, die einzelnen Phänomene auf ein kohärentes Ganzes hin zu entwerfen. Rolf-Peter Horstmann sieht das Leitmotiv des kantischen und nachkantischen Idealismus in der analogen Aufgabe, das »natürliche Bewusstsein« über seine eigenen Voraussetzungen aufzuklären, was freilich bis hin zur Aufforderung der Preisgabe der Gültigkeit der »natürlichen« Vorstellungen führen kann (Horstmann 2004, insb. 1 – 22). »Meta­physik« ist hier also gerade nicht Stillstellung des Denkens, sondern Ausweis seiner konstitutiven Gelenkstellen. 70

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sie nicht abnehmen. Die Theo­rie hat nur das Ziel, über den Weg zu informieren : »Die wissenschaftliche Überlegung bestimmt nicht das Ziel, sondern stets nur den Weg zu dem beschlossenen Ziel.« (Carnap 1975, 175 ; Hervorhebung im Original) § 44  Die Trennung von praktischen Zielen und theoretischen Mitteln ist im formalistischen Denken konsequent, da rational zwingende Gründe nur innerhalb eines formalen Systems von Bedeutungen – also der »Theo­rie«– eingeklagt werden können. Carnap sieht keine Möglichkeit, für die von ihm sogenannten »praktischen Entscheidungen« eine solche rationale Schlüssigkeit zu übernehmen. Diese Feststellung hat jedoch desaströse Konsequenzen für das Gesamtprojekt, die Carnap nicht im Blick hat. Andreas Kemmerling (2007) spricht von einem »Sprachdezisionismus« im Herzen einer rationalistischen Theo­rie der Wissenschaft. Eine andere Formulierung wäre »Wiederkehr des Verdrängten«. Das Pro­blem ist, dass die Ziele ja die Mittel bestimmen sollen und damit das Praktische zum eigentlichen Maßstab der Weltorientierung wird – aber zu einem nach den eigenen Maßgaben unvernünftigen Maßstab. Der Anspruch auf Flexibilität und Dogmenfreiheit verlagert die Frage nach der Ratio­nali­tät wieder in die praktische Sphäre, wo sich die Entscheidung an Kriterien orientieren muss, die der Formalismus zuvor ausgeschlossen hat. Gerade mit Blick auf den Begriff der Erfahrung zeigt sich hier ein Defizit : Mit einem Male werden Erfahrungen wichtig, die zuvor mit aller Entschiedenheit für rational irrelevant erklärt wurden. Carnaps Beschreibung der praktischen Logik der Entscheidung nennt Kriterien wie die ästhetische Einfachheit des Ausdrucks, die teleologische Zweckgerichtetheit des Handelns, die konventionelle Vertrautheit mit bestimmten theoretischen Idiomen sowie die vage Vermutung, dass eine Theo­rie sich als fruchtbar erweisen wird (»fruitfulness«, Carnap 1950, 23). In all diese Kriterien sind Erfah­rungen involviert, nämlich Hoffnungen, Erwartungen, Zweckorien­tierung und im weitesten Sinne ästhetische Empfindungen. Diese Erfahrungen fügen sich nicht in die Form des Protokollsatzes. Sie sind in ihrer Funktion als Kritierien nicht restlos auf die beiden Grundsphären der Logik und der Tatsachen aufzuteilen : Zwar lässt sich eine bestimmte Erwartung an eine Theo­rie – wie etwa die Hoffnung, dass die physi94  |  Der Erfahrungsbegriff des Wiener Kreises 

kalische Stringtheo­rie die Differenzen zwischen Quantenmechanik und Relativitätstheo­rie überbrückt  – als eine psychologische Tat­ sache im Sinne des Logischen Empirismus beschreiben ; doch damit wird ihr ja gerade jede normative Verbindlichkeit abgesprochen. Und doch sollen nun gerade solche wissenschaftlich nicht kontrollierbaren Empfindungen die für den Wiener Kreis essentielle Wahl der Theo­riesprache leiten, also jene Flexibilität garantieren, ohne die Wissenschaft verknöchern und versteifen würde. Damit erweist sich die Modernität des Wiener Kreises als äußerst reduziert und instabil. Von Anfang an bleibt der starke Autonomieanspruch durch den Formalismus auf den innertheoretischen Bereich beschränkt. Die Rigorosität, Sachlichkeit und Präzision, die der Wiener Kreis für sich und für die Wissenschaften beansprucht, hat nur in einem kleinen, abgezirkelten Bereich Gültigkeit. Dessen Grenzen werden gezogen durch den Zwang, alle Erfahrung in eine einheitliche Form zu bringen, und durch das Bestreben, allein diese Form für objektiv relevant zu erklären und damit andere Formen der Erfahrung, wie etwa ›subjektive‹ Erfahrungen, auszuschließen. Doch selbst diese eingeschränkte Autonomie kann Carnap, wie wir sehen, nicht mehr verteidigen. Die Wahl der alles bestimmenden Theo­riesysteme untersteht Kriterien, die nach den eigenen Maßstä­ ben nur noch irrational genannt werden können. § 45  Carnap geht sogar noch weiter. Er wendet die hier rekonstru­ ierte dezisionistische Logik auch noch auf den empirischen Status der Protokollsätze an und damit auf den Begriff der Empirie selbst.71 Carnap ist kein naiver foundationalist.72 Die von ihm verteidigte Logik der »Zurückführung« von allgemeinen Aussagen auf konkrete empirische Protokollsätze hat, wie Carnap einsieht, keinen natürlichen Endpunkt. Um eine wissenschaftliche Hypothese zu prüfen, ist es nötig, zahlreiche Zwischenschritte zu gehen. Ein allgemeines Gesetz wird in eine konkrete Arbeitshypothese übersetzt, die wiederum »mit Hilfe anderer Gesetze und logisch-mathematischer Diese »Relativierung« des fundierenden Status der Protokollsätze geschieht, wie Carnap selbst einräumt, in Reaktion auf die holistische Kritik von Otto Neurath 1932. 72 Vgl. zur Relativierung des Vorwurfs des »foundationalism« gegenüber dem Wiener Kreises auch Uebel 1996. 71

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Schlußregeln« (Carnap 1932b, 224) zu weiteren konkreten Sätzen führt. Hier stellt sich aber die Frage nach dem Ende dieser Rechtfertigungskette : Welche Sätze sind nun die abschließenden Protokollsätze, mit denen fest steht, dass eine durchgängige logische Verbindung zwischen dem abstrakten Gesetz und der konkreten Erfahrung vorliegt ? Carnap sieht zwar, dass es schon aus forschungspragmatischen Gründen nötig ist, bei dieser Kette von Ableitungen irgendwo einen Schlusspunkt zu setzen. Doch er kann keinen Grund erkennen, der einen solchen Schluss zwingend werden lässt : In keinem Fall aber ist man gezwungen, an einer bestimmten Stelle haltzumachen. Man kann von jedem Satz aus noch weiter zurückgehen ; es gibt keine absoluten Anfangssätze für den Aufbau der Wissenschaft (Carnap 1932b, 224).

An dieser Stelle wird dann wieder auf den Dezisionismus zurückgegriffen. Es ist, wie Carnap weiter formuliert, »Sache des Entschlusses, welche Sätze man jeweils als derartige Endpunkte der Zurückführung, also als Protokollsätze, verwenden will« (Carnap 1932b, 224). Aus dieser Unterbestimmtheit der Ableitungsverhältnisse zieht Carnap eine Konsequenz, für die später Quine berühmt werden sollte : Im Zweifel ist es durchaus auch möglich, widersprüch­ liche empirische Resultate durch Modifikationen an anderen Stellen in dem Theo­riesystem einzubehalten. Es müssen also andere Sätze an ihrer Stelle aufgegeben werden, bis hin zu dem Schritt, die Ableitungsbeziehungen selbst – also die Logik – zu revidieren : Ist ein auftretender Protokollsatz nicht vereinbar mit den übrigen Sätzen des Protokolls oder mit anderen konkreten Sätzen, die schon als anerkannt gelten, so haben wir die Wahl, entweder diesen Protokollsatz oder die betreffende Gruppe anderer konkreter Sätze oder die Gruppe der Gesetze, mit deren Hilfe diese Sätze abgeleitet sind, zu modifizieren (Carnap 1932b, 226).

Angesichts dieser Flexibilität kann jedoch nicht mehr die Rede davon sein, dass hier eine Hypothese getestet wird. Es ist nicht mehr klar, welcher Teil der Theo­rie durch eine Erfahrung bestätigt oder widerlegt wird. Da offen ist, wo genau der Fehler liegt, kann die Empirie nicht korrigierend auf die Theo­rie einwirken.73 Von der im Quine 1951 zieht aus diesem Einwand den Schluss, dass Sprache und Erfahrung nicht so getrennt werden können wie es der Logische Empirismus will. 73

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Manifest verkündeten Absicht, eine Philosophie zu entwickeln, die keine »dunkle Fernen und unergründliche Tiefen« (Neurath 1981, 305) kennt, haben wir uns weit entfernt. In der Konsequenz erweist sich ein formalisiertes Theo­riesystem weder als voll autonom noch als empirisch korrigierbar. Die starke These einer formalen Autonomie des Denkens, die in aller Strenge und Exaktheit sich selbst korrigieren kann und trotzdem empirisch sensibel bleibt, wird durch einen Instrumentalismus unterlaufen, in dem die Theo­riewahl und selbst die rationalen Rechtfertigungsketten innerhalb eines Theo­rierahmens abhängen von einem nicht zu tilgenden praktischen Moment. Für die Beurteilung und Beschreibung dieser praktischen Einbettung bietet der Logische Empirismus aber nicht den adäquaten philosophischen Rahmen. Er räumt der Praxis und ihrer Pluralität von Erfahrungen keine rationale Rolle in der wissenschaftlichen Vernunft ein und muss diese praktische Dimension daher als bloße Konvention und Dezision beschreiben.

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Kritik der formalistischen Erfahrung Was ist Formalismuskritik ? § 46  Es ist deutlich geworden, dass der Wiener Kreis eine instabile und dem eigenen kritischen Verständnis nicht dienliche Konzeption der wissenschaftlichen Vernunft vertritt. Ihr formalistischer Grundansatz erwies sich als systematisch blind. Ein besonders markantes Beispiel für diese Blindheit ist die durchgängige Verkürzung des Bildes der Wissenschaft, für das der Wiener Kreis (mit der Ausnahme von Neurath) einstand. Für den Logischen Empirismus war Wissenschaft im Grunde nichts als Theo­rie, und er hielt die wissenschaftliche Erkenntnis für reduzierbar auf die logische Opera­tion des Schließens. Im Zuge der post-positivistischen Wende der Wissenschaftstheo­rie in den 1960er Jahren rückte dagegen die wissenschaftliche Praxis in ihrer ganzen Komplexität in den Vordergrund. Autoren wie Kuhn (1973), Hacking (1983) und Latour (2000) beschreiben die Wissenschaft als einen diskursiven und praktischen Raum, in dem Instrumente, Experimente und sozialer Wettbewerb maßgeblich zum wissenschaftlichen Ergebnis beitragen. Andere Autoren durchleuchteten die machtpolitischen Verflechtungen des Wissens mit der Gesellschaft (Foucault 1969 ; Keller und Longino 1996). Durch diese Forschung wurde überhaupt erst sichtbar, was der Wiener Kreis alles nicht thematisierte. Die Rede von einer »Blindheit« ist keine Floskel. Der Formalismus nimmt sich tatsächlich die Möglichkeit, diese Faktoren überhaupt nur sinnvoll zu diskutieren, da die von ihm rekonstruierte formale Vernunft solche Prozesse und Praktiken nicht in den Blick bekommt. Die formale Rekonstruktion der wissenschaftlichen Vernunft kann diese Faktoren nicht abbilden ; sie finden keinen Platz in seinem theoretizistischen System und können daher nicht auf ihre rationale Rolle hin befragt werden. Der Wiener Kreis kannte nur Sätze und ihre Verhältnisse zueinander. Ob ein Beobachtungssatz aber nun das Resultat langjähriger experimenteller Bemühungen ist   |  99

oder ein Zufallsfund, ob er nur mit großem apparativem Aufwand oder durch das ›ungeschützte‹ Auge gewonnen werden kann – all diese Unterschiede, die für die Praxis der Forschung und Anwendung ganz entscheidend sind, spielen für den Logischen Empirismus schlicht keine Rolle (vgl. Putnam 1995, 96).74 In diesem Kontrast zwischen der post-positivistischen Sicht auf die Wissenschaften und ihrer Wiener Verkürzung wird plastisch ein Pro­blem greifbar, das auch die theoretischen Diskussionen im Anschluss an den Wiener Kreis bestimmt. Die Schwierigkeit des Formalismus des Wiener Kreises ist die mangelnde Responsivität der von ihr rekonstruierten Vernunft für ihre eigene Praxis. Sie kann in ihrer Konzeption die Vielfalt vernünftiger Praxis und ihrer Erfahrungen, mithin also ihre eigene Vielfalt, nicht einfangen. Dadurch wird die formalistische Ratio­nali­tät in doppelter Hinsicht leer. Sie kann erstens in all jenen Bereichen der menschlichen Praxis, in denen die wissenschaftliche Theo­riebildung nicht das Maß des Denkens ist, schlicht nicht mitreden. Das ist der Vorwurf, den Dewey (LW 4, 54 – 56) gegenüber dem Wiener Kreis erhebt : Dieser reduziere die Philosophie und ihre Funktion (office) so drastisch, dass gar nicht mehr darüber reflektiert werden kann, wie »unser zuverlässigstes Wissen« – womit Dewey das Wissen der Wissenschaften meint – uns dazu verhelfen mag, ein besseres Leben zu führen. Die Form des Wissens, wie sie der Wiener Kreis versteht, verliert den Bezug zu den Formen des Wissens, die außerhalb der strengen Logik deduktiver Systeme von Bedeutung sind.75 Aber auch unter einer weitgehenden Beibehaltung des szientistischen Maßstabs des Wiener Kreises weist die formalistische Ratio­ nali­tät künstliche Grenzen auf. In diese zweite Stoßrichtung gehen die Kritiken der postanalytischen Autoren wie Quine, Sellars oder Davidson. Für sie ist das Pro­blem die Inkonsequenz, mit der die Vgl. dazu auch Putnams ausführlichere Kritik der positivistischen Vorstellung, es ließe sich philosophisch etwas über unsere Beziehung zur Wirklichkeit sagen, ohne dabei auf das Kausalprinzip zurückzugreifen (Putnam 1999, 137–150). 75 Dieser Vorwurf ist nur dann richtig, wenn er ein konzeptionelles Defizit beschreibt. Deweys Diagnose muss so verstanden werden, dass die formale Vernunft aufgrund ihrer Reduktionen und Dualismen ihr aufklärerisches Selbstverständnis nicht erfüllen kann. 74

100  |  Kritik der formalistischen Erfahrung 

»Wissenschaftliche Vernunft« im Wiener Kreis verteidigt wird. Sie stören sich an den residualen dogmatischen Elementen in dieser Theo­rie : Angetreten, um in den Wissenschaften nur noch die Erfahrung selbst sprechen und wirken zu lassen, greift der Logische Empirismus dann doch auf das Postulat zurück, dass analytische Sätze und logische Beziehungen aufgrund ihrer ausschließlich formalen Natur von jeder empirischen Irritierbarkeit befreit sind. Hier zeigt sich der Wiener Kreis, wie es Rorty spöttisch formuliert, als ein »desperate attempt to keep philosophy an armchair discipline« (Rorty 1991, 50). Der Grund für die mangelnde Responsivität der Wiener Rekon­ struktion der Vernunft ist schnell benannt : Es ist das formale Verständnis der rationalen Autonomie und die damit verbundene Konzeption der Erfahrung. Im Namen der Kritik unterzieht der Wiener Kreis das Denken einer Teilung in zwei letztlich nicht mehr aufeinander beziehbare Pole. Der Formalismus verortet die kritische Reflexion auf einer rein selbstbezüglichen Ebene, von der aus erst die empirische Wirklichkeit zugänglich wird. Wir haben diese Operation bei Carnap in aller Deutlichkeit nachzeichnen können. Die rationale Form soll der Idee nach ohne jegliche inhalt­ liche Bestimmtheit verständlich sein, als ein rein formales (Carnap : »syntaktisches«) Geflecht logischer Beziehungen. Zugleich sollen diese inferentiellen Beziehungen aber den Rahmen bilden, in dem jede inhaltliche Bestimmung überhaupt nur stattzufinden vermag. Der Formalismus operiert also, indem er eine Grenze zieht – zwischen dem, was ›formal‹ ist und bleiben kann, und dem, was ›inhaltlich‹ wechselt. Der Vollzug des Denkens, der auf der Seite der Form liegen soll, wird damit von jeder Wirklichkeitsbindung befreit. Die Blindheit des Wiener Kreises hat somit systematische Gründe, und diese schlagen zurück auf das zentrale Motiv zur Rechtfertigung der »Wissenschaftlichen Weltauffassung«. Die Vernunft sollte formalisiert werden, um so radikal und konsequent wie möglich den modernen Anspruch empirisch-wissenschaftlicher Kritik einzulösen. Doch dies erfordert eine andere, eine durchlässigere Konzeption der rationalen Selbstkorrektur. In Anbetracht des übergreifenden Ziels einer Artikulation der Kritik verfehlt die strenge Einhegung der Vernunft, wie sie der Wiener Kreis repräsentiert, ihr Was ist Formalismuskritik ?  |  101

Ziel. Damit »Wissenschaft überhaupt möglich sein soll«, so formuliert es Albrecht Koschorke mit Blick auf die moderne Kulturgeschichte der Epistemologie, muss die »Grenze zwischen Geist und Welt … als durchlässig gedacht werden« (Koschorke 2013, 338). Somit muss gerade im Namen der Wahrung der modernen Auffassung von Wissenschaftlichkeit die rein formale Konzeption der Autonomie, die nur auf den Selbstbezug setzt, überwunden werden. § 47  Angesichts dieser Diagnose kann die einzig richtige philosophische Reaktion nur lauten : Diese Grenzziehungen müssen aufgehoben, das formale Denken des Denkens muss entformalisiert werden. Diesem Übergang vom Formalismus des Wiener Kreises hin zum »postformalistischen Denken« wenden wir uns nun in seiner historischen wie systematischen Dimension zu, wobei wir zunächst in der analytischen Traditionslinie verbleiben. Welche Konsequenzen sind aus dem Scheitern des Formalismus zu ziehen ? Auch wenn sich, wie Morton White in den 1950er Jahren feststellt, eine »Revolte gegen den Formalismus« herausbildete, kann diese ganz unterschiedliche Formen annehmen.76 Die Urteile und Diagnosen zu dem, was jeweils kritisch als ›Formalismus‹ gilt, weichen im Detail und in der Durchführung der jeweiligen Autoren stark voneinander ab. Eben das ist der historische Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung : Obgleich sowohl der klassische Pragmatismus als auch die postanalytische Philosophie als »pragmatistische« Philosophien im weitesten Sinne gelten können, die darauf beharren, dass Theo­rie und Verstehen konstitutiv in die intersubjektive Praxis eingebettet sind, und obwohl sich diese Positionen darin mit so unterschied­ lichen Autoren treffen wie Heidegger und (dem späten) Wittgenstein – jenseits der gemeinsamen Skepsis gegenüber dem Formalismus und seiner Trennung von Vernunft und Welt hören die Gemeinsamkeiten schnell wieder auf.77 Als »Revolte gegen den Formalismus« bezeichnet Morton White (1973) Deweys Philosophie ; in White 1950 vergleicht er Dewey und Quine als gleichgesinnte Kritiker der formalistischen Trennung von analytischen und synthetischen Sätzen. 77 Bernstein 2010 betont die Gemeinsamkeiten, im Bestreben, eine umfassende »pragmatistische« Wende im 20. Jahrhundert zu identifizieren. Ähnlich freizügig geht Brandom 2011 mit dem Etikett »Pragmatismus« um. 76

102  |  Kritik der formalistischen Erfahrung 

Es hat keinen Sinn, an dieser Stelle nun direkt zu einer Unter­ suchung der vielfältigen Kritiken am Formalismus überzugehen, um vielleicht doch ein potenzielles gemeinsames Muster »der« Formalismuskritik zu identifizieren. Zum einen ist es immer schon Stipulation, dass eine bestimmte Theo­rie auch wirklich in dieses Lager gehört. Jede konkrete Zuordnung wird zusätzlich erschwert durch den Umstand, dass Autoren wie Quine, Davidson, Rorty, Brandom und McDowell sich auch oft genug gegenseitig vorwerfen, jeweils die Pointe einer effektiven Kritik des Empirismus zu verfehlen und weiterhin in residualen »Dogmen« oder »Mythen« zu verbleiben. Und auch wenn all diese Autoren zu Recht unter dem Etikett des »Postformalismus« (Bertram et al. 2008) vereint wurden, weichen zweitens ihre jeweilige Pro­blemwahrnehmung und die entsprechenden Positionen doch stark voneinander ab. Eine Sammel­bezeichnung für eine solche Vielzahl von Autoren – zu denen in der hier eingenommenen Perspektive auch noch unbedingt der Pragmatismus zu zählen wäre – ist daher immer nur vor dem Hintergrund einer letztlich selbst auch systematisch ausgreifenden Bestimmung des Formalismus und seiner Pro­blematik sinnvoll. Es bedarf einer methodischen Vorverständigung, bevor wir zu ausgewählten Kritikern des Formalismus Stellung nehmen können. Wir brauchen einen systematischen Leitfaden, um die verschiedenen Positionen zu beurteilen und in der Diskussion über sie hinausgehen zu können. § 48  Einen solchen Leitfaden gibt uns die bereits mehrfach verwendete Metaphorik der Grenzziehung an die Hand. Ihr zufolge ist das Pro­blem des Formalismus, dass eine zunächst nur trennende begriffliche Unterscheidung zu einer Grenze wird, die die unterschiedenen Seiten voneinander isoliert. Unterscheidungen etwa von Form und Inhalt, von Theo­rie und Praxis oder von Natur und Kultur werden so zu Dichotomien. In dieser Perspektive ist die Kritik am Formalismus vor allem eine Kritik dieser Grenzziehung, die er vornimmt. Dabei ist eine Grenze an sich freilich nicht das Pro­blem ; jede Bestimmung bedeutet zwangsläufig auch eine Grenzziehung, so wie auch jeder Gegenstand nur im Unterschied zu anderen Gegenständen existieren kann. Pro­blematisch wird die Grenze, wenn sie dazu führt, dass die beiden getrennten Seiten nicht mehr mit­ein­ Was ist Formalismuskritik ?  |  103

ander in Kontakt kommen können. Sie wird pro­blematisch, wenn sie zu einem Dualismus verhärtet.78 Ein Dualismus ist, wie Robert Brandom definiert, eine Unterscheidung (distinction), die auf eine solche Weise gezogen wird, dass sie die Beziehung zwischen den so getrennten Seiten nicht mehr verständlich machen kann.79 Brandoms Definition hilft, ungleiche Weisen der Formalismuskritik zu unterscheiden. Sie zeigt, dass der Dualismusvorwurf immer nur vor dem Hintergrund eines vorausgesetzten Maßes der Verständlichkeit greift. Die neuzeitliche Trennung zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt, um ein Beispiel aufzugreifen, wird dualistisch, wenn sie zum Skeptizismus führt – wenn also die Außenwelt (als eine Seite dieser Trennung) für das Subjekt (die andere Seite) nicht mehr verständlich ist. Das Verständlichkeitsmaß ist hier das Wissen ; der Skeptizismus ist epistemisch. Das Pro­blem ist demnach, dass auf die Außenwelt bezogene Wissensansprüche nicht mehr begründet und nur noch geglaubt werden können.80 Brandoms Definition lässt aber auch eine andere Ausdeutung des Dualismus zu. Wir können auf diese Definition gleichsam von der anderen Seite her zugehen und uns fragen, woher das Maß kommt, an dem die Beziehung der beiden Seiten des Dualismus gemessen wird. Dann wäre der Dualismus nicht einfach gegeben, sondern die Folge der Art und Weise, wie diese Beziehung kategorial modelliert wird.81 Der Skeptizismus, um das Beispiel wieder aufzugreifen, würde in dieser alternativen Perspektive darauf hinweisen, dass In der hier vorgeschlagenen Pro­blematisierung dualistischer Unterscheidungen geht es nur darum, wie Grenzen wieder »durchlässig« werden können. Die vor allem aus der Systemtheo­rie bekannten Überlegungen, dass solche Unterscheidungen auch asymmetrisch markiert sein können und dadurch dogmatisch werden, ist hier noch nicht berührt. Zu einer solchen Pro­blematisierung der Unterscheidung von Natur und Kultur vgl. Koschorke 2013, 352–356. 79 »A dualism is a distinction drawn in such a way as to make unintelligible the relation between the two sorts of thing one has distinguished« (Brandom 2000, 167). 80 Das klassisch analytische Verständnis des Skeptizismus findet sich bei Grundmann (2008, 339–452) formuliert. 81 Den Blick für und die richtige Formulierung dieser Unterscheidung verdanke ich vor allem Jan Müllers vergleichbaren Bemühungen, McDowells Thesen richtig einzuordnen (vgl. Müller 2016). 78

104  |  Kritik der formalistischen Erfahrung 

e­ twas mit dem vorausgesetzten Verständlichkeitsmaß nicht stimmt, also mit dem Begriff des Wissens. Stanley Cavell bietet eine solche Interpretation des Skeptizismus an. Er begreift diesen als einen Hinweis darauf, dass unsere Beziehung zur Welt, wie er es formuliert, nicht ausschließlich epistemisch sei : »Our relation to the world as a whole, or to others in general, is not one of knowing, where knowing construes itself as being certain« (Cavell 1979, 45). Die traditionelle Epistemologie modelliere jedoch das Weltverhältnis grundsätzlich in epistemischen Begriffen des Wissens und der Gewissheit, weshalb es ihr nicht möglich ist, dem Skeptizismus zu entgehen. Der Skeptizismus drückt in Cavells Sicht daher kein logisches Pro­blem aus, sondern zeigt die Grenzen einer rein epistemischen Modellierung unserer Beziehung zur Welt auf. Cavells Philosophie besteht dementsprechend darin, diese nicht-epistemischen Formen des Weltbezugs, und hier vor allem die Anerkennung, zu erkunden. § 49  Cavells Diagnose geht grundsätzlich in die Richtung, die auch diese Arbeit einschlägt. Der Dualismus zwischen Erfahrung und Vernunft entsteht, weil die erfahrende Beziehung zur Welt ausschließlich in epistemischen Begriffen – in theoretischen Begriffen des »knowing« – diskutiert wird. Doch dieser Schluss wird hier unabhängig von Cavells Philosophie gewonnen. Auf den folgenden Seiten wende ich die hier gewonnene Unterscheidung zweier Formen der Dualismuskritik an, um mit ihrer Hilfe die postanalytische Diskussion des pro­blematischen Erbes des Wiener Kreises nachzuzeichnen. Dabei werde ich mich auf Davidson und M ­ cDowell beziehen, die zwei unterschiedliche Weisen vertreten, mit dem Pro­blem der Erfahrung umzugehen. Ihre Positionen spiegeln repräsentativ die postanalytischen Schwierigkeiten, mit dem empiristischen Teil des Logischen Empirismus umzugehen, und sie präzisieren zugleich die hier angedeutete methodische Wendung. Beide Autoren folgen dem Wiener Ideal der universalen Hinterfragbarkeit und versuchen, im Namen dieses Ideals die Defizite des Logischen Empirismus zu korrigieren. Im Mittelpunkt dieser Korrektur steht der Erfahrungsbezug : Davidson kommt zu dem Schluss, dass der Begriff der Erfahrung die empiristische Rolle als weltbindende Evidenz nicht erfüllen kann – und McDowell argumentiert gegen Davidson, dass Was ist Formalismuskritik ?  |  105

der Erfahrungsbegriff durchaus so verstanden werden muss, wenn das Ideal der rationalen Autonomie sinnvoll artikuliert werden soll. Doch eine im Unterschied zum klassischen Empirismus angemessene Konzeption der Erfahrung erfordert in McDowells Augen auch eine deutliche Kritik der formalistischen Trennung von Vernunft und Welt. Der Unterschied zwischen diesen beiden Auffassungen lässt sich auch so formulieren : In Davidsons Deutung ist der Dualismus zwischen Vernunft und Welt Ausdruck einer schlechten Theo­rie, für McDowell ist er Symptom einer schlechten Begrifflichkeit. Natürlich benutzen auch schlechte Theo­rien schlechte Begriffe. Aber solange nur eine Theo­rie durch eine andere ersetzt wird, bleibt der kategoriale Rahmen unberührt, in dem diese Korrekturen durchgeführt werden. Deutlicher wird der Unterschied dieser Diagnosen vor allem in ihren Konsequenzen. Während mit Davidson das Ziel darin bestehen muss, die dualistisch isolierten Grenzen wieder füreinander durchlässig werden zu lassen, erfordert die von McDowell repräsentierte Kritik eine selbstkritische Reflexion darüber, was wir eigentlich von der Theo­rie und der theoretischen Beschreibung erwar­ ten. Während im ersten Fall die Kritik also darin besteht, innerhalb einer bestehenden Perspektive eine bessere Antwort zu finden, verlangt die zweite Diagnose eine grundsätzliche Verschiebung dieser Perspektive. Hintergrund dieser im Folgenden rekonstruierten Debatte ist die anhaltende postanalytische Pro­blematisierung des logisch-empiris­ tischen Anspruchs, in der Erfahrung selbst über eine letzte und ulti­mative Evidenz zur Begründung von Wissensansprüchen zu verfügen. Der Wiener Kreis wurde nach dem zweiten Weltkrieg zunehmend als ein dogmatischer foundationalism wahrgenommen, der in der Erfahrung ein unmittelbar Gegebenes sucht, das unabhängig von aller theoretischen und diskursiven Einbettung über mögliche Wissensansprüche entscheidet.82 Diesen »Mythos des Gegebenen« diagnostiziert Sellars (1963) bei Carnap, und diese Diagnose trifft mit der Erfahrung den auch hier pro­blematisierten Berührungspunkt, der im Formalismus Vernunft und Welt zusammenschließt. Wir haben im letzten Kapitel gesehen, wie undifferenziert und einseitig die spätere Wahrnehmung war, dass der Wiener Kreis nichts als ein empiristischer Dogmatismus ist. 82

106  |  Kritik der formalistischen Erfahrung 

Das Pro­blem des formalistischen Erfahrungsbegriffes besteht nach der im vorigen Kapitel vorgenommenen Rekonstruktion darin, dass diese Kontaktfunktion im Empirismus auf zwei widersprechenden Weisen konzipiert wird. Zum einen soll die Erfahrung völlig unabhängig von der wissenschaftlichen Vernunft sein, als »Prüfstein« oder objektives Maß. Ob Protokollsätze, Sinnesdaten oder Lockes simple ideas : die gegebene Erfahrung steht für eine objektive Unmittelbarkeit, in der die Welt selbst sich bemerkbar macht, unabhängig von der Art und Weise, wie wir sie auffassen. Zugleich jedoch soll diese Erfahrung zweitens in ihrer Funktion als direkter Kontakt zur Wirklichkeit das Denken rational lenken und korrigieren können. Während die Erfahrung somit einerseits objektiv von der Vernunft getrennt ist, kann sie ihre kritische Rolle nur als ein integrierter Teil der Vernunft einnehmen. Um zur (objektivierenden) Revision bestehender Annahmen oder Thesen zu zwingen, muss ihr eine logische Funktion als Grund oder Prämisse zugewiesen werden. In dieser Funktion untersteht sie zugleich auch der Revidierbarkeit und Korrektur, die alle Urteile umfasst, und muss etwa als Täuschung oder Illusion kritisierbar sein – womit sie aber wiederum ihre Rolle als stabiles objektives Korrektiv nicht mehr erfüllen kann. § 50  Mit dieser Diagnose, dass die empiristische Konzeption zwei widersprüchliche Forderungen an den Erfahrungsbezug stellt, können wir die in diesem Kapitel entwickelten Positionen von Davidson und McDowell genauer vorzeichnen. Die empiristische Überforderung des Erfahrungsbegriffs ist der geteilte Ausgangspunkt der beiden hier zu diskutierenden Autoren. Doch beide setzen jeweils, wie ich zeigen werde, in ihrer Kritik an dieser Doppelforderung den Schwerpunkt an entgegengesetzter Stelle. Davidson zieht die Konsequenz, den epistemischen Begriff der Erfahrung fallen zu lassen. Er streicht also die zweite Forderung an den Erfahrungsbegriff, das empiristische Ideal einer Begründung durch die Erfahrung. Erfahrung könne, so Davidson, als eine rein kausale Bindung zur Welt verstanden werden, die von der rationa­ len Rechtfertigung zu unterscheiden ist. Nicht mehr epistemische Erfahrungen, sondern die intersubjektiv situierte Kommunika­tions­ praxis dient dann dazu, einen Zusammenhang zwischen logi­scher Was ist Formalismuskritik ?  |  107

Evidenz und kausaler Ursache herzustellen. Idealtypisch verständigen sich zwei Sprecherinnen über einen präsenten Gegenstand, der kausal auf ihre Sinne einwirkt. Dank eines »konstitutiven Ideals« der Ratio­nali­tät, das methodisch voraussetzt, dass die meisten Behauptungen der Gegenübers wahr sein müssen, wird auf diese Weise – so Davidsons Idee – in der Praxis eine Übereinstimmung im Weltbezug hergestellt. Und das ohne Rückgriff auf den Erfahrungsbegriff in seiner epistemischen Funktion. Mit Davidson kommt das formalistische Grundverständnis der Kritik zu seiner paradoxen Vollendung, da einer seiner Grundbegriffe – der Begriff der Erfahrung als Zulieferin von »Inhalt« – nun vollständig aus der Diskussion verbannt wird. Eben an dieser Konsequenz setzt McDowells Kritik an. Für McDowell wird Davidson zur Zurückweisung des epistemischen Erfahrungsbegriffs gezwungen, weil er den formalistischen Rahmen nur halbherzig zu überwinden versucht. McDowell argumentiert, dass die Kritik am Mythos des Gegebenen konsequenter gelesen zu einem Kollaps der formalistischen Grundidee führen muss. McDowell bewahrt somit die Doppelforderung an die Erfahrung, glaubt aber, dass sie in einen anderen kategorialen Rahmen gestellt werden muss, um verständlich zu werden. McDowell zieht also den begrifflichen Hintergrund, den Davidson noch akzeptiert, selbst in Zweifel. Nicht der Erfahrungsbegriff, sondern seine konzeptionelle Rahmung ist für ihn das Pro­blem. Entsprechend fordert McDowell dazu auf, diese konzeptionellen Bedingungen zu identifizieren. Sie erst drängen den Erfahrungsbegriff in seine reduzierte Rolle – allen voran der Begriff der Natur und die Trennung der menschlichen Vernunft von dieser Natur. Die Ausweitung der Formalismuskritik auf diese Rahmung eröffnet die Möglichkeit, in Reaktion auf den Formalismus die Erfahrung an­ ders zu bestimmen, anstatt ihre epistemische Bedeutung zu leugnen. Mit dieser Ausweitung nimmt McDowell in Anspruch, Davidsons Kritik der Erfahrung in ihrem eigentlichen Kern zu fassen. Davidson nimmt in McDowells Perspektive selbst eine inkonsistente, gewissermaßen gegen die eigenen Einsichten arbeitende Position ein. Und diese Inkonsistenz zeigt sich, so McDowells These, gerade am Begriff der Erfahrung in aller Deutlichkeit : Solange die Erfahrung in ihrer kritischen Funktion selbst nicht rational sein kann, 108  |  Kritik der formalistischen Erfahrung 

sondern immer noch erst zusätzlich rationalisiert werden muss – indem sie interpretiert, in Sätze übersetzt oder auf Begriffe gebracht werden muss –, bleiben sich Vernunft und Welt prinzipiell fremd. Erfahrung darf nicht neu­tral verstanden werden, als ein objektiver Grund, der dem Denken nur Material liefert, aber keine Richtung gibt. Erfahrung muss, mit anderen Worten, einen unmittelbaren Einfluss auf das Denken ausüben können, einen rationalen – und nicht nur kausalen – Einfluss. Was einem solchen Verständnis im Wege steht, ist – so McDowells Annahme – nicht der Begriff der Erfahrung selbst, sondern die übergreifende Rahmenkonzeption von Welt, Erfahrung und Vernunft. Für McDowell ist es möglich und nötig, Erfahrung so zu denken, dass sie nicht erst durch eine Übersetzung in den ›logischen Raum der Gründe‹ rational wirksam wird. In diesem Kapitel geht es um diesen Wechsel der Perspektive, den wir mit Davidson und McDowell nachvollziehen werden. Damit gehen wir von der Kritik am Dualismus als Dualismus (Davidson) über zu der ausgreifenderen Frage danach, ob nicht das von der ersten Kritik noch vorausgesetzte Maß der Verständlichkeit das eigentliche Pro­blem ist (McDowell). Die dadurch aufgeworfene Frage, wie das Verhältnis von Vernunft und Erfahrung dann anders bestimmt werden sollte, wird uns in den nachfolgenden Kapiteln beschäftigen. Auch wenn in der Diskussion von McDowells eigener Position (im nächsten Kapitel) dann die Grenzen seines Ansatzes aufgezeigt werden, bleibt seine Formalismuskritik für die weiteren Ausführungen verbindlich. Sie zeigt, wie die formalistische Konzeption der Vernunft gerade durch die Pro­blematisierung des Erfahrungsbezugs über ihre eigenen Grenzen gedrängt wird. Konkret mit den hier diskutierten Autoren formuliert : Gerade in Anerken­ nung von Davidsons Kritik am Erfahrungsbegriff ist es nötig, das übergreifende Bild der Vernunft neu zu bestimmen, das bei Davidson zur Zurückweisung der Erfahrung führt. McDowells wichtige Leistung innerhalb der postanalytischen Debatte ist sein Nachweis, dass wir einen anderen Blickwinkel auf das Pro­blem der Erfahrung einnehmen müssen.

Was ist Formalismuskritik ?  |  109

Davidsons Kritik der formalistischen Erfahrung § 51  Davidsons Philosophie ist eine Kritik am Formalismus, die zwar deutlich die Grenzen des vom Wiener Kreis gesetzten formalistischen Rahmens aufweist, diesen am Ende aber dann doch nicht zu überschreiten vermag.83 Davidson geht einen großen Schritt in Richtung Postformalismus : Seine Philosophie setzt diagnostisch bei dem Nachweis eines dualistischen Verständnisses von Theo­rie und Erfahrung an und führt dagegen die unauflösliche Einbettung der Sprache in intersubjektive und situative Kontexte ein. Sie rückt den Begriff des Verstehens wieder in das Zentrum und stellt damit die rein epistemische Frage nach dem richtigen Wissen in den Hintergrund. Ähnlichkeiten zu hermeneutischen und, was hier relevanter ist, pragmatistischen Positionen sind somit nicht von der Hand zu weisen.84 Doch Davidson bleibt, wie ich zeigen möchte, in einer wichtigen Hinsicht weiterhin den formalistischen Grundprämissen verbunden. Er rekonstruiert das begriffliche Verstehen weiterhin als eine im Prinzip freie und ungebundene Interpretation von Äußerungen, deren Weltbezug erst durch methodische Überlegungen (das prin­ ciple of charity), einen intersubjektiven Abgleich (Triangulation) und durch kausale Beziehungen (Externalismus) abgesichert ist. Dadurch setzt er das formale Autonomieverständnis des Wiener Kreises fort und verschiebt nur dessen Dualismus, anstatt ihn aufzulösen. Auf diese Aspekte von Davidsons eigener Theo­rie und auf die mit ihnen verbundenen Schwierigkeiten werde ich aber erst im folgenden Abschnitt näher eingehen. Denn sie gewinnen ihre Relevanz erst vor dem Hintergrund, dass sie die Folge einer expliziten und oft wiederholten Kritik der Erfahrung sind, die ich in diesem Abschnitt rekonstruieren werde. Bei aller Nähe zu pragmatistischen und hermeneutischen Positionen ist hier nämlich ein entscheidender Unterschied festzustellen : Davidson sieht keinen Gewinn in Für die Rekonstruktion von Davidsons Position orientiere ich mich vor allem an dem Kapitel zu Davidson in Bertram et al. 2008 sowie auf die immer noch vorbildlich präzise Darstellung in Blume/Demmerling 1998. 84 Bertram 2011 spricht bei Davidson von einer »hermeneutischen Wende« der analytischen Sprachtheo­rie. 83

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einer positiven philosophischen Bestimmung der Erfahrung und schlägt vor, auf diesen Begriff ganz zu verzichten. Diese Position wurde zu einem der wichtigsten Einflüsse für die sprachphilosophische Aneignung des Pragmatismus durch Rorty und Brandom, die im Wesentlichen eine Wiederaufnahme pragmatistischen Denkens ohne den starken Erfahrungsbegriff der Klassiker ist.85 Diese Rezeption greift Davidsons These auf, dass die Pro­bleme, die der Erfahrungsbegriff traditionell aufwirft, umgangen werden können. So argumentiert Davidson, dass die traditionell mit der Erfahrung verbundene Suche nach einem objektiven Grund der Erkenntnis besser anders formuliert und diskutiert werden kann, nämlich in Form einer kausal in die Welt eingebetteten diskursivsozialen Interaktion. Die mit dem Erfahrungsbegriff verbundenen Inkonsistenzen – allen voran die Spannung zwischen sprachlicher Ausdrucksform und nicht-sprachlicher Erfahrung – sind dagegen mit ihm aufzugeben. Um diese umfassende Ablehnung des Erfahrungsbegriff einordnen zu können, muss deutlich werden, welche Argumente Davidson ins Feld führt. § 52  Unsere Rekonstruktion von Davidsons Kritik der Erfahrung beginnt zunächst mit der Feststellung, dass hier durchaus auch in einem engeren Sinne eine Alternative innerhalb der postanalytischen Tradition artikuliert wird. Denn auch Davidson reagiert auf die Schwierigkeiten des Erfahrungsbegriffs des Wiener Kreises. Seine Kritik fokussiert auf die im Formalismus behauptete Abhängigkeit des Denkens von der Wirklichkeit, eine Abhängigkeit, für die in der empiristischen Tradition und im Wiener Kreis eben auf den Begriff der Erfahrung zurückgegriffen wird (vgl. Davidson 2009b). Davidson stellt diese Grundausrichtung des Wiener Empirismus nicht in Frage. Auch für ihn ist es wichtig, die empirische Abhängigkeit des Denkens von der Wirklichkeit in der philosophischen Theo­rie einzufangen. Davidson zweifelt jedoch an der Möglichkeit, sie mit dem Erfahrungsbegriff zu beschreiben. Daher soll an seiner Stelle auf eine natürliche Kausalität zurückgegriffen werden, die er realistisch begreift : Vgl. zu dieser Unterscheidung zwischen klassischem und analytischem Pragmatismus David Hildebrand 2003. 85

Davidsons Kritik  |  111

I suggest we give up the idea that meaning or knowledge is grounded on something that counts as an ultimative source of evidence. No doubt meaning and knowledge depend on experience, and experience ultimately on sensation. But this is the ›depend‹ of causality, not of evidence or justification (Davidson 2009a, 146).

Davidsons Zugriff auf den Erfahrungsbegriff steht deutlich unter dem Eindruck der Kritik am »Mythos des Gegebenen«. Die Idee eines unbegrifflich »Gegebenen«, etwa in Form eines Sinnesdatums, an dem sich unser begriffliches Wissen objektiv prüfen lasse, ist als inkonsistent zurückzuweisen.86 Doch sein Ansatz geht über diese Kritik noch hinaus. In ihrer kanonischen Form ist die Kritik am Mythos des Gegebenen eine Kritik an der formalistischen Hierar­ chisierung der Erkenntnis : Die These des Gegebenen ist gleichbedeutend mit der Behauptung, dass die Erfahrung ein besonderes Wissen zur Verfügung stellt, auf das alle anderen Wissensformen systematisch zurückgeführt werden müssen, wenn sie denn Gültigkeit beanspruchen sollen. Der »Mythos des Gegebenen« beinhaltet somit vor allem die Behauptung eines ausgezeichneten Grundes, auf dem sich erst echtes Wissen aufbauen lässt – die Suche nach einer arché jenseits der sprachlichen Diskursivität, wie es Sellars (1963, 194) umschreibt.87 Davidsons Diskussion des Erfahrungsbegriffs setzt diese Kritik am foundationalism des Empirismus voraus und weitet sie aus. Er hält selbst noch die Unterscheidung eines begrifflichen und eines nichtbegrifflichen Anteils innerhalb des Wissens für dualistisch und letztlich untragbar. Davidson bezeichnet diese Unterscheidung als den »Dualismus von Schema und Gehalt«. Eine solche Konzeption muss nicht zwingend empiristisch sein. Auch setzt sie nicht den radikalen Formalismus Carnaps voraus, der es für möglich hält, sprachliche Gehalte rein formal zu definieren, also in völliger Iso Die Klassiker dieser Kritik sind Sellars 1963, Austin 1962 und natürlich auch Quine 1951. 87 Vgl. dazu auch die Definition des Gegebenen von William de Vries : »The concept of the given is meant to capture the idea that there is some level at which knowledge is a matter of direct, immediate encounter with its object and de­ pends on nothing other than that encounter« (de Vries 2005, 98, Hervorhebung von mir). Die formalistische Grundidee ist in dieser Formulierung deutlich greifbar : Es gibt direktes und indirektes Wissen, objektabhängige und formal freie Sätze. 86

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lation von jeder Praxis und der Erfahrung. So findet Davidson die Aufteilung des Wissens in empirische und nicht-empirische Anteile auch in Kants Diktum, dass Gedanken ohne Inhalte leer und Begriffe ohne Anschauungen blind seien.88 In seinen Schriften nennt Davidson jedoch meistens nicht Kant, sondern Quine als Repräsentanten der Unterscheidung zwischen begrifflichem »Schema« und nichtbegrifflichem »Gehalt«. Auf diese Weise führt Davidson Quines Programm der Korrektur des Logischen Empirismus fort, indem er nun auch dessen – von Davidson geteilte – Kritik des Analytischen auf einen verdeckten Formalismus hin befragt. Davidsons Kritik der Erfahrung ist somit mehr als eine Kritik des Empirismus ; sie pro­blematisiert die Annahme, dass der Erfahrungsbegriff überhaupt sinnvoll als rechtfertigende Quelle des »Gehalts« unserer Begriffe verstanden werden kann. § 53  Schon der Ausgangspunkt von Davidsons Argumentation, auf die wir nun detaillierter eingehen werden, setzt sich somit vom formalistischen Ansatz explizit ab. Während für den Wiener Kreis der Gegensatz zwischen Theo­rie und Erfahrung die erkenntnistheoretische Pro­blematik definiert, stellt Davidson sie in den Kontext einer unhintergehbaren Perspektivität alles Erkennens. Es sei zunächst eine Binsenwahrheit (»truism«), dass kein Individuum dieselbe Position in Raum und Zeit einnehme. So komme es zu unvermeidlichen Unterschieden im gemeinsamen Bezug auf die Welt : »Minds are many, nature is one« (Davidson 2009e, 39). Diese Perspektivität lädt Davidson zufolge allerdings zu einem Missverständnis ein, den er als »begrifflichen Relativismus« (conceptual relativism) bezeichnet. Der begriffliche Relativismus dramatisiert die zwangsläufige Situiertheit der Erkenntnis zu der Behauptung, dass wir die Welt ausschließlich in Perspektiven wahrnehmen, ohne darauf hoffen zu dürfen, diese jemals zu transzendieren. Dieser Relativismus steht somit für zwei Behauptungen : Alle Erkenntnis ist relativ zu einer Perspektive, und diese Perspektive lässt nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit unter vielen anderen erkennen – deshalb ist sie ja eine Perspektive. In seiner Intellectual Autobiography (Davidson 1999a, 51) stellt Davidson die Kritik am begrifflichen Relativismus als eine Kritik des kantischen Diktums vor. An derselben Stelle zeigt er sich auch von Sellars’ und Quines Kritik am Empirismus überzeugt. 88

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Davidson hält den begrifflichen Relativismus für eine inkonsistente Position, die nicht haltbar ist, und dies zeigt er mit Hilfe des Begriffspaars »Schema« und »Gehalt«. Diese Ausdrücke stehen für die zwei Pole der Erkenntnisbeziehung, die in den beiden Behauptungen des begrifflichen Relativismus angesprochen wird. Das Schema, als Perspektive, ist eine Instanz der Vermittlung des Gehalts, es ist der Anteil der Vernunft am Wissen. Das Schema »organisiert«, wie Davidson es formuliert, den ihm gegebenen Gehalt. Der Gedanke sei »that different schemes or languages constitute different ways in which what is given in experience may be organized« (Davidson 2009e, 31 ; vgl. auch Davidson 2009c, 191–193). Dieser allgemeine Gegensatz kann für Davidson auf die unterschiedlichsten Weisen philosophisch artikuliert werden : als Beispiele für Schemata nennt er Ideologien, Begriffe und wissenschaftliche Theo­rien ; als zu schematisierender Gehalt können Sinnesdaten, Empfindungen oder sinnliche Anschauungen dienen (Davidson 2009e, 41). Entscheidend ist die vermittelnde Funktion, die dem Schema zugewiesen wird. Es soll die Möglichkeit eröffnen, die Unterschiede zwischen Schematisierungen als gehaltvolle Unterschiede zu begreifen, die sich dennoch auf ein gemeinsames Element beziehen. Ein »Schema« wird also bei Davidson von Anfang dadurch defi­ niert, dass es ein Schema von etwas ist. Mit dieser postformalis­ ti­schen Definition ist die von Carnap behauptete Möglichkeit, sprach­lichen Gehalt völlig autonom zu konstituieren, bereits ausgeschlossen. Davidsons Kritik an der Unterscheidung von Schema und Gehalt ist also keine bloße Replik der Formalismus-Kritik von Quine. Schließlich wäre es eine einfache petitio, wenn die Unterscheidung von Schema und Gehalt bereits identisch wäre mit der dualistischen Trennung einer weltlosen analytischen Form von ihrem synthetisch erworbenen Inhalt. Davidson geht vielmehr bereits von der mit Quine erreichten Position aus, dass es keine analytischen Sätze gibt, die unabhängig von jeder Empirie Geltung beanspruchen können. Sein Ansatz geht weiter ; er hinterfragt diese Konzeptionalisierung. § 54  Um seine Kritik zu entwickeln, akzeptiert Davidson zunächst den Standpunkt einer Position, in der die Rede von Schema und Gehalt legitim ist. Davidson hebt hervor, dass für die Verteidiger dieser 114  |  Kritik der formalistischen Erfahrung 

Position auf den ersten Blick die Gefahr des Relativismus, und damit des Skeptizismus, gebannt zu sein scheint.89 Gehalte werden ja nicht als rein formal definiert : Während die autonome Form des Wiener Kreises dadurch definiert wird, dass sie der Wirklichkeit keine Rechenschaft schuldig ist, ist das Schema konstitutiv gebunden an die Wirklichkeit, die es schematisiert. Auf diese Weise scheint es möglich, die ja schon vom Wiener Kreis gewünschte Flexibilität und Pluralität der Welterschließungen ohne die pro­blematischen skeptischen Konsequenzen zu bewahren : »we could imagine the unsullied stream of experience being variously reworked by various minds or cultures« (Davidson 2009e, 31). In dieser Pluralität kann das Denken in Schemata seine volle Wirksamkeit entfalten. Das Schemadenken ist zunächst als eine äußerst hilfreiche kategoriale Antwort auf die Herausforderungen einer pluralistischen Moderne zu sehen. Ganz im Sinne von Neuraths Schiffergleichnis erkennt es an, dass alles menschliche Wissen fallibel ist und wir historisch (sowie auch sozial) wechselnde Perspektiven auf die Welt entwickeln. Während Kants Behauptung einer transzendentalen Subjektivität sich mit Davidson noch so lesen lässt, dass hier nur ein Schema behauptet wurde, lässt die allgemeine Logik dieser Unterscheidung den Gedanken einer Vielzahl von Schemata zu.90 Es ist diese Pluralität, die Davidson interessiert. Sie lässt den begrifflichen Relativismus so attraktiv erscheinen. Zum einen wird mit ihm scheinbar jenem »truism« Rechnung getragen, dass die Welt ja immer unterschiedlich erschlossen wird. Es gilt eben : »Minds are many, nature is one« (Davidson 2009e, 39). Zum anderen aber verspricht der begriffliche Relativismus, der historischen Drift der Erkenntnis gerecht zu werden, ohne dabei den welterschließenden Charakter der jeweiligen Schematisierungen leugnen zu müssen. Mit anderen Worten : Der begriffliche Relativismus ist eine systematisch attraktive und daher auch historisch verbreitete Antwort auf Es werde nur noch, so Davidson, die »abstract possibility« (Davidson 2009a, 41) der Gefahr des Relativismus eingeräumt, die sich jedoch mit den richtigen Verfeinerungen der Theo­rie ausräumen lasse. 90 »Kant thought only one scheme was possible ; but once the dualism of scheme and content is made explicit, the possibility of alternative schemes is apparent« (Davidson 2009e, 40). 89

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die Frage, wie die Vernunft sich selbst als kritisch verstehen kann. Im Begriff des Schemas wird die rationale Autonomie bewahrt ; doch die konstitutive Bindung des Schemas an den Gehalt sorgt dafür, dass diese Autonomie nicht leer und abstrakt bleiben muss. Davidson führt mit der Diagnose des Schemadenkens ein zentrales Motiv des Wiener Kreises und des modernen Empirismus auf seinen abstrakten Kern zurück. Der Begriff des Schemas ist der Inbegriff der Flexibilität, die für den Wiener Kreis wie für die epistemisch verunsicherte Moderne des späten 19. Jahrhunderts die menschliche Ratio­nali­tät kennzeichnet. Wie wir gesehen haben, zehrt Kritik für den Wiener Kreis von der Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen Theo­riesystemen zu wählen, um dieselbe Erfahrung anders zu erfassen. Diese Flexibilität soll gewährleisten, dass das Denken nicht in »Dogmatismus« verfällt und es in der historischen Drift der Erkenntnis für den Fortschritt offen bleibt. Davidson argumentiert somit ganz in der Tradition, die durch den Logischen Empirismus begründet wurde. Carnap verteidigt die Flexibilität der Vernunft, wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, in der Form eines »Toleranzprinzips« der Logik. Sie ist ein Schlüssel für das aufklärerische Selbstverständnis des Logischen Empirismus, dem zufolge wir auch ganze Theo­riesysteme austauschen müssen, wenn dies denn zu besseren Erklärungen führt. Bei aller Kritik an Carnap gibt auch Quine dieses Bild der kritischen Vernunft nicht auf. Im Gegenteil : Einer der »Dogmen« des Empirismus ist für ihn das Postulat analytischer Sätze – also die Behauptung, es gebe Sätze, die gerade nicht mehr für die empirische Korrektur offen sind. Quine radikalisiert also die Idee der theoretischen Flexibilität, indem er Carnaps Holismus über die Grenzen der Wissenschaft hinaus ausweitet. Kritik ist dann nicht mehr die Wahl zwischen unterschiedlichen Theo­rieentwürfen, mit der pro­blematischen Implikation, dass für diese Entscheidung aus dem Rahmen vernünftiger Theo­riebildung hinausgetreten werden muss. Sie gilt Quine vielmehr als eine Anpassungsleistung innerhalb einer holistischen Vernunft, die er als ein »total network« (Quine 1951, 41) von Überzeugungen beschreibt. Und diese Anpassungsleistung kann, so Quines Auffassung, weiterhin empiristisch beschrieben werden. Das Ende von Two Dogmas plädiert dafür, dass der Mensch seine historisch erworbenen Begriffe ständig an die »continuing sensory prompt116  |  Kritik der formalistischen Erfahrung 

ings« (ebd., 43) anpassen (»to fit«) solle. Sowohl bei Carnap als auch bei Quine geht es darum, die theoretischen Beschreibungen offen zu halten für die Kritik durch die Erfahrung, und Davidson fragt danach, wie diese Forderung erfüllt werden kann.91 § 55  Der Begriff des Schemas, wie Davidson ihn einführt, legt eine entscheidende Bedingung der Möglichkeit der behaupteten kritischen Flexibilität offen. Die Rede von einem Wandel der Theo­rien setzt voraus, dass die Entwürfe eine gemeinsame Beziehung zur Wirklichkeit variieren. Davidson zeigt nun, dass diese Gemeinsamkeit zwar behauptet wird, sie sich aber nicht konsistent im Rahmen des Schemadenkens beschreiben lässt. Dazu greift er das Schemadenken in seiner extremen Konsequenz an : in der Behauptung der Inkommensurabilität unterschiedlicher Schematisierungen. Die Inkommensurabilitätsthese ergibt sich zwingend, sobald wir von einer Pluralität von Schematisierungen ausgehen und gleichzeitig an der These festhalten, dass auch unser Erkennen immer nur in einem Schema möglich und dadurch an es gebunden ist. Wir können demnach zwar durchaus andere Schemata untersuchen, haben aber keine Möglichkeit zu überprüfen, ob andere Schematisierungen den Fakten besser gerecht werden oder nicht. Es gibt kein gemeinsames Maß, an dem sich die Beziehung des Schemas zur Welt neu­tral beschreiben lässt. Diese Auffassung sieht Davidson in Whorfs These der sprachlichen Geformtheit aller Wahrnehmungen sowie in Kuhns Behauptung der Inkommensurabilität historisch aufeinander folgender wissenschaftlicher Paradigmen artikuliert (Davidson 2009d, 190). Der Hinweis auf die Inkommensurabilitätsthese bedeutet freilich noch keine Widerlegung des Schemadenkens. Da Schemata ja als immer schon weltbezogen verstanden werden, scheint die offensichtliche Gefahr des Relativismus weiterhin gebannt zu sein. Bei Thomas Kuhn etwa findet sich die Aussage : »Wenn auch die Welt mit dem Wechsel eines Paradigmas nicht wechselt, so arbeitet doch der Wissenschaftler danach in einer anderen Welt« (Kuhn Putnam (1990) verteidigt nach (und gegen) Davidson die Möglichkeit e­ ines begrifflichen Relativismus. Sein »interner Realismus« behauptet, dass die Welt zwar immer nur »intern« einem Begriffssystem zugänglich ist, dieser ­Zugang aber ohne Widerspruch als real begriffen werden kann. 91

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1973, 133). Ein Paradigma im Sinne von Kuhn ist ein Schema in Davidsons Sinne ; es wird von Kuhn als eine unhintergehbare Form beschrieben, Erfahrung zu organisieren (durch Begriffe, Theo­rien und auch durch Praktiken). Doch Kuhn sieht darin noch keinen Relativismus zwingend impliziert.92 Auch das Paradigma ist für ihn gebunden an die Natur, auf die sich diese Schematisierung bezieht. Das zeigt sich in Kuhns Verteidigung des wissenschaftlichen Fortschritts. Er beschreibt die historische Abfolge von Paradigmen als einen Entwicklungsprozess, der – vergleichbar mit der natürlichen Evolution – zwar kein immanentes telos kennt, aber sich eben doch immer wieder neu an der Wirklichkeit abarbeitet und dadurch an Tiefe und Präzision gewinnt (ebd., 171–184). Diese These einer evolutionären Entwicklung der Wissenschaft hat jedoch eine Voraussetzung, die Kuhn nicht thematisiert : Es muss »etwas« geben, an dem sich diese Entwicklung gleichsam bricht – einen Zugang zu eben jenem von allen Schemata geteilten Grund, der auch bei einem Wandel der Paradigmen weiterhin für deren Welthaltigkeit bürgt. Dieser Grund ist nicht einfach ein passiver Anker ; er muss fähig sein, die empirisch orientierte Reflexion – Kuhn beschreibt ja die Struktur der naturwissenschaft­lichen Forschung – sachhaltig zu beeinflussen. Quine hat eben diese Voraussetzung deutlich gemacht, denn er beharrt darauf, dass auch unter der Voraussetzung einer nicht-formalistischen Verbindung von Theo­rie und Erfahrung weiterhin die Erfahrung den Wissenschaften als kritisches Korrektiv, als »Tribunal« (Quine 1951, 38), dienen soll. Das Schemadenken erlaubt es aber nicht mehr, ein solches kritisches Korrektiv einfach »von außen« zu behaupten – es ist ja nicht möglich, Schemata zu transzendieren. Die kritische Rolle der Erfahrung muss daher in Form einer theoretischen Reflexion innerhalb des Schemas gewonnen werden. Diese Konsequenz sieht Quine in aller Deutlichkeit. Er trennt den begrifflichen Aspekt der Theo­rie vom Empirischen, um auf diese Weise abstrakt die Abhängigkeit der Theo­rie von der Wirklichkeit und damit die Möglichkeit ihrer ständigen Revision zu verteidigen. Quine verwendet die Metapher der »Subtraktion« : Demnach können wir aus unserer menschlichen Paradigmen sind also wesentlich mehr als nur Theo­rien oder explizite Deutungsmuster (vgl. Kuhn 1977), worauf Thomas Kuhn bereits in seinem Hauptwerk hinweist (z. B. Kuhn 1973, 132). 92

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Weltsicht die objektiven Hinweise (cues) abziehen, die uns die Natur gegeben hat. Was wir im Resultat erhalten, ist Quine zufolge der spezifische Beitrag des Menschen zur Erkenntnis, der zugleich auch die »begriffliche Souveränität«93 des Menschen zum Ausdruck bringt. Quines Metapher der Subtraktion ist nur konsequent : Da der Gehalt allein durch das Schema zugänglich wird, muss der empirische Einfluss auf die Schemabildung reflexiv gewonnen werden. Wir isolieren in theoretischer Reflexion konstante Aspekte, eben jene objektiven cues, die sich in allen Schematisierungen nachweisen lassen. Davidson sieht jedoch einen Widerspruch in einer solchen Reflexion angelegt. Sie konzipiert den Bezug zur Wirklichkeit auf zwei widerstreitende Weisen : Als schematisierter Gehalt soll die Wirklichkeit nur in der durch diese Perspektive definierten Form zugänglich sein. Zugleich wird jedoch behauptet, dass die in den Schemata diskutierten Gehalte sich einer gemeinsam geteilten Wirklichkeit gegenüber zu verantworten hat, einer Wirklichkeit, die – wie Quine es formuliert – »objektive Hinweise« gibt oder als »Tribunal« über die Schematisierungen richtet. Die Metaphorik des Tribunals geht über die der »Subtraktion« hinaus, denn sie hebt eben jene subtraktiv getrennten objektiven Hinweise normativ hervor und verleiht ihnen eine herausgehobene epistemologische Bedeutung. Es sollen diese objektiven Hinweise sein, an denen sich unsere Urteile orientieren, denn sie bilden den autoritativen Maßstab (»Tribunal«) gelingender Erkenntnis. Diese zweite Behauptung Quines verbleibt nicht in der internen Selbst­ reflexion der Schemata. Sie transzendiert die Perspektive zugunsten eines Standpunkts, den sie der ersten Behauptung zufolge nicht einnehmen kann.94 Nach Davidson ist es der Begriff der Erfahrung, an dem dieser Widerspruch sichtbar wird. Die Erfahrung ist der gemeinsame Bezugspunkt aller Schemata. Er wird vorausgesetzt, wenn die Schemata als gehaltvoll und damit weltbezogen verstanden werden – als funktionierende »Sprache«, wie Davidson es sprachphilosophisch formuliert (Davidson 2009d, 190 f.). Der Erfahrungsbezug Davidson (2009e, 42) zitiert hier aus Quines Word and Object. Vgl. dazu vor allem On the very Idea of a Conceptual Scheme (Davidson 2009d). 93

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wird aber auch vorausgesetzt, wenn es darum geht, die bestehenden Schemata zu ändern oder von einem zum anderen zu wech­ seln. Während die Erfahrung als Bürge des Gehalts jedoch immer als schematisiert gedacht wird und somit die Unhintergehbarkeit des Schemas weiterhin aufrechterhalten werden kann, rückt sie als Garant der Kritik – als »Tribunal« – in eine Position, die von allen aktualen Schematisierungen unabhängig ist. Auf der einen Seite soll der schematisierte Gehalt von der Erfahrung abhängen ; doch zugleich soll diese Erfahrung, als gemeinsamer Grund aller Schemata, diese korrigieren. Diese im Erfahrungsbezug gesuchte gemeinsame normative Bindung aller Schemata ist es, die letztlich zum Kollaps des Schema­ denkens führt. Denn sie lässt es erforderlich werden, dass die Evidenz der Erfahrung auf eine Weise konzipiert wird, die rational wirksam und doch unabhängig von jedem Schema sein soll. Und so wird ein Minimalbegriff der Erfahrung postuliert, dem zufolge dann doch ›Daten‹, ›Stimuli‹ oder ›Sinneseindrücke‹ objektiv im Schema zur Verfügung stehen, um dessen Abhängigkeit von der Welt auszudrücken. Mit anderen Worten : Die korrigierende Evidenz der Erfahrung ist frei von allen Schematisierungen. Das ist in Davidsons Auge der entscheidende Selbstwiderspruch des Schemadenkens : What matters is that there should be an ultimate source of evidence the character of which can be wholly specified without reference to what it is evidence for. Thus patterns of stimulation, like sense data, can be identified and described without reference to ›what goes on around us‹ (Davidson 2009e, 42).

§ 56  Davidsons Kritik richtet sich, wie erkennbar wird, nicht unmittelbar gegen den Erfahrungsbegriff. Sie zeigt, dass die These einer Pluralität von Schematisierungen nicht zu vereinen ist mit der gleichzeitigen These ihrer Unhintergehbarkeit – sofern daran festgehalten wird, dass Erfahrung die Schemata immer auch korrigieren können soll. Der Erfahrungsbegriff wird also pro­blematisch, weil er unter die Bedingung einer »schematisierenden« Pluralität gestellt wird. Im Grunde bietet Davidson dadurch eine Erklärung dafür, warum es überhaupt zu der empiristischen Konzeption der Erfahrung als »Rohmaterial« oder als »Gegebenes« kommt. Der re120  |  Kritik der formalistischen Erfahrung 

duzierte Erfahrungsbegriff des Empirismus ist die Folge einer begrifflichen Konstellation, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Schemata nur eine identische epistemische Autorität anerkennen will : die unschematisierte Wirklichkeit. Indem der Empirismus diesen Gedanken konsequent in die moderne Forderung übersetzt, dass aller Gehalt an die Erfahrung gebunden sein muss, bürdet er dem Erfahrungsbegriff seine unerfüllbare Doppelrolle auf. Die Erfahrung fließt sowohl in das funktionierende Verstehen ein und muss den konstitutiven Gehalt erklären, zugleich soll sie aber auch die Anlässe für die Kritik des Schemas bieten. Diese zweite Funktion einer empirischen Irritation kann dann nur noch von einem »Input« kommen, der ex hypothesi als unschematisiert gedacht wird. Es ist diese, wie ich es nennen möchte, Neutralisierung der Erfahrung, die für Davidson den begrifflichen Relativismus in einen echten Relativismus kippen lässt. Die konzeptionell erzwungene Neutralität der Erfahrung öffnet dem Skeptizismus, wie Davidson argumentiert, Tür und Tor. Da der epistemische »Input« so verstanden werden muss, dass er prinzipiell unabhängig ist von jedem Schema, das er informiert, ist er aus demselben Grunde offen für jede beliebige Deutung. Wenn die so konstruierte Erfahrung unser einziger Quell des Wissens sein soll, dann ist nie auszuschließen, dass wir permanent getäuscht werden. Daher folgt für Davidson aus der oben zitierten Diagnose der neu­tralisierten Erfahrung direkt der Skeptizismus : If our knowledge of the world derives entirely from evidence of this kind, then not only our senses may deceive us ; it is possible that we are sytematically and generally deceived (Davidson 2009e, 42).

Davidson formuliert seinen Einwand gegen den Erfahrungsbegriff auch in einer wesentlich prägnanteren Art und Weise. Das Pro­blem sei, dass die Erfahrung als vermittelnde Instanz (intermediary) in zwei Rollen auftreten muss : Als eine kausale Ursache und als begründende Evidenz. In diesen beiden Rollen erkennen wir die Doppelposition der Erfahrung wieder, die das Schemadenken aufdrängt. Die Interpretation als kausale Ursache erfüllt die Forderung der Neutralität. Wirkungen können (zumindest innerhalb eines naturalistischen Weltbildes) so gedacht werden, dass sie prinzi­piell unabDavidsons Kritik  |  121

hängig von semantischen Einkleidungen und subjektiven Überzeugungen Bestand haben. Der Preis für diese Neutralität ist freilich, dass die so gefasste Erfahrung noch nicht die Schwelle des Begrifflichen überschritten hat. Ein kausaler Eindruck muss erst noch als Grund aufgenommen werden, etwa indem er – wie beim Wiener Kreis – aus dem subjektiven Register der Sinneswahrnehmung in den intersubjektiven Raum der logischen Sprache übertragen wird. Erst wenn die Erfahrung schematisiert ist, kann sie als Gehalt rational beurteilt werden. Doch nicht nur kann diese Übertragung falsch oder richtig sein, worauf Wittgensteins bekanntes »Regress­ argument« des Regelfolgens hinweist (Brandom 1994). Als Grund untersteht die so übersetzte Erfahrung derselben prinzipiellen Revidierbarkeit wie jede andere Behauptung und kann damit nicht mehr die gesuchte unabhängige (»ultimate«) Evidenz sein (vgl. Davidson 2009b). In aller Kürze : »if the intermediaries are merely causes, they don’t justify the beliefs they cause, while if they deliver information, they may be lying« (Davidson 2009a, 144). Dieses Bild der Erfahrung als Vermittlerin ist uns bereits vom Wiener Kreis bekannt, wie auch die Schwierigkeiten, in die diese Konzeption führt. Davidsons Argumentation zeigt, dass auch die post-positivistische Kritik am Formalismus, wie sie etwa von Quine oder auch Kuhn repräsentiert wird, diese Schwierigkeiten erbt. Das eigentliche Pro­blem ist, wenn wir Davidson folgen, die Pluralität der Perspektiven. Die Herausforderung ist, den Wandel (oder Wech­ sel) der Theo­rien und Begriffssysteme zu denken. Während Quine die Möglichkeit des Wandels allein durch das Postulat analytischer Sätze verhindert sah, erkennt Davidson die tiefer liegende Schwierigkeit, dass das vom Wiener Kreis eingeführte Postulat einer flexiblen Vernunft in einem prinzipiellen Widerspruch zu der Idee einer unhintergehbaren vermittelnden Schematisierung der Erfahrung steht. Davidsons Diagnose ist also letztlich, dass auch das Denken in weltbezogenen Schemata noch formalistisch ist : Identisch bleibt die Form der in jeder Schematisierung vorausgesetzten Bindung, eine Form, die Davidson als »Erfahrung« pro­blematisiert.

122  |  Kritik der formalistischen Erfahrung 

McDowells Neuperspektivierung der Erfahrung § 57  Nachdem wir Davidsons Kritik der Erfahrung ausführlicher vorgestellt und diskutiert haben, stellt sich die Frage, wie mit dieser Kritik umzugehen ist. Davidson selbst zieht die Konsequenz, den Erfahrungsbegriff in seiner epistemischen Rolle fallen zu lassen. Die Abhängigkeit des Erkennens, die mit diesem Begriff ausgedrückt werden soll, sei besser als eine kausale Abhängigkeit erklärt. David­ sons eigener positiver Gegenentwurf stellt entsprechend diese Kausalität in das Zentrum seiner Sprachtheo­rie, die eine des Verstehens ist : Einen anderen Menschen zu verstehen, heißt demnach, ihm zu unterstellen, dass seine sprachlich formulierten Überzeugungen kausal durch die Gegenstände der Welt verursacht seien, die wir auch wahrnehmen und erkennen können. Indem sich damit zwei Interpreter auf denselben Gegenstand zu beziehen versuchen, entsteht ein gemeinsamer Raum des Verstehens : »Communication begins where causes converge« (Davidson 2009a, 151). Für die richtige Einschätzung dieser Position ist es hilfreich, sich zunächst auf ihre Stärke zu besinnen. Davidsons Kritik am Erfahrungsbegriff ist die Fortsetzung der postanalytischen Versuche, die Defizite des formalistischen Vernunftbegriffs des Wiener Kreises gleichsam von innen zu überwinden. Sie wendet sich zwar gegen den empiristischen Erfahrungsbegriff, wie auch allgemein gegen philosophische Manifestationen dessen, was Davidson dann den »Dualismus von Schema und Gehalt« nennt. Doch obgleich diese Argumentation zur Folge hat, dass mit diesem Dualismus dann auch mit dem Empirismus von Quine und dem Wiener Kreis gebrochen wird, bleibt sie einem wesentlichen Ziel dieser Theo­rien treu : der Verteidigung des Ideals einer flexiblen und empirisch sensitiven kritischen Ratio­nali­tät. Davidsons Kritik am Empirismus ist eine Kritik des Empirismus im Namen seines Ideals der Vernunft. Das Resultat ist freilich nicht als Empirismus zu erkennen. Davidson ist kein Empirist mehr ; er selbst stellt fest, dass mit seiner Kritik am Dualismus von Schema und Gehalt nichts mehr übrig bleibe, was noch »Empirismus« genannt werden kann (Davidson 2009d, 189). Doch seine Argumentation erkennt das fallibilistische Ideal der kritischen Vernunft weiter an, dem zufolge es immer möglich sein muss, die Wirklichkeit unter dem Druck der ErfahMcDowells Neuperspektivierung der Erfahrung  |  123

rung anders zu beschreiben – eben bis hin zur Entwicklung einer so grundsätzlich anderen Perspektive, dass ganze Theo­riesysteme oder Vokabulare geändert und revidiert werden müssen (Carnaps linguistic frameworks). Davidsons affirmative Übernahme dieses Ideals flexibler Ratio­ nali­tät zeigt sich deutlich an der Kritik des Schemadenkens, die genau diese Differenz der Perspektiven zum Ausgangspunkt nimmt. Die Erfahrung wird im Schemadenken im Namen der Kritik neu­ tralisiert, und eben diese Neutralisierung lässt sie dann in Davidsons Augen philosophisch untauglich werden zur Beschreibung unserer perspektivischen Positionierung in der Welt. Das Ideal der Kritik steht auch im Zentrum von Davidsons eigenem Entwurf, seiner Theo­rie des Verstehens. Diese geht von der Grundsituation aus, dass zwei Sprecher lernen müssen, im Lichte ihrer unterschiedlichen Perspektiven auf die Welt sich zu verstehen. Damit führt Davidsons Theo­rie der radikalen Interpretation das Gedankenexperiment ­Quines weiter, dem zufolge das Sprachverstehen mit der Situation einer linguistischen Feldforscherin verglichen werden kann, die sich vor die Aufgabe gestellt sieht, die Äußerungen einer ihr unverständlichen Sprache zu rekonstruieren.95 Wie können wir die Äußerungen anderer verstehen ? Wie können wir ihren Weltbezug nachvollziehen ? Mit diesen Leitfragen ist es nicht mehr nötig, noch gesondert für die Perspektivität und Flexibilität menschlicher Beschreibungen und Bezugnahmen zu argumentieren ; sie setzen sie voraus. Die Perspektivität des Weltbezugs ist in Davidsons Entwurf das Explanans, das es zu akzeptieren gilt. Die Theo­rie soll dieser »Binsenwahrheit« (Davidson) Rechnung tragen und aus ihr heraus unser Weltverhältnis rekonstruieren. Das Pro­blem des Erfahrungsbegriffs ist somit, dass er diesem Bild der kritischen Ratio­nali­tät im Wege steht.96 Davidson weist entsprechend auch explizit darauf hin, dass schon der Wiener Kreis das Vgl. dazu die Rekonstruktion und Kritik von Davidsons Theo­rie der Interpretation bei Blume/Demmerling 1998, 206–210. 96 Nicht zuletzt spricht Davidson, in Anspielung auf Quines berühmte Kritik an Carnap, ja auch explizit von einem dritten »Dogma« (Davidson 2009d, 189) des Empirismus ; und stellt sich selbst in kritischen Diskussionen des Wiener Kreises hinter dessen fallibilistisches Ideal der Vernunft (so auch in Davidson 2009b, 174). 95

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Pro­blem aufwirft, zu dem er Stellung nimmt. Erfahrungen müssten bereits im Logischen Empirismus subjektiv gewiss sein, um als Grund des Wissens zu dienen, und doch »open to question« (Davidson 2009b, 168), um kritisch eingeordnet werden zu können. Dieses Pro­blem wiederholt sich im Schemadenken, das sich doch als Überwindung des Formalismus des Wiener Empirismus begreift. Auch im Schemadenken müssen Erfahrungen Teil eines Schemas sein und doch, wie Davidson zeigt, als »roher« Gehalt den korrigierenden Kontakt zur Wirklichkeit verbürgen. Sie müssten, wie Davidson dann auch formuliert, kausal und rational zugleich sein. Immer wieder stößt sich die Idee der Erfahrung als vermittelnder Instanz an dieser doppelten Forderung, die dem Wiener Ideal der Kritik entspringt. § 58  Wie also soll vor dem Hintergrund dieser Einordnung Davidsons Zurückweisung des epistemisch gehaltvollen Erfahrungs­ begriffs bewertet werden ? Das bisher Gesagte stellt klar, dass eine solche Beurteilung das Ideal kritischer Ratio­nali­tät einbeziehen muss, an dem Davidson den Empirismus bemisst. Aus dieser Überlegung ergibt sich eine erste naheliegende Rückfrage : Gelingt es Davidson, mit seiner eigenen Konzeption des Verstehens, die der Erfahrung konsequenterweise keine epistemische Rolle mehr zuweist, die von ihm aufgeworfenen Pro­bleme zu umgehen ? Hier wird also gefragt, ob Davidsons eigene Position den Kriterien zu entsprechen vermag, die er aufstellt. In dem Kontext solcher kritischer Rückfragen steht ein Großteil der Diskussionen, die sich unmittelbar mit Davidsons Kritik der Epistemologie beschäftigen. Sie untersuchen, ob Davidsons Theo­rie – also sein eigener positiver Entwurf – auch wirklich das vermag, was Empirismus und Schemadenken nicht vermögen : den Skeptizismus in die Schranken zu weisen und das gemeinsame Band des Verstehens auch über alle unterschiedlichen Standpunkte hinweg zu etablieren.97 Doch wir können noch einen Schritt weiter gehen. In den soeben erwähnten Diskussionen wird danach gefragt, ob es Davidson gelingt, mit seiner Theo­rie des Verstehens den von ihm diagnosti­ Eine repräsentative Auswahl dieser Diskussionen von Davidsons Theo­rie bietet Hahn 1999. 97

McDowells Neuperspektivierung der Erfahrung  |  125

zierten Dualismus zwischen Begriff und Erfahrung zu überwinden. Wir hatten zu Beginn dieses Kapitels jedoch festgestellt, dass es zwei Möglichkeiten gibt, einen Dualismus zu kritisieren. Über die Feststellung hinaus, dass in einem Dualismus zwei Seiten nicht mehr in Beziehung treten können, lässt sich weiter fragen, ob diese Be­ ziehung selbst nicht falsch vorgestellt wird. Mit anderen Worten : Anstatt Davidson an dem von ihm benutzten Maß zu messen, mit dem er die Beziehung von Vernunft und Erfahrung modelliert, stellt sich die grundlegendere Frage, ob nicht dieser Maßstab selbst ein Pro­blem birgt. Der bei Davidson angelegte Maßstab ist seine Konzeption der falliblen kritischen Vernunft, die starke Parallelen zu dem formalistischen Begriff der autonomen Ratio­nali­tät aufweist, die wir vom Wiener Kreis kennen. Diese Konzeption gibt eine klare Fragerichtung vor : Die Beziehung zwischen Vernunft und Erfahrung muss so geklärt werden, dass die Vernunft (das Schema) sich von der Erfahrung über die Welt belehren lassen kann. Dabei geht es darum, die Erfahrungsbindung (Davidsons ›Abhängigkeit‹ von der Erfahrung) so zu beschreiben, dass die Urteile der Vernunft Gewissheit beanspruchen können. Die Gewissheit soll von der Welt auf die (ja immer nur perspektivisch operierende) Vernunft übergehen. Für diesen Transfer von Gewissheit dienten im Wiener Kreis die Protokollsätze und bei Quine sensorische Stimuli, beides Variationen des ›rohen Gehalts‹.98 Und auch wenn wir Davidsons Position noch näher diskutieren werden, lässt sich in diese Reihe bereits jetzt seine Idee einfügen, Überzeugungen würden durch reale Gegenstände extern verursacht : »we must … take the objects of a belief to be the causes of that belief« (Davidson 2009a, 151). Obgleich all diese Ansätze intersubjektiv und sprachbezogen argumentieren, wird mit Blick auf das Pro­blem der Erfahrung sichtbar, dass die Inhalte der Vernunft in diesen Konzeptionen dadurch stabilisiert werden, dass sie außerhalb der Vernunft stehen – als neu­trale Gehalte oder als stabile kausale Einflüsse. Und so bleibt weiterhin das Mit Ausnahme von Schlick vertrat der Wiener Kreis nicht die Annahme, dass die Protokollsätze auf einem »außersprachlichen Fundament« basieren müssten. Trotzdem haben diese Sätze logisch die Funktion eines ›rohen Gehalts‹, denn sie sollen isoliert und unabhängig vom restlichen Theo­riegebäude ihre bestätigende oder falsifizierende Kraft entwickeln können. 98

126  |  Kritik der formalistischen Erfahrung 

Pro­blem, wie das Denken sich dann noch reflexiv dieser Inhalte versichern kann. Ein Ansatz, der dieses Pro­blem zu umgehen verspricht, ist eine Hinterfragung des kategorialen Rahmens, der sich in all diesen Überlegungen abzeichnet. Der Skeptizismus ist in dieser Perspektive nicht die Konsequenz eines spezifischen Erklärungsmodells im Unterschied zu anderen Erklärungen, sondern die Folge einer übergreifenden begrifflichen Konstellation, aus der heraus überhaupt eine bestimmte Form von Erklärung für nötig erachtet wird. Die Debatte, ob Davidsons alternative Modellierung der Ratio­nali­tät wirklich dem Skeptizismus Einhalt gebieten kann, verfehlt in dieser Perspektive daher das eigentliche Pro­blem. Eine angemessene Antwort auf die von Davidson aufgeworfenen Schwierigkeiten kann nicht darin bestehen, auf den Erfahrungsbegriff zu verzichten oder ihn vielleicht doch wieder einzuführen. Die philosophische Erläuterung müsste vielmehr auf eine umfassendere Neubemessung der kritischen Ratio­nali­tät und ihres Bezugs auf die Erfahrung zielen. § 59  Einen solchen Ansatz, der die Reflexion auf den Erfahrungsbegriff mit einer Diskussion des korrespondierenden Ratio­nali­ tätsverständnisses verbindet, präsentiert McDowell. Seine Kritik einer philosophischen Trennung von Geist und Welt (McDowell 1996) nimmt zum Ausgangspunkt eben jene Konstellation, die wir in unserer Untersuchung mit Davidson erreicht haben.99 McDowells Ziel ist, eine philosophische Konzeptualisierung der Vernunft zu hinterfragen, die den kritisch-reflektierenden »Geist«, also das Denken, so stark von der »Welt« trennt, dass diese beiden Seiten dualistisch auseinander treten müssen. Schon für die Formulierung seines Pro­blems greift McDowell also auf Davidsons Diagnose eines Dualismus von Schema und Gehalt zurück. Davidsons Kritik wird vorgestellt als die zeitgemäße Artikulation einer Empirismuskritik, die sich aber auch bei Sellars, Wittgenstein oder Kant finden lasse. Das McDowells Buch den Titel gebende pro­ble­ matische Verhältnis von »Geist und Welt« ist somit eng an Davidson angelehnt : Wie kann die Erfahrung das Verstehen rational binden, Die wesentlichen Texte, in denen McDowell sich direkt mit Davidson ­beschäftigt, sind McDowell 1996, 2003, 2009b. 99

McDowells Neuperspektivierung der Erfahrung  |  127

wenn der Versuch, diese Bindung mit dem Begriffspaar von Schema und Gehalt zu formulieren, für gescheitert erklärt werden muss ? Der grundsätzlichen Diagnose Davidsons, und damit dessen Kritik am Empirismus, stimmt McDowell also zu. Doch für McDowell entkommt Davidsons eigener Entwurf nicht der dualistischen Grundanlage, die Davidson selbst pro­blematisiert. Davidsons Theo­rie radikaler Interpretation und seine offensiv vertretene »Kohärenztheo­rie der Wahrheit« wollen eine positive Antwort auf die Frage geben, wie das sprachliche Verstehen mit der Welt verbunden sein kann, ohne dabei dem »Mythos des Gegebenen« bzw. dem Schemadenken zu erliegen. Dies aber, so McDowell, gelingt Davidson nicht. Entgegen Davidsons eigenen Intentionen führe seine Philosophie zu einem, wie McDowell es nennt, »Kohärentismus«, der nicht mehr verständlich machen könne, wie der menschliche Geist noch von der erfahrenen Wirklichkeit rational korrigiert werden kann.100 Der Grund dafür sei in Davidsons inkonsequenter Anwendung seiner eigenen Einsichten zu suchen. Davidson dringe nicht »zu den Wurzeln« (McDowell 2009b, 115) des Pro­blems vor, sein Argument setze »zu spät« (McDowell 1996, 17) ein. Auch McDowells Philosophie steht somit, wie sichtbar wird, deutlich in der Tradition einer kontinuierlichen postanalytischen Reflexion auf die Defizite des Logischen Empirismus. Doch sie markiert in dieser Traditionslinie einen Wendepunkt. Für McDowell besteht die Herausforderung nicht darin, die richtige Antwort auf das durch den Wiener Kreis geprägte epistemologische Pro­blem des Wirklichkeitsbezugs zu geben. Vielmehr stellt für ihn die Kritik der Erfahrung primär vor die Aufgabe, den richtigen Rahmen zu finden, in dem sich die Schwierigkeiten nicht mehr stellen, die Sellars und Davidson aufgewiesen haben. Nur so lässt sich vermeiden, trotz der richtigen Diagnose schließlich wieder dasselbe Pro­blem zu provozieren. Eine vertiefte Kritik des Dualismus von Schema und Gehalt muss für McDowell ein grundsätzlich nicht-dualistisches Verständnis von Ratio­nali­tät und Erfahrung entwickeln, in dem das von Davidson so deutlich identifizierte Pro­blem der epistemischen Vermittlung erst überhaupt nicht auftreten kann. McDowells ausführlichste Kritik an Davidson als »Kohärentist« stellt ihn in eine Reihe mit Quine (McDowell 1996, 138 f.). 100

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Für die hier verfolgte Diskussion ist entscheidend, dass McDowell die Debatte um den »empirischen Gehalt« von Wissen und Bedeutung deutlich über die epistemologische Fragestellung hinaus treibt. Pointiert formuliert, ziehen Davidson und McDowell aus derselben Ausgangsdiagnose der Unzulänglichkeit des empiristischen Erfahrungsbegriffs zwei konträre Schlüsse. Während Davidson einen philosophischen Erfahrungsbegriff für sinnlos hält und eine alternative Geschichte des Erwerbs empirischer Begriffe erzählt, verteidigt McDowell den Empirismus in einer abgewandelten Form, die die Erfahrung wieder als epistemischen »Grund« des Urteilens rehabili­ tiert. Allerdings erfordert dies in McDowells Augen ein Umdenken dessen, was unter »Erfahrung« und »Vernunft« verstanden wird. Erfahrung muss so verstanden werden, dass sie wesentlich mit der menschlichen Ratio­nali­tät verbunden ist und ihre rationale Neutralität aufgibt. Ein Desiderat, das McDowell sprachphilosophisch mit der These einlösen möchte, dass alle Erfahrung einen begrifflichen Gehalt aufweise : »Experiences already have conceptual content« (McDowell 1996, 10). McDowells Philosophie ist vor allem wegen dieser letzteren These, der These von der Begrifflichkeit der Erfahrung, bekannt und kontrovers diskutiert worden. Diese These, so wichtig sie für McDowells Position ist, stellt jedoch nur einen Baustein in einer umfassenderen Pro­blematisierung der Art und Weise dar, wie kritische Ratio­nali­tät gedacht werden sollte.101 Der systematische Kern von McDowells Kritik ist die Feststellung, dass Kritik eben nicht so verstanden werden kann, dass sie sich an einem von der Kritik losgelöst vorstellbaren Gegenstand abarbeitet. Es ist diese Kritik der Kritik, die McDowells Position für unsere Diskussion interessant werden lässt. McDowells Verteidigung der Erfahrung wird als eine wirkliche Alternative zu Davidsons Vorgehen verständlich, wenn sie zugleich als eine Korrektur der kategorialen Rahmung begriffen wird, in der auch noch Davidsons Kritik am »dritten Dogma« McDowells philosophischer Einsatz ist nach der hier vorgenommenen Rekonstruktion also primär eine Pro­blematisierung der philosophischen Vorstellungen der menschlichen Ratio­nali­tät und nicht die Verteidigung einer These zur Wahrnehmung. Gleichwohl ist die Wahrnehmung aus guten Gründen ein zentraler Punkt, auf den sich eine solche Pro­blematisierung immer wieder beziehen muss. 101

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des Empirismus steht. Diese Bewegung zurück den »Wurzeln« des Pro­blems, wie McDowell sie versteht, gilt es daher nachzuvollziehen. § 60  Wir werden daher erst im nächsten Kapitel ausführlicher auf McDowells positive Thesen eingehen und uns hier auf das kritische Moment seiner Philosophie konzentrieren. Halten wir zunächst den mit Davidson geteilten Ausgangspunkt fest. Auch für McDowell gilt, dass das Schemadenken zumindest von seinem Anspruch her einen richtigen Gedanken zu fassen versucht. Gegen einen reinen Formalismus, der sprachliche Gehalte unabhängig von jeder Empirie konzipieren zu können glaubt, geht das Schemadenken ja davon aus, dass – wie McDowell es oft mit Kant formuliert – Gedanken ohne Gehalt leer und Anschauungen ohne Begriffe blind bleiben müssen. »Otherwise what was meant to be a picture of the exercise of concepts can depict only a play of empty forms« (McDowell 1996, 6). McDowell formuliert diesen Zusammenhang auch als den Gedanken, dass es zu einer Interaktion zwischen dem Begrifflichen und der sinnlichen Erfahrung kommen muss : »The idea is that beliefs or theo­ries are significant, non-empty, because of an interaction between the conceptual and the sensory« (McDowell 2009b, 115). Die Kritik, dass die Unterscheidung von Schema und Gehalt zu einem Dualismus wird, beinhaltet nun die Behauptung, dass diese vom Schemadenken unterstellte Interaktion nicht mehr verständlich werden kann – Davidson spricht von einer »Lücke« (gap), die nicht überbrückt werden kann (Davidson 2009e, 43). McDowells Neuansatz in Bezug auf Davidson besteht darin, dass er diese Lücke nicht als ein Pro­blem der richtigen Absicherung von Wissensansprüchen gegenüber den Skeptikern konzipiert. Er sieht in dieser Lücke ein Pro­blem der, wie es mit Kant formuliert werden kann, Möglichkeit des Wissens überhaupt. Der Unterschied scheint auf den ersten Blick nicht groß zu sein : Geht es nicht in beiden Fällen darum, dass wir nicht mehr verstehen können, wie wir Wissen von der Welt haben können ? Wie James Conant (2002, 2012 und 2003) aber deutlich macht, liegt hier ein kategorial ungleicher Zugriff auf die epistemologische Pro­blematik vor. Die erste Frage nach der Gewissheit des Wissens ist die Frage danach, wie wir unser gegebenes Wissen am besten rechtfertigen 130  |  Kritik der formalistischen Erfahrung 

können. Hier geht es darum, mögliche Zweifel an der Berechtigung eines vorliegenden Wissensanspruchs auszuräumen. Es wird davon ausgegangen, dass wir über ein Wissen oder eine Wahrnehmung von der Welt verfügen, und dann wird gefragt, wie sicher diese Annahme ist. Die zweite Frageperspektive hinterfragt jedoch selbst noch diesen Ausgangspunkt eines möglichen Gegenstands des Wissens. Sie sieht sich durch den Zweifel dazu gezwungen, die Möglichkeit des Wissens überhaupt in Frage zu stellen. Während in der ersten Perspektive gefragt wird, wie wir sicher sein können, dass dieses Wissen auch wirklich von jenem Gegenstand handelt, steht in der zweiten Perspektive in Frage, wie es überhaupt so etwas wie ein Wissen geben kann, das sich auf Gegenstände bezieht. Conant verbindet diese unterschiedlichen Frageperspektiven mit den Namen Kant und Des­cartes. Der »kartesische« Skeptizismus fragt demnach, wie wir wissen können, dass ein Wissensanspruch richtig ist – wodurch er als eine gerechtfertigte wahre Meinung aufgewiesen werden kann. Der »kantische« Skeptizismus, wie Conant es nennt, fragt weiter. Er stellt die radikalere Überlegung an, wie es denn angesichts der skeptischen Zweifel überhaupt so etwas geben kann, das wir noch als weltbezogenes »Wissen« verstehen. Die durch Kant bekannte Frage nach der Möglichkeit von Wissen über­ haupt zielt somit auf den vorausgesetzten und – nach kantischer Perspektive – nicht restlos aufgeklärten Begriff des Wissens. Obgleich Conants Etiketten treffend sind zur Illustration des Unterschieds, der mit der Kennzeichnung dieser beiden Formen des Skeptizismus eingefangen werden soll, lässt sich die Beziehung zwischen dem »kartesischen« und dem »kantischen« Skeptizismus auch allgemeiner als eine Reflexivierung des Zweifels beschreiben. Der kantische Zweifel ist ein reflexiver Zweifel, der den kartesischen Standpunkt auf sich selbst anwendet. Diese Logik findet sich auch in Conants Beschreibung. Demnach fängt der kartesische Skeptizismus seine Argumentation mit einem scheinbar optimalen Fall des Wissens an, von dem in der philosophischen Untersuchung gezeigt wird, dass selbst dieser optimale Wissensanspruch nicht begründbar ist. Er mündet somit in die Entdeckung einer Unfähigkeit. So schreibt Conant : »es sieht so aus, als würden wir etwas nicht kön­ nen« (Conant 2002, 202), nämlich unser doch vorhandenes Wissen in der Reflexion abzusichern. McDowells Neuperspektivierung der Erfahrung  |  131

Im kantischen Skeptizismus hingegen hat diese Unfähigkeit auch den Wissensbegriff selbst erfasst und damit schließlich auch verändert. Es geht nicht mehr darum, einen eigentlich optimalen Wissensanspruch möglichst geschickt zu verteidigen. Vielmehr zieht der kantische Skeptiker die reflexive Konsequenz, dass wir angesichts der Zweifel nicht mehr wissen, was wir noch als »Wissen« in Anspruch nehmen können und was nicht. Der reflexive Skeptiker distanziert sich somit nicht von einem spezifischen Anspruch auf Begründung, sondern von dem allgemeinen Anspruch, dass hier noch sinnvoll von Wissen die Rede sein kann. Er zweifelt nicht an spezifischen Inhalten, und sein Pro­blem ist auch nicht, dass er vielleicht »alle« Inhalte preisgeben muss – das Pro­blem ist vielmehr die selbstreflexive Wendung, dass gar nicht mehr klar ist, was es noch heißen kann, von »Wissen« oder »Denken« zu reden.102 § 61  Wir werden im Folgenden von Conants Terminologie abwei­ chen und den »kantischen« Skeptizismus in die allgemeinere Struk­ tur einer reflexiven Skepsis übertragen. Seine Unterscheidung zweier Varianten des Skeptizismus ist auch explizit keine scharfe Interpretationsthese zu Kant und Des­cartes. Conant legt mit ihr vielmehr eine Typologie unterschiedlicher Pro­blematisierungen des Weltbezugs vor, die dazu verhilft, oberflächlich gleichlautende Fragestellungen zu differenzieren.103 Freilich bieten Des­cartes’ Überlegungen einen guten Ausgangspunkt für den typologischen kartesischen Skeptizis Als »Gaslighting« wird das – im Film Gaslight exemplarisch dargestellte – Phänomen bezeichnet, die Ansichten, Überzeugungen und Gewissheiten einer Person systematisch zu hintertreiben, um diese dadurch in starke Selbstzweifel zu treiben. Diese auf den ersten Blick rein kognitive Unterminierung führt zu einer Verminderung der Selbstachtung und damit auch der Handlungsfähigkeit, und sie wird im Film auch genau zu diesem Zweck eingesetzt. Der Zweifel bleibt nicht bei rein epistemischen Fragestellungen stehen, sondern greift über auf die Fähigkeit des Handelns und Urteilens und damit auf die betroffene Person selbst. Vgl. dazu die Ausführungen von Beate Rössler (2017, 157–168), die auch eine autobiographische Bemerkung Simone de Beauvoirs zitiert, die von sich – nach dem Erlebnis einer Debatte, die all ihre Ansichten in Zweifel zog – schrieb : »Ich bin […] mir nicht mehr sicher […] überhaupt zu denken« (2017, 159). 103 Conants Typologie hat nicht den Anspruch, erschöpfend zu sein ; Conant erwähnt noch den »pyrrhonischen« Skeptizismus als eine weitere Variante des radikalen Zweifels. 102

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mus : Seine Meditationen beginnen ja mit der Überlegung, dass sich viele Urteile und Annahmen als falsch und unbegründet erwiesen haben, eine Überlegung, die dann wiederum verallgemeinert wird. Demnach reicht selbst bei optimalem Wissen die gegebene Evidenz nicht hin, um einen Wissensanspruch zu verteidigen – was genau dem Standpunkt des typologischen kartesischen Skeptikers entspricht. Da Des­cartes im weiteren Verlauf der Meditationen den Zweifel zu überwinden vermeint, ist er in dieser Hinsicht dann aber doch kein Beispiel mehr für einen »kartesischen« Skeptiker (so auch Conant 2002, 193). Aber nur in dieser Hinsicht. Die Art und Weise, wie der Zweifel in den Meditationen beruhigt wird, wiederholt noch einmal die Grundstruktur der kartesischen Skepsis : Es ist Gott und somit eine externe Instanz, die das zweifelnde Ich schließlich wieder stabilisiert. Ganz der Grundstruktur des kartesischen Zweifelns gemäß führen die Meditationen zum intellektuellen Frieden durch eine Instanz, die gleichsam von außen die Beziehung von Subjekt und Welt wieder herstellt. Des­cartes’ Argumentation schwankt hier charakteristisch zwischen moderner Selbstbestimmung und vormodernen Realismus : Auch wenn das cogito die göttliche Autorität reflexiv autorisieren muss – Gott tritt durch einen Beweis in die Argu­mentation ein –, so zielt dieser Beweis eben doch noch auf eine Absicherung, die das cogito sich selbst gegenüber nicht zu leisten vermag. Kennzeichen der kartesischen Skepsis ist eben diese Suche nach einem vermittelnden Dritten zwischen Geist und Welt. Der kantische Skeptizismus überbietet reflexiv den kartesischen Zweifel und verändert ihn zugleich. Auch für diese Operation lassen sich, wie bei dem kartesischen Verwandten, Beispiele beim Namensgeber selbst finden. In einer Passage, die Conant zitiert, führt Kant die kartesische Sorge, dass wir nur in einem Traum lebten, zu ihrer absurden Konsequenz. Mit ihr stehe letztlich zur Diskussion, so Kant, ob die menschlichen Wahrnehmungen nichts weiter »als ein blindes Spiel der Vorstellungen« seien – also nicht nur ein Traum, sondern »weniger, als ein Traum«.104 Ein Traum weist noch Formen auf, die verständlich sind, Begriffe, die eine Bedeutung haben. Für den reflexiv gewendeten Skep104

Conant (2002, 194) zitiert KrV A 112 (Hervorhebung von mir). McDowells Neuperspektivierung der Erfahrung  |  133

tizismus ist selbst diese Traumwelt nicht mehr selbstverständlich, und so wird die Frage nach dem empirischen Bezug sprachlicher Bedeutung, wie Conant (2002, 204) es treffend beschreibt, zu einer Art »Rätsel«, da Bedeutungen überhaupt nicht mehr begründbar zu sein scheinen. Hier wird kein Mangel mehr entdeckt, den es zu beheben gilt. Vielmehr ist unklar geworden, wie so etwas wie ein Reden über die Welt, ob es nun epistemisch korrekt ist oder nicht, überhaupt noch gedacht werden kann. Die durch die reflexive Skepsis erreichte Rätselhaftigkeit lässt sich als der Hinweis verstehen, dass etwas an den Grundbegrifflichkeiten nicht stimmt. Der reflexive Zweifel findet in der Pro­blemlage, die ihm vom kartesischen Zweifel weitergereicht wird, keinen Ausgangspunkt mehr, von dem aus eine methodisch geleitete Untersuchung noch fortschreiten könnte. Der von Kant erwähnte Eindruck eines »blinden Spiels der Vorstellungen« beschreibt eine im Wortsinne unheimliche Verwunderung, dass es überhaupt möglich ist, sich sinnvoll in der Welt zu orientieren. Hier geht es nicht darum, wo wir nun ›wirklich‹ leben : in einer Traumwelt, in einer digitalen Matrix oder in der Welt, die uns vertraut ist. Es steht vielmehr in Frage, wie scheinbar ›geistlose‹ Körper, Zeichen und sinnliche Eindrücke jemals rational bedeutsam sein können. Das ist eine instabile Position, da die Behauptung einer solchen Bedeutungslosigkeit ja schon Bedeutung in Anspruch nimmt. Doch das ist die Instabilität des Selbstwiderspruchs. Im reflexiven Zweifel ist das Vertrauen der Vernunft in sich selbst gebrochen.105 § 62  Die von Conant unterschiedenen Spielarten des Zweifels geben ein Mittel in die Hand, um McDowells und Davidsons jeweilige Interpretation des Dualismus von Schema und Gehalt voneinander abzugrenzen. Davidsons Kritik der Erfahrung geht durchweg von einem kartesischen Erkenntnisanspruch aus. Für ihn ist das Pro­blem, dass die Erfahrung als vermittelnde Instanz die gesuchte Ein Beispiel dieses Misstrauens der Vernunft in sich selbst ist die Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft, wo Kant davon spricht, dass die Vernunft sich unablässig selbst mit Fragen »belästigt« (KrV A vii), die sie nicht lösen kann – ein theoretisches Motiv, dass in den Antinomien dann explizit gemacht wird. Stanley Cavell liest auch Wittgensteins Philosophische Untersuchungen als »written in criticism of itself« (Cavell 1979, 3). 105

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Gewissheit nicht transportieren kann. Davidson zeigt, dass dieses Pro­blem im Schemadenken auftaucht, da dieses – wie oben ausführlich rekonstruiert – zu einer begrifflichen Neutralisierung der Erfahrung zwingt. Nur mit einem solchen neu­tralen Begriff der Erfahrung als »Gehalt« kann, wie wir gesehen haben, die gewünschte Pluralität und Flexibilität der Schematisierungen gewährleistet bleiben. Diese Neutralisierung führt jedoch zum Skeptizismus, da die neu­trale Erfahrung offen ist für alle möglichen Deutungen und so keine epistemische Gewissheit mehr vermitteln kann. Die Neutralisierung der Erfahrung eröffnet die innerhalb des Schemadenkens nicht mehr zu beruhigende Möglichkeit, so Davidson, »that we are systematically and generally deceived« (Davidson 2009e, 42). Die Erfahrung scheitert an der ihr zugewiesenen Rolle, korrigierende Evidenz zu liefern. Um Conants Vergleich dieser Art von Skeptizismus mit dem kartesischen Traumargument aufzugreifen : Was Davidson hier beschreibt, ist die Möglichkeit, dass wir in einem Zustand andauernder Täuschung leben, in einem ständigen Traum. Und diese Möglichkeit wird von Davidson dann in seinem eigenen Gegenentwurf zwar bestritten – doch unter expliziter Wahrung der kartesischen Grundpro­blematik. Die Mehrdeutigkeit der Erfahrung bedroht für Davidson nicht die Möglichkeit einer konsistenten Selbstbestimmung ; sie ruft nur nach ihrer sauberen methodischen Eindämmung. Davidsons Argumentation setzt sich zum Ziel, so beschreibt er sein Vorgehen, »to argue for an alternative approach to meaning and knowledge, and to show that if this alternative is right, skepticism could not get off the ground« (Davidson 2009a, 157). Davidson schlägt also vor, mit dem Erfahrungsbegriff den Angriffspunkt des skeptischen Zweifels zu entfernen, und verbleibt damit innerhalb des kartesischen Rahmens. Es ist also einerseits richtig, dass Davidson – wie es Thomas Grundmann und Karsten Stüber formulieren – die »Undenkbarkeit des skeptischen Szenarios« (Grundmann und Stüber 1996, 53) aufzeigt. Doch richtig ist dies nur in dem Sinne, dass Davidson eine Beschreibung des empirisch sensitiven Verstehens zu geben versucht, die durch eine Umfokussierung auf das Primat der Kommunikation den globalen Skeptizismus, für den es kein begründetes Wissen mehr gibt, vermeidet. Das skeptische Szenario ist in dieser McDowells Neuperspektivierung der Erfahrung  |  135

Konstruktion nicht wirklich »undenkbar«, sondern angesichts der »konstitutiven Standards der Ratio­nali­tät«, die das kommunikative Geschehen binden, unbegründet. Daher wird der Skeptiker nach der Davidson’schen Umbeschreibung auch fortgejagt – »one can tell the skeptic to get lost« (Davidson 2009a, 157), heißt es in einem Nachwort zur Kohärenztheo­rie der Wahrheit. Dieser Metaphorik zufolge ist der Skeptiker fehl am Platze ; er ist das Pro­blem. Er bringt im Grunde nur falsche (wenn auch herausfordernd falsche) Argumente. Wenn ein solcher Skeptiker verjagt werden kann, ist sein Aufenthaltsort – das spricht die Metapher aus – jedoch im Grunde unpro­blematisch. Davidsons Kartesianismus zeigt sich über seine Selbstverortungen hinaus vor allem in der Art und Weise, wie seine »Umbeschreibung« operiert. Davidson will dem Erfahrungsbegriff seine skeptische Potenz rauben, indem er die vom Empirismus geschaffene Doppelrolle auf verschiedene Instanzen des Verstehens verteilt. Für den Empirismus muss die Erfahrung, so ja Davidsons eigene Diagnose, von der Welt zugleich kausal verursacht werden und doch auch inhaltlich von ihr handeln. In dem Nachweis der Möglichkeit einer Trennung dieser Funktionen besteht nun das zentrale Anliegen von Davidsons eigener Philosophie. Die Theo­rie der »radikalen Interpretation« verteilt die kausale und die rationale Dimension, die der Erfahrungsbegriff in sich vereint, auf das Interpretationsgeschehen. Die von Davidson entworfene Grundsituation ist, dass sich Sprachbenutzerinnen qua Sprachverwender in der Situation einer Interpretin befinden, die die Äußerungen ihrer Mitmenschen auf dieselbe Wirklichkeit zu beziehen versucht, die sie selbst auch erlebt. Damit wird die kausale Rolle der Erfahrung verschoben in die für den Prozess der Interpretation leitende methodische Annahme, dass die Äußerungen des Gegenübers – zumindest in den grundlegenden Fällen – durch öffentlich zugängliche Gegenstände verursacht werden, die auch der Interpretin zugänglich sind (principle of charity). Wir verstehen die andere demnach, indem wir für uns diese Kausalbeziehungen zwischen diesen öffentlich zugänglichen Gegenständen und den Äuße­rungen der anderen rekonstruieren. Die epistemische Rolle der Begründung wiederum wird von dieser kausalen Bindung getrennt. Die Logik der Begründung verlagert Davidson auf die innersprachliche und 136  |  Kritik der formalistischen Erfahrung 

intersubjektive Ebene der diskursiven Rechtfertigung solcher Interpretationen : »nothing can count as a reason for holding a belief«, so heißt es prominent bei Davidson, »except another belief« (Davidson 2009a, 141). In der Konsequenz dieser alternativen Beschreibung, die kei­ nen Bedarf mehr hat für die epistemisch aufgeladene Konzeption der vermittelnden Erfahrung, rückt der Erfahrungsbegriff aus dem Zentrum der Diskussion. Für Davidson ergibt sich daraus, dass der skeptische Zweifel – die Provokation, alles Wissen und Erfahren sei eine Täuschung – nicht Fuß fassen kann. Wenn wir die öffentliche und intersubjektive Natur der Sprache einsehen, wenn wir also erkennen, dass wir qua Sprecher immer schon mit anderen über etwas sprechen, dann gebe es keinen Grund mehr für einen globalen Zweifel, der sich auf alle unsere Überzeugungen ausweiten kann. Wir haben unsere Überzeugungen ja nicht, so Davidson, weil wir einen rohen Gehalt interpretieren, sondern weil wir uns in einem intersubjektiven Prozess der Verständigung auf eine gemeinsam geteilte Welt beziehen, ohne die Sprache überhaupt nicht möglich wäre : Each speaker can do no better than make his system of beliefs coherent, adjusting the system as rationally as he can as new beliefs are thrust on him. But there is no need to fear that these beliefs might be just a fairy tale. For the sentences that express the beliefs, and the beliefs themselves, are correctly understood to be about the public things and events that cause them, and so must be mainly veridical. Each individual knows this, since he knows the nature of speech and belief (Davidson 2009b, 174).106

§ 63  Während Davidson also den Skeptizismus kartesisch interpretiert und auflöst, wendet McDowell den Zweifel reflexiv gegen sich selbst. Für McDowell gibt Davidsons soeben zitierte Versicherung, dass wir die kartesische These eines permanenten Traums (»just a fairy tale«) nicht fürchten müssen, dem dualistischen Denken noch zu viel Raum. Konkret wendet McDowell ein, dass Davidsons Kritik Vgl. auch : »If words and thoughts are, in the most basic cases, necessarily about the sorts of objects and events that commonly cause them, there is no room for Cartesian doubts about the independent existence of such objects and events« (Davidson 2009e, 45). 106

McDowells Neuperspektivierung der Erfahrung  |  137

des Dualismus notwendig inkohärent ist : Sie nimmt in Anspruch, was sie selbst nicht mehr erläutern kann – nämlich die Perspektivität des Verstehens. McDowell kritisiert Davidson somit in seiner zentralen Prämisse. Das Motiv zur Trennung von Schema und Gehalt ist ja die Annahme, dass sich in den unterschiedlichen Schemata ungleiche Standpunkte artikulieren können, gebundene Interpretationen ein und derselben Welt. Davidsons Argument gegen den Erfahrungsbegriff lässt sich daher so zusammenfassen, dass der Erfahrungsbegriff nicht verständlich machen kann, dass es sich hier um unterschiedliche Standpunkte in ein und derselben Welt handelt. Der Skeptiker schneidet gleichsam die Verbindung zur Welt ab, die der Erfahrungsbegriff des »Gehalts« garantieren soll. Davidson schlägt eine alternative Erklärung vor : Galt zuvor der empirische Gehalt als Garant für den Weltbezug der verschiedenen Standpunkte, soll nun der Prozess der externalistischen, intersubjektiv abgleichenden Interpretation diese Bindung in der Pluralität verbürgen. Mit dieser Strategie jedoch bleibt das eigentliche skeptische Pro­blem, so McDowells Einwand, unberührt.107 Die skeptische Pro­blematik kann nicht bei der kartesischen Diagnose stehen bleiben. Wenn wir den Gedanken ernst nehmen, dass jeder Wissensanspruch innerhalb eines Schemas bezweifelt werden kann, dann schlägt diese Diagnose auch auf die ursprüngliche Unterscheidung von »Schema« und »Gehalt« zurück und damit auf den Gedanken der Perspektivität überhaupt. Die Trennung von Schema und Gehalt hat ja einen Zweck : Sie soll erklären helfen, wie es trotz einer gemeinsamen Bezogenheit auf die Welt zu ganz unterschiedlichen Artikulationen kommt – nämlich indem wir den »Gehalt« jeweils anders schematisieren. Doch wenn diese Unterscheidung sich als inkonsistent erweist, dann kann auch nicht mehr davon ausgegangen werden, dass tatsächlich unterschiedliche Standpunkte existieren, in denen ein Weltbezug variiert wird.108 Diese Behauptung Der »kartesische« Umgang mit dem Wissenspro­blem gleicht dem, was Andrea Kern in ihrer Studie zu den Quellen des Wissens die »Strategie der Ermäßigung« (Kern 2006, 109) im Angesicht des skeptischen Zweifels nennt : Die skeptische Position wird nicht bestritten, sondern nur so variiert, das man mit ihr leben kann. 108 McDowells Einwand setzt voraus, dass die Unterscheidung von Schema 107

138  |  Kritik der formalistischen Erfahrung 

wird zu einer reinen Stipulation. So gesehen untergräbt sich der kartesische Skeptizismus schließlich selbst : Mit der Idee des Gegebenen, dem rohen Gehalt, fällt auch die Idee des Schemas, als eine autonome perspektivische Artikulation der Welt. Für Mc­ Dowell hat die Kritik am Dualismus von Schema und Gehalt daher die (im kantischen Sinne skeptische) Konsequenz, dass der Gedanke eines weltbezogenen Standpunkts überhaupt unverständlich wird. Standard scepticism [d. i. der kartesische Skeptizismus] takes for granted that we have a world view, and merely questions whether we are entitled to it. The dualism [of scheme and content], on my reading, generates a much more radical anxiety about whether we are in touch with reality. Within the dualism, it becomes unintelligible that we have a world view at all (McDowell 2009b, 121).

§ 64  Die grundsätzliche Bewegung, die McDowells Kritik hier vollzieht, ist die Erweiterung der (»kartesischen«) Idee der Kritik hin zu einer (»kantischen«) reflexiven Selbstkritik. Der Kollaps des Schemadenkens ist der Kollaps des Formalismus. Der Formalismus glaubt, eine autonome Perspektive auf die Welt einnehmen zu können, unabhängig davon, wie diese Perspektive in den konkreten empirischen Aussagen artikuliert wird. Doch der Begriff einer Perspektive setzt voraus, was der Skeptiker leugnet : einen Weltbezug. Nun ließe sich einwenden, dass hier kein echter Widerspruch besteht, da wir uns gewiss sein können, dass wir faktisch mit der Welt in Verbindung stehen. Genau darin besteht ja die Gegenstrategie Davidsons : Wir sind demnach mit der Welt kausal immer schon verbunden und verfügen daher über einen stabilen Weltbezug, der vom Skeptiker nur falsch beschrieben wird. Der Skeptiker habe uns nur die Berechtigung (McDowell : »entitlement«) entzogen, weiterhin so zu reden, als bezöge sich unser Wahrnehmen und Denken auf die Welt ; eine angemessene philosophische Replik jedoch könne uns diese Berechtigung wieder zurückholen.109 und Gehalt nicht a priori gegeben sein kann – eine Position, die er mit Davidson teilt und die das ganze postanalytische Denken prägt. 109 Diesen Übergang vom kartesischen zum kantischen Skeptizismus beschreibt – ohne dabei auf diese Bezeichnungen zurückzugreifen – auch David Lauer (in Bertram et al. 2008, 275). McDowells Neuperspektivierung der Erfahrung  |  139

Aber diese Strategie ist für McDowell wenig überzeugend. Das Pro­blem ist, dass die kausale Beziehung nur behauptet werden kann, nicht aber belegt. Die Davidson’sche Interpretin verfügt nur über beliefs, deren Mehrzahl dann, wie McDowell es formuliert, eine »causal ancestry« (McDowell 2009b, 125) haben sollen. Doch diese kausale Vorgeschichte ist selbst wieder nur eine Behauptung, die unter kritischem Vorbehalt steht, und kann daher nicht als Beleg dafür dienen, dass es sich bei der eingenommenen Perspektive tatsächlich um eine solche handelt. Die dualistische Unterscheidung zwischen kausalem Einfluss und rationaler Reflexion wiederholt damit den Fehler des Schema-Gehalt-Dualismus : »The dualism … undermines the capacity of the supposed evidence to be seen as evidence at all, weak or strong« (ebd., 123). Es ist nicht mehr verständlich, so McDowell, dass es sich bei diesen legitimierenden Zügen überhaupt noch um rationale Züge handelt, in denen eine Sicht auf die Welt korrigiert wird. Damit wird die Behauptung, überhaupt einen Standpunkt in der Welt einzunehmen (für die nur noch die richtige Erläuterung nachgereicht werden muss), zu einer leeren Versicherung.110 § 65  McDowells Argument lässt sich noch systematisch vertiefen. Hinter dem Pro­blem des Verhältnisses von Vernunft und Welt steht die Frage, wie die kritische Selbstreflexion verstanden werden kann. Der Fehler des Formalismus ist, die kritische Reflexion auf die eigenen Überzeugungen, Annahmen oder eben auch Erfahrungen als eine rein interne, selbstbezogene Operation zu verstehen. Dabei ist diese Position auf den ersten Blick durchaus plausibel. Schließlich ist die Reflexion zeitlich gesehen immer ein zweiter, ein nachträg Conants »Kantischer Skeptizismus« kann aufgrund dieser Reflexivität auch nicht als eine Variante des »therapeutischen« Skeptizismus angesehen werden, den Grundmann und Stüber (1996, 30) in Anschluss an Michael Williams als eine von vier möglichen Reaktionen auf den Skeptizismus sehen. Diese »Therapie« besteht darin, die Unsinnigkeit des globalen Skeptizismus zu behaupten, z. B. durch den Nachweis der konstitutiven Kontextabhängigkeit alles Wissens. Im Unterschied dazu nimmt der kantische Skeptizismus den kartesischen Zweifel ernst und begreift ihn als den Hinweis, dass die eigenen Begriffe nicht stimmen – er begreift den Skeptizismus also als Ausdruck eines »Widerstreits der Vernunft mit sich selbst«, wie es Kant formuliert, der nur gelöst werden kann durch einen Neuansatz. 110

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licher Schritt, der bereits einen Gegenstand voraussetzen muss, auf den reflektiert wird. In dieser Reflexion wird auf den Gegenstand urteilend Bezug genommen : Er wird geprüft, mit anderen Inhalten in Verbindung gesetzt, analysiert oder hinterfragt ; oder er wird einfach akzeptiert und hingenommen. Wir haben also zuerst einen Gegenstand vorliegen, auf den dann Bezug genommen wird ; das Verfügen über einen Gegenstand und seine Reflexion sind getrennt zu behandeln. Die skeptische Frage nach der Möglichkeit von Gehalt überhaupt zeigt jedoch, dass gerade diese Unterscheidung von ›Gegenstand‹ und ›Reflexion‹ nicht so stabil ist, wie es den Anschein haben mag. Das Pro­blem ist die Möglichkeit der Korrektur des Gegenstands und damit eine Operation, die im Zentrum der modernen Auffassung der Autonomie steht. Die Grundidee der kritischen Ratio­nali­tät ist ja, dass die dem Denken ›gegebenen‹ Gegenstände eben nicht dogmatisch gegeben sind. Sie unterstehen einer Neuauslegung, einer kritischen Prüfung. Die erfolgreiche Kritik hat somit zur Konsequenz, dass (mindestens) zwei Möglichkeiten im Raum stehen, den Gegenstand zu verstehen. Diese Mehrzahl von Auffassungen führt dann zu einem Pro­blem, das inzwischen wohlbekannt sein sollte : Wie lässt sich der Anspruch verteidigen, dass es sich bei diesen beiden Auffassungen des Gegenstandes auch tatsächlich um Auffassungsweisen desselben Gegenstandes handelt ? Nur unter dieser Bedingung ist es ja möglich, die Korrektur auch als eine sachbezogene Kritik zu begreifen, als eine Korrektur der Art und Weise, wie der Gegenstand zu verstehen ist. Wenn die Kritik sich also nicht selbst missverstehen will, muss sie eben diesen Sachbezug begründen können. Wir haben nun also eine Mehrzahl von potenziellen Auffassungs­ weisen eines Gegenstandes vorliegen – eine Situation, die genau dem gleicht, was Davidson als Schemadenken bezeichnet. Im Schemadenken soll der Begriff der Erfahrung diesen Sachbezug begründen, der allen Perspektiven gemein ist und sie als Perspektiven auszeichnet. McDowells eigentlicher Einwand ist nun, dass dieser Sachbezug aber unter formalistischen Bedingungen nicht mehr nachträglich begründend eingeholt werden kann. Die Reflexion, die vom Gegenstand unabhängig gedacht wird, findet nach dem skeptischen Zweifel nicht mehr zurück zum Gegenstand. Nicht, weil sie den falschen Grund nennt (zum Beispiel den Begriff der Erfahrung). McDowells Neuperspektivierung der Erfahrung  |  141

Sondern weil die Begründung selbst so vorgestellt wird, als sei sie selbst keine Form des Weltbezugs, sondern nur eine weltunabhängige Art und Weise, mögliche Weltbezüge (also empirische Gehalte) zu identifizieren. Die paradoxe Feststellung, dass überhaupt nicht mehr klar ist, dass wir überhaupt über einen gehaltvollen Stand in der Welt verfügen, lässt im Grunde nur die anfängliche Paradoxie des Formalismus sichtbar werden : Die Selbstwidersprüchlichkeit des Leitgedankens, dass die Reflexion selbst kein Teil der Welt ist, sondern diese immer erst noch erschließen muss. Die reflexive Zuspitzung verweist auf die Notwendigkeit einer Korrektur des Wiener Ideals der flexiblen Vernunft und der damit verbundenen Autonomie (Quines durch Subtraktion isolierbare »man’s conceptual sovereignty«). Es bildet den Rahmen, der auch das Schemadenken informiert. In diesem Rahmen wird danach gefragt, wie das begrifflich organisierte Verstehen von einer Welt informiert wird, die außerhalb des begrifflichen Verstehens liegt. In diesem Verständnis kann die Erfahrung nur neu­trale Daten zur Verfügung stellen und lädt so die ganze epistemische Bürde des »Mythos des Gegebenen« auf sich. Auch Davidson übernimmt diese kategoriale Rahmung, denn seine Reduktion der epistemischen Abhängigkeit von der Welt auf die kausale Dimension versucht gerade dieser Neutralität auf eine andere Art gerecht zu werden. Doch wir können mit McDowell nicht darauf hoffen, die im Schemadenken artikulierte Perspektivität durch eine alternative Erklärung zu retten, die den schwierigen Erfahrungsbegriff einfach umgeht und das formalistische Bild der Ratio­nali­tät unberührt lässt. Es geht nicht mehr darum, wie berechtigt wir sind, eigene Erfahrungen als Grund für epistemische Behauptungen heranzuziehen. Es muss darauf reflektiert werden, wie so etwas wie Gehalt überhaupt noch gedacht werden kann – »the very idea of content«, wie es McDowell (2009b, 126) formuliert.111 Um die Idee des Gehalts zu bewahren, plädiert McDowell in der zitierten Passage für einen »basic empiricism« (McDowell 2009b, 126). Ein zentraler Einwand des folgenden Kapitels ist, dass auch der minimale Empirismus weiterhin die falsche Antwort auf McDowells richtige Pro­blemdiagnose darstellt. Die von ihm gesuchte Reibung mit der Welt darf nicht auf der Ebene des begrifflichen Gehalts angesetzt werden kann, sondern erfordert eine andere – nicht-deklarative – Konzeption der Erfahrung. 111

142  |  Kritik der formalistischen Erfahrung 

Rehabilitierung der Objektivität Die Wirklichkeit der Vernunft § 66  Mit McDowells Kritik an Davidson ist die hier verfolgte Diskussion einen entscheidenden Schritt weiter gekommen. Wir haben uns dieser Kritik zugewandt, um die Frage zu klären, was genau das Pro­blem des Formalismus ist, wie er im Wiener Kreis exem­pla­ risch, mit großem Einfluss auf die anschließende postanalytische Debatte, artikuliert wurde. Mit Blick auf die Vielfalt von Positionen, die sich gegenüber dem Logischen Empirismus als kritische »Postformalismen« einordnen lassen, wurde ein systematischer Leitfaden gesucht. Er soll helfen, den Misserfolg des Formalismus zu verstehen, und er soll zugleich ein Kriterium an die Hand geben, um den Erfolg eines möglichen Postformalismus einzuschätzen. McDowells Formalismuskritik gibt uns nun einen solchen Leitfaden an die Hand, den er auch selbst immer wieder benennt : Der Formalismus scheitert daran, die Freiheit der kritischen Vernunft zu etablieren.112 Das moderne Ideal rationaler Autonomie – der Gedanke, dass die kritische Vernunft prinzipiell jeden Wissensanspruch revidieren kann – ist eine Artikulation von Freiheit. Der Formalismus verteidigt diese Freiheit, wenn er das Ideal der Kritik verteidigt. Kritik setzt Freiheit im positiven wie im negativen Sinne voraus : Sie nimmt die Freiheit in Anspruch, sich durch Gründe selbst zu bestimmen, und sie nutzt diese Freiheit, um Wissensansprüche zurückzuweisen und sich von ihnen zu distanzieren. Bei Kant und der postkantischen Philosophie des 19. Jahrhunderts ist die zentrale Rolle, die der Freiheitsbegriff für eine Artikulation moderner Autonomie spielt, noch deutlich im Bewusstsein. In der epistemisch orientierten Diskussion des 20. Jahrhunderts, wie sie hier im Mittelpunkt steht, wird sie jedoch selten gesondert diskutiert.113 Vgl. etwa die erste Vorlesung von Mind and World (McDowell 1996) sowie die Aufsätze 5, 11 und 14 in Having the World in View (McDowell 2009a). 113 Der Wiener Kreis thematisiert meines Wissens nirgendwo die Freiheit 112

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Einer der Gründe dafür ist, dass der Anspruch auf Kritik und die damit verbundene Autonomie sich als der Anspruch der Autonomie der Wissenschaften um die Jahrhundertwende bereits längst institutionell etabliert hat. Während Kant noch die Notwendigkeit sah, die Philosophie auf den sicheren Pfad der Wissenschaft zu bringen, ordnet der Wiener Kreis rund hundertfünfzig Jahre später die Philosophie bereits ganz selbstverständlich den Naturwissenschaften – als ihre logische Seite – zu. Damit stellte er sich unter das Dach der Institution Wissenschaft, die im 19. Jahrhundert zunehmend Selbständigkeit für sich reklamiert und gewonnen hat.114 Als Teil dieser Institution hat die Frage, wie diese Freiheit in der Welt verwirklicht wird, keine große Relevanz mehr ; sie scheint im Zweifel durch die existierende Praxis und ihrem politisch-institutionellen Anspruch auf Selbständigkeit und Wertfreiheit bereits beantwortet zu sein. Der wichtigere Grund dafür, dass die rationale Freiheit im Logi­ schen Empirismus implizit bleibt, ist das von ihm vertretene Freiheitsverständnis selbst. Es konzipiert Freiheit ausschließlich negativ : als eine Form der Unabhängigkeit von allen empirischen (und materiellen) Bedingungen.115 Eben diese Annahme drückt sich in der formalistischen Grundthese aus, dass die logische Form des Denkens, und damit die Freiheit kritischer Reflexion, für sich genommen keinen inhaltlichen Bezug zur Welt aufweist. Obgleich Davidson sich in vielen Punkten vom Logischen Empirismus entfernt, hält auch er die Freiheit des Rationalen für etwas, das immer schon gegeben ist und sich etwa in der sprachlichen Tätigkeit der Interpretation aktualisiert. Sein Bezugspro­blem bleibt das skeptials Ingrediens der rationalen Autonomie. Davidson thematisiert in seinem »Anomalen Monismus« die Freiheit als eine Beschreibungsform der Natur und setzt wie der Wiener Kreis die absolute Freiheit der radikalen Interpretation schlicht voraus. 114 Die Autonomieforderung ist immer auch ein institutionell erhobener Anspruch, der durchaus im Konflikt mit der Praxis der Forschung und ihren anderen Interessen steht. Peter Dear 2005 bezeichnet diese institutionelle Autonomieforderung – die er negativ fasst als den Anspruch auf Zwecklosigkeit der Forschung – als die seit dem 19. Jahrhundert dominierende »ideology of modern science«. Für eine soziologische Ausdifferenzierung des Konflikts von Selbstbestimmung und Zweckdienlichkeit in den Wissenschaften vgl. Kaldewey 2013. 115 Zu der Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit vgl. Taylor 1992. 144  |  Rehabilitierung der Objektivität 

sche Szenario, wonach die freie Vernunft die ihr unfrei gegebenen Überzeugungen und Eindrücke richtig deuten muss. Die epistemologische und sprachphilosophische Aufgabe ist es dann, der Interpretation die richtigen Zügel anzulegen ; ihre Freiheit wird vorausgesetzt.116 Die Parallelen zwischen dieser Auffassung und dem institutionellen Selbstbild der Wissenschaft als prinzipiell autonome Tätigkeit sind deutlich : Es wird davon ausgegangen, dass der Vollzug des Denkens in einer Sphäre liegt, in der rationale Freiheit bereits realisiert ist. Diese Freiheit wiederum soll darin bestehen, dass die Denkvollzüge prinzipiell von »äußeren« Faktoren frei sind und somit nur sich selbst (und damit der Sache) verpflichtet sind. Bei der Institution Wissenschaft heißt dies, dass ihre Freiheit vor allem in der Abwesenheit von sachfremden, z. B. politischen Einflüssen bestehen soll. Der Formalismus nimmt dieses Freiheitsverständnis in Anspruch, insofern er die kritischen Tätigkeiten der Vernunft allein in ihrer logischen Geltungsdimension und damit nicht als Tätigkeiten in der Welt thematisiert.117 Die formalistische Trennung von Form und Inhalt ist damit bereits eine Konzeption von rationaler Freiheit und muss sie daher auch nicht eigens thematisieren. Kritische Vernunft besteht nach diesem formalistischen Verständnis in der vorausgesetzten Möglichkeit, »full autonomous control« über ihre eigenen Inhalte auszuüben, wie es McDowell (1998a, 408) formuliert. Das Resultat des letzten Kapitels ist jedoch, dass diese Isolation der autonomen Vernunft in den Dualismus von Geist und Welt führt. Gerade die Bindungslosigkeit der absoluten Freiheit, die der Formalismus behauptet, lässt das formalistische Verständnis der Autonomie in sich zusammenfallen. Sie erzeugt nicht nur den modernen epistemologischen Skeptizismus, den Davidson noch auszuhebeln versucht – sie lässt in reflexiver Steigerung die Idee Neben den Ausführungen zu Davidson im letzten Kapitel vgl. dazu auch etwa seine Bemerkung : »From a formal point of view, the principle of charity helps solve the pro­blem of the interaction of meaning and belief by restraining the degrees of freedom« (Davidson 2009a, 148 f.). 117 Diese Diagnose deckt sich mit der Feststellung im vorigen Kapitel, dass der Wiener Kreis die Praxis der Forschung nicht für ein philosophisch relevantes Pro­blem hält. Für Davidson spielt die Praxis zwar eine wichtige Rolle, doch auch nur wieder in ihrer Funktion als Einschränkung der prinzipiellen Freiheit der Interpretation, etwa durch Triangulation oder das principle of charity. 116

Die Wirklichkeit der Vernunft  |  145

eines welthaltigen rationalen Standpunktes überhaupt in sich kolla­ bieren. Die formalistisch verstandene Ratio­nali­tät erweist sich, so ­McDowell, als eine »fantasy« (McDowell 1998a, 408), da sie nicht mehr imstande ist, sich überhaupt als Standpunkt in der Welt auszuweisen. Die Idee einer weltlosen rationalen Autonomie läuft ins Leere und kann nicht aufrechterhalten werden. § 67  Wie sieht angesichts dieser Kritik eine Alternative zum formalistischen Vernunftbegriff aus ? Die Richtung, in der eine solche Alternative gesucht werden muss, ist vorgegeben. Wenn der formalistische Begriff rationaler Selbstbestimmung scheitert, dann muss die kritische Ratio­nali­tät anders konzipiert werden – nämlich als eine in die Welt integrierte oder, wie ich es nennen möchte, situierte Vernunft. In Ablehnung der formalistischen Isolation muss die situierte Vernunft dezidiert als ein Teil der Welt begriffen werden, auf die sie reflektiert. Eine solche Konzeption situierter Vernunft jedoch steht vor dem Pro­blem, wie sie die formalistische Isolation des Denkens zurücknehmen kann, ohne dabei die kritische Dimension der Vernunft selbst gleich mit aufzugeben. Eine Situierung des Denkens führt zwangsläufig dazu, dass die Vernunft auch von der Situation – oder allgemeiner von der Welt, als deren Teil sie agiert – abhängig ist. Nicht nur im Sinne einer Abhängigkeit der Gehalte, wie sie hier die ganze Zeit vorausgesetzt wurde. Vielmehr ist die These ja, dass die Vollzüge des Denkens selbst situiert gedacht werden müssen. Wie kann die Vernunft aber noch mit dem Anspruch auf Selbständigkeit auftreten, wenn ihre genuinen Akte der Kritik als unselbständige Akte gelten müssen ? Herbert Schnädelbach (2007) gibt dieser Sorge beispielhaft Ausdruck. Er sieht in der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts eine philosophische Entwicklung um sich greifen, die er als »Dezen­ trierung der Vernunft« (ebd., 120) bezeichnet. Er spricht damit die Kritik an der Transzendentalphilosophie an : Hermeneutik und Historismus, Husserls Phänomenologie der ›Lebenswelt‹ und Wittgensteins Spätphilosophie sind nach Schnädelbach allesamt Positionen, für die Vernunft eine »Funktion von etwas [ist], was nicht selbst schon Vernunft, aber das wahre Zentrum ist« (ebd., 116). Sprache, Geschichte oder Gesellschaft fungieren als eine vernunftlose Basis, 146  |  Rehabilitierung der Objektivität 

von der aus die kritischen Leistungen der Vernunft »allererst möglich und verständlich würden« (ebd., 130). Schnädelbach entwirft das Bild einer funktionalen Reduktion des Denkens, die es seiner Selbständigkeit beraubt, da das »wahren Zentrum« des Denkens nicht mehr vom Denken selbst erreicht wird. Als Vorläufer und Musterbeispiel dieses Vorgehens sieht Schnädelbach Schopenhauer, dessen Welt als Wille und Vorstellung das Denken dem lebendigen »Willen« unterwirft. Schnädelbachs Deutung kann jedoch nicht akzeptiert werden. Sie ist nur plausibel vor dem Hintergrund eines Vernunftverständnisses, dessen Grenzen wir am Formalismus soeben aufgewiesen haben. Aber sie zeigt, dass die Situierung der Vernunft mit einem systematischen Pro­blem konfrontiert ist. Aus der Innenperspektive der Selbstkritik der Vernunft scheint die Situierung der nötige Schritt zu sein, um dem Gedanken der Autonomie wieder Plausibilität zu verleihen. Wenn der Formalismus daran scheitert, die Möglichkeit empirischen Gehalts überhaupt zu erläutern, dann ist die von ihm negierte Abhängigkeit von der Welt eine objektiv erforderliche Bedingung zur Wiedergewinnung des Weltbezugs. Die menschliche Vernunft muss ihre Urteile nicht erst reflexiv autorisieren, um Objektivität in Anspruch zu nehmen. Sie ist vielmehr selbst ein objektiver Stand in der Welt, und der philosophische Kardinalfehler ist die Auffassung, dass diese Objektivität gleichsam unter Rechtfertigungsdruck steht und einer Verteidigung bedarf. Die rationale Freiheit versteht sich falsch, wenn sie glaubt, auf jede Form von Abhängigkeit verzichten und sich als völlig ungebunden verstehen zu können. Das ist der Stand der bisherigen Diskussion. Doch die nun eingeforderte Stabilisierung hat einen Preis, den Schnädelbach auf den Begriff bringt. Die Abhängigkeit, die in der Innenperspektive stabilisierend wirkt, muss aus der Außenperspektive wie eine Einschrän­ kung und schließlich sogar wie eine systematische Verzerrung der Möglichkeiten des Denkens wirken. Das ist der Kern von Schnädelbachs Behauptung einer funktionalistischen »Dezentrierung« der Vernunft. Während auf der einen Seite die Situierung eine Bedingung benennt, unter der welthaltiges Denken überhaupt erst wieder verständlich wird, läuft dieselbe Operation Gefahr, die Selbständigkeit des Denkens zu unterlaufen. Das ist die systematische Die Wirklichkeit der Vernunft  |  147

Spannung, die durch das Desiderat einer Situierung der Vernunft entsteht. Wir diskutieren sie in diesem Kapitel am Beispiel von ­McDowells eigenem Vorschlag, wie der von ihm diagnostizierten Weltlosigkeit des Denkens am besten begegnet werden kann. § 68  McDowells Position ist vor allem deshalb instruktiv, weil sie diese Spannung bewusst austrägt. McDowell entwirft einen Realismus des Weltbezugs, der den epistemischen Zugang zur Welt, wie auch das Denken allgemein, als Teil der objektiv gegebenen Natur fasst.118 Zugleich beharrt er darauf, dass in diesem realistischen Rahmen durchaus das moderne Verständnis autonomer Kritik und selbständiger rationaler Freiheit verteidigt werden kann. Für McDowell ist es also möglich, die Abhängigkeit des Denkens von der Welt (von der Sprache, der Geschichte, der Natur) aufzuzeigen, ohne dadurch die Vernunft zu »dezentrieren« oder funktionalistisch zu reduzieren. Mehr noch : In konsequenter Fortführung der Kritik am Formalismus vertritt McDowell die Auffassung, dass erst die recht verstandene Situierung der Vernunft den im vorigen Kapi­ tel vorgestellten reflexiven Zweifel an der Möglichkeit des empirischen Gehalts zerstreuen kann. Die empirischen und natürlichen Abhängigkeiten des Denkens zeigen für McDowell nicht dessen Ohnmacht an, sondern ermöglichen überhaupt erst seine Freiheit und Selbständigkeit. Verschaffen wir uns eine erste Übersicht über McDowells eigene philosophische Position, um diese Spannung zwischen Realismus und Kritik genauer zu verorten. Am deutlichsten spricht sie sich vielleicht in einer der Selbstbeschreibungen aus, mit denen ­McDowell sein philosophisches Anliegen zusammenfasst : Ihm gehe es um eine »Rehabilitierung« der Objektivität.119 Dieser Metapher lässt Der Realismus wird oft als die These erläutert, dass die Welt unabhängig von unseren Akten der Erkenntnis existiert – als die These der Denkunabhängigkeit der Welt. Doch wie Markus Willascheck betont, ist das eigentliche Pro­ blem des Realismus »nicht die Unabhängigkeit, sondern die (intentionale und epistemische) Zugänglichkeit einer denkunabhängigen Wirklichkeit« (Willaschek 2003, 1). McDowells Naturalisierung der Vernunft ist in diesem Sinne zu verstehen : Unser Zugang zur Welt ist wirklich, da wir als vernünftige Wesen von Natur aus einen solchen Zugang haben. 119 Der Artikel »Towards Rehabilitating Objectivity« (McDowell 2000) verteidigt diese Idee gegen Rorty. 118

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sich ein präziser Sinn entnehmen : Eine Angeklagte wird politisch rehabilitiert, wenn sich herausstellt, dass ihre Verurteilung ein Fehler, ja Unrecht gewesen ist. Sie hätte von Anfang an erst gar nicht vor Gericht stehen dürfen. In eben diesem Sinne möchte McDowell den Gedanken der Vernunft als objektiven Stand in der Welt reha­ bili­tie­ren. Im Lichte der Diagnose, dass der Formalismus seinen eigenen Stand in der Welt nicht mehr kohärent als eine objektive Per­spektive artikulieren kann, ist eine »Rehabilitierung« der Objektivität, wie McDowell sie anstrebt, nicht mehr und nicht weniger als eine Rehabilitierung der Ratio­nali­tät überhaupt. Diese Metapher trifft ­McDowells Vorgehen besser als verwandte Selbstbeschreibungen, in denen er sein Vorgehen mit Verweis auf Wittgenstein als »Quietismus« oder als »philosophische Therapie« beschreibt. Die erfolgreiche Rehabilitation ist nicht das Ende des Gerichtswesens, noch wird bei der Rehabilitation auf Urteile verzichtet. Sie kann aber dazu führen, dass bestimmte Fragen – wie etwa die skeptische Frage nach der Möglichkeit objektiven Weltbezugs – zu den Akten gelegt werden. An der Metapher der ›Rehabilitierung‹ zeigt sich zugleich auch, dass die Spannung zwischen Kritik und Realismus auch ein genuin modernes Pro­blem ist. Hier nimmt die Metapher einen modernekritischen Zug an. Eine Rehabilitierung bedeutet, den Zustand vor dem Fehlurteil wieder herzustellen. Das bedeutet in unserem Zusammenhang, dass bestimmte Aspekte der Moderne für das Fehlurteil verantwortlich gemacht werden. Für McDowell ist die Moderne selbst, in Form einer ihrer wichtigsten Errungenschaften, den Naturwissenschaften, der Grund dafür, dass eine Rehabilitierung der Objektivität überhaupt notwendig wird. Die wissenschaftliche Revolution und der damit verbundene Wandel im Naturbegriff haben demnach maßgeblich zum pro­blematischen Verhältnis von Geist und Welt beigetragen. Die naturwissenschaftliche (und technische) Entzauberung der Natur lässt erst den Formalismus gleichermaßen attraktiv wie uneinlösbar werden. Im modernen Naturverständnis ist der Gedanke einer Freiheit in der Natur unverständlich geworden, da die spezifische rationale Verbindlichkeit von Regeln und Prinzipien in ihr keinen Platz mehr findet. Wo die Natur selbst von jeder Bedeutung befreit ist, geht sie auf Distanz zum Menschen. Unsere Werte, Regeln und Die Wirklichkeit der Vernunft  |  149

Bedeutungen wirken wie Fremdkörper in einer Natur, die nach dem Prinzip von Gesetz und Ereignis organisiert gedacht wird. Der Formalismus ist, wenn wir diesen Gedanken McDowells weiterführen, nur die affirmative philosophische Durchführung einer Programmatik, die in dieser modernen Entfremdung von Geist und Welt bereits angelegt ist. Das moderne Naturverständnis ist für McDowell daher zwiespältig zu bewerten. Obwohl es ein »hard-won achievement of human thought« (McDowell 1996, 70) darstellt und nicht zurückgenommen werden kann, führt seine Verallgemeinerung zu eben jener Entfremdung von Geist und Welt, für die der Formalismus symptomatisch ist. Und es ist der Erfahrungsbegriff, an dem dieser Konflikt ausgetragen wird : In einer vollständig entzauberten Natur können Erfahrungen, die als sinnliche Ereignisse ja immerhin »transactions in nature« (ebd., xx) sind, eben nur noch als rohe Daten gelten (z. B. als Nervenimpulse), die nach dem Überschreiten einer schwer zu bestimmenden Grenze von der Vernunft schematisiert und damit intelligibel gemacht werden. McDowell sieht somit die Wurzeln des von Davidson diagnostizierten Schema-Gehalt-Dualismus in dem historischen Aufstieg der modernen Naturwissenschaft (McDowell 2009b, 128). Dieser Diagnose entsprechend muss eine Situierung der Vernunft dieses Naturverständnis, oder zumindest seinen onto­logischen Anspruch, revidieren. Genau darin besteht McDowells Strategie : Er weist die Annahme zurück, die Natur erschöpfe sich in dem, was Gegenstand der Naturwissenschaften ist oder sein kann. Auch die menschliche Vernunft und die durch sie ermöglichte Freiheit lassen sich als ein Teil derselben Natur verstehen, auf die sich auch die Naturwissenschaften beziehen. Diese Ausweitung wird durch den Begriff der zweiten Natur markiert, der die spezifisch menschliche natürliche Lebensform zum Ausdruck bringt – die gattungsspezifische Art und Weise des Menschen, ein Tier zu sein. McDowell nimmt starke Anleihen bei Aristoteles und der tugend­ ethischen Prämisse, dass Tugenden praktisch, also im Vollzug, erworben werden. Diese Strategie hat eine formalismuskritische Pointe : Wenn wir die menschliche Ratio­nali­tät nach dem Muster praktischer Klugheit verstehen, dann muss ihre Objektivität nicht mehr nachträglich in der Reflexion abgesichert werden. Sprechen, 150  |  Rehabilitierung der Objektivität 

Wissen, Denken, Urteilen – all diese geistigen Aktivitäten lassen sich dann als ein konstitutiver Teil der spezifisch menschlichen Lebensform ansehen. Und als Teil der Natur des Menschen gelten sie dann auch als objektive Weisen des Weltbezugs, die dem Menschen durch seine Natur gegeben sind : »Thinking and knowing«, so ­McDowell, »are part of our way of being animals« (McDowell 2009a, 261). Indem die Vernunft als zweite Natur begriffen wird, in die der Mensch hineinwächst, lasse sich gegen den Formalismus die objektive Wirklichkeit der Vernunft und ihrer Freiheit denken – so McDowells These. § 69  Ein wichtiger Aspekt der ›Rehabilitation‹ der Vernunft ist somit die Rehabilitierung eines Naturverständnisses, das McDowell durch die modernen Naturwissenschaften zurückgedrängt sieht. Dieser revidierte Naturalismus ist noch keine Distanznahme zu der Moderne. Ganz im Gegenteil : McDowell will bewusst das wissenschaftliche Verständnis der Natur als »realm of law« bewahren ; er weist es nur in seine Schranken. Diese Anerkennung der Deutungsmacht der Naturwissenschaften bei gleichzeitiger Relativierung ihres Anspruchs ist wiederum ein genuin moderner Zug, begreift sie doch die Naturwissenschaften und das mit ihr assoziierte Bild der Natur als eine Perspektive unter anderen.120 Gleichwohl nimmt McDowells Rehabilitierung der Objektivität dann doch ausgeprägt modernekritische Züge an. Dies wird besonders deutlich, wenn McDowell seine Position als einen »naturalisierten Platonismus« (McDowell 1996, 91) beschreibt. Sie ist ein Rea­ lismus, aber kein Realismus in einem modernen Sinne. McDowell erklärt das Erkennen mit einer Argumentation, die in philosophiehistorischen Einordnungen üblicherweise eher dem vormodernen Denken zugeschrieben wird. Charles Taylor etwa beschreibt das antike Verständnis der Vernunft als die Auffassung, dass die Vernunft ein erkennendes Licht in die Welt werfen kann, weil sie an einer Ordnung teilhat, die unabhängig von ihr besteht. Ein solcher Entsprechend stelle eine immer wiederkehrende Kritik an McDowell die Frage, ob die Naturwissenschaften wirklich nur eine Perspektive sein können und ob eine konsequentere Naturalisierung in McDowells Sinne nicht stärker die Kontinuität von Natur und Vernunft betonen muss, wie es etwa die Teleo­ semantik verspricht. Vgl. dazu Macdonald 2006. 120

Die Wirklichkeit der Vernunft  |  151

Platonismus werde in der Moderne abgelehnt (Taylor 1998, 121, 190). Ähnlich formuliert H. O. Mounce den Realismus in seiner vormodernen Form als die These, dass wir die Welt überhaupt nur verstehen können »because we partake of an order (or forms of order) which exists independently of ourselves«, um dann hinzuzufügen : »Since it exists independently of ourselves, we cannot ourselves have produced it« (vgl. auch Moyal-Sharrock und Brenner 2005, 105 ; Mounce 1996). McDowells Antwortstrategie auf den Formalismus greift dieses vormoderne Prinzip einer rationalen Teilhabe an etwas, das unabhängig von uns existiert, wieder auf. Sie geht davon aus, dass die rationalen Ansprüche der Welt sich bis zu einem gewissen Grad dem reflexiven Zugriff des Menschen entziehen : »the dictates of reason are there anyway, whether or not one’s eyes are opened to them« (McDowell 1996, 91). Die Fähigkeit, etwas von der Welt zu wissen, wird durch eine Beziehung erklärt, die sowohl dieses Wissen als auch uns selbst transzendiert. Sie transzendiert das Wissen, insofern sie nicht an einen konkreten Wissensstand gebunden ist : Die Vernunft prüft weiterhin kritisch ihre eigenen Behauptungen ; auch Platons Ideenlehre ist ja keine Absage an das kritische Potenzial des Denkens.121 Die erkennende Beziehung zur Welt transzendiert aber auch uns selbst, als tätige Subjekte, insofern diese Beziehung mit unserer menschlichen Natur gegeben sein muss. Mit der Natur des Menschen sind auch seine rationalen Fähigkeiten gegeben (die ­McDowell im wesentlichen als sprachliche Fähigkeiten begreift), und zu der natürlichen Entwicklung als Mensch gehört die Ausbildung (McDowell spricht auch aristotelisch von »Aktualisierung«) dieses Potenzials. Diese Unabhängigkeit und Selbstständigkeit der rationalen Natur hebt Mounce hervor, wenn er davon spricht, dass die erkenntnisermöglichende Ordnung nicht von uns selbst »produziert« worden ist. Die Provokation von McDowells Philosophie ist, dass er eben diesen vormodernen Gedanken einer gegebenen Möglichkeits­bedin­ gung der Erkenntnis heranzieht, um den modernen Gedanken der So beschreibt Ernst Tugendhat die Meta­physik als ein »erstes Konzept, das Platon gerade entworfen hat, um sich … von der Orientierung an Traditio­ nen freimachen zu können« (2010, 47). Vgl. auch Angehrn 2000 zur aufkläre­ rischen Dimension der klassischen antiken Philosophie. 121

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kritischen Autonomie und Freiheit der Vernunft zu verteidigen. Schließlich war das erklärte Ziel des Formalismus die Verteidigung dieser Autonomie, und die Kritik am Formalismus besteht in dem Einwand, dass dieser die Autonomie falsch artikuliere. Indem wir den neuen kategorialen Rahmen der zweiten Natur ziehen, soll der rationale Erfahrungsbezug wieder ohne Widersprüche denkbar sein – und wir können die kritische Dimension der Vernunft mit ihrem objektiven Weltbezug verbinden. Das Ziel von McDowells Situierung der Vernunft ist also, bei allen vormodernen Elementen, die Verteidigung der modernen kritischen Autonomie, die ­McDowell dann auch paradigmatisch durch Kant artikuliert sieht : We need to recapture the Aristotelian idea that a normal mature human being is a rational animal, but without losing the Kantian idea that rationality operates freely in its own sphere. … we need to see ourselves as animals whose natural being is permeated with rationality, even though rationality is appropriately conceived in Kantian terms (McDowell 1996, 85).

§ 70  Die folgende Argumentation wird zeigen, dass diese gesuchte Einheit von Aristoteles und Kant nicht funktioniert. Zu stark sind die Gegensätze, die McDowell sich mit den beiden hier skizzierten Erklärungsrichtungen auflädt : einem vormodernen Realismus einerseits, für den die vernünftige Beziehung zur Natur durch die Natur vorreflexiv gegeben sein muss, und einem modernen Auto­ no­miebegriff, der jeden Inhalt unter »critical scrutinity« stellen kann. In Folge dieser Spannung wird McDowells Situierung der Vernunft immer wieder von dem Pro­blem bestimmt, dass er die in der zweiten Natur gegebene Vernunft des animal rationale an einem für diese Konzeption zu anspruchsvollen Begriff kritischer Selbstbestimmung ausrichten muss. Damit ist auch das Hauptargument der folgenden kritischen Rekonstruktion von McDowells Position benannt : McDowell sucht eine Begriffskonstellation, die ein gegebenes modernes Vorverständnis der Vernunft, das er selbst oft mit Kant identifiziert, aus der Sackgasse des Formalismus führt. Die aristotelische Revision des Naturverständnisses soll vor allem zeigen, dass der Gegensatz zwischen Geist und Welt im Grunde nicht besteht. Was sich dafür ändern muss, ist nach McDowell unser Verständnis der Form der Die Wirklichkeit der Vernunft  |  153

Erfahrung : Wenn wir ihre genuin begriffliche Form erkennen, verschwindet Davidsons Pro­blem, dass Erfahrung als neu­traler Gehalt immer erst noch gedeutet werden muss und dadurch dem Skeptizismus Tür und Tor öffnet. Für diese These entwickelt McDowell eine äußerst hilfreiche Argumentation, die zeigt, dass Autonomie – also vernünftige Selbstbestimmung – gar nicht so gedacht werden muss, als stünde eine solche Integration der Erfahrung in die Vernunft notwendig in einem Widerspruch zur Autonomiethese. Mit diesem inklusiven Begriff der Autonomie liegt ein alternativer Maßstab vor, um das pro­blematische Verhältnis von Vernunft und Erfahrung neu, und das heißt nicht-dualistisch, zu bestimmen. Doch McDowell belässt es dabei, mit Hilfe dieses Begriffs inklusiver Autonomie wieder nur die Erfahrung in die Vernunft zu integrieren. Wieder geht es nur um das Pro­blem, wie der empirische Gehalt verstanden werden muss unter der Voraussetzung einer immer schon kritischen Ratio­nali­tät. Damit aber kann, so möchte ich zeigen, das Desiderat einer genuinen Situierung der Vollzüge des Denkens nicht erfüllt werden. Auffällig ist, dass McDowells Rehabilitierung der Objektivität immer wieder den Konflikt zwischen Geist und Welt aufzulösen versucht. Dies zeigt sich an der Art und Weise, wie McDowell die Vernunft in die Natur einbettet – nämlich so, dass die vernünftige menschliche Lebensform gleich vollständig mit dem anspruchsvollen Begriff kritischer Ratio­nali­tät identifiziert wird, der sich etwa bei Kant finden lässt. In dem Bestreben, die Natürlichkeit der Vernunft zu verteidigen, intellektualisiert McDowell die menschliche Natur in einem solchen Maße, dass es rätselhaft wird, wie es überhaupt zu einem Pro­blem zwischen Vernunft und Erfahrung kommen konnte. Da Erfahrung, wenn sie richtig verstanden wird, für ­McDowell immer schon durchgängig rational strukturiert ist, ist das Denken auch immer schon im modernen Sinne kritisch und autonom. In der Konsequenz lässt sich bei McDowell dann doch wieder das Pro­blem finden, das er selbst so treffend diagnostiziert. Die von ­McDowell nur tiefer in die Natur verlegte Annahme, die Vernunft könnte sich prinzipiell und immer von allen Ansprüchen der Erfahrung distanzieren, unterläuft die formalismuskritische Einsicht, dass der rationale Weltbezug auch als eine Form der Abhän­gigkeit 154  |  Rehabilitierung der Objektivität 

begriffen werden muss, wenn denn die formalistische Isolation von der Welt vermieden werden soll. Im Anschluss an diese Kritik werde ich, weiterhin in Auseinandersetzung mit McDowell, argumentieren, dass diese Abhängigkeit erst dann angemessen gefasst werden kann, wenn die Erfahrung selbst anders gedacht wird. McDowell folgt der Tradition, die er kritisiert, insofern er ein – wie ich es nennen werde – deklaratives Verständnis der Erfahrung ansetzt. Erfahrung gilt primär als ein ›Gehalt‹, zu dem die Vernunft urteilend Stellung nimmt ; das Denken erklärt (deklariert) ihren Wert. Eine solche passive Konzeption kann aber die gesuchte Abhängigkeit nicht erfassen, weil sie Erfahrung weiterhin als ein – wenn auch rational strukturiertes – Gegebenes versteht. Hier kehrt die formalistische Trennung von Form und Inhalt wieder zurück, und zwar als Trennung einer passiven Erfahrung der Welt von der gegenläufig aktiven Tätigkeit des Urteilens. Es ist, wie ich zeigen werde, diese Trennung, die McDowells selbsterklärten »minimalen Empirismus« scheitern lässt. Es bleibt unverständlich, wie die Welt selbst – und nicht nur unsere Interpretation – unsere Urteile rechtfertigt. Das Ergebnis der Diskussion wird sein : Nicht nur die Autonomie, auch die Erfahrung muss anders verstanden werden, nämlich aktiver, ja disruptiver. Der Konflikt zwischen dem Zugriff des Denkens und der objektiven Erfahrung muss selbst zur Ratio­nali­tät gezählt werden, wie auch das philosophische Pro­blem der Artikulation der Autonomie nicht nur als eine begriffliche Schwierigkeit gelten kann, die sich durch Rehabilitation lösen lässt. Mit anderen Worten : Die Teilhabe, die McDowell sucht, zeigt sich gerade in dem Konflikt zwischen Mensch und Natur sowie zwischen Denken und Erfahrung. Autonomie und Kritik sind in diesem alternativen Bild etwas, das errungen wurde, eine Leistung, und nicht einfach eine Aktualisierung einer immer schon vernünftigen Lebensform. Der klassische Pragmatismus, dem wir uns dann zuwenden, vertritt eine solche konfliktbewusste Konzeption der Erfahrung, die zugleich weiterhin das kritische Erbe der Moderne verteidigen will.

Die Wirklichkeit der Vernunft  |  155

Inklusive Autonomie § 71  Sowohl McDowells Kritik am Formalismus als auch sein eige­ ner philosophischer Gegenentwurf bleiben unverständlich ohne Berücksichtigung der zentralen Bedeutung, die das Pro­blem der Freiheit der Vernunft einnimmt. Wir wollen diese Pro­blematik hier systematisch vertiefen, da sie über McDowells Philosophie hinaus wichtig ist. Ihr Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass der Formalismus an einem falschen Verständnis rationaler Autonomie und Freiheit scheitert. Das Pro­blem ist die Vorstellung, die Freiheit der rationalen Selbstbestimmung bestehe in einer möglichst umfassenden Unabhängigkeit gegenüber der Welt. Der Wiener Kreis bringt eben diese Prämisse in aller Konsequenz zum Ausdruck. Die Formalisierung des Denkens soll ja dazu dienen, wie wir gezeigt haben, dass das Denken sich selbst reflexiv korrigieren kann, ohne dabei an konkrete Sachverhalte gebunden zu sein – zum Beispiel beim Auffinden von Widersprüchen, verdeckten Prämissen oder logisch ungedeckten Schlussfolgerungen. Als eine Artikulation der Selbständigkeit der Vernunft bleibt dieses Freiheitsverständnis jedoch instabil : Es zeichnet das Denken gleichermaßen als völlig frei und doch zugleich der Welt unterworfen. Der Begriff der Erfahrung bringt diese Ambivalenz auf den Punkt. Im Lichte des negativen Freiheitsverständnisses erscheint die Erfahrung, wie es McDowell formuliert, wie eine »alien force«, die das Denken nur noch kausal zwingen kann oder es aber (als neu­ traler Stimulus) der Beliebigkeit ungebändigter Schematisierung, und damit dem Skeptizismus, ausliefert (McDowell 1996, 18). Um also gegen diese skeptische Konsequenz den Anspruch auf rationale Objektivität zu verteidigen, muss der Bruch mit dem Formalismus bereits auf der Ebene des Freiheitsbegriffs angesetzt werden. Die Freiheit der ratio­nalen Autonomie kann nicht als ihre Unabhängigkeit von der Welt verstanden werden, auf die sie sich bezieht. Sie muss – so die Konsequenz – vielmehr selbst als eine Form der Abhängigkeit gedacht werden. Eben das ist die Konsequenz, die ­McDowell dann auch zieht. Der rationale Zwang, den die Erfahrung auf uns ausüben kann – der Zwang, der dazu führt, dass wir mit der Erfahrung unsere Auffassung der Welt sachhaltig korrigieren 156  |  Rehabilitierung der Objektivität 

können –, darf nicht in einem Gegensatz zur Freiheit der Vernunft stehen. In McDowells Worten : »rational necessitation is not just compatible with freedom but constitutive of it« (ebd., 5). § 72  Wie ist dieser Gedanke zu verstehen ? Philosophiehistorisch geht er vor allem auf die Tradition Kants und der postkantischen Philosophie zurück.122 Er erweitert das Spektrum möglicher Artikulationen der modernen These der rationalen Selbstbestimmung. Der Formalismus setzt einen exklusiven Begriff der rationalen Auto­ nomie an, der unter dem Eindruck eines ausschließenden Gegensatzes von rationaler Freiheit und empirischer Beschränkung steht : Das Denken entwirft, die Empirie kontrolliert. Die kantische und postkantische Tradition dagegen entwirft einen inklusiven Begriff der Autonomie, für den Selbstbestimmung nur möglich ist durch eine Verschränkung von Freiheit und Kontrolle. So erläutert Thomas Khurana diesen Gedanken : Die Idee der Autonomie artikuliert … die Einsicht, dass man Freiheit und Gesetz nicht durch ihre Entgegensetzung bestimmen kann, sondern durcheinander erläutern muss. Wirkliche Freiheit ist nicht Freiheit von Gesetzen, sondern Freiheit in Gesetzen ; verbindliche Normen sind nicht das, was Freiheit äußerlich beschränkt, sondern das, was Freiheit innerlich verwirklicht (Khurana 2011, 7).

Das in diesem Zitat verwendete Vokabular von »Freiheit« und ­»Gesetz« verweist auf den Ursprung dieser Debatte in der politischen Philosophie der Neuzeit. Der inklusive Autonomiebegriff war eine Antwort auf das neuzeitliche Pro­blem, wie sich unter den Bedingungen einer zunehmenden Individualisierung und einer entsprechend individualisierten Anthropologie, die »den Menschen« als Einzelwesen denkt, noch der Gedanke eines staatsbildenden Zu­ sammenschlusses solcher Individuen denken lässt. Rousseau, dessen Denken bekanntlich einen starken Einfluss auf Kants Philosophie ausübte, fasst dieses Pro­blem in der griffigen Formel zusammen, dass der Mensch »frei geboren« sei und doch »überall« – nämlich Für die angloamerikanische Diskussion speziell dieser Auffassung von Autonomie sind die Beiträge von Pinkard 2002, Brandom 1979 sowie Pippin 2008 entscheidend. Die wichtigsten Texte sind in deutscher Übersetzung versammelt in Khurana/Menke 2011. 122

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in der Gesellschaft – »in Ketten« (dans les fers) liege (Rousseau 2010, 10). In dieser Konstellation steht eine für sich genommen unbeschränkte Freiheit des Individuums einer äußerlichen Einschränkung gegenüber, die diese Freiheit in ihre Schranken weist. Das wirft das Pro­blem auf, wie kollektive gesellschaftliche Regeln – oder kurz gesagt : das Gesetz – jemals eine rational verbindliche Wirkung entfalten können. Es scheint, als bedeute jede Form von gemeinschaftlicher Bindung bereits eine Preisgabe der eigenen Souveränität und damit ein inakzeptabler Verzicht auf die eigene Freiheit. Die Strategie der Theoretiker des Gesellschaftsvertrags, wie etwa Hobbes und Rousseau, ist der Nachweis, dass die Freiheit im Naturzustand gegen diesen Anschein kein haltbarer Zustand und damit letztlich auch keine mögliche Form von Freiheit ist. Im Naturzustand, wenn alle Individuen frei sind, herrscht das blanke Gesetz der Not – der Mensch ist »Wolf unter Wölfen« (Hobbes) –, und das Recht des Stärkeren ist, wie Rousseau argumentiert, nur eine Fortführung dieses Kriegszustandes in der Natur (Rousseau 2010, Buch I, Kap. 4). Die wahre Freiheit besteht demnach gerade nicht in der Abwesenheit von rechtlich verpflichtenden Bindungen, sondern setzt vielmehr eine solche Bindung voraus – und zwar die Bindung durch ein Gesetz, das die Bürger sich selbst geben. Das Konzept der Selbstgesetzgebung verspricht eine Lösung des Konfliktes zwischen Naturzustand und Gesellschaft. Indem das Individuum einem Gesetz folgt, das es sich (vermittelt über den kollektiven »Körper« der Gesellschaft) selbst gegeben hat, ist es frei und doch Untertan. Die Freiheit besteht, so Rousseau (2010, 45), in dem »Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz«. Mit Blick auf die Herkunft des inklusiven Autonomiebegriffes aus der politischen Philosophie wird besonders deutlich, dass Rousseau nicht nur »eine eigene Konzeption von Freiheit« artikuliert, sondern auch, wie Khurana anfügt, »eine neue Auffassung von Normativität« (Khurana 2011, 7). Die bindende Wirkung des Gesetzes wird in dieser Perspektive nicht mehr durch die Autorität eines externen Souveräns erläutert, dem das politische Subjekt immer schon unterworfen ist. Die Zustimmung zu einem Gesetz wird vielmehr gebunden an die Freiheit, an dieser (kollektiven) Selbstgesetzgebung mitzuwirken. Ein Gesetz, das nicht in dem Raum solcher 158  |  Rehabilitierung der Objektivität 

freier Selbstbestimmung steht, ist nichts anderes als Zwang – also Heteronomie. Oder, wie Rousseau es formuliert : »Die Wörter Skla­ verei und Recht stehen im Widerspruch zueinander, sie schließen sich gegenseitig aus« (Rousseau 2010, 29). § 73  Übertragen wir diese neuzeitliche Diskussion der politischen Theo­rie auf das Thema der situierten Vernunft. In dem soeben entwickelten Vokabular formuliert, besteht das Pro­blem einer angemessenen Situierung der Vernunft darin, dass sich die menschliche Ratio­nali­tät zumindest in Teilen – um Rousseaus Ausdruck aufzugreifen – zu einer »Sklavin« der Erfahrung und der Natur macht, in die sie eingelassen werden soll.123 Nicht nur die Erfahrung, wie bei McDowell erwähnt, auch die Natur insgesamt würde zu einer »alien force« werden. Eine Konsequenz, die Hume deutlich ausgesprochen hat, wenn er die Vernunft als eine »Sklavin der Leidenschaften« bezeichnet. Gegen diesen Widerspruch arbeitet der Begriff der inklusiven Autonomie an. Er verspricht, die rationale Bindung als einen Teil der freien und autonomen Vernunft verständlich werden zu lassen. Die Erfahrung kann – wenn wir diese Parallele weiterführen – wie ein Gesetz das Denken binden und doch weiterhin der Möglichkeit der Selbstkorrektur der Vernunft unterstehen. Um diese Parallele zu ziehen, ist es nötig, über den engeren Kontext des politischen Autonomieverständnisses hinauszugehen. Die Verschränkung von Freiheit und Gesetz muss auf rationale Orientierungen überhaupt ausgeweitet werden. Die Brücke für eine solche Ausweitung bietet der Begriff der Normativität. In der postanalytischen Philosophie hat sich unter dem Einfluss der Sprachphilosophie ein weiter Begriff der Normativität etabliert, der es erlaubt, die Idee einer bindenden Wirkung des Zwar setzt Rousseau den Gegensatz zwischen »Sklaverei« und »Recht« absolut. Die Übertragung des Gedankens einer inklusiven Autonomie auf das Verhältnis von Natur und Vernunft muss jedoch nicht bedeuten, dass die einzig mögliche Freiheit des Denkens in einer vollständigen Emanzipation von jedem Natureinfluss besteht : Nach der Sklaverei stehen viele Formen der Selbstregierung offen. Es ist ein zentrales Anliegen dieser Untersuchung, aufzuzeigen, dass es unterschiedliche Freiheitsgrade innerhalb der Dimension des Kritik gibt. Hier wird diese Grundidee eingeführt, weshalb die Differenzierungen außen vor bleiben. 123

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Gesetzes auf rationale Weltverhältnisse überhaupt auszuweiten. Mit diesem Begriff lässt sich die inklusive Idee der Autonomie als Selbstgesetzgebung über den engeren praktischen Kontext hinaustragen, in dem zumindest das Wort »Autonomie« bei Kant gebraucht wird. Die Verschränkung von Freiheit und Gesetz betrifft auf diese Weise nicht nur ethisch handlungsleitende Prinzipien, sondern allgemein die normative Orientierung des menschlichen Geistes. Normativität in diesem allgemeineren Verständnis steht für die Tatsache, dass etwas – ein Phänomen, ein Ereignis, ein Urteil – einem Maßstab, also einer Norm, untersteht. Dieses Verständnis unterläuft den auch heute noch üblichen Sprachgebrauch, wonach »normative Phänomene« immer in einem ethischen Kontext stehen. Normativität bedeutet hier, dass ein Phänomen einem Maßstab untersteht und mit Blick auf diese Norm richtig oder falsch, korrekt oder inkorrekt, erwartet oder unerwartet sein kann. Solche Maßstäbe können kollektiver oder individueller, situativer oder allgemeiner, ethischer oder epistemischer Natur sein, und sie bringen die allgemeine geistige Orientiertheit der Akteure in diesen Kontexten zum Ausdruck. § 74  Der Begriff der Normativität hat in der postanalytischen Philosophie, und nicht nur dort, eine solche Verbreitung gefunden, dass er geradezu ein Modewort geworden ist.124 Hinter seiner Popularität steht aber ein sachlicher Grund : Er fängt wie kaum ein anderer Begriff die Tatsache ein, dass alles Lebendige – und damit auch der Mensch – eine Anforderung an die Wirklichkeit stellt und sie dieser Anforderung unterwirft.125 Dieser Anforderungscharakter lässt sich differenziert betrachten : Tiere hegen Erwartungen, Menschen orientieren sich an Werten und Bedeutungen, Pflanzen entfalten in freiem Wachstum eine erwartbar charakteristische, »normale« Form. Der Begriff der Normativität eröffnet einen Zugriff auf all diese verschiedenen Phänomene, ohne damit Unterscheidungen und Grenzziehungen auszuschließen. Es ist also gerade eine ge Blackburn spricht von »Normativity à la mode« (Blackburn 2001). Ein frühes Zeugnis der weiten Verbreitung des Begriffs ist Rortys Entgegensetzung von »Norm« und »Ursache« in Philosphy and the mirror of nature (Rorty 1979). 125 »Normer, normaliser, c’est imposer une exigence à une existence, à un donné« (Canguilhem 2005, 178). 124

160  |  Rehabilitierung der Objektivität 

wisse Offenheit und Unbestimmtheit, die diesen Begriff so populär werden ließ. Über den klassischen Bereich der Moralphilosophie hinaus eignet er sich für sozialwissenschaftliche Überlegungen zu »Normen der Praxis« (Rouse 2007) ebenso wie zur Beschreibung von lebendigen Prozessen (Macherey 1991 ; Canguilhem 2005 ; Thompson 2008) oder zur Definition der Vernunft als die Fähigkeit, »norms of correct reasoning« (Raz 2010, 10) zu folgen. Erleichtert wird dieses weite Verständnis der Normativität und dessen Brauchbarkeit für einen inklusiven Begriff der Autonomie durch die Entwicklung der Sprachphilosophie in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Durch den Wiener Kreis und durch Wittgensteins Spätphilosophie ist der Begriff der Regel eine Zeit lang geradezu ein Synonym für sprachliche Bedeutung.126 Die These der inklusiven Autonomie kann auf diese Weise direkt auf den Sprachgebrauch übertragen werden : Die normative Verbindlichkeit der sprachlichen »Gesetze« lässt sich nun begreifen als die Verbindlichkeit der sprachlichen Bedeutungen, die wie Regeln die Sprachpraxis be­ stimmen. Die Parallele von »Gesetz« und »Regel« sollte aber nicht zu wörtlich genommen worden. Die sprachphilosophische Diskussion im Anschluss an Wittgensteins Spätwerk sowie die Kritik am Formalismus des Wiener Kreises hat deutlich werden lassen, dass sprachliche Bedeutungen nicht als gegebene Entitäten in einem platonischen Ideenhimmel vorliegen, auf die dann mental Bezug genommen wird. Sie sind vielmehr konstitutiv an die Praxis des Sprachgebrauchs gebunden, und das heißt, dass Bedeutungen nicht unabhängig von dieser Praxis bestimmt werden können.127 Der Begriff der Normativität trägt dieser postformalistischen Entwicklung Die Diskussion um das »Regelfolgen« haben die analytische Sprachphilosophie der 1960er und 1970er Jahre stark geprägt. Später emanzipierte sich der Begriff der Norm von dem Begriff der Regel : So verteidigte Davidson einen (durchaus »normativen«) Begriff von Sprache ohne kollektive Regeln. Haugeland 1998 und Rouse 2002 argumentieren für einen Begriff von Normativität, der sich vollends vom Regelparadigma gelöst hat und nur noch ein bindendes Engagement zum Ausdruck bringt. Ähnlich auch Cavell 1979. 127 Diese Formulierung lässt offen, wie genau die »sprachlichen Regeln« konstituiert werden – durch intersubjektive Abstimmung (Brandom 1994) oder durch eine wechselseitige »Einstimmung« (attunement) der Menschen über Prozesse der Anerkennung (Cavell 1979). Je weniger formal der Regelbegriff 126

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Rechnung. Er steht für die allgemeine, vom Regelparadigma unabhängige Einsicht, dass Bedeutungen eine bindende Dimension haben, insofern sie eine Auffassung vorgeben, wie etwas zu verstehen ist. Jede Norm sagt, dass mit einem gegebenen Fall so, auf diese Weise, umzugehen ist, und bestimmt den Fall damit als etwas. Etwas ist als etwas zu verstehen – das ist die allgemeine normative Dimension der Bedeutung. § 75  Der Begriff der inklusiven Autonomie lässt sich mit diesem Verständnis normativer Bedeutung stärker konturieren. Wir können das Prinzip der Autonomie nun umformulieren : Die Normativität einer möglichen Anforderung, etwas als etwas zu verstehen, hängt demnach von der Möglichkeit ab, ihr die Zustimmung zu geben oder zu verweigern.128 Hier wird der kantische Gedanke, dass wir nur solche Regeln und Gesetze akzeptieren können, die wir uns selbst gegeben haben, auf die Verbindlichkeit sprachlicher Normen überhaupt übertragen. In Analogie zu dem politischen Prinzip der Autonomie wird die Verbindlichkeit der Normen begründet durch die Möglichkeit, ihnen prinzipiell reflexiv ihre Zustimmung geben zu können. Das heißt zum einen, dass diese Normen immer der möglichen Kritik ausgesetzt sind ; und das heißt zum anderen, dass wir diesen Normen, insofern wir sie nicht kritisieren, implizit zustimmen und wir ihnen daher auch verpflichtet sind. Robert Brandom drückt diesen Zusammenhang, und seinen Ursprung bei Kant, deutlich im folgenden Zitat aus : As I understand his work, Kant’s most basic idea, the axis around which all his thought turns, is that what distinguishes exercises of judgment and intentional agency from the performances of merely natural creatures is that judgments and actions are subject to distinctive kinds of normative assessment. Judgment and actions are things we are in a distinctive sense responsible for. They are a kind of commit­ ment we undertake (Brandom 2011, 1 f.). aufgefasst wird, desto stärker nähert er sich einem allgemeinen Begriff des Verstehens an. 128 Diese Bedingung der Zustimmung bedeutet nicht, dass Bedeutungen arbiträr wären und also autonom gesetzt werden könnten. Es geht nur um Normativität, nicht um Wahrheit. Ob eine gegebene oder verweigerte Zustimmung zu Recht gegeben oder verweigert worden ist, ist eine andere Frage. 162  |  Rehabilitierung der Objektivität 

Auch McDowell spricht von »Verantwortung« – und zwar in dem Zusammenhang, dass unter der Bedingung des falschen Autonomieverständnisses Erfahrungen nur »Entschuldigungen« (excul­pa­ tions) böten (McDowell 1996, 9). Die Erfahrungen können nicht als Rechtfertigung dienen, die das Urteil begründen ; man wird – so das von McDowell evozierte Bild – gleichsam nur in das Urteil hineingestoßen. Dieser Kontrast zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung ist kantisch in dem von Brandom beschriebenen Sinne : Eine Erfahrung als welterschließend zu akzeptieren, heißt, die Bedeutung zu akzeptieren, die in der Erfahrung zugänglich wird, und diese Bedeutung zu akzeptieren, heißt, ihr implizit seine freie, und damit verantwortliche, Zustimmung zu geben. In dieser Figur der Autonomie rückt das Potenzial zur Kritik in das Zentrum des Verständnisses der Ratio­nali­tät, und das heißt – unter Ansetzung des weiten Begriffes der Normativität – in das Zentrum einer geistigen Orientierung in der Welt überhaupt. Die Verbindlichkeit der Norm erklärt sich aus der Fähigkeit der Kritik. Kritik wird zu einer konstitutiven Dimension des menschlichen Geistes. Kritik ist nicht etwas, was wir auch noch mit der Vernunft ausüben können ; sie ist vielmehr Inbegriff dessen, was es heißt, vernünftig zu sein. Die zentrale Bedeutung, die der Kritik – und damit auch der kritischen Selbstbestimmung der Vernunft – zukommt, verweist historisch zurück auf die erste wirkmächtige Formulierung dieser Idee in Kants kritischer Philosophie und ihrer Transformation bei Hegel. Doch dieser historische Übergang ist nicht bruchlos, und es bleibt kontrovers, wie weit Autoren wie McDowell oder Brandom als »Hegels Erben« gelten können.129 In der Perspektive der in dieser Untersuchung eingenommenen historischen Argumentationslinie wird deutlich, dass der Einfluss des Logischen Empirismus und seines Ideals universaler Hinterfragbarkeit historisch und systematisch So die Behauptung des gleichnamigen Sammelbands (Halbig und Quante 2004). In einer Rezension dieses Bandes gibt Schnädelbach zu bedenken, dass der Freiheitsbegriff der idealistischen Tradition vielschichtiger ist und die Verkennung dieser Vielschichtigkeit zu einer vollständigen Moralisierung des epistemischen Diskurses führt : »in Pittsburgh [ist] offenbar nur noch univok von Freiheit im Sinne subjektiver, aber intersubjektiv zu verantwortender Selbstbestimmung die Rede« (Schnädelbach 2006, 813). Dies münde in eine Preisgabe des kritischen Potenzials, da es einen Idealzustand zweckfreier und verantwortlicher Selbstverständigung zum Realzustand des Diskurses verkläre. 129

Inklusive Autonomie  |  163

nicht unterschätzt werden sollte. Wenn Kant und Hegel historische Referenzpunkte dieser Diskussion sind, dann ist der Logische Empirismus ihr richtungsweisender Impuls. Besonders deutlich wird diese doppelte Traditionslinie bei Sellars, der mit seiner Kritik am »Mythos des Gegebenen« neben Quine am Anfang der postanalytischen Philosophie steht. Seine Philosophie entsteht in kritischer Absetzung vom Logischen Empirismus, dessen Ideal der universalen Hinterfragbarkeit er freilich, wie alle Postanalytiker, teilt. Was Sellars aber bekanntlich nicht teilt, ist die empiristische Auffassung, Wissen habe ein Fundament in der empi­ rischen Wirklichkeit, die basal durch die Sinne (oder durch Proto­ kollsätze) zugänglich ist.130 Für seine Kritik greift Sellars auf die Denkfigur der inklusiven Autonomie zurück : Wissen stellt für ihn gerade deswegen normative Anforderungen, da es kein Fundament hat, sondern der kritischen Beurteilung untersteht. Sellars drückt diesen Zusammenhang in dem inzwischen kanonisch gewordenen Vokabular aus, dass das Wissen vollständig (und eben nicht nur in seiner formalen Dimension) in den normativen »Raum der Gründe« (space of reasons) gehört : The essential point is that in characterizing an episode or a state as that of knowing, we are not giving an empirical description of that episode or state ; we are placing it in the logical space of reasons, of justifiying and being able to justify what one says (Sellars 1963, 169).

Dieses bekannte Zitat artikuliert vor dem Hintergrund der bisherigen Diskussion erkennbar den inklusiven Autonomiebegriff. Wissen – und das heißt in dem Kontext dieses Zitats : empirisches Wissen – wird durch seine Einbettung in rationale Zusammenhänge der Kritik konstituiert und nicht etwa durch eine nicht-rationale sinnliche Begegnung mit der Wirklichkeit. Das ist der Kern von Sellars’ Kritik am empiristischen Erfahrungsbegriff als »Mythos« des Gegebenen. Sellars insistiert auf die inklusive Verbindlichkeit der Norm, wobei Normen vor allem als sprachliche Normen gedacht werden (vgl. Sellars 1954). Normen können uns nur binden, weil sie gegenüber inhaltlicher Kritik empfänglich sind und in diesem Sinne immer McDowell (2009a Essay 12) weist darauf hin, dass für Sellars Beobachtungssätze durchaus einen epistemischen, aber eben keinen logischen Sonderstatus haben. So auch de Vries 2005, 99. 130

164  |  Rehabilitierung der Objektivität 

schon einer weltgebundenen Selbstbestimmung unterliegen. Ratio­ nali­tät ist in diesem Verständnis wesentlich die Fähigkeit zur weltbezogenen Selbstkorrektur. Moderne wissenschaftliche Forschung gilt entsprechend nicht als Ergänzung der Vernunft, sondern legt ihre allgemeine Struktur bloß. So heißt es dann auch bei Sellars : For empirical knowledge, like its sophisticated extension, science, is rational, not because it has a foundation but because it is a self-correcting enterprise which can put any claim in jeopardy, though not all at once (Sellars 1963, 170).

Diese Auffassung gibt die Richtung vor, die McDowells Argumentation einschlägt : Wenn gezeigt werden kann, dass die menschliche Erfahrung immer schon dem »Raum der Gründe« angehört, kann der inklusive Autonomiebegriff seine ganze Kraft entfalten. Obgleich die empirische Begegnung mit der Welt das Denken bindet, kann diese Bindung so verstanden werden, dass sie der Ratio­nali­tät nicht nur nicht im Wege steht, sondern diese überhaupt erst ermög­ licht. Das Gesetz der Erfahrung (empirisches Wissen) ist nur bindend, weil es der freien, kritischen und damit normativen Beurteilung unterworfen ist – und nicht umgekehrt. Die kritische Distanz zu jedem möglichen Urteil ist diesem somit qua Urteil immer schon mitgegeben, weshalb Normativität und die Fähigkeit zur Korrektur des Urteils eins werden.131 Das Ideal der universalen Unhinterfragbarkeit, das der Wiener Kreis noch als eine spezifisch wissenschaft­ liche Haltung beschrieb, wird auf diese Weise zu einem Inbegriff der Ratio­nali­tät überhaupt, was die soeben zitierte Passage aus Sellars’ Empiricism and the Philosophy of Mind auch zum Ausdruck bringt.

Intellektualisierung der Erfahrung § 76  Wenden wir uns wieder der Leitthese dieses Kapitels zu, dass McDowells Formalismuskritik nicht konsequent genug verfahre. Diese These lässt sich nun so formulieren, dass McDowell zwar den Gedanken der inklusiven Autonomie auf den Begriff der Erfahrung »One must have the rudiments of a critical apparatus in place, however inarticulately, in order to be following rules« (de Vries 2005, 132). De Vries fasst hier Sellars’ Position zur Normativität sprachlicher Regeln zusammen. 131

Intellektualisierung der Erfahrung  |  165

anwendet, um die formalistische Entgegensetzung von freier Vernunft und unfreier Erfahrung zu überwinden. Doch dabei fasst er sowohl die Freiheit rationaler Selbstbestimmung als auch ihre nun konstitutiv verstandene Einschränkung durch die Erfahrung auf eine Weise auf, die ich »intellektualistisch« nennen möchte. Das Konzept der inklusiven Autonomie hat eine natürliche Tendenz zum Intellektualismus : Wenn materiale und empirische Abhängigkeiten als ein konstitutiver Teil der Vernunft begriffen werden, dann müssen sie konsequenterweise in einen umfassenderen Begriff der geistigen Orientierung – was Hegel dann auch einfach »Geist« nennt – eingebettet werden. Körperlichkeit, Natur und Erfahrung, die in formalistischer Sicht der Vernunft fremd gegenüber stehen (»alien force«), werden nun als Teile der rationalen Verfasstheit des Menschen oder der Sprache angesehen. Wenn mit »Intellektualisierung« gemeint ist, dass zuvor unerreichbare Aspekte der Welt wieder in das Gesamtbild der Vernunft mit einfließen, ist dies eine unvermeidbare und auch gewünschte Konsequenz der inklusiven Autonomie. Diese Intellektualisierung des zuvor A-rationalen aber kann in einen Intellektualismus kippen, wenn sie gleichsam im Überschwang nunmehr jegliche Dimension der Fremdheit tilgt. Es ist eine Sache, Erfahrung nicht mehr als »neu­tralen Input« denken zu müssen ; jedoch etwas ganz anderes, keinen echten Konflikt mehr zwischen der Erfahrung und ihrer denkenden Reflexion zu sehen. Eine solche Befriedung der Verhältnisse im Namen rationaler Selbstbestimmung führt nämlich zwangsläufig dazu, jegliche Eigendynamik dieser diversen Momente der Vernunft zugunsten der umfassenderen Vision kritischer Intelligenz zu leugnen. Wo es aber nur noch rationale Selbstkritik und keine Fremdheit mehr gibt, kehrt die formalistische Isolation des Geistes – wider willen – durch die Hintertür zurück. Das systematische Pro­blem des Intellektualismus ist, dass die allzu umfassende Integration von Geist und Welt dem Hauptargument für eine Situierung der Vernunft wieder den Boden entzieht. Gesucht wurde eine Konzeption, die den Vollzug des Denkens als von der Welt abhängig zu begreifen vermag. Der Intellektualismus ist daran zu erkennen, dass er diese Abhängigkeit nicht mehr abzubilden vermag – denn wo kein echter Konflikt möglich ist, gibt es auch keine Abhängigkeit. Ich werde im Folgenden diese Diagnose 166  |  Rehabilitierung der Objektivität 

des Intellektualismus bei McDowell in zwei Dimensionen aufweisen : in seiner Einbindung der menschlichen Vernunft in die Natur und in der analog operierenden Verteidigung einer Körper und Geist durchdringenden begrifflichen Ratio­nali­tät (»pervasiveness thesis«). Im Anschluss daran wird gezeigt, dass der intellektualisierte Erfahrungsbegriff die von McDowell gesuchte epistemische Funktion unbrauchbar werden lässt, da auch er die gesuchte produktive Abhängigkeit des Geistes von der Welt nicht mehr einzufangen vermag. § 77  Die Diagnose des Intellektualismus ist eine verbreitete und auch vielfach missverständliche Charakterisierung, die auf jeden Fall differenziert werden muss. Varianten des Intellektualismusvorwurfs gegenüber anderen Positionen finden sich, auch unter Titeln wie »intellectualistic fallacy« oder »scholastic view«, bei Dewey, Austin, Merleau-Ponty oder Ryle und außerhalb der Philosophie insbesondere bei Bourdieu.132 Die allgemeine Stoßrichtung dieser Kritiken ist die Feststellung, dass die philosophische Analyse den menschlichen Geist in einer reduzierten Form betrachtet. Besondere Erscheinungsformen des vernünftigen Umgangs mit der Welt, wie etwa die Beschreibung (Austin), die bewusste Wahrnehmung (Merleau-Ponty), »the apprehension of truth« (Ryle 2009, 16) oder die explizite theoretische Reflexion (Wittgenstein) werden demnach zum Inbegriff aller intelligenten Tätigkeit erklärt. Es bildet sich ein ausschließender thematischer Fokus : Die Konzentration auf den einen herausgehobenen Aspekt drängt andere Dimensionen des menschlichen Weltverhältnisses in ihrer philosophischen Bedeutung an den Rand, entzieht sie der Diskussion oder überformt sie intellektualistisch. Gerade mit Blick auf McDowells Philosophie ist der Intellektualismusvorwurf jedoch zu differenzieren. Auf der programmatischen Zahlreiche Diskussionen um einen möglichen »Intellektualismus« bei McDowell, insbesondere aus phänomenologischer Perspektive, sind versammelt in Schear 2013. Eine neuere deutschsprachige ausführliche Würdigung des Pro­ blems, auch mit phänomenologischem Schwerpunkt, findet sich bei Weichold 2015. Zum Intellektualismus allgemein vgl. Dewey LW 1, 38 ; Ryle 2009, 16 ; Merleau-Ponty 1974, 49 und passim ; Austin 1962, 3 ; sowie Bourdieus Vorwurf des Scholastizismus in Bourdieu 2004. 132

Intellektualisierung der Erfahrung  |  167

Ebene ist er unberechtigt : McDowells Philosophie ist wesentlich dadurch motiviert, jede ›intellektualistische‹ Grenze zwischen den höheren kognitiven Fähigkeiten einerseits und den basalen Vollzügen des Körpers und der Sinnlichkeit andererseits zu schleifen. Mc­Dowell betont die Einheit der Vernunft mit der körperlich-sinnlichen Natur des Menschen, die wiederum in einer (differenzierten) Beziehung der Kontinuität zur nicht-menschlichen lebendigen Natur stehen soll. Er plädiert für einen Ansatz, der die Ratio­nali­ tät in die nicht-rationale Natur und auch in das körperliche Handeln einbettet. Sowohl mit Blick auf die Beziehungen von Tier und Mensch als auch mit Blick auf die Beziehungen des Denkens zur Sinnlichkeit ist McDowells erklärtes Ziel die Abkehr von jedem Intellektua­lismus. Doch die Schwierigkeiten dieser Programmatik liegen – wie immer – im Detail der Durchführung. Diese muss bei McDowell am Leitbegriff der zweiten Natur diskutiert werden. Er nimmt in McDowells Erläuterungen eine Schlüsselfunktion für die These der Kontinuität zwischen Mensch und Tier wie auch zwischen Körper und Geist ein. Er markiert eine Denkfigur der Identität in der Differenz : Obgleich die menschliche Vernunft für McDowell eine ganz herausgehobene und im weiteren Tierreich so nicht mehr vorfindbare Form der Intelligenz ist, kann diese dennoch vollständig zur Natur des Menschen gezählt werden. Sie muss, mit anderen Worten, nicht mehr formalistisch von seiner körperlichen Verfasstheit separiert werden : »The engaged intellect«, so fasst McDowell seine Position zusammen, »is the intellect conceived as integrally bound up with the animal nature of the rational animal« (McDowell 2009c, vii). Diese Auffassung erfordert ein Umdenken dessen, was Charles Taylor (2013, 61) die moderne Topologie von Geist und Welt nennt. Der Geist kann nicht so aufgefasst werden, als sei er eine, wie es ­McDowell (1996, 64) nennt, »extra ingredient«, die dem natürlichen Körper des Menschen gleichsam angefügt wird. Einem solchen Schichtenmodell folgt ein Großteil der modernen philosophischen Tradition, indem sie die Vernunft als res cogitans, als transzendentale Struktur oder als rein formale Normativität fasst und damit von jeder konstitutiven Beziehung zur körperlich-sinnlichen Welt freispricht. Dagegen steht der Begriff der zweiten Natur dafür ein, dass die menschliche Vernunft gerade nicht von ihrer animalischen Her168  |  Rehabilitierung der Objektivität 

kunft und ihrer materiellen Bedingtheit befreit werden kann. Bei allem distinkten Freiheitspotenzial, das McDowell der menschlichen Vernunft zuschreibt, stellt sie für ihn gerade nicht eine Emanzipation von der Natur – also eine Überwindung oder Befreiung – dar.133 Um den bei aller Kontinuität für McDowell durchaus bestehenden Unterschied von Mensch und Tier zu markieren, ist es hilfreich, im Anschluss an Matthew Boyle (2012) McDowells Position mit Hilfe des aristotelischen Begriffs der Form zu erläutern. Nach diesem Verständnis ist der Unterschied von Tier und Mensch, wie ihn McDowell versteht, ein Unterschied in der Form ihres Weltverhältnisses. Dieser Formbegriff ist streng vom formalistischen Verständnis der Form zu unterscheiden. Der Formalismus fasst die Form als eine Leerform auf, in die unterschiedliche Inhalte eingepasst werden können. Ihr Paradigma ist die Variable, in die unterschiedliche Werte substituierend eingesetzt werden. Der Schwerpunkt dieses Formverständnisses liegt auf der Offenheit und Unterbestimmtheit der so beschriebenen Form : Welcher Wert eingesetzt wird, ist nachrangig. Vielmehr sind es die formalen Relationen zwischen den Variablen selbst, die über alle möglichen (»gültigen«) Einsetzungen bestimmen – ein Gedanke, den Carnap dann ja, wie gezeigt, bis auf sprachliche Gehalte hinaus ausdehnt. Der Formbegriff der zweiten Natur, wie ihn McDowell verwendet, ist dagegen in seinen Wurzeln aristotelisch. Er beschreibt, wie es Boyle formuliert, eine spezifische Art und Weise (»distinctive manner«, Boyle 2012, 23), Eigenschaften zu haben. Für die hier verfolgte Frage, wie die Erfahrung in die Vernunft integriert werden kann, ist der Kontrast zum formalistischen Paradigma der »leeren« Variable entscheidend. Die aristotelische Form hat die logische Eigenschaft, bereits vorhandene Merkmale (»Materie«) auf eine neue, andere Art und Weise zu verbinden : »wenn z. B. ein Stück Erz zu einer Statue geformt wird, entsteht die Statue neu, indem die zugrunde liegende Materie die Statuenform annimmt« (Rapp 2007, 126). Das Resultat dieses Vorgangs ist, dass die Materie nicht mehr als selbständiger Gegenstand, sondern als konstitutiver Bestandteil der Form angesprochen werden muss. Das Paradigma dieses Formbegriffs ist der »What my project requires is that we see how spontaneity in the strong Kantian sense … is exactly not an ›emancipation from nature‹« (McDowell 2002, 283). 133

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lebendige Organismus, der – vereinfacht gesprochen – unterschiedliche Elemente zu einem Ganzen vereint und ihnen in diesem Sinne seine Form aufprägt.134 McDowells Intellektualisierung der Erfahrung greift auf dieses Prinzip einer formalen Integration zurück. Der Unterschied von Mensch und Tier soll formal in dem eben geschilderten Sinne sein. Bei allen anatomischen und physiologischen Besonderheiten nehmen die mit den Tieren geteilten Fähigkeiten beim Menschen eine neue Form an. Und so gilt etwa auch für die Erfahrung, dass die menschliche Wahrnehmung, obgleich sie in vielen Hinsichten auf vergleichbare physiologische und neuronale Prozesse aufbaut, beim Menschen eine »special form« (McDowell 1996, 64) aufweist. Vernunft ist in diesem Verständnis ein konstitutiver Aspekt der gattungsspezifisch menschlichen Art und Weise, zu leben, und sie schlägt bis zum körperlich-affektiven Weltverhältnis durch. Das gesamte natürliche Welt- und Selbstverhältnis wird dadurch transformiert. Das ist keine Wandlung durch die Vernunft – denn das hieße wieder, ein außernatürliches Agens zu postulieren –, sondern diese Transformation ist das Charakteristikum der spezifisch menschlichen Vernunft. Im Resultat sind, so McDowells These, alle körperlichen und sinnlichen Aspekte des Menschen von Ratio­nali­ tät durchdrungen (to pervade, to permeate) : Rational mindedness pervades the lives of the rational animals we are, informing in particular our perceptual experience and our exercises of agency (Schear 2013, 41).

Die »pervasiveness thesis« bringt den theoretischen Anspruch von McDowells Postformalismus auf den Punkt : Die menschliche Ratio­nali­tät ist keine gesonderte, zum tierischen Weltverhältnis hinzutretende Fähigkeit, sondern durchformt, als gattungsspezifische zweite Natur, die ganze Lebensweise des animal rationale. Wenden wir uns nun den Schwierigkeiten zu, die diese Konzeption aufwirft. Ihrer doppelten Ausrichtung gemäß lässt sich diese These von zwei Seiten aus diskutieren : Hinsichtlich des behaupteten Verhältnisses Boyle analysiert die Logik des Lebendigen – im Anschluss an Thompson 2008 – primär als eine spezielle Logik der Prädikation des Lebendigen. ­Simondon 2011 sieht Aristoteles als den Erfinder des Funktionsbegriffs, den er durch Beobachtung des Lebendigen gewonnen habe. 134

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vom Menschen zum Tier und mit Blick auf die rationale »Durchdringung« des Körpers. § 78  Beginnen möchte ich mit der Frage, ob McDowells transformative Auffassung der Ratio­nali­tät nicht die Eigendimension des Körperlichen ausblendet und damit intellektualistisch überformt. Diese Kritik ist ein Klassiker unter den Intellektualismusvorwürfen. Sie wurde besonders deutlich von Hubert Dreyfus formuliert, der McDowell in einer prominent gewordenen Auseinandersetzung vorwirft, den menschlichen Körper intellektualistisch zu rationalisieren.135 Dreyfus sieht bei McDowell eine Art übergriffige Ausdehnung des Intellekts auf die körperliche und sinnliche Dimension des Weltverhältnisses, wodurch die Diagnose des Intellektualismus die Form annimmt, dass McDowell – in Schlagworten formuliert – die ›Vernunft‹ einseitig auf den ›Körper‹ projiziert. Für Dreyfus gibt es zwei im Grundsatz verschiedene Bereiche der Intelligenz, in denen wir entweder reflektiert und unreflektiert agieren. Dabei identifiziert Dreyfus die Reflexion mit der Theo­rie und das Unreflektierte mit der Praxis. Während die theoretische Intelligenz bewusste Begriffe und logische Schlüsse anwendet, reagiert demnach in der praktischen Intelligenz der Körper unmittelbar und unreflektiert auf situative Herausforderungen.136 Die praktische Intelligenz, die Dreyfus auch »embodied coping« nennt, operiert vor allem mit Hilfe der Sinne und einer habitualisierten Wahrnehmung. Sie orientiert sich nicht an »critically justifiable concepts«, sondern entwickelt eine »sensitivity to subtler and subtler similarities and differences of perceptual patterns« (Schear 2013, 35). Eine Intellektualisierung des Weltverhältnisses, wie Dreyfus sie versteht, ist demnach eine Überdehnung des topologisch verstandenen Zuständigkeitsbereichs der theoretischen Intelligenz, ihre illegitime Ausweitung auf die abweichende Logik des »embodied coping«. Dreyfus’ Kritik fußt auf der Behauptung, dass diese beiden Formen der Intelligenz letztlich in einem hierarchischen Verhältnis stehen, bei dem die praktisch-körperliche Intelligenz die Rolle des Fundaments einnimmt. Dreyfus spricht von den »conceptual up135

Dreyfus 2006 ; 2007a, 2007b ; McDowell 2007a, 2007b. Vgl. dazu Dreyfus 2006.

136

Intellektualisierung der Erfahrung  |  171

per floors of knowledge«, die auf dem »embodied coping going on in the ground floor« (Dreyfus 2005, 47) aufbauen. Die begriffliche Lenkung des Handelns ist in dieser Perspektive nur ein Mittel zum Zweck des Erwerbs körperlicher Expertise. Ist diese Fertigkeit einmal erworben, hat das Handeln sich von der begrifflich-reflexiven Leitung emanzipiert. Ist die Könnerschaft einmal etabliert, ist die bewusste begriffliche Reflexion – so Dreyfus’ These – nicht nur unnötig, sondern sogar hinderlich, da sie die spezifisch körperliche Dimension dieser praktisch-sinnlichen Welterschließung nicht zu ersetzen vermag : »the enemy of expertise is thought« (Dreyfus 2007b, 354). Dreyfus illustriert diese Könnerschaft an einigen Beispielen : am Baseballspieler, der in der Reflexion nicht weiß, wie es ihm gelingt, so effizient und effektiv zu spielen ; am Schachspieler, der im Blitzschach ohne Zögern den nächsten Zug setzt ; und an dem auf Ryle zurückgehenden Beispiel des »skilled cyclists« (Dreyfus 2005, 52), des Radfahrers, der nur knowing how hat, ohne angeben zu können, wie er seine Fähigkeit ausübt. § 79  Dreyfus’ Position ist in vieler Hinsicht pro­blematisch.137 Hier soll sie vor allem als ein Beispiel dafür angeführt werden, wie das Pro­blem des Intellektualismus nicht angegangen werden kann. Die Kritik, wie Dreyfus sie formuliert, missversteht McDowell auf charakteristische Art und Weise : Sie sieht den Intellektualismus als das Pro­blem einer Grenzüberschreitung. Sie ist damit repräsentativ für eine Intellektualismusdiagnose, die auf der Oberfläche verbleibt. Solche Diagnosen sind nicht nur in der Philosophie, sondern etwa auch in der soziologischen Praxistheo­rie immer wieder vorzufinden.138 Dreyfus präsentiert seine Position als eine Auslegung Heideggers, doch es ist fraglich, ob dies Heidegger gerecht wird (vgl. Demmerling 2012). Auch verwendet Dreyfus zur Etablierung des Kontrasts zwischen »begrifflichem« und »körperlichem« Denken einen, wie es Joseph Rouse 2013 nennt, »deskriptiven« Begriff des Begriffs, der sprachphilosophisch nicht haltbar ist. Susanna Schellenberg (2013) argumentiert am Beispiel des Tanzens überzeugend, dass Dreyfus zudem die Phänomene falsch beschreibt : Experten des Tanzes handeln keineswegs unreflektiert und sind zu ihren Leistungen auch nur mit Hilfe ständiger Selbstkorrektur und Selbstbeobachtung fähig. 138 Kritiken der praxistheoretischen Tendenz, »Praxis« als Gegenpol zum »Geist« zu verstehen, finden sich in Alkemeyer/Schürmann/Volbers 2015. 137

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Ihr durchaus richtiger Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass eine einseitige Fixierung auf kognitive und epistemische Tätigkeiten ein ebenso einseitiges Bild des Geistes produziert. Und so wirkt McDowells »pervasiveness thesis« wie eine typisch scholastische Projektion der rationalen Begriffsverwendung auf alle Aspekte des menschlichen Lebens, die zudem auch noch alle animalischen Reste und Ursprünge im Menschen zu leugnen scheint. Die Antwort auf diese wahrgenommene Einseitigkeit kann jedoch nicht darin bestehen, an die Stelle des Primats kognitiver und epistemischer Tätigkeiten nun das »Andere der Vernunft« zu privi­legieren. Ein so verstandener Anti-Intellektualismus operiert im Grunde weiterhin in demselben Rahmen wie der Intellektualismus, gegen den er vorzugehen vorgibt. So führt auch Dreyfus eine Oppo­sition zwischen der praktischen Expertise und dem begrifflich informierten Handeln ein, die nicht mehr zu überbrücken ist. Letztlich ist diese Trennung eine Variante des Formalismus, da der Körper und der Geist wieder auf eine Weise entgegengesetzt werden, die das reflektierte Operieren mit Begriffen von jeder konstitutiven körperlichen Bindung freispricht. McDowell (2007b, 349) sieht bei Dreyfus dann auch zu Recht einen »Myth of the Disembodied Intellect« am Werk.139 § 80  Dreyfus’ überschießende Kritik zeigt, dass es wichtig ist, eine scharfe Trennlinie zwischen Intellektualisierung und Intellektualismus zu ziehen. Wo Dreyfus eine illegitime Grenzüberschreitung sieht, ist in der hier eingenommenen Perspektive eine durchaus legi­time Anwendung des Leitgedankens der inklusiven Autonomie anzuerkennen. Die Erfahrung, wie insgesamt auch das körperliche Weltverhältnis, müssen angesichts der Schwierigkeiten des Formalismus in die rationale Selbstbestimmung inkludiert und damit auch in einer gewissen Hinsicht intellektualisiert werden. Sie Auch der traditionelle Empirismus, mit seiner Betonung der »rohen« Erfahrung als einem unverzichtbaren, aber eben auch unvernünftigen Bezugspunkt und Maßstab alles Denkens, ist eine Variante dieser fehlgehenden Intellektualismuskritik. Darauf verweisen sowohl Dewey (»Some Implications of Anti-Intellectualism«, MW 6, 86 – 91, hier : 87 f.) als auch Merleau-Ponty. Für Letzteren steht die »intellektualistische Antithese« zum Empirismus »auf demselben Boden … wie er« (1974, 47). 139

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können nicht als Stimuli, Sinnesdaten oder körperliche Vollzüge gefasst werden, die dann erst nachträglich noch rationalisiert werden. Diese Konsequenz ist, wie wir gesehen haben, keine beliebige Forderung, sondern spricht das Desiderat einer Sachbindung des Denkens aus : Solange Erfahrungen nur objektiv sein können, insofern sie (noch) nicht normativ sind, gibt es keinen Weg für die reflektierende Vernunft, sich ihres Gegenstandes rational zu versichern. Die Frage ist jedoch, wie dieses Desiderat philosophisch eingelöst wird. Und hier ist bei McDowell tatsächlich ein Intellektualismus zu beobachten, auch wenn sich dieser auf eine andere Weise äußert, als es Dreyfus behauptet. McDowells Intellektualismus besteht in der einseitigen Richtung, in der er die körperlichen und sinnlichen Aspekte des Weltverhältnisses in die autonome Vernunft integriert : Während er die Erfahrung neu bestimmt, bleibt das Verständnis der Vernunft durch diese Integration unberührt. McDowell geht also von einem sehr allgemein gehaltenen und dadurch weitgehend impliziten Vorverständnis kritischer Ratio­nali­tät aus, von dem aus dann, dem Leitgedanken der inklusiven Autonomie gemäß, die Erfahrung neu bestimmt wird. Während McDowell somit völlig zu Recht den Gedanken der Inklusion und damit die Zugänglichkeit der Erfahrung für die Vernunft betont, erhält seine Philosophie eine intellektualistische Schlagseite, weil er diesen Zugang einseitig im Ausgang von einem selbst noch intellektualistischen und auf seine Voraussetzungen hin nicht befragten Bild der Kritik erklärt. Das Pro­blem ist nach diesem Verständnis also die intellektualistische Erklärungsrichtung, die das Pro­blem der Erfahrung von vornherein auf eine gewisse Weise zuschneidet. McDowell orientiert sich bei seinen Erläuterungen der situierten Vernunft an einem normativ wirkenden Bild des Denkens, für das die explizite Tätigkeit der urteilenden Selbstbestimmung durch Gründe im Vordergrund steht. Denken, also »reasoning«, sei demnach »an activity in which someone explicitly considers what to believe or what to do, and takes reasons into account in determining her belief or her action« (McDowell 2009a, 130). In dieser Tätigkeit nimmt das Subjekt eine Distanz ein zu den Erfahrungen, Motiven und Forderungen, die an es ergehen, und fragt sich, ob sie sein Handeln bestimmen 174  |  Rehabilitierung der Objektivität 

sollen.140 In der dadurch eröffneten Möglichkeit, sich durch Gründe für oder gegen eine Behauptung zu entscheiden, sieht McDowell die Freiheit der rationalen Selbstbestimmung : »A rational animal has the capacity to be in control of its life, to live in such a way that its life is something of its own making« (McDowell 2009a, 138). McDowell beschreibt in diesem Zitat zunächst einen unverzichtbaren Aspekt der Idee der Autonomie : Von einer rationalen Selbstbestimmung kann nur dann die Rede sein, wenn die eigenen Überzeugungen einer Kontrolle unterliegen. Überzeugungen, die nicht als die eigenen akzeptiert werden können, stellen einen Eingriff in die Selbstbestimmung dar und müssen letztlich als eine Form des Zwangs begriffen werden.141 McDowell hebt also hervor, dass die Möglichkeit, sich durch Gründe für oder gegen eine Überzeugung zu positionieren, eine herausragende Form der Kontrolle und damit ein unverzichtbarer Aspekt rationaler Selbstbestimmung ist. Ohne diese Kontrolle wäre die rationale Autonomie keine Form der Selbst-Bestimmung, da Überzeugungen der Kritik nicht mehr zugänglich sind. Es ist zentral für die hier verfolgte Argumentation, dass diese Beschreibung der Ratio­nali­tät als eine Form der selbstbestimmten Kontrolle jedoch grundsätzlich unterbestimmt ist. Es ist damit noch nicht gesagt, was es heißt, sich kontrolliert zu sich selbst zu verhalten. Eben dieses Pro­blem wird von Dreyfus aufgeworfen, wenn er McDowell vorhält, die motorische Eigenlogik habitualisierten Wissens auszublenden. Die körperliche Selbstkontrolle hat eine andere Form als die Kontrolle, die wir durch begriffliche Arbeit über unser Verhalten ausüben können. Sie wird anders gelehrt, anders durchgeführt, anders geprüft. Und wie ist es mit der Rolle, die Sprache und gesellschaftliche Institutionen dabei spielen, wenn wir etwas als »Eigenes« identifizieren und uns dazu kontrolliert verhalten ? So kennzeichnet McDowell (in 1998b, 170) einen (fiktiven) vernünftigen Wolf durch die Fähigkeit, sich von den natürlichen Impulsen zu distanzieren. Vgl. zu weiteren typischen Formulierungen dieser Logik der Distanz McDowell 1996, 11 und 2009a, 129. 141 Unbewusste oder ideologische Prozesse der Überzeugungsbildung sind mit dieser These nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil erläutert dieser Zusammenhang, dass eine Kritik der eigenen Überzeugungen immer den Versuch darstellt, sie sich zu eigen zu machen. 140

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Hier müssen keine kategorisch unvereinbaren Weisen der Welterschließung vorliegen. Aber diese Unterschiede sollten als Unterschiede beschreibbar sein. McDowell ebnet sie jedoch ein, indem er an die Stelle einer Vielfalt möglicher Bezugsweisen doch wieder das moderne Bild setzt, wonach sich Vernunft maßgeblich in der anspruchsvollen Ratio­nali­tät selbstbewusster Selbstbestimmung manifestiert. Der kantische Begriff der Spontaneität gilt McDowell als Inbegriff der kritischen Aktivität überhaupt, als das Vermögen der »self-critical control of what one thinks« (McDowell 1996, 49). Diese Kontrolle geht jedoch deutlich über die bloße kritische Reflexion hinaus, die schon Sokrates als Leitbild der Ratio­nali­tät verteidigte. § 81  Das Pro­blem des vorausgesetzten Maßstabs der Vernunft begegnet uns auch bei McDowells anthropologischer Bestimmung des Menschen als animal rationale. McDowell beschreibt die spezifisch menschliche Vernunft in Begriffen, die bereits eine äußerst anspruchsvolle Form von Freiheit und Selbstkontrolle unterstellen. Seine Behauptung ist, dass der Mensch von Natur aus diese »Kantian spontaneity« aufweise, die ihn dazu befähige, sich kritisch von Forderungen, Ansprüchen und auch Erfahrungen zu distanzieren. Diese Freiheit zeichne den Menschen – und zwar nur den Menschen – in distinktiver Weise aus : We need to see ourselves as animals whose natural being is permeated with rationality, even though rationality is appropriately conceived in Kantian terms (McDowell 1996, 85).

Diese »kantische« Konzeption der Ratio­nali­tät wird jedoch erst in einer spezifischen historischen Konstellation verständlich. Sie setzt einen aufgeklärten Begriff der Selbstbestimmung voraus, der weder Offenbarung noch Tradition ungefragt akzeptiert ; sie geht von einem »entzauberten« Verständnis der Natur aus, das – zumindest im Bereich des Nicht-Lebendigen – nur noch mechanische oder allgemein naturwissenschaftlich-nomothetische Erklärungsformen akzeptiert ; und sie unterwirft schließlich jede sinnliche Anschauung und Motivation der begrifflichen Ratio­nali­tät.142 McDowell illust So kann für Kant alles Sinnliche den rationalen Willen nur bestimmen, »insofar as it has been incorporated into a maxim« (Allison 1990, 189). 142

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riert sein Verständnis der Ratio­nali­tät unter anderem auch mit Neuraths Schiffergleichnis, womit er auf das klassische postanalytische Emblem des Wiener Ideals der universalen Hinterfragbarkeit zurückgreift (McDowell 1996, 81). Vorausgesetzt wird also ein genuin modernes Verständnis der Kritik, in dem nicht nur alle Wissensansprüche der Revision unterstehen, sondern diese Revidierbarkeit als Inbegriff des Wissens überhaupt gilt. Es ist daher kritisch zurückzufragen, ob diese »kantische Ratio­ nali­tät« nicht ein zu anspruchsvoller Maßstab ist für die Erläuterung einer natürlichen Gattungseigenschaft, die alle Menschen zu allen Zeiten in allen Kulturen gleichermaßen charakterisieren soll. Und wie verhält sich diese hochkomplexe gattungsspezifische Form der Vernunft zu der Fähigkeit von Tieren, sich responsiv zur Umwelt zu verhalten ? Viele Kritiker, die dem Gesamtprojekt durchaus wohlwollend gegenüberstehen, glauben, dass McDowell hier den Bogen überspannt.143 Seine Konzeption menschlicher Ratio­nali­tät ist zu anspruchsvoll, um als ein allgemeines Merkmal einer menschlichen Natur verteidigt zu werden, die in differenzierter Kontinuität zum Tier stehen soll. McDowells Strategie in der Beantwortung solcher Gegenfragen ist, immer wieder auf den prinzipiellen Unterschied zwischen der menschlichen und der nicht-menschlichen Weltorientierung hinzuweisen (McDowell 1996, 182 f.). Aber es steht ja gerade zur Debatte, ob der anspruchsvolle Ratio­nali­tätsbegriff, der diesen Unterschied beschreiben soll, nicht die aristotelische Idee einer Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses unterläuft. Wenn wir den Grundgedanken akzeptieren, dass sich beim animal rationale vorhandene (und neue) biologische Elemente auf eine neue, gattungsspezifische Weise zusammenfügen, ist damit noch nicht geklärt, wie durchgrei­ fend diese Reorganisation ist. McDowells Verteidigung der Vernunft »in Kantian terms« spricht für eine so umfassende Reorganisation, dass unklar wird, wie dann noch weiter eine Kontinuität des vernünftigen Tieres zum restlichen Tierreich behauptet werden kann. Vgl. zu Kritiken an McDowell in dieser Richtung : Macintyre 2002, Lovibond 2006 sowie Volbers 2015. Eine Verteidigung von McDowells Trennung von Tier und Mensch formuliert Crary 2012, und auch Demmerling 2012 schlägt vor, McDowells Begrifflichkeitsthese liberal zu interpretieren. 143

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§ 82  Führen wir diesen Punkt etwas weiter aus, da er zentral für die richtige Einordnung des potenziellen Intellektualismus solcher Beschreibungen ist. McDowells »pervasiveness thesis« behauptet, dass alle körperlichen und sinnlichen Aspekte des Menschen von dieser formalen Reorganisation erfasst werden, sofern sie Teil der selbstbewussten Fähigkeit zur Selbstbestimmung sein können.144 Der Unterschied ist ein Gattungsunterschied, der den Menschen in seinem Wesen betrifft. Doch während dieser Gattungsunterschied vielleicht in einer allgemeinen Perspektive, mit Blick auf das Naturverhältnis des Menschen, in dieser Abstraktheit benannt werden kann, ist in einer ganz besonderen Klasse konkreter Fälle eine präzisere Auskunft nötig. Die Rede ist davon, dass jedes individuelle ani­ mal rationale eine Phase der Entwicklung durchlaufen muss, in der das bloße Potenzial zur Vernunft auch Wirklichkeit wird. Das neugeborene Kind wird erst noch die ausgewachsene, potenziell souveräne Begriffsverwenderin. McDowell nennt diesen Prozess Bildung : »our Bildung actualizes some of the potentialities we are born with« (McDowell 1996, 88). Es geht also um die Fälle, in denen sich das behauptete Gattungsmerkmal noch faktisch entwickeln muss. Dieser ontogenetische Bildungsprozess ist kein kontingentes Merkmal der Beschreibung der Vernunft als eine zweite Natur des Menschen. Ihm wohnt eine gerade für McDowells Projekt zentrale theo­riestrategische Funktion inne, da es das aristotelische Verständnis (wieder) mit der Moderne zu verbinden verspricht. Er lässt verständlich werden, dass die menschliche Vernunft zwar zum Wesen des Menschen gehört, jedoch zugleich in ihren Inhalten der vernünftigen Selbstbestimmung abhängig bleibt von der Kultur, in dessen Begriffe und Kategorien die Neugeborenen hineinwachsen. Diese Begriffe werden, in einer Gleichursprünglichkeit von Form und Inhalt, durch die Bildung zur zweiten Natur dieser Men Sogenannte »sub-personale« Prozesse werden aus dieser Selbstbestimmung ausgeschlossen und rhetorisch als bloße Automatik (»machinery«) abgegrenzt : »It is true that the sub-personal machinery that enables us to have such standing operates outside the reach of our apperception. And there are … similiarities between our sub-personal cognitive machinery and the cognitive machinery of non-rational animals« (McDowell 2009a, 272). Die Grenze zwischen »personal« und »sub-personal« wird bei McDowell offenbar nach dem Kriterium der bewussten Verfügbarkeit für die explizite Reflexion gezogen. 144

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schen. M ­ cDowell nennt dies das Hineinwachsen in eine Tradition (­McDowell 1996, 125 f., auch : 2009a, 183 f.). Die Tradition bestimmt demnach die Einsätze und Zugriffe auf die Wirklichkeit, sie gibt der allgemeinen Gattungsform der Vernunft ihre spezifisch historische Ausprägung. Auf diese Weise kann die Vernunft irreduzibel menschlich und doch plural in ihren Perspektiven sein – das ist die Idee. Es ist also nicht möglich, auf den Gedanken einer Entwicklung zu verzichten, wenn denn diese Artikulation der Ratio­nali­tät die moderne Vielzahl von Perspektiven anerkennen will. Doch Entwicklung setzt Differenz voraus, eine Unterscheidung zwischen dem, was schon entwickelt ist, und dem, was noch nicht entwickelt ist. Oder, konkreter auf den Fall und auf die Logik der inklusiven Autonomie bezogen : Was bei dem Kind noch nicht unter dem Einfluss der rationalen Selbstbestimmung steht – denn Neugeborene sind, so McDowell (1996, 123), noch »mere animals, distinctive only in their potential« – ist bei Erwachsenen schließlich Teil ihrer durchdringenden »rational mindedness«. Die Eingemeindung des Sinnlichen in die Vernunft – oder die Entwicklung der Vernunft als eine besondere Form des Sinnlichen – ist ein Prozess. Mit Blick auf diese zeitliche Logik der Entwicklung stellt sich das Pro­blem, für das der aristotetelische Formbegriff nicht ausreicht : Wann ist diese Entwicklung abgeschlossen ? Zumindest auf der ontogenetischen Ebene muss sie einen Abschluss finden ; und historisch stellt sich die Frage, warum die neuzeitliche Aufklärung gerade der Punkt ist, an dem sich das Wesen der Ratio­nali­tät in seiner endgültigen Form manifestiert. Wann verläuft diese Entwicklung ideal, wo gibt es Fälle der Abweichung ? Die »pervasiveness thesis« kann hier keine Antwort geben, weil sie nur behauptet, dass dieser Unterschied alles erfasst. Sie nimmt den Standpunkt einer abgeschlossenen Entwicklung ein und unterstellt, dass dieser Standpunkt selbst epistemisch unpro­blematisch ist. Rhetorisch werden dieser Standpunkt und seine Selbstverständlichkeit durch das inklusive »wir« markiert, das implizit an das rationale Selbstverständnis der Leser und Leserinnen appelliert. § 83  Der Prozess der Entwicklung wirft die Frage auf, woran sich diese rationale Durchdringung alles Körperlichen zu einem bestimmten Zeitpunkt erkennen lässt- ontogenetisch, phylogenetisch Intellektualisierung der Erfahrung  |  179

und kulturell. Die formale Bestimmung des Menschen als vernünftiges Wesen verdeckt diese Differenzen. Sie verweist nur auf »unsere« menschliche Lebensform, die somit zunächst eine leere Form beschreibt. Die Antwort ist so allgemein, dass sie alles umfassen muss, was den Menschen auszeichnet – oder aber sie verweist auf eine Lücke, die noch durch weitere Spezifikationen zu füllen ist. Damit haben wir den theo­riestrategischen Ort der »kantischen« Ratio­nali­tät benannt. Sie füllt diese Lücke. Sie gibt an, wie die Ratio­nali­tät der spezifisch menschlichen Lebensform zu verstehen ist. Und damit beginnt das Pro­blem : Der Logik des aristotelischen Formbegriffs gemäß muss diese Auffassung der Ratio­nali­tät zu dem Inbegriff der menschlichen Ratio­nali­tät überhaupt und damit zum Inbegriff der gattungsspezifischen Natur des Menschen erklärt werden. Diese voll entwickelte Ratio­nali­tät ist dann der Maßstab, an dem wir eine gegebene Entwicklung beurteilen können. Was dem Kind fehlt, ist eben jene umfassende Autonomie, die dem Erwachsenen zu eigen sein soll. Wenn wir die Notwendigkeit der Bildung anerkennen, wird die scheinbar deskriptive Feststellung eines gattungsspezifischen Unterschiedes zwischen der menschlichen Lebensform und anderen Tieren notwendig normativ. Denn der Mensch ist das »nicht festgestellte Tier«, dessen Entwicklung in einem im Tierreich einzigartigen Ausmaß durch Sozialisation, Sprache und Kultur bestimmt wird.145 Selbst wenn wir bei Primaten Ansätze kultureller Tradierung von Wissensbeständen (z. B. im Werkzeuggebrauch) anerkennen, sind die Binnenunterschiede zwischen Primatenkulturen nie so groß wie die zwischen menschlichen Kulturen und Zivilisationen. Daher muss die Behauptung einer naturgegebenen vernünftigen menschlichen Lebensform methodisch supplementiert werden durch ein Maß, das diese Vielfalt wieder als Variationen der einen Vernunft fasst, die sich hier entfaltet. Eben dieses Maß ist die »kantische Ratio­nali­tät«. Klassisch artikuliert wird dieser anthropologische Topos in der sog. »Philosophischen Anthropologie«, wo die Entwicklungsoffenheit des Menschen mal als Mangel (Gehlen 2009), mal als positives Merkmal (Plessner 2003) eingeschätzt wird. Einschlägig für neuere empirische Forschungen zu einer kulturellen Anthropologie sind die Arbeiten von Michael Tomasello (1999, 2014). 145

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Das Schwanken zwischen einer deskriptiven Beschreibung und einer normativen Setzung erzeugt die Spannung, die für M ­ cDowells Naturalismus der zweiten Natur so charakteristisch ist. Der Hinweis, dass der aristotelische Formbegriff gerade die Einheit von Deskriptivem und Normativem zum Ausdruck bringen soll, greift hier nicht, denn es geht hier um das methodische Pro­blem, wie eine solche Form identifiziert werden kann und soll. So ist es historisch höchst unplausibel, dass die »kantisch« begriffene Ratio­nali­tät als – gleichsam teleologischer – Maßstab jeder kulturellen Ausformung der Intelligenz gelten kann. Und doch spricht McDowell davon, dass sich das Denken konstitutiv durch eine »standing willingness« (McDowell 1996, 12 f.) und eine »standing obligation« (ebd., 81) kritischer Selbstreflexion auszeichne.146 Hier wird eine genuin moderne Position unter Einebnung der historischen und kulturellen Differenzen als Ausdruck der menschlichen Ratio­nali­tät überhaupt ausgewiesen.147 § 84  Zum Abschluss der Diskussion soll nun gezeigt werden, wie sich dieser Intellektualismus auf McDowells Konzeption der Erfahrung auswirkt. Dass diese Konzeption überhaupt starke rationalitätstheoretische Prämissen voraussetzt, ist in den Diskussionen um den Erfahrungsbegriff oft nicht unmittelbar sichtbar. Gerade wenn wir, wie es Conant (2002) vorschlägt, den Fokus bei ­McDowells Überlegungen auf den kantischen Skeptizismus und die Möglichkeit von empirischem Gehalt überhaupt legen, scheint das Pro­ blemfeld primär durch die Frage umrissen zu sein, wie Erfahrun Ein weiterer Beleg für die hier geschilderte Richtung der Argumentation, die McDowell kontinuierlich durchhält, ist seine Einführung des Pro­blems in Mind and World. Er stellt Davidson und die Vertreter des »Mythos des Gegebenen« – also u. a. den Logischen Empirismus – als Positionen vor, die den Erfahrungsbezug falsch verstanden haben und nicht etwa die Kritik. Entsprechend besteht McDowells Korrektur der Erfahrung, nach der Abweisung von Davidsons Position als Kohärentismus, auch in einer im Verhältnis zum klassischen Empirismus »different notion of givenness« (McDowell 1996, 10). – Wichtige Elemente der hier vorgetragenen Kritik habe ich schon vorgestellt in Volbers 2012. 147 Daston 2001 zeigt, wie modern es ist, Neugierde als eine positive epis­ temische Tugend zu betrachten. Blumenberg 1966 sieht in der theoretischen Neugierde die spezifisch neuzeitliche, sie vom Mittelalter abgrenzende Errungenschaft. 146

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gen epistemische Bedeutung annehmen können. Dieser Eindruck wird gestützt durch die alltäglichen, geradezu banalen Beispiele, an denen diese Fragen diskutiert werden. Doch für McDowell besteht epistemische Signifikanz ja gerade in der freien (und doch gebundenen) Verfügung über die Erfahrung in der Reflexion ; eben das ist die von ihm herausgehobene Lektion der Kritik am formalistischen Freiheitsbegriff.148 Daher ist auch in dem einfachen Beispiel immer gleich die ganze vernünftige Form des Weltbezugs, die den Menschen auszeichnet, mit impliziert. Zu den Voraussetzungen dieses Verständnisses der Vernunft gehört auch die Orientierung am Leitbild der modernen Wissenschaften. Auch diese Ausrichtung wird durch die alltäglichen Beispiele, die McDowell diskutiert, verdeckt. Bei Sellars – auf dessen Empirismuskritik sich McDowell immer wieder als positives Vorbild bezieht – steht Ratio­nali­tät explizit als wissenschaftliche Ratio­nali­tät im Vordergrund.149 Diese Voraussetzung ist relevant, weil sie – in Verbund mit dem Vorverständnis der Kritik – den Begriff der Erfahrung vorprägt, an dem sich McDowell orientiert. Die Frage nach der objektiven Bindung der Vernunft durch die Erfahrung wird diskutiert als die Frage, wie der Gehalt von Erfahrungen in diskursive Begründungsketten eingehen kann. Entsprechend besteht das Pro­blem der Erfahrung darin, wie sie in Rechtfertigungen einfließt. In dieser Funktion stehen Erfahrungen bei McDowell im Vordergrund, und an ihr orientiert er seine Erläuterung des erfahrenden Weltbezugs : The thinkable contents that are ultimate in the order of justification are contents of experiences, and in enjoying an experience one is open to manifest facts, facts that obtain anyway and impress themselves on one’s sensibility (McDowell 1996, 29).

Die allgemeine Diagnose des Intellektualismus nimmt hier eine spezifische Form an. McDowells Zugang zum Pro­blem der Erfah­ rung steht ganz in der Tradition der sprachphilosophisch orientierten analytischen Philosophie, die den objektiven Bezug zur Wirklichkeit vorrangig am Leitbild von Beschreibungen oder, wie es Kukla und Lance formulieren, Bekanntgaben (declarations) der Vgl. auch McDowell 1996 Lecture I, sowie 129 – 137. So nennt Sellars die Naturwissenschaften die »sophisticated extension« des empirischen – also weltbezogenen – Wissens (Sellars 1963, 170). 148 149

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Form »Ich sehe einen Apfel !« diskutieren.150 Nach dieser Logik ist empirisches Denken zu erläutern als der diskursive Umgang mit Erfahrungsgehalten. Diese Auffassung hat Tradition in der analytischen Philosophie. So beschreibt der Wiener Kreis den empirischen Kontakt der Wissenschaft mit der Wirklichkeit durch Protokollsätze wie »Es regnet« (Carnap 1932b, 216 f.), und Sellars gibt Beispiele der Art »Das ist rot« (Sellars 1954, 210, 1963, 129). Davidson verändert diese Ausgangsposition nur dahingehend, dass für das Verständnis solcher Sätze noch die triangulierende Zustimmung anderer Beobachter erforderlich ist.151 Wir haben bereits in der Diskussion zu Carnap ausführlicher rekonstruiert, wie reduziert dieser deklarative Erfahrungsbegriff ist : Die Erfahrung wird fast ausschließlich am Beispiel der visuellen Wahrnehmung thematisiert, während pro­blematische und affektive Erfahrungen sowie auch solche, die nicht intersubjektiv nachvollziehbar sind, ausgeschlossen bleiben. McDowell tritt in seiner Diskussion nicht aus dem Schatten dieses Vorverständnisses heraus. Auch bei ihm werden Erfahrungen ausschließlich als Gehalte thematisch, zu denen Stellung genommen wird. Erlebnissen wie etwa Überraschungen, Kontrollverlust oder Irritation – die im Pragmatismus eine zentrale Rolle spielen – wird keine kognitive Relevanz zugesprochen. Das leitende Prinzip hinter diesem Ausschluss ist die Suche nach einem distanzierten Verhältnis zur Erfahrung. Visuelle Erfahrungen eignen sich besonders gut als Beispiel für solche Erfahrungen auf Distanz, denn sie haben die Eigenschaft, dass das Individuum sich von ihnen immer abwenden kann – und sei es durch das Schließen der Augen.152 Andere Formen der Erfahrungen, die eine solche Distanz nicht so einfach zulassen, fallen dadurch aus dem Raster der Beispiele dafür, was es heißt, eine Erfahrung zu haben. Austin nennt dies einen »descriptive fallacy« (Austin 1994, 3). Kukla und Lance finden den Ausdruck »declarative fallacy« (2009, 11), der umfassender ist, weil er auch Austins »performative« Aussagen (»Ich erkläre euch zu Mann und Frau«) mit einschließt – auch diese deklarieren. 151 Vgl. dazu Davidson 2009b, wo als Ausgangspunkt der Argumentation explizit Carnap (und zwar Carnap 1932a) dient. 152 Crary 1996 zeigt, dass selbst das distanzierende Beobachten sich erst im 19. Jahrhundert so herausgebildet hat, dass es heute wie selbstverständlich mit dem Sehen überhaupt identifiziert werden kann. 150

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Hinter dieser Auffassung steht eine nachvollziehbare und wichtige theoretische Motivation : Distanzierte Gehalte können angenommen und abgewiesen, in Kontexte gesetzt oder mit anderen Gehalten explizit in Beziehung gestellt werden. Gehalte sind somit wie selbständige Gegenstände, auf die sich die kritische Reflexion beziehen kann. Sie stehen dem Denken passiv zur Verfügung und können ihm so als Stütze oder als Widerstand dienen. Bildlich greifbar ist diese Auffassung im Wiener Kreis, der sich Protokollsätze als konkrete Niederschriften in einem Labortagebuch vorstellte : Der Erfahrungsbezug wird zu einem Datum, das dann noch einmal diskursiv eingeordnet wird.153 Man stellt sich vor, wie die Wissenschaftlerin auf der Suche nach Belegen in diesem Laborbuch blättert oder wie auf einer Sitzung des Laborteams auf solche Beobachtungen verwiesen wird. McDowell folgt diesem Bild, insofern er als basale Definition der Kritik die Fähigkeit nennt, über den epistemischen Wert ­einer Erfahrung zu entscheiden : »Minimally, it must be possible to decide whether or not to judge that things are as one’s experience represents them to be« (McDowell 1996, 11). Dieses »Minimalverständnis« ist jedoch bereits eine sehr spezialisierte Urteilsform, in dem sowohl die Erfahrung als auch der Urteilszweck einem wissenschaftlichen Vorverständnis unterworfen sind. Im Mittelpunkt steht die Nutzung der Erfahrung zum Zwecke der Erkenntnis : Erfahrungen sind primär Belege, in denen sich im Idealfall spontan die Welt erschließt ; und die kritische Dimension des Denkens besteht in der Fähigkeit, solchen potenziellen Belegen in ihrer Funktion als Beleg (»that things are as one’s experience represents them to be«) mit Skepsis zu begegnen. § 85  Der spezielle Zuschnitt dieser Perspektive wird noch einmal dadurch deutlich, dass wir im Alltag keineswegs bereit wären, alle Arten von Erfahrungen kritisch auf Distanz zu schieben und sie nüchtern-rational zu prüfen. Diese betrifft vor allem Erfahrungen, die ihre Subjekte ansprechen oder ergreifen, wie extreme Schmer Neurath illustriert diese deklarative Logik an dem Beispiel eines fiktiven »Robinson«, der seine Beobachtungen vom vorigen Tag durch Rückgriffe auf Protokolle rekonstruiert (Neurath 1932, 211). Dabei beschreibt Neurath diese Analyse konsequent so, dass Robinson seinen vergangenen Tätigkeiten wie ein Fremder gegenübersteht. 153

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zen oder intensive Gefühle. Hier kann Dreyfus’ Hinweis auf das »embodied coping«, wenn auch in einer abgeschwächten Variante, Beispiele geben. Wir müssen keinen prinzipiellen kategorialen Unterschied zwischen der bewussten theoretischen Reflexion und den körperlichen Vollzügen behaupten. Doch es gibt durchaus Situationen, die in einem erhöhten Maße ein Engagement der Akteure voraussetzen und dabei Erfahrungen bewirken, die durch die Reflexion nicht nur auf Distanz gestellt, sondern dabei auch verändert werden. Ein gutes Beispiel von Taylor Carman (2013, 174) ist die Konversation. Sie ist eine intelligente Tätigkeit, verlangt aber doch ein »flüssiges«, spontanes Einhalten von Normen und Regeln. Diese legen etwa fest, welche Themen angemessen sind, welcher körperliche Abstand eingehalten wird und wie die Redeanteile verteilt sind. Die Akteure sind in dieser körperlich grundierten Erfahrung oder im »flow«, wie Dreyfus sagen würde, sensibel gegenüber diesen Normen. Sie lassen sich von diesen Normen ansprechen und reagieren auf sie, etwa indem sie spontan einen Schritt zurücktreten oder erröten. Diese Sensibilität reflexiv zu artikulieren, erfordert jedoch einen beträchtlichen Wechsel der Perspektive und eine eigenständige Mühe der Artikulation.154 Die Fokussierung auf den Gehalt blendet also aus, dass ein Verfügen über Gehalte in der Reflexion bereits eine Leistung und Errungenschaft ist – was sich bereits dadurch äußert, dass sie von Gesprächspartnern eingefordert werden kann. Wir treffen wieder auf das Hauptpro­blem, das in diesem Kapitel diskutiert wird : ­McDowell setzt ein komplexes Resultat des Denkens als Maßstab desselben. Das von ihm eingesetzte Bild kommt dem Leitgedanken der Inklusion entgegen. Die rationale Autonomie, die kritische Selbstbestimmung im Denken, lässt sich als eine prinzipiell freie, aber eben doch bindende Zustimmung zu den Vorgaben der Erfahrung beschreiben. Die hier aufgeworfene Frage ist jedoch, ob dieses Der von Carman diskutierte Bruch zwischen der »Teilnehmerperspektive« und distanzierter Reflexion wird prominent von Heidegger thematisiert, wonach Gegenstände als neu­trale Objekte – die Heidegger »vorhanden« nennt – erst durch einen solchen Perspektivwechsel zugänglich werden (Heidegger 1967, 61). Dieser Wechsel wird methodisch intensiv in der Tradition der Ethnologie und der qualitativen Sozialforschung diskutiert (vgl. Kalthoff et al. 2008). 154

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Bild nicht – gegen alle eigenen Absichten – die Erfahrung überintellektualisiert. Der Testfall für diese Frage ist, ob es ­McDowell gelingt, unter Ansetzung dieses deklarativen Verständnisses der Erfahrung noch die rezeptive Abhängigkeit des Begriffs von der Erfahrung ange­messen zu erläutern. Im folgenden Abschnitt werde ich dafür argu­mentieren, dass ihm dies nicht gelingt.

Grenzen der passiven Erfahrung § 86  Die allgemeine Diagnose des vorigen Abschnitts ist, dass McDowell die für den Menschen behauptete konstitutive (und »durchdringende«) Ratio­nali­tät auf eine einseitig intellektualistische Weise fasst. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass dieses intellektualistische Bild der Kritik ganz konkret auch bei der Artikulation der empirischen Abhängigkeit durch die Erfahrung, wie sie sich bei McDowell finden lässt, Schwierigkeiten aufwirft – also bei dem eigentlichen Erklärungsziel eines »minimal empiricism«. Mit dieser Fragestellung kehren wir zu dem Leitmotiv zurück, das sowohl die formalistische Abstraktion der Vernunft als auch die postformalistische Kritik an ihr motiviert : Die Suche nach einem angemessenen Verständnis der Freiheit der Vernunft. McDowell geht nach eigenem Bekunden von einem kantischen Verständnis der Freiheit der Vernunft aus, dem zufolge Kants »Spontaneität« als die zweitnatürlich gegebene Fähigkeit zu verstehen ist, das eigene Leben in der Kontrolle rationaler Selbstbestimmung zu halten. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass dieses kantische Verständnis der Freiheit dem Postformalismus nicht gerecht werden kann. Die oben diagnostizierte Feststellung, dass die Erfahrung bei McDowell nur in der Rolle des empirischen Gehalts für die Vernunft eine Rolle spielt, führt letztlich zu einer Entkopplung der rationalen Selbst­ bestimmung von ihrer empirischen Bindung. Selbst also, wenn wir McDowells These akzeptieren, dass das kantische Bild der Ratio­ nali­tät die natürliche Vernunft des Menschen zum Ausdruck bringt, kann es nicht die gewünschte Situierung der Vernunft leisten. Das Pro­blem ist, dass das deklarative Verständnis der Erfahrung bei der Artikulation des rationalen Weltbezugs zu einem Bild des Urteilens zwingt, das die grundsätzlich richtige Einsicht der inklu186  |  Rehabilitierung der Objektivität 

siven Autonomie an einer entscheidenden Stelle – nämlich beim Thema der Kritik – wieder unterläuft. McDowells Erläuterung der empirischen Bindung des Denkens trifft die Unterscheidung zwischen den aktiven Vollzügen des Urteilens auf der einen Seite und den passiv gegebenen Erfahrungsgehalten auf der anderen. Diese Unterscheidung entsteht, wie ich zeigen möchte, unter dem Druck des deklarativen Vorverständnisses der Erfahrung und lässt das aktive Denken und die passive Erfahrung schließlich unvermittelt gegen­überstehen, so dass die behauptete Sachbindung der rationalen Autonomie wieder unverständlich wird. Hier wird das Argument, das McDowell gegen Davidson richtet, gegen McDowell selbst gewendet. Der Gegensatz zwischen einer völligen aktiven Freiheit der Verfügung über die je passiv gegebene Erfahrung kann nicht als Ausdruck sachhaltiger rationaler Auto­ nomie begriffen werden. In dem Dualismus von Passivität und Aktivität taucht also der formalistische Dualismus von Geist und Welt noch einmal auf einer anderen kategorialen Ebene auf – als ein Pro­blem des Gebrauchs der Erfahrung, in der Form des Umgangs mit ihr. Wir stoßen dadurch an die Grenze des deklarativen Erfahrungsverständnisses. Er lässt nicht zu, dass die Erfahrung selbst aktiv in das Urteilen eingreift und es mit bestimmt. Dadurch wird die bindende und korrigierende Kraft der Erfahrung, die mit der Passivität des Erfahrungsbegriffs einzufangen versucht wird, wieder depotenziert. McDowells Auffassung stößt immer wieder an eine Grenze, ab der die passiv gegebene Erfahrung gerade nicht das zu leisten vermag, wozu sie theoretisch aufgerufen ist – rationale Urteile epistemisch welthaltig zu legitimieren.155 § 87  Beginnen wir die Diskussion von McDowells Erfahrungs­ begriff mit einem Hinweis darauf, was in der hier eingenommenen Perspektive nicht zur Debatte steht. Mit dem Fokus auf die Passivität der Erfahrung stelle ich einen nicht unerheblichen Teil der Diskussion, die sich in der Sekundärliteratur auf McDowells Konzeption der Erfahrung einlässt, beiseite. Diese Debatte ist durchzogen von Die einzige Behandlung des Pro­blems der Passivität der Erfahrung bei McDowell, die ich kenne, stammt von Isabelle Peschard 2010. Ich folge in den zentralen Punkten weitgehend ihrer Argumentation, die freilich eine unverkennbar pragmatistische Grundierung hat. 155

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der Frage, ob McDowells These, dass alle Erfahrungsgehalte begrifflich strukturiert sind – die sogenannte Begrifflichkeitsthese – auch wirklich haltbar ist oder ob sie nicht in dieser oder jener Hinsicht korrigiert werden muss.156 Als zentraler Einsatz gilt die Frage nach der propositionalen Struktur der begrifflichen Gehalte, die in der Erfahrung vorliegen. In Mind and World erläutert McDowell die These der Begrifflichkeit der Erfahrungsgehalte als die Präsenz propositionaler Gehalte, wie etwa in dem folgenden Zitat : That things are thus and so is the content of the experience, and it can also be the content of a judgement : it becomes the content of a judgement if the subject decides to take the experience at face value. So it is conceptual content (McDowell 1996, 26).

Die These ist also, dass Erfahrungsgehalte eine propositionale Form aufweisen – gleich ob die Erfahrungen, wie in den von Dreyfus geschilderten Fälle des copings, in einer unreflektierten Form vorliegen oder bewusst Gegenstand eines Urteils sind. Diese Feststellung hat vor allem deshalb viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil sie es erlaubt, den Vorwurf des Intellektualismus an einer konkreten, greifbaren These zu diskutieren. Propositionen sind wahrheitsfähige Aussageteile, die etwa in der Form »dass p« ausgedrückt werden können. Als solche setzen sie bereits einen umfassenden anspruchsvollen kognitiven Zugriff voraus, der in den beiden Dimensionen, die wir bereits diskutiert haben – Mensch/Natur und Körper/ Geist  –, als Beschreibung der spezifisch menschlichen Ratio­nali­ tät in Zweifel gezogen werden kann. An der Propositionalitätsthese wird unmittelbar erkennbar, dass dieses Bild der Ratio­nali­tät und der Erfahrung wichtige Aspekte des Erlebens – wie etwa das »coping«, ästhetische Erfahrung oder Selbstwissen – auslässt.157 Dieser Debatte hat McDowell zumindest auf den ersten Blick den Boden entzogen, als er in einer vielbeachteten Selbstkorrektur Eine gute Übersicht und Fortführung der engeren, an McDowell orientierten Diskussion findet sich bei El Kassar 2015. Zu der Diskussion, dass der »Begriff des Begriffs« das eigentliche Pro­blem dieser Debatte ist, vgl. Demmerling 2012 und Lauer 2013. Prominente Verteidiger der Gegenthese des »nichtbegrifflichen« Gehalts der Erfahrung finden sich versammelt in Gunther 2003. Siehe auch für einen guten Übersichtsartikel aus dieser Perspektive Bermúdez 2007. 157 Ich folge hier der Zusammenfassung von Demmerling 2012, 14. 156

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(McDowell 2009a) die These der propositionalen Struktur der Erfahrungsgehalte explizit aufgab. In diesem Aufsatz führt ­McDowell die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Erfahrungsgehalten ein, die er als »anschaulichen« und als »diskursiven« Gehalt bezeichnet. Obgleich demnach auch auf der Ebene der Anschauung Gehalte vorliegen, die begrifflich geformt sind, müssen diese doch immer erst noch diskursiv aufgegriffen werden, um als propositionale Gehalte in explizit formulierten Urteilen zu erscheinen. Diese Unterscheidung soll dem Einwand Rechnung tragen, dass die Erfahrung einen Reichtum oder, wie es mit Blick auf visuelle Erfahrungen oft auch heißt : »Feinkörnigkeit« aufweist, die durch die These einer unmittelbaren propositionalen Form der Wahrnehmung nicht eingefangen werden kann. McDowell widerspricht also der Annahme, die Erfahrung müsse vollständig oder auch nur überhaupt einer expliziten Benennung unmittelbar zugänglich sein. Es sei absurd anzunehmen, »that we are ready in advance for words for every aspect of the content of our experience« (McDowell 2009c, 320). Vielmehr müsse ein anschaulicher Gehalt immer erst noch diskursiv artikuliert und damit auch spezifiziert werden. Ein Beispiel von McDowell ist, dass ein- und dieselbe Wahrnehmung, je nach begrifflichem Repertoire, die bloße Wahrnehmung eines Vogels oder, spezifischer, die Beobachtung eines »roten Kardinals« sein kann. Es ist also durchaus möglich, mit derselben Anschauung unterschiedliche diskursive Bezeichnungen zu begründen. Auch können Wahrnehmungen sich der diskursiven Thematisierung entziehen und es erforderlich machen, neue begriffliche Mittel zu entwickeln. Kurz, die Unterscheidung von anschaulichem und diskursivem Gehalt ist McDowells Versuch, den Einwänden gegen die ursprüngliche Fassung der Begrifflichkeitsthese Rechnung zu tragen, ohne dabei die Grundidee der inklusiven Autonomie aufzugeben. Denn auch die anschaulichen Gehalte sollen weiterhin begrifflich geformt und damit zumindest der Form nach einer diskursiven Explikation zugänglich sein : Every aspect of the content of an intuition is present in a form in which it is already suitable to be the content associated with a discursive capacity (McDowell 2009a, 264).

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Obgleich diese Korrektur wichtig ist, weil sie explizit anerkennt, dass der anschauliche Gehalt von Erfahrungen die diskursiven Ressourcen zu ihrer Artikulation durchaus übersteigen kann, verbleibt sie doch in dem Rahmen der Erläuterung der Erfahrung, die auch schon Mind and World bestimmt. Ähnlich wie beim Begriff der zweiten Natur ist die Denkfigur, die McDowell hier formuliert, eine Identität in der Differenz. Die Erfahrung, auf die wir in Urteilen verweisen, soll dieselbe Erfahrung sein, die im unreflektierten Handeln vorliegt – mit dem Unterschied, dass sie erst in dem Fall, in dem wir sie explizit als Urteilsgrund anerkennen, auch wirklich für uns normativ bindend wirkt. Diese Denkfigur wird durch die Unterscheidung von anschaulichem und diskursivem Gehalt bestätigt. Die diskursive Artikulation eines anschaulich gegebenen Gehalts erfordere nicht mehr, so McDowell, als »to make that content – that very content – explicit in speech or judgment« (McDowell 2009a, 264). Während die Differenz in der Erfahrung durch die Unterscheidung von anschaulichem und diskursivem Gehalt gewährleistet wird, wird die Kontinuität durch die Annahme gestiftet, dass der vom Urteil aufgegriffene Gehalt selbst durch das Urteilen unverändert bleibt. Für die Einheit zwischen diesen beiden Modi der Erfahrung bürgt in diesem Modell das Konzept der »begrifflichen Fähigkeiten«. Was Erfahrungen demnach eint, ob sie nun Gegenstand expliziter Reflexion sind oder sich einfach nur einstellen, ist ihre begriffliche Form. Diese Form ist das Resultat des respektive passiven oder aktives Einsatzes begrifflicher Fähigkeiten.158 In den unreflektierten Erfahrungen werden begriffliche Fähigkeiten, wie es heißt, »aktualisiert« ; eine andere Formulierung lautet, dass sie schon in der spontanen Erfahrung »wirksam« (operative) sind (­McDowell 1996, 11). Doch dieselben Fähigkeiten werden eben auch in der expliziten diskursiven Stellungnahme in Anspruch genommen. Es ist diese bruchlose Kontinuität, die Erfahrungen als potenzielle Gründe qualifiziert. § 88  Wir haben den für unsere Diskussion entscheidenden kon­ stanten Kern der Begrifflichkeitsthese herausgearbeitet : Die Grund Eine ausführliche Verteidigung der daraus verallgemeinerbaren »Fähigkeitskonzeption der Erkenntnis« bietet Kern 2006. 158

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idee ist die Verteidigung eines durchgängigen Erfahrungsgehalts von der sinnlichen Begegnung bis hin zur diskursiven Artikulation. Mit dieser Feststellung können wir uns nun der Frage zuwenden, wie dieses Modell der epistemischen Pro­blematik gerecht werden will, dass diese Erfahrungen in ihrer begrifflichen Formung objektiv und damit ein möglicher welthaltiger Urteilsgrund sein können. Grundsätzlich diskutiert McDowell diese Frage in einem Verständnis, das sich mit dem empiristischen Bild des Geistes, in dem die Welt als eine »Außenwelt« betrachtet wird, einverstanden erklärt.159 Für McDowell ist das Pro­blem mit diesem Bild die formalistische Art und Weise, wie es die Erfahrung beschreibt – sie wird als ein rohes, neu­trales, von der Vernunft noch nicht schematisiertes Datum konzipiert. Dem setzt McDowell die Begrifflichkeitsthese entgegen. In seinem Empirismus gibt es keine Erfahrungen außerhalb der Begriffe, was jedoch nicht heißt, dass die Welt selbst begrifflich strukturiert sei.160 Verteidigt wird vielmehr die These, dass die ganz Welt prinzipiell in Begriffen – und damit in der Form von Begriffen – zugänglich ist, auch wenn dafür immer wieder neue und andere Begriffe zu bilden sind.161 Die Begrifflichkeitsthese steht somit für einen nicht-formalis­ tischen Empirismus, der vor allem eine »different notion of givenness« (McDowell 1996, 10) in den Mittelpunkt rückt. Wie kann unter diesen Bedingungen noch die empirische Abhängigkeit von der Welt rekonstruiert werden ? Die klassisch empiristische Annahme, »In the picture I recommend, although the world is not external to the space of concepts, it is external to the exercise of spontaneity. Although we are to erase the boundary that symbolized a gulf between thought and the world, the picture still has an in-out dimension. Linkages between what is further in and what is further out stand for the availability of rational groundings, and the world – which is as far out as possible – is ultimate in the order of justification« (McDowell 1996, 146). Vgl. zu McDowells Empirismus auch Brandoms Aufsatz in Smith 2002 sowie McDowells Selbstbeschreibung : »The empiricist elements in Kant’s own conception are not minimized, but reconceived« (Smith 2002, 274). 160 Diesen Vorwurf eines »Begriffsrealismus« erhebt etwa Habermas 1999, 43. 161 Vgl. dazu Mind and World (McDowell 1996), Vorlesung II. – Die Begrifflichkeitsthese ist in Verbindung mit dem aristotelischen Begriff der zweiten Natur zu lesen. Der integrierende aristotelische Formbegriff erlaubt, sinnliche Wahrnehmungen als körperliche »transactions in nature« (McDowell 1996, xx) zu verstehen, die gleichwohl eine begriffliche Form aufweisen. 159

Grenzen der passiven Erfahrung  |  191

die sinnlichen Eindrücke wären kausal von der Außenwelt verursacht, vermag in McDowells Perspektive diese Abhängigkeit nicht hinreichend einzufangen. Gerade das war ja der Einwand gegen den Mythos des Gegebenen : Wenn Erfahrungen gegeben sind, dann nur in einer (»begrifflichen«) Form, durch die immer auch eine kritische Distanz möglich sein soll. Auch wenn Erfahrungen für ­McDowell durchaus kausal gegeben sind, ist diese Verursachung für ihn nicht, wie er in Abgrenzung zu Davidson schreibt, »brutely causal« (­McDowell 2009c, 139). Sie zwinge nicht zu der Annahme einer Überzeugung.162 Umso wichtiger wird angesichts dieser Zurückhaltung die Rückfrage, wie die Erfahrung dann noch jenen korrigierenden Einspruch erheben kann, den McDowells transzendentaler Empirismus explizit einfordert. An dieser theoretisch zentralen Stelle greift McDowells Argumentation auf die Entgegensetzung von passiv und aktiv zurück. Die Aktualisierung der begrifflichen Fähigkeiten in der normalen, unreflektierten Erfahrung wird als ein rein passives Ereignis beschrieben, das sich der kognitiven Kontrolle vollständig entzieht : »The content is not something one has put together oneself, as when one decides what to say about something« (McDowell 1996, 10). Erfahrungen markieren eine Grenze der Verfügbarkeit, denn es liege nicht in der Kontrolle der Individuen, was sie erfahren. Die Gehalte der Welt sind, so McDowell, »external to the exercise of spontaneity« (ebd., 146). Zwar sei es möglich, sich in vorbereitenden Handlungen auf Erfahrungen einzustellen und sich beispielsweise in eine optimale Position zu begeben, um etwas beobachten zu können. Doch welche Erfahrung dann eintritt, »having done all that« (ebd., 10, n. 8), unterstehe nicht mehr der aktiven Kontrolle. Die begrifflichen Vermögen würden »involuntarily« (­McDowell 2009a, 97) aktualisiert. Diese Passivität soll vor dem Einwand schützen, McDowell gibt diese Abgrenzung von Davidson auch als ein zentrales Motiv für seine klärende Selbstkorrektur hinsichtlich des propositionalen Gehaltes der Erfahrung an : »I want to insist, against Davidson, that experiencing is not taking things to be so. … If experiences have [only] propositional content, it is hard to deny that experiencing is taking things to be so, rather than what I want : a different kind of thing that entitles us to take things to be so. If experience comprises intuitions, there is a way between these positions« (McDowell 2009a, 269). 162

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dass die Verbegrifflichung der Erfahrung sie auf eine rein subjektive Projektion reduziere – vor dem Einwand also, Erfahrungen seien als begrifflich geformte Erfahrungen bereits ausschließlich Produkte unserer Subjektivität und damit gerade nicht mehr Ausdruck einer objektiven Begegnung mit der Welt.163 Die Passivität der Erfahrung soll die nötige Beschränkung (constraint) bieten, mit der eine inklusive Autonomie verteidigt werden kann : The fact that experience is passive, a matter of receptivity in operation, should assure us that we have all external constraint we can reasonably want. The constraint comes from outside thinking, but not from outside what is thinkable (McDowell 1996, 28).

Mit dieser Auffassung korrespondiert umgekehrt ein starker Freiheitsbegriff. Die Verfügung über die passiv gegebenen Erfahrungen liegt vollständig in die Hand der urteilenden Individuen. Während dem Individuum im Ereignis der Erfahrung die Hände gebunden sind – »in experience, one finds oneself saddled with content« (McDowell 1996, 10) –, genießt das Urteilen die Souveränität einer freien Stellungnahme. »Judging«, heißt es dann auch, »is free cognitive activity, but enjoying intuitions … is not« (McDowell 2009a, 97). In der kognitiven Tätigkeit des Urteilens greift das Subjekt den Erfahrungsgehalt auf, mit dem es konfrontiert ist, und kann beispielsweise darüber urteilen, ob es diesem Anschein der Erfahrung sein Vertrauen schenken sollte : »How one’s experience represents things to be is not under one’s control, but it is up to one whether one accepts the appearance or rejects it« (McDowell 1996, 11). Den Erfahrungen selbst und damit auch den durch sie zugänglichen epistemischen Gegenständen fehlt in diesem Modell die Macht, das Subjekt zu einem Urteil zu zwingen. Zwischen der anschaulichen Ebene der Erfahrung und ihrer diskursiven Artikulation liegt somit eine Grenze, die nur durch eine Initiative von Seiten des urteilenden Individuums überwunden werden kann. So spricht McDowell auch davon, dass Anschauungen die korrespondierenden Urteile »freigeben« (»intuitions enable knowledgeable judgments« ; McDowell 2009a, 266) oder dass sie zu einem diskursiven So verweist McDowell in einer Replik auf den Vorwurf von Michael Friedman, die Begrifflichkeitsthese würde die Unabhängigkeit der Erfahrung preisgeben, auf diese Passivität (McDowell 2002, 273). 163

Grenzen der passiven Erfahrung  |  193

Urteil »berechtigen« (»to entitle« ; McDowell 2009a, 269). Robert Brandom formuliert diesen Aspekt in McDowells Philosophie mit der Metapher, Erfahrungen stellten keine Urteile zur Verfügung, sondern »petititions for judgments«. McDowell greift dieses Bild affirmativ auf und paraphrasiert es als die Auffassung, Erfahrungen wären Einladungen (»invitations«).164 In all diesen Beschreibungen werden die passiv gegebenen Gehalte in einem Vokabular geschildert, das klar erkennen lässt, wer Souverän ist : Die Gehalte laden ein, ermöglichen oder geben Gesuche ab, und es obliegt dem Subjekt »to decide whether or not to judge that things are as one’s experience represents them to be« (McDowell 1996, 11). Es ist deutlich geworden, dass die Frage nach der Propositionali­ tät der Erfahrung zurücktritt angesichts der wichtigen Rolle, die die Passivität der begrifflichen Gehalte einnimmt. Wir sind offen gegenüber der Welt, insofern sie sich in propositionaler Form (oder in einer Form, die ohne Verlust propositional expliziert werden kann) im Subjekt passiv einstellt. Erfahrung ist in ihrer epistemologischen Dimension konstitutiv dadurch gekennzeichnet, dass sie sich der Kontrolle des Subjekts entzieht – so McDowells These. Obgleich in der Erfahrung begriffliche Fähigkeiten aktualisiert werden, ist dies ein passives Geschehen, auf das kein Einfluss genommen werden kann. Nur dadurch meint McDowell, dem beschränkenden Charakter der in die rationale Selbstbestimmung eingemeindeten Erfahrung gerecht werden zu können. § 89  Diese Konzeption hat nun mindestens zwei verwandte Pro­ bleme, auf die ich im Folgenden hinweisen möchte. Das erste Pro­ blem ist, dass sie die gesamte legitimierende Kraft der Erfahrung in dieses passive Ereignis der Aktualisierung der begrifflichen Fähigkeiten legt. Diese Position ist konsequent, wenn wir uns noch einmal das übergreifende Gesamtziel einer »Rehabilitierung« der Objektivität vor Augen führen. Erfahrungen sollen gerade nicht als subjektive Vorstellungen rekonstruiert werden, sondern als eine objektive, nicht-inferentiell gegebene Gegenwart. So verstanden, kann sie Gründe zur Verfügung stellen, die aus sich heraus bereits Brandoms Formulierung sowie McDowells Affirmation finden sich in Smith 2002, 95 und 278. 164

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Ausdruck einer objektiven und damit nicht skeptisch angreifbaren Beziehung zur Wirklichkeit sind : If an object is present to one through the presence of some of its properties … one is thereby entitled to judge that one is confronted by an object with those properties. The entitlement derives from the presence to one of the object itself (McDowell 2009a, 271).

Die Bedeutung dieser Objektivität ist vor dem Hintergrund der Pro­ bleme des Formalismus zu sehen : Dieser scheitert, wie McDowell ja ausführlich bei Davidson rekonstruiert hat, immer wieder daran, dass er die kausal erzeugten Überzeugungen immer noch in ihrer kausalen Herkunft rekonstruieren muss und daher sich nie sicher sein kann, dass diese Überzeugungen auch wirklich von der Welt stammen. Das »Anrecht« (entitlement) auf Objektivität wird im Formalismus damit dem Erfahrungsgehalt immer erst nachträglich gewährt, was eben jene Lücke zwischen Geist und Welt aufreißt, die den Formalismus insgesamt unhaltbar werden lässt. McDowells Konzeption vermeidet diese Konsequenz. Sofern die Erfahrung nicht täuscht, liegt mit ihr bereits auch ein objektiver Weltbezug vor. Die deklarative Verkürzung der Erfahrung führt hier jedoch zu einer entscheidenden Modifikation dieses Grundgedankens. Da ihr zufolge nur Gehalte objektiv in der Erfahrung vorliegen können, muss die gesamte epistemische Arbeit der Legitimation in eben diesen passiven Erfahrungskontakt mit der Wirklichkeit gelegt werden. Der passiv gegebene Gehalt trägt die Bürde, die in älteren Empirismen den Sinnesdaten oder den Protokollsätzen angelastet wurde. Warum ist das ein Pro­blem ? Die Schwierigkeiten dieser Auffassung beginnen, sobald McDowell den oben bereits eingeführten Unterschied zwischen der Aktualisierung der begrifflichen Fähigkeiten und ihrer Ausübung epistemologisch ausformuliert. Dieser Unterschied ist dann vor allem ein Unterschied in der Funktion, die dem Gehalt zukommt. Als anschaulicher, nicht artikulierter Gehalt ist die Erfahrung demnach noch nicht Ausdruck subjektiver Überzeugung : Hier liegt ein Gehalt vor, dessen epistemische Konsequenzen noch unbestimmt sind. Nur so kann die Vieldeutigkeit und Reichhaltigkeit der Erfahrung, die McDowell ja anerkennen will, bewahrt bleiben. Entsprechend hält McDowell fest : Grenzen der passiven Erfahrung  |  195

Experiencing is not taking things to be so. In bringing our surroundings into view, experiences entitle us to take things to be so ; whether we do is a further question (McDowell 2009a, 269).

Das Grundmotiv für diese Distanzierung der Erfahrung ist nachvollziehbar : Sie soll die ständige Möglichkeit der Kritik absichern. Und da es hier nur um das Potenzial zur Kritik geht, wäre diese These missverstanden, wenn sie gedeutet würde, als müssten wir im täglichen Umgang mit der Welt unseren Erfahrungen immer erst noch bewusst den Stempel der Überzeugung aufdrücken. Entscheidend ist die Möglichkeit, dass die eigenen körperlich-sinn­ lichen Vollzüge zum Gegenstand expliziter Stellungnahmen werden ­können.165 Diese Anforderung stellt jedoch auch eine pro­blematische Bedingung für den passiv gegebenen Erfahrungsgehalt selbst : Die kritische Distanzierung, also der zweite, immer mögliche Schritt, muss sich auf denselben Gehalt beziehen, der passiv gegeben oder affirmativ aufgegriffen wird. Und wenn dieser Gehalt nicht als eine subjektive Vorstellung im Geiste des Individuums begriffen wird – eine Position, die McDowell ganz in der Tradition der antirepräsentationalistischen Semantik der postanalytischen Sprachphilosophie ablehnt –, dann muss die Erfahrung selbst diese Neutralität gegenüber ihren möglichen Artikulationsformen aufweisen. Ein Beispiel ist die Müller-Lyer-Illusion, wo zwei Linien die gleiche Länge aufweisen, aber durch unterschiedlich gestaltete Enden so wirken, als wäre eine der Linien länger als die andere. Hier liegt eine Erfahrung vor, die sich unabhängig von unseren Überzeugungen hält – was dann übersetzt wird in die Aussage, dass derselbe Gehalt vorliegt, ob wir dieser Illusion nun verfallen oder nicht.166 »That rational capacities are pervasively in play in human epistemic life is reflected in the fact that any of it can be accompanied by the ›I think‹ of explicit self-consciousness« (McDowell 2009c, 271). 166 Coliva 2003, 61, zeigt, wie verbreitet die Annahme ist, dass solche Illusionen wie die von Müller-Lyer eine durchgreifende Identität des Gehalts bei wechselnden Beschreibungen implizierten. Dewey (MW 3, 158 – 167) findet für dieses Phänomen eine andere Erklärung : Für ihn bildet sich die Identität als das Resultat eines Prozesses der Ent-Täuschung heraus, in dem durch die in der Erfahrung selbst vorliegenden objektiven Eigenschaften (die messbaren Längen etwa) das erste, spontane Wahrnehmungsurteil korrigiert und dabei zugleich mit der ursprünglichen Illusion verbunden wird. Die Hartnäckigkeit, mit der 165

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Die Entkopplung des faktischen Erfahrungsgehaltes von der Haltung, die wir zu ihm einnehmen, wirft jedoch, worauf unter anderem Barry Stroud hinweist, große Verständnisschwierigkeiten auf.167 Die Idee, dass diese beiden Aspekte überhaupt getrennt werden, ist bereits kontraintuitiv. Wie kann eine Erfahrung als Grund für ein Urteil dienen, wenn nicht dadurch, dass wir mit ihr etwas über die Wirklichkeit selbst in Kenntnis zu nehmen glauben ? ­McDowell spricht oft davon, dass wir in die Erfahrung Fakten aufnehmen (»take in facts«). Zugleich spricht diese Konzeption den passiv gegebenen Gehalten den Status eines Faktums – also der Beschreibung eines objektiv bestehenden Sachverhaltes – ab, solange es nicht zu einem Urteil kommt. Doch wie kann der passiv gegebene Gehalt das Urteil rechtfertigen, wenn er nicht – »if only implicitly« (Peschard 2010, 159) – bereits als Fakt anerkannt worden ist ? McDowells passiv gegebene Erfahrungen haben den seltsamen Status, dass sie, wie es Kukla und Lance (2009, 71) formulieren, »proto-doxastisch« sind. Darin ähneln sie dem Postulat von »nichtbegrifflichem Gehalt«, der auch vor allem dadurch charakterisiert wird, was er nicht ist.168 McDowells proto-doxastische Erfahrungen sind keine Überzeugungen, aber sie sind zugleich das entscheidende Material, das eine Überzeugung zu einer inhaltlichen Stellungnahme zur Welt werden lässt. Die Gehalte sind die passiv gegebene Basis, der das behauptende (oder explizierende) Urteil noch fehlt ; und sie werden zu Behauptungen, indem ihnen nichts als die Entscheidung angefügt wird, sie für bare Münze zu nehmen. Das Subjekt, so heißt es ja programmatisch, »decides to take the experience at face value« (McDowell 1996, 26). Entscheidungen ohne Inhalt, und Inhalte ohne (implizite) Entscheidungen – diese Trennung wird vor allem pro­blematisch im trotz dieser Korrektur die optische Illusion bestehen bleibt, ist in Deweys Per­ spektive mit der relativen Seltenheit dieses Phänomens zu erklären. 167 Stroud 2002 ; ähnlich Davidson 1999b. Einen Überblick gibt Chen 2006. 168 So beginnt der Eintrag für »Nonconceptual Mental Content« in der online verfügbaren Stanford Encyclopedia of Philosophy mit dem Satz : »The central idea behind the theory of nonconceptual mental content is that some mental states can represent the world even though the bearer of those mental states need not possess the concepts required to specify their content« (meine Hervorhebung ; letzter Abruf am 14.10.2017). – Auf diese negative Definition eines Forschungsthemas weisen Kukla und Lance (2009, 71) hin. Grenzen der passiven Erfahrung  |  197

Lichte der Auffassung, dass es allein die Inhalte sind, die aufgrund ihrer Passivität die notwendige Reibung mit der Welt verbürgen. Auf welcher Grundlage kann eine solche Entscheidung gefällt werden ? Der Gehalt selbst kann sie nicht legitimieren, ohne dass bereits eine Entscheidung für ihn gefallen ist.169 Wenn die Entscheidung dagegen durch andere Gehalte legitimiert wird, ist sie nicht durch diesen Gehalt begründet. Entweder also ist die Entscheidung nicht der souveräne Akt, als der sie beschrieben wird, da sie nur ausspricht, was längst vollzogen worden ist – oder aber sie hat ihren Grund in einer weiteren Dimension des Weltverhältnisses als den unmittelbar gegebenen Gehalt. Dann liegt die Rechtfertigung aber, und das ist der entscheidende Punkt, nicht mehr in der passiv gegebenen Erfahrung begründet. Die normative Funktion der Erfahrung wird durch ihre Zugehörigkeit zu einer übergreifenden Kette von Rechtfertigungen getragen, nicht mehr durch die Erfahrung selbst. Diese Position ist vertretbar, aber als ein Empirismus kann sie nicht mehr durchgehen. § 90  Zur Verteidigung der Auftrennung von Gehalt und Stellungnahme verweist McDowell auf die Möglichkeit, dass wir einen gegebenen Gehalt anders verstehen können, als wir ihn zuvor begriffen haben. So beschreibt er in Reaktion auf Strouds Kritik die Szene, dass es einer Person unter schlechten Lichtbedingungen nicht möglich ist, die genaue Farbe einer Krawatte zu beurteilen.170 Das Urteil, dass die Krawatte grün zu sein scheint, wird dann erst unter besse Diese Reihenfolge gilt auch, wenn man die Auffassung vertritt, die anschaulichen Gehalte müssten erst noch diskursiv erfasst werden – denn diese diskursive Erfassung ist, wie oben belegt, ein völlig transparentes Erfassen, das den Gehalt gerade nicht zu verändern beansprucht. 170 McDowells Krawattenbeispiel spielt an auf Sellars 1963, 142–145, wo es zur Diskussion der Unterscheidung von »Es sieht so aus wie X« und »Ich sehe X« dient. Sellars behauptet explizit, dass der Unterschied zwischen »sieht grün aus« und »Ich sehe grün« ein Unterschied in der subjektiven Haltung zu der Erfahrung ist – die Erfahrung selbst sei identisch, sie werde im Urteil nur befürwortet (endorsed). (Sellars 1963, 145) In diesem endorsement claim ist die Wurzel des von Schnädelbach 2006 beklagten Fichteanismus der an Sellars orientierten postanalytischen Philosophie zu suchen. Pinkard 2007 gibt zu bedenken, dass Sellars’ Holismus gegen eine solche fichteanische Deutung spricht, da nicht das Individuum, sondern eine ganze Lebensform mit »verantwortlich« ist für die Befürwortung des gegebenen Erfahrungsgehalts. 169

198  |  Rehabilitierung der Objektivität 

ren Bedingungen zu der Behauptung, dass die Krawatte tatsächlich grün ist. In beiden Fällen, so McDowell (2002, 278), hätte aber derselbe Gehalt vorgelegen, und was variierte, war die Überzeugung, dass dieser Gehalt auch wirklich den Sachverhalt so trifft, wie er sich darstellt. Diese Szene ist aber kein gutes Beispiel, um McDowells Position zu verteidigen. Tatsächlich führt sie Faktoren ein, die McDowells passiver Erfahrungsbegriff auf Abstand halten will. Denn in diesem Beispiel wird die Frage, warum die Person zu ihren beiden Entscheidungen gekommen ist (eine »committal«, und eine »less committal«, wie McDowell es nennt), eben nicht mit dem Hinweis auf den Gehalt legitimiert. Was sich ändert, sind die Bedingungen, unter denen eine Erfahrung gemacht wird und die dadurch in die Erfahrung hineinspielen. McDowell beschreibt die Szene sogar so, dass im ersten Fall – wo es noch unsicher ist, ob die Krawatte wirklich grün ist – die Person sich darüber bewusst ist, dass unter solchen Lichtbedingungen der Farbeindruck täuschen kann. Hier ist die von McDowell als Beispiel angeführte Rechtfertigung in voller Länge : I thought I was looking at the tie under one of these lights that make it impossible to tell what color things are, so I thought it merely looked green to me, but I now realize that I was seeing it to be green (McDowell 2002, 277).

Das Urteil wird in beiden hier angeführten Fällen durch die Bedingungen legitimiert, unter denen die Erfahrung stattfindet, und das sogar explizit (»I thought I was looking … under one of these lights…«). Diese Bedingtheit durchbricht die Opposition, der zufolge die passive Erfahrung von jeder subjektiven Kontrolle ausgenommen ist. Diese Bedingungen sind, das impliziert die von ­McDowell angeführte Rechtfertigungspraxis, mit verantwortlich für die epistemische Qualität der Erfahrung. Bei beiden Urteilen ist nicht die Beobachtung selbst der ausschlaggebende Grund, der sie rechtfertigt. Die Bedingungen geben vielmehr unverzichtbare Hinweise darauf, wie weit dem Augenschein zu trauen ist, und verleihen dem speziellen Erfahrungsgehalt damit seinen epistemischen Wert. Beobachtungen bei schlechten Lichtverhältnissen geben keine gute Auskunft über Farbverhältnisse ; bei besserem Licht fällt das Urteil sicherer aus. Das heißt aber, dass die passive Erfahrung epistemisch Grenzen der passiven Erfahrung  |  199

eben durchaus unserer partiellen Kontrolle untersteht : Erfahrungen, die unter bestimmten Bedingungen entstehen, sind verläss­ licher als andere Erfahrungen. Nun lässt sich einwenden, dass diese Kontrolle sich nur auf unsere Stellungnahmen zur Erfahrung und nicht auf den konkret gegebenen Gehalt erstreckt. Wir können, so der Einwand, doch weiterhin behaupten, dass derselbe Gehalt anders gedeutet wird – nur mit dem Unterschied, dass wir unter verschiedenen Bedingungen diesem Gehalt jeweils mehr oder weniger Glauben schenken können. Und so will McDowell sein Beispiel auch verstanden wissen. Doch hier stellt sich die Frage nach der durchgängigen Identität des Gehaltes im epistemischen Prozess. Es wird unterstellt, dass der spä­ tere Gehalt, der eine klare Überzeugung zum Ausdruck bringt, auch schon in der früheren, nicht überzeugten Wahrnehmung »gegeben« ist. Diese kognitive Identitätsbehauptung lässt sich jedoch nicht mit dem Fluss der Erfahrung vereinen, der ja als Übergang von einem unklaren Verständnis hin zu einer festen Überzeugung beschrieben wird. McDowells Beispiel lädt eher zu einer prozessualen als zu einer deklarativen Beschreibung der Erfahrungsbestimmung ein : Hier werden zwei unterschiedliche Erfahrungen gemacht, die den habituellen oder expliziten Schluss erlauben, dass hier derselbe Gegenstand (und nicht dieselbe Erfahrung !) wortwörtlich in einem besseren Licht erschienen ist. Die Rede davon, dass derselbe Gehalt anders beurteilt wird, zäumt das Pferd vom falschen Ende her auf. § 91  Hier stoßen wir auf das Grundpro­blem der Art und Weise, wie McDowell das Verhältnis von anschaulichem und diskursivem Gehalt beschreibt. Sie unterschätzt die Komplexität des Prozesses der Artikulation, da sie aus epistemologischen Gründen dazu gezwungen ist, die Identität des Gehalts über den Prozess der Artikulation hinweg zu bewahren. Alles, was zur diskursiven Eingliederung eines Erfahrungsgehaltes nötig sei, »is for it to be focused on and made to be the meaning of a linguistic expression« (McDowell 2009c, 319). Diese Behauptung wird dann noch zusätzlich durch die transzendentale These gestützt, dass alle Anschauungen notwendig in einer begrifflichen und damit solcher Artikulation zugänglichen Form vorlägen. 200  |  Rehabilitierung der Objektivität 

Unter diesen Voraussetzungen aber kann die Artikulation keine epistemische Wirkung entfalten. Wenn die diskursive Explikation nur zum Ausdruck bringt, was sowieso schon vorliegt, ist sie selbst für das Resultat nicht verantwortlich. Die so verstandene Artikulation lieferte »only exculpations, not justifications«, um McDowells eigene Kritik an einer solchen Konsequenz zu zitieren (McDowell 1996, 9). Wenn wir umgekehrt annehmen, der Prozess der Artikulation veränderte diesen Gehalt, verliert wiederum der so gewonnene Gehalt seine fundamentale Passivität und ineins damit auch seine exklusiv rechtfertigende Rolle. Die Konsequenz dieser Überlegungen ist, dass McDowell die starke Trennung von Passivität und Aktivität im Urteilen – die ja primär epistemologisch begründet ist – aufgeben sollte. Und tatsächlich entspricht dies auch eher dem, was sich aus einer Phäno­ menologie der Erfahrung gewinnen lässt. Das deklarative Verständnis der Erfahrung fokussiert auf Beispiele, in denen über die Existenz eines Gegenstandes geurteilt wird. So diskutiert Andrea Kern als Beispiele von Fällen eines »Wissens durch die Erfahrung« die Wahrnehmung von Teetassen (Kern 2006, 139) oder die Wahrnehmung einer Tüte Apfelsaft im Kühlschrank (ebd., 175). Ein Beispiel, das in eine andere Richtung weist, schlägt Isabelle Peschard (2010, 152) vor : Wenn sie vor einem Bücherregal stehen, ›scannen‹ erfahrene Bibliotheksbenutzerinnen gleichsam die Buchrücken, um möglichst schnell den gesuchten Titel zu finden. Hier ist die Erfahrung zeitlich ausgedehnt, ein längerer Prozess, an dessen Ende idealerweise das gesuchte Buch steht. Aber dieser Prozess wäre falsch beschrieben, wenn wir ihn als eine Verkettung selbständiger Handlungen schilderten : Erst bewegen wir den Kopf, dann erhaschen wir einen Blick auf das Regal, bewegen den Kopf ein wenig weiter, werfen dann einen neuen Blick auf die Bücherwand und so weiter. Dies wäre eine Beschreibung von Einzelbewegungen, aber nicht die der sie umfassenden Handlung der Suche. Was fehlt, ist die übergreifende intentionale Einheit der Suchbewegung, in der Passivität und Aktivität miteinander verbunden sind. Und es ist diese Einheit, die diese passive Aktivität erst als eine Form der Erfahrung qualifiziert. Eine Erfahrung, die zudem einer kognitiven Kontrolle durch den Gegenstand untersteht, der mit ihr untersucht wird – das Bücherregal, das idealerweise zum gesuchten Buch hinführt. Grenzen der passiven Erfahrung  |  201

§ 92  Ein Einwand an dieser Stelle wäre, dass die behauptete Verschränkung passiver und aktiver Momente schlicht unnötig sei. Die Einheit kann doch in den Begriffen und ihrer logischen Vernetzung liegen : Mit jedem Blick auf das Bücherregal prüfen wir, ob wir unser Ziel erreicht haben, und passen unser Verständnis der Situation (unseren Begriff der Situation) entsprechend an. Das aktiviert entsprechende Wahrnehmungsmöglichkeiten, die dennoch weiterhin den von McDowell beschriebenen Bedingungen entsprechen. Der Blick bleibt fundamental passiv, und doch können wir, auf seiner Grundlage, unsere Handlungen aktiv kontrollieren. Dieser Einwand führt zu dem zweiten Punkt, der die Konzeption der Passivität der Erfahrung so pro­blematisch werden lässt. Er setzt voraus, dass die Erfahrungen – die einzelnen Blicke in unserem Beispiel – nicht unter unserer Kontrolle stehen. Doch die Suchbewegung ist nur angemessen verstanden, solange wir davon ausgehen, dass die Bewegungen einen Einfluss darauf haben, was erfahren wird. Sie sind eben nicht nur unbeteiligte motorische Ereignisse. Sie werden ausgeübt mit dem Ziel, die Erfahrung zu beeinflussen. Wir fokussieren den Blick, wir stellen uns in den richtigen Abstand zum Regal auf, lassen ihn gleiten, ohne dabei die Konzentration zu verlieren, und so weiter. All diese Aktivitäten dienen dazu, eine bestimmte Erfahrung zu erzeugen – den Anblick des Titels. Ich gehe hier also einen Schritt weiter als in der ersten Erläuterung, wo es nur darum ging, dass wir die epistemische Qualität einer bloß passiven Erfahrung kontrollieren können. Die weitergehende Behauptung ist, dass wir die Erfahrung selbst zumindest partiell kontrollieren können und der Gedanke der Passivität schon allein deshalb abzulehnen ist. McDowells Behauptung, dass wir keinen Einfluss darauf haben, was sich in der Erfahrung einstellt – »having done all that« (McDowell 1996, 10, n. 8) – erweist sich als ambi­valent. In welchem Sinne geben wir die Kontrolle in diesem Moment ab ? Richtig ist, dass wir keinen Einfluss darauf haben, ob jemand anders das gesuchte Buch ausgeliehen hat oder ob es verlegt wurde. Auch richtig ist, dass wir nicht beeinflussen können, ob wir eine rote, grüne oder ganz andere Farbe sehen. In diesem Sinne ist die Erfahrung durchaus passiv : Wir können nicht kontrollieren, ob und was sich in der Erfahrung erschließt. Aber es wäre absurd, zu behaupten, dass wir damit jede Kontrolle über die Erfahrung preisge202  |  Rehabilitierung der Objektivität 

ben. Denn wir verfügen über verschiedene Möglichkeiten, wie wir in Erfahrung bringen, ob etwas der Fall ist oder nicht. Hätten wir diese Möglichkeit nicht, würde die ganze Idee einer Suche ihren Sinn verlieren. Diese Fähigkeit, Erfahrungen – wie man es nennen könnte – bewusst zu provozieren, ist fundamental für unsere epistemische Praxis. Sie hat aber einen Charakter, den der deklarative Erfahrungsbegriff nicht einzufangen vermag : Hier wird die Erfahrung erst noch bestimmt, in einem Sinne, der über das bloße Explizieren eines gegebenen Gehalts hinausgeht. Wir beeinflussen die Erfahrung selbst, um einen Erfahrungsgehalt zu gewinnen. Die Möglichkeit, Erfahrungen in dem deklarativen Verständnis als Grund für eine Behauptung heranzuziehen, setzt auf eine solche erfolgreiche Arbeit der Bestimmung auf. Wir haben diesen Zusammenhang schon oben, beim Beispiel der Krawatte, angedeutet : Wenn wir uns nicht im Klaren darüber sind, was die Erfahrung bedeutet, dann untersuchen wir die Bedingungen, unter denen die Erfahrung gemacht wird, und machen andere Erfahrungen. Umgekehrt bedeutet dies, dass wir den Erfahrungen vertrauen können, insofern sie in eine Praxis eingebettet ist, der wir unser Vertrauen schenken. Und so ist es mit dem Sehen : Die Aussage »Ich sehe dies und das« ist verlässlich, weil wir die Praxis des Sehens gut beherrschen. Diese Argumentation kehrt also das zeitliche Primat der Passivität, wonach wir erst Gehalte wahrnehmen und dann zu ihnen Stellung beziehen, um. (Faust : »Und schreibe getrost : Im Anfang war die Tat !«) Eine rein passive Wahrnehmung kann nur als Grund dienen, insofern dahinter eine bereits etablierte Praxis steht, die keine Zweifel mehr zulässt, ob wir denn dieser Erfahrung trauen können. Und umgekehrt ist diese Praxis das Resultat einer sukzessiven Etablierung von Standards, in denen, wie es Wittgenstein formuliert, Erfahrungssätze zu Urteilsprinzipien werden, die uns bestimmte Resultate erwarten lassen.171 Solche Praktiken zu etablieren, nimmt einen großen Teil der experimentellen Arbeit in den Naturwissenschaften ein. Auch gehört es zu der naturwissenschaftlichen Schulung, den eigenen Blick zu schärfen und überhaupt erst die Fähigkeit zu erwerben, ›richtig‹ zu sehen – ein Prozess, der, wenn wir ihn 171

Wittgenstein 1997, Abschn. 124. Ausführlich dazu Volbers 2009, 145–202. Grenzen der passiven Erfahrung  |  203

zur Bildung zählen, die Bildung endgültig über das Erwachsenenalter hinaustreibt und sie zu einem prinzipiell unabgeschlossenen Vorgang werden lässt.172 In dieser Schule des Sehens verändern sich Erfahrungen nicht über eine Verkettung epistemischer Urteile, sondern in Folge senso-motorischer, instrumenteller und anderweitig praktischer Tätigkeiten. Diese bereiten Erfahrungsereignisse nicht einfach vor, sondern zielen auf sie und planen sie mit ein. In dieser übergreifenden Praxis verschränken sich Aktivität und Passivität, Kontrolle und Kontrollverlust auf eine Weise, die McDowells deklaratives Modell der Erfahrung nicht zu fassen vermag. § 93  Fassen wir die Ergebnisse der Diskussion um den passiven Erfahrungsgehalt zusammen. Wir haben McDowells Modell vorgestellt, in dem die Erfahrung sich epistemisch dadurch auszeichnet, dass sie ein wesentlich passives Ereignis ist. Hintergrund dieser Auszeichnung ist der inklusive Begriff der Autonomie : Die Freiheit der Vernunft soll sich, nach diesem inklusiven Autonomieverständnis, als eine Verschränkung von Freiheit und Beschränkung ausweisen. Diese Verschränkung beschreibt McDowell in den Bahnen des deklarativen Zugriffs auf die Erfahrung : Es stellen sich passive Erfahrungen ein, die die Kraft haben sollen, das aktive Handeln und Urteilen zu binden. Wir haben vor allem auf zwei Punkte hingewiesen, wo diese Auffassung an ihre Grenzen stößt. Zum einen zwingt der deklarative Erfahrungsbegriff dazu, die bindende Autorität der Erfahrung vollständig in diese Erfahrungsgehalte zu legen, wie sie nach diesem Modell verstanden werden. Die Passivität entzieht diese Gehalte der subjektiven Willkür und damit dem Vorwurf des (»schlechten«) Idealismus. Doch damit wird es auch erforderlich, diese objektiven Gehalte als Gegenstände der subjektiven Stellungnahme zu beschreiben, die von jeder Überzeugung befreit sind. Diese »protodoxastischen« Erfahrungen können jedoch, so das Argument, nicht die gewünschte legitimierende Rolle übernehmen : Es bleibt unklar, was ein Gehalt ohne wenigstens implizite Stellungnahme sein soll, und es bleibt unklar, welcher Gehalt bei konkurrierenden Beschrei Zu den unterschiedlichen Formen, wie in der Wissenschaft im Namen der Objektivität die Wahrnehmung geschult wird, vgl. Daston/Gallison 2007. 172

204  |  Rehabilitierung der Objektivität 

bungen (wie der grünen Krawatte) als der ›eigentlich‹ wahrgenommene Gehalt gelten muss. Da diese Entscheidung nicht allein vom jeweiligen Gehalt selbst abhängt, ist der Gehalt gerade nicht der überzeugungsneu­trale passive Rechtfertigungsgrund, als der er eingeführt wurde. Mit diesem Schluss gelangt auch ein zweiter Aspekt dieser Auffassung an seine Grenzen. McDowell erläutert Erfahrungsgehalte als Ereignisse, die sich jeder Kontrolle entziehen, während die Aktivitäten des Subjekts als frei und unabhängig beschrieben werden. Dagegen zeigt sich im Lichte der hier vorgenommenen Neubestimmung des Erfahrungsbezugs, dass wir durchaus auch für unsere Erfahrungen mit verantwortlich sind. Es liegt auch in unserer Kontrolle, und damit in unserer kognitiven Verantwortung, was wir erfahren, wie auch die Art und Weise, in der wir erfahren. Und wenn wir die Trennung von Gehalt und Stellungnahme nicht akzeptieren, dann liegt darin eben auch eine Verantwortung für die Gehalte und nicht »nur« für die epistemische Qualität eines Gehaltes. In der Konsequenz bedeutet dies, dass die Annahme aufgegeben werden muss, dass die rationale Kontrolle der Autonomie sich als eine souveräne Verfügung über (potenziell bindende) Gehalte darstellen lässt. Wir müssen den Begriff der Freiheit, die in der ratio­ nalen Autonomie ausgeübt wird, ein drittes Mal qualifizieren. Im Verhältnis zum Formalismus ist McDowells Modell ein deutlicher Fortschritt : Während die formalistische Freiheit absolut ist, kann McDowell verständlich machen, dass Erfahrungen gute Gründe zur Verfügung stellen können und damit durchaus Teil der rationalen Selbstkontrolle sind. Doch da McDowell, dem deklarativen Rahmenverständnis folgend, Erfahrungen nur als Gründe versteht, bleibt die rationale Bindung durch die Erfahrung letztlich unerläutert. Was McDowell nicht beschreiben kann, ist die Nötigung durch die Erfahrung – und damit die kognitive Kontrolle, die der Gegenstand selbst auf unsere epistemischen Praktiken, und damit auf den Vollzug des Denkens, auszuüben vermag. Diese Nötigung muss über die bloße Passivität eines »gegebenen« Gehalts hinausgehen. Die Erfahrung muss in die rationale Selbstbestimmung des Denkens selbst eingreifen und an ihr mitwirken. Während Davidson die »brutale« Kausalität der direkt erzeugten Überzeugung verteidigt, gegen die McDowell die »rationalisierte« Kausalität einer Erfahrung Grenzen der passiven Erfahrung  |  205

ohne Überzeugung setzt, muss ein erweiterter Erfahrungsbegriff diese Alternative durchbrechen. Dazu ist es nötig, das enge Verständnis der Erfahrung als »Gehalt« aufzugeben, das den epistemischen Weltbezug auf eine einzige Relation – das Vorliegen einer möglichen deklarativen Einsicht über die Welt – reduziert. An die Stelle dieser einen Bindung, die entweder »kausal« oder »normativ« beschrieben wird, muss eine Vielzahl von Bindungen treten, die gemeinsam die Erfahrungsbildung beschreiben. Abhängigkeit und Freiheit treten in diesem erweiterten Erfahrungsverständnis nicht in einen unmittelbaren Gegensatz, sondern in ein Bedingungsverhältnis ein, das prozessual beschrieben wird. In dieser Perspektive wird die von McDowell und anderen analytischen Philosophen voraus­gesetzte Souveränität des Blicks als eine Errungenschaft sichtbar und damit als eine Leistung. Die Freiheit dieser Form epistemischer Erfahrung ist auch eine Form von Abhängigkeit und nur als eine solche verständlich. Damit geht, wie wir gesehen haben, keine Preisgabe des Gedankens der rationalen Autonomie einher, sondern die konsequente Anwendung der Einsicht, dass Freiheit und Beschränkung sich bedingen.

206  |  Rehabilitierung der Objektivität 

Zwischenreflexion : Der Ort der Philosophie § 94  Die Diskussion von McDowells Philosophie hat mit der Kritik an seinem Erfahrungsbegriff einen Schlusspunkt erreicht, mit dem auch die hier verfolgte Diskussion der analytischen Traditionslinie endet. Um den Weg von Wien nach Pittsburgh zu gehen, ist es nötig gewesen, zahlreiche Grundgedanken der Wissenschaftlichen Welt­ auffassung als Ballast abzuwerfen. Das modernistische Leitmotiv einer konsequent wissenschaftlichen und damit in den Augen des Wiener Kreises rigoros formal orientierten Selbstreflexion ist immer mehr der Anerkennung einer konstitutiven Verstrickung des Denkens mit der Welt gewichen. Überzeugend haben Davidson und McDowell gezeigt, dass die rationale Autonomie weder von der gemeinsamen kommunikativen Praxis (Davidson) noch von der konkreten Natürlichkeit des animal rationale (McDowell) getrennt werden kann. Und doch hat, wie wir abschließend feststellen können, auch McDowell den Gedanken der situierten Autonomie nicht schlüssig umsetzen können. Hinter diesen Schwierigkeiten verbirgt sich ein allgemeineres Pro­blem, das über die spezifischen Konturen von McDowells Philosophie hinausweist. Halten wir zunächst ihren kritischen Einsatzpunkt fest, an dem seine Ausführungen gemessen werden müssen : Die Freiheit, die mit dem Ideal rationaler Selbstbestimmung verbunden ist, kann nicht total sein. Die Vernunft muss ihre konstitu­ tive Abhängigkeit von der Erfahrung anerkennen, um ihre Freiheit zu gewinnen. Autonomie, wenn sie nicht doch wieder formalistisch leerlaufen und damit die dualistische Trennung von Geist und Welt einführen soll, ist eine Freiheit in der Abhängigkeit oder eine Abhängigkeit in der Freiheit. Das kritische Resultat der Sichtung von McDowells Position ist nun, dass er diese rationale Freiheit aber gerade nicht verständlich zu machen vermag. Zwar erkennt McDowell die Notwendigkeit an, das Denken als eine abhängige Form der Orientierung in der Welt zu beschreiben. Dazu greift er auf den aristotelischen Begriff   |  207

der zweiten Natur zurück, beharrt auf der Kontinuität von Mensch und Tier und schließt die Erfahrung – dem Prinzip einer inklusiven Autonomie gemäß – als begrifflich geformten Weltbezug in die rationale Selbstbestimmung mit ein. McDowells naturalisierter und historisierter und damit de-transzendentalisierter Kantianismus ist der Versuch, die Einsicht zu artikulieren, dass rationale Autonomie und Freiheit nur in der Abhängigkeit von Natur und Erfahrung begriffen werden können. McDowells Artikulation bleibt jedoch noch zu sehr im Schatten der Pro­blemkonstellation, die der Wiener Kreis etabliert hat, um diese Einsicht auch adäquat zu fassen. Dies zeigt sich zum einen an dem deklarativen Begriff der Erfahrung, den McDowell als expla­ nandum seiner Erläuterung des rationalen Weltbezugs ansetzt. Es zeigt sich zum anderen aber auch an seiner Auffassung dessen, was Philosophie und philosophische Reflexion ist. Im Folgenden soll es darum gehen, am Leitfaden der bisherigen Ergebnisse zwei kritische Punkte für eine konsequent post-formalistische Konzeption der Vernunft herauszuheben : Erstens erfordert eine Situierung der Vernunft auch eine Situierung der Philosophie, um die Pro­bleme der philosophischen Reflexion an die Praxis zu binden. Zweitens ist es erforderlich, einen entscheidenden Schritt über den deklarativen Erfahrungsbegriff hinauszugehen und Erfahrungen auch als aktiv treibende Momente des Denkens – und eben nicht nur als Gegenstand urteilender Bezugnahmen – anzuerkennen. Beide Punkte hängen zusammen. Sie haben ihre Einheit darin, dass die Praxis der Reflexion selbst nicht konsequent genug als Praxis gedacht wird. Die intellektualistische Konzeption hat Schwierigkeiten, zu erklären, wie es zu den Pro­blemen kommt, die sie dann begrifflich behandelt. Was ihr fehlt, ist die Anerkennung einer Phase des Denkens, in der die Pro­bleme noch nicht bereits begrifflich aufbereitet und intellektuell kategorisiert worden sind. Was ihr fehlt, ist somit eine Konzeption, die das Denken nicht nur in seinen Inhalten, sondern auch in seinen Vollzügen an Erfahrung koppelt – eines Denkens der Vernunft als Erfahrung. § 95  Beginnen wir mit der Feststellung, dass McDowells Antwort­ strategie vor dem Hintergrund der erklärten Verteidigung eines angemessenen Begriffs rationaler Autonomie vor allem eine auffäl208  |  Zwischenreflexion 

lige Eigenschaft aufweist : Die Abhängigkeit des Denkens von der Welt wird immer nur in einer Richtung affirmiert. Gezeigt wird, dass das Denken von der Welt abhängig ist, und gefragt wird, wie die postformalistische Kritik diese Abhängigkeit einzufangen vermag, etwa über eine revidierte (nämlich »begriffliche«) Konzeption der Erfahrung. Es wird jedoch nicht darüber reflektiert, inwiefern diese Antwort nun selbst wieder Konsequenzen für die Welt hat. ­McDowells intellektualistische Antwortstrategie verbleibt in einer angesichts ihrer Intentionen doch irritierenden Kontinuität zum Formalismus, insofern sie die Pro­bleme des Denkens wie Gegenstände behandelt, die gegenüber der zu situierenden Vernunft prinzipiell äußerlich sind. Diese Trennung von Philosophie und Denken zeigt sich deutlich in einigen methodischen Selbstverortungen, in denen McDowell seine Konzeption als einen »Quietismus« beschreibt, der bestimmte Fragen abweist, indem ihre falschen Voraussetzungen bloßgestellt werden.173 An dieser Zurückweisung ist nun nicht etwa der kritische Gedanke selbst pro­blematisch, wonach bestimmte Fragen, wie sie etwa der epistemologische Skeptiker formuliert, nicht kohärent gedacht sind und daher auch keine Antwort erhalten können. Pro­ blematisch ist die methodische Annahme, dass diese Fragen nur durch falsche intellektuelle Prämissen getragen werden – als wären diese Prämissen und die sie tragenden Begriffe wie Spielfiguren, die aus einem laufenden Spiel ohne Verlust und Konsequenzen herausgenommen werden können.174 Eine solche Auffassung spricht ­McDowell aber aus, wenn er feststellt, dass der Begriff der Natur – der ja der Inbegriff der formalismuskritischen Situierung der Vernunft ist – für ihn nach der geleisteten philosophischen Perspektivenkorrektur keine eigenständige Arbeit mehr zu leisten hat : Once my reminder of second nature has done its work, nature can drop out of my picture too, leaving the moment of receptivity to dis So spricht McDowell von der Notwendigkeit, falsche Verständnisse »auszutreiben«, to exorcize (McDowell 1996, 176, 147). Diese Haltung soll auf Wittgenstein zurückgehen (ebd., 93). Eine Kritik dieser Wittgensteininterpretation entwickle ich in Volbers 2009. 174 Die Annahme, Prämissen und schlechte Begriffe ließen sich »einzeln« kurieren, ist auch deshalb pro­blematisch, weil sie die holistische Vernetzung aller Begriffe ausblendet. 173

Der Ort der Philosophie  |  209

solve pseudo-pro­blems stemming from the appearance that radical autonomy would make objective purport impossible (McDowell 2002, 277).

McDowell bezeichnet die Frage nach der Vereinbarkeit von objektivem Gehalt und und radikaler Autonomie als ein »pseudo-pro­ blem«, das sich nur unter falschen Prämissen und Begrifflichkeiten einstellt. Das Naturverhältnis sei kein Pro­blem für die Vernunft selbst. In diesem Zitat nimmt McDowell als Philosoph eine Per­ spektive ein, die der kritisierten formalistischen Entkopplung von der Welt in einer wesentlichen Hinsicht nach wie vor gleicht : Das Verhältnis zur Welt wird als ein Pro­blem der Oberfläche gesehen, der philosophischen Oberfläche in diesem Fall ; und lösen lässt es sich, indem mit philosophischen Mitteln – z. B. durch die im obigen Zitat erwähnte »Erinnerung« an den Begriff der zweiten Natur – zum eigentlichen Kern vorgedrungen wird. Der Anschein der Widersprüchlichkeit verschwindet dann im Resultat– so wie die klassische Sprachphilosophie auch mit den Mitteln der logischen Analyse Widersprüche und Konflikte als Schein entlarven will. McDowell freilich kehrt dieses traditionelle sprachanalytische Verständnis um : Wo die Sprachanalyse die normale Sprache als verwirrt oder zumindest als unübersichtlich ansieht, verortet er die Konfusion auf der Seite der Philosophie. Das falsche Freiheitsverständnis, dem sich seine Kritik zuwendet, ist seiner Ansicht nach eine Schwierigkeit für die angemessene philosophische Artikulation von Geist, Natur und Welt – nicht aber, so wird suggeriert, ein Pro­ blem für die tägliche Arbeit des animal rationale. McDowells methodische Überlegungen unterscheiden implizit zwischen philosophischen Reflexionen, die auf einer Metaebene über das Verhältnis von Geist und Welt reflektieren, und vernünftigen Vollzügen des common sense, in dem Urteile wie »spring has begun« gefällt werden.175 Nur unter dieser Voraussetzung kann behauptet werden, dass eine philosophische Reflexion, die bestimmte Voraussetzungen zurückweist, die Objektivität des Weltverhältnisses rehabilitiert. Was diese Rehabilitation korrigieren will, ist so gesehen der Einfluss der So auch die Kritik von Michael Williams : »the deep source of McDowell’s views is a conviction he shares with the philosophical tradition he is trying to escape : there is something to be said about ›rational control‹ at the stratospheric level of ›mind‹ and ›world‹» (1999, 195). 175

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Naturwissenschaften auf eine philosophische Reflexion, die sich in mancher Hinsicht besser an den common sense hätte halten sollen.176 § 96  McDowells Intellektualismus in der Durchführung seiner Situ­ ierung der Vernunft korrespondiert, wie sich nun festhalten lässt, mit einem Intellektualismus im Verständnis der Philosophie : Die Philosophie ist eine Selbstreflexion des Denkens, in der für ihn das Denken selbst nicht in Frage steht. Diese Haltung drückt sich auch in der Auffassung aus, dass der common sense von der begrifflichen Verwirrung, die die Philosophie bekämpft, freigesprochen wird. Das Ziel dieser Philosophie ist die Verteidigung eines common sense, der skeptische Fragen – so McDowells (1996, 44) Auffassung – ­immer schon zurückweise und der die Welt als vom Denken unabhängig begreife : The aim here is not to answer sceptical questions, but to begin to see how it might be intellectually respectable to ignore them, to treat them as unreal, in the way that common sense has always wanted to (­McDowell 1996, 113).

Diese Bemerkung formuliert zunächst ein entscheidendes Motiv der Kritik am Formalismus, das wir im dritten Kapitel isoliert haben : Der epistemologische Skeptizismus muss zurückgewiesen werden, da sein Zweifel mit einem dualistischen Verständnis von Geist und Welt operiert, das er – in Ermangelung eines verständ­ lichen Begriffs von Gehalt – eigentlich gar nicht mehr in Anspruch nehmen kann. Doch ist diese Ablehnung der unplausiblen formalistischen Position identisch mit einem common sense ? Die Identifikation des common sense mit einem aufgeklärten Antiskeptizismus unterschlägt, dass Inkohärenz, Verwirrung und logische Inkonsequenz durchaus auch ihren Aufenthalt im common sense haben. Es sind die strengen philosophischen Standards der Reflexion, die aus der Beobachtung, dass die skeptische Position in sich inkohärent ist, erst einen Einwand machen. Das Pro­blem mit argumentativen Bezugnahmen auf den common sense ist immer, dass sich schnell Gegenbeispiele finden. So lässt McDowell : »philosophy’s task is rather to dislodge the assumptions that make it look difficult to find a place for meaning in the world. Then we can take in our stride meaning’s role in shaping our lives« (McDowell 1996, 176). 176

Der Ort der Philosophie  |  211

sich bestreiten, dass »wir« selbstverständlich von einer »independence of the reality to which our senses give us access« (­McDowell 1996, 44) ausgehen. Denn es gehört eben auch zum common sense, dass die Welt sich in einem ganz unspektakulären Sinne durchaus als abhängig von unserem Denken erweist – nämlich dann, wenn wir auf sie einwirken, wenn wir sie verändern, wenn wir sie intelligent bearbeiten. Diesen Aspekt des common sense etwa hebt der Pragmatismus hervor, der gerade diese bewusste Veränderung der Wirklichkeit in das Zentrum seiner Reflexion über die Vernunft stellt. In dieser Perspektive ist es sogar eine Kernannahme des gewöhnlichen Lebens und Handelns, dass wir davon ausgehen, dass das Denken nicht folgenlos bleibt – nur deshalb kann überhaupt erst die Frage relevant werden, wie wir denken sollten. Die Unabhängigkeit der Wirklichkeit, die McDowell zufolge bewahrt oder wieder rehabilitiert werden sollte, muss also qualifiziert werden. Dazu bedarf es jedoch Begriffe, die keinesfalls als common sense gelten können, sondern vielmehr ein voraussetzungsreiches philosophische Fachvokabular einsetzen (in Ausdrücken wie »onto­logische Unabhängigkeit«, »unabhängig vom Zugang zur Welt«).177 Aus einer praxisorientierten Perspektive lässt sich der von ­McDowell angesprochene Skeptizismus weiterhin als begrifflich inkohärent begreifen, doch er kann als das Symptom einer Pro­ble­ matik begriffen werden, die den Alltag und damit die Lebenspraxis durchdringt. Was unsere Sinne wahrnehmen, ist keine »unabhängige Wirklichkeit«, sondern eine in vielen Hinsichten von dem Menschen sichtbar veränderte Welt. Diese konstruktive Seite wird gerade in der Moderne sichtbar, wo neue Techniken und neue mediale Distributionsformen das erste Mal in der Geschichte der Menschheit eine in großen Teilen ausschließlich durch Medien vermittelte Umwelt schaffen, in der Zeitungen, Fernsehen oder heute das Internet ebenso selbstverständlich zu der sinnlichen Welt gehö Vgl. für eine ausführlichere Diskussion der pragmatistischen These, dass das Denken die Welt selbst verändert, Godfrey-Smith 2016. Zur Diskussion der möglichen Lesarten der These einer »Unabhängigkeit von der Welt« siehe Willaschek 2000. Markus Gabriels These, dass es »die Welt nicht gibt« (z.B. in Gabriel 2014), spielt mit der Tatsache, dass der philosophische Begriff der Welt und die daraus erzeugten Pro­bleme – wie »das Außenweltpro­blem« – definitiv nicht common sense ist. 177

212  |  Zwischenreflexion 

ren wie Bäume oder Steine.178 Ganz zu schweigen davon, dass selbst schon die einfachsten Gebrauchsgegenstände von Menschenhand gemacht werden müssen und es allgemein keine ungewöhnliche Erfahrung ist, dass ein Produkt, ein Plan, ein Versprechen nicht das ist, was es dem ersten Anschein zufolge zu sein verspricht. Das Pro­blem, auf das der Skeptizismus hinweist, wäre in dieser Perspektive, wie angesichts dieser künstlichen Umwelt und den vielfältigen Möglichkeiten der Manipulation und Täuschung noch verlässlich zwischen Schein und Sein unterschieden werden kann. Dieses Verständnis des Skeptizismus als die Reaktion auf ein praktisches Unterscheidungspro­blem soll hier nicht weiter verteidigt werden.179 Es deutet aber bereits an, was es heißen kann, auch die philosophische Selbstreflexion zu situieren – nämlich ihre Fragestellungen als zwar im Verhältnis zum common sense verschobene, aber dann doch durch die Praxis aufgeworfene und insofern auch in ihr verankerte Pro­bleme zu begreifen. § 97  Eine solche Perspektivenverschiebung, die Philosophie und Denken wieder miteinander verbindet, setzt jedoch eine Revision des Erfahrungsbegriffs voraus. Das ist die zweite allgemeine Pro­ blematik, die sich aus der Diskussion von McDowells Philosophie gewinnen lässt. Der vom Wiener Kreis verkürzte Erfahrungsbegriff vertreibt die reflexive Infragestellung des Denkens letztlich aus der philosophischen Debatte. Die Erfahrung wird vom Wiener Kreis als Lieferantin möglicher Inhalte behandelt, und spätere Pro­ blematisierungen bleiben an diesem Paradigma der Deklaration orien­tiert. Diese Auffassung hegt nicht nur die Erfahrung ein, indem sie diese gleichsam zähmt und etwa Erfahrungen des Begehrens oder der Irritation nicht für epistemisch relevant erklärt. Sie Vgl. zu dem Umbruch der medialen Selbstreflexion im 19. Jahrhundert Osterhammel 2009. Als »mediale Anthropologie« behandeln die Beiträge in Voss und Engel 2015 die konstitutive Medialität der menschlichen Praxis. 179 Vernant 1982 argumentiert, dass die philosophische Ratio­ nali­tät mit ihrer Grundorientierung an die Wahrheitssuche als eine Reaktion auf das Pro­ blem der politischen Selbstverständigung im Rahmen der Selbstverwaltung der antiken polis entstanden ist. Platons Schriften, wo die Philosophie ja als eine Antwort auf den Sophismus auftritt, stützen diese Interpretation. Toulmin 1992 schlägt vor, das strenge Systemdenken seit Des­cartes als eine Reaktion auf die religiösen und sozialen Konflikte des 16. Jahrhunderts zu begreifen. 178

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hegt auch das Verständnis der Kritik ein, denn diese kann sich dadurch nur noch von Inhalten und logischen Inkohärenzen leiten und irritieren lassen. Die Fähigkeit zur rationalen Selbstkorrektur erschöpft sich in der ausschließlich inhaltlichen Auseinandersetzung, in einer Auseinandersetzung um Inhalte. Damit jedoch geht etwas verloren, was gerade der Begriff der Erfahrung doch gut einzufangen vermag. Denken und Selbstreflexion ist etwas, das nicht zuletzt auch auf Erfahrungen reagiert – auf Erfahrungen, die zu einer Veränderung des Selbstverständnisses herausfordern, weil sie irritieren und sich nicht verstehen lassen. Dieser Zusammenhang wird durch das deklarative Erfahrungsverständnis systematisch verdeckt. Der Impuls zur Selbstreflexion kommt, um es mit dem an McDowell entwickelten Vokabular zu formulieren, in solchen nicht-deklarierbaren Fällen der Irritation von der Welt selbst. Er hat aber nicht – oder noch nicht – die stabile Form eines Gegenstandsbezuges, den der deklarative Erfahrungsbegriff voraussetzt. Der deklarative Erfahrungsbegriff grenzt unverstandene Erfahrungen als rationalen Bezugspunkt des Denkens aus, was sich vielleicht am deutlichsten in der Auffassung zeigt, dass nur Begriffe Begriffe rechtfertigen können – das Unverstandene, Irritierende hat keine eigenständige rationale Kraft. Diese Konzeption korrespondiert unmittelbar mit der Trennung von Philosophie und Denken. In einer ausschließlich auf Inhalte orientierten Erläuterung des ratio­nalen Weltbezugs kann dadurch die Autonomie der Vernunft nicht mehr selbst als ein objektives, welthaltiges Pro­blem der Vernunft erscheinen. In den Vollzügen der Vernunft stehen immer nur Inhalte zur Diskussion, und aus diesen Vollzügen kann nicht heraus­ getreten werden. Hier berührt sich das deklarative Erfahrungsverständnis mit der philosophischen Bestimmung des common sense als ein gleichsam von der Philosophie unberührtes Alltagsgeschäft des Denkens. Rationale Reflexivität wird allgemein so verstanden, dass sie nur die Inhalte der Vernunft betrifft – und nicht, wie sich vielleicht formulieren lässt, ihr eigenes Leben. § 98  Die Trennung von Philosophie und Denken sowie die Beschränkung des erfahrenden Weltbezugs auf Inhalte führt in der Summe dazu, dass das Pro­blem, auf das eine philosophische Selbst214  |  Zwischenreflexion 

bestimmung des kritischen Vermögens reagiert, überhaupt nicht mehr als Pro­blem sichtbar oder rational geschätzt wird. McDowells Strategie der Naturalisierung der Ratio­nali­tät spricht so gesehen aus, was im Wiener Kreis schon angelegt ist : Die Autonomie der Vernunft ist für diese Tradition kein Pro­blem der Vernunft mit sich selbst, keine Aufgabe für die Klärung ihres Selbstverständnisses. Sie gilt als Voraussetzung, die keiner Begründung bedarf. Diese Positionierung lässt sich am Positivismus des Wiener Kreises am deutlichsten ablesen : Er geht davon aus, dass die Philosophie und die Logik als wissenschaftliche Disziplinen unter dem gemeinsamen Dach der Wissenschaft stehen, deren Entstehung nicht weiter pro­blematisiert wird und bestenfalls ein Thema für die archivarische Geschichtsschreibung ist. Doch auch McDowell folgt noch dieser Logik, wenn er die zweite Natur als eine Form beschreibt, in der sich historische Konstellationen ohne inneren Bezug abwechseln. Der mündige sowie kritische Einsatz der Vernunft wird dann als »bare idea of Bildung« (McDowell 1996, 94) ebenso naturalistisch mit dieser allgemeinen Form identifiziert, wie der Wiener Kreis die »Wissenschaft« positivistisch als fraglos gegeben voraussetzt. Ironischerweise ist es gerade der Wiener Kreis, der zwar am Anfang der hier nachgezeichneten Reduktion der Reflexion steht – und doch auch noch ein deutliches Bewusstsein der bei M ­ cDowell verloren gegangenen Fraglichkeit der Vernunft hat. Dieses Pro­ blembewusstsein tritt beim Wiener Kreis freilich am deutlichsten an einem nicht-philosophischen Ort zu Tage, in der Verteidigung der »Wissenschaftlichen Weltauffassung«. Hier wird auf die Form des Manifestes zurückgegriffen, das wohl eher dem Bereich der programmatischen Polemik zuzurechnen ist als der seriösen Diskussion, wie sie der Logische Empirismus selbst etablieren will. Das Manifest ist aber eben keine für das eigentliche philosophische Projekt unwichtige Nebensache. Es drückt als typisch moderner Kommunikationsakt das Bewusstsein moderner Pluralität und die Konkurrenz der Selbstverständnisse aus. Es wird eine Position mani­festiert, in Anerkennung der Notwendigkeit, sich in dieser Pluralität öffentlich identifizierbar zu machen. Es wird also versucht, einen öffentlichen politischen Raum zu besetzen (vgl. dazu auch Lyon 1999). Der Ort der Philosophie  |  215

Schon die Ausgangslage, in der sich die »Wissenschaftliche Weltauffassung« sieht, illustriert diesen Konkurrenzkampf : Das Manifest verteidigt die klärende Kraft der wissenschaftlichen Vernunft gegenüber dem konkurrierenden Autoritätsanspruch »metaphysischer« und – für den Wiener Kreis gleichbedeutend – »theologischer« bzw. »poetischer« Weltbeschreibungen. Dabei wird ein rhetorischer Gestus des Widerstands bemüht, das eher zu unterdrückten Teilen der Gesellschaft passte als zu einer Philosophie, die sich immerhin auf die Schultern der am besten etablierten und avanciertesten europäischen Wissenschaften stellt. Die Reflexion auf die Vernunft sowie die Aufklärung über ihre wissenschaftliche Funktionsweise werden als eine Lebensaufgabe im doppelten Sinne dargestellt. Es geht um die wahrhaft herkulische Arbeit, »den metaphysischen und theologischen Schutt der Jahrtausende aus dem Weg zu räumen«(Neurath 1981, 314), in der Gewissheit, damit von der Welt selbst willkommen geheißen zu werden : »Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf« (Neurath 1981, 315 ; Hervorhebung im Original). Freiheit und Handlungsfähigkeit, das ist das Versprechen der wissenschaftlichen Weltauffassung. Und sie richtet es gegen die als unfrei und belastend – wie das Bild des Schuttes nahelegt – empfundenen Bestände der etablierten vor­ modernen Tradition. In dieser polemischen und emphatischen Verteidigung der Vernunft ist jener Stachel der Kritik noch spürbar, der eine Frage oder ein Pro­blem überhaupt erst dem Denken öffnet. Der Formalismus war kein Selbstzweck. Er war in doppelter Hinsicht genuin modern : Er unterstand dem Ziel, zeitgenössische konkurrierende Ansprüche auf Vernünftigkeit abzuweisen ; und er war verbunden mit dem progressiven Versprechen einer besseren Gestaltung des Lebens und der Gesellschaft. Selbst wenn die modernistischen Inhalte des Manifestes nicht geteilt werden, stellt es doch die unverzichtbare Bezogenheit aus, die der kritischen Selbstbestimmung der Vernunft im Namen der empirischen Wissenschaft überhaupt erst ihren Sinn verleiht. Doch diese Frageperspektive wurde vom Wiener Kreis selbst zu einem Nebenaspekt degradiert, durch die Reduktion von Kritik und Vernunft auf eine rein inhaltliche Auseinandersetzung, die es nicht mehr erlaubt, die Ratio­nali­tät einer solchen Selbstpro­blematisierung des Denkens – der Formen des Denkens – zu diskutieren. 216  |  Zwischenreflexion 

§ 99  Unsere Rekonstruktion der auf den Wiener Kreis folgenden analytischen Diskussion zeigt allerdings auch, dass diese Pluralität der Denkweisen, zu der sich der Wiener Kreis verhielt, zumindest als philosophische Herausforderung nicht verloren ging. Sie erzeugt aus sich heraus immer wieder das sachliche Pro­blem, das Davidson so treffend als den Dualismus von »Schema und Gehalt« zusammenfasst. Wir konnten eine erste Behandlung dieser Pro­blematik bei der Diskussion von Carnaps »Sprachdezisionismus« (Beckermann) beobachten, wo es um die Frage ging, nach welchen Kriterien denn die Wahl zwischen den unterschiedlichen Theo­riesprachen gefällt wird. Diese Wahl kann nach den von Carnap selbst aufgestellten Kriterien per definitionem nicht mehr rational genannt werden, denn sie beruht auf – wie Carnap es nennt : »externen« – Abwägungen, die sich der rigorosen wissenschaftlichen Selbstkorrektur, wie sie der Wiener Kreis begreift, entziehen müssen. Davidson spitzt das Pro­blem zu, indem er danach fragt, wie es denn jemals möglich sein kann, sich zwischen unterschiedlich schematisierenden intellektuellen Perspektiven zu orientieren, sie also zu vergleichen. Davidson erweist sich damit als würdiger Nachfolger des affirmativen (wenn auch szientistischen) Modernismus des Wiener Kreises. Er sucht eine Antwort, die die Perspektivität der Erkenntnis als »truism« bewahrt, ohne sie eben formalistisch zu verrätseln. In McDowells Naturalisierung der Vernunft wird diese Frage, an der Davidson sich noch rieb, dagegen endgültig als Frage unsichtbar. Die aristotelische Identifikation der Vernunft mit einer gattungsspezifischen Lebensform kennt die formalistische Möglichkeit einer Wahl zwischen unterschiedlichen Vernunftbegriffen noch nicht einmal als Pro­blem, und gerade darin sieht McDowell dann den antiskeptischen Gewinn gegenüber Davidson. Er geht davon aus, jene gleichsam verschobene Sicht der Vernunft auf sich selbst – »sideways-on view«, wie es McDowell (1996, 34 ff.) nennt –, die Carnap und Davidson offensiv pro­blematisieren, sei nicht möglich und zwingend inkohärent. Und doch verbleibt auch McDowell, wie wir zeigen konnten, nicht in der reinen Immanenz vernünftiger Selbstreflexion. Seine Philosophie zieht Grenzen gegenüber Tieren und Kindern, schließt nicht-begriffliche Erfahrung aus der Diskussion aus und installiert als Maßstab des Denkens einen Vernunftbegriff, der höchst anspruchsvoll ist und durch die Tatsache, Der Ort der Philosophie  |  217

das wir als rationale Wesen auch Naturwesen sind, allein nicht gedeckt wird. Die »kantische Spontaneität«, die Kritik und mündige Lebensführung in sich vereint, wird dadurch auf die im Grunde pro­blematischste, nämlich verdeckte Weise zum Inbegriff unseres natürlichen Weltverhältnisses überhaupt verklärt. § 100  McDowells Verzicht auf eine Thematisierung der Pluralität von Perspektiven verweist auf eine weitere offene Stelle in seiner Position : Es ist unklar, welche Funktion bei ihm eigentlich noch Selbstbeschreibungen annehmen – philosophische oder wissenschaft­liche, vernünftige oder unvernünftige. Die formalistischen Pro­bleme des empirischen Weltbezugs werden ausschließlich als Pro­bleme des Gegenstandsbezugs pro­blematisiert, mithin also als ein Pro­blem der Vernunft, die (mit dem Potenzial kritischer Distanzierung versehen) über die Welt urteilt. Selbstbeschreibungen – Artikulationen eines Selbstverständnisses – sind aber keine distanzierten Urteile. Sie entfalten eine Wirkung, die in dem intellektualistischen Bild der Vernunft zwangsläufig aus dem Blick geraten muss. Dies wird am Beispiel der Freiheit sichtbar. McDowell diskutiert die Freiheit in einer deskriptiven Form : Er fragt sich, wie wir angesichts bestimmter philosophischer Schwierigkeiten, die sich in der Tradition herausgebildet haben, noch die rationale Autonomie, und damit die Freiheit der Selbstbestimmung, verstehen können. Ein Gespräch unter Philosophen. Doch eine Beschreibung der Freiheit des Menschen muss, wenn sie für wahr gehalten wird, zwangsläufig die Grenzen des Seminars überschreiten. Und sie wird ja dann auch in unzählig anderen Kontexten, fern von der akademischen Philosophie, diskutiert – und das schließlich in Kontexten, die, wie die Religion, ganz andere Zugriffe und Rahmenverständnisse haben. Freiheit ist kein beliebiges akademisches Thema, sondern ein umkämpfter Teil der Selbstbeschreibung des Menschen. Er ist umkämpft, weil eine Beschreibung, sofern sie für wahr gehalten wird, ganz konkrete Konsequenzen hat. McDowell benennt einen solchen Konfliktpunkt, wenn er darauf eingeht, dass der moderne Naturbegriff, in dem alle natürlichen Vorgänge als gesetzesartig strukturierte Ereignisse (»realm of law«) begriffen werden, die Integration lebendiger Vollzüge in eine so verstandene Natur verhindert. Doch dieser Naturbegriff wurde – und wird nach wie vor – mit Gründen 218  |  Zwischenreflexion 

für wahr gehalten, und er wird in der täglichen naturwissenschaftlichen Praxis erfolgreich eingesetzt. McDowell weicht also dem eigentlichen Konflikt aus, wenn er vorschlägt, den Begriff der zweiten Natur neben den der ersten Natur zu stellen, um auf diese Weise die Intelligibilität des Gedankens einer natürlichen rationalen Bindung zur Welt wieder einzuführen. Hier liegen zwei Beschreibungsformen vor, die jeweils unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen – in der Beurteilung von menschlichen Handlungen etwa, die als verantwortlich oder als determiniert gelten, oder in der Beurteilung der Einflussmöglichkeiten, die der Mensch auf seine Handlungen hat. Der »Mensch« ist, wie Foucault (1999) gezeigt hat, die Gedankenfigur, in der sich diese Beschreibungsmöglichkeiten kreuzen. Er kann, naturalistisch, als ein biologisch und mechanisch bestimmtes Objekt von Gesetzen bestimmt werden, mit entsprechenden Konsequenzen für das Selbstverständnis derjenigen, die sich (und ihresgleichen) so verstehen. Und der Naturalismus ist nur eine, in der Moderne noch nicht einmal unbedingt die vordringlichste Form einer Beschreibung, die den Menschen und sein Handeln unter Gesetze stellt, die seine Selbstständigkeit beschneiden. Zu den weiteren Möglichkeiten der »Dezentrierung« der Vernunft – wie hier in Anlehnung an Schnädelbach gesagt werden könnte – zählen die Geschichte, die Psychologie, die Ökonomie oder, näher an gegenwärtigen Diskursen, die Kultur. Hier ist der Mensch, wie Foucault es so treffend zusammenfasst, »beobachteter Beobachter, unterworfener Souverän« – ebene jene gespaltene Figur, die der Formalismus affirmativ zu verteidigen versucht. All diese Möglichkeiten der Selbstbeschreibung zurückzuweisen, weil sie die Autonomie des Denkens nicht zu beschreiben vermögen, kann nicht die richtige Antwort sein. Das ist die Lektion, die sich an McDowell gewinnen lässt. Seine Situierung der Vernunft bleibt auf halbem Weg stehen, weil er nach wie vor das intellektualistische Bild der Reflexivität teilt – das Bild, nach dem es in der Philosophie, wie in der vernünftigen Selbstbestimmung überhaupt, primär um ein Klären von Inhalten geht.

Der Ort der Philosophie  |  219

Die pragmatistische Transformation der Erfahrung Autonomie durch Erfahrung § 101  Eine explizite Verteidigung der Auffassung, dass im Denken mehr auf dem Spiel steht als die kritische Klärung beliebiger Inhalte, findet sich im Pragmatismus. Vertreten durch die Klassiker John Dewey und Charles S. Peirce soll er im Folgenden als eine weitere Variante postformalistischen Denkens in den Blick genommen werden. Als Anknüpfungspunkt dient dabei die Feststellung, dass für diese Autoren das Denken (»thought« bei Dewey und »inquiry« bei Peirce) überhaupt nur deshalb bedeutsam für das Leben und für die philosophische Reflexion ist, weil Denken darin besteht, in die Welt kausal einzugreifen – weil es eine Praxis ist. Dieser Pragmatismus geht einher mit einem ebenso praktischen Verständnis der Erfahrung, der den Begriff der rationalen Autonomie, wie ich im Folgenden zeigen möchte, endlich konsequent aus seiner formalistischen Isolation holt. In der zeitlichen Abfolge der Positionen kehren wir mit diesen Autoren wieder zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Wir stehen nach der Kritik an McDowell jedoch auch inhaltlich erneut bei der Ausgangsfrage, die wir mit dem Wiener Kreis eingeführt haben : Wie lässt sich die Modernität der Wissenschaft, die in ihr gesehene Einheit von Kritik und Erfahrung, philosophisch fassen ? Eine erste kursorische Zusammenfassung der Grundposition, soweit sie von den hier diskutierten Autoren geteilt wird, lässt ihre postformalistische Stoßrichtung sofort erkennbar werden. Diese Klassiker verbinden Vernunft und Erfahrung, indem sie das Denken konstitutiv als eine wirksam-widerständige und dadurch erfahrungsgesättigte Praxis begreifen. In pragmatistischer Sicht ist es entsprechend eine irreführende Verkürzung, Wissenschaft schematisch als ein primär theoretisches Verfahren vorzustellen. Die Pragmatisten heben die praktische Dimension der Wissenschaft hervor und damit die auch von den heutigen Wissenschaftshistorikern immer   |  221

wieder betonte »Unreinheit« eines Erkenntnisprozesses, in dem gebastelt, arrangiert, geahnt, probiert und durchaus auch ins Blaue hinein geraten wird.180 Für den Pragmatismus ist das Experiment Inbegriff eben dieser praktischen Dimension der Wissenschaft, und es gilt als maßgeblich für die erfolgreiche Allianz von Erfahrung und Kritik verantwortlich. Das pragmatistisch verstandene Experiment hat dabei den Charakter einer Kreisbewegung, wie er auch in der deutschen Tradition der philosophischen Hermeneutik affirmativ als ein produktiver »Zirkel des Verstehens« eingeführt wurde : Im experimentellen Handeln wird versucht, mit Hilfe der Erfahrung die Phänomene der Erfahrung besser zu verstehen.181 Im so verstandenen Experiment ist die moderne Einheit von Kritik und Erfahrung buchstäblich mit den Händen zu greifen. Es zeigt, dass (und wie) das Denken als Handeln funktioniert – was dann auch die postformalistische Grundthese der hier diskutierten Pragmatisten ist. Und doch ist diese pragmatistische Grundposition, wie ich im Folgenden insbesondere mit Blick auf Peirce zeigen möchte, nicht immun gegen den Formalismus. Denn der Formalismus, wie er hier mit dem Wiener Kreis eingeführt wurde, ist immer schon mehr als eine spezifische Position zur Logik. Er markiert auch den Anspruch, eine Führungsrolle der Wissenschaft oder, vorsichtiger formuliert, des wissenschaftlichen Denkens zu begründen. In formalistischer Sicht verwirklicht sich in der modernen Wissenschaft das moderne Leitbild der Kritik, und es ist die Aufgabe der reflexiven Selbstbesinnung der Philosophie, das Denken insgesamt an dieser Wirklichkeit auszurichten – so auch die Behauptung des Manifests (Neurath 1981), das ja explizit über die Wissenschaft im engeren Sinne hinausgeht und eine wissenschaftliche »Weltauffassung« einfordert. Der Formalismus ist eben auch ein kultureller Szientismus, der die Wissenschaft und ein wissenschaftliches Weltverhältnis zum Inbegriff des vernünftigen Umgangs mit der Welt überhaupt erklärt. In diesem weiteren Verständnis wird deutlich, dass die pragmatistische Kerneinsicht einer konstitutiven Verschränkung von Denken und Handeln allein noch keine endgültige Abkehr vom Formalismus bedeutet. Auch wenn die Wissenschaft als eine Praxis betrachtet wird, Vgl. etwa Latour 1996 oder Jacob 1977. Die Gemeinsamkeiten pragmatistischer Denkmodelle mit der Hermeneutik konstatiert bereits Oehler 1968. 180 181

222  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

kann sie weiterhin hierarchisch ausgezeichnet bleiben. Der Unterschied zwischen Theo­rie und Praxis lebt dann in dem Unterschied zwischen Wissenschaft und Alltag fort. In diesem Kapitel werde ich diese Beobachtung nutzen, um auf indirektem Wege – durch eine Kritik dieser Lesart – die Konturen eines konsequenten postformalistischen Pragmatismus zu entwickeln. § 102  Die folgenden Ausführungen beginnen mit Peirce, der eine szientistische Deutung der Praxis der Vernunft vertritt. Peirce’ Pragmatismus ist, wie ich zeigen werde, noch näher am Empirismus, als es einer effektiven Formalismuskritik förderlich ist. Er vermeidet zwar die kategorische Trennung von Erfahrung und Logik, wie sie der Wiener Kreis vorführt. Doch er schränkt die von ihm reformulierte kritische und fallibilistische Ratio­nali­tät explizit auf den Bereich der wissenschaftlichen Forschung und Methode ein. Dort, wo es um lebenswichtige Belange geht (»matters of vital importance«), stößt bei Peirce die wissenschaftliche Ratio­nali­tät an ihre Grenzen, und wir werden aufgefordert, uns besser auf die Instinkte oder die Weisheit der Tradition zu verlassen. Das ist der erste Grund, weshalb die Diskussion des Pragmatismus mit Peirce beginnt : Er zeigt, wie ein pragmatistischer Postformalismus sich nicht verstehen sollte. Peirce’ Szientismus zwingt dazu, näher zu spezifizieren, was der formalismuskritische Kern der pragmatistischen Verschränkung von Theo­rie und Praxis sein muss. Doch es gibt noch einen zweiten Grund, Peirce an den Anfang dieses Kapitels zu stellen. Und der lautet : Peirce ist zugleich auch der pragmatistische Autor, der die Grundlage für ein effektives postformalistisches Verständnis der Vernunft legt, wie es dann auch bei Dewey, dem zweiten hier diskutierten Pragmatisten, explizit ent­ wickelt wird. Die Behauptung, dass Peirce’ Pragmatismus szientistisch ist, muss somit relativiert werden. Peirce ist ein Autor, dessen genaue Positionen notorisch schwer zu fixieren sind. Die Quellenlage, aber auch die Vielfalt von Ansätzen und Neuansätzen, die Peirce in seinem Leben unternahm, verbieten es, ihm hier eine in jeder Hinsicht eindeutige Position zuzuschreiben. Peirce’ Pragmatismus hat szientistische Züge, das kann nicht geleugnet werden ; insbesondere in den früheren und mittleren Schriften ist der Szientismus deutAutonomie durch Erfahrung  |  223

lich präsent. Doch dieser Aspekt wird – in den Schriften aus derselben Zeit – konterkariert durch weitreichende postformalistische Einsichten in die Verbindung von Denken, Handeln und Erfahren. Auf diese Einsichten konnten andere Pragmatisten, insbesondere Dewey, aufbauen, denen wiederum kaum Szientismus vorgeworfen werden kann.182 Dieses Kapitel beginnt also mit Peirce als einem Autor, der sich in zwei Richtungen lesen lässt – und der durch diese Ambivalenz zugleich erlaubt, die pragmatistische Formalismuskritik präziser zu fassen. Gerade weil Peirce selbst nicht eindeutig zu positionieren ist, werde ich die wichtigsten Merkmale des pragmatistischen Szientismus nicht direkt aus seinen Schriften gewinnen. Dafür ziehe ich die Interpretation von Cheryl Misak (2004) hinzu. Misak liest Peirce als einen Empiristen und spitzt damit seinen ambivalenten Szientismus gewissermaßen zur Kenntlichkeit zu. Sie sieht in ihm einen radikal empiristischen Pragmatisten, der die wissenschaft­ liche Methode – und damit die Vernunft – dadurch auszeichnet, dass sie sich idealerweise fallibel von der Erfahrung selbst leiten lässt, ohne von Vorurteilen, sozialem Druck oder anderen Einflüssen abgelenkt zu werden. Misaks Verteidigung dieser Lesart erlaubt, den pro­blematischen Empirismus in Peirce’ Pragmatismus zu identifizieren und kritisch zu korrigieren. Misaks Interpretation ist auch für den Gesamtverlauf dieser Untersuchung instruktiv. Es ist kein Zufall, dass Misak Peirce als standhaften und unzweideutigen Empiristen liest. Misak vertritt die Ansicht, dass der Pragmatismus und der Logische Empirismus in der postanalytischen Philosophie eine fruchtbare Fusion eingegangen sind, und sie kritisiert Autoren wie Rorty oder Dewey dafür, en harten Grund der wissenschaftlichen Objektivität verlassen zu haben (Misak 2013b). Unabhängig von der Frage, wie berechtigt diese Vorwürfe sind, zeigt sich in solchen Urteilen, dass Misaks Interpretation von Peirce in einer im weitesten Sinne analytischen Das u. a. durch Horkheimer popularisierte Urteil, im Pragmatismus verwirkliche sich eine rein instrumentelle, szientistisch allein auf Beherrschung angelegte Auffassung der Vernunft (vgl. Horkheimer 1992), kann mit Blick auf die heutige, im ersten Kapitel angeführte Forschungslage nicht mehr vertreten werden. So wird Dewey von analytischer Seite – wie etwa von Misak, wie wir unten sehen werden – sogar dafür kritisiert, nicht wissenschaftlich genug zu sein. 182

224  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

Perspektive operiert. Daher verfehlt sie die genuine Innovation von Peirce’ Erfahrungsbegriff, nämlich seine Abkehr vom deklarativen Paradigma. Die folgende Kritik an Misaks Peirce-Deutung führt somit die bisherige Kritik der analytischen Tradition fort. Es soll gezeigt werden, dass die pragmatistische Verbindung von Denken und Erfahrung erst dann zu einem konsequenten Postformalismus führt, wenn die Erfahrung – wie es das Experiment vorführt – in ihrer zeitlichen Offenheit und Eigendynamik ernstgenommen wird. § 103  Peirce arbeitete selbst als Experimentator und hatte praktische Erfahrung, auf die er in seinen Schriften immer wieder auch hinweist (EP II, 331 f. ; EP I, 120). Philosophisch löst er das Experiment aus der subalternen Position gegenüber der Theo­rie, die es im Wiener Kreis einnimmt, und führt es als eine innovative Form der Praxis ein, die mit der widerspenstigen Erfahrung arbeitet, anstatt sie nur als einen Gegenstand der Reflexion zu betrachten. Hier ist Wissen nicht das Produkt der Kontemplation, sondern die Folge von Eingriffen, durch die etwas geklärt wird.183 Nicht punktuelle Deklaration (»Das ist rot !«), sondern zeitlich ausgedehnte experimentelle Untersuchungen (»Bleibt das auch rot ?«) sind demnach die Beispiele, an denen die Erfahrungsbindung des Denkens sichtbar wird. Sie zeigen, dass wir der Erfahrung nicht vollständig ausgeliefert sind, weil (und insofern) wir sie handelnd beeinflussen können. Und dieser Einfluss ist nicht beschränkt auf sichtbare Handlungen und manipulative Eingriffe, also auf Praxis im herkömmlichen Sinne. Auch theoretische Innovationen, wie etwa neue Ideen oder Begriffe, führen zu anderen Erfahrungen. Entscheidend ist, dass wir auf den Wandel der Erfahrung Einfluss nehmen können. Mit dem Experiment als Paradigma einer rationalen Einflussnahme auf den Verlauf der Erfahrung wird deutlich, dass die verbreitete Annahme falsch ist, der klassische Pragmatismus interessiere sich einseitig nur für die Konsequenzen des Handelns.184 Der pragmatistische Fokus auf die Konsequenz ist untrennbar verbunden mit der Einsicht, dass Konsequenzen auch Bedingungen haben. Eben diese Verbindung nutzt das Experiment in seiner Grundform : Vgl. zu Deweys Kritik der von ihm so genannten »Zuschauertheo­rie« des Wissens etwa MW 12, 144 ; LW 4, 19. 184 So etwa Brandom 2011, 49. 183

Autonomie durch Erfahrung  |  225

Es variiert die Bedingungen und notiert die resultierenden Konsequenzen. Das Experiment blickt nicht einfach in die Zukunft ; es stellt sich zwischen die Bedingungen und die Konsequenzen, es lotet ihr Verhältnis aus. Diese Mittelstellung nimmt das Experiment auch und gerade dann ein, wenn unerwartete Konsequenzen eintreten, die sich mit den Bedingungen nicht zu decken scheinen. Auch dieses Ergebnis eines Experiments ist immer schon reflexiv, da es darauf verweist, dass die gegebenen Bedingungen offenbar missverstanden wurden. Das Experiment irritiert also das Verständnis dessen, was da geschieht. Und dies durchaus aktiv. Mit den unerwarteten Folgen wird klar, dass die bisherigen Handlungsansätze und Verständnisse – die leitenden Begriffe und Vorstellungen – pro­blematisch sind. So verstanden, unterläuft die experimentelle Praxis die dichotome Unterscheidung zwischen aktivem Denken und passiver Erfahrung, die der deklarative Erfahrungsbegriff zieht. Im Experiment zeigt sich die Erfahrung nicht als passives Gegenüber des Denkens, sondern als treibendes Moment einer reflexiven Bestimmung dessen, was erfahren wird – als ein Moment des Denkens selbst. Dieser Erfahrungsbegriff, in dem sich Momente der Aktivität und Passivität überlagern, gibt die Frontstellung zur Theo­rie auf. Er verbindet, wie es im Experiment auch geschieht, Denken und Erfahrung praktisch miteinander. Mit ihm geht der klassische Pragmatismus entscheidend über die bisherige Diskussion dieser Untersuchung hinaus. Es wird möglich, Erfahrung nicht mehr als einen bloßen Bezugspunkt des Denkens zu sehen, sondern als sein Prinzip. Die interpretatorische Leitthese der folgenden Ausführungen ist, dass Dewey und Peirce – bei allen Unterschieden zwischen ihren Positionen – mit diesem experimentellen Erfahrungsbegriff arbeiten und dass dies ihre entscheidende postformalistische Innovation ist. Konsequent fortgeführt, hat diese Konzeption zur Folge, dass der Begriff der Autonomie nicht mehr in einem unversöhnlichen Gegensatz zur Fremdbestimmung stehen kann. Die Fremdbestimmung des Denkens – sofern damit nicht bloßer Zwang gemeint ist – kann nicht mehr als eine (aus der Sicht des Denkens) rein passive Einwirkung verstanden werden, zu der es nachträglich Stellung nimmt. Das tastende, suchende Experiment führt vor Augen, das solche Einwirkungen – wie etwa bestimmte Wahrnehmungen – 226  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

auch das Resultat von Handlungen und Manipulationen sind und daher sich keineswegs nur passiv einstellen. Dieser aktiv-passive Erfahrungsbegriff lässt die Grenze zwischen Geist und Welt durchlässig werden, indem er sie dynamisiert. Die objektive Affizierung durch die Welt und die denkende Selbstbestimmung entfalten sich erst in der Zeit als identifizierbare Kräfte, deren Zuordnung aber immer wieder neu auf dem Spiel steht. Auch diese Konsequenz wird am Experiment gut erkennbar : Eine der wichtigsten Fragen der experimentellen Praxis ist, ob ein überraschendes empirisches Resultat wirklich ein Missverständnis auf der Seite der Theo­rie anzeigt, ob also tatsächlich ein unerwartetes Resultat vorliegt oder ob – was häufig der Fall ist – das Resultat auf eine mangelhafte Durchführung des Experiments verweist (»Artefakt«) oder auf Umstände, die mit der Theo­rie nichts zu tun haben.185 Analog kann eine überraschende persönliche Erfahrung Indiz einer an­ deren Wirklichkeit sein, als wir sie bisher unterstellt haben, oder aber schlicht eine Täuschung, Verblendung oder Verwirrung ausdrücken, deren Ursache beim erfahrenden Subjekt selbst zu suchen ist. Die negative Erfahrung, auf die das Experiment stößt, ist somit im Kern ambivalent – sie verweist auf die Welt und auf das Selbst, auf die Wirklichkeit und auf ihre begriffliche Erfassung. § 104  Tatsächlich ist die Frage, wie mit dieser Ambivalenz umzugehen ist, der Schlüssel zur Identifikation und Kritik des szientis­ tischen Pragmatismus. An Misaks Interpretation werden wir sehen, dass die szientistische Deutung von Peirce eben diese Ambivalenz auszuschalten versucht. Darin liegt der eingangs angeführte kulturelle Szientismus dieser Position : Ihr gilt die wissenschaftliche Praxis als fragloser Inbegriff aller Ratio­nali­tät, als Maß dessen, was es heißt, sich vernünftig mit der Wirklichkeit zu beschäftigen. Und dieser Vorrang wird dann weiter damit begründet, dass die Wissenschaft sich im Unterschied zu anderen Verfahren – als empiri Kuhn 1973 bemisst an der Tendenz, unerwartete Ergebnisse der faktischen Durchführung oder einer mangelhaften Theo­rie zuzuschreiben, die Stärke des wissenschaftlichen Paradigmas. In einem starken Paradigma werden die Ursachen für misslingende Vorhersagen in der Durchführung gesucht ; erst, wenn das Paradigma an Überzeugungskraft verloren hat, wird die Möglichkeit ernster genommen, dass hier vielleicht die Theo­rie versagt. 185

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sche Forschung – von der Erfahrung lenken und korrigieren lässt. In dieser Deutung hat die Erfahrung keine ambivalente Rolle. Ihre negative, irritierende Wirkung wird einseitig darauf zurückgeführt, dass wir in Kontakt mit einer »external permancy« (so Peirce) treten, die uns gleichsam eines Besseren belehrt. Die Offenheit des Experiments wird rein epistemologisch gedeutet ; es zeigt dem falliblen Erkennen seine Grenzen auf. In dieser Lesart fällt Peirce’ Pragmatismus, trotz der postformalistischen Konzeption des Experiments, doch wieder in die formalistische Trennung von Denken (nunmehr praktisch reformuliert als »wissenschaftliche Methode«) und Welt zurück. Deweys Ansatz, mit dem wir dieses Kapitel abschließen werden, rückt dagegen die im Paradigma des Experiments angelegte Reflexivität der Erfahrung in den Vordergrund. Für ihn ist die Irritation durch die Erfahrung keineswegs von vornherein nur der korrigierende Ausdruck des Kontakts mit einer »äußeren« Welt. Vielmehr ist es gerade die Aufgabe des Denkens, in Reaktion auf eine solche Erfahrung der Irritation zu bestimmen, was sich da konkret gemeldet hat. Der Ambivalenz der negativen Erfahrung entspricht in diesem Verständnis die doppelte Möglichkeit, dass hier ein Pro­blem im Weltverständnis und im Selbstverständnis vorliegen kann. Um das zu klären, bedarf es freilich weiterer Erfahrungen, die zu verstehen helfen, was für ein Pro­blem sich in der ursprünglichen Irritation gemeldet hat. Dewey zeichnet somit das Bild des Denkens als eine fortlaufende praktische Artikulation der Erfahrung, in der sich das Welt- und Selbstverständnis verschiebt und differenziert. Die Unterscheidung von »Außen« und »Innen« tritt nur noch als Unterscheidung innerhalb solcher festlegenden Untersuchungen auf, in Bezug auf deren jeweiligen Pläne und Hypothesen ; nicht jedoch als absolute Differenz, der sich das Denken von vornherein zu beugen hat, um rational zu sein. Insbesondere vertritt Dewey die Auffassung, dass die Möglichkeiten der Durchführung einer solchen inquiry, und damit ihre Form, keineswegs von vornherein abgesteckt sind. Es muss sich erst in der Erfahrung zeigen, wie mit ihr umgegangen werden kann und sollte. Der Szientismus, wie er bei Peirce zu finden ist, legt sich vorab darauf fest, dass alle inquiry letztlich das Ziel hat, allgemeingültige Aussagen über eine von aller Erfahrung unabhängige Welt 228  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

zu treffen. Mit Dewey jedoch muss das erfahrungsbezogene Denken so verstanden werden, dass es an sich selbst seine Möglichkeiten und Ziele erkennt. Dewey drückt diese Rückwendung damit aus, dass es für ihn in der inquiry darum geht, die konkrete Situation zu klären, in der das Pro­blem entstanden ist – die Situation, die eben die erfahrene Welt und die erfahrenden Subjekte gleichermaßen umfasst.186 Und diese Auffassung kann sich, wie ich hier zeigen will, gerade auf den Grund stützen, der auch Peirce bereits zu seinem Pragmatismus motiviert : Da wir erst an den Konsequenzen erkennen können, was ein Begriff (oder eben eine gegebene rationale Praxis) bedeutet, können wir die Praxis des Denkens auch erst an ihren Konsequenzen erkennen. Als ein »experimental phenomenon« begriffen (so Peirce, EP II,340), kann die Fähigkeit zur rationalen Selbstkontrolle, und schließlich zur Kritik, nicht mehr als eine gegebene Fähigkeit angesehen werden. Sie kann und muss variieren, in ihrer Form und ihrem Maß, je nach ihrem Gegenstand und je nach den reellen Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen. Denken ist in dieser pragmatistischen Perspektive ein offener Begriff, der selbst praktisch-reflexiv bestimmt wird, und nicht etwa ein natürliches Vermögen, das uns als ausgewachsene rationale Tiere immer schon zu eigen sein muss. Dieses Motiv ist bereits bei Peirce angelegt und wird dann von Dewey konsequent artikuliert. An die Stelle des Gedankens der Verteidigung einer übergreifenden Form des autonomen und kritischen Denkens tritt dann mit Dewey das Motiv einer Pluralität von Denkformen, die sich auf unterschied­ liche Gegenstände je verschieden beziehen. Die Wissenschaft ist in diesem Postformalismus, der sich vollständig vom deklarativen Erfahrungsbegriff gelöst hat, nur eine rationale Praxis unter anderen, wie etwa das Handwerk, die Künste oder auch die Philosophie. Rationale Praktiken sind mit Dewey verkörperte Weisen des Umgangs mit der Erfahrung, und der Reichtum der Erfahrung – und auch der Kritik – zeigt sich dieser Auffassung nach gerade in dieser Vielzahl. Diese pragmatistische Transformation der Erfahrung möchte ich auf den nun folgenden Seiten schrittweise erläutern und vertiefen.

Vgl. zusätzlich zu den Ausführungen zu Dewey in diesem Kapitel die Logik (LW 12, insb. 123 – 141) sowie die Deutung in Burke 1994. 186

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Peirce im Kontext § 105  Peirce steht historisch gesehen zweifellos am Anfang des klassischen amerikanischen Pragmatismus. Er gab einer Serie von Aufsätzen, die in den Jahren 1877 – 78 in den Popular Science Monthly erschienen, den übergreifenden programmatischen Titel »Illustrations of the Logic of Science«. Die dort versammelten Überlegungen zur – wie zwei Titel aus dieser Aufsatzreihe lauten – »Stabilisierung von Überzeugungen« und zur »Klärung von Gedanken« sind auch heute noch ein kanonischer Referenzpunkt des Pragmatismus. Sie dienen daher auch hier als Grundlage für die Erörterung von Peirce’ Position.187 In ihnen entwickelt er seine wohl bekanntesten Thesen – das »belief-doubt«-Modell der rationalen Forschung (inquiry) ; die »pragmatistische Maxime« ; sowie die Ergänzung der Logik um die Schlussform der »Abduktion«.188 In diesem Sinne ist zu erwarten, dass Peirce’ Schriften historisch so etwas wie die Urschrift des Pragmatismus darstellen, seine »Gründungsurkunden« (Apel 1975, 19), in denen die essentiellen Bekenntnisse dieser philosophischen Schule zu finden sind. Ein näherer Blick muss diese Erwartung jedoch enttäuschen. Peirce’ Überlegungen sperren sich dagegen, als Manifest einer »pragmatistischen Bewegung« zu dienen. Nicht nur sind sie, als Texte, unklar und mehrdeutig geschrieben. Vor allem vertritt Peirce in ihnen tendenziell widerstreitende Ansichten zur Natur und Reichweite des logischen Denkens, so dass er sich selbst schließlich von einigen – wenn auch nie von allen – Annahmen dieser frühen Schriften distanzierte.189 So hat sich insbesondere in der Sekun Es handelt sich um die Aufsätze »The Fixation of Belief«, »How to Make Our Ideas Clear«, »The Doctrine of Chances«, »The Probability of Induction«, »The Order of Nature« und »Deduction, Induction, Hypotheses«, die hier alle aus der Sammlung The Essential Peirce, EP I, 109 – 199, zitiert werden. Auf spätere Texte wird zurückgegriffen, sofern sie in diesem Textkorpus enthaltene Gedanken prägnanter ausdrücken. Mit anderen Worten : Ich gehe nicht auf Peirce’ Kategorienlehre, seine Überlegungen zu den »normative sciences« und auf spätere Korrekturen und Ergänzungen seines ursprünglichen Pragmatismus ein. 188 Zur Abduktion vgl. Wirth 2003. 189 Für eine ausführliche chronologisch orientierte Darstellung von Peirce’ Denkweg vgl. Hookway 1992 sowie Pape 2015. Einen konzisen Überblick der Pro­bleme, die Peirce zu seinen Selbstkorrekturen führte, gibt nach wie vor Apel 187

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därliteratur zu Peirce die Meinung durchgesetzt, dass der »frühe«, pragmatistische und empiristische Peirce nicht repräsentativ für das Gesamtwerk ist. Es wird davon ausgegangen, dass er die eigenen Konsequenzen seines Ansatzes noch nicht richtig durchschaut hat und es somit nötig ist, den dort entwickelten Pragmatismus mit systematischen Korrekturen und Konjekturen zu verteidigen.190 Eine Folge dieser Schwierigkeit, über Peirce’ Frühwerk zu einer Einigkeit zu finden, ist eine schon zu seinen Lebzeiten sich deutlich abzeichnende Spaltung des Pragmatismus. Peirce’ Ruf als Gründungsfigur geht vor allem auf James zurück, der in seinen Vorlesungen zum Pragmatismus immer wieder seinen dem breiten Publikum unbekannten Kollegen als Quelle nennt. Diese Vereinnahmung war für Peirce jedoch zwiespältig, konnte er seine Ideen doch kaum in dem wiedererkennen, was James als »Pragmatismus« popularisierte. Peirce musste erleben, wie sein früher Pragmatismus zu einer Denkschule wurde oder, wie Peirce kritisch festhielt, als »Weltanschauung« galt und damit eine Form annahm, die Peirce’ systematischem Philosophieverständnis direkt widersprach. Die Unterschiede zwischen den »zwei Pragmatismen«191 sind schon auf der Oberfläche direkt greifbar. James sah den Pragmatismus als ein Verfahren zur Kritik abstrakter Begriffe, die jeden Kontakt mit der Wirklichkeit verloren haben. Er warb für den Pragmatismus als Ausweg aus dem dogmatischen Philosophieren, das sich – so James’ Zeitdiagnose – empiristisch hinter Fakten oder rationalistisch hinter Prinzipien verschanze. »What you want is a philosophy«, so James an seine Zuhörerinnen, »that will not only exercise your powers of intellectual abstraction, but that will make some positive connexion with this actual world of finite human lives« (James 1987, 494 f.). James interessiert die »pragmatic method« als eine universale Methode, die den konkreten Menschen, 1975, 286–296. Offensiv verteidigt wird Peirce’ spätere Philosophie von Mounce 1997, 53–69, und Tiercelin 1998. 190 So etwa Cheryl Misak : »Peirce … said many conflicting things about pragmatism. At times the pragmatic maxim was as strict as anything found later in logical empiricism. I shall argue that these strong construals are not true to his intentions« (Misak 2004, 4). 191 Misak 2013b, 116, spricht von »two kinds of pragmatists«, Mounce 1997 von »The Two Pragmatists«. Peirce im Kontext  |  231

seine vielfältigen Bedürfnisse und seine widerstrebenden Interessen in den Mittelpunkt stellte – ein Aspekt, den James auch den »Humanismus« des Pragmatismus nennt und den auch Dewey hervorhebt (vgl. Volbers 2014a). Peirce hielt dies für eine Verwässerung seiner Gedanken, und so versuchte er seine Lehre davor zu bewahren, in »literary journals« (EP II, 334) als Modewort zu dienen. Er schaffte Distanz, indem er seine eigene Position als »Pragmatizismus« bezeichnete – in der irrigen Hoffnung, eine so sperrig bezeichnete Position könne nicht mit Thesen verwechselt werden, die Peirce vehement ablehnte. Während James den Pragmatismus als eine Methode pries, die bei individuellen Lebenspro­blemen ebenso hilfreich sein sollte wie bei der Auflösung metaphysischer Streitigkeiten, sah Peirce im Pragmatismus eine wissenschaftlich orientierte, durchaus auch metaphysische Analyse mit besonderem Augenmerk auf Mathematik (wie z. B. Wahrscheinlichkeitsrechnung) und Logik.192 Besonders auffällig ist der Kontrast zwischen Peirce auf der einen Seite und James und Dewey auf der anderen in der Frage nach der Bedeutung des Subjekts und seiner persönlichen Zustände und Meinungen. Hier wird die szientistische Seite von Peirce’ Denken besonders gut greifbar. Peirce verteidigt das Ideal einer unpersönlichen allgemeinen Erkenntnis, die alle individuellen Meinungen transzendiert. Er lobt die Selbstlosigkeit der Wissenschaftler, die im Namen der Logik und der Erkenntnissuche bereit sind, auch noch ihre intimsten Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen und dem anonymen Urteil der wissenschaftlichen Forschung zu unterstellen : »The scientfic man is not in the least wedded to his conclusions« (EP II, 33). Für Peirce ist die Wissenschaft ein umfassender Forschungsprozess, dessen Autonomie gerade darin besteht, dass sie über die individuellen Gewissheiten hinwegzugehen vermag.193 Besonders deutlich wird Peirce’ Mischung von Pragmatismus, metaphysischer Spekulation und Mathematik in den sog. Harvard-Vorlesungen (Peirce 1997). 193 So sieht Peirce die »complete self-identification of one’s own interests with those of the community« als eine »logical necessity« (EP I, 81), d. h. als eine reale und zugleich transzendental vorauszusetzende Vorbedingung des logischen Zeichengebrauchs (vgl. auch Apel 1975, 57). Insgesamt zeichnet Peirce das Bild einer durchaus heroischen, mit stereotypen Attributen des »Männlichen« versehenen Selbstlosigkeit, wie sie auch Du Bois-Reymond in seiner 192

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Diese Auffassung hat die Konsequenz, dass die so verstandene wissenschaftliche Ratio­nali­tät dem Individuum – pace James – keinen verbindlichen Halt in Lebensfragen geben kann : »Thus, pure theoretical knowledge, or science, has nothing directly to say concerning practical matters« (EP II, 33). Die Wissenschaft zielt für Peirce auf das Allgemeine und ist jederzeit bereit, ihre Überzeugungen unter dem Druck der Erfahrung und der Argumente preiszugeben. Da wissenschaftliche Behauptungen daher streng genommen immer nur »provisional« (ebd.) seien, geht ihnen die bindende Kraft ab, die in moralischen Belangen erst Standhaftigkeit und Klarheit schafft. In drängenden ethischen Fragen müsse daher weiterhin das Urteil des Instinkts (und der Tradition) gelten, so Peirce : »matters of vital importance must be left to sentiment, that is, to instinct« (ebd.).194 § 106  Diese Verwerfung innerhalb des Pragmatismus besteht immer noch. Auch der heutige Pragmatismus spaltet sich entlang einer Scheidelinie, auf deren einer Seite James und Dewey und auf deren anderer Peirce platziert wird. In Frage steht hauptsächlich, wie »objektiv« oder »realistisch« eine pragmatistische Konzeption des Denkens sein kann. In den Augen der Verteidiger des Peirce’schen Ansatzes geben die beiden anderen klassischen Pragmatisten den von Peirce verteidigten objektiven Maßstab einer vom Denken unabhängigen Wirklichkeit preis. Im Resultat – so der Vorwurf – ist ihre Auffassung der Erfahrung und der Wirklichkeit, die durch diese Erfahrung erschlossen wird, hoffnungslos subjektivistisch. James und Dewey wird vorgehalten, dass für sie allein der subjektive Maßstab der eigenen Erfahrung über Wahrheit und Richtigkeit bestimme und somit die für die Wissenschaft doch konstitutive Differenz von Sein und Schein, von Anspruch und Wirklichkeit schleife. Für sie sei das Denken nur dem Maßstab der individuellen »Ignorabimus«-Rede formuliert (vgl. Du Bois-Reymond 1912, 464 ; zur ›heroischen Moderne‹ vgl. Früchtl 2004 sowie Kittsteiner 2006, 44–54). 194 Diesen Topos entfaltet Peirce vor allem in der ersten der sogenannten »Cambridge Conferences Lectures« (Peirce 1992). Eine typische Kritik an Peirce’ Sentimentalismus bietet Frega 2012 ; die ungewöhnliche Verteidigung, wonach Peirce’ Begriff des Instinkts im Wesentlichen nur das für jede inquiry unverzichtbare Vorverständnis beschreibt, findet sich bei Misak 2004. Peirce im Kontext  |  233

Befriedigung der Bedürfnisse unterworfen, mit dem Ziel der bloßen Bestätigung der eigenen Überzeugungen, ohne das regulative Ideal einer einen und einenden Wirklichkeit. Sie reduzieren, mit anderen Worten, die menschliche Ratio­nali­tät auf Willkür und subjektive Zweckerfüllung.195 Ein näherer Blick auf diese Kontroverse zeigt nun, dass ihre eigentliche Streitfrage genau das Pro­blem ist, zu dem Peirce selbst sich in seinen frühen Schriften nicht eindeutig positioniert. Ich möchte im Folgenden diesen sachlichen Kern der Kontroverse rekonstruieren. Anstatt Peirce’ frühe Aufsätze im Lichte des Gesamtwerks und der späteren Rezeption zu glätten, werde ich die dort vertretenen Ideen in ihren eigenen, durchaus ambivalenten Konturen nachzeichnen. Dabei wird sichtbar, dass Peirce’ Überlegungen sich vor allem in einem Punkt immer wieder ins Wort fallen : Sie nehmen eine geradezu entgegensetzte Einschätzung der aktiven Möglichkei­ ten der menschlichen Intelligenz vor. Peirce vereint in denselben Texten eine teils drastische Emphase der Ohnmacht und Abhängigkeit des Denkens mit einer durchaus auch euphorischen Feier der menschlichen Kreativität und Autonomie. Er schwankt zwischen der Behauptung, dass das Denken immer nur feste Überzeugungen sucht, und der gleichzeitigen Verteidigung der modernen Wissenschaft als fallibilistische Instanz der Kritik und der ständigen Korrektur. Nicht zuletzt stellt er damit das menschliche Denken in zwei weit auseinander klaffende Zeitrahmen : Während die Wissenschaft auf allgemeine Erkenntnis zielt und eine in ferner Zukunft liegende »ultimate opinion« anstrebt, soll die menschliche Natur so angelegt sein, dass das Denken immer nur die nächste erreichbare Gewissheit sucht und damit sein Ziel erreicht hat. Ich werde diese Spannung hier nicht als ein Pro­blem behandeln, das Peirce zu lösen hat und in den hier diskutierten Texten möglicherweise nicht befriedigend lösen konnte. Vielmehr wird die Tatsache, dass Peirce immer wieder zwischen diese beiden Seiten Vgl. Misak 2013b, 116 ; Mounce 1997 ; Hookway 1992, 51 ; Apel 1975, 118 f. ; Pape 2002, 127. Rortys Neopragmatismus (Rorty 1979) kann so beschrieben werden, dass er den Vorwurf des Verlustes an Objektivität in einen distinktiven (»antifoundationalist«) Vorteil des Pragmatismus umdeutet. Dafür, dass dies jedoch sowohl systematisch als auch historisch unbefriedigend ist, argumentiere ich in Volbers 2014b. 195

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wechselt, als Ausdruck seiner eigentlichen theoretischen Innovation gesehen. Gerade mit seiner Anerkennung dieser Spannung geht Peirce über die bisherigen Untersuchungsergebnisse hinaus. Er legt diese Spannung selbst in das Denken hinein – als Pole, die das Denken somit nicht nur gleichsam ›von außen‹, in der philosophischen Einordnung, bestimmen, sondern es ›von innen‹ heraus orientieren. Die Spannung zwischen Kritik und Wirklichkeit wird somit aus der Philosophie in die Selbstverständigung des Denkens verlagert – das ist Peirce’ entscheidende Innovation. Aus dieser Spannung heraus erst wird verständlich, was es heißt, ein Wesen zu sein, das sich selbst durch das Denken bindet und orientiert. Daran, wie es gelingt, diese Spannung zu halten, ist der Pragmatismus – und auch die Position von Peirce – zu messen. § 107  Der hier verfolgte Vorschlag ist also, Peirce’ frühen Pragmatismus als einen – im Vergleich zu den bisherigen Diskussionen – neuartigen Postformalismus zu sehen. Unabhängig davon, ob Peirce die skizzierte Spannung in diesen speziellen Texten zu halten vermag oder nicht, sie verweist auf einen Konflikt, der zentral ist für das hier verhandelte Thema einer Kritik der formalistischen Vernunft. Die beiden Pole dieser Spannung wurden schon in den bisherigen Erläuterungen zum Thema. Die passive, bindende Dimension des Denkens steht für den unverzichtbaren realistischen Anteil in einer postformalistischen Situierung der Kritik, für eben jene Einbettung des Denkens in die Natur, die McDowell im vorigen Kapitel mit dem Begriff der »zweiten Natur« und der Bestimmung der Vernunft als natürliches Vermögen zu leisten versuchte. Die aktive, transzendierende Dimension wiederum steht für den modernen Anspruch der Kritik, den Peirce mit allen hier verhandelten Autoren teilt und den auch er in den modernen Naturwissenschaften mustergültig verkörpert sieht. Wir können die hier skizzierte Spannung in Peirce’ Schriften also auf die bisherige Diskussion abbilden. Der Formalismus, so lässt sich pointiert zusammenfassen, will diese Spannung als Spannung auflösen und erklärt sie zu einem kategorialen onto­logischen Unterschied zwischen einer kritischen, aber weltlosen Vernunft und der ihr gegebenen Erfahrung. Davidson glaubt, diese Spannung erläutern zu können, indem er die kritische Dimension des Denkens von Peirce im Kontext  |  235

der Wissenschaft im engeren Sinne entkoppelt und sie der intersubjektiven Praxis der Sprache zuschlägt, in der immer schon unterschiedliche Perspektiven auf eine gemeinsame Welt eingenommen werden. McDowell wiederum versucht, diese Spannung vollständig aufzulösen, indem er Kritik als ein ›gegebenes‹ natürliches Vermögen präsentiert und somit die Idee einer gebundenen Freiheit vollständig naturalisiert. Bei Peirce lässt sich nun beobachten, dass er diesen Konflikt bewahrt, anstatt ihn zu leugnen oder zu beseitigen. Dieser Ansatz gleicht – wenn auch nur in seinen allgemeinen Zügen – noch am ehesten dem Vorgehen Davidsons, der ja auch den Konflikt zwischen der reflexiven (kritischen) Interpretation und der kausalen (realistischen) Bedingtheit der Überzeugungen zum doppelten Ausgangspunkt seiner Erläuterung sprachlichen Verstehens macht. Im Unterschied zu Davidson, der diesen Konflikt in das räumliche Schema der Triangulation übersetzt, fasst Peirce ihn aber primär als eine zeitliche Pro­blematik, in der das Denken reflexiv auf sich selbst zurückgeworfen wird. Er beschreibt die Spannung zwischen der Selbständigkeit und der Passivität der Vernunft als das treibende Moment des Denkens, aus dem heraus die Logik überhaupt erst ihre Verbindlichkeit gewinnt. Denn für Peirce ist gerade die »ohnmächtige« Einbettung des Denkens in die Welt der Grund dafür, dass wir uns reflexiv mit dem Denken und seinen Möglichkeiten beschäftigen. Bei aller passiven Abhängigkeit von der Welt, die Peirce, wie wir sehen werden, noch wesentlich radikaler fasst als die bisher diskutierten Autoren, lässt die bloße Möglichkeit des Handelns und damit des Eingriffs in die Welt noch genug Raum, um sich zu dieser Abhängigkeit zu verhalten. Unser Handeln ist bedeutsam, weil es Folgen für uns hat. Damit führt Peirce einen Gedanken ein, der den klassischen Pragmatismus bei allen Differenzen zwischen seinen wichtigsten Vertretern durchgängig bestimmt : Wir interessieren uns für die Form, die unser Denken und Handeln annimmt, gerade weil es faktische und in diesem Sinne unabweisbare Konsequenzen hat, wie wir denken und handeln. So rückt die Form des Denkens als Pro­blem des Denkens, und eben nicht nur als philosophisches Thema, in den Blick. Hier ist ein deutlicher Unterschied zur analytischen und postanalytischen Diskussion der Erfahrung und der Ratio­nali­tät festzuhalten. Die 236  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

analytische Tradition geht, wie wir gerade am Wiener Kreis in aller Deutlichkeit sehen konnten, von der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Vernunft als Faktum aus, eine Position, die sich bei allen Veränderungen selbst noch in McDowells Bestimmung von Sprache und Vernunft als naturgegebene »vernünftige Fähigkeiten« indirekt fortschreibt. Der Pragmatismus setzt vor diesem Faktum an, indem er danach fragt, warum wir der Sprache und der Vernunft überhaupt Bedeutung zumessen. Was ist der Grund dafür, dass wir Vernunft und Sprache wertschätzen ? Was erwarten wir von diesen Fähigkeiten, und wie können sie diese Erwartungen am besten erfüllen ? Der pragmatistische Ausgangspunkt ist die Frage nach der Relevanz des Wissens wie unserer kognitiven Fähigkeiten allgemein. Wissen, Denken, Verständnis sind nicht selbstverständlich, sondern haben – für uns – eine Bedeutung, einen Wert. Diese Bedeutung wird dabei in der zeitlichen Dimension der Konsequenz gesucht, in den Konsequenzen, die der Einsatz von Wissen und Sprache faktisch für uns haben. Konkret bedeutet dies : Die Relevanz dieser kognitiven Fähigkeiten und ihrer Produkte besteht darin, dass sie, insofern sie unser gegenwärtiges Handeln leiten, mit darüber entscheiden, wie die zukünftige Praxis aussieht und aussehen kann. In dem Maße, indem wir bewusst auf diese kognitiven Fähigkeiten Einfluss nehmen können – zum Beispiel durch Reflexion –, nehmen wir darauf Einfluss, wie wir die Zukunft gestalten können. Das zukünftige Verhalten, so eine der Formulierungen, die Peirce diesem Gedanken gibt, »is the only conduct that is subject to self-control« (EP II, 340). Dieser Gedanke ist als eine Konsequenz der Passivität zu lesen, der das Denken untersteht und auf die es daher reflexiv Einfluss zu nehmen versucht. Selbst diese Beschreibung könnte aber noch missverstanden werden. Denn sie legt nahe, was dann auch in der Rezeption dem Pragmatismus immer wieder vorgeworfen wurde : Er interessiere sich, als eine »Philosophie der Zukunft« (Hetzel et al. 2008), ausschließlich dafür, was sein wird, und nicht für das, was war oder was ist. Der Pragmatismus hat, das ist offensichtlich, eine starke Affinität zu einem perfektionistischen oder, wie es auch genannt wird, »melioristischen« Bild des Menschen. Vor allem James und Dewey verteidigen teils emphatisch die Möglichkeit, ja die Pflicht, diese Welt und sich selbst stetig zu verbessern. Peirce im Kontext  |  237

Peirce ist wesentlich nüchterner und beschränkt seine Über­ legungen größtenteils auf logische und epistemologische Fragen.196 Gerade dadurch aber wird bei ihm besonders gut sichtbar, dass der Zukunftsbezug im Pragmatismus – der Blick auf die Konsequenzen – eine logische Pointe hat. Seine primäre Funktion ist nicht (pace Koopman 2006), Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu wecken. Der Zukunftsbezug öffnet vielmehr den Raum für Bedeutung : »The rational meaning of every proposition lies in the future« (Peirce, EP II, 340). Er lässt verständlich werden, warum die Gegenwart für uns überhaupt Relevanz hat. Denn in der Gegenwart treffen wir Entscheidungen, die einen Unterschied machen werden ; sie sind bedeutsam, weil sie Konsequenzen nach sich ziehen.197 Mit ihnen steht auf dem Spiel, welche Gestalt die Zukunft annehmen wird. Die skizzierte Spannung zwischen passivem Leiden und aktiver Gestaltung der Vernunft rückt somit in das Zentrum der pragmatistischen Erläuterung der Vernunft, da es eben diese Spannung ist, die das Denken als Denken relevant werden lässt. Gerade weil wir von der Welt abhängig sind, wird es wichtig, wie wir uns zu ihr verhalten. Ich werde daher im Folgenden zeigen, dass diese Spannung Peirce’ Überlegungen von Anfang an durchaus produktiv durchzieht. Peirce stattet das Denken, indem er es als »experimental phenomenon« (EP II, 340) begreift, mit einer umgreifenden passiven Abhängigkeit von der Welt aus, die er aber – eben das soll das Experiment zeigen – als eine produktive Kraft sieht, die zur vernünftigen Selbstbestimmung führen kann. Mit dieser Lektürestrategie soll nicht ausgeschlossen werden, dass Peirce auch widersprüchliche Konsequenzen aus dieser Grundidee zog. Wir werden einige Schwierigkeiten, die seine Überlegungen aufwerfen, Die Monographie von Nicola Erny (2005) ist einer der wenigen mir bekannten Versuche, Peirce’ Pragmatismus nicht nur ethisch zu interpretieren, sondern sein gesamtes Werk unter einem ethischen Gesichtspunkt zu lesen und zu verteidigen. 197 Der Begriff der Bedeutung, wie er hier verwendet wird, gleicht daher mehr dem von Heidegger her bekannten Begriff der »Bedeutsamkeit«, das als Existenzial überhaupt erst den Grund legt für Bedeutungen im engeren sprachlichen Sinn (vgl. Heidegger 1967, Abschn. 18). Die Bedeutung ergibt sich daraus, dass etwas auf etwas »verweist«, wie Heidegger es nennt – ein Holismus, der eben auch zeitlich zu interpretieren ist und im Pragmatismus mit dem Begriff der Konsequenz eingefangen wird. 196

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in der anschließenden Diskussion behandeln. Doch diese sollte auf den festen Boden der Grundidee gestellt werden, mit der Peirce die Möglichkeiten postformalistischer Artikulationen der Vernunft deutlich ausweitet. § 108  Die passive Dimension der Erfahrung und des Denkens wird besonders greifbar in der sogenannten »belief-doubt«-Theo­ rie, die Peirce in »The Fixation of Belief« entwickelt. Denken wird hier unter anderem als eine Praxis beschrieben, die durch Zweifel und Orien­tierungsverlust angestoßen wird. Diese Praxis zielt darauf, den Zweifel zu beseitigen, und findet ein objektives Ende, sobald eine feste Überzeugung gewonnen wurde : »[T]he action of thought«, so heißt es, »is excited by the irritation of doubt, and ceases when belief is attained« (EP I, 127). Peirce legt Wert auf die Feststellung, dass das experimentierende Subjekt selbst nicht über das Ende der Untersuchung entscheidet. Der Zweifel nimmt eine unhintergehbare regulative Funktion an. Er bestimmt nicht nur den Anfang der Untersuchung, sondern auch ihren Verlauf und ihren Abschluss (ausführlicher Hookway 1998). Nach diesem Abschluss sind Peirce zufolge weitere Diskussionen und Überlegungen fruchtlos : »When doubt ceases, mental action on the subject comes to an end ; and, if it did go on, it would be without a purpose« (EP I, 115). Peirce setzt an den Anfang und das Ende der inquiry Erfahrungen, in denen das Verhältnis des Subjekts zur Welt von außen erschüttert oder gefestigt wird. Damit ist nicht gemeint, dass hier Erfahrungen als »Gegebenes« in das Denken eindringen. Die Erfahrungen, von denen Peirce hier spricht, setzen Erwartungen, Hoffnungen und Absichten immer schon voraus. Sie sind daher begrifflich vermittelt.198 Doch die von ihnen ausgehende Irritation wie auch ihre Stabilisierung, darauf besteht Peirce, ist nicht allein aus diesen subjektiven Intentionen heraus zu erklären. Wenn Peirce von Vgl. auch Peirce’ aufzählende Beschreibung der wichtigsten Merkmale des Experimentsder zufolge die »essential unity« des Experiments »in its purpose and plan« (EP II, 340) läge. Peirce trägt der Vermitteltheit der Erfahrung auch in seiner Kategorienlehre Rechnung, die unter anderem darauf insistiert, dass jede Erfahrung des Widerstands und des Konflikts (die er dort der Kategorie der »Zweitheit« zuordnet) nur zusammen mit einer vermittelnden Allgemeinheit (der Kategorie der »Drittheit«) gedacht werden kann. 198

Peirce im Kontext  |  239

Erfahrungen spricht, dann interessiert ihn vor allem der Aspekt, dass uns durch die Erfahrung etwas aufgedrängt wird. »For Peirce, experience is a very broad notion – it is anything that is forced upon us« (Misak 2004, 21). Peirce sieht in dieser Radikalisierung der Passivität des Denkens – in dem Überwältigungscharakter der Erfahrung, wie wir diesen Aspekt auch nennen können – gerade den entscheidenden kritischen Fortschritt seiner Philosophie gegenüber den zu seiner Zeit in den Vereinigten Staaten dominierenden idealistischen Positionen. Denn die so verstandene Erfahrung durchbricht die Distanz zwischen der Welt und unserer Vorstellung von der Welt : »I find myself in a world of forces which act upon me«, und diese Kräfte, so Peirce, sollen bestimmen, »what I shall ultimately believe« (EP I, 237). Peirce vertritt hier ein genuin formalismuskritisches Motiv, das wir auch schon bei McDowell und Davidson beobachten konnten : Er will mit der Passivität der Erfahrung verhindern, dass wir unser Bild der Welt mit der Welt selbst verwechseln, und er will auf diese Weise die »Reibung« mit der Welt absichern. Wir haben in der Diskussion der postanalytischen Postformalismen gesehen, dass die Passivität der Erfahrung eine entscheidende konzeptionelle Hürde auf dem Weg zu einer angemessenen Artikulation der situierten Vernunft darstellt. Die intendierte Einheit von, kantisch gesprochen, Spontaneität und Rezeptivität fällt wieder auseinander, sobald diese passive Erfahrung ausschließlich in dem Modus eines gegebenen Gehalts gedacht wird. Peirce geht nun über diesen deklarativen Erfahrungsbegriff deutlich hinaus und zieht damit das Subjekt selbst in den Prozess der Erfahrung mit hinein. Die Erfahrung, wie Pierce sie beschreibt, ergreift das Subjekt : »I find myself in a world of forces which act upon me« (EP I, 237 ; meine Hervorh.). Das Verständnis der Erfahrung wird hier um seinen, mit Hegel gesprochen, negativen Charakter ergänzt, der auch Zweifel und Konflikte mit einschließt. Die Erfahrung erfasst das denkende Subjekt, indem sie seine Erwartungen »durchkreuzt« (Gadamer) und seine Überzeugungen »erschüttert« (Pierce), aber auch, indem sie durch die neu gewonnene feste Überzeugung die Untersuchung zu einem Abschluss führt.

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§ 109  Damit kommen wir zu der Praxis des Experiments. Sie führt vor Augen, was es heißt, die umfassende Passivität des Denkens nicht ausschließlich als eine Einschränkung zu verstehen. Peirce führt seine Illustrations of the Logic of Science mit einem kurzen historischen Abriss der Entwicklung der Wissenschaften ein, der den ersten Teil des Aufsatzes »The Fixation of Belief« darstellt. Auf diesen zwei Druckseiten kritisiert Peirce die Auffassung, die wissenschaftliche Arbeit bestünde darin, Thesen aufzustellen und sie dann mit den experimentell gewonnen Ergebnissen zu vergleichen. Eine solche Auffassung, die wir beim Logischen Empirismus gesehen ­haben, findet Pierce bereits bei Bacon : That we have only to make some crude experiments, to draw up briefs of the results in certain blank forms, to go through these by rule, checking off everything disproved and setting down the alternatives, and that thus in a few years physical science would be finished up – what an idea ! (EP I, 110)

Interessant an dieser Bemerkung ist weniger die darin ausgedrückte moderne Gewissheit, dass die Forschung nicht so schnell zu einem Ende kommen wird, als die deutliche Ablehnung einer Trennung von experimenteller Praxis und theoretischer Beurteilung. Für Peirce ist der entscheidende Fortschritt der Naturwissenschaft gerade darin zu suchen, dass sie ihre Urteile eben nicht mehr in souveräner Distanz zur Erfahrung – also zu den im Labor gewonnenen Ergebnissen – gewinnt. Er erläutert die moderne Wissenschaft, wie er sie versteht, am Beispiel des Chemikers Lavoisier, der den Sauerstoff entdeckt hatte. Es lohnt sich, diese Beschreibung vollständig zu zitieren : Lavoisier’s method was not to read and pray, not to dream that some long and complicated chemical process would have a certain effect, to put it into practice with dull patience, after its inevitable failure to dream that with some modification it would have another result, and to end by publishing the last dream as a fact : his way was to carry his mind into his laboratory, and to make his alembics and cucurbits instruments of thought, giving a new conception of reasoning, as something which was to be done with one’s eyes open, by manipulating real things instead of words and fancies (EP I, 111).

In diesem Zitat beschreibt Pierce zunächst, wie Wissenschaft seiner Auffassung nach nicht funktioniert. Was Peirce ablehnt, hat große Peirce im Kontext  |  241

Ähnlichkeiten mit Poppers falsifikationistischer Wissenschaftstheo­ rie : Die Wahrheit soll erreicht werden, indem falsche Vorstellungen ausgesiebt werden. Die Forscherin entwickelt Thesen und Ideen und scheitert – wie Peirce schreibt : zwangsläufig (inevitable) – an deren Umsetzung. So sieht sie sich gezwungen, andere Thesen aufzustellen, die sie dann wieder umzusetzen versucht. Die letzte Idee, die keinen Widerstand bietet (»the last dream«, wie Peirce polemisch schreibt), wird dann als Fakt veröffentlicht. Was Peirce an dieser Schilderung stört, ist ihr Formalismus. Es wird kein bindender Bezug zwischen Erfahrung und Denken hergestellt ; das Denken bleibt in voller Souveränität von der Erfahrung entfremdet. Das Denken bleibt bei sich, es verändert nur »words and fancies«, also Wörter und Einfälle. Sollte bei diesem Verfahren ein richtiges Ergebnis herauskommen, dann nur aus Zufall. So behauptet Peirce von Kepler (EP I, 110 f.), dass dieser letztlich nur durch die Sichtung einer großen Menge von astronomischen Modellierungen zu der richtigen Erklärung gekommen ist – ohne systematischen Leitfaden und somit letztlich einfach durch Glück. Lavoisier hingegen sei anders verfahren. Er stellte nicht einfach mögliche Übereinstimmungen von Gedanken und Wirklichkeiten fest, sondern ließ sich in seiner Entwicklung der Gedanken von der Erfahrung (im weiteren Verständnis) selbst leiten. Er habe seinen Geist ins Labor getragen, so Peirce, und die Laborinstrumente zu Werkzeugen seines Geistes gemacht. Entscheidend ist für Peirce, dass Lavoisier »real things« manipuliert habe. Das Wirkliche, das ist für Peirce immer das, was von unseren Meinungen und Überzeugungen prinzipiell unabhängig ist. Diese Wirklichkeit ist es, die sich als Erfahrung meldet und sich aufdrängt. Lavoisier hat nun, wenn wir Peirce’ Beschreibung folgen, diese Wirklichkeit für sich genutzt und sie damit selbst in den Dienst des Denkens gestellt. Er hat, mit andern Worten, Dinge manipuliert (Instrumente) und beobachtet, welche Konsequenzen diese Eingriffe nach sich zogen. Das Experiment ist für Peirce keine bloße Umsetzung eines theoretisch gefassten Gedankens, sondern eine Weise, zu denken (»a new conception of reasoning«, wie es in dem obigen Zitat heißt). Das Besondere an diesem Verfahren ist, dass es sich die Passivität, die Peirce zufolge das Denken auszeichnet, zunutze macht, indem es Erfahrungen provoziert, anstatt sie einfach nur zu registrieren. 242  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

Deswegen ist es erforderlich, »real things« zu modifizieren (was eine Änderung der Thesen freilich nicht ausschließt). Das Experiment bestätigt nicht einfach gegebene Erwartungen oder widerlegt sie. Es durchbricht die formalistische Trennung von Thesen und Wirklichkeit, indem es nicht nur – was auch der Formalismus anerkennt – die Thesen an der Wirklichkeit prüft. Dem fügt Peirce hinzu, dass im Experiment wirkliche Effekte provoziert werden, die mit der ganzen passiven Kraft der Erfahrung dazu zwingen, das eigene Verständnis zu ändern. Indem die Passivität der Erfahrung also in einen kontrollierten Rahmen überführt wird, kann sie selbst als Erkenntnisquelle genutzt werden, anstatt sie nur als Hindernis zu sehen. Das Experiment zeigt, dass es möglich ist – und, mit Blick auf den in dieser Argumentation ständig vorausgesetzten Fortschritt der Wissenschaften, auch richtig –, den Widerstand und die Passivität der Erfahrung zu nutzen. Es wäre demnach falsch, das Experiment als eine durchgängige Kontrolle der Erfahrung zu verstehen und damit als eine Emanzipation von ihrem passiven, ja überwältigenden Charakter. Vielmehr verdankt sich für Peirce der Fortschritt der Wissenschaft überhaupt nur der Tatsache, dass wir in einer »world of forces« leben, inmitten von Kräften, die auf uns einwirken. Das Experiment, wie Peirce es versteht, ist der produktive Versuch, aus den negativen Erfahrungen zu lernen, indem gerade diese Eigenschaften genutzt werden, anstatt sie formalistisch zu leugnen.

Die Logik der Stabilisierung von Überzeugungen § 110  Die passiv fordernde Dimension der Erfahrung steckt den Rahmen ab, in dem sich die Argumentation des Textes »The Fixation of Belief« bewegt. Ich werde nun diese Argumentation genauer rekonstruieren, um zu zeigen, wie Peirce den Gedanken umsetzt, dass wir nur deshalb denkende Tiere sind (»logical animals«, EP I, 112), weil wir auf die Erfahrung in ihrer ganzen Breite angewiesen sind, wir ihr also keineswegs immer souverän gegenüberstehen. Mit Blick auf die bisherige Diskussion finden sich in diesem Text zwei Erklärungsziele. Zum einen will Peirce die Überlegenheit der modernen Wissenschaft nachweisen und die »scientific investigaDie Logik der Stabilisierung von Überzeugungen  |  243

tion« als eben jene Methode vorstellen, der es am besten gelingt, stabile und damit allgemein gültige Überzeugungen zu produzieren. Die Erfolge der Wissenschaft werden darauf zurückgeführt, dass sie eine Praxis etabliert hat, in der die denkunabhängige Wirklichkeit bei der Ausbildung der Überzeugung mitwirkt. Die Wissenschaft wird somit als Methode vorgestellt, der es mustergültig gelingt, die Abhängigkeit des Denkens von der Welt produktiv in Erkenntnisfortschritte zu wenden. Bei dieser Charakterisierung der Wissenschaft verweist Peirce weniger auf das Experiment als auf ein von ihm unterstelltes Selbstverständnis der empirischen Forschung, nämlich die von ihm so genannte »presupposition of reality«. Die Wissenschaft, so der Gedanke, sucht nach einer Wahrheit, die völlig unabhängig von den unterschiedlichen Überzeugungen und Methoden ist, und kann damit diese individuellen Perspektiven langfristig transzendieren. Dieses Ziel einer Verteidigung der Überlegenheit der Wissenschaft wird von Peirce eingebettet in eine allgemeine Erläuterung des Denkens, steht also in einer logischen Perspektive. Das ist das zweite Erklärungsziel in diesem Aufsatz : die Einbettung der Wissenschaft in eine allgemeine pragmatistische Erläuterung der Logik. Die Wissenschaft wird als eine Möglichkeit unter anderen vorgestellt, wie sich denkende Wesen verhalten können. Hier kommt ein historisches Moment in Peirce’ Denken des Denkens hinein. Er beschreibt, wie ich gleich ausführlicher zeigen werde, das Denken auf eine Weise, die es offen lässt, wie diese Praxis gestaltet werden kann. Erst vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Logik eröffnen sich Wahlmöglichkeiten, und so erst zeichnet sich das Pro­blem ab, auf das Peirce eine Antwort geben möchte : Warum sollten wir überhaupt wissenschaftlich – also fallibilistisch, kritisch und im weitesten Sinne empiristisch – denken ? Wie der Wiener Kreis will Peirce die Wissenschaft also über ihre logische Seite verteidigen, als eine Form des Denkens. Peirce stellt die Frage nach der Gültigkeit (»validity«, EP I, 111) von logischen Regeln und Formen an den Ausgangspunkt seiner Argumenta­ tion.199 Ihn interessiert, in ein moderneres Vokabular übersetzt, die Zu Peirce’ Verbindung von logischer Gültigkeit (»validity«) mit beobachtbaren Fakten vgl. Misak 2004, 103–119. 199

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Normativität des Denkens, seine Verbindlichkeit. Diese Logik, und damit auch die logischen Formen, werden jedoch dezidiert praktisch gefasst. Denken, »thought«, begreift Peirce als eine raumzeitlich ausgedehnte Praxis des Schließens, die ihre spezifische Gestalt annimmt durch die körperliche Verankerung von Schlussformen in Gewohnheiten (»habits«). Diese Deutung des Denkens als prakti­ scher Vollzug verzeitlicht also die Logik und das Schließen, was eine Offenheit und Unabgeschlossenheit in die Logik einführt, die sich als zentral für Peirce’ Argumentation erweist. Weder ist es selbstverständlich, dass wir die Praxis der Wissenschaften haben, noch ist selbstverständlich, dass das Denken sein Ziel erreicht. Aus dieser Offenheit gewinnt Peirce das normative Maß, das seiner Meinung nach sowohl die Entwicklung der Logik im Allgemeinen als auch die spezifische Entwicklung der empirischen Naturforschung bestimmt. § 111  Verfolgen wir nun die Argumentation von Peirce im näheren Detail. Ich werde, der Grundstruktur des Textes folgend, mit Peirce’ allgemeinen Überlegungen zur Logik beginnen, um dann von ihnen aus zur Frage nach der potenziellen Überlegenheit der Wissenschaft vorzustoßen. Die Grundstruktur dieser Erläuterung sollte hier kurz vorausgeschickt werden ; sie sieht wie folgt aus : Der verbindliche Übergang von Prämissen zu Schlussfolgerungen ist für Peirce zunächst einfach ein Akt der Gewohnheit, eine faktische Praxis, und in diesem Sinne gerade nicht normativ. Doch angesichts der Tatsache, dass solche faktisch gezogenen Schlüsse auch reelle Konsequenzen haben, wird die normative Frage, welche Schlüsse wir besser ziehen sollten, unausweichlich. Die Logik ist in diesem Verständnis keine normative Struktur, die erst in der Praxis Anwendung findet. Sie ist vielmehr gerade in ihrer spezifischen Verbindlichkeit, als eine Reflexion über die Formen des richtigen Denkens, ein Moment der Praxis, der wir unter dem ständigen Druck der Erfahrung eine verbindliche Form zu geben versuchen. In diesem Verständnis der Logik findet sich die oben eingeführte pragmatistische Grundidee, das Denken durch die Angewiesenheit auf die Erfahrung erläutern. Die Ausbildung angemessener Formen des Denkens ist entscheidend für unsere Handlungsfähigkeit, und letztlich – wie Peirce auch naturalistisch mit Hinweis auf die »natuDie Logik der Stabilisierung von Überzeugungen  |  245

ral selection« (EP I, 112) andeutet – für das Überleben. Doch Peirce begreift diese Angewiesenheit, wie wir bereits ausgeführt haben, nicht formalistisch als die Einschränkung einer ansonsten freien Vernunft, die sich hier mit einer Realität konfrontiert sieht, der sie nolens volens eine Stimme einräumen muss. Sie gilt ihm vielmehr, konsequent postformalistisch, als die eigentliche Quelle der Normativität des Denkens.200 Wir können, und wir sollten angesichts der Abhängigkeit unserer Praxis von den in ihr verkörperten Formen des Denkens, reflexiv auf diese Formen Einfluss nehmen. Die logische Frage danach, wie gedacht werden sollte, übersetzt sich in die praktische und zugleich methodische Frage, wie die Praxis gestaltet werden soll. So öffnet sich ein weites Feld der praktischen Selbst­ bestimmung des Denkens. Peirce konzipiert Logik von Anfang an postformalistisch als eine konkrete Praxis, die einem Ziel untersteht. Das, aristotelisch gesprochen, »Gut« dieser Praxis, das sie normativ orientiert, ist die logische Gültigkeit – der richtige Schluss. Peirce beschreibt diese Praxis als eine zielgerichtete Tätigkeit, die von bekannten Prämissen zu unbekannten Schlussfolgerungen fortschreitet. Die Güte eines Schlusses bemisst sich in dieser Fähigkeit, etwas Unbekanntes zu erschließen. Wir wissen etwas, und anderes noch nicht ; das Denken verhilft dazu, den Raum des Wissens auszuweiten. Doch diese Ausweitung ist konstitutiv prekär. In der logischen Praxis, wie Peirce sie versteht, steht die Entscheidung darüber, ob ein Schluss gültig ist, immer wieder neu auf dem Spiel. Denn diese Entscheidung über die Gültigkeit wird von den Fakten selbst getroffen und damit gerade nicht von dem Subjekt, das sich der Logik bedient. So heißt es : The object of reasoning is to find out, from the consideration of what we already know, something else which we do not know. Consequently, reasoning is good if it be such as to give a true conclusion from true Christine Korsgaard bestimmt die Quelle der Normativität auf eine vergleichbare Weise : »The normative word ›reason‹ refers to a kind of reflective success«, so Korsgaard 1996, 93. Sie spricht damit den Erfolg an, über die Zumutung einer Erfahrung, ein Handlungsgrund zu sein, entschieden zu haben : »Is this perception really a reason to believe ? … Is this desire really a reason to act ? The reflective mind cannot settle for perception and desire, not just as such« (1996, 93). Gründe dienen demnach dazu, sich erfolgreich zu solchen Erfahrungen zu positionieren. 200

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premises, and not otherwise. Thus, the question of its validity is purely one of fact and not of thinking. A being the premises and B the conclusion, the question is, whether these facts are really so related that if A is B is (EP I, 111 f.).

An dieser Bestimmung des Denkens – »reasoning« – lässt sich der normative Maßstab gewinnen, den Peirce als Logiker interessiert. Die logische Frage, ob wir richtig denken, wird durch eine Übereinstimmung mit den Fakten beantwortet, die selbst nicht unter dem Einflussbereich des Denkens steht. Ob eine Schlussfolgerung richtig war oder nicht, entscheidet nicht das Denken selbst, sondern die Wirklichkeit, über die es urteilt. Peirce hebt noch an derselben Stelle, die gerade zitiert wurde, hervor, dass es aus diesem Grunde auch irrelevant sei, ob wir denken, richtig zu denken. Wahre Behauptungen sind auch dann wahr, so Peirce, wenn keiner an sie glaubt, und falsche Behauptungen bleiben auch dann falsch, wenn sie jeder mit Inbrunst vertritt. § 112  Freilich ist mit dieser ersten Bestimmung der Logik noch nicht viel gewonnen. Es ist noch offen, was es überhaupt heißt, unter diesen Bedingungen von einer logischen Form zu reden – mithin also von etwas Allgemeinem, das über die einzelnen Akte hinausgeht, die bisher thematisch waren. Den klassischen Gegenstandsbereich der Logik bilden ja nicht die individuellen Schlüsse, sondern Schlussfiguren, in die sich diese konkreten Schlüsse einteilen lassen. Diese Schlussfiguren, einmal isoliert, erlauben ein Urteil darüber, ob ein gegebener Schluss dann auch zumindest auf der formalen Ebene richtig, d. h. wohlgeformt ist. Ohne eine solche Bestimmung der Form bleibt zweitens auch offen, wie es möglich sein soll, diese Form reflexiv zu bestimmen – eine Voraussetzung, ohne die es wiederum keinen Sinn hat, überhaupt für die Überlegenheit der Wissenschaft, als eine mögliche Form des Denkens unter anderen, zu argumentieren. Es ist der Begriff der Gewohnheit, der Peirce zufolge sowohl die allgemeinen Formen des Denkens als auch ihre reflexive Manipulierbarkeit erklärt. Der Übergang von einer gegebenen Prämisse zu einer Konklusion sei, so Peirce, als ein habituell geleiteter Übergang zu verstehen :

Die Logik der Stabilisierung von Überzeugungen  |  247

That which determines us, from given premises, to draw one inference rather than another, is some habit of mind, whether it be constitutional or acquired (EP I, 112).

Dieser pragmatistische Begriff der Gewohnheit darf nicht mit dem eher mechanistischen Verständnis verwechselt werden, das sich mit dem Aufstieg der Physiologie im 19. Jahrhundert zunehmend durchsetzte (vgl. Camic 1986) Diesem immer noch verbreiteten Verständnis zufolge sind Gewohnheiten vor allem Dispositionen der Wiederholung : Jemand hat die Gewohnheit, immer zuerst den rechten Schuh anzuziehen oder sich wiederholt an der Nase zu kratzen. Eine Gewohnheit zu haben, heißt demnach, etwas zu wiederholen, was auch unabhängig von dieser Wiederholung existiert. Der Pragmatismus orientiert sich dagegen am klassisch aristote­ lischen Begriff des habitus, nach dem Gewohnheiten als intelligente und damit formbildende Dispositionen – ganz im Sinne der Tugend – verstanden werden. Das Verhältnis von Wiederholung und Gewohnheit wird hier umgekehrt : Nicht die Wiederholung schafft Gewohnheit, sondern die Gewohnheit erzeugt, indem sie gleichar­ tig reagiert, erst die Wiederholbarkeit. Die Wiederholung ist das Resultat der Gewohnheit, die auf gleiche Weise reagiert und das, worauf sie reagiert, damit erst in der Wiederholung vergleichbar macht (vgl. auch Dewey, LW 12, 251). Diese Sicht der Gewohnheit durchzieht den ganzen klassischen Pragmatismus.201 An dem so verstandenen logischen habit lässt sich nun dieselbe Verschränkung von Erwartung und Wirklichkeit vornehmen, die wir schon beim einzelnen Schluss vorgenommen haben. So, wie ein gegebener Schluss danach normativ beurteilt werden kann, ob er der Sachlage entspricht, so kann ein habitualisiertes Schlussprinzip danach beurteilt werden, ob es denn die richtigen Schlüsse nahelegt (wieder-holt). In der Verbindung dieser beiden Gedanken zeigt sich Peirce’ postformalistischer Ansatz in aller Deutlichkeit : Weder So heißt es bei James : »The main forms of our thinking … are purely human habits« (James 1890, 860). Zur positiven Besetzung der Gewohnheit im Pragmatismus vgl. auch Hartmann 2003, Kilpinen 2015 sowie der von mir verfasste Übersichtsartikel im Handbuch Pragmatismus (Festl 2018). Ein wichtiger Unterschied zwischen Peirce und Dewey ist, dass Letzterer davon ausgeht, dass im Handeln eine Pluralität von Gewohnheiten wirken kann, die auch in Konflikt stehen können (Schäfer 2012). 201

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die logische Gültigkeit eines einzelnen Schlusses noch die Gültigkeit einer allgemeinen logischen Form ist für Peirce auf eine reine nichtempirische Relation beschränkbar. Zwar können wir uns alle möglichen logischen Relationen im Geiste vorstellen und sie als Prinzipien oder Regeln verteidigen. Doch über deren Gültigkeit und Verbindlichkeit entscheidet allein, so Peirce, ihre faktische Anwendbarkeit. Ein von Peirce genanntes Beispiel ist das induktive Schließen. So haben wir vielleicht die Annahme entwickelt, dass der Magnetismus, den wir an einem Stück Kupfer wissenschaftlich feststellen können, auch für alle anderen Kupferstücke gilt (nicht aber für Messing). Ein solches guiding principle, wie Peirce es nennt, ist ein »particular habit of mind« (EP I, 112). Diese Gewohnheit ist die logische Form. Das Prinzip kann zwar in eine explizite Aussage (»proposition«) übersetzt werden, doch ihre Wirkkraft liegt in der Habitu­alisierung. Sie führt uns von den Prämissen zur Konklusion, und sie wird subjektiv auch als eine unabweisbare Gewissheit empfunden : »we feel an impulse to accept the conclusion also« (ebd.). Das Beispiel der guiding principles zeigt, wie sich im habit objektiv erworbene Gewohnheiten und subjektive Überzeugungen verschränken. Peirce spricht nicht nur objektivierend von einem habit, der das Handeln leitet, sondern auch von der Überzeugung (»belief«), die diese praktischen Übergänge in individueller Perspektive bestimmt. Beide Begriffe verweisen für ihn auf dasselbe Phänomen. Der habit ist, wie Nicola Erny (2005, 42) treffend formuliert, »aspekthaft« : Er ist zum einen das Resultat einer Anpassungsleistung, zugleich aber Ausdruck eines Selbstverhältnisses, das sich in dem Begriff der Überzeugung ausdrückt. Überzeugungen sind keine kognitiven Repräsentanten im individuellen Gehirn, sondern in dem habit verkörperte, ihn gleichsam begleitende Erwartungshaltungen. Während der Begriff des habit eine distanziert-objektive Beschreibung vornimmt, spricht das Wort »belief« das subjektive Verhältnis zu diesen Handlungstendenzen aus – die Gewissheit, dass wir so handeln sollten : The feeling of believing is a more or less sure indication of there being established in our nature some habit which will determine our actions. … Belief does not make us act at once, but puts us into such a condition that we shall behave in a certain way, when the occasion arises (EP I, 114). Die Logik der Stabilisierung von Überzeugungen  |  249

Das Zitat belegt noch einmal, wie temporal orientiert die von Peirce eingenommene Perspektive ist. Gewohnheit und Überzeugung werden als Handlungstendenzen diskutiert, als Bedingungen der Möglichkeit, unter gegebenen Umständen in einer bestimmten Weise zu handeln. Diese Handlungsbereitschaft schließt im Übrigen auch, wie etwa Misak (2004, 49) betont, »action in diagrammatic and thought experiments« mit ein (vgl. auch Stjernfelt 2007). Das Ziel der Logik ist ja, wie wir eingangs zitiert haben, der Schluss von dem Bekannten auf das Unbekannte, der Ausgriff auf eine Zukunft, deren Ergebnis noch offen ist. Der habit hat in dieser zeitlichen Logik die Funktion, übergreifendere Formen solcher Ausgriffe zu etablieren. § 113  Die Ähnlichkeit von Peirce’ Beschreibung des Denkens als habit mit dem naturalistischen Postformalismus von McDowell, den wir im letzten Kapitel untersucht haben, liegt auf der Hand. Was Peirce, wie allgemein der Pragmatismus, unter dem Ober­ begriff des habit diskutiert, nennt McDowell »zweite Natur« – jene »habits of thought and action« (McDowell 1996, 84), die das Denken in seiner konkreten Form bestimmen. Eine weitere Parallele ist die naturalistische Grundierung dieses Gedankens. Auch für Peirce gehört es zu unserer natürlichen Konstitution, habits auszubilden. Doch im Unterschied etwa zu McDowell sorgt sich Peirce darum, dass diese Naturanlage nicht die erforderliche Pflege und Aufmerksamkeit erfährt. Die korrekte Ausbildung des Denkens – also der habits of mind – sei, wie Peirce feststellt, »not so much a natural gift as a long and difficult art« (EP I, 110). In dieser Kunst seien die Menschen keineswegs sehr bewandert. Dass sie mit ihren anerzogenen habits dennoch für gewöhnlich Erfolg haben, liege schlicht daran, dass diese im Bereich von »practical matters« (EP I, 112) durchaus gut funktionieren. Wir werden in der nachfolgenden kritischen Diskussion von Peirce’ Position noch darauf eingehen, dass diese Annahme äußerst fragwürdig ist. Ist nicht vielmehr der Alltag eben jenes Milieu, in dem sich ständig praktische Konflikte und ethische Herausforderungen stellen, während die Wissenschaft als eine spezifische institutionalisierte Praxis sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass sie diese Pro­bleme beiseite zu stellen versucht ? Hier interessiert zunächst die systematische Pointe, die hinter dieser Bemer250  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

kung steckt. Sie formuliert eine Konsequenz der obigen Definition des Ziels der logischen Praxis : Unter der Voraussetzung, dass es in »practical matters« des Lebens nicht erforderlich ist, von Bekanntem auf Unbekanntes zu schließen, stehen die etablierten traditionellen Formen des Schließens auch nicht unter Anpassungsdruck. Und so sieht Peirce dann auch die Welt außerhalb der wissenschaftlichen Forschung.202 Für Peirce stellt das praktische Handeln nicht vor großen Herausforderungen, da es nur Routine erfordere. Eine Person »whose thought is directed wholly to practical subjects« (EP I, 112) habe keinen großen Bedarf an logischer Reflexion : »The pro­ blems which present themselves to such a mind are matters of routine which he [sic] has learned once for all to handle in learning his business« (EP I, 113). § 114  Wenn wir das bis hierhin entwickelte praktische Verständnis der Logik ernst nehmen, stellt sich nun ein Pro­blem, das Peirce sich selbst vorlegt. Der Übergang von einer Prämisse zu einem Schluss, wie Peirce ihn schildert, ist deutlich unterbestimmt. Alle möglichen Annahmen können, wie Peirce festhält, diese Praxis bestimmen : »almost any fact may serve as a guiding principle« (EP I, 112). Eine Gewohnheit, so lässt sich diese Überlegung paraphrasieren, ist in sich noch ohne normative Ausrichtung. Sie gibt zwar vor, wie wir in diesem gegebenen Fall zu urteilen neigen ; ihr fehlt jedoch die Einbindung in eine normative Praxis, die sicherstellen hilft, dass wir mit dieser Gewohnheit auch der richtigen Überzeugung folgen. Diese Feststellung wird vor allem dort relevant, wo diese fehlende Möglichkeit der Reflexion ein Pro­blem für das weitere Handeln, also für die Praxis, darstellt. Die habitualisierten Orientierungen können versagen, insbesondere dort, wo sich der Mensch in ein »unfamiliar field« (EP I, 113) begebe. Peirce vergleicht diese Situation mit der eines Schiffes, das auf offener See ist und doch niemanden an Wir berühren hier Peirce’ sogenannten »Sentimentalismus«. Peirce plädiert – gerade in Absetzung von James – in späteren Schriften explizit dafür, in Belangen von großer moralischer Bedeutung gerade nicht die genuin kritische Konzeption des Denkens anzusetzen, sondern dem Instinkt und dem Gefühl zu folgen. In der Wissenschaft dagegen sei es oberste Pflicht, alles in Frage stellen (zu können). Zu den Schwierigkeiten, die diese Spaltung der Praxis für Peirce’ Konzeption der Ratio­nali­tät systematisch bedeutet, vgl. Hookway 2002a. 202

Die Logik der Stabilisierung von Überzeugungen  |  251

Bord hat, der die »rules of navigation« (ebd.) beherrsche. Die Pointe dieser Metapher ist weniger das Fehlen solcher Kenntnisse als die Feststellung, dass die bekannten Orientierungshilfen auf Land hier nicht mehr greifen. In einer solchen nautischen Verlassenheit tritt die Situation ein, mit der Peirce die logische Schlussfolgerung überhaupt charakterisiert : Es ist nötig, von Bekanntem auf Unbekanntes zu schließen. Die logische Frage wird praktisch relevant und die Vielfalt der möglichen Schlussprinzipien zu einem drängenden Pro­blem. Wo die bestehenden Annahmen ihre handlungsorientierende Kraft eingebüßt haben, ist es – wie Peirce lakonisch schreibt – »useful«, wenn uns zumindest einige allgemeine Leitprinzipien zur Verfügung stehen, die verhindern, dass die eigenen Bemühungen in die Irre führen. Es wird, mit anderen Worten, relevant, wie wir zu Annahmen kommen und sie zu prüfen vermögen. Peirce gibt dieser Situation, in der die Führung durch habituelle Prinzipien versagt, eine transzendentale Wendung.203 Selbst wenn wir nicht wissen, wie wir bestimmte (»certain«) Gewohnheiten richtig bestimmen sollen, sind bereits in die Frage nach den richtigen leitenden Prinzipien Voraussetzungen investiert, die uns weiterhelfen können : It is implied, for instance, that there are such states of mind as doubt and belief – that a passage from one to the other is possible, the object of thought remaining the same, and that this transition is subject to some rules which all minds are alike bound by (EP I, 113).

Indem wir diese Frage stellen, so Peirce, nehmen wir bereits eine Aufteilung vor. Wir unterstellen erstens Fakten, über deren nähere logische Verbindung wir weitere Auskunft verlangen. Wir blicken somit auf jene offene See, auf die wir uns denkend und handelnd bewegen wollen. Zweitens gehen wir dabei aber weiterhin von Überzeugungen und Annahmen aus, die selbst nicht Gegenstand dieser »logical question« sind – wir verfügen über ein Repertoire von Vorannahmen und Überzeugungen, vor deren Hintergrund wir überhaupt den Orientierungsverlust erst als solchen bestimmen können. Diese Unterscheidung ist für Peirce unvermeidbar mit der Frage selbst gegeben : Die hier vorgestellte Lesart orientiert sich an Hookway 1992. Peirce’ transzendentalen Ansatz hat schon Apel 1975 hervorgehoben. 203

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This division is between those [facts] which are necessarily taken for granted in asking whether a certain conclusion follows from certain premises, and those which are not implied in that question (EP I, 113).

Was Peirce durch diese transzendentale Wendung gewinnt, ist eine allgemeine Form, die bereits in jeder logischen Frage – in der Frage nach der Gültigkeit eines Schlusses – impliziert ist. Die Form, die eine solche Frage für ihn annimmt, nennt Peirce dann auch inquiry (EP I, 114), im Deutschen oft als »Forschung« oder passender als »Untersuchung« übersetzt. Die inquiry ist die vorauszusetzende Form jeder Praxis, in der wir überhaupt mit der Frage nach der Gültigkeit unserer Schlüsse und Schlussprinzipien konfrontiert sind. Diese Frage ist für Peirce aber nichts anderes als die Explikation der Tatsache, dass einige Überzeugungen ihre handlungsleitende Funktion verloren haben – mithin also jener Verlust der Handlungs­ fähigkeit, der durch Zweifel, Überraschungen oder andere negative Erfahrungen ausgelöst wird. Die inquiry beschreibt also keine konkrete Praxis, sondern die allgemeine Form einer Untersuchung, die in Reaktion auf erlebten Zweifel wieder Handlungsfähigkeit sucht. Sie ist die Antwort auf die Erfahrung, dass die eigenen Überzeugungen das Handeln nicht mehr zu leiten vermögen. Diese Erfahrung muss reell sein. Erforderlich ist ein »real and living doubt« (EP I, 115), der nicht einfach dadurch geweckt werden kann, dass eine Aussage – wie Peirce spöttisch formuliert – »into the interrogative form« (ebd.) übersetzt werde. Dieser Zweifel ist praktischer Natur ; Peirce beschreibt ihn oft als einen Verlust an Handlungsfähigkeit : »Most frequently, doubts arise from some indecision, however momentary, in our action« (EP I, 128).204 Ein solcher Zweifel kann, wie Peirce anmerkt, unterschiedlich lang anhalten ; seine Auflösung erfolgt »in a fraction of a second, in an hour, or after long years« (ebd.). Doch er ist erst aufgelöst, sobald wieder gezielt gehandelt werden kann. Seine Lösung ist die praktische, in eine Handlung übergehende Beantwortung der logischen Frage. Da für den Semiotiker Peirce auch der Umgang mit Zeichen Handeln ist, erstreckt sich diese Bestimmung ganz natürlich auch auf Tätigkeiten, die oft nicht als Beispiele für »Handeln« angeführt werden : Zweifel über Formulierungen ; Unsicherheiten bei einer Rechnung ; Unklarheit in der Interpretation eines Diagramms. 204

Die Logik der Stabilisierung von Überzeugungen  |  253

§ 115  Fahren wir nun in der Darstellung von Peirce’ Position fort. Immer noch steht die logische Frage im Raum, wie wir denken sollten, die Frage, die Peirce schließlich zu den experimentellen Naturwissenschaften führt. Auf dem Weg dorthin sind wir nun bereits einige Schritte gegangen. Wir haben mit Peirce ein praktisches Verständnis der Logik gewonnen und die allgemeine Form der inquiry bestimmt. Mit diesen Überlegungen versetzt Peirce, wie sich nun sehen lässt, die Frage nach den Normen des Denkens in einen praktischen Rahmen. Die genuin logische Frage, was die allgemeinen Normen des Denkens sind, wird zu der methodischen Frage, welche konkrete Form die Praxis der inquiry annehmen sollte. Peirce geht in seinem Aufsatz »The Fixation of Belief« nun vier unterschiedliche Strategien durch, die Überzeugung jeweils zu »fixieren« (EP I, 115 – 123). Er lässt diese Methoden in einer fast schon dialektisch anmutenden Stufenleiter auf einander folgen, so dass die nachfolgenden Methoden immer auf die Defizite der Vorgängerin reagieren und diese Entwicklung schließlich in die »scientific method« – in die moderne Praxis der Naturwissenschaften – mündet. Ich möchte auf diese Stufenleiter kurz eingehen. Sie zeigt nicht nur, wie konsequent Peirce die reflexive Frage nach der Gültigkeit von Denkregeln als eine praktische Frage behandelt, die ganz unterschiedliche Antworten erhalten kann. Sie zeigt auch, dass für ihn der Grund für den Übergang in eine neue Methode vor allem in der Tatsache zu suchen ist, dass Menschen soziale Wesen sind. Die methodisch abgesicherte Selbstgewissheit wird durch die Konfrontation mit abweichenden Meinungen immer wieder unterlaufen und zwingt so zu anderen Verfahren. Peirce erweist sich hier erneut als ein moderner Denker, für den die Pluralität von Meinungen und Perspektiven der Ausgangspunkt ist. Die erste Methode zur Stabilisierung der Überzeugung, die Peirce nennt, ist die »method of tenacity«. Sie besteht darin, abweichende und irritierende Erfahrungen schlicht zu übergehen ; sie ist der gelebte individuelle Dogmatismus. Dieser kann freilich nur so weit reichen, wie das eigene Handeln und die eigenen Überzeugungen unwidersprochen bleiben. Eine solche Haltung lässt sich, wie Peirce dann argumentiert, nur mit erheblichem Kraftaufwand gegen den Druck abweichender Auffassungen aufhalten, und es wird 254  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

nicht gelingen, diese vollständig abzuweisen. Die Methode verfehlt also ihr Ziel, den Zweifel fernzuhalten. Die zweite Methode, die »method of authority«, löst das Pro­blem der ersten Methode, indem sie die übergreifende Übereinstimmung autoritativ erzwingt. Es wird eine allgemeine Institution etabliert, die den Dogmatismus auf eine ganze Gemeinschaft, etwa staatlich oder religiös, durch Erziehung und Sozialisation ausdehnt. Gewissheit wird durch Konformität erzeugt. Doch diese Lösung ist nur so gut, wie es ihr gelingt, abweichende Meinungen zu unterdrücken – ein Unterfangen, das Peirce ebenso für aussichtslos hält. Die dritte Methode, »method of a priori«, reagiert auf die neu geweckten Zweifel, indem sie den Schluss zieht, dass nur solche Ansichten zu vertreten sind, denen nach Maßstäben der Vernunft zugestimmt werden kann. Diese Methode distanziert sich also von der bloßen dogmatischen Behauptung, sei sie individuell oder institutionell. Sie sucht nach Begründungen und findet diese überall dort, wo eine Meinung »agreeable to reason« (EP I, 119) ist. Das Pro­blem dieser Methode ist jedoch, dass sie keinen Maßstab kennt, an dem sie wiederum diesen Maßstab kontrollieren kann. Es bleibt offen, was die Vernunft ist, die hier die Autorität annimmt. Daher gleicht diese Form der Untersuchung, so Peirce polemisch, letztlich einem bloß subjektiven Geschmacksurteil : »It makes of inquiry something similar to the development of taste« (ebd.). § 116  Erst der vierten Methode, der »method of science«, gelingt es, der sozialen Pro­blematik zu entkommen. Denn sie münzt die individuelle Vielfalt der Meinungen, die in den bisherigen Methoden als ein Nachteil auftreten musste, in einen Vorteil um. Die soziale Vielfalt der Meinungen wird umgedeutet in das Pro­blem, dass die inquiry noch nicht den richtigen Prüfstein gefunden hat. Die Auflösung des Zweifels muss, so die Konsequenz, in der Beziehung zu einer Wirklichkeit gesucht werden, deren Merkmale völlig unabhängig von den jeweiligen menschlichen Meinungen und Interpretationen sind. Erst dieser Gedanke kann für Peirce das Pro­blem der abweichenden Meinungen befriedigend auflösen : To satisfy our doubts, therefore, it is necessary that a method should be found by which our beliefs may be caused by nothing human, but by Die Logik der Stabilisierung von Überzeugungen  |  255

some external permanency – by something upon which our thinking has no effect (EP I, 120).

Eine solche Methode findet Peirce in der Wissenschaft, »the most wonderful triumphs in the way of settling opinion« (EP I, 120). Ihr differenzierendes Merkmal ist, wie sich nun zeigt, nicht primär der Erfahrungsbezug – sondern die Art und Weise, wie der Erfahrungsbezug von der Wissenschaft praktisch interpretiert wird. Erfahrungen haben auch die Vertreter der anderen Methode. Doch die Wissenschaft, wie Peirce sie versteht, unterstellt die Bildung der Meinung, die inquiry, der Kontrolle der Erfahrung. Diese Erfahrung wird dabei objektiv aufgefasst, das heißt als wissenschaftlich relevant gelten gerade jene Erfahrungen, die sich unabhängig von den individuellen Standpunkten und Meinungen für jedermann reproduzieren lassen. Obgleich somit für Peirce alle individuellen Erfahrungen – die »sensations« oder »perceptions« – immer notwendig begrifflich und praktisch vermittelt sind, gelingt der Praxis der wissenschaftlichen Methode die Anerkennung einer Abhängigkeit des Denkens von der Erfahrung in ihrer objektiven Dimension. Die vierte Methode der inquiry setzt, um dem Pro­blem der sozialen Vielfalt zu entkommen, auf eine Bestimmung der Überzeugungen mit Hilfe von Einflüssen, die alle Menschen reproduzieren können : »It must be something which affects, or might affect, every man« (EP I, 120). Auf diese Weise kann die Stabilisierung der Überzeugung sich von den individuellen Meinungen befreien. Und diese Idee einer von allen individuellen Ansichten unabhängigen Wirklichkeit ist dann auch die »fundamental hypothesis«, die in Peirce’ Augen die Wissenschaft gegenüber den anderen Methoden der Überzeugungsstabilisierung hervorhebt : It’s fundamental hypothesis … is this : There are real things, whose characters are entirely independent of our opinions about them ; these realities affect our senses according to regular laws, and … by taking advantage of the laws of perception, we can ascertain by reasoning how things really are, and any man, if he have sufficient experience and reason enough about it, will be led to the one true conclusion (EP I, 120).

Peirce hebt in seiner Diskussion dieser »scientific method« vor allem den Vorteil hervor, dass sie als einziges Verfahren eine stabile 256  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

und belastbare Unterscheidung zwischen »a right and a wrong way« (EP I, 121) biete. Alle anderen Methoden haben das Pro­blem, dass sie kein äußeres Kriterium kennen, das sie ausrichtet. Die Autorität des Denkens wird entweder dogmatisch behauptet, oder sie wird in eine vorgeblich naturgegebene Vernunft verlagert. Damit haben diese Methoden für Peirce immer die Schwierigkeit, dass die Formen des Denkens gleichsam versteinern und nicht mehr auf Erfahrungen reagieren. Aber eben die Irritierbarkeit in den Formen des Denkens selbst zeichnet dagegen die Wissenschaft aus, so Peirce : »The test of whether I am truly following the method … itself involves the application of the method« (EP I, 121). Der Vorteil der wissenschaftlichen Methode ist für Peirce’ Pragmatismus also ihre Selbstbezüglichkeit, ihre reflexive Offenheit für ihr eigenes Vor­ gehen.

Zwei Lesarten der inquiry § 117  Es ist deutlich geworden, dass Peirce’ Illustrations of the Lo­ gic of Science von einer grundlegenden Ambivalenz geprägt sind. Die sie strukturierenden Erklärungsziele weisen in gegensätzliche Richtungen. So entwickelt Peirce eine allgemeine Theo­rie der Ratio­ nali­tät, nach der die inquiry darum ringt (»struggle«), wieder stabile Überzeugungen zu gewinnen ; zugleich verteidigt er ein fallibilistisches Bild der Wissenschaft, das keine stabilen Überzeugungen kennt, sondern Wahrheit als eine regulative, zu Lebenszeiten nicht erreichbare »ultimate opinion« einer scientific community begreift. Die Frage ist, ob und wie diese beiden gegenstrebigen Erläuterungen vereint werden können. Diese Frage kann auch so formuliert werden, dass unklar bleibt, welchen Status die Wissenschaften in diesen Erläuterungen einnehmen. Sind die Wissenschaften das Ziel, auf das jede Entwicklung der Ratio­nali­tät zwangsweise hinausläuft und das die anderen Methoden zur Überzeugungsstabilisierung notwendig deklassiert, oder sind sie nur eine Form der inquiry unter weiteren ? Hier zeigt sich ein Konflikt in Peirce’ Überlegungen, der zu zwei letztlich inkompatiblen Lesarten führt. Ich möchte dies, mit Roberto Frega (2012), die Frage nach der Weite des pragmatistischen Verständnisses der Zwei Lesarten der inquiry  |  257

Ratio­nali­tät nennen. Peirce’ Text stellt Material für beide Deutungen zur Verfügung. Er argumentiert für ein enges Verständnis der inquiry, dem zufolge die recht verstandene Untersuchung zwangsläufig eine wissenschaftliche Form annehmen muss ; zugleich aber fußt er diese Erläuterung auf ein Bild des Denkens, das gerade die große Vielfalt möglicher »Methoden« der Stabilisierungsüberzeugung hervorhebt. Welche Position ist die richtige ? Ich werde im Folgenden argumentieren, dass nur die weite Auffassung der Ratio­nali­tät überzeugend vertreten werden kann. Dafür zeige ich kritisch die Pro­bleme jener Lesart auf, die Peirce’ Pragmatismus als eine enge, das heißt : auf die Wissenschaft als Modell zielende Erläuterung der Ratio­nali­ tät begreift.205 Diese Lesart, hier exemplarisch von Cheryl Misak (2004) vertreten, affirmiert und pointiert die szientistischen Momente in Peirce’ Denken. Sie verteidigt die Idee, wissenschaftliche Forschung sei jene maßgebliche Praxis der Vernunft, an der sich alle wirklichkeitsbezogenen Formen der Reflexion messen lassen müssen. Sie identifiziert Vernunft und Wissenschaft. Richtig zu denken, heißt demnach, wissenschaftlich zu denken ; oder die Wissenschaft ist die explizite allgemeine Vernunft. Eine solche Lesart führt jedoch – so das Gegenargument – jene Entkopplung von Denken und Welt wieder ein, gegen die Peirce’ Pragmatismus sich zu richten beansprucht. Sie lässt die Dualismen wiederkehren, die Peirce in anderen Passagen seiner Erörterung der inquiry so effektiv unterläuft : Die Trennung des theoretischen vom praktischen Weltverhältnis, des wissenschaftlichen Urteilens von der alltäglichen Erfahrung, der Abhängigkeit der Vernunft von ihrer reflexiven Freiheit. Der szientistischen Lesart gelingt es nicht, eine postformalistische Theo­rie des vernünftigen Weltverhältnisses zu entwickeln. Die Alternative zur szientistischen Verkürzung des Pragmatismus ist seine rationalitätstheoretische Interpretation. Nach dieser Lesart ebnet Peirce in »The Fixation of Belief« den Weg zu einer Anerkennung der Pluralität von Formen des Denkens. Dass die enge Lesart auch Peirce nicht gerecht wird, legen auch die Studien von Christopher Hookway (versammelt in Hookway 2002b) nahe. Sie zeichnen ein überaus nuanciertes Bild von Peirce’ schwankendem Verhältnis zu den Naturwissenschaften und ihrer methodischen Funktion. 205

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Der Unterschied liegt in der Beschreibung der Normativität des Denkens. Die szientistische Deutung findet in diesem Text eine Argumentation für die Überlegenheit einer rationalen Praxis, die summarisch als »wissenschaftliche« Praxis angesprochen wird, und überträgt diesen Maßstab auf alle anderen Bereiche des menschlichen Lebens. Pro­ blemlösungen in diesen anderen Bereichen werden dann entweder als »nicht-rational« aufgefasst, weil sie das szientistische Maß nicht erfüllen können – das ist, nach verbreitetem Verständnis, Peirce’ eigene Auffassung, sein »sentimentalism«. Oder es wird argumentiert, dass Pro­bleme in diesen Bereichen derselben rationalen Form der inquiry folgen muss, die wir in den Wissenschaften finden – das ist Misaks Position. Die rationalitätstheoretische Deutung sieht in dieser Annahme eine pro­blematische Verengung. Und sie findet gerade bei Peirce einen Ansatz, der dazu verhilft, die Vielzahl und Verschiedenheit der menschlichen intelligenten Praxis zu erfassen. Ich halte dies für den konsequenteren Ansatz, da er die Normativität des Denkens in eben der Offenheit verteidigt, mit der sie von Peirce eingeführt wird : Das Denken ist normativ verbindlich, weil es sich selbst bestimmen muss angesichts einer unbestimmten Zukunft. Eine solche rationalitätstheoretische (»weite«) Deutung der inquiry ist die Grundlage von Deweys Pragmatismus ; ihm wenden wir uns im Anschluss zu. Doch der hier vertretene exegetische Anspruch ist, dass sich diese Per­ spektive durchaus mit zentralen Thesen von Peirce deckt. § 118  Im Folgenden gilt es also zu zeigen, dass die szientistische Perspektive eine pro­blematische Verkürzung des postformalistischen Grundgedankens darstellt und den Pragmatismus in die falsche Richtung führt. Ich stütze mich vor allem auf zwei Einwände : Zum einen zeige ich, wie Peirce’ Szientismus wieder die Dualismen vertieft, die ein Postformalismus überwinden muss und zu deren Überwindung Peirce selbst gute Gedanken an die Hand gibt. Der zweite Einwand ist jedoch systematisch bedeutender. Ich möchte zeigen, dass gerade das Verständnis der Erfahrung diese beiden Lesarten – die »weite« und die »enge« – auseinander treten lässt. Damit wiederholt sich in dieser innerpragmatistischen Debatte das Pro­blem, das oben in der analytischen Debatte rekonstruiert wurde. Der Begriff der Erfahrung soll zwischen umfassender Kritik und Zwei Lesarten der inquiry  |  259

bindender Objektivität vermitteln, und für die Theo­rie entscheidend ist, wie diese Doppelrolle interpretiert wird. Freilich nimmt die Diskussion der Erfahrung im Pragmatismus nicht die Form einer Diskussion des Gehaltes der Erfahrung und seiner begrifflichen oder nicht-begrifflichen Natur an. Die begriffliche Vermittlung aller Erfahrungsgehalte ist für Peirce selbstverständlich und steht nicht zur Disposition.206 Die schwierige Doppelrolle der Erfahrung manifestiert sich im Pragmatismus vielmehr in der Frage, wie die Negativität der Erfahrung zu verstehen ist. Diese innerpragmatistische Kontroverse führt die hier verfolgte systematische Frage nach der angemessenen Konzeption der Erfahrung einen Schritt weiter. Es zeigt sich, dass es nicht ausreicht, in kritischer Reaktion auf die deklarative Verkürzung des Erfahrungsbegriffs das epistemische Weltverhältnis auch um die negative Dimension der Erfahrung zu erweitern. Peirce führt die negative, irritierende Funktion der Erfahrung an prominenter Stelle ein ; sie gibt den Anstoß zur inquiry und reguliert ihren Verlauf. Er bleibt aber unentschieden hinsichtlich der Frage, wie diese Negativität zu verstehen ist. Sie wird psychologisch beschrieben, in Ausdrücken des Zweifels und der Gewissheit – aber auch epistemologisch, als Begegnung mit einer gleichsam unbestechlichen Wirklichkeit. Das Pro­ blem der szientistischen Deutung der inquiry ist in systematischer Perspektive, dass sie die sich in der Erfahrung meldende Negativität einseitig epistemologisch interpretiert, als die Einwirkung einer objektiven Wirklichkeit, die alle konkreten Perspektiven transzendiert. Diese komplett antipsychologische Deutung der Negativität zertrennt, wie ich zeigen möchte, wieder die Vernunft von der Welt, auf die sie reflektiert, da für sie letztlich immer schon feststeht, warum Erfahrungen irritieren und wie sich diese Irritation auflösen lässt. Sie gibt, wie wir es auch bei Carnap und McDowell beobachten konnten, der Vernunft eine erfahrungsunabhängige Form, indem sie sich darauf festlegt, was Erfahrung ist (und was sie nicht ist), und was sie daher von der Welt preisgeben kann. Mit anderen Worten : Sie begreift die Negativität letztlich doch nur als Hürde zur Erkenntnis und nicht als ihr konstitutives Moment. Vgl. zu den Parallelen von Peirces Kritik des Gegebenen zu der postanalytischen Diskussion Bernstein 2010, dort insbesondere den »Prologue« sowie die Kapitel 1 und 6. 206

260  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

Ein Punkt muss noch vorausgeschickt werden, bevor wir diese Behauptungen präzisieren. Wenn hier zwei konfligierende Lesarten bei Peirce festgestellt werden, dann fällt diese Diagnose nicht unmittelbar zusammen mit der einleitenden Feststellung, dass Peirce’ Ausführungen von zwei widerstrebenden Motiven geprägt sind. Peirce betont einerseits die fundamentale Passivität und die realistische Einbettung der inquiry, verdichtet in der »belief-doubt«Theo­rie, und verteidigt andererseits die kritische Gestaltungskraft des reflexiven Denkens. Diese gegenstrebigen Motive stehen quer zu dem Konflikt zwischen der »engen« und der »weiten« Lesart der inquiry, um die es hier geht. Beide Lesarten, die szientistische wie die rationalitätstheoretische, akzeptieren die Spannung zwischen der aktiven Ratio­nali­tät und ihrer passiven Bindung, sie erkennen ihre Produktivität an. Sowohl die rationalitätstheoretische Erläuterung der Normativität des Denkens als auch die Beschreibung der Wissenschaften als eine empirische, wirklichkeitsorientierte Praxis stehen im Spannungsfeld zwischen dem passiven Zwang der Erfahrung und der aktiven Gestaltungskraft des intelligenten Handelns. Das hier entwickelte Argument gewinnt erst aus dieser verbindenden Gemeinsamkeit seine eigentliche Wirkung : Der Verdacht ist, dass die szientistische Lesart die passive Dimension letztlich zugunsten einer einseitig aktiven Idee autonomer Selbstkontrolle aushebelt und damit die Spannung der pragmatistischen Ratio­nali­ tät, das Leitmotiv einer konstitutiv gebundenen Freiheit des Denkens, wieder preisgibt. Die These ist also, dass Peirce, indem er die rationale inquiry mit der Wissenschaft identifiziert, die Autonomie wieder formalistisch denkt und dieser szientistische Impuls seine eigentliche Innovation, die postformalistische Verschränkung von passiver Bindung und aktiver Reflexion, verdunkelt. § 119  Cheryl Misak (2004) verteidigt Peirce explizit und teils mit Schärfe als einen pragmatistischen Verteidiger einer erfahrungsorien­ tierten fallibilistischen »scientific method«. Sie liest ihn also szientistisch. Sie begreift seine Philosophie als die Erläuterung unseres impliziten Vorverständnisses dessen, was es heißt, sich in seinen Überlegungen auf Wahrheit zu beziehen (Misak 2004, 35–45), und verteidigt die Ansicht, dass die so gefasste wissenschaftliche Methode den Kern aller Ratio­nali­tät überhaupt zum Ausdruck bringe. Zwei Lesarten der inquiry  |  261

An Misaks Rekonstruktion dieser Praxis sind zwei Aspekte für unsere Diskussion von besonderer Relevanz. Zum einen begründet sie den Vorrang der wissenschaftlichen Methode mit dem Begriff der Erfahrung. Es ist für sie der objektive Erfahrungsbezug, der die wissenschaftliche Methode nicht nur die beste Wahl sein lässt, sondern uns letztlich auch faktisch zur Übernahme dieser rationalen Praxis zwingt. Zweitens versucht sie, die bei Peirce deutlich artikulierte Trennung von wissenschaftlicher Ratio­nali­tät und der außerwissenschaftlichen Logik des »Instinkts« aufzuheben und forciert damit die uneingeschränkte Allgemeingültigkeit der wissenschaftlich verstandenen inquiry. Misak systematisiert also Peirce’ Einsichten und reiht sie in die analytische und postanalytische Debatte des 20. Jahrhunderts ein. Die besondere Qualität der wissenschaftlichen Ratio­ nali­ tät, wie sie Peirce beschreibt, besteht nach dieser Interpretation darin, dass sie sich dem Widerstand der Erfahrung aussetzt, anstatt sie der Willkür des eigenen Befindens zu unterstellen : »the scientific method is the method that acknowledges the force of experience« (Misak 2004, 80). Misak führt drei Gründe für die Überlegenheit der wissenschaftlichen Methode an, die sie aus Peirce’ Texten entnimmt, und alle verweisen auf die Einbeziehung der Erfahrung in die inquiry. Erstens sei Erfahrung, so Misak, öffentlich, und zwar »in the sense that it affects, or might affect, anyone in roughly the same way« (Misak 2004, 80). Es wird also angenommen, der Ursprung und die Gesetze der Erfahrung lägen in einer Wirklichkeit, die von den individuellen Überzeugungen unabhängig ist. Als gemeinsamer Bezugspunkt kann die Erfahrung daher Meinungsunterschiede zwischen den Forschern, auf lange Sicht gesehen, nivellieren und lässt einen Konsens vorstellbar (wenn auch nicht zwingend real) werden. Die sozialen Differenzen, die in den anderen Methoden der Überzeugungsstabilisierung immer wieder aufbrechen, sind damit überwindbar.207 Misak hebt hervor, dass der avisierte Konsens keine bloße Übereinstimmung in den Meinungen ist, sondern auch eine Übereinstimmung in den Standards markiert, an denen die möglichen Meinungen und ihre Diskussion gemessen werden. Die community of inquirers passt demnach also nicht nur ihr Meinungsbild der Wirklichkeit an, sondern auch die epistemischen Tugen207

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Zweitens diene die Konfrontation der Annahmen und Hypothesen mit der Erfahrung am effektivsten dem Ziel der Beseitigung des Zweifels, den Peirce ja an den Anfang jeder inquiry stellt. Ich möchte dies als das Argument der ursächlichen Klärung des Zweifels bezeichnen : Die Konfrontation unserer Überzeugungen mit der Erfahrung ist sinnvoll, weil sie die inquiry wieder dem Medium aussetzt, das ursächlich für den Zweifel verantwortlich ist. Was zur Untersuchung antreibt, sind widerspenstige Erfahrungen ; daher versprechen Hypothesen, die an der Erfahrung gemessen werden, am ehesten, dass sich dieser Widerstand nicht wiederholen wird. Sie gehen zur Quelle des Zweifels zurück : So if we arrive at our beliefs by testing them for consistency with experience, we will tend to arrive at beliefs for which there will be no doubtinducing surprises. If we acquired beliefs by a method which disregarded experience, those beliefs would be more likely to conflict with experience and hence would be unsettled by doubt (Misak 2004, 81 f.).

Das eigentliche Argument Misaks besteht in der Kombination der beiden referierten Behauptungen. Die Grundstruktur des zweiten Arguments, der ursächlichen Klärung, lässt zunächst offen, wie die irritierende Erfahrung zu verstehen ist. Es besagt nur, dass die Überzeugungen, da sie durch Erfahrung irritiert werden können, auch nur durch Erfahrungen wieder effektiv stabilisiert werden können. Doch diese Feststellung ist noch nicht darauf festgelegt, was als »Erfahrung« zählt. So könnte auch die Erfahrung, dass jemand anders eine ganz andere Meinung vertritt, die eigenen Überzeugungen erschüttern, wie dann umgekehrt die Erfahrung von Konsens die so geweckten Zweifel wieder zu beruhigen vermag. Misak gibt dem Prinzip der ursächlichen Klärung jedoch eine rein epistemologische Wendung, indem sie die Ursache der Irritation eben mit jener denkunabhängigen Wirklichkeit identifiziert, auf die auch alle inquiry objektiv ziele. Sie führt die negative Erfahrung auf ein »external origin« (Misak 2004, 81) zurück, mithin auf jene öffentliche, von aller Subjektivität befreite Wirklichkeit, die hier als erster Punkt genannt wurde. So wird die Hypothese einer den, mit denen sie ihr Denken reflexiv reguliert : »And it is having these virtues – being the very best they could be – that makes settled hypotheses worthy of our aim« (Misak 2004, 82). Zwei Lesarten der inquiry  |  263

öffentlichen, von allem Subjektiven befreiten Wirklichkeit auf die Struktur der inquiry überhaupt übertragen. Mit diesem Schritt legt sich Misak darauf fest, was Erfahrungen sind und was von ihnen zu erwarten ist. Die rational treibenden Irritationen der Erfahrung sollen nichts anderes als die äußerlichen Einwirkungen sein, die, für alle nachvollziehbar, unsere habituellen Überzeugungen stören, und sie können daher – so das Argument – nur durch sie, und damit durch die »scientific method«, wieder stabilisiert werden. Dass hier eine Rückprojektion der »scientific method« auf die anderen Formen der inquiry stattfindet, zeigt auch Misaks dritter Grund für sie : »Peirce’s argument for the use of the scientific method relies entirely on the fact that experience is compulsive« (Misak 2004, 84). Hier greift Misak das Motiv der Passivität auf, das Peirce’ Konzeption der Ratio­nali­tät als »belief-doubt«-Theo­ rie durchzieht. Die Erfahrung lässt sich nicht durch bloße Glaubenssätze beruhigen, Zweifel und Überraschungen stellen sich – so Misak – trotzdem ein. Daher wird sich das Denken auf lange Sicht nur mit der effektivsten Methode beruhigen lassen, die ihm zur Verfügung steht, und das ist die wissenschaftliche Integration der Erfahrung in die Reflexion – die Misak daher auch kurzerhand für alternativlos erklärt : choosing the scientific method is more than just a good strategy ; we cannot help but generally adopt it. Since the scientific method has experience at its core, the element of compulsion involved in experience becomes transferred to a compulsion to adopt the scientific method. … There is no room for a normative theory of rationality to pronounce upon whether we ought not accept the method (Misak 2004, 85).

§ 120  Die Schwierigkeiten mit Misaks epistemologischer Erläuterung der inquiry und der Negativität der Erfahrung werden besonders in dem Bereich des Denkens greifbar, wo der realistische Kon­trast einer »external permancy« am deutlichsten fehlt : bei eben jenen alltäglichen und moralischen »matters of vital importance«, für die Pierce das theoretische Verfahren für unbrauchbar hält. Misak weist diese scharfe Trennung von Theo­rie und Lebenspraxis zurück ; sie habe mehr psychologische denn sachliche Gründe. Peirce’ Ausführungen seien, auch wegen eines missverständlichen Vokabulars, zu Unrecht dualistisch gelesen worden. Peirce’ strikter Ausschluss 264  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

der »science« bei den »practical matters« sei eine polemische Reaktion auf James, der den Pragmatismus gerade in diesen Bereichen als Methode verteidigen wolle und damit in Peirce’ Augen den Pragmatismus verwässere.208 Misak verteidigt also explizit die Brauchbarkeit der inquiry auch in moralischen Belangen. Wissenschaft wie Moral suchten wahre Aussagen, worunter eben jene Überzeugungen zu verstehen seien, die sich der Konfrontation von empirisch informierten Einsprüchen und Einwänden gewachsen zeigen und damit dem Standard der »empirical adequacy« (Misak 2004, 82) folgen. Dass Misak die inquiry auch für moralische Deliberation verbindlich hält, heißt auch für sie freilich nicht, die Erwartungen, die wir an das wissenschaftliche Verfahren stellen, auf die moralische Deliberation einfach zu übertragen. Moralische Urteile weisen, so Misak, eine wesentlich größere Ungewissheit darüber auf, ob die verfolgten Fragen je eine abschließende, bejahende oder verneinde Antwort finden (was Misak die »Bivalenz«209 der untersuchten Hypothesen nennt). Und im Vergleich zu den empirischen Wissenschaften gehe es bei moralischen Konflikten nicht um die Erkenntnis der physischen Wirklichkeit, sondern um die Suche nach Gemeinsamkeit unter Berücksichtigung der subjektiven Erfahrungen aller Beteiligten. Moralisches Urteilen sei »half subjective, half objective« (Misak 2004, 192), da ihre Grundlage oft in Gefühlen liege, die wir nicht weiter begründen könnten. Dies ändere aber nichts daran, so Misak weiter, dass wir uns in einem »process of justification« (ebd.) engagieren, in dem wir uns dazu verpflichten, für unsere Überzeugungen Argumente anzuführen und uns wiederum selbst argumentativ irritieren zu lassen. Wenn unsere Überzeugungen mehr als bloße Willkür sein sollen, unterstehen sie der ständigen Revision durch alle möglichen Einwände und Erfahrungen, einschließlich »the experiences of those with a certain skin colour, »Peirce, struggling with the shame of having to be rescued by James and having been shut out of an academic job by Harvard, pours scorn on the Harvard philosophers for their lack of training in logic and goes on and on about how he will restrict himself to ›vital matters‹. … These remarks simply cannot be taken seriously« (Misak 2004, 183). 209 »The principle of bivalence is a semantic principle : a hypothesis is either true or false, but not both« (Misak 2004, 138). 208

Zwei Lesarten der inquiry  |  265

gender, or religion« (Misak 2004, 190). Wir haben also eine gemeinsame, das moralische und wissenschaftliche Urteilen übergreifende Form der inquiry vorliegen : We ought to expect bivalence to fail more often in ethics than in physical science, but ethical deliberation is nonetheless such that it aims at the truth. We can see that the reality to which moral judgements fit is not physical reality, yet ethical deliberation is still governed by the surprise of experience (Misak 2004, 193).

§ 121  Es muss bezweifelt werden, dass Misak eine angemessene Erläuterung der praktischen Ratio­nali­tät gibt. Eine naheliegende Gegenfrage ist, ob diese Konzeption überhaupt der Komplexität der moralischen Praxis gerecht wird. Kann moralisches Urteilen auf die kognitive Operation der wahrheitsfähigen Behauptung reduziert werden ? Stanley Cavell (2004) weist darauf hin, dass ein Großteil der philosophischen Klassiker der Moralphilosophie, von Platon über Kant bis hin zu Mill, immer wieder das Pro­blem diskutierten, was es heißt, sich selbst treu zu bleiben. Foucault hat den Ausdruck der »Sorge um sich« geprägt, der gut anzeigt, worum es auch Cavell geht : Die moralische Pro­blematik dreht sich nicht nur um richtige oder falsche Urteile, sondern auch darum, was für eine Person wir sein wollen (und können).210 Diese perfektionistische Pro­blematik einer Veränderung des Selbst und des Selbstverhältnisses entzieht sich der moralischen Deliberation, wie Misak sie beschreibt. Ihr Kognitivismus lässt also zumindest einen wichtigen Teil der moralischen Praxis aus. Noch vor der Frage nach der sachlichen Angemessenheit einer Beschreibung, die immerhin von sich behauptet, eine Erläuterung der Praxis zu sein und keine analytische Definition zu geben, steht jedoch ein systematisches Pro­blem. Die Ausweitung der wissenschaftlichen Praxis auf die Moral schleift unter der Hand Merkmale, auf die sich Misaks Verteidigung der »scientific method« stützt. Dies betrifft vor allem den Erfahrungsbegriff. Zwei Gründe sprechen, wie oben referiert, in Misaks Augen für die Übernahme dieser Zur Tradition des Perfektionismus vgl. Henning 2015. Dewey steht in dieser Tradition, wenn er schreibt : »The real moral question is what kind of a self is being furthered and formed. And this question arises with respect to both one’s own self and the selves of others« (LW 7, 295). 210

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Methode : die Öffentlichkeit der Erfahrung und das Prinzip der ursächlichen Klärung. In beiden Argumenten wird davon ausgegangen, dass Erfahrungen von den Individuen unabhängig sind und auf gleiche – oder objektiv rekonstruierbar verschiedene – Weise die Individuen affizieren. Diese Annahme und der sie stützende externalisierende Erfahrungsbegriff kann in der moralischen Deliberation jedoch nicht mehr übernommen werden. Misak selbst schreibt, dass die ethische inquiry von einer wesentlich größeren Uneinigkeit getragen ist als die empirische Forschung. Sie sieht die empirische Orientierung der moralischen inquiry unter anderem in dem Zwang, die Erfahrungen von Menschen in Minderheitenposition zu berücksichtigen. Damit aber setzt sie einen subjektiven oder zumindest partiell subjektiven Erfahrungsbegriff an. Das Prinzip der ursächlichen Klärung müsste für diese Erweiterung des Erfahrungsbegriffs angepasst werden : Die Erfahrung von Repression oder Ausgrenzung, um ein Beispiel zu nehmen, ist per definitionem nicht symmetrisch ; was eine Seite als Ausgrenzung erfährt, ist für die andere Seite völlig legitim oder wird überhaupt nicht als pro­blematischer Akt wahrgenommen. Hier kann also nicht die Rede davon sein, dass es einen gemeinsamen Ursprung der Irri­ tation in einer kollektiven Erfahrung gibt, die von allen gleichermaßen nachvollzogen werden kann und damit langfristig Konsens erzwingt. Der Konflikt besteht hier gerade in der Ungleichheit der Erfahrung der Irritation. Damit entfällt der von Misak behauptete objektive Zwang, durch den die Erfahrung zum Konsens führen muss. § 122  Tatsächlich hält Misak sich bei der Frage nach dem mög­ lichen Konsens in ethischen Belangen zurück und führt aus, dass ein solcher Konsens keineswegs immer möglich ist. Sollte sich he­ rausstellen, dass das regulative Ideal der Wahrheit hier nicht führen kann, so bedeutete dies, dass es keine konsensstiftende Wahrheit gibt : »then there is no truth of the matter at stake« (Misak 2004, 185). Damit jedoch unterläuft Misak das zweite treibende Moment, das der rationalen inquiry neben dem objektiven Druck der Erfahrung ihre spezifische Form verleiht : die Bindung an das Ziel, die Wahrheit zu finden, unabhängig davon, was wir gegenwärtig glauben oder annehmen müssen. Wenn nichts auf dem Spiel steht, waZwei Lesarten der inquiry  |  267

rum sollten sich die unterschiedlichen Parteien überhaupt in eine rationale Auseinandersetzung begeben ? Hier wird ein Pro­blem deutlich, das die szientistische Deutung allgemein durchzieht. Die asymmetrische Bevorzugung der Wissenschaft führt eine korrespondierende Asymmetrie der Zeitperspektiven ein. Die von Peirce eingeführte Spannung zwischen der momentanen, gleichsam lokalen Befriedigung situativer Zweifel und der fallibilistischen Entwicklung der Wissenschaft im Großen und Ganzen wird hier einseitig aufgelöst. Diese Einseitigkeit drückt sich darin aus, dass die Relevanz der rationalen Auseinandersetzung für die gegenwärtige Situation nicht mehr erläutert werden kann. Wenn doch alle Meinungen fallibel sind, warum sollten wir hier und jetzt zu einer Einigung streben ? Die von Misak versuchte Ausweitung der inquiry auf moralische Belange ist hier instruktiv, weil in diesem Feld die übliche Verteidigung von Peirce’ Definition der Wirklichkeit als »ultimate opinion« blockiert ist. Der Begriff der Wirklichkeit, so der Einwand, drücke eine Idealisierung aus, die auch dann wirksam ist, wenn der in diesem Ideal ausgedrückte Endzustand einer »ultimate opinion« nicht erreicht wird (so etwa Burke 2013, 34). Es reiche hin, dass es vorstellbar ist, dass wir in der inquiry uns einem externen Maßstab unterwerfen, der bestimmt, was wahr ist und was nicht. Auf diese Weise bestimmt dieser Begriff der Wirklichkeit regulativ unsere Untersuchungen auch dann, wenn diese Wirklichkeit selbst immer wieder verfehlt wird. Eben diese transzendentale Vorstellbarkeit aber ist im Falle eines moralischen Konflikts nicht mehr gesichert. Dies wird dann von Misak auch explizit eingeräumt, freilich ohne dass sie die hier geforderte Konsequenz zieht, das einseitig epistemologische Bild der inquiry zu korrigieren. Misak stellt fest, dass es in manchen Fällen einfach nicht möglich ist, einen Konflikt abschließend aufzulösen. Es gebe eben, wie Misak es nennt, »tragische« Fälle, wo keine rationale Entscheidung möglich sei. Etwa, wenn eine Mutter im Konzentrationslager eine ihrer zwei Töchter für die Gaskammer auswählen muss (Misak 2004, 189). Dieses Beispiel soll als Grenzfall für die Möglichkeit moralischer Deliberation herhalten. Doch es ist so extrem, dass wieder bezweifelt werden kann, ob hier ein Fall der Deliberation vorliegt : Eine 268  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

erzwungene Entscheidung zwischen zwei vorgegebenen Optionen ist kein selbstbestimmtes Urteil und kann somit nicht als Beispiel für die Grenzen der moralischen Ratio­nali­tät – die ja eine Form der empirisch sensiblen Selbstbestimmung sein soll – dienen. Im Grunde liegt hier noch nicht einmal ein tragischer Fall vor. Zwar führen Tragödien seit der Antike die Grenzen der Autonomie vor, doch sie können dies nur, indem sie die tragische Situation – wie etwa in König Ödipus – auch als Resultat der Handlungen der Akteure beschreiben. Die Tragik liegt darin, dass die Akteure mit den Konsequenzen ihrer freien, begründeten Entscheidungen konfrontiert werden. Misaks schematisches Beispiel kennt keine freien Entscheidungen und verfehlt das Pro­blem.211 Die Gewalt des Nazi-Beispiels überlagert die viel subtilere, aber realistischere und moralisch relevantere Pro­blematik, wie angesichts der Möglichkeit, dass ein moralischer Konsens nie erreicht wird, noch die Ratio­nali­tät einer moralischen inquiry begriffen werden kann. Das Pro­blem ist gerade, wie angesichts einer nicht zu erwartenden Einigung dennoch verfahren werden sollte – warum es also angesichts einer derartigen Situation normativ geboten ist, sich dem Pro­blem auf eine bestimmte, nämlich rationale Weise zu stellen. Hier zeigt sich, dass das von Misak bereitgestellte Instrumentarium für solche Entscheidungen zu grob geschnitzt ist. In der szientistischen Konzeption hat der Konflikt keinen eigenen rationalen Wert ; das Denken wird so verstanden, dass es kraft seiner Einbindung der Erfahrung gerade die Konflikte transzendiert. Die situative Entscheidung für oder gegen eine der konfligierenden Positionen ist in dieser auf lange Frist angelegten Logik irrelevant. Auf die Einzelmeinungen und ihre genauen Unterschiede kommt es nicht an. Der Einwand ist also, dass die szientistische Auffassung der in­ quiry den Ratio­nali­tätsbegriff so ausdünnt, dass unterbestimmt Misak konzipiert »tragische Ereignisse« als ein Scheitern der menschlichen Handlungssouveränität, deren Kontrolle sich die Ereignisse entziehen. Die Tragödie ist dagegen der Aufweis, dass menschliches Handeln konstitutiv tragisch ist : »the very conditions that make us potent agents – our materiality, which ties us to the causal order of the world, our plurality, which makes it possible for our acts to be meaningful – also make us potent beyond our own control« (Markell 2003, 9). 211

Zwei Lesarten der inquiry  |  269

ist, wie die konkreten widerstreitenden Positionen ausgehandelt werden sollen, um die es bei moralischer Deliberation geht. Die so gefasste inquiry greift hier nicht, und es bleibt ein bloßer (und im übrigen selbst schon moralischer) Appell, in diesen Überlegungen auch die jeweiligen »Erfahrungen« aller Beteiligten zu berücksichtigen, welcher Religion oder ethnischen Gruppe sie auch angehören. § 123  Roberto Frega (2012) weist auf eine verwandte Schwierigkeit von Misaks Konzeption hin, mit der wir diese kritische Diskussion abschließen. Für Misak ist das Ziel aller rationalen inquiry und damit der Ratio­nali­tät überhaupt, eine allgemeine Lösung zu finden. Die »wissenschaftliche Methode«, wie Peirce sie versteht, zielt auf Allgemeinheit – auf Überzeugungen, wie es Misak formuliert, die ein »maximum of expectation« mit einem »minimum of surprise« verbinden.212 Sie wird so beschrieben, als sei sie frei von allen Zwängen von Raum und Zeit, insbesondere befreit von den konkreten Erfordernissen der Praxis, hier und jetzt Entscheidungen zu treffen (vgl. Frega 2012, 20). Frega argumentiert nun, dass diese Zielvorgabe den Erfordernissen praktischer Pro­blemstellungen nicht gerecht werden kann. Konkrete moralische Reflexion hat schlicht ein anderes Ziel : Sie sucht keine langfristige Stabilisierung unserer Überzeugungen, sondern die zeitnahe Auflösung eines konkreten, nicht aufschiebbaren Pro­blems. Die »moral inquiry«, so Frega, suche nicht allgemeines und verallgemeinerbares moralisches Wissen, sondern strebe nach Entscheidungen »in conditions of moral uncertainty« (Frega 2012, 161). Es gibt ein konkretes Pro­blem zu bewältigen, das zur Entscheidung drängt. Hier findet sich ein anderer Erfahrungsdruck als beim Experiment. Es geht nicht darum, besondere moralische Erfahrungen in ein allgemeines Netz von Annahmen und Überzeugungen einzuspeisen, um dieses dadurch auf lange Sicht zu stabilisieren. Auch wenn solche verallgemeinernden Reflexionen durchaus möglich sind (die Moralphilosophie könnte ein Beispiel dafür sein), nehmen sie im Einzelfall bestenfalls eine orientierende Rolle ein.213 Misak (2004, 83, 86, 91, 123) zitiert mit diesen beiden Ausdrücken aus undatierten Manuskripten von Peirce. 213 Die zurückhaltende Formulierung, dass die Moralphilosophie eine solche Verallgemeinerung des moralischen Wissens sein könnte, hat ihren Grund. 212

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Dieser Einwand leugnet keineswegs die Relevanz allgemeingültiger Überlegungen und Überzeugungen. Der Punkt ist wieder, dass die Form des Nachdenkens in diesem Bereich anders beschrieben werden muss als bei wissenschaftlichen Untersuchungen. Dort – so Frega – werden Fragen verfolgt wie »Was sind die genetischen Ursachen einer bestimmten Krankheit ?« oder »Was sind die Konsequenzen der Globalisierung ?« Moralische Reflexionen richten sich dagegen bereits in ihrer Fragestellung auf situierte Pro­bleme. Beispielsweise steht zur Diskussion, ob die Stammzellenforschung mit ihren derzeitigen Möglichkeiten (und einer schwer zu bestimmenden Zukunft) öffentlich gefördert werden soll, oder es geht darum, ob eine bestimmte, traditionell begründete Praxis der Genitalverstümmelung verboten werden sollte (Frega 2012, 28). In diesen Fragen prallen unterschiedliche Selbstverständnisse und Wertungen aufeinander. Allgemeines epistemisches Wissen kann hier nur ein Teil der Pro­blemlösung sein. Ein hilfreiches Beispiel, auf das Frega zurückgreift, stammt von Dewey : Ein kranker Mann überlegt sich, ob er zum Arzt gehen soll oder nicht (LW 12, 166). Hier liegt ein klassischer praktischer Syllogismus vor : Die Prämisse lautet »Ich bin krank«, die Schlussfolgerung, »Ich sollte zu einen Arzt gehen«. Dewey erläutert an diesem Beispiel, dass die faktische Praxis einer solchen Urteilsbildung – die inquiry – hier weder rein formal, als Schluss, noch rein epistemo­ logisch, als Erkenntnispraxis, betrachtet werden kann. Wo das Urteil »Ich sollte einen Arzt besuchen« mehr als eine habitualisierte Praxis darstellt, beinhaltet es zahlreiche Schritte, die über epistemologische Behauptungen hinausgehen. Es muss abgewogen werden, wie schwer die Krankheit ist, um zu konfligierenden Zielen und Interessen Stellung zu nehmen : Kann ich den Arzt und die Medikamente bezahlen ? Ist die Krankheit überhaupt so ernst zu nehmen, dass ich nicht arbeiten kann ? Oder sollte das eigene Wohlbefinden keine Rolle spielen, weil die Gefahr besteht, andere – etwa Von Kant an ist moderne Moralphilosophie gerade nicht die Verallgemeinerung eines moralischen Wissens, sondern die Reflexion auf die Form oder Methode moralischen Urteilens. Moderne Moralphilosophie gibt keinen Kanon von Tugenden und Werten vor, sondern prüft – ganz dem Prinzip der Autonomie entsprechend –, welche Kriterien und Verfahren wir bei der Klärung moralischer Fragen ansetzen sollten. Zwei Lesarten der inquiry  |  271

die eigenen Kollegen – anzustecken ? Der Weg von der Prämisse zum Schluss wird über zahlreiche Entscheidungen im Detail hergestellt, die eher den Charakter von Festlegungen als von Erkenntnissen haben. Selbst dort, wo im Entscheidungsprozess fraglos die epistemische Dimension dominiert (etwa bei der Einschätzung der Ansteckungsgefahr), bleibt das Urteil von einer Unsicherheit geprägt, die den Prozess im Ganzen kennzeichnet. Für Frega – und für Dewey – sind solche Beispiele repräsentativ für die nicht-wissenschaftliche Praxis des Urteilens. Sie bestätigen noch einmal Peirce’ eigene Zurückhaltung gegenüber der Übertragbarkeit des theoretischen Wissens (wie Peirce es konzipiert) auf lebens­praktische Pro­blemlösungen. In letzteren Fällen geht es nicht um eine allgemeine Lösung, sondern um konkrete, zum Handeln befähigende Antworten auf spezifische Pro­blemsituationen. Auch drängen moralische Konflikte nicht primär auf die Erreichung eines Konsenses (was diesen freilich nicht ausschließt), sondern fordern minimal zur Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit unter An­ erkennung bestehender Differenzen und Unwägbarkeiten auf. Wenn wir inquiry an das Vorbild der wissenschaftlichen, epistemologischen Wahrheitsfindung ketten, fallen »practical matters« aus dem Bereich der rationalen Autonomie heraus. § 124  Wir haben uns Misaks Konzeption der inquiry zugewandt, weil sie in aller Deutlichkeit die Grenzen der szientistischen Lesart von Peirce zeigt. Im Endergebnis wird sichtbar, dass die Schwierigkeiten vor allem damit verbunden sind, dass Misak die in der inquiry zu berücksichtigende Erfahrung einseitig epistemologisch deutet, als objektiven, von aller konkreten Praxis letztlich unabhängigen Zwang. Ihr Bestreben, diese wissenschaftliche Form der inquiry auch auf moralische Pro­bleme auszuweiten, lässt erkennbar werden, wie einseitig diese epistemologische Deutung ist – unabhängig von der hier bewusst ausgeklammerten Frage, ob die Prämisse überhaupt stimmt, dass diese Beschreibung der »scientific method« auch die konstitutiven Merkmale wissenschaftlicher Ratio­nali­tät adäquat erfasst.214 Vgl. zur Kritik dieser szientistischen Prämisse die kritischen Ausführungen zum Wiener Kreis zu Beginn des zweiten Kapitels. 214

272  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

Wir nähern uns auf diese Weise aus einem anderen Winkel der philosophischen Landschaft wieder dem systematischen Pro­blem, das Davidson als Dualismus von Schema und Gehalt beschreibt. Die epistemologische Konzeption der inquiry erklärt die Kraft der Kritik durch den objektivierenden Widerstand einer Erfahrung, die außerhalb der schematisierenden Vernunft steht. Was Misak »Objektivität« nennt, ist eben jener neu­trale Referenzpunkt der Wirklichkeit, aus dem die endlichen Schematisierungen der Vernunft ihren Gehalt beziehen. Und was Misak »Erfahrung« nennt, ist die negative Konfrontation mit dieser objektiven Wirklichkeit. Erfahrungen haben hier keinen positiven Eigenwert, sondern dienen ausschließlich dazu, »unsere« Auffassungen zu korrigieren : »All that experience does is constrain belief« (Misak 2004, 83). Die Kritik der szientistischen Lesart zeigt, dass die rationalitätstheoretische Auffassung eine andere Konzeption von Erfahrung und Objektivität entwickeln muss. Gerade bei moralischen Konflikten wird sichtbar, dass die epistemologische Auffassung durch die Externalisierung des epistemischen Referenzpunktes künstlich einengt. Denn in moralischen Konflikten geht es um Pro­bleme, die überhaupt nur relevant sind, weil sie eine Wirklichkeit betreffen, die durchaus in unserer Gestaltungskraft liegt. Die oben zitierten Fragen – ob etwa die Stammzellenforschung öffentlich gefördert werden sollte oder ob wir einen Arzt konsultieren sollten – setzen einen Gestaltungsspielraum voraus, der diese Fragen überhaupt erst relevant werden lässt. Sicher stellen sich auch ethische Pro­bleme gerade deshalb, weil kein Gestaltungsspielraum mehr besteht und somit moralische Dilemmasituationen entstehen. Doch auch hier liegt die Relevanz dieser Feststellung darin, dass eben keine subjektiven Eingriffsmöglichkeiten mehr gesehen werden und wir uns – kollektiv oder individuell, mitschuldig oder durch andere – in Sackgassen manövriert haben. Wenn wir die Hindernisse, die in solchen inqui­ ries auftauchen können, als den Zwang einer Wirklichkeit interpretieren, die völlig unabhängig von »uns« ist, verfehlen wir das eigentliche Pro­blem, mit dem sie uns konfrontieren. Der Gedanke, dass »reality is … independent of what anyone thinks about it« (Misak 2004, 132), hilft bei diesen Pro­blemen nicht weiter. Die Quelle der Unruhe, die in diesen Fällen zur inquiry treibt, ist somit gerade nicht die von allem Denken unabhängige Erfahrung Zwei Lesarten der inquiry  |  273

eines externen Widerstandes, der unsere Erwartungen durchkreuzt. Sie ist die subjektive – und damit gleichwohl nicht weniger reale und drängende – Unentschiedenheit hinsichtlich einer Frage, die objektiv ansteht. Die zur Untersuchung treibende Erfahrung kommt hier nicht von außen, sondern entsteht durch eine praktische Handlungsungewissheit, die reflexiv als pro­blematisch wahrgenommen wird. Auch auf diese Situation lässt sich Peirce’ allgemeine Charakterisierung anwenden, dass die Erfahrung zur Entscheidung drängt, weil sie objektiv die Handlungsfähigkeit beschränkt. Aber der objektivierende Druck der Erfahrung kann hier nicht szientistisch verkürzt mit einer »external permancy« identifiziert werden, sondern verweist auf die oben identifizierte allgemeine temporale Logik, dass unser Handeln hier und jetzt relevant ist, weil es für die Zukunft Konsequenzen hat. Wir werden uns jetzt mit John Dewey einer Position zuwenden, die diese Logik wesentlich konsequenter als Peirce in den Mittelpunkt ihrer Erläuterung der inquiry stellt.

Deweys nicht-empiristischer Erfahrungsbegriff § 125  Deweys Begriff der Erfahrung, »experience«, ist, wie Thomas M. Alexander (1987, 52) bemerkt, die Nordwestpassage zu seiner Philosophie. Ein richtiges Verständnis des Begriffs eröffnet den direkten Zugang zu einem – um in der Metapher zu bleiben – weiten Kontinent von Positionen und Überlegungen. Deweys Erfahrungsbegriff misszuverstehen, führt jedoch unvermeidlich zu einem Schiffbruch. Denn der Begriff der Erfahrung ist für Dewey nicht einfach ein philosophischer Begriff neben anderen. Dewey lehnt jede Position kategorisch ab, die Erfahrung mit etwas Isoliertem identifiziert – sei dies »Sinnesdatum«, »Stimulus«, oder »propositio­ nal strukturierte Wahrnehmung«. Die Bedeutung der Erfahrung liegt für Dewey vielmehr gerade darin, dass jede Erfahrung über sich selbst hinaus auf etwas verweist, was nicht, oder noch nicht, Erfahrung ist. Erfahrung ist Werden. Daher lässt sich Deweys Philosophie nicht gewinnbringend aufteilen in eine Theo­rie der Erfahrung und davon unabhängige Einzelmeinungen zur Epistemologie, Sozialphilosophie, Naturphilosophie oder Ästhetik. Obwohl Dewey in seiner langen Schaffenszeit 274  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

zahlreiche Monographien zu diesen Themenschwerpunkten vorgelegt hat, ist seine Philosophie von dem Anspruch durchdrungen, dass all diese Untersuchungen nicht voneinander zu trennen sind. Michael Eldridge fasst Deweys Perspektive gut zusammen : »But for Dewey there was a single phenomenon – experience – that could be understood metaphysically, aesthetically, politically, or epistemically« (Eldridge 1998, 38). Die eigentliche Herausforderung, vor die Deweys Erfahrungsbegriff stellt, ist es, diese Spannbreite von Themen und Gegenständen mit »der« Erfahrung zu verbinden. Denn dass eine solche Verbindung all dieser Themen zu »der« Erfahrung vorliegt, ist Deweys zentrale These : »›Experience‹ is a word used to designate, in a summary fashion, the complex of all which is distinctively human« (LW 1, 331). § 126  Wir kommen Deweys Verständnis der Erfahrung einen großen Schritt näher, wenn wir es in Fortführung des Hauptstrangs dieser Untersuchung als eine postformalistische Position kennzeichnen. Der Postformalismus sucht eine Alternative zur formalistischen Aufteilung von Kritik und Wirklichkeit oder, klassischer formuliert : von Subjekt und Objekt. Das Pro­blem dieser Aufteilung und damit zugleich das Kriterium, an dem sich eine solche Alternative messen lassen muss, ist die Erläuterung der rationalen Bindung zwischen diesen beiden Polen. Der Formalismus kann diese Bindung nicht erläutern, das ist sein Dualismus. Um diese Bindung zu erläutern, müssen wir, im Anschluss an die Diskussion von M ­ cDowell, das mit dem Begriff der kritischen Vernunft verbundene Freiheitsverständnis angemessen fassen. Der Formalismus glaubt, die Freiheit der rationalen Selbstbestimmung ohne jegliche Sachbindung erläutern zu können, als reinen Akt ohne Gehalt. In Abkehr vom Formalismus muss dagegen verständlich werden, wie Freiheit und Notwendigkeit zusammen wirken können. Die Heraus­forderung ist, diese Bindung zu erläutern, ohne dabei weder die Freiheit der Kritik noch die korrigierende normative Kraft der Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren. Um Deweys Erfahrungsbegriff zu verstehen, müssen wir also verstehen, wie Dewey sich diese Abhängigkeit des Denkens von der Erfahrung (und damit verbunden wiederum seine Freiheit) vorstellt. Die kritische Diskussion von Misaks empiristischer PeirceDeweys nicht-empiristischer Erfahrungsbegriff  |  275

Deutung gibt uns dazu einen brauchbaren Schlüssel an die Hand : die Negativität der Erfahrung, die die inquiry, die Praxis des Denkens, leitet. Als das zentrale Pro­blem von Misaks szientistischer Lesart des Pragmatismus hatte sich herausgestellt, dass sie die negative Abhängigkeit des Denkens von der Erfahrung nicht angemessen erläutern kann. Die negative Erfahrung rückt bei ihr in die Rolle eines bloßen Widerstandes, der das Denken passiv anreizt und ebenso passiv wieder zu einem Abschluss führt. Eine epistemisch bindende Funktion kann die Erfahrung in Misaks Modell nicht übernehmen. Und zwar deshalb, weil es die für die Gestaltung der inquiry entscheidende Negativität der Erfahrung, die Irritation, nicht als eine Eigenschaft der Erfahrung selbst begreift. Die Erfahrung wird wieder reduziert auf die Rolle einer bloßen epistemischen Vermittlung. Nicht die Erfahrung, sondern die Wirklichkeit, von der diese Erfahrung negativ Kunde gibt, gilt als der eigentliche Grund der Irritation. Eine solche Äußerlichkeit – klar zum Ausdruck gebracht in Peirce’ »presupposition of reality« – kann keine bindende Wirkung auf das Denken entfalten. Das Denken bleibt im Selbstbezug ganz bei sich, was Misak dann auch deutlich ausdrückt, wenn sie die Erfahrung als eine rein heteronome Kraft beschreibt, die letztlich beliebig interpretiert werden kann : Experience forms the involuntary part of the scientific method and logic forms the voluntary part. We have control over inquiry because we engage in the self-controlled activity of reasoning (Misak 2004, 87).

Wieder also begegnen wir dem formalistischen Kernmotiv, die Autonomie von der Erfahrung frei und rein zu halten. In diesem Zitat trennt Misak die reine Selbstkontrolle des Denkens von einem ebenso vollständigen Zwang durch die Erfahrung. Mit dieser Trennung unterläuft Misak ihre eigene Einsicht, dass der Pragmatismus Objektivität nicht kurzschlüssig mit einer gegebenen Natur oder physikalischen Welt identifiziere (Misak 2004, 136). Zwar behauptet Misak, dass die Erfahrung das Denken durchaus objektiv bindet, insofern wir durch das Erleben ständiger Widerstände in der Praxis dazu genötigt werden, unser Verständnis zu korrigieren. Doch dieser Prozess erschöpfte sich – wenn er denn überhaupt kohärent so verstanden werden könnte – eben in der bloßen Anpassung an eine externe Wirklichkeit. Misaks Versuch, die so verstandene »scientific 276  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

method« dann auch noch zum Inbegriff des rationalen Weltverhältnisses überhaupt zu erklären, einschließlich der Moral, führt die damit verbundene Einengung plastisch vor Augen. Sie kann nicht erklären, warum wir mit allen widerständigen Erfahrungen so umgehen sollten, wie es die »scientific method« empfiehlt. § 127  Der szientistische Pragmatismus hat also das Pro­blem, die Normativität des Denkens – eben jene rationale Bindung an die Welt – zu beschreiben. Der Schlüssel zu Deweys postformalistischem Erfahrungsbegriff ist, dass er diese Normativität anders begreift. Sein Pragmatismus orientiert sich an der Logik, die wir in der bisherigen Diskussion als die alternative Lesart von Peirce’ Pragmatismus identifiziert haben. Diese rationalitätstheoretische Auffassung ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie eine reflexive Konzeption der Normativität entwickelt. Die Normativität der inquiry, ihre bindende und orientierende Kraft, ist in diesem Verständnis nicht durch eine Ursache zu erklären, die prinzipiell außerhalb dieser Praxis steht. Ihre Normativität wird vielmehr dadurch erläutert, dass die Praxis der inquiry auf eine ungewisse Zukunft ausgreift, die auch ihre Zukunft ist. Die inquiry ist also nicht normativ bindend, weil sie die Autorität eines externen Gehalts vermittelt. Sie ist bindend, weil sie in ihrer jetzigen Form konkrete Konsequenzen nach sich zieht, an denen sie zugleich interessiert ist. Die so verstandene Normativität ist irreduzibel zeitlich vermittelt : Je nachdem, wie wir jetzt die Welt betrachten und behandeln, ergeben sich andere Konsequenzen – und diese Folgen lassen es wichtig werden, wie wir jetzt urteilen und handeln. Diese Folgen binden uns an unsere Gegenwart. Zuerst direkt, indem die jetztigen Akte die späteren Folgen bewirken. Dann aber auch indirekt, indem die Aufmerksamkeit darauf geht, dass die Art, in der diese Akte zustande kommen, jeweils andere Weisen eröffnet, Folgen zu bewirken.215 Wir können unmittelbar reagieren oder aber uns reflexiv fragen, auf welchen Grundlagen wir zu einer Entscheidung kommen sollten, was es zu berücksichtigen gilt, welches Verfahren zu wählen ist usw. So entsteht die Einsicht, dass es einen Unterschied macht, Vgl. Deweys Diskussion des Geistigen als eine abgestufte Reaktion auf den Zweifel, von der direkten emotionalen Antwort bis hin zur indirekten Reflexion (LW 4, 179 – 181). 215

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welche Form die Praxis annimmt, mit der wir auf die Welt bewusst Einfluss nehmen können. Die Normativität der inquiry ist in diesem temporalen Modell die Folge eines reflexiven Interesses an den stets noch zu realisierenden Konsequenzen des eigenen Handelns. Dewey weitet diese reflexive Logik auf die Erfahrung selbst aus. Jede Erfahrung, als Ereignis gesehen, hat Konsequenzen, und es sind diese Konsequenzen, die Erfahrungen in der Gegenwart relevant werden lassen : »Consequences issue from every experience, and they are the source of our interest in what is present« (LW 4, 203). Dieser unvermeidliche Übergang von einer Erfahrung zur anderen steht im Zentrum von Deweys nicht-empiristischem Erfahrungsbegriff. Dieser Erfahrungsbegriff ist pragmatistisch, insofern er die Erfahrung als einen Prozess fasst, der nicht zu trennen ist vom Handeln. Wir erfahren handelnd, und wir handeln erfahrend. Doch die übergreifende Einheit, das, was Erfahren und Handeln im Prozess der Erfahrung verbindet, ist das normative Verstehen. Die Konsequenzen unseres Handelns bestimmen darüber, ob wir die sich entwickelnde Erfahrung verstehen oder eine negative Erfahrung – eine Erfahrung der Inkohärenz – machen. Verständnis und Unverständnis sind hier formale Kategorien : Die Frage ist, wie stimmig die Erfahrungen sind. Eine negative Erfahrung ist in diesem nicht-empiristischen Verständnis eine Erfahrung, in der die Verkettung der Erfahrung ihre Kohärenz verliert und – aus welchem Grund auch immer – nicht mehr stimmig ist. Das grundsätzliche reflexive Interesse, das wir an der Erfahrung haben, ist, sie zu verstehen.216 Im Hintergrund dieses Verständnisses der Erfahrung als Verkettung steht Peirce’ Semiotik : Bedeutungen von Zeichen werden nach Peirce nicht durch einen abschließenden Interpretationsakt im Subjekt konstituiert, sondern durch die ständig fortlaufende Kette von Beziehungen, die die Zeichen untereinander unterhalten.217 Diese Die Behauptung ist also nicht, dass stimmige Erfahrungen immer harmonisch oder positiv sind. Auch das Übel muss als Übel erkennbar werden, und die Erfahrung der Unverfügbarkeit kann auch als eine positive, als Anreiz empfundene Spannung wahrgenommen werden. So sieht Dewey den Wert der modernen Wissenschaft gerade darin, dass sie eine Kultur geschaffen hat, die den Zweifel als solchen sucht und bewusst provoziert : »The scientific attitude may almost be defined as that which is capable of enjoying the doubtful« (LW 4, 182). 217 Jung 2009, 186–223, zeigt, wie sehr Deweys Denken von Peirce’ Semiotik 216

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relationale Logik findet Dewey nun im Prozess der Erfahrung selbst wieder. Wir verstehen die Welt besser, wenn wir verstehen, in welchen Beziehungen die Erfahrungen, die wir machen, zueinander stehen. Je mehr Zusammenhänge wir erkennen, desto reichhaltiger ist unser Verständnis des Gegenstands, der sich in den Erfahrungen erschließt. Dabei fügen diese Zusammenhänge nicht einfach immer neue Informationen hinzu. Deweys Erfahrungsbegriff ist holistisch und relational : Die einzelnen Erfahrungen, auch wenn sie eine temporale Sequenz bilden, verweisen semantisch aufeinander. Sie klären die Gesamtgestalt des erfahrenen Bezugsgegenstandes.218 Im Idealfall einer sinnvollen Erfahrung eröffnen die Übergänge in der Erfahrung also einen wachsenden Zusammenhang, sie erschließen Bedeutung. Dewey spricht hier von growth, Wachstum. Freilich kann es in diesen Verkettungen auch Brüche, irritierende Neujustierungen und verwirrende Konsequenzen geben ; das ist die Erfahrung der Unverfügbarkeit. Erfahrungsprozesse können auch aus kontingenten Gründen abbrechen. Doch selbst diese Unterbrechung der Verkettung – die ja durch die inquiry wieder hergestellt werden kann – setzt bei der Grundidee an, dass Erfahrungen nur durch diese Verkettungen Bedeutung annehmen, dadurch, dass sie in der Zeit sich entwickeln. An dieser Stelle ist es nicht sinnvoll, zu fragen, wie die Beziehungen genau aussehen, die Erfahrungen miteinander verbinden. Dewey unterscheidet gelegentlich verschiedene Kategorien solcher Beziehungen, insbesondere mit Blick auf die Sprache.219 Das grundsätzliche Phänomen ist aber gerade, dass die Beziehungen sich in beeinflusst ist und durch sie verständlich wird. Dewey selbst verteidigt Peirce’ Semiotik in LW 15, 141 – 152. 218 Dewey nennt als Beispiel eine Kutsche : »A wagon is not perceived when all its parts are summed up ; it is the characteristic connection of the parts which make it a wagon. And these connections are not mere physical juxtaposition ; they involve connections with the animals that draw it, the things that are carried on it, and so on« (MW 9, 150). 219 In der Logik (LW 12, 60 f.), unterscheidet Dewey z. B. zwischen rein innersprachlichen »relations«, wie sie seiner Auffassung nach in der Mathematik auftreten, der praktischen Anwendung solcher Beziehungen (»reference«), und den sachlichen Beziehungen, die materiale Inferenzen wie der Schluss von Rauch auf Feuer stiften (»connections«). All diese Beziehungen sind sinnbildende Beziehungen innerhalb der Erfahrung. Deweys nicht-empiristischer Erfahrungsbegriff  |  279

der Erfahrung selbst entfalten.220 Was für eine Beziehung vorliegt, zeigt sich also erst durch die (sich entwickelnde) Einbettung in den Gesamtzusammenhang. So diskutiert Dewey das Beispiel, dass Rauch als ein Zeichen für Feuer gedeutet wird (LW 12, 61 f.). Diese Deutung – so lässt sich hinzufügen – ist relativ zu bestimmten Fähigkeiten und Interessen : Physiker untersuchen den kausalen Einfluss, den Wind und Temperatur auf die Entwicklung des Rauches nehmen ; Philosophen diskutieren an diesem Beispiel Fragen der Semiotik ; ein Förster sieht die unmittelbare Gefahr eines Waldbrandes. In allen Fällen wird der Rauch in eine andere Verkettungslogik eingereiht. Es gibt somit nicht die Verkettung, sondern eine Vielzahl von Möglichkeiten der Verkettung, die in den unterschiedlichen Perspektiven jeweils aufgegriffen werden. Die gewinnbringende und durchaus wichtige Rückfrage, was für Beziehungen hier genau vorliegen, ist nicht a priori zu beantworten. Sie ist Gegenstand einer inquiry, die sich wiederum zu diesem Erfahrungsganzen in Beziehung setzt. § 128  Die Verkettung der Erfahrung wird von Dewey als Ausdruck eines praktischen Zusammenhangs gedeutet. Erfahrungen ent­ wickeln sich, sie folgen aufeinander, weil sich lebendige Wesen in einer ständigen Interaktion mit sich selbst und der Umwelt befinden. Die Vollzüge dieser Wesen, ihre Aktivitäten, haben immer auch eine Erfahrungsdimension. In der Erfahrung nimmt diese Aktivität, insofern sie auf Konsequenzen bezogen ist, eine Sinngestalt an. Die Verkettung von Erfahrungen korrespondiert mit einer Verkettung von Handlungen : Der Förster sieht den Rauch, ist alarmiert, benachrichtigt eine Kollegin, diskutiert mit ihr, was getan werden könnte. Eine solche Sequenz ist eine Erfahrungssequenz, die zugleich auch eine Handlungssequenz ist. Erfahrung und Handlung sind für Dewey ineinander verschränkt, sie stehen in einer für beide Seiten konstitutiven Wechselbeziehung zueinander, wie das folgende Zitat verdeutlicht : every experience is constituted by interaction between ›subject‹ and ›object‹, between a self and its world, it is not itself either merely physi Dewey übernimmt hier eine Kernidee von James’ ›Radical Empiricism‹ (vgl. James 1996). 220

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cal nor merely mental, no matter how much one factor or the other predominates (LW 10, 251).

Die Erfahrung der Unverfügbarkeit hat somit bereits für sich genommen eine wichtige Bedeutung : Sie verweist negativ auf eine sonst stumm bleibende funktionale Einheit von Handlung und Wahrnehmung, ohne die weder die Praxis noch die Erfahrung fortgeführt werden können. Sie verweist darauf, dass diese Momente in einem übergreifenden Ganzen zusammenspielen und erst dadurch ihre bestimmte Gestalt erhalten. Dewey bezeichnet diese Einheit als »Interaktion«, »Koordination«, »Funktion«, »Transaktion« oder auch »Organisation«.221 Die Beschreibungen variieren vor allem je nach Kontext : Die Sprache ist ein Mittel zur Koordination, Organismen weisen eine Organisation auf, handelnde Personen interagieren mit ihrer Welt. Entscheidend ist, dass die einzelnen Momente der Erfahrung nur vor dem Hintergrund dieses Ganzen verständlich werden, als ein Teil und Moment in ihr. Mit der These eines konstitutiven Wechselbezugs von Selbst und Welt sucht Dewey einen Weg zwischen Realismus und Konstruktivismus, der sich vielleicht am besten in der Verschränkung von Wahrnehmung und Tun erläutern lässt (Dewey spricht, auch mit Blick auf den Organismus, von »doing and undergoing« oder auch »doing and suffering«). Die aktive Seite, das Tun, muss gleichsam irgendwann loslassen und die Konsequenzen erdulden ; erst diese Folgen zeigen, was genau getan worden ist. Aber auch die passive Rückmeldung von der Welt, also die Wahrnehmung, bleibt unterbestimmt. Eine semiotisch eindeutige Rückmeldung wäre ein Fall des »Mythos des Gegebenen«, die Wahrnehmung einer infalliblen Bedeutung, die es nicht zuließe, sich kritisch zu diesem »Datum« zu verhalten (z. B. weil es eine Täuschung ist). Obgleich also in der Erfahrung etwas real zustößt, bedarf es wiederum aktiver Tätigkeit, um genau zu bestimmen, was sich ereignete. Von der aktiven wie von der passiven Seite der Erfahrung werden Prozesse angestoßen, die erst in ihrer Fortführung durch die jeweils »andere« Seite ihre Belegstellen zu den aufgezählten Begriffen finden sich im kritischen Apparat zum Band 6 der Middle Works, Endnote 10 (MW 6, 561). »Koordination« figuriert prominent in Deweys Aufsatz zum Reflexbogen (EW 5, 96 – 110) ; »interaction« ist der bevorzugte Ausdruck in Experience and Nature. Meine Lesart von Deweys Naturalismus orientiert sich an Alexander 1987. 221

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konkrete Gestalt annehmen. Beide Seiten müssen wie in einem Reißverschluss ineinander greifen : Was wir tun, erfahren wir durch die Rückmeldungen der Welt ; was uns durch sie zustößt, klärt sich in unserem Handeln. Die gerade gegebene Beschreibung ist jedoch cum grano salis zu lesen. Im Grunde ist es schon eine Vorfestlegung, die beiden im Prozess der Erfahrung involvierten Seiten als subjektive »Handlung« und »Wahrnehmung« zu beschreiben. Diese Termini verdeutlichen gut die Grundidee, dass Aktionen eines »Handlungszentrums« Reaktionen hervorrufen, die dann als Antworten auf die Aktivitäten aufgefasst werden. Das Grundschema ist jedoch abstrahierbar und wird von Dewey bewusst nicht auf ein menschliches vernünftiges Subjekt beschränkt. Entscheidend für die Herausbildung der Erfahrung ist die zeitliche Abfolge (oder das koordinierte Ineinander) von Eingriff, Reaktion und einem Rückbezug auf diese Reaktion. Diese Kreisbewegung bildet in ihrer Gesamtheit die Erfahrung aus. In dieser Interaktion stellen sich die semiotischen Beziehungen ein, die auf der Sinnebene eine Erfahrungsgestalt bilden. Ob diese Abfolge in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang oder – zum Beispiel durch Pausen – intermittierend unterbrochen wird, ist für die funktionale Verkettung der Erfahrung ebenso irrelevant wie die Frage, ob diese Verkettung nun von einem Menschen, einem Organismus oder einer Praxis durchgeführt wird. Die von Dewey intendierte funktionale Einheit findet sich in der unbewussten orga­ nischen Aktivität, auf die der Körper selbst wiederum reagiert ; aber auch in den Aktivitäten von Tieren, die mit ihrer Umwelt interagieren ; und nicht zuletzt in der experimentellen Praxis der Wissenschaft. Diese Einheiten und ihre Form sollen gerade nicht durch irgendwelche Blaupausen festgeschrieben sein, sondern müssen sich, so Deweys Auffassung, immer wieder neu in der Interaktion etablieren.222 Der Primärbegriff ist für Dewey die Interaktion, und die Identifikation eines organisierenden Prinzips (»Selbst«, »Ich«, »Organismus«) ist bereits eine Stellungnahme zu dieser Interaktion, die sich als falsch oder richtig erweisen kann. So lässt sich mit Dewey der Darwinismus als die Lehre verstehen, dass diese Einheiten und ihre jeweiligen Grenzziehungen sich durch die Evolution ständig verschieben (vgl. MW 4, 3 – 15). Auch persönliche Identität ist in ständigem Wandel, ein Grundthema von Deweys Ethik (siehe z. B. LW 7, 306). Wir 222

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§ 129  Verfolgen wir weiter die Grundthese, dass sich für Dewey die konkrete Gestalt der Erfahrung immer in ihrer praktischen Verkettung herausbildet. Methodisch ist wichtig, dass diese Behauptung der Erfahrung nicht einfach von außen zugeschrieben wird. Sie muss sich an ihr selbst zeigen. Es ist nun die in diesem Kapitel zentral diskutierte Erfahrung der Unverfügbarkeit, die einen solchen immanenten Aufweis ermöglicht. In dieser negativen Erfahrung zeigt sich spezifisch die doppelte Ausrichtung jeder Erfahrung in ihrem Verlauf : ihre, wie Dewey es nennt, Individualität (die es ermöglicht, dass Erfahrungen Erwartungen durchkreuzen können) und ihr produktives Potenzial, allgemeine Anschlüsse zu bilden (weshalb sie der intellektuellen Bearbeitung zugänglich ist). Ich werde diese beiden Punkte in dieser Reihenfolge erläutern, um zu zeigen, dass die Erfahrung der Unverfügbarkeit für Dewey vor allem die unhintergehbare Verschränkung von Individualität und Allgemeinheit aufzeigt und damit über die empiristische Deutung der Negativität als ein Konflikt zwischen allgemeiner Vernunft und besonderer Erfahrung hinausgeht. Die Unverfügbarkeit ist in Deweys nicht-empiristischem Verständnis die Folge des Auseinandertretens dieser beiden Seiten in der Erfahrung und somit umgekehrt – und das ist der Punkt – ein Hinweis darauf, dass sie faktisch in der Erfahrung ineinander verschränkt und aufeinander angewiesen sind. Beginnen wir mit der Seite des Besonderen. An der erfahrenen Irritation wird erkennbar, dass die konkrete Erfahrung offenbar eine Art Eigenrecht hat und sich unseren Vorhersagen und Erwartungen zu entziehen vermag. Hier zeigt sich eine individuelle Seite der Erfahrung, die in dem antizipierenden Zugriff – dem erwarteten Resultat der praktischen Interaktion – nicht aufgeht. Eben weil diese Individualität es vermag, den antizipierenden Zugriff zu unterlaufen, zeigt sich daran im Umkehrschluss, dass sie dort, wo der Ausgriff reibungslos funktioniert, gleichsam nur ohne Protest mitspielt. Dewey sieht hier ein allgemeines Merkmal jeder Erfahrung : »in any case, the experience is unique and nonrecurrent« (LW 12, 248). werden die Konsequenzen dieser »Dezentrierung« (Volbers 2014a) des Handelns im Abschlusskapitel noch weiter mit Blick auf den leitenden Begriff der Selbstbestimmung vertiefen. Deweys nicht-empiristischer Erfahrungsbegriff  |  283

Dewey bezeichnet diese individuelle Dimension der Erfahrung auch als ihre qualitative Seite. Jede Erfahrung hat ihre eigene Qualität, ihre Art und Weise, zu sein. Diese Annahme erzeugt jedoch die methodische Schwierigkeit, dass über diese Qualität nicht gut geredet werden kann. Die Qualität ist für sich genommen, in logischer Isolation, nicht ausdrückbar ; eben darin besteht ja ihre Individualität, ihre Unverfügbarkeit (vgl. auch LW 5, 247). Das hindert Dewey nicht daran, Beispiele für qualitative Situationen zu geben. Er nennt etwa die Qualität, ein stoischer Charakter zu sein, oder den spezifischen Charakter einer Melodie.223 Diese Beschreibungen bleiben notwendig vage, worauf Dewey in der Logik reflektiert. Ein typischer sprachlicher Gestus für den Hinweis auf eine solche Qualität sei der Ausdruck »such«. Das ist ein Ausdruck, der etwas beschreibt, indem er eben auf »so eine« (das ist eine wörtliche Übersetzung von »such«) Qualität hinweist : Singular events and objects are recognized, or in logical language, identified and discriminated, as such-and-such, or so-and-such. … ­Illustrations are found … in such expressions as ›such dire want‹ ; ›such soft music‹ ; ›such a hero‹ ; ›such opinions‹, etc. (LW 12, 246).

Es ist kein Zufall, dass Dewey diese Kette von Beispielen selbst mit dem Wort einführt, das mit ihnen illustriert werden soll – »such expressions as«. Die Beispiele sind nur Behelfe. Sie zeigen vor allem an, dass die jeweilige Erfahrung selbst gemacht werden muss, um das mit dem Beispiel Gemeinte zu verstehen.224 Die Unmittelbarkeit der Erfahrung, die sich in der Erfahrung der Unverfügbarkeit meldet, kann selbst nicht zum Ausdruck gebracht werden : »Immediacy of existence is ineffable« (LW 1, 74).

Das Beispiel der »stoischen« Qualität findet sich in LW 5, 243 – 264, das Musikbeispiel in LW 12, 246. 224 Dieser Gedanke lässt sich aristotelisch rekonstruieren : Für Aristoteles kann sich eine philosophische Ethik nur an Personen wenden, die bereits eine gewisse Kenntnis der fraglichen Pro­bleme und Tugenden haben. Was es heißt, z. B. mutig zu sein, muss in der Praxis gelehrt werden. Abstrakte Begriffe können diese Praxis aufgreifen und klären, und sie sind (nach Dewey) durchaus imstande, das Wesentliche einer solchen Praxis zu fassen. Aber sie vermögen die Praxis nicht als Bezugsraum zu ersetzen, in dem die Bestimmungen und Einsichten ihren »Sitz im Leben« haben. 223

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Diese Unausdrückbarkeit ist jedoch kein Mangel. Die gelebte Unmittelbarkeit der Erfahrung wirft gewöhnlich keine Pro­bleme auf ; sie hat keine Auswirkung auf die gegenwärtig verfolgten Projekte und Handlungen. Wir erfahren die Welt auf diese oder jene Art und Weise, das ist ein konstitutiver Teil des Welt- und Selbstverhältnisses. Dass diese Qualität einen individuellen Charakter hat, tritt durch die Fokussierung auf übergreifende Ziele und Verhältnisse in den Hintergrund. Dies ist bereits eine Leistung, auf die wir zurückgreifen. Gerade die Fähigkeit, ungeachtet der unterschiedlichen individuellen Qualitäten gleichartige Verhältnisse zu etablieren, zeigt die Stabilität des Wissens : Indem das Wissen sich primär für die Verkettungen von Erfahrungen interessiert, sieht es von den individuellen Qualitäten der Mittel und Ereignisse ab, die zu der Gesamtgestalt der Erfahrung beitragen (LW 1, 74 f.). Diese Abstraktion muss dabei nicht zwingend als eine Auslassung, Unterdrückung oder gar Zurichtung der individuellen Erfahrungsqualität gesehen werden (auch wenn diese Möglichkeiten bestehen). Im stabilen Fall, den Dewey vor allem in wissenschaftlichen Verfahren etabliert sieht, verwirklicht sich hier eine Kooperation beider Seiten (LW 12, 45 ; LW 14, 198). Ich komme nun zum zweiten Aspekt der Erfahrung der Unverfügbarkeit. In ihr entzieht sich nicht bloß das Besondere dem Zugriff des allgemeinen, antizipierenden Denkens. Zugleich eröffnet die unmittelbare Erfahrung in ihrer qualitativen Individualität die Möglichkeit neuer Verkettungen. Im Unterschied zur empiristischen Deutung stellt die Erfahrung der Unverfügbarkeit für Dewey keine rein negative Störung dar. Im Gegenteil zeigt sich in ihr ein produktives Potenzial aller unmittelbaren Erfahrungen : Das Potenzial eben, zum Gegenstand zahlreicher Verkettungen und Zuschreibungen zu werden. Mit Blick auf die Möglichkeit, dass diese Verkettung misslingt, muss der gelingende Normalfall so gedeutet werden, dass diese Verbindungen und Fortführungen stets mit der individuellen Erfahrung zusammenarbeiten konnten. Die gegenwärtige Irritation muss entsprechend daraufhin untersucht werden, wo ihr Potenzial liegt. Sie fordert eine solche Reaktion sogar heraus : Die Erfahrung der Unverfügbarkeit ist ja die Erfahrung einer Unbestimmtheit, die als pro­blematisch empfunden wird und damit der Regulation und des Eingriffs bedarf. In Deweys Worten : Deweys nicht-empiristischer Erfahrungsbegriff  |  285

the immediately given is always the dubious ; it is always a matter for subsequent events to determine, or assign character to. It is a cry for something not given, a request addressed to fortune, with the pathos of a plea or the imperiousness of a command (LW 1, 262).

Hier zeigt sich der systematische Kern des Unterschieds zwischen der empiristischen und der nicht-empiristischen Lesart der inquiry und der Erfahrung. Dass die irritation of doubt, wie Peirce es nennt, uns nicht in Ruhe lässt, wird in empiristischer Perspektive nur als Ausdruck einer mangelnden Anpassung an die Wirklichkeit gesehen. Doch damit ignoriert der Empirismus, dass sie zugleich auch Ausdruck des stehenden Potenzials der Erfahrung ist, sich in übergreifenden allgemeinen Sequenzen zu entwickeln. Obgleich sich somit im Zweifel das Besondere meldet, zeigt es ineins auch eine allgemeine Eigenschaft der Erfahrung an, die positiv gewendet werden kann : »What is recurrent, uniform, ›common‹, is the power of immediate qualities to be signs« (LW 12, 248). Da die konkrete Erfahrung Teil des Pro­blems ist, ist sie auch Teil der Lösung. In dieser doppelten Stoßrichtung der negativen Erfahrung liegt die für sie so charakteristische Ambivalenz begründet. Für Dewey bedeutet die Unverfügbarkeit, dass die Entwicklung der Erfahrung als Ganzes gestört ist – und damit in der konkreten Situation weder die ausgreifende Allgemeinheit noch die konkrete Individualität zu greifen vermag. Nur wenn dieser doppelte Bindungsverlust auftritt, liegt eine echte Irritation vor. Ein unerwarteter Inhalt der Erfahrung – ein Auto, das überraschend um die Ecke kommt – ist nur eine Fehleinschätzung, keine Erfahrung der Unverfügbarkeit. Der andere Inhalt ist ja als Inhalt bereits verstanden und fordert daher das Verstehen nicht reflexiv heraus. Die unverfügbare Erfahrung ist daher weitergehend dadurch gekennzeichnet, dass ihr Inhalt un­ bestimmt ist. Beide Aspekte der Erfahrung, ihre Individualität sowohl wie ihre Allgemeinheit, werden als inkompatibel erfahren, als unvereinbar : »there is an incompatibility between the traits of an object in its direct individual and unique nature and those traits that belong to it in its relations or continuitities« (LW 4, 189). Die Erfahrung der Unverfügbarkeit, wie Dewey sie versteht, ist keine Erfahrung eines Mangels, sondern eine Erfahrung des Konflikts. Dadurch hat sie zugleich einen – qualitativen – Gehalt.225 Je225

»The peculiar qualities of what pervades the given materials, constituting

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der Gegenstand der Erfahrung ist, was er ist, aber er hat zugleich das Potenzial zu einer Einbindung in Zusammenhänge, die ihm Sinn geben. In der Erfahrung der Unverfügbarkeit treten diese beiden Pole auseinander und zeigen dadurch ihre Angewiesenheit aufeinander. In ihr zeigt sich die Spannung zwischen der allgemeinen Natur der Erfahrung und ihrer individuellen faktischen Gegenwart. Diese Spannung wird ausgetragen in der praktischen Unfähigkeit, einen Anschluss zu finden. Die Erfahrung wird inkohärent mit Blick auf ihre Fortführung, womit zugleich auch ihre bisherige Gestalt in Frage steht. Da Erfahrungen immer auch praktisch verwoben sind, charakterisiert Dewey die Erfahrung der Unverfügbarkeit dann auch als eine »divided response« (LW 4, 180, 188 ; vgl. auch LW 12, 186) : Wir reagieren auf einen erfahrenen Gegenstand – oder allgemeiner : auf das bisher Erfahrene – in widersprüchlicher Weise, als Teil einer Sinnsequenz und zugleich in seiner Individualität. Der Punkt ist, dass beide Hinsichten nicht aufgehen. § 130  Eine wichtige Konsequenz von Deweys Charakterisierung der Erfahrung der Unverfügbarkeit als eine »divided response« ist, dass sie nicht als eine ausschließlich psychologische Verwirrung verstanden werden kann, deren Ursache im Individuum liegt. Die Störung der Erfahrung ist eine objektive Störung des praktischen Weltverhältnisses, die nur unter zusätzlichen Bedingungen reflexiv psychologisch oder subjektiv erklärt werden kann. Dewey fasst diese Ausgangslage in dem Begriff der Situation zusammen, die Subjekt und Objekt gleichermaßen umfasst : »The habit of disposing of the doubtful as if it belonged only to us rather than to the existential situation in which we are caught and implicated is an inheritance from subjectivistic psychology« (LW 12, 110). Es stellt sich das Pro­blem, wie mit dieser Erfahrung umgegangen wird, und es muss eine Antwort darauf gefunden werden. Ob diese Antwort auf die Situation schließlich psychologische, objektive oder andere Faktoren gesondert hervorhebt, ist eine Folge des konkreten Verlaufs der inquiry und der in ihr gewonnenen Festlegungen.226 them a situation, is not just uncertainty at large ; it is a unique doubtfulness which makes the situation to be just and only the situation it is« (LW 12, 109). 226 Durch den Begriff der Situation stellt sich für Dewey nicht das bei Peirce diskutierte Pro­blem, ob der zur inquiry antreibende Zweifel nun »psycholoDeweys nicht-empiristischer Erfahrungsbegriff  |  287

Der Begriff der Situation darf hier nicht räumlich verstanden werden. Er beschreibt vielmehr einen logischen Zusammenhang : Die Situation umfasst alles, was »zu« dem Zusammenbruch der Sinnverkettung geführt hat und mit ihm in Beziehungen steht. Damit umfasst die Situation freilich potenziell alles, wie schon Russell kritisch bemerkte und ihn zu der Diagnose veranlasste, dass der Begriff daher leer sei.227 Doch dieser Einwand gilt nur, wenn die pro­blematische Situation von vornherein als ein konkreter Unter­ suchungsgegenstand – und damit als eine bestimmte Erfahrungsgestalt – verstanden wird. Die Erfahrung der Unverfügbarkeit ist jedoch gerade die Erfahrung, dass ein solcher konkreter Bezugspunkt verloren gegangen ist. Der erste Schritt des Denkens, noch vor jeder rationalen Untersuchung, ist daher die zumindest grobe Festlegung darauf, was für ein Pro­blem sich in dieser Erfahrung melden könnte (vgl. LW 12, 111 f.). Eine Implikation dieses Modells ist, dass hier kein Automatismus vorliegt, der vom Zweifel wieder zur Überzeugung führt. Das Drängen der Erfahrung kann unbemerkt bleiben oder auch bewusst ignoriert werden. Es ist nötig, zu ihr als pro­blematischer Erfahrung Stellung zu nehmen. Erst diese Festlegung – die durchaus unbewusst stattfinden kann – lässt eine Situation hervortreten, einen orientierenden Fokus. Für eine solche Stellungnahme steht nun wiederum durchaus Material zur Verfügung. Mit dem Verlust der Bestimmtheit der laufenden Erfahrung geht zwar das orientierende Sinnganze verloren, aber dadurch rücken die konstituierenden Elemente dieser Erfahrung in den Vordergrund, wenn auch in isolierter und konfligierender Form. Um ein Beispiel zu nennen : Ein Geräusch schreckt im Schlaf auf, und es ist nicht klar, was jetzt passieren wird – ist es ein Ereignis, auf das reagiert werden muss, oder war es vielleicht noch Teil eines Traums ? In dieser Erfahrung liegt widersprüchliches Magisch« oder »transzendental« gedeutet werden muss (vgl. Hookway 2002a, 35– 37). 227 Thomas Burke (1994) rekonstruiert die Debatte zwischen Russell und Dewey. Er hebt insbesondere hervor, dass der Begriff der Situation sich der schlechten Alternative entzieht, wählen zu müssen zwischen einem realistischen Atomismus, wie Russell ihn vertritt, und einem allzu umfassenden Holismus, wie Russell ihn Dewey unterstellt. 288  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

terial vor : das Geräusch, der dunkle Raum, das Wissen, dass noch andere Menschen in der Wohnung leben, eine ins Bett ziehende bleierne Müdigkeit und zugleich die Sorge, dass vielleicht jemand Hilfe braucht. Der erste Schritt zur Untersuchung ist nun eine – notwendig vage – Festlegung darauf, was das Pro­blem sein kann. Diese Fest­ legung muss mit Vermutungen, Ahnungen und Anzeichen operieren. Von den vielen Möglichkeiten muss eine aufgegriffen werden, ohne Sicherheit freilich, damit richtig zu liegen. Dewey spricht von suggestions und indications, und auch davon, dass sich die Situation auf eine bestimmte Weise anfühlt (vgl. LW 4, 180 und 76). Diese erste Bestimmung der Situation ist also äußerst prekär und offen, sie ersetzt nicht die konkrete Arbeit der inquiry. Doch sie ist notwendig, um sich zu der Erfahrung der Unverfügbarkeit in irgendeinem Sinn produktiv in ein Verhältnis zu setzen. Die Situation bezeichnet also den konstitutiven Hintergrund, vor dem überhaupt erst ein bestimmter Gegenstand der Erfahrung sich als konkrete Ursache von konkreten Konsequenzen identifizieren lässt.228 Jede spezifische Beziehung setzt einen solchen Kontext voraus, um effektiv zu wirken ; doch die bewusste Praxis, die sich für den Fortgang der Erfahrung interessiert, fokussiert gewöhnlich auf die Beziehungen, die diese Erfahrung aktiv vorantreiben. Wir fokussieren beim Lesen die Entwicklung des Sinns der Buchstaben und nicht die Buchstaben als »existential things« (LW 6, 4). Dewey variiert hier James’ Gedanken, dass jede positive Erfahrungsgestalt von einem Rand (fringe) umgeben ist, ohne den diese keine Kontur hätte. Doch dieser »Rand« ist, wie Dewey gegen James hervorhebt, gerade kein zusätzliches Element, das zu dem fokussierten Gegenstand noch hinzuziehen ist (LW 5, 248, Fn. 1). Ein Gegenstand ohne Rand ist kein Gegenstand. Die Situation ist daher Ausdruck des umfassenderen praktischen Zusammenhangs, der den Gegenständen Bestimmtheit gibt. Eine Antwort auf die Frage, was dieser Zusammenhang ist – eine Antwort auf die Erfahrung der Unverfügbarkeit – muss daher immer ineins den Gegenstand und seinen relevanten Kontext mitbestimmen.229 Vgl. dazu besonders pointiert »Context and Thought« (LW 6, 3 – 21), wo auch das Wort »background« benutzt wird. 229 Matthias Jung (2009) nennt diese wechselseitige Bestimmungsarbeit 228

Deweys nicht-empiristischer Erfahrungsbegriff  |  289

§ 131  In Experience and Nature veranschaulicht Dewey die Suche nach angemessenen Antworten – was er auch schlicht »the pro­blem of experience« (LW 1, 277) nennt – am symbolträchtigen Beispiel der Beherrschung des Feuers. Seine Schilderung beginnt mit der Evokation eines historischen Anfangs, an dem nur wenig darüber bekannt ist, wie die Erfahrung des Feuers mit anderen Erfahrungen zusammenhängt. Hier hat Feuer eben jene individuelle und isolierte Qualität, die in der pro­blematischen Erfahrung aufscheint. In dieser historischen Phase ist Feuer nur Feuer, hervorgerufen durch unbekannte Kräfte, und stellt in diesem Sinne eine in sich geschlossene, nicht weiter zugängliche Erfahrung dar. Sie ist in einem pro­ blematischen Sinne unbestimmt, da unklar ist, was Feuer ist, seine Gefährlichkeit (und Faszination) jedoch feststeht. Die einzig verfügbare Möglichkeit, mit dieser hermetischen Erfahrung umzugehen, sei gewesen, sie wie eine Gottheit zu behandeln – also darauf zu hoffen, dass das Feuer von sich aus zu Gunsten des Menschen handelt : As long as men are content to enjoy and suffer fire when it happens, fire is just an objective entity which is what it is. That it may be taken as a deity to be adored or propitiated, is evidence that its ›whatness‹ is all there is to it (LW 1, 181).

Nur nebenbei sei hier angemerkt, dass Deweys Beschreibung die kultische Verehrung des Feuers (die auch nur angedeutet wird) nicht als unvernünftig bloßstellt. Diese Menschen waren nicht dumm. Sie etablierten eine Beziehung zum Feuer, jedoch eine, in der sie ihm weiterhin ausgeliefert waren. Deweys Hinweis auf die kultische Verehrung lässt sich auch so verstehen, dass mit diesen Mitteln gerade eine solche stabile Beziehung gesucht und, etwa in Form von Ritualen, auch reproduziert wurde. Die Logik dieser Verkettung entspricht nicht dem modernen wissenschaftlichen Verständnis : Die Evidenz wird nicht im Alltag oder im Labor, sondern im Ritual hergestellt ; das Mittel der Beeinflussung ist nicht die Technik, sondern die Beschwörung. Daher lässt sich diese Praxis auch als ineffektiv Arti­kulation und verweist auf die lange (insb. hermeneutische) Tradition dieser Ansicht. Charles Taylor (1988) gibt in einem klassisch gewordenen Aufsatz eine gut lesbare sprachtheoretische Erläuterung der Idee, dass Sinn durch den Prozess der Artikulation entsteht und nicht etwa einfach nur »expliziert« wird (vgl. auch Bertram et al. 2006 ; Niklas und Roussel 2013). 290  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

kritisieren, sofern ihr Ziel die Beherrschung des Feuers gewesen ist. Auch lässt sich rückblickend feststellen, dass in solche Rituale ganz andere (z. B. soziale) Faktoren hineinspielen, die wir heute für irrelevant für unsere Beziehung zum Feuer halten. Doch es bleiben intelligente Handlungen, rationale Weisen des Umgangs mit einer pro­blematischen Erfahrung.230 Dass wir die Möglichkeiten haben, rückblickend solche Unterscheidungen aufzustellen, ist nun wiederum – so Deweys Narrativ – einer praktischen Innovation zu verdanken. Die Fähigkeit, Feuer selbst herzustellen, änderte den Umgang mit ihm fundamental. Mit ihr konnten die Menschen Feuer in Handlungsfolgen einbinden, die es mit zunächst scheinbar völlig unverbundenen Tätigkeiten und Zusammenhängen in Beziehung setzt. Feuer wird etwas, das sich herstellen, kontrollieren und bewusst analysieren lässt : »when men come to the point of making fire, fire is not an essence, but a mode of natural phenomena, an order in change, a ›how‹ of historic sequence« (LW 1, 181). Das Pro­blem der Erfahrung wird also dadurch effektiver gelöst, dass die Fähigkeit gewonnen wird, die entsprechende Erfahrung zu reproduzieren. Wir können Feuer bewusst herstellen und müssen nicht warten, bis ein Blitz in ein trockenes Waldstück einschlägt. Dadurch entindividualisieren wir die Erfahrung. Sie wird in unterscheidende Sinnverkettungen eingereiht und somit aus der Isolation genommen. Die praktische Beherrschung des Feuers entfaltet das allgemeine Potenzial der unmittelbaren Erfahrung, neue, ungeahnte und nicht vorhergesehene Konsequenzen einzugehen. Feuer wurde selbst zunehmend zu einem Mittel, das in zahlreichen kognitiven und technischen Praktiken eingesetzt werden konnte. Feuer spielt eine zen­ trale Rolle für die Entwicklung der modernen Chemie, deren Beginn für gewöhnlich mit Lavoisiers Entdeckung des Sauerstoffs angesetzt wird – also mit der Entdeckung, dass Feuer eine chemische Reaktion ist und nicht etwa durch das Entzünden eines »Brennstoffes« ausgelöst wird, des sogenannten »Phlogistons«. Die Beherrschung des Feuers ermöglichte eine signifikante Verbesserung der Nahrung, da die Hitze Bakterien zum Absterben bringt, und trug mit Eine Lesart des Rituals als Praxis der Erfahrungsstabilisierung entwickle ich in Volbers 2014c. 230

Deweys nicht-empiristischer Erfahrungsbegriff  |  291

der Dampfmaschine wesentlich zur industriellen Revolution bei. All diese Entwicklungen sind nicht zwingend gewesen ; möglich wurden sie aber nur durch die praktische Einbindung des Feuers, durch die Praxis der Bestimmung einer qualitativ unmittelbaren Situation. Feuer wird zu einem »Etwas«, das sich in vielfältige Beziehungen zu anderen Erfahrungen setzen lässt und daher an Kontur gewinnt : »Fire is fire, inherently just what it is, but making fire is relational« (LW 1, 181). Diese Praxis des In-Beziehung-Setzens von Erfahrungen ist die allgemeine Form dessen, was Dewey Denken, inquiry oder auch Intelligenz nennt. Denken ist eine Reaktion auf die Erfahrung der Unverfügbarkeit, denn es versucht, die Verkettung von Erfahrungen wiederherzustellen. Diese Reaktion ist logisch auf die Zukunft ausgerichtet : Das Denken versucht, die Verkettung der Erfahrung in der Zukunft besser zu kontrollieren.231 Nur dadurch kann es die Kontinuität der Erfahrung der Willkür von Zufall oder Glück entreißen. Zugleich ist es aber sachlich auf die Gegenwart bezogen : Es geht darum, das Potenzial der unmittelbaren Erfahrung zu nutzen, da verstanden werden soll, wie mit diesem verwirrenden Phänomen intellektuell umgegangen werden kann. Aus dieser reflexiven Forderung ergibt sich für Dewey das Bedürfnis und die Notwendigkeit rationaler Praktiken : That an experience will change in content and value is the one thing certain. How it will change is the one thing naturally uncertain. Hence the import of the art of reflection and invention. Control of the character of the change … is the common business of theory and practice (MW 3, 143).232 Dies impliziert keineswegs, alle Phänomene auf Wiederholbarkeit auszurichten. »Kontrolle« kann hier auch einfach nur bedeuten, dass ein Phänomen als Einzelphänomen, in seiner Individualität, anerkannt wird (wir erwarten nicht, dass es sich reproduzieren lässt). Dewey sieht dies gerade in der Kunst verwirklicht, die Erfahrungen in ihrer Individualität zu kommunizieren versucht (Dewey 2008). 232 Im Zitat ausgelassen ist Deweys Zusatz, dass die Kontrolle der Erfahrung darauf zielt, in der Erfahrung einen »Wert« zu bewahren : Die Kontrolle gehe »in the direction of the worthful«. Diese Qualifikation ist missverständlich, denn es scheint, als würde Dewey hier das Verstehen der Erfahrung einem externen Maßstab unterstellen. Doch Deweys Vorstellung von »Wert« ist strikt praxis­ bezogen : Der Wert der Erfahrung, das Interesse an ihr, ist selbst etwas, was wir 231

292  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

§ 132  Die Kontrolle der Erfahrung erwächst aus der Erfahrung ; es ist die Erfahrung selbst, die das Pro­blem aufwirft, wie sie zu kontrollieren ist. Mit dieser Feststellung nimmt Deweys Postformalismus seine prägende Gestalt an. Freiheit und Abhängigkeit werden in der Erfahrung vermittelt. Die reflexive Forderung nach einer Kontrolle der Erfahrung ist der Versuch, die rein negative Erfahrung der Unverfügbarkeit in eine freie, da kontrollierbare Beziehung zu übersetzen. Diese Kontrolle zielt nicht einfach nur darauf, die Erfahrung des Zweifels zu beseitigen. Im Unterschied zu James ist Dewey nicht der Auffassung, dass das Ziel der inquiry sich darin erschöpft, ein abschließendes Gefühl der »Befriedigung« (James : satisfaction) zu erzeugen.233 Der Wert der inquiry bemisst sich daran, was sie effektiv ermöglicht, weshalb sie darauf angelegen sein sollte, die pro­ blematische Erfahrung einzubinden und produktiv werden lassen. Die Freiheit kann also nur mit der Erfahrung und ihrem kontingenten Verlauf gewonnen werden. Der von Dewey gewählte Begriff der Kontrolle ist, wie er selbst einräumt, missverständlich ; er legt Zwang, Gewalt und Äußerlichkeit nahe. Dewey versteht unter Kontrolle jedoch primär »an emphatic form of direction of powers« (MW 9, 29) und verwendet auch gelegentlich den Begriff der »direction«, also der Führung, als Synonym.234 Mit Blick auf die hier entwickelte Beschreibung wird die Kon­ trolle verständlich als der Versuch, nicht die jeweiligen Erfahrungen, sondern ihren Wandel, ihren Übergang, zu beeinflussen. Es gibt Wandel, er ist unvermeidbar ; jeder Erfahrung folgt eine weitere. Die Kontrolle besteht in der Fähigkeit, auf diesen Wandel Einfluss zu nehmen (oder auch in der Anerkennung der Grenzen der Einflussmöglichkeiten). Es entstehen allgemeinere Formen des Umgangs mit der Erfahrung, also kontrollierte Erwartungshaltungen, die eine aus vorigen Erfahrungen in die Erfahrung hineinlegen und steht damit nicht absolut fest. Vgl. dazu LW 1, Kap. 10, sowie die Ausführungen von Andreas Hetzel in Hampe 2018. 233 So bemerkt Dewey (LW 4, 181), in Anspielung auf James, dass man nicht das Gefühl der Gewissheit (»feeling of certitude«) mit der Gewissheit der Situation (»certified situation«) verwechseln darf. 234 So etwa in der Definition der inquiry als eine »controlled or directed« (LW 12, 108) Veränderung der Situation. Vgl. auch : »The authority of thought depends upon what it leads us to through directing the performance of operations« (LW 4, 110). Deweys nicht-empiristischer Erfahrungsbegriff  |  293

konkret sich einstellende Erfahrung als inhaltliches Moment einer Sequenz von Erfahrungen, als Teil einer allgemeinen Gestalt, verstehen. In dieser gebundenen Kontrolle, in der die Erwartung an die Erfahrung mit ihrem konkreten Antwortpotenzial verschränkt ist, liegt für Dewey die logische Allgemeinheit der Form begründet : We are brought to the conclusion that it is modes of active response which are the ground of the generality of the logical form, not the existential immediate qualities of that which is responded to. Qualities which are extremely unlike one another in their immediate (or ›sensible‹) occurence, are assimilated to one another (or are assigned to the same kind) when the same mode of response is found to yield like consequences (LW 12, 251).

Hier wird erkennbar, dass Dewey Logik – in dem Sinne einer Beschreibung von normativ bindenden Verhältnissen – und Wirklichkeit in den Begriff der Möglichkeit zusammenschließt. Die Kontrolle verbindet die unterschiedlichen Qualitäten, die unterschiedlichen Erfahrungen, weil sie es kann.235 Dieses Können ist keine Willkür, da es von den faktischen Übergängen in der Erfahrung abhängt, ob dies gelingt. Die erreichte Kontrolle wird, obwohl Ausdruck der Freiheit der Intelligenz, konstitutiv von der Erfahrung selbst getragen. Sie kann nicht von dem Erfahrungsbezug isoliert werden. Diese Abhängigkeit gilt auch in Gegenrichtung. Auch die konkrete Gestalt der Erfahrung ist abhängig davon, in welcher Art und Weise auf sie zugegriffen wird. Ihr Potenzial muss erst gehoben werden, die Verkettungen stellen sich nicht immer von selbst ein : »there is a scale of possible applications of concepts to existence, and hence a diversity of meanings« (LW 2, 5).236 Die Erfahrung ist abhängig davon, als etwas aufgefasst zu werden. In dieser irreduziblen Normativität liegt die eigentliche Freiheit der Intelligenz, wie Dewey – und mit ihm wohl der ganze klassische Pragmatismus – sie versteht. Das erfahrungsstrukturierende Denken hat ja die Ge Deweys eigenes Beispiel ist durch die Elektrodynamik gezogene Verbindung zwischen Blitz, Funken, dem Reiben von Bernstein und der Wahrnehmung eines Prickelns (»tingling situation«) durch elektrostatische Entladungen bei Berührung (LW 12, 251). 236 Dewey identifiziert diesen Gedanken als Peirce’ These, die für den ganzen amerikanischen Pragmatismus prägend sei. 235

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stalt eines Ausgriffs, einer Antizipation, einer Vorwegnahme von etwas, das noch nicht Wirklichkeit ist. Ohne diese Antizipationen würde die Erfahrung ihre Möglichkeiten ebenso wenig preisgeben wie die durch sie gesetzten Grenzen. Ohne sie gäbe es keine Erfahrung, sondern nur unvermittelte Einzeleindrücke ohne Gestalt und Struktur.237 Für Dewey ist somit nicht nur das Denken auf die Erfahrung angewiesen, sondern die Erfahrung auch auf das Denken. Er betont die Offenheit der Erfahrung, aus der heraus das Bedürfnis nach reflexiver Kontrolle erwächst, wie umgekehrt die Kontrolle darauf angewiesen ist, nur mit der Erfahrung zu funktionieren. Auf diese Weise dreht Dewey die formalistische Erklärungslogik vollständig um. Form und Inhalt werden nicht als selbständige Seiten gedacht, die erst in der Praxis in Beziehung zueinander treten. Vielmehr ist die Erfahrung selbst jene Praxis, als deren Momente Unterscheidungen von Form und Inhalt heraustreten. Das oben angeführte Beispiel des Feuers illustriert diesen Prozess : Es entwickeln sich Weisen des Umgangs mit dem Feuer, die als Form fungieren. Sie zeigen, wie Feuer zu verstehen ist. Die Beherrschung des Feuers ist eine Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Form und Inhalt, die das Pro­blem der Erfahrung bestimmt. Einmal etabliert, bestimmt diese praktische Form zugleich auch die Erfahrung des Feuers, so dass eine früher als unheimlich empfundene Bedrohlichkeit einem sorglosen Umgang weichen kann. Die Bestimmung des Feuers, seine praktische Bestimmung als Koch­ nische, Brandbombe oder Zündkerze, ist eine Weise, die Erfahrung des Feuers zu kontrollieren : experience is not a combination of subject matter and method, or an interaction of two independent factors, one of which supplies content and the other form. The distinction between these two matters is developed within experience itself, and arises for the sake of greater control of the course of experience (MW 7, 279 ; vgl. auch MW 9, 174). Entsprechend markieren Routine und Willkür die Grenzen der Erfahrung : In der Routine verzahnen sich Antizipation und Erfüllung so sehr, dass der antizipative Charakter, das Denken, keine Rolle mehr spielt ; in der Willkür (capricious impulse) entkoppeln sich die Antizipationen von allen wirklichen Konsequenzen (LW 10, 276 ; LW 1, 270). 237

Deweys nicht-empiristischer Erfahrungsbegriff  |  295

Am nächsten steht Deweys Postformalismus noch dem Bild, das McDowell entwirft : Erfahrung und Denken gehören für beide Autoren zusammen. Für sie ist Erfahrung normativ, und sie erläutern diese Normativität dadurch, dass Erfahrung immer Bedeutung hat. Doch das deklarative Erfahrungsverständnis führt bei McDowell dazu, dass er den objektiven Gegenstand der Erfahrung gleichsam stillstellt und als ein passives Ereignis konzipiert, das nur richtig aufgenommen werden muss. Die Normativität ist zwar in der Erfahrung, aber sie ist die Normativität des Begrifflichen und damit des Denkens. Das Resultat ist ein Intellektualismus, der eine Vorauffassung von Sprache und Vernunft auf das menschliche Weltverhältnis überhaupt projiziert. Historische Entwicklungen werden zwar eingeräumt, tragen aber nicht mehr substanziell zur Gestalt dieser Vernunft bei. Dewey erläutert die Normativität der Erfahrung dagegen gerade aus dem Prozess ihrer Entwicklung heraus. Die Normativität ist der Erfahrung immanent, und das noch vor jeder explizit kognitiven Bewertung. Die normative Operation, etwas als etwas aufzufassen, ist die Essenz des erfahrenen Weltbezugs. Erfahrung ist somit ein differenzieller Begriff, der immer über sich hinausweist. Erfahrung ist Orientiertsein, Angewiesenheit, gerichtete Offenheit. Das reflexive Denken (Deweys »Kontrolle«) ist in dieser Konzeption nicht etwas, das zur Erfahrung von außen hinzutritt. Es wird vielmehr aus dem Konflikt gewonnen, der aber ein Konflikt in der Erfahrung ist.

Denken als Erfahrung § 133  Im Folgenden werde ich vertiefend auf die genauere Struktur des Denkens eingehen, wie es mit Dewey verstanden werden kann. Dafür ist es hilfreich, einige Grundmerkmale von Deweys Erfahrungsbegriff festzuhalten. Es wurde gezeigt, dass Erfahrungen für Dewey in einem – praktisch konstituierten – Beziehungsganzen stehen, durch das einzelne Erfahrungen einen spezifischen Gehalt haben. Es wurde am Beispiel des Feuers darauf hingewiesen, dass Erfahrungen diese Beziehungen aus sich heraus entwickeln und dass es von den konkreten Anschlüssen abhängt, welche Gestalt sie annehmen. Und es wurde argumentiert, dass in der Erfahrung der 296  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

Unverfügbarkeit eine fundamentale Spannung zwischen Individualität und Allgemeinheit hervortritt, die konstitutiv für die Erfahrung selbst ist. Die These, dass sich Denken als Erfahrung begreifen lässt, hat nun eine doppelte Stoßrichtung. Sie besagt zum einen, dass die in­ nere Verfasstheit der Praxis des Denkens den allgemeinen Prinzipien der Erfahrung folgt. Damit lassen sich ihre oben genannten Merkmale auch auf die inquiry selbst anwenden. Vor allem die zeitliche Struktur sticht heraus : Die denkende Untersuchung startet in einer unbestimmten Situation, findet dann einen Anfang und hat idealerweise ein Ende (d. h., sie bricht nicht einfach ab). In ihrem Vollzug transformiert sie diese unbestimmte Situation in eine bestimmte Situation, d. h., sie entwickelt ein Beziehungsganzes, deren Momente ihre Bedeutung wesentlich aus der Entfaltung dieses Prozesses erhalten. Dewey unterscheidet in der Logik verschiedene Phasen238 der in­ quiry (LW 12, 105 – 120), von denen die Tätigkeit des Beweisens und Begründens (reasoning) nur ein Moment ist. Insgesamt lässt sich der Vollzug der inquiry in zwei Hauptphasen aufteilen (vgl. Frega 2012, 52–56). Eine Phase wird markiert durch das Urteil, mit dem die Untersuchung endet. Darunter ist weniger ein Aussagesatz zu verstehen als der Umstand, dass die pro­blematische Situation ge­ klärt worden ist. Das Urteil besteht somit nicht in einem einzelnen Ereignis, sondern schließt die Reihe der praktischen Eingriffe und Veränderungen ab, mit denen die Erfahrung der Unverfügbarkeit in neue Beziehungen eingebunden werden konnte. Das Urteil ist der Abschluss dieser transformativen Phase der inquiry. Den größten Anteil an der Untersuchung hat jedoch die Artiku­ lation der als pro­blematisch erfahrenen Situation. Im Erfordernis der Artikulation spiegelt sich der relationale Holismus der Erfah Die deutsche Übersetzung von Martin Suhr (Dewey 2002) betitelt das entsprechende Kapitel mit »Die Struktur der Forschung«. Das englische Original spricht dagegen von einem Muster der Forschung (pattern of inquiry). Das ist ein entscheidender Unterschied : Dewey behauptet gerade nicht, dass hier eine feste Struktur vorliegt, die jede Untersuchung aufweisen muss, um rational genannt zu werden. Es sind Verfahrensmuster, die sich als nützlich erwiesen haben, sowohl für sich genommen als auch in dieser Reihenfolge. Die Logik versucht, den Sinn dieser Phasen (d.i. den jeweiligen Beitrag zum Gesamtvollzug) reflektierend zu erläutern (ausführlicher Brown 2012, 280–298). 238

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rung : Die wichtigen Aspekte der Situation müssen herausgehoben und in Beziehung gesetzt werden, um sie zu verstehen ; es muss Material gesammelt werden, mit dem gearbeitet werden kann. Zu dieser Artikulation gehört die Identifikation wichtiger Aspekte der Situation, die Entscheidung zu bestimmten Verfahren, aber auch die Auswahl von relevanten Gegenständen und ihre Analyse. Diese Artikulation ist echte empirische (oder begriffliche) Arbeit ; zu ihr gehört beispielsweise das Sammeln von Messwerten, die Prüfung von Instrumenten oder der Gang ins Archiv, um Belege zu suchen. Da die Artikulation damit der Situation Kontur gibt, hat auch sie bereits einen transformativen Aspekt. Es werden Zusammenhänge gesucht und hergestellt, die für das Pro­blem von Bedeutung zu sein scheinen und die versprechen, zu seiner Lösung beizutragen. Es ist instruktiv, diese differenzierte Binnenanalyse der inquiry mit der Darstellung von Peirce zu vergleichen. Peirce’ Bescheibung (in EP II, 339 f.) ist nicht nur schematischer, sie kennt vor allem auch keine Phase der Artikulation. Der Experimentator, so Peirce, entscheidet sich dafür, welche Gegenstände er untersuchen will, manipuliert sie und nimmt dann – über den Kanal der Wahrnehmung  – »the subsequent reaction of the world« (EP II, 340) entgegen. Plan und Absicht des Experiments bleiben ganz in der Hand des Experimentators. Für Peirce ist das Experiment bei allem Zwang, den die Erfahrung dem Schließen auferlegt, eine sou­ veräne Befragung der Natur. Dewey jedoch räumt mit der Phase der Arti­kulation schon bei der Pro­blembestimmung der Welt selbst eine Rolle ein. Wieder also wird die Erfahrung hier nicht nur in ihrer passiv-nötigenden, sondern auch in ihrer aktiv-konstruktiven Dimen­sion berücksichtigt. § 134  Woher jedoch weiß Dewey, dass das Denken diese Verlaufsstruktur hat ? Mit dieser Frage kommen wir zum zweiten Sinn der These, dass das Denken als Erfahrung zu begreifen ist. Denken ist auch in seiner äußeren Verfasstheit Erfahrung, insofern es sich in »practical overt acts having a temporal quality« (LW 4, 19) herausbildet. Denken ist, so Dewey, ein »control-phenomenon« (MW 4, 123), das selbst empirisch beobachtet und eingegrenzt werden kann. Denken ist damit prinzipiell öffentlich zugänglich – weshalb das Experiment als paradigmatische Manifestation des Denkens in Be298  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

tracht kommt (so auch LW 4, 230). Wir können auf das Denken reflektieren, indem wir es selbst zum Gegenstand von Denken machen.239 Eine solche Reflexion ist, wie wir nun festhalten können, nicht spezifisch philosophisch. Die temporale Logik der Verkettung, die Praxis und Erfahrung durchzieht, lässt jeden isolierten Beobachterstandpunkt unnötig werden. Das Denken zu denken, nimmt bei Dewey die Form einer »inquiry into inquiry« an.240 Eine solche Reflexion findet bereits dann statt, wenn – so Deweys Beispiel – ein Bauer darüber nachdenkt, warum die letzte Ernte so mager ausgefallen war (LW 12, 107 f.) Eben aus dieser Reflexionsmöglichkeit speist sich ja, wie oben bereits argumentiert, die Normativität des Denkens : Wir schätzen ein, welche Konsequenzen dieses Vorgehen im Unterschied zu jenem hat, und sind an das Verfahren gebunden, das die – für das jeweilige Pro­blem – besseren Resultate erwarten lässt. Das Denken auch in seiner äußeren Verfasstheit als Erfahrung zu begreifen, heißt nun auch, dass die Frage, an welchem Maßstab wir diese »besseren« Verfahren letztlich erkennen können, keine abschließende Antwort hat. So wie die einzelnen Erfahrungen verweisen auch die einzelnen inquiries aufeinander, und so, wie sich die Gesamtgestalt der Erfahrung erst durch ihre spezifische Ver Diese These leugnet nicht, dass Denken auch »im Kopf« stattfinden kann. Der Punkt ist die normative Bindung des Denkens, also die Notwendigkeit, dass an Gedanken angeschlossen werden muss, damit sie Gehalt haben (vgl. Rouse 2007). Diese Bindung zeigt sich ganz offensichtlich, wenn ein Plan umgesetzt oder eine Idee handlungsleitend wird. Sie zeigt sich aber auch »im Kopf« : Beobachtung ist hier kein empiristischer Begriff, er schließt Introspektion mit ein. Aber eben keine logische Privatheit, wie sie zu Recht von Wittgenstein (1971) kritisiert wurde – unsere Gedanken lassen sich letztlich nicht von unserer Umwelt und Lebenswelt isolieren. 240 Dewey verwendet diesen Ausdruck in der Logik (LW 12, 28 ; vgl. auch 13 f.). Die Logik selbst interpretiert diese Beziehung formal, weshalb sie fast ausschließlich auf formale Aspekte der inquiry reflektiert. Da Denken, pragmatistisch gefasst, allerdings nie rein formal sein kann, ist auch Erfahrung und Natur ein solches reflexives Unterfangen, allerdings nun mit dem Fokus auf Geschichte und Naturwissenschaften sowie unter Ansetzung eines weiten Ratio­ nali­tätsbegriffs, der über die Wissenschaft im engeren Sinne (dem Hauptgegenstand der Logik) hinausgeht. Dort gebraucht Dewey den Ausdruck »criticism of criticisms« (LW 1, 298). 239

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kettung aufzeigt, nehmen auch die inquiries erst in ihren Bezügen ihre konkrete Gestalt ein. Dewey deutet den Begriff der Wahrheit um in ein prozessuales Gelingen, in dem Erwartung und Erfüllung zusammenspielen. Jenseits der logischen Bedeutung der Wahrheit von Aussagesätzen (»propositions«), die für Dewey nur innerhalb des Kontextes von Untersuchungen sinnvoll ist, bezeichnet Wahrheit »processes of change so directed that they achieve an intended consummation« (LW 1, 128). Wissen wiederum ist entsprechend als die Fähigkeit zu verstehen, solche Prozesse verlässlich zu initiieren. Eine Fähigkeit, die immer nur praktisch verstanden werden kann, weshalb für Dewey »etwas wissen« vor allem bedeutet, etwas so gut verstanden zu haben, dass der Geist dort »literally at home« sei und frei agieren könne (ebd.).241 Diese Definitionen verdeutlichen erneut, dass bei Dewey keine Rede davon sein kann, dass er die Suche nach Wahrheit und Wissen der subjektiven Willkür unterstellt. Auch ist die – etwa von Rorty (1982) – vertretene Auffassung falsch, Dewey fordere dazu auf, die Suche nach Gründen und Rechtfertigungen aufzugeben. Deweys Konzeption des Wissens bietet eine Rekonstruktion der traditionellen Vorstellung an, die durchaus an der Kernidee festhält, dass Wissen und Wahrheit nicht unserer Willkür unterliegen und dass sie gerade deshalb wertvoll sind. Die Bestimmung des Wissens als die Möglichkeit, den Wandel der Erfahrung kontrolliert zu beeinflussen, ist eine radikal realistische Konzeption. Sie begreift Wissen als Teil einer Natur im Werden, als eine Ursache unter anderen.242 Eine weitere Konsequenz der Objektivierung des Denkprozesses ist, dass es nicht mehr die eine Form des Denkens geben kann. Über die allgemeine Formel hinaus, dass Denken in der Tätigkeit besteht, Mittel und Konsequenzen in Beziehung zu setzen – »an affair of the relation of means and consequences« (LW 12, 17) –, muss jede Spezifizierung der Ratio­nali­tät einen Kontext nennen. Wittgensteins Diskussion der holistischen Einbettung von Aussagen wie »Ich weiß, dass die Erde rund ist« zielt auf einen vergleichbaren Punkt (Wittgenstein 1997). Sie sind so basal für unser Welt- und Selbstverständnis, dass ihre Revision uns gleichsam den Boden unter den Füßen wegzöge. Vgl. dazu die Ausführungen von Sandra Laugier 2002. 242 Eine explizite Verteidigung von Deweys Realismus bieten Sleeper 2001 sowie neuerdings Godfrey-Smith 2016. 241

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Denken und Wissen realisieren sich in verschiedenen Formen, in der Mathematik ebenso wie in der Medizin, in den Künsten ebenso wie in Kulten. Dewey selbst ist zuweilen zögerlich, all diese Reflexionspraktiken unter den Oberbegriff des Denkens zu subsumieren. So habe die symbolisch operierende Physik längst ihre Verbindung zu den Künsten verloren, die im Medium des Sinnlichen operieren (LW 10, 154). Gleichwohl betont Dewey die gemeinsame instrumentalistische Form, die das abstrakteste Denken mit der unmittelbar erfahrungsgeleiteten Reflexion teilt : Es sind vermittelnde Operationen. Wichtig ist vor allem, im Gedächtnis zu behalten, dass das »Gut« dieser praktischen Reflexion – ihre normative Bindung – nicht aus einem vorgegebenen, d. h. außerpraktischen Verständnis der Vernunft abgeleitet werden kann. Nicht zuletzt darin besteht ein Unterschied zwischen den mannigfaltigen Formen, die das Denken praktisch annimmt : Es geht jeweils um etwas anderes. Und um was es geht, steht, wie alle Erfahrung, in der steten Spannung zwischen Erwartung und Realisierung dieser Praktiken. Es ist Gegenstand von Neubestimmungen, Kritiken und Umdeutungen. § 135  Die inquiry ist, so lässt sich die obige Erläuterung zusammenfassen, eine Praxis der Erkundung von Möglichkeiten. Sie sucht im Lichte der pro­blematischen Situation Beziehungen zu etablieren, indem sie die vorhandenen Beziehungen und Potenziale deutet, präzisiert und lenkt. Wissen, praktisch verstanden als die Fähigkeit, bestimmte Konsequenzen verlässlich herzustellen, ist in diesem Modell sowohl das Resultat der inquiry als auch Mittel ihres Vollzugs. Doch nicht jedes Resultat einer Untersuchung ist epistemisch. Deweys eigenes Beispiel für das abschließende Urteil einer Untersuchung ist der Gerichtsprozess (LW 12, 123 – 142). Dieser endet mit einem Richterspruch, der kaum als Wissen im epistemischen Sinne bezeichnet werden kann. Der allgemeine Grund dafür, dass Wissen gesucht wird, ist die Möglichkeit, nach der erfolgreichen inquiry die Notwendigkeit einer Untersuchung vergessen zu können. Wir suchen also gerade Wissen, weil das Leben nicht ausschließlich (sogar überwiegend nicht, vgl. LW 1, 227) intellektuell und rational gelebt wird. Nur die Forscherin wird herausgehoben als ein Mensch, der den Zweifel aktiv sucht : »The scientific attitude may almost be defined as that which is capable of enjoying the doubtful« (LW 4, 182). Denken als Erfahrung  |  301

Deweys Verallgemeinerung, das Resultat der inquiry sei »warranted assertability«, also berechtigte Behauptbarkeit, kann nicht als ein Synonym für den epistemischen Begriff des Wissens gelten, der auf Gegenstandserkenntnis zielt. Es ist eher eine Neubeschreibung dessen, worauf das Denken zielt : Auf die Möglichkeit, mit dem Resultat des Denkens arbeiten zu können. Ein Gerichtsurteil, um bei dem Beispiel zu bleiben, dient wieder als Basis für weitere Urteile ; gerade im amerikanischen case law, auf das Dewey sich bezieht. Und es kann – wie auch das epistemische Wissen – durch neue Urteile korrigiert, ergänzt oder gar aufgehoben werden. Und schließlich ist es die Basis von zahlreichen weiteren Akten, die auf dieses Urteil als Fakt rekurrieren. Oder, um es in Deweys Vokabular zu formulieren : Das Urteil hat dann die Kraft eines Faktums und zieht stabile Konsequenzen nach sich. Funktional gesehen nimmt es damit die Rolle von Wissen ein : Every reflection leaves behind it a double effect. Its immediate outcome is … the direct reorganization of the situation … Its indirect and intellectual product is the defining of a meaning which (when fixed by a suitable existence) is a resource in subsequent investigations (MW 10, 356).

Was diese Überlegungen andeuten, ist eine Logik der wechselseitigen Stützung der Ergebnisse und Mittel des Denkens über Zeit und Raum. Ein von Dewey oft gewähltes Beispiel intelligenter Kontrolle ist die Gewinnung von Eisenerz aus Gestein : »thinking is no diffe­ rent in kind from the use of natural materials and energies, say fire and tools, to refine, reorder, and shape other natural materials, say ore« (LW 1, 61). Wenn wir uns auch nur im Ansatz vor Augen halten, welche Möglichkeiten bereits etabliert sein müssen, um »reines Eisen« zu erhalten, fällt schnell auf, dass die einzelne erfolgreiche inquiry immer fest verwoben ist mit einem ganzen Netz von Praktiken und Voraussetzungen. Wer Eisen »im« Gestein verortet, geht davon aus, dass sich Gestein ausgraben lässt, dass es physisch und chemisch verarbeitet werden kann, dass es sich schmelzen und chemisch analysieren lässt. Es wird ein gewisser Grad an Arbeitsteilung vorausgesetzt, etwa um das Gestein ans Tageslicht zu holen und dann zu verarbeiten. Es muss die Möglichkeit geben, Gestein und Eisen zu transportieren. Auch wird angenommen, dass es eta302  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

blierte Verfahren gibt, um »reines« Eisen von »unreinem« Eisen zu unterscheiden. Obgleich das Denken also immer durch eine »lokale« Erfahrung der Unverfügbarkeit mit seinem Gegenstand konfrontiert wird (etwa durch die Frage, ob dort wirklich Eisen vorhanden ist), greift diese Tätigkeit auf eine global verfügbare Vielzahl von Verfahren, Werkzeugen, Begriffen und Praktiken zurück, die räumlich und zeitlich über diese lokale Situation hinausgehen. Um die inquiry zum Erfolg zu führen, müssen Mittel angewendet werden, die bereits in anderen Kontexten und Situationen ihre Wirksamkeit gezeigt haben und eine bekannte, d. h. vor allem verlässliche Form haben. Die Situation muss supplementiert werden. Dadurch wird die jeweilige inquiry in ein objektivierendes Netz von Beziehungen und Praktiken eingebunden. Tatsächlich ist dieser Zusammenhang für Dewey ein notwendiger. Die Untersuchung muss auf Mittel zurückgreifen, die der Situation extern sind, gerade weil die Situation selbst, als unbestimmte, keine verlässlichen Anhaltspunkte geben kann. Dies macht es ja erforderlich, das Pro­blem weitergehend zu artikulieren : Die bloße Möglichkeit, dass es sich um dieses Pro­blem handelt, muss in eine wirkliche Möglichkeit überführt werden. Dewey nennt als Beispiel eine Reflexion über einen undeutlichen Lichtpunkt im Teleskop (»speck of light«). Indem wir schließen, dass hier ein Komet vorliegt, wird es möglich, alle etablierten Schlüsse, die wir mit Kometen verbinden, nun auch auf diesen Lichtpunkt zu übertragen, ohne diese Beziehungen selbst beobachtet haben zu müssen. Jetzt erst kann die Untersuchung zu einer Entscheidung kommen. Das ganze Wissen, »that the astronomers of the past have learned«, wird nun verfügbar und kann produktiv genutzt werden : »Supplementation then takes place.«243 Diese Einsetzung muss noch keine Lösung des Pro­blems sein ; es kann sich herausstellen, dass hier ein ganz anderes Phänomen beobachtet wurde. Aber sie öffnet Wege, mit dem Phänomen zu arbeiten.

LW 8, 238 ; vgl. auch LW 1, 115 : »The possibility of regulating the occurence of any event depends upon the possibility of instituting substitutions.« 243

Denken als Erfahrung  |  303

§ 136  Die Notwendigkeit der Supplementierung in jeder inquiry hat eine wichtige Konsequenz : Das Mittel, das zur Artikulation und Transformation der Situation verwendet wird, erfährt durch die Untersuchung selbst wieder eine Veränderung. Der Einsatz im Rahmen der inquiry, die ja mehr sein soll als bloße Routine, schlägt auf das Mittel selbst zurück – es wird verfeinert oder verworfen, es muss neu verstanden werden oder erweist sich als ganz untauglich. Die neue praktische Form des Gebrauchs verändert das ursprüng­ liche Material, da es sich an ihm neue Möglichkeiten gezeigt haben : »the use reshapes the prior materials« (LW 1, 217). Angesichts der Pluralität von Zielen und Gegenständen, die der Untersuchung unterworfen werden, sieht Dewey in dieser Einbindung die Erklärung für die Vielfalt logischer Formen (LW 12, 11). Je nachdem, wozu eine Untersuchung dient, haben sich unterschiedliche Mittel etabliert und bewährt : Textanalyse oder Labortest, mathematische Formel oder therapeutisches Gespräch. Die Supple­mentierung öffnet also die Untersuchung auf eine Vielfalt von Formen hin. Die Mittel differenzieren sich oder werden selbst zu Gegenständen von Untersuchungen. Sie trennen und verbinden : Der Politiker schreibt eine E-Mail ; der Ingenieur verarbeitet in seine Technologie physikalische Einsichten ; die Physikerin stützt sich auf Mathematik ; und die Mathematikerin notiert sich ihre Überlegungen auf einer Tafel. Damit gibt die Notwendigkeit der Supplementierung ein Argu­ ment zur Hand, warum es sinnvoll ist, eine Pluralität von Methoden und Untersuchungen zu haben. Sie erhöht die Chance, den Gegenstand sachangemessen zu behandeln : »each type of subject-matter is entitled to its own characteristic categories, according to the questions it raises and the operations necessary to answer them« (LW 4, 172). Es kommt schließlich darauf an, dass die Mittel mit den spezifisch relevanten Aspekten der Situation interagieren können. Diese Vielfalt erstreckt sich nicht nur auf eine Vielfalt von Disziplinen oder Themen. Sie schließt auch die Anerkennung ein, dass der Mensch bereits als natürliches Wesen über eine Vielfalt von Möglichkeiten verfügt, sich zu pro­blematischen Situationen in Bezug zu stellen. Die von der Philosophie präferierten kognitiven Mittel (der Sprache) sind nur ein Aspekt. Auch der Körper und das Selbst sind Mittel (Formen) der Welterschließung. 304  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

Die stete Einbindung von Mitteln in neue Kontexte darf dabei nicht teleologisch als eine Verwirklichung einer umfassenden Vernunft gedacht werden. Es ist kontingent, welche Mittel zur Verfügung stehen, und es ist offen, wie sehr sie tatsächlich zur Lösung von Pro­blemen beitragen. Effektive Mittel müssen gefunden werden. Diese Kontingenz steht für Dewey durchaus auch hinter Entdeckungen, die uns im Nachhinein wegen ihrer großen Bedeutung als notwendig und unverzichtbar erscheinen. Er nennt als Beispiel die Sprache (auf die wir gleich unten noch einmal zurückkommen werden) : Language, signs and significance, come into existence not by intent and mind but by overflow, by-products, in gestures and sound. The story of language is the story of the use made of these occurences ; a use that is eventual, as well as eventful (LW 1, 139).

Die Entstehung der Sprache wird hier als ein kontingenter (»eventual«) Prozess beschrieben, in dem die einzelnen Ereignisse eine tragende Rolle spielen (»eventful«). Diese Entwicklung schreitet voran durch eine Nutzung von Nebenprodukten (Klänge und Gesten), die dann aber zu einer Hauptsache werden. Das anfängliche Nebenprodukt wird Teil einer historischen Abfolge, die von ihrem End­resultat betrachtet sich von den ersten zaghaften Veränderungen weit entfernt haben kann. Hier stoßen wir wieder auf das Prinzip der Artikulation, aber in einem offenen Sinne, ohne den übergreifendes Rahmen einer kontrollierenden inquiry. Bei der Sprache etwa führt der Weg über die gesprochene Sprache zur Schriftsprache, zur natio­nalen Homogenisierung von Sprachgemeinschaften, zur sozia­len Distinktion durch sprachliche Codes und zu der Entwicklung von formalen Sprachen wie der Mathematik. Die Sprache gliedert sich vertiefend in einzelne zusammenhängende Teile aus, sie artikuliert sich, ohne dass dahinter ein übergreifendes Prinzip der Vernünftigkeit stünde.244 Matthias Jungs äußerst hilfreiche Ausführungen zur Artikulation scheinen mir diese materialistische Basis nicht immer angemessen zu berücksichtigen, insofern Artikulation dort primär als der Akt verstanden wird, etwas »sich und andere[n] verständlich [zu] machen« (Jung 2009, 12). Das rückt einen universalen »Willen zum Verstehen« in den Rang eines Entwicklungsprinzips. Mein Vorschlag ist, die Artikulation objektiver als eine semiotische Verkettung 244

Denken als Erfahrung  |  305

Da Mittel in (für sie) neue Kontexte eingebunden werden müssen, um neue Formen der Untersuchung zu etablieren, kann diese Einbindung nicht von vornherein erschöpfend durch allgemeine Leitlinien oder Prinzipien reguliert werden. Es muss sich zeigen, welchen Wert ihr Einsatz hat. Dewey dreht damit die szientistische Erläuterung der Vernunft um : Das Denken ist nicht etwas Allgemeines, das auf etwas Besonderes stößt. Für Dewey ist Denken eine besondere Situation, die auf unterschiedliche bestehende Mittel zurückgreift. Für Dewey gilt : »there cannot be intrinsic degrees, or hierarchies of forms of judgments« (LW 2,18). Es gibt nicht das Pro­blem des Zugangs zur Welt, das sich dann aus philosophischer Höhe lösen ließe. Das Pro­blem des Zugangs zur Welt, wenn wir es denn in der Einzahl formulieren wollen, ist das allgemeine praktische Pro­blem der Erfahrung – die Überwindung der desorientierenden Erfahrung der Unverfügbarkeit. Dieses Pro­blem nimmt so viele Formen an, wie es Erfahrungen gibt. Wir haben einen vielfältigen Zugang zur Welt durch die nicht zu beruhigende und doch immer neue Erfahrung des Konflikts sowie durch die damit korrespondierende Pluralität von Erfahrungen und Erfahrungsweisen. Nicht nur unterscheidet Dewey zwischen unterschiedlichen kognitiven Praktiken mit jeweils unterschiedlichen Zielen und Reichweiten, etwa in Wissenschaft und Alltag. Auch spielen über den kognitiven Zugang hinaus auch Gefühle eine welterschließende Rolle sowie die ethische Sorge um die Verwirklichung von Plänen und Hoffnungen. Auf allen diesen Ebenen sind wir auf die Welt bezogen, und die Kunst der Intelligenz besteht darin, die für das jeweilige Sachpro­ blem relevanten Einflüsse und Faktoren zu identifizieren. § 137  Um effektiv als wiederholtes Mittel angewendet werden zu können, muss das Supplement verkörpert sein. Etwas muss für etwas einstehen können – es muss, mit anderen Worten, eine Relation verkörpern können, ohne sie zu sein. Diese Fähigkeit schreibt Dewey Werkzeugen und letztlich vor allem der sprachlichen Kommunikation zu. Der Begriff des Werkzeugs ist dabei weit gefasst als zu sehen, die aus durchaus kontingenteren und widersprüchlichen Motiven faktisch stattfindet. 306  |  Die pragmatistische Transformation der Erfahrung 

jedes Mittel (und damit auch jedes praktische Verfahren), das zu bestimmbaren Konsequenzen führt. Diese kulturell verankerten Mittel stellen gleichsam ein Repertoire von Möglichkeiten zur Verfügung. Ohne sie, so Deweys Überzeugung, wäre eine über die unmittelbaren organischen Bedürfnisse hinausgehende inquiry nicht möglich : Effective participation [in the course of events] depends upon the use of extra-organic conditions, which supplement structural agencies ; namely, tools and other persons, by means of language spoken and recorded (LW 1, 261 ; auch : MW 7, 188).

Wie das Zitat deutlich macht, erlaubt für Dewey vor allem die Sprache – die Dewey primär als Kommunikation begreift – jene kulturelle Verankerung der inquiry und damit ihre realistische Vertiefung. Durch Sprache können wir scheinbar unverbundene Ereignisse in Beziehung setzen, und zwar deshalb, weil sprach­liche Zeichen kommuniziert und transportiert (»recorded«) werden können. Indem wir Erfahrungszusammenhänge in der Sprache zum Ausdruck bringen, lassen sich Kontexte verbinden, die auf einer rein praktischen Ebene nie in Berührung kommen würden. Die Sprache erlaubt es, so ein Beispiel von Dewey, das Zeichen »Wolke« aus dem konkreten Erfahrungszusammenhang zu nehmen und mit solchen Phänomenen wie Druck, Bewegungsgesetzen oder der Rotation der Erde in Verbindung zu bringen (LW 12, 59). Sprache erlaubt es, Verhältnisse probeweise in Verbindung zu bringen, in einer Art imaginärem Experiment ; sie ist die Grundlage bewusster, sich der Handlung noch enthaltender Deliberation (MW 14, 132 – 138). Die Sprache steigert das Potenzial zur Welterschließung enorm, und das nicht nur als Gewinn an Kontrolle, sondern auch als Gewinn an Möglichkeiten des Genusses, da vormals unbedeutende Erfahrungen nun mit Bedeutung aufgeladen werden können (LW 1, 133). Obgleich Dewey der Sprache ganz offensichtlich ein befreiendes Potenzial zuschreibt, führt sie ein Muster fort, dass wir bereits beschrieben haben : Die Macht der Sprache besteht in ihrer Fähigkeit, Konsequenzen und Implikationen zu erfassen und sie als Konsequenzen zu behandeln. Sie erlaubt die explizite Thematisierung der Beziehung zwischen der sprachlich verkörperten Bedeutung und Denken als Erfahrung  |  307

der faktischen Konsequenz, die eintreten muss. Dewey verdeutlicht dies an dem Beispiel eines Hebels : Ein Ast (stick), einmalig als Hebel benutzt, »would revert to the status of being just a stick, unless the relationship between it and its consequences were distinguished and retained« (LW 1, 147). Die Sprache ermögliche es, eben diese Beziehung unabhängig von ihrer Verwirklichung zu erfassen. Sie erfasst die Möglichkeit als Möglichkeit. Freilich ist es fraglich, ob die menschliche Sprache allein ein solches Verständnis ermöglicht. Dewey sieht die Sprache als »the tool of tools«, weil sie es erst ermögliche, instrumentelle Effekte in Werkzeugen abstrahiert wahrzunehmen und ihnen damit eine Bedeutung (im Sinne einer erwartbaren Konsequenz) zuzuschreiben. Die Sprache ist damit die Bedingung für Werkzeuggebrauch. Für ihn ist deshalb klar, dass Tiere nicht denken können, weil sie keine Werkzeuge benutzen (LW 1, 146) – eine These, die aus heutiger Sicht als widerlegt gelten kann, wo sogar Raben bereits der intelligente Gebrauch von Werkzeugen nachgewiesen worden ist (Shumaker et al. 2011). Es ist daher produktiver, davon auszugehen, dass mit der Sprache ein koordinierendes Verhalten generalisiert wird, das sich bereits auf der organischen Ebene findet und das die Sprache entscheidend überformt. Schließlich werden Signale sogar schon bei Pflanzen kommuniziert, und sogar Vögel können Werkzeuge einsetzen. Doch diese Diskussion kann hier nicht geführt werden.245 Eine solche alternative Einordnung der Sprache ließe sich jedenfalls mit Deweys These vereinbaren, dass Sprache vor allem durch die Leistung zu charakterisieren ist, das Wissen um Konsequenzen zu teilen. Er verbindet die Sprachverwendung mit der Fähigkeit, sich mit anderen gemeinsam (triangulierend) auf eine Situation zu beziehen. Die Sprache ist somit ein Mittel, Konsequenzen so zu fassen – nämlich begrifflich –, dass sie mit anderen geteilt, also mitge Die besondere Rolle der Sprache bei Dewey hebt Sleeper (2001, insb. 117) hervor. Dewey beschreibt die Sprachwerdung des Menschen als Gattung übrigens in Begriffen, die der in Kapitel 4 vorgestellten aristotelischen Auffassung eines grundlegenden Wandels der Form des Weltbezugs sehr nahekommt : »The consequences of partaking in communication modify organic ways of acting ; the latter attain new qualities« (LW 1, 222 ; vgl. auch 132). Eine fundierte kritische Diskussion von Deweys Sprachverständnis bietet Jasper Liptow (in Hampe 2018). Eine informierte Verteidigung des spezifisch menschlichen Umgangs mit Werkzeugen findet sich bei Holloway 1992. 245

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teilt, werden können. Sie drückt letztlich selbst eine Beziehung aus, nämlich die mit den anderen Sprachverwendern geteilte Möglichkeit, einen Gegenstand so, auf diese oder jene Weise, zu verstehen (LW 1, 145).

Denken als Erfahrung  |  309

Die Möglichkeit der Autonomie § 138  Mit Deweys postformalistischem Erfahrungsbegriff, der Erfahrung und Denken als genuin praktisch vermittelt begreift, kommen wir zum Schluss unserer Untersuchung. Ich werde nun abschließend darauf eingehen, wie in dieser Perspektive konkret der Begriff der rationalen Autonomie verstanden werden muss, der uns in der Diskussion als Ausgangspunkt und ständiger Leitfaden diente. Erst der moderne Gedanke, dass Kritik ein wesentliches Merkmal der Vernunft darstellt, erzeugt ja das hier diskutierte Pro­ blem, wie dieser Anspruch auf Kritik mit der Forderung verbunden werden kann, im Denken gleichzeitig durch Erfahrung irritierbar zu bleiben. Ist es nun überhaupt noch möglich, nach der postformalistischen Zurückweisung einer strikten Opposition von Selbst und Welt noch diesen Anspruch auf Kritik zu erheben ? Wir stellen uns hier also die Frage nach der Möglichkeit der Autonomie in einem postformalistischen Setting, und ich werde im weiteren Verlauf dieses Kapitels argumentieren, dass freie kritische Selbstbestimmung mit Dewey in einem doppelten Sinne als eine Möglichkeit verstanden werden muss. Autonomie im modernen Verständnis ist, erstens, eine Möglichkeit, die zwar in der Erfahrung angelegt, aber damit noch lange nicht Wirklichkeit ist. Autonomie muss praktisch realisiert werden, durch die Etablierung von Praktiken, die diesem Potenzial Gestalt geben. Auf die Frage, welche konkrete Gestalt diese Praxis in der Moderne annehmen muss, werde ich hier jedoch nicht eingehen. Ich werde also nicht diskutieren, welche gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Faktoren nun Autonomie fördern oder nicht.246 Diese Diskussion sprengt den Rahmen dieser Untersuchung, die fokussiert ist auf das systematische Pro­blem der Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Erfahrung. Einen Eindruck von Deweys Position zu dieser Frage geben seine Essays »Philosophy and Civilization« (LW 3, 3 – 10) sowie »Philosophies of Freedom« (LW 3, 92 – 115). 246

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Stattdessen möchte ich herausarbeiten, dass postformalistische Autonomie auch in einem zweiten Sinne als eine Möglichkeit verstanden werden muss : Sie ist strukturell gebunden an die Opera­tion, dass die Akteure der Praxis sich selbst als entscheidende Faktoren begreifen, die zur konkreten Gestalt der Erfahrung aktiv beitragen. Dieses Selbstverständnis aber, und das ist ein entscheidender Unterschied zum Formalismus, ist jedoch eine im Prinzip fallible Unterstellung von Handlungsfähigkeit. Die Akteure nehmen für sich (und gegenüber anderen) in Anspruch, auf den weiteren Verlauf der Praxis Einfluss nehmen zu können. Diese Unterstellung hat einen irreduzibel projektiven Charakter, insofern hier eine Möglichkeit behauptet wird, die sich erst noch verwirklichen muss. Zugleich aber ist diese Unterstellung die Bedingung dafür, dass überhaupt erst gehandelt wird, und somit eine notwendige Projektion der eigenen Handlungsfähigkeit. Das kritische »Selbst« wird in diesem Verständnis also eingereiht in die allgemeine Logik der Orientierung an Konsequenzen, die das pragmatistische Verständnis der Erfahrung durchzieht. Das kritische Selbstverständnis ist weder eine bloße Zuschreibung von außen noch das direkte Abbild eines Zusammenhangs, der immer schon Bestand hatte : Es ist ein formgebendes Verhältnis zu den eigenen Möglichkeiten, die fallible und zugleich aber überhaupt erst Handlungsweisen eröffnende Stellungnahme dazu, was »wir selbst« sind und sein können. § 139  Zum Einstieg in diese Diskussion werde ich kurz den Startpunkt der Untersuchung und ihren Verlauf rekapitulieren, um daraus eine Vorstellung davon zu gewinnen, welche explanatorische Last ein postformalistischer Autonomiebegriff tragen muss. Vernunft, so lautete die Ausgangsthese, ist in dem modernen Sinne kritisch, insofern sie den Anspruch erheben kann, dass sie die von ihr selbst gewonnenen Inhalte reflexiv korrigieren kann. Dieser Anspruch spricht sich paradigmatisch insbesondere in Kants Auffassung aus, wonach Vernunft wesentlich als kritische Selbstbestimmung zu verstehen sei. Autonomie ist in diesem Bild keine Zutat, die der menschlichen Intelligenz noch zusätzlich zukommt, sondern ihr (den Menschen zugleich verpflichtendes) Konstituens. Seit der Einführung dieser modernen Idee im ersten Kapitel haben wir uns weit von diesem kantischen Bild entfernt. Am ehes312  |  Die Möglichkeit der Autonomie 

ten noch findet es sich im Logischen Positivismus, der die formale Logik als autonom und die menschliche Vernunft wiederum als logisch (in diesem formalen Sinne) begreift. Die spezifisch forma­ listische Ausrichtung des Autonomieverständnisses des Wiener Kreises verdankt sich unter anderem der historischen Entwicklung der Wissenschaft und ihrer Theo­rien seit Kant. Es hatte sich eindrücklich gezeigt, wie kritisch die wissenschaftliche Ratio­nali­tät sein kann – so kritisch, dass es den Mitgliedern des Wiener Kreises als ratsam erschien, in Konsequenz jegliche inhaltliche Festlegung der Vernunft zu vermeiden (und eine solche sogar als »Meta­physik« zu verurteilen, was wiederum ihr Bekenntnis zur rationalen Autonomie spiegelt). Diesen Formalismus lehnen alle anderen hier ausführlicher behandelten Autoren ab, und diese Kritik entzündet sich, wie wir an Davidson und McDowell gesehen haben, gerade am Begriff der Erfahrung. Der Formalismus der Erfahrung mündet immer wieder in den Skeptizismus. Um die Autonomie des Denkens zu bewahren, muss er den durch die Erfahrung bewirkten »Kontakt« zur Welt auf eine scheinbar neu­trale Grundlage stellen, was jedoch, wie Davidson überzeugend zeigt, letztlich immer wieder zu einem Skeptizismus und Relativismus führt. Mit McDowell wurde hier argu­mentiert, dass die richtige Folgerung aus dieser Diagnose aber nicht darin bestehen kann, den Erfahrungsbegriff – wie Davidson vorschlägt – in seiner epistemischen Funktion ganz aufzugeben. Vielmehr ist es erforderlich, eben diese Forderung nach Neutralität aufzugeben : Der erfahrende Bezug zur Wirklichkeit kann nicht in scheinbar inhaltlich unverdächtigen Begriffen wie »Sinnesdatum«, »Nervenreiz« oder »kausaler Stimulus« beschrieben werden. Hinter solchen Neutralisierungen steht, so McDowells zeitkritische Dia­ gnose, letztlich ein szientistischer Naturalismus, der nicht mehr bereit ist, die Natur als intrinsisch bedeutungsvoll anzusehen. Der Kern dieser Kritik von McDowell ist, dass der Formalismus die Freiheit der reflexiven Autonomie falsch versteht. Um der Vernunft die Freiheit der kritischen Stellungnahme zu bewahren, soll die Natur (die Wirklichkeit) dem Denken nur als ein Input ohne eigenen normativen Anspruch dienen. Damit wird jedoch jene Konstellation erzwungen, die Davidson so treffend als Dualismus von Schema und Gehalt kritisiert. Alternativ muss also versucht werden, Die Möglichkeit der Autonomie  |  313

die Freiheit der Vernunft als eine gebundene Freiheit zu verstehen und die Autonomie der Vernunft als inklusiv zu begreifen. McDowells eigener philosophischer Entwurf kann jedoch, wie sich zeigte, diese alternative Auffassung auch nicht vollständig einlösen. Sie steht noch zu sehr unter dem Einfluss einer Vorfestlegung des Wiener Kreises, die auch noch ihre postanalytischen Kritiker teilen : dass der Erfahrungsbezug am Paradigma der hinweisenden Deklaration philosophisch thematisiert werden sollte. Dieser deklarative Erfahrungsbegriff erweist sich als entscheidendes Hindernis für eine adäquate moderne Artikulation der Erfahrung. Er führt eine fundamentale Passivität in die Erfahrung ein, die es nicht mehr verständlich werden lässt, wie die Erfahrung das Denken noch reflexiv belehren kann. Solange Erfahrung als etwas Gegebenes verstanden wird, das sich einstellt und zu dem wir dann erst in Freiheit Stellung nehmen, ist der Skeptizismus letztlich unvermeidbar – ob wir dieses Gegebene nun neu­tral (als Stimulus) oder begrifflich strukturiert denken. Die beiden in diesem Buch behandelten pragmatistischen Autoren – Peirce und Dewey – entwickeln einen Erfahrungsbegriff, der diese deklarative Konzeption effektiv unterläuft. Er betont die Akti­ vität der Erfahrung, ohne dabei das realistische Motiv preiszugeben, welches das deklarative Verständnis plausibilisiert. Die Erfahrung soll ja das Denken in der Wirklichkeit selbst verankern, es an die Sache binden. Die moderne wissenschaftliche Praxis des Experiments zeigt in pragmatistischer Perspektive, dass diese Bindung sich nicht darin erschöpft, dass Erfahrungen sich passiv einstellen. Indem das Experiment auf widerständige Erfahrung reagiert, nimmt die Erfahrung Einfluss auf den weiteren Verlauf des Experiments und damit auf die zukünftigen Erfahrungen selbst. Aktivität und Passivität greifen hier ineinander, ein Aspekt, der besonders deutlich durch die Tatsache vor Augen geführt wird, dass die experi­mentelle Praxis diese widerständigen Erfahrungen bewusst sucht, um aus ihnen zu lernen. § 140  Wie ist in diesem pragmatistischen Modell nun spezifisch die Idee einer kritischen Autonomie der Vernunft zu verstehen ? Um hierauf eine Antwort zu finden, werde ich differenzierter auf die Frage eingehen, wie der Selbstbezug mit Dewey verstanden werden kann. Der Begriff der Autonomie wurde ja eingeführt als die 314  |  Die Möglichkeit der Autonomie 

Möglichkeit, sich selbst kritisch zu korrigieren. Dies ist zunächst eine rein formale Bestimmung, insofern als Gegenstand und Akteur dieser Selbstkorrektur je Unterschiedliches gelten kann : eine Theo­ rie, eine Person oder pauschal »die« Wissenschaft. Autonomie setzt voraus, dass zwischen Selbstbezug und Fremdbezug unterschieden werden kann, um einen Wissensanspruch als den eigenen ausweisen zu können – als das, was vernünftig vertreten werden kann. Die Attraktivität der formalistischen (oder allgemein dualistischen) Trennung von Selbst und Welt liegt in dem Versprechen, diesen Unterschied eindeutig fixieren und damit angeben zu können, wann kritisches Denken vorliegt und welche Möglichkeiten es hat. Die postformalistische und pragmatistische Philosophie argumentiert, dass dieses Versprechen nicht gehalten werden kann – nicht zuletzt, weil der Begriff der Erfahrung sich dagegen sperrt, eindeutig einer der beiden Seiten zugeschlagen zu werden. Wie aber sieht dann die Alternative aus ? Gerade der innerpragmatistische Vergleich von Deweys Position mit der empiristischen Lesart des Pragmatismus zeigt, dass die Formalismuskritik einen hohen Preis zu haben scheint. Es wird nicht mehr klar, wo nun der heteronome Zwang der Erfahrung aufhört und der selbständige Einfluss der Person beginnt. Wo kann die reflexive Kontrolle dieses Einflusses – und damit die Kritik – dann noch ansetzen ? Peirce zumindest hatte noch die Vorstellung, dass die Vernunft durch die Erfahrung kraft ihrer Widerständigkeit zur Kritik gezwungen wird und damit letztlich nur zur Wahl steht, ob die Vernunft diese Herausforderung annimmt oder ihren Kopf in den Sand steckt (»method of tenacity«). Peirce’ experimentell begriffene Vernunft ist somit in dieser Lesart letztlich immer schon autonom und muss diese Autonomie nur verwirklichen. Dewey jedoch situiert das Denken so radikal, dass im Prozess der inquiry selbst die Unterscheidung zwischen äußerem Zwang und eigenem Einfluss auf dem Spiel steht. Die Situation als Ganzes ist verwirrt, so Deweys Formel für diesen Umstand, und die Tendenz, diese Negativität allein den beteiligten Personen zuzuschreiben, sei »an inheritance from subjectivistic psychology« (LW 12, 110). Ich möchte nun argumentieren, dass gerade aus dieser Ausgangslage der Irritation die Elemente eines alternativen postformalistischen Verständnisses kritischer Autonomie gewonnen werden Die Möglichkeit der Autonomie  |  315

können. Meine These ist, dass rationale Autonomie als die praktisch instituierte Fähigkeit begriffen werden muss, Ambivalenzen, Instabilitäten und Konflikte als solche anzuerkennen. Selbstbestimmung, so die weitergehende Implikation der postformalistischen Kritik der Erfahrung, wird überhaupt nur möglich, weil in der Ungewissheit der Situation die Trennung von Selbst und Welt partiell suspendiert wird. Indem die Erfahrung der Unverfügbarkeit nicht mehr als eine rein äußerliche Störung der Handlung gesehen wird, entsteht der – Kritik öffnende – Freiraum, sich selbst als einen bedeutenden Faktor in dieser Erfahrung zu identifizieren. Selbstbestimmung in der hier diskutierten rationalen Dimension besteht dann darin, sich zum Konflikt in der Erfahrung als Konflikt zu positionieren und dadurch die Erfahrung als etwas zu begreifen, auf das Einfluss genommen werden kann und sollte. Autonomie besteht daher in der Anerkennung, dass der Konflikt der Erfahrung auch unser Konflikt ist, zu dem wir uns verhalten müssen.247 Diese These vollzieht die Argumentationsbewegung dieses Buches nach : Aus Sicht der nun erreichten Position ist das Pro­blem des Formalismus, dass er den bindenden Kontakt mit der Wirklichkeit inhaltlich neu­tral halten will. Den Konflikt anzuerkennen, heißt aber eben, diese Neutralität aufzugeben. Der pragmatistische Ansatz ist, die erfahrene Irritation von Anfang an als Ausdruck einer praktischen Schwierigkeit und damit als das Pro­blem einer laufenden Koordinationsbemühung zu verstehen. Darin besteht die Innovation von Peirce’ Vorschlag, Überzeugung (belief) als eine habitualisierte Handlungsbereitschaft zu konzeptualisieren – »that upon which a man is prepared to act« (EP II, 399). Wir begegnen der Welt und anderen immer in der Form einer Haltung, eines – wie ich es nennen möchte – praktischen Ausgriffs. Die negative Erfahrung kann nur irritieren, weil sie diesem praktischen Ausgriff der Handelnden zuwider läuft. Eine Manifestationsform dieses Ausgriffs sind Pläne, Hypothesen, Handlungszwecke ; aber schon Peirce hebt hervor, dass dieser Ausgriff auch »mostly (at least) unconscious« (EP II, 336) operiert, etwa in Form von Gewohnheiten. Dewey entwirft ein differenzier Wichtige Anregungen zu der Möglichkeit, Dewey auf diese Weise zu interpretieren, habe ich von Georg Bertram (Bertram 2013, 2014) und den Diskussionen in seinem Kolloquium erhalten. 247

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teres Bild, in dem auch sozial konstituierte Gewohnheiten, spontane Impulse, organische Bedürfnisse und persönliche Neigungen zusammen mit expliziten Zielen und Zwecken zur Konstitution dieses Ausgriffs mit beitragen. Nicht zuletzt ist jedes Wissen in pragmatistischer Sicht ja ein Agens der Kontrolle und damit ein Mittel, das auf den weiteren Verlauf der Erfahrung zielt. Die gemeinsame pragmatistische These ist, dass es ohne einen solchen vorgängigen Ausgriff keine Erfahrung, kein Konflikt und keine Praxis gibt. Dewey neigt dazu, diesen Zusammenhang am Beispiel des Orga­ nismus zu erläutern, der immer schon eine aktive Umweltbeziehung unterhalten muss, um sich selbst zu erhalten. Doch letztlich ist das Argument handlungslogisch : Handeln bedeutet, sich festzulegen, denn es heißt, auf bestimmte Konsequenzen zu setzen und damit andere auszuschließen. Wenn keine Möglichkeit ausgeschlossen wird, ist zwar potenziell alles, faktisch aber nichts erreichbar ; was auch passierte, es wäre Zufall und nicht die Folge des Handelns. Diese Selektivität gilt auch für das Verstehen : Etwas als etwas zu verstehen, schließt zunächst andere Verständnisse aus. Die einseitige Wahl – determinatio est negatio – ist gerade kein Mangel, sondern eine positive Bedingung der Möglichkeit eines Weltverhältnisses. Den Konflikt anzuerkennen, heißt also, sich selbst in diesem Sinne als in dieser Erfahrung impliziert zu begreifen : Die Erfahrung wirkt auf uns, insofern wir auf sie ausgreifen. Die Anerkennung des Konflikts ist die Anerkennung dieses ständigen Ausgriffs. Ohne ihn hätte die negative Erfahrung gar nicht die Kraft, zu irritieren. Nicht alles, was geschieht, vermag zu irritieren. Es steht etwas Bestimm­ tes auf dem Spiel. Eben diese Logik zeigt die experimentelle Praxis so anschaulich : Die Experimentatorin reflektiert auf die Erfahrung und provoziert neue Erfahrungen, insofern sie selbst von der Erfahrung irritiert worden ist. Das Experiment gibt also ein Beispiel davon, wie Autonomie realisiert werden kann. Aber das Experiment, und das ist wichtig, ist nur eine rationale Praxis unter anderen. Damit komme ich zu einer weiteren wichtigen Implikation der oben aufgestellten These. In der Behauptung, dass die Autonomie die Anerkennung des Konflikts zur Voraussetzung hat, liegt eine Zurückweisung der modernen Idee, dass Ratio­ nali­tät wesentlich als kritische Selbstbestimmung zu denken sei. Da Denken mit Dewey als eine Praxis mit historisch variierenden Die Möglichkeit der Autonomie  |  317

Maßstäben und Prinzipien verstanden wird, hat die Behauptung einer solchen ahistorischen Form keinen Sinn. Und schließlich ist die experimentelle Praxis der Wissensgewinnung, die ja die Grundlage für diese pragmatistische Reformulierung des Denkens bietet, selbst eine historische Errungenschaft vergleichsweise neueren Datums. Damit nimmt die These, wie ich sie hier formuliert habe, eine Korrektur gegenüber Deweys eigenen Aussagen vor. Dewey selbst tendiert dazu, das Denken kurzerhand mit der Auffassung von Autonomie, wie ich sie hier beschrieben habe, zu identifizieren. Für ihn ist es des Merkmal alles Geistigen, sich zu der Erfahrung des Zweifels als solchem zu verhalten : Many definitions of mind and thinking have been given. I know of but one that goes to the heart of the matter : – response to the doubtful as such. No inanimate thing reacts to things as pro­blematic (LW 4, 179).

Dewey zielt mit dieser Definition vor allem darauf, alle geistigen Phänomene – Gefühl, Wille und Vernunft – gleichermaßen als Reaktionsformen auf den Zweifel zu fassen (»distinct modes of response to the uncertain«, LW 4, 179 f.). Diese Auffassung arbeitet gegen eine einseitige Intellektualisierung der Erfahrung. Indem Gefühl, Wille und Vernunft gleichermaßen als Momente des praktischen Ausgriffs identifiziert werden, sind sie unterschiedliche Formen der Erschließung von Welt, die sich trotz ihrer Unterschiede jedoch alle normativ an die Erfahrung gebunden sehen. Dies eröffnet den Spielraum für eine naturalistische Stufenfolge des Geistigen, die Dewey dann auch im Anschluss dieses Zitats skizziert. Demnach werden die unmittelbaren Formen der Reaktion auf den Zweifel zunehmend durch vermittelte Antworten auf das Ungewisse (»indirect responses«) ergänzt, bis hin zur Sprache, die erst die spezifisch menschliche Erfahrung und die äußerst vermittelte Antwort des wissenschaftlichen Denkens ermöglicht. Mit der zitierten Definition bleibt dieser intellektuelle Zugriff gleichwohl verbunden mit einer Vielfalt von Antwortweisen – sprachlich, organisch, emotional –, die jeweils für die Situation durchaus bedeutsam sein können.248 Die Einheit verschiedener Modi der Welterschließung verortet Dewey im Ästhetischen (vgl. LW 10 sowie Alexander 1987). In der ästhetischen Erfahrung spielen diese Formen zusammen und bilden eine (nicht zwingend harmonische) Einheit, die den Sinn der Erfahrung als Ganzes durchdringt. 248

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Diese formale Bestimmung des Geistigen täuscht aber darüber hinweg, dass die Art und Weise, wie ein Konflikt »als solcher« anerkannt wird (Dewey : »the doubtful as such«), immer schon vermittelt ist. Im Unterschied zu Peirce kann Deweys Lesart der inquiry gerade nicht davon ausgehen, dass es einen substanziellen Konflikt gibt, dessen Gehalt »als solcher« aller Praxis äußerlich ist und nur in abweichendem Grade anerkannt wird. Unterschiedliche Beschreibungen des betroffenen »Selbst« führen zu unterschiedlichen Auffassungen davon, was in der Erfahrung des Konflikts konkret auf dem Spiel steht, und umgekehrt. Das lässt den Spielraum für Selbsttäuschung immer offen.249 Autonomie muss auch eine Dimension des Gelingens (und Scheiterns) bewahren, gerade in der postformalistischen Logik einer Erfahrung, die sich immer neu überschreitet und daher ihre eigenen Unterscheidungen nachträglich zu korrigieren gezwungen ist. Die hier eingeführte Begrifflichkeit erlaubt, in Absetzung von Dewey das Geistige von der rationalen Autonomie zu entkoppeln. Denken ist nicht immer schon autonom, denn es reagiert je unterschiedlich auf die Erfahrung des Konflikts. Gleichwohl ist alles Geistige normativ an den weiteren Verlauf der Erfahrung gebunden. Der postformalistische Autonomiebegriff, wie er mit Dewey verstanden werden kann, muss die experimentalistische Form des Denkens als eine historische Entdeckung fassen, deren wesentlicher Kern darin besteht, sich gegenüber der Erfahrung in ihrer widerständigen Dimension zu öffnen und ihr eine positive Rolle einzuräumen. Die experimentell operierenden Wissenschaften zeigen somit eine Möglichkeit auf, Ratio­nali­tät neu zu verstehen, die der Pragmatismus aufgreift und reflektiert. Autonomie, in diesem Sinne konzipiert, ist somit eine bestimmte Art und Weise, sich selbst als denkende Akteurin zu begreifen – sie ist ein operatives Insbesondere die Philosophie Nietzsches und die Psychoanalyse geben nach wie vor ein eindrückliches Zeugnis von der Möglichkeit der Selbsttäuschung ab, wobei diese Möglichkeit, pragmatistisch gesehen, nicht als eine Abweichung von einem außerpraktischen »eigentlichen Selbst« verstanden werden darf. Wichtig ist daher die Erinnerung, dass Freuds Überlegungen zum Unbewussten selbst aus dem Pro­blem resultieren, dass seine Klienten einen neurotischen Konflikt erfahren – so wie auch Nietzsches Philosophie sich explizit als eine Reaktion auf den »Nihilismus« seiner Zeit verstand. Die Hermeneutik des Verdachts ist motiviert ; ihr liegt eine skeptische Erfahrung zugrunde. 249

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Selbstverständnis, das erst praktisch geformt und artikuliert werden musste. § 141  Autonomie, so wurde gesagt, muss als eine Art und Weise begriffen werden, die Implikation des Selbst in aller Erfahrung anzuerkennen. Sie ist eine Reflexion darauf, dass alle Erfahrung im Lichte eines praktischen Ausgriffes steht, ohne den es keinen Konflikt gäbe. Damit ist der moderne Begriff der Autonomie die Anerkennung eines allgemeinen Sachverhalts, der selbst nicht genuin modern ist. Wir müssen also an dieser Stelle festhalten, dass der spezifisch moderne Begriff der Autonomie nicht identisch ist mit der allgemeinen Möglichkeit, der Praxis eine eigene und in diesem Sinne selbstbestimmte Form zu geben. Auch wenn Autonomie im modernen Sinne ein spezifisch historisches Selbstverständnis ist – die Möglichkeit, selbst über den Verlauf der Erfahrung zu bestimmen, ist in diesem Modell eine Grundtatsache der Natur. Selbst­bestimmung über die unterschiedlichsten Situationen und Ereignisse hinweg ist für Dewey ein Faktum, das schon in der organischen Basis der Selbsterhaltung angelegt ist. Sie besteht minimal in der Fähigkeit, Ziele zu verfolgen. Sie besteht in der Tatsache, dass alles Leben Aktivität ist : »the self, like its vital basis the organism, is always active ; … it acts by its very constitution« (LW 7, 289). Diese basale Selbstbestimmung ist somit nicht identisch mit der Autonomie, wie sie hier in dieser Untersuchung thematisch ist. Wir können diesen Unterschied begrifflich präzisieren, indem wir die Autonomie als die Freiheit der Selbstbestimmung verstehen. In dieser Perspektive wurde das Thema der Autonomie in dieser Untersuchung auch wiederholt diskutiert : Es stand zur Diskussion, wie die Freiheit der rationalen Selbstbestimmung verstanden werden kann, ohne dabei ihre Sachbindung und ihre Irritationsfähigkeit durch die Erfahrung preiszugeben. Im Folgenden möchte ich nun die Verbindungslinie aufzeigen, die von dieser basalen Form der Selbstbestimmung, die schon alles Organische aufweist, hin zu dem anspruchsvolleren Begriff der Freiheit führt, wie er paradigmatisch an der Praxis des Experiments sichtbar wird. Ich beginne mit der Ebene der basalen Selbstbestimmung, die allem Lebendigen eignet. Hier gilt für Dewey, dass in jeder Erfahrung immer schon ein aktiver Ausgriff impliziert ist, ein 320  |  Die Möglichkeit der Autonomie 

»Interesse«, das wir dann mit Blick auf menschliche Akteure auch als »Selbst« adressieren.250 Diese oben bereits eingeführte These lässt sich nun auch reformulieren als die Ansicht, dass in jeder Erfahrung das Selbst immer schon eine vermittelnde Rolle spielt. In dieser Formulierung wird erkennbar, dass das Selbst nicht einfach nur ein Faktor der Erfahrung unter anderen ist. Es ist ein Mittel, und als solches unterliegt es derselben Logik, die alle Mittel der Erfahrung prägen : Es hat eine Geschichte, aus der heraus es seine derzeitige Form gewonnen hat, und es steht für Konsequenzen (ein), mit denen es zum Verlauf der Erfahrung beiträgt. Die vermittelnde Rolle des Selbst findet sich in Deweys Schriften vor allem auf drei Ebenen thematisiert : Als ein strukturierendes Moment der inquiry, als ein Grundinteresse ethischer Praxis und als die moderne Aufwertung der individuellen Selbstbestimmung gegenüber gesellschaftlichen Autoritäten und Traditionen.251 Auf allen drei Ebenen findet sich eine durchgehende Denkfigur : Was wir als »Selbst« adressieren, ist das Produkt einer Festlegung in der Praxis. Und zwar einer Festlegung, die gleichsam aus dem Inneren einer Praxis operiert, in der Konflikte und Spannungen immer wieder neu dazu zwingen, Entscheidungen zu treffen und Lösungen für Pro­bleme zu finden. Durch diese Festlegung wird das Selbst ein Mittel der Praxis. Mit ihnen trägt es zum Verlauf der weiteren Erfahrung bei. Diese Logik der Selbstbindung wird gerade in der explizit arti­ kulierten Forschung sichtbar, wo für den weiteren Verlauf der Untersuchung Hypothesen und Pläne gefasst werden, die dann das nähere Vorgehen leiten : »To engage in an inquiry is like entering into a contract« (LW 12, 24). Hier wird ein Vertrag mit sich selbst geschlossen. Dies ist ein bindender Akt der Selbstbestimmung, aber einer, der über die Zukunft vermittelt ist. Der Selbstbezug wird in diesem Modell radikal verzeitlicht. Die beiden Seiten, die hier miteinander in Beziehung treten, sind das gegenwärtige und das Explizit thematisch wird die Irreduzibilität des kontextuellen Ausgriffs in »Context and Thought« (LW 6, 3 – 21). 251 Als allgemeines Merkmal der inquiry wird die Selbstbestimmung in der Logik diskutiert ; als Grundmerkmal ethischer Praxis in der Ethik ; und die individuelle Autonomie als Merkmal der Moderne steht in diversen Essays und in Teilen von Experience and Nature zur Diskussion (vgl. LW 1, 162 – 190). 250

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zukünftige Selbst. Die Behauptung einer Kontinuität dieser Pole, mithin also der Gedanke, dass hier eine durchgängige und zusammenhängende Prüfung der Hypothesen und Pläne stattfinden wird, ist eine Behauptung, die unter Vorbehalt des weiteren Verlaufs der inquiry steht. Die Praxis kann dazu zwingen, das sich selbst gegebene Versprechen brechen zu müssen, weil es auf die vorgesehene Weise schlicht nicht funktioniert. Ich habe die Idee einer Selbstbestimmung durch Selbstverpflichtung hier, Deweys Logik folgend, am Beispiel expliziter und reflektierter Pro­blemlösung eingeführt. Sie ist aber allgemeiner Natur. Das rationale Denken wird von Dewey als eine Praxis begriffen, die nur dadurch funktioniert, dass sich die beteiligten Akteure in der gerade skizzierten Form festlegen. Ohne Bindung keine inquiry. In der Konsequenz heißt das, dass jede Praxis, die mit Spannungen, Widerstand und Frustration konfrontiert, dazu beiträgt, das »Selbst« weiter zu formen, das in ihr agiert. Es wird immer wieder dazu gezwungen, implizit oder explizit jene eigentümliche Selbstverpflichtung einzugehen, die Grundbestandteil jeder inquiry ist. Da es nur mit Festlegungen überhaupt handeln kann, werden diese Festlegungen durch erfolgreiche Anwendungen zu einem festen Bestandteil der Art und Weise, wie weitere Pro­bleme angegangen werden. Im Verlauf der Zeit entstehen somit Mittel und Wege, deren Stabilität es ermöglicht, immer weiter ausgreifende Ziele zu formulieren und zu verfolgen.252 Wie jedes Mittel unterliegt auch das Selbst für Dewey dem steten Wandel durch die Praxis, in der es operiert : »the self is not something ready-made, but something in continuous formation through choice of action« (MW 9, 361). Und wie bei jedem Mittel schreibt sich das Resultat dieses situierten Einsatzes in das Mittel selbst ein, in seine weiteren Möglichkeiten und Verfasstheit. Auch das Selbst ist ein Supplement. Es wird normativ gebunden durch die Praxis, in der etwas auf dem Spiel steht, und je nachdem, wie die Erfahrung sich entwickelt, erweisen sich die Festlegungen des Selbst als hilfreich, pro­blematisch oder irreführend. Sie sind zu messen an ihren Konsequenzen. »A postulate … is derived from what is involved in inquiries that have been successful in the past, it imposes a condition to be satisfied in future inquiries, until the results of such inquiries show reason for modifying it« (LW 12, 25). 252

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Freilich hat nicht jede Festlegung dieselben existenziellen Konsequenzen. Wie bei jedem Mittel scheint dieses »Selbst« geradezu unsichtbar zu werden, wenn seine Art und Weise, auf die Herausforderungen der Praxis zu reagieren, erfolgreich funktioniert (vgl. LW 1, 188 f.). Solche wiederkehrenden Festlegungen verdichten sich zu Gewohnheiten, werden Routine. Doch in dem Maße, in dem sie in einer gegebenen Situation nicht mehr greifen, müssen sie verändert werden : es werden neue Festlegungen erforderlich. Diese Änderungen haben also durch die Spannung des erfahrenen Konflikts zwangsläufig eine subjektivierende Wirkung. Entscheidend ist, dass eine Entscheidung gefordert wird – eine Stellungnahme, die es ermöglicht, im Angesicht der Erfahrung der Unverfügbarkeit wieder handeln zu können. Je mehr Gewicht die Entscheidung hat, desto mehr fällt sie auf »das Selbst« zurück – auf die eigenen Präferenzen, Annahmen und Gewissheiten, die das Handeln strukturieren. Diese transformative Dimension der Praxis wird vielleicht am deutlichsten sichtbar an der von Dewey als Merkmal der inquiry hervorgehobenen Notwendigkeit, in der Reaktion auf die Erfahrung der Unverfügbarkeit dem Pro­blem überhaupt erst eine Bestimmung zu geben. Diese Operation, ohne die keine inquiry stattfinden kann, muss sich, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, auf Vermutungen und vage Aussichten verlassen. Es gibt keine Gewissheit darüber, wie die irritierende Situation sich entwickelt. Ihre Gegenwart verweist auf eine unklare oder widersprüchliche Zukunft, die gedeutet werden muss. Die erste grobe Fixierung des Pro­blems ist somit ein ebenso notwendiger wie spekulativer Schritt. Und da mit ihr die Grundlage dafür gelegt wird, wie im weiteren Verlauf gehandelt werden kann, ist sie immer auch eine Festlegung der involvierten Akteure. Sie legen sich darauf fest, über welche Möglichkeiten sie verfügen, um auf die Erfahrung Einfluss zu nehmen, und in welche Richtung sie diesen potenziellen Verlauf beeinflussen sollten. Obgleich hier die ganze Zeit vom »Denken« die Rede war, darf diese Logik nicht intellektualistisch missverstanden werden. Diese Festlegungen sind oft alles andere als bewusste Akte. Häufig, so ­Dewey, sind wir bereits implizit darauf festgelegt, wie eine Situation zu beurteilen ist, weil sie sich auf eine bestimmte Art und Weise an­ fühlt. Hier reagieren wir spontan mit Gefühlen, die uns dann auch im weiteren Verlauf der Praxis orientieren. Eine Situation fühlt sich Die Möglichkeit der Autonomie  |  323

unheimlich an oder konfus ; sie ist intellektuell herausfordernd oder abstoßend ; wir sind verletzt, interessiert, genervt oder unfokussiert. Die spezifische Art und Weise, wie sich die Situation anfühlt (feeling quality), hat, so Dewey, »an enormous directive effect on our behavior«, die wir in der jeweiligen Situation jedoch nicht identifizieren (LW 1, 227). Es muss also festgehalten werden, dass die »Festlegungen«, von denen hier die Rede ist, keineswegs nur intellektueller Natur sind. Ebenso verkehrt ist die gegenteilige Annahme, dass diese impliziten Festlegungen daher immer bereits psychologischer Natur sein müssten. Die Festlegung ist ein strukturelles Moment jeder Praxis, als ein vermittelnder und vermittelter Ausgriff, dessen genaue Natur wiederum selbst zum Gegenstand von Untersuchungen werden muss. Wir sind bereits situativ festgelegt, und eine explizierende Erörterung dessen, was uns da bestimmt, ist nun selbst wiederum ein bestimmender Akt der Artikulation (vgl. dazu Jung 2014, 74–88). Schon die Behauptung, dass die implizite Festlegung eine Art von Gefühl sei, ist letztlich, so Dewey, eine Umkehrung der Tatsachen. Was vorliegt, ist ein selektiver Ausgriff, ein qualitatives Verständnis der spezifischen Situation ; und dieser faktische Ausgriff – die Art und Weise, in der Situation zu sein – dient dann als Ausgangspunkt für weitere Überlegungen. Aussagen wie »Wir waren wütend« oder »Die Situation war verwirrend« sind somit nicht Ausdruck einer psychologischen Tatsache, sondern eine psychologische Interpretation der Tatsache, in der Situation auf eine bestimmte Art und Weise festgelegt gewesen zu sein (vgl. LW 5, 248). Entscheidend ist nicht, ob die Festlegung der Situation als Situation überwiegend bewusst gefällt wird, also kontrolliert durch übergreifende Ziele und Vorannahmen, oder ob sie sich eher passiv ereignet. Wichtig ist die funktionale Rolle dieser Festlegung für den Verlauf der Praxis : Sie erzeugt, als ein Geschehen der Selbstbestimmung, den handlungsermöglichenden Ausgriff, mit dem bestimmte Aspekte der Situation nun als relevant erscheinen und andere in den Hintergrund treten. Die Festlegungen der Situation sind Mittel des Denkens. Sie finden spontan statt, aber sind auch Ergebnisse bewusster Überlegungen und Entscheidungen. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie eben jene Selbstverpflichtung definieren, durch die allein die inquiry erst eine bestimmte Form annehmen kann. Sie 324  |  Die Möglichkeit der Autonomie 

legen fest, wie die Situation zu verstehen ist, und geben ihr damit überhaupt erst eine handhabbare Form. § 142  Aus dieser vermittelnden Funktion des Selbst in der inquiry lässt sich nun ein Begriff der Selbstbestimmung gewinnen, der nicht mehr auf der Grundlage der Opposition von Selbst und Welt operiert : Selbstbestimmung ist zu verstehen als die Möglichkeit, auf dieses Selbst in seiner vermittelnden Funktion Einfluss zu nehmen. Wie jedes Mittel kann auch der die Praxis konstituierende Ausgriff zu einem eigenen Gegenstand der Reflexion und der Praxis werden. In diesem Sinne ist bereits auf der organischen Basis die erfolgreiche Selbstbestimmung immer schon das Resultat einer internen Koordination von Aktivitäten, ein Ineinandergreifen von Mitteln im Lichte eines Gesamtzwecks. Die erfolgreiche Jagd einer Beute durch eine Katze – eine von der Katze wesentlich selbst bestimmte Erfahrung – zerfällt in unterschiedliche Phasen, wie etwa das Lauern, das Verfolgen von Spuren und den eigentlichen Angriff. In all diesen Phasen operieren unterschiedliche Fähigkeiten und Aktivitäten als Mittel, die sich zu dem Gesamtbild einer selbst­bestimmten Erfahrung fügen.253 Die rationale Selbstbestimmung besteht nun darin, diese vermittelnde Rolle des Selbst bewusst einzusetzen, um bestimmten Zielen oder Zwecken näher zu kommen. Es geht also darum, nicht einfach nur festgelegt zu sein, sondern die Erfahrung als festgelegt zu erkennen. Eben diesen Schritt geht die experimentelle Wissenschaft. In dem Experiment lernt die Experimentatorin vor allem dadurch, so Dewey, dass sie kontrolliert in den Lauf der Erfahrung eingreift und dadurch die eingesetzten Mittel und ihre Konsequenzen zueinander in Beziehung zu setzen vermag. Die Vermittlung der Erfahrung wird hier also aktiv als ein Mittel eingesetzt, anstatt sich ihr einfach auszusetzen. Diese reflexive Einflussnahme auf die eigene Vermittlungsleistung in der Praxis ist freilich keine spezifische Entdeckung der modernen Wissenschaft. Sie ist ein Grundmerkmal allen Denkens, das darauf reflektiert, wie bestimmte Ziele und Zwecke erreicht Die Abschlüsse einer Erfahrung, so Dewey, »implicitly sum up a history« (LW 1, 197). Vgl. zu der Bedeutung der Koordination für Dewey als Leitbegriff vermittelter Praxis auch meine Ausführungen in Volbers 2015. 253

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werden können. Die spezifisch moderne Lektion, die wir aus dem Experiment ziehen können, besteht nach Dewey darin, dass sie diese Vermittlungsleistung nicht endgültig zu fixieren versucht. Begriffe, Wissen, Fertigkeiten und logische Formen werden nicht nur als Mittel erkannt, die unsere Erfahrung strukturieren – sie gelten auch als Mittel der Erfahrung. Ihre vermittelnde Rolle kann nicht von der Erfahrung getrennt werden und muss sich daher in ihr immer wieder neu realisieren. Indem die Wissenschaft die Antwort darauf, was genau durch bestimmte Bedingungen und eingesetzte Mittel passieren wird, der Erfahrung überlässt, kommt sie nicht in die Versuchung, ein abschließendes Urteil über diese vermittelnden Momente zu fällen. Die spezifisch moderne Form der rationalen Selbstbestimmung besteht also darin, die vermittelnden Momente und damit das Selbst für die Erfahrung offen zu halten. Das Selbst ist in diesem Modell keine statische Instanz, sondern ein Mittel, dessen Bedeutung sich durch den Verlauf der Erfahrung wandelt. Die Autonomie wird dadurch gewonnen, dass das Selbst wieder in die Erfahrung eingebettet wird, mitsamt der Konsequenz, dass es durch sie dann auch ergriffen und verändert wird. Tatsächlich erkennt diese Haltung damit nur etwas an, das wir bereits als ein Grundmerkmal jeder Praxis herausgehoben haben : Indem wir rational handeln, indem wir also Entscheidungen treffen, legen wir uns (implizit oder explizit) immer wieder neu auf Arten und Weisen fest, Situationen zu verstehen und mit ihnen umzugehen. Das Selbst, in seiner Funktion als Faktor der Beeinflussung der Erfahrung, ist also immer schon im Wandel begriffen. Die spezifisch postformalistische Ausdeutung der Autonomie erkennt eben diesen Wandel an. Sie formuliert die Implikationen der Tatsache aus, dass das Selbst, als Mittel der Erfahrung, selbst wieder vermittelt ist. § 143  Wie aber geht das : sich für die Erfahrung offen halten, den Konflikt anerkennen ? Gerade Deweys instrumentalistische Sicht auf das Selbst verbietet es, hier ein externes Maß anzulegen, an dem sich bestimmen ließe, wann wir der Erfahrung »verschlossen« sind. Das hieße ja, dem Selbst eine feste Form zu verleihen und es damit gerade aus der Kette der Vermittlungen auszuschließen. Das bedeutet umgekehrt, dass das Selbst gerade, insofern es als Mittel 326  |  Die Möglichkeit der Autonomie 

betrachtet wird, nicht mehr einfach von den möglichen Kontexten, in die es involviert ist, zu trennen ist. Die Art und Weise, wie wir etwas tun, hat eine vielfältige Geschichte : Sie ist ebenso biologisch bestimmt wie historisch ; sie öffnet sich einer begrifflichen Analyse ebenso wie einer psychologischen ; sie steht in einem sozialen Raum ebenso wie unter dem Einfluss universeller physikalischer Prozesse. Das Selbst als ein Mittel zu sehen, bedeutet also gerade, es aus der Isolation herauszuholen und es in eine potenziell unendliche Vielfalt von Beziehungen zu versetzen. »There is nothing in nature that belongs absolutely and exclusively to anything else«, so Dewey mit Blick auf das Selbst : »belonging is always a matter of reference and distributive assignment, justified in any particular case as far as it works out well« (LW 1, 180). Dergestalt eingebettet in die Vielfalt der Erfahrung, zeigt sich das Selbst damit wieder als ein Begriff, der selbst nur als eine Fest­ legung verständlich wird. Die vermittelnde Rolle des Selbst, seine Leistung in der Erfahrung, kann nicht objektiv bestimmt werden, ohne dabei aus der Menge der Beziehungen und Zusammenhänge eine Auswahl zu treffen. Damit aber trifft die Anerkennung der eigenen vermittelnden Rolle, die wir oben als einen entscheidenden Schritt der rationalen Selbstbestimmung eingeführt haben, immer schon eine selektive Wahl. Wir müssen, so wurde gesagt, die Erfahrung als festgelegt erkennen, um sie rational beeinflussen zu können ; nur so wird es möglich, auf die Verhältnisse von Mittel und Konsequenzen zu reflektieren. Diese Erkenntnis aber bildet nicht einfach die faktischen Verhältnisse ab. Sie ist selbst eine Wahl, die aus der potenziell unendlich vielfältigen Menge von Beziehungen und Zusammenhängen einige als festlegende Faktoren heraushebt. Wir treffen also wieder jede unvermeidliche Vorauswahl, ohne die Handlung und Verstehen nicht möglich wäre. Damit nimmt rationale Selbstbestimmung die zeitlich verschobene Struktur an, die wir oben bereits als Merkmal jeder inquiry herausgearbeitet haben : Mit ihr verpflichtet sich das Selbst darauf, die zukünftige Erfahrung beeinflussen zu können. Es geht wieder jenen Vertrag mit sich selbst ein, ohne den keine rationale Praxis voranschreiten könnte. In dem hier diskutierten Fall der Selbstbestimmung heißt dies, dass das Selbst sich darauf festlegt, selbst für den Verlauf der Erfahrung verantwortlich zu sein. Es gibt seiner ImplikaDie Möglichkeit der Autonomie  |  327

tion in der Erfahrung eine Form, mit der es zu ihr Stellung nehmen kann, indem es sich als Selbst in ihr impliziert begreift. Es erklärt die Erfahrung zu seiner Erfahrung, zu einem Prozess, auf den es zwingend Einfluss nimmt und nehmen sollte. Dadurch übernimmt es Verantwortung für ihren weiteren Verlauf. In Deweys Worten : To say »I think, hope, and love« is to say in effect that genesis is not the last word ; instead of throwing the blame or the credit for the belief, affection and expectation upon nature, one’s famly, church, or state, one declares one’s self to be henceforth a partner (LW 1, 180).

Dewey beschreibt hier das moderne Ideal der Autonomie : Nicht die Kirche und nicht die Natur, nicht die Familie oder der Staat, das Individuum selbst übernimmt die Verantwortung dafür, wie sich die Praxis weiter entwickelt. Dies wird möglich, wenn die Erfahrung konsequent als die eigene Erfahrung adressiert wird. Die Individuen lernen oder werden darauf festgelegt, sich selbst als Ursache ihrer Handlungen und Urteile zu begreifen, so wie sie sich auch als Adres­ sat von anderen Handlungen und Urteilen verstehen.254 Dadurch erkennen sie ihr Selbst in seiner vermittelnden Rolle an ; die Frage, was eine spezifische Erfahrung bedeutet, ist damit immer auch eine Erfahrung, die an das so konstituierte Selbst adressiert werden kann. In dem Maße, in dem das Individuum sich für den Verlauf der Erfahrung als verantwortlich sieht, eröffnet es sich die Möglichkeit, auch selbst an der Veränderung der Situation mitzuwirken. Das ist ein Zugewinn an Handlungspotenzial : Das seiner selbst bewusste Selbst wird zu einem weiteren Faktor, mit dem sich der Verlauf der Praxis bewusst beeinflussen lässt. Es erschließt eine neue Möglichkeit des Handelns und gewinnt dadurch an Selbständigkeit. In der Ethik formuliert Dewey diese Subjektivierung der Erfahrung in moralischer Hinsicht mit dem Hinweis, dass das so konstituierte Selbst sich als »responsive to the needs and claims of others, to the obligations implicit in his position« (LW 7, 304) begreift. An derselben Stelle diskutiert er, dass diese Subjektivierung oft von außen an die Akteure herangetragen wird, indem – so sein Beispiel – etwa ein Kind für Handlungen verantwortlich gemacht wird, für die es im Grunde nicht verantwortlich sein kann, da es noch kein Bewusstsein von der moralischen Qualität seiner Handlung hatte. (Das Kind nimmt einen Apfel, weil es hungrig ist ; die Eltern werfen ihm vor, gierig oder unbeherrscht zu sein.) Entscheidend sei, so Dewey, der in dieser moralischen Subjektivierung artikulierte Anspruch, dass das Kind sein zukünftiges Verhalten diesen moralischen Maßstäben unterwerfen wird. 254

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Wichtig ist die stipulative Natur dieser Selbstfestlegung. Für die Erfahrung Verantwortung zu übernehmen (in der Art des Vertrages), nimmt hier die Form einer Wette an. Dewey nennt es einen »adoptive act« (LW 1, 180). Es wird Verantwortung für etwas Fremdes übernommen ; die Erfahrung wird angeeignet, ohne dass diese damit freilich ihre Selbständigkeit verliert. Ein solcher Akt liegt jeder Form von Selbstbestimmung zugrunde, insofern ja versucht wird, auf das Selbst in seiner vermittelnden Rolle Einfluss zu nehmen. Damit operiert jede Selbstbestimmung mit einer unaufhebbaren Spannung zwischen der faktischen Implikation des Selbst in jeder rationalen Praxis und der Notwendigkeit, sich darauf festzulegen, was die genauen Beiträge des Selbst – die subjektiven Festlegungen – sind. Dem Selbstverhältnis haftet so eine irreduzible ideelle oder imaginative Qualität an. Wir begreifen uns als bestimmte Personen, indem wir bestimmte Möglichkeiten selektiv als unsere begreifen – indem wir uns vorstellen, sie zu sein. § 144  Mit dieser Überlegung lässt sich nun festhalten, dass das moderne Ideal der Autonomie in seiner spezifisch postformalistischen Formulierung eben genau der Versuch ist, dieser Spannung gerecht zu werden. Das Selbst ist kein Zustand, sondern ein Prozess, ein Werden : »It is impossible for the self to stand still ; it is becoming, and becoming for the better or worse« (LW 7, 306). Die Anerkennung des Konflikts ist die Anerkennung dieses ständigen Werdens. Sich für die Erfahrung offen zu halten, bedeutet, eben dieses Werden nicht einfach zu erdulden, sondern es als die eigene Möglichkeit zu ergreifen. Und diese Möglichkeit, da sie auf die Zukunft verweist, lässt sich nur durch den »adoptiven Akt« der Selbstfestlegung, durch die selektive Subjektivierung der Erfahrung, konstituieren. Die Konsequenz, dass ein solcher »adoptiver Akt« notwendig mit der weiteren Erfahrung in einen Widerstreit gerät, wird hier bewusst gesucht. Denn sie erst eröffnet die Möglichkeit, dem Werden die Form der Freiheit zu geben : We are free not because of what we statically are, but inasfar we are becoming different from what we have been (LW 3, 108).

Im Rückblick erweist sich so die vermittelnde Rolle aller Erfahrung als das entscheidende Konstituens einer postformalistischen ReDie Möglichkeit der Autonomie  |  329

konstruktion der Autonomie. Das Denken ist, als Erfahrung betrachtet, ein Mittel. Das bettet das Denken einerseits in den weiteren Verlauf von Erfahrungen ein, so dass es als ein Mittel dazu dient, den Verlauf der Erfahrungen zu lenken. Deshalb ist es für uns überhaupt erst relevant : Auch wenn der Ausgangspunkt der inquiry der konkrete Konflikt ist, steht vor dieser Erfahrung immer der interessierte Ausgriff, die Sorge um die Erfahrung. Die Erfahrung soll eine bestimmte Gestalt annehmen. Die Vorstellungen davon, was erstrebt werden soll, variieren historisch und praktisch. Sie korrelieren mit den Möglichkeiten, die vorhandene Mittel zur Verfügung stellen, mit der Zuversicht, neue Mittel etablieren zu können, und mit der Art und Weise, wie die Gegenwart imaginativ in einen weiteren Kontext eingefasst wird, als Ausdruck bestimmter Verhältnisse und Zusammenhänge. Welche Form auch immer diese Ziele, Werte, Ideen und Ideale annehmen, sie leiten das Denken, sofern es mehr sein soll als die bloße Reparatur eines gestörten Funktionszusammenhangs. Denken als Erfahrung zu sehen, bedeutet aber anderseits auch, die Erfahrung wiederum selbst als ein Mittel dieser Praxis zu sehen. Dann ist Denken ein Verfahren, mit dem in der Erfahrung Mittel auf ihre Konsequenzen hin beurteilt, ausgewählt und eingesetzt werden : »Rationality as an abstract conception is precisely the generalized idea of the means-consequence relation as such« (LW 12, 17). Was als Mittel fungieren kann, ist dabei offen. Aber dass Mittel für die Praxis des Denkens benötigt werden, ist Deweys zentrale These. Sie betten das Denken in die Wirklichkeit ein. Sie verkörpern Allgemeinheit, da sie für das Versprechen einstehen, durch ihren Einsatz bestimmte stabil vorhersehbare Konsequenzen zu erzeugen. Mittel funktionieren, sie haben Realität. Sie stützen sich gegenseitig in ihren Kontexten, reichern sich an (und irritieren sich) durch Supplementierung. Eben diese Logik gilt auch für das Denken. Das Denken ist in die Welt eingebunden durch seine Mittel – und als Mittel. Das ist seine konkrete Freiheit. Die Bedingung der Möglichkeit des Denkens ist somit zugleich die Bedingung der Unmöglichkeit einer vollständigen reflexiven Verfügung über die Welt und unser Verhältnis zur Welt. Diese Unverfügbarkeit liegt nicht darin, dass unsere kognitiven Vermögen nicht an die Wirklichkeit heranreichen, wie es der Empirismus 330  |  Die Möglichkeit der Autonomie 

glaubt. Sie besteht darin, dass unsere kognitiven Vermögen wirklich sind, dass sie Mittel sind. Das Denken funktioniert – wie es das Experiment vorführt – nur durch die Welt, sozusagen in Ausnutzung der faktischen Abhängigkeit von ihr. Sowohl für diese Abhängigkeit als auch für das Versprechen, über sie verfügen zu können, steht das Mittel. Mit ihm legt das Denken seine eigene Effektivität in die Hände dieser prekären Welt. Freiheit ist, diese Abhängigkeit nicht nur theoretisch anzuerkennen, sondern sich ihr praktisch auszuliefern.

Die Möglichkeit der Autonomie  |  331

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Literatur  |  347

Personenregister Arendt, Hannah 44 Aristoteles 150, 153, 170, 284 Ayer, Alfred Jules 64, 67 Bacon, Francis 19, 44, 46, 241 Beauvoir, Simone de 132 Bernstein, Richard 25, 30, 102, 260, 294 Bertram, Georg 16, 56, 74, 78–81, 103, 110, 139, 290, 316 Bourdieu, Pierre 82, 167 Boyle, Matthew 169–170 Brandom, Robert 13, 30, 80, 102–104, 111, 122, 157, 161–163, 191, 194, 225 Carman, Taylor 185 Carnap, Rudolf 9–11, 28, 56, 58, 61, 65, 67–69, 71, 75–88, 91–96, 101, 106, 112, 114, 116–117, 124, 169, 183, 217, 260 Carus, A. W. 92–93 Cavell, Stanley 80, 105, 134, 161, 266 Conant, James 130–135, 140, 181 Darwin, Charles 16, 68 Daston, Lorraine 15, 42, 81–82, 90, 181, 204 Davidson, Donald 9, 11, 19, 20, 25, 53, 55, 100, 103, 105–130, 134–145, 150, 154, 161, 181, 183, 187, 192, 195, 197, 205, 207, 217, 235–236, 240, 273, 313 Demmerling, Christoph 110, 124, 172, 177, 188

Descartes, René 40–42, 46–47, 49, 51, 61, 72, 131–133, 213 Dewey, John 9, 11, 13–17, 24, 26, 28, 30, 34, 48, 57, 63, 100, 102, 167, 173, 196, 197, 221, 223–226, 228–229, 232–233, 237, 248, 259, 266, 271–272, 274, 275, 277–308, 311, 314–330 Dreyfus, Hubert 171–175, 185, 188 Du Bois-Reymond, Emil 52, 232, 233 Foucault, Michel 20, 34, 36, 40, 48, 57, 99, 219, 266 Frega, Roberto 16, 233, 257, 270– 272, 297 Freud, Sigmund 68, 319 Galison, Peter 20, 42, 67, 81–82, 90 Godfrey-Smith, Peter 55, 72, 212, 300 Grundmann, Thomas 104, 135, 140 Hacking, Ian 99 Hegel, G. W. F. 30, 38, 41, 48, 163– 164, 166, 240 Heidegger, Martin 75–76, 102, 172, 185, 238 Hobbes, Thomas 46, 158 Hogrebe, Wolfram 93 Horstmann, Rolf-Peter 93 Husserl, Edmund 64, 71, 146 James, William 24, 28, 63, 130, 231–233, 237, 248, 251, 265, 280, 289, 293   |  349

Jung, Matthias 278, 289, 305, 324 Kant, Immanuel 7–8, 19, 26, 29– 30, 38, 40, 42, 45, 47, 49, 51–52, 58, 60, 64, 69–70, 74, 113, 115, 127, 130–134, 140, 143–144, 153–154, 157, 160, 162–164, 176, 186, 191, 266, 271, 312–313 Kemmerling, Andreas 94 Kern, Andrea 139, 190, 201 Khurana, Thomas 157–158 Korsgaard, Christine 246 Koyré, Alexandre 19, 32, 35 Kuhn, Thomas S. 20, 51, 99, 117, 118, 122, 227 Kukla, Rebecca 182, 183, 197 Lance, Mark 182–183, 197 Latour, Bruno 7, 20, 33–35, 99, 222 Lauer, David 139, 188 Liptow, Jasper 79–80, 308 Mach, Ernst 28, 51–52 McDowell, John 9, 12, 15–17, 28, 30, 53, 56, 103–109, 123, 127–130, 134, 137–143, 145–146, 148–157, 159, 163–165, 167–179, 181–202, 204–215, 217–219, 221, 235–237, 240, 250, 260, 275, 296, 313– 314 Menke, Christoph 32, 42–43, 157 Merleau-Ponty, Maurice 167, 173 Misak, Cheryl 25–29, 53, 224– 225, 227, 231, 233–234, 240, 244, 250, 258–259, 261–270, 272–273, 275–276 Mounce, Howard O. 152, 231, 234 Müller, Jan 16, 104 Neuber, Matthias 62, 66, 71, 77 Neurath, Otto 17, 48, 53, 60, 63, 350  |  Personenregister 

67–69, 71–73, 77, 85, 89, 90, 95, 97, 99, 115, 177, 184, 216, 222 Peirce, Charles S. 9, 13–15, 17, 24, 25, 28, 30, 45, 48, 53, 221–265, 268, 270, 272, 274–279, 286–287, 294, 298, 314–316, 319 Peschard, Isabelle 187, 197, 201 Pinkard, Terry 29, 42, 49–51, 53, 157, 198 Putnam, Hillary 25, 61, 100, 117 Quine, Willard van Orman 17, 25, 27–28, 48, 53, 77, 80, 88, 96, 100, 102–103, 112–114, 116–119, 122–124, 126, 128, 142, 164 Rorty, Richard 8, 25–27, 53, 56, 101, 103, 111, 148, 160, 224, 234, 300 Rousseau, Jean-Jacques 157–159 Ryle, Gilbert 64, 167, 172 Schaffer, Simon 20, 35, 36 Schlick, Moritz 68, 89, 126 Schnädelbach, Herbert 25, 29–30, 146–147, 163, 198, 219 Schopenhauer, Arthur 147 Searle, John R. 84 Sedgwick, Sally 30, 69 Seel, Martin 32, 80 Sellars, Wilfrid 25, 30, 48, 77, 100, 106, 112–113, 127–128, 164–165, 182–183, 198 Shapin, Steven 20, 33, 35–36, 46 Stroud, Barry 197–198 Stüber, Karsten 135, 140 Taylor, Charles 43, 60–61, 144, 151, 152, 168, 185, 290 Uebel, Thomas 28, 51–53, 62, 66, 77, 95

Wagner, Peter 20, 31, 33–34, 37–39 Williams, Bernard 57 Williams, Michael 140, 210

Wittgenstein, Ludwig 28, 73, 80, 82–83, 102, 122, 127, 134, 146, 149, 161, 167, 203, 209, 299–300

Personenregister  |  351

Sachregister Allgemeinheit 239, 270, 283, 286, 294, 297, 330 Anerkennung 14, 36, 105, 161, 258, 272, 293, 316, 317, 327, 329 Anthropologie 157, 180, 213 Artikulation 13, 59, 138, 139, 143, 155–157, 190–191, 193, 200–201, 218, 228, 289–290, 297–298, 304–305, 324 Autonomie – exklusive 157 – inklusive 154, 156–159, 161–162, 164–166, 173–174, 179, 189, 193, 204, 208 – praktische 23, 160 – rationale 22–23, 116, 157, 175, 185, 207–208, 218, 272, 316 – und Moderne 8, 37–43, 320 Begrifflichkeit der Wahrnehmung, Begrifflichkeitsthese 177, 188–191, 193 belief-doubt 230, 239, 261, 264 common sense 210–214 coping 171–172, 185, 188 Darwinismus 282 Dezentrierung 146–147, 219, 283 Dualismus 105–106, 109–110, 126, 145, 187, 275 – und Grenzziehung 104 – von Schema und Gehalt 123, 127, 130, 134, 139–140, 150, 217, 273, 313

Einheitswissenschaft 62–63, 69–71, 87 Empirismus 26, 51, 103, 106–107, 112, 121, 123–125, 128–130, 136, 142, 173, 181, 191–192, 195, 198, 223–224, 286, 331 – und Peirce 224, 241 – Logischer 9–12, 25, 28, 48–49, 55, 57, 60–63, 66, 86–88, 92, 95–97, 99–101, 105, 113, 116, 125, 128, 143–144, 163–164, 181, 215, 224 – minimaler 17, 142, 155, 186 Erfahrung – deklarative 12, 14, 155, 183, 186–187, 195, 203–204, 208, 214, 225–226, 229, 240, 296, 314 – Öffentlichkeit der Erfahrung 262–264, 267, 298 – transformative 14 Experiment / experimentelle ­Methode 19, 31, 35, 48, 52, 99 – im Pragmatismus 14, 222, 225– 229, 238, 239, 241–244, 270, 298, 307, 314, 317, 320, 325–326, 331 Fähigkeiten – begriffliche 190, 192, 194–195 Fallibilismus 26–27, 49, 53 Festlegung 68, 71, 89, 272, 287–289, 313, 321–324, 327, 329 Form – aristotelisch 59, 169, 180–181, 191, 308 – logische 83, 144, 249, 326   |  353

Freiheit, 11, 21, 23, 43, 47, 63, 84, 143–145, 147–151, 153, 156–160, 163, 166, 175–176, 186–187, 216, 218, 258, 275, 294, 313–314, 320, 329–331 – und Moderne 34, 36, 39, 143 – gebundene 8–9, 13, 23, 204–208, 236, 261, 293 Gaslighting 132 Gefühle 62, 90, 185, 251, 265, 293, 306, 318, 323–324 Gegebenes 106, 120, 155, 239, 260, 314 – »Mythos des Gegebenen« 19, 106, 112, 128, 142, 164, 192, 281 Gehalt – bei Carnap 79 – empirischer 76–77, 129, 138, 142, 147–148, 154, 181, 186, 206 Genealogie 57 Gesetz 8, 38, 78, 95–96, 150, 157– 162, 165, 219, 262 Gewohnheit (siehe auch habit) 245, 247–252, 316–317, 323 habit (siehe auch Gewohnheit) 245, 248–252, 264, 271, 316 Holismus 74, 79–81, 116, 198, 238, 288, 297 Individualität 41, 283–287, 292, 297 inquiry – bei Dewey 9, 13, 276–280, 286– 287, 292–293, 297–305, 307, 315, 319, 321–325, 327, 330 – bei Peirce 15, 221, 228–230, 233, 239, 253–274, 287, 319 Instinkt 223, 233, 251, 262 Instrumentalismus – bei Carnap 92, 97 – und Mittel bei Dewey 281, 285, 354  |  Sachregister 

290–291, 300–308, 317, 321–327, 330–331 Intellektualismus 166–168, 171–174, 178, 181–182, 211, 296 Körper 64, 134, 158, 167–168, 171, 173, 188, 282, 304 Konflikt 11–12, 14–16, 65, 154–155, 166, 267–269, 283, 296, 306, 316–317, 319–320, 326, 330 Kontext 289, 300, 330 Kontrolle 157, 175–176, 186, 192, 194, 199–202, 204–205, 243, 256, 269, 292–296, 302, 307, 315, 317 Krise – epistemologische 51, 53, 64 Manifest 66–68, 215–216 Moderne 17–18, 20–24, 27, 29–41, 43–46, 48–50, 53, 58, 61, 65, 68, 115–116, 149, 151–152, 155, 165, 178, 212, 219, 233, 271, 311, 321 Modernekritik 36 Natur – zweite 150–151, 153, 168–170, 178, 181, 190–191, 208, 210, 215, 219, 235, 250 Naturalismus 16, 151, 181, 219, 281, 313 Negativität 260, 264, 276, 283, 315 Neuraths Schiff 53–54, 115, 177 Normativität 160–161, 163, 165, 168, 245–246, 259, 261, 277–278, 294, 296, 299 Perspektive 39, 92, 106, 109, 113– 115, 119, 122, 124, 127, 139, 141, 179, 218, 236, 244, 254, 280 Pluralität 22, 97, 115, 117, 120, 122, 135, 138, 215, 217, 218, 229, 248, 254, 258, 304, 306

Post-positivismus 20, 72, 81, 99, 100, 122 Postformalismus 12, 103, 110, 143, 170, 186, 223, 225, 229, 235, 240, 250, 259, 275, 293, 296 Protokollsätze 11–12, 19, 63, 76, 86, 88–90, 95–96, 107, 126, 164, 183–184, 195 Qualitäten 90, 284–286, 290, 292, 294, 324, 328–329 Realismus 53, 56, 72, 117, 133, 148– 153, 281, 300 Rehabilitierung der Objektivität 143, 149, 151, 154, 194 Relativismus 115, 117–118, 121, 313 – begrifflicher 113–115, 117, 121 Ritual 290–291 Schema, Schemadenken (siehe auch »Dualismus von Schema und Gehalt«) 112–128, 130, 134– 135, 138–140, 150, 156, 191, 217, 273 Selbst – als Mittel 321–323, 325–329 – in Erfahrung impliziert 317, 320, 328–329 Selbstverhältnis 56, 170, 177, 249, 266, 285, 329 Selbstverständnis 19, 39, 68, 214–215, 218–219, 228, 244, 271, 300, 312, 320 Semiotik 278–280 Situation 13–14, 57, 146, 229, 268–269, 284, 286–289, 292–293, 297–298, 301, 303–304, 306, 308, 315–316, 318, 323–326, 328 Skeptizismus – kantischer 132–133, 139–140, 181 – kartesischer 131–132–139

– bei Cavell 105 Sprachdezisionismus 94, 217 Sprache – bei Dewey 281, 305, 307–309 Sprachphilosophie 28, 55–56, 66–67, 159, 161, 196, 210 Stellungnahme 8, 12, 63, 155, 183, 204–205, 226, 271, 282, 288, 313–314, 328 Struktur 11, 71, 74, 81–83, 90, 165, 168, 188–189, 245 Strukturalismus 81–82 Subjekt 30, 40–42, 61, 104, 133, 158, 193–194, 197, 205, 229, 232, 239–240, 246, 282, 287 Subjektbegriff 10, 42, 62 Supplementierung, Supplement, supplément 34, 303–304, 306, 322, 330 Szientismus 68, 223–224, 228, 259 – kultureller 222, 227 Theoriewahl (Problem der) 87, 92–93, 97 Toleranzprinzip 84–86, 91, 116 Tragödie 269 Transparenzthese 59 Triangulation 110, 145, 236 Unverfügbarkeit 278, 279, 281, 283–289, 292–293, 297, 303, 306, 316, 323, 330 Wachstum (growth) 160, 279 Wandel 18, 21, 51, 65, 117–118, 122, 149, 225, 282, 292–293, 300, 322, 326 wissenschaftliche Revolution 19, 20, 31, 33, 35, 43, 149 »Wissenschaftliche Weltauffassung« 48, 60, 63, 66–68, 70–74, 77, 90–91, 93, 101, 207, 215–216 Sachregister  |  355

Wohlgeformtheit 59, 65, 247 Zweifel 40–41, 47, 49, 63, 131–135, 137, 140–141, 148, 211, 239–240,

356  |  Sachregister 

253, 255, 263–264, 268, 277–278, 286–288, 293, 301, 318

Der Affe stammt vom Menschen ab Philosophische Etüden über unsere Vorurteile Von Günter Fröhlich

I 

n 24 kleinen und überschaubaren Übungsstücken nimmt sich Günter Fröhlich gängiger Vorurteile und vor­ gefasster Meinungen an:

Glänzend geschrieben [...] stilistisch so wunderbar leichtfüßig. Dieter Borchmeyer Ebenso anregend wie vergnüglich [...] rundweg empfohlen. Günther Bien Günter Fröhlich Der Affe stammt vom Menschen ab Philosophische Etüden über unsere Vorurteile 341 Seiten ISBN 978-3-7873-2988-5 Kartoniert  21,90  (auch als eBook erhältlich)

meiner.de/blauereihe

Ansichten wie »Der Mensch stammt vom Affen ab«, »Wahrheit ist relativ« oder »Schön ist, was gefällt« werden zunächst vorgestellt und möglichst stark gemacht, um sie anschließend in Zweifel zu ziehen und zu erschüttern. Die Etüden sind so gestaltet, dass eher ungewohnte Argumente vorgebracht und verblüffende Betrachtungen angestellt werden, weil beim Denken jederzeit mit Überraschungen zu rechnen ist; und sie sind offen gehalten, weil es auf das selbstständige Weiterdenken ankommt und nicht allein auf den Bezug auf die philosophische Tradition. In diesem Buch erprobt der Philosoph Günter Fröhlich das hierzulande noch wenig eingeführte Konzept der philosophischen Etüde: Wie das Klavierspiel (man denke an Chopin) oder eine handwerkliche Fertigkeit lässt sich auch das Denken üben, wenn wir häufig, b ­ ewusst und geregelt über etwas nachdenken – und wie etwa beim sportlichen Training ist es wichtig, nicht einfach »drauflos zu denken«.