Die verlorene Gemeinschaft: Der Protestantismus und die Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft (1945–1972) [1 ed.] 9783666570568, 9783525570562


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German Pages [557] Year 2018

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Die verlorene Gemeinschaft: Der Protestantismus und die Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft (1945–1972) [1 ed.]
 9783666570568, 9783525570562

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Felix Teuchert

Die verlorene Gemeinschaft Der Protestantismus und die Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft (1945–1972)

Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte

Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Siegfried Hermle und Harry Oelke Reihe B: Darstellungen Band 72

Vandenhoeck & Ruprecht

Felix Teuchert

Die verlorene Gemeinschaft Der Protestantismus und die Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft (1945–1972)

Vandenhoeck & Ruprecht

Das Werk wurde fþr den Druck þberarbeitet. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.de abrufbar.  2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: 3w+p, Rimpar

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0874 ISBN 978-3-666-57056-8

Vorwort Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine überarbeitete Fassung meiner Dissertationsschrift, die ich im Oktober 2016 an der Fakultät für Geschichtsund Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereicht und im Februar 2017 verteidigt habe. Auch wenn die wissenschaftliche Arbeit viele einsame Stunden in der Studierstube mit sich bringt, haben doch viele Menschen einen Anteil daran, dass ich diese Arbeit schreiben und zum Abschluss bringen konnte. All den akademischen Lehrerinnen und Lehrern, den Kolleginnen und Kollegen und Freundinnen und Freunden, die mit Rat und Tat zur Seite standen, möchte ich an dieser Stelle danken. An erster Stelle ist meine Erstbetreuerin, Frau Prof. Dr. Claudia Lepp zu nennen. Sie regte diese Arbeit an, begleitete das Forschungsprojekt mit großer Anteilnahme und starkem Interesse. Für ihre ausgesprochen engagierte Betreuung, konzeptionelle Unterstützung, Bereitschaft zur genauen und sorgfältigen Lektüre und die viele Zeit, die sie investierte, gebührt ihr großer Dank. Dass sie mich von anderweitigen Verpflichtungen frei hielt, ermöglichte mir ein konzentriertes und zielgerichtetes Arbeiten. Ebenso möchte ich Frau Prof. Dr. Szöllösi-Janze danken, die das Zweitgutachten übernahm, sich in ihrem Gutachten trotz vielfältiger anderer Verpflichtungen intensiv mit dem Thema auseinandersetzte und mir darüber hinaus die Gelegenheit bot, Konzeption und Thesen im Kolloquium des Lehrstuhls für Zeitgeschichte vorzustellen. Das Oberseminar des Lehrstuhls für Zeitgeschichte, an welchem ich während der gesamten Projektlaufzeit teilnehmen durfte, habe ich als sehr anregend und gewinnbringend empfunden. Ebenso möchte ich Herrn Prof. Dr. Harry Oelke danken, der in der Disputation die Theologie vertrat und der mir ebenfalls die Möglichkeit bot, die Arbeit im kirchengeschichtlichen Oberseminar der Theologischen Fakultät der LMU München vorstellen und diskutieren zu können. Frau Prof. Dr. Christiane Kuller gab wichtige Anregungen in den Diskussionen und Seminaren der Forschergruppe und bot mir zudem ebenfalls die Gelegenheit, das Projekt in ihrem Kolloquium in Erfurt zu präsentieren. Auch die Soziologin Dr. Irmhild Saake stellte ihre Expertise beratend zur Verfügung. Prof. Dr. Siegfried Hermle und Prof. Dr. Harry Oelke danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte.“ Die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanzierte das Projekt (DFG-Geschäftszeichen: FOR 1765 TP 9 LE 2393/2–1) und ermöglichte mit einem Druckkostenzuschuss die Veröffentlichung der Arbeit. Die Arbeit entstand im Rahmen der interdisziplinären DFG-Forschergruppe „Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik“.

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Vorwort

Die Diskussionen zwischen Theologie, Geschichtswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft waren nicht immer einfach und manchmal kontrovers, aber im Endeffekt immer gewinnbringend und spannend. Interdisziplinarität heißt, und das scheint mir ein wichtiger Erkenntnisgewinn zu sein, zweierlei: Die eigene Perspektive hinterfragen und überschreiten, aber auch, sich der eigenen disziplinären Verortung und Perspektivität bewusst zu werden und den eigenen Standpunkt zu vertreten. Meinen Kolleginnen und Kollegen aus der Forschergruppe – Dr. Katja Bruns, Stefan Fuchs M.A., Dr. Sabrina Hoppe, Dr. Sarah Jäger, Dr. Georg Kalinna, Dr. Teresa Klement, Dr. Hendrik Meyer-Magister, Dr. Tobias Schieder und Philipp Stoltz – danke ich für spannende Diskussionen und das kollegiale, solidarische und freundschaftliche Miteinander. Zudem möchte ich den Professorinnen und Professoren der Forschergruppe Prof. Dr. Christian Albrecht, Prof. Dr. Reiner Anselm, Prof. Dr. Andreas Busch, Prof. Dr. Hans Michael Heinig, Prof. Dr. Christiane Kuller, Prof. Dr. Martin Laube und Prof. Dr. Claudia Lepp für ihre Anregungen und engagierten Diskussionen danken. Oberstudienrat Bernd Granzin hat das Manuskript ganz, mein Bonner Promotionskollege Benedikt Brunner große Teile gelesen, wofür ich ebenfalls sehr dankbar bin. Tief empfundene Dankbarkeit gilt meiner geliebten Frau, Dr. theol. Lisanne Teuchert, die nicht nur Verständnis für unzählige Stunden am Schreibtisch aufbrachte, sondern mich mit ihrer Liebe bedingungslos unterstützte, mit Rat und Tat zur Seite stand und der Arbeit in kritischer Solidarität verbunden war. Mit ihrem scharfen und wachen Intellekt und ihrer theologischen Expertise war sie eine anregende Diskussionspartnerin und fand die notwendigen ermunternden Worte, wenn es einmal nicht weiter ging. Ihr ist dieses Buch gewidmet.

Inhalt

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Thema, Fragestellung und Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . 1.2 Die Vertriebenen in der allgemeinhistorischen und kirchengeschichtlichen Literatur: Ein Forschungsüberblick . . 1.3 Untersuchungsperspektiven und Diskussionszusammenhänge 1.4 Methodisches Selbstverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Begriffe und Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.4 Vertriebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Untersuchungszeitraum und Quellenbasis . . . . . . . . . . .

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2. Die verlorene Gemeinschaft und die Entdeckung der Gesellschaft 2.1 Masse, Vermassung und sozialer Kampf: Topoi der kulturkritischen Gesellschaftsdeutung als integrationspolitische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die Gesellschaftsdiagnosen der kirchlichen Vertriebenengremien im Kontext der innerkirchlichen Integrationsdebatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Gesellschaftsdiagnosen und Integrationskonzepte von EKD, Hilfswerk und Landeskirchen . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Die Soziale Frage und die Verbürgerlichung der Kirche: Eine Denkfigur der theologischen Gesellschaftsdeutung und Kirchenkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 „Sozialer Kampf“ als „Kampf gegen Christus“? . . . . . . 2.1.5 Der kritische Blick auf den Westen: Die modernekritische Gemeinschaft-Gesellschaft-Dichotomie in der soziologischen und theologischen Gesellschaftsdeutung . 2.2 Auf der Suche nach Gemeinsamkeit: Ethnonationale Selbstentwürfe und das Verhältnis von Einheit und Differenz . 2.2.1 Die Beschreibungskategorien „Volk und Volkstum“ als ordnungspolitische und integrationspolitische Begriffe . 2.2.2 Die Identität von Kirche und Volk und die theologische Bewertung von Volk und Volkstum . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.3 Kulturpolitische Konzeptionen und Initiativen . . . . . . . . . . 2.3.1 Die gesetzliche Verankerung der Kulturpolitik und die kulturpolitischen Vorstellungen in den staatlichen Vertriebenengremien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Der Umgang mit der innerkirchlichen Differenz . . . . . . 2.3.3 Kulturpolitik und Differenzbewältigung in der EKD . . . 2.4 Die Integrationsfähigkeit des ländlichen und industriellen Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Die Eingliederung heimatvertriebener Landwirte und die Konstruktion des ländlichen Raumes . . . . . . . . . . . . 2.4.2 „Das Flüchtlingsproblem ist zu allererst ein Problem des Dorfes“ – Das Dorf in der Kritik . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Integration durch Industrie und das Modell der Flüchtlingsstadt: Arbeitsmarktpolitische Erwägungen und der Selbsthilfegedanke des Hilfswerks . . . . . . . . . . . . 2.5 Zwischen Affirmation und Kritik: Modernedeutungen angesichts der Vertriebenenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Elisabeth Pfeil: Der Flüchtling als Symbol der Zeitenwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Modernedeutungen auf den Tagungen des Ostkirchenkonvents und in der Zeitschrift „Remter“ . . . . 2.5.3 Kann Heimat auch im Westen sein? Wilhelm Brepohls Heimattheorie im Kontext der Moderne und ihre Rezeption in der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Völkisch und protestantisch? Die Flüchtlingssoziologie in protestantischen Kommunikationszusammenhängen und ihre Rolle im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.1 Wissenschaftsgeschichtliche Bemerkungen zur Flüchtlingssoziologie und zur Kontinuitätsfrage . . . . . . 2.6.2 Stella Seeberg und die Hermannsburger Forschungsstelle . 2.6.3 Der Soziale Protestantismus und die „Dortmunder Waschanlage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.4 Max Hildebert Boehm, der Ostkirchenausschuss und das Hilfswerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.5 Die Vertriebenenfrage als Thema der Religions- und Kirchensoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.6 Protestantismus, völkisches Denken und Flüchtlingssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3. Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung: Der Kriegslastenausgleich und weitere vertriebenenpolitische Initiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Grundzüge des Lastenausgleichs und seine sozialgeschichtliche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Zwischen Gestaltungsanspruch und Sozialstaatsskepsis: Protestantische Positionierungen zum Sozialstaat und zur Sozialpolitik angesichts des Lastenausgleichs . . . . . . . . . . 3.2.1 Caritas und Opfer statt Sozialstaat und Sozialpolitik? Die Reaktivierung sozialstaatsskeptischer Traditionen . . . . . 3.2.2 Legitimationsfiguren der protestantischen Sozialpolitik . . 3.3 Die protestantische Diskussion nach der Währungsreform . . . 3.3.1 Lastenausgleich als Gesellschaftsreform: Die Konzepte des Hilfswerks und des 15er-Ausschusses . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die theologische Reflexion des Eigentums . . . . . . . . . 3.3.3 Soziale Gerechtigkeit versus Primat der Wirtschaft? Normative Begründungsmuster und grundlegende Gestaltungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 Die Lastenausgleichsdiskussion in der evangelischen Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die Konkretisierung der Lastenausgleichsdiskussion in den 1950er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Initiativen für ein zweites Wort der EKD zum Lastenausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Von der Theologie zur Ökonomie. Die Beratungen der Kammer für soziale Ordnung und die zweite Stellungnahme der EKD zum Lastenausgleich . . . . . . . 3.4.3 Das Wort der EKD zum Lastenausgleich in Politik und Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Zwischen Sozialpolitik und Interessenpolitik: Die protestantische Mitgestaltung an der Vertriebenenpolitik, Kommunikationskanäle und Wirkungspotentiale . . . . . . . . 3.5.1 Formalisierte Beziehungen: Der Beirat im Bundesvertriebenenministerium . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Nicht-formalisierte personenzentrierte Netzwerke zwischen Staat und Kirche und das Engagement von Johannes Kunze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Politik des Kompromisses? Der protestantische Sozialpolitiker Johannes Kunze im Gesetzgebungsprozess . 3.5.4 Kirchliche Unterstützung für staatliche Initiativen . . . . 3.6 Bedingungen einer protestantischen Mitwirkung und die Erkennbarkeit des Protestantismus im politischen Prozess . . .

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Inhalt

3.7 Die protestantische Kritik am Lastenausgleich nach seiner Verabschiedung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 3.8 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 4. Die protestantische Bilanzierung des Integrationsprozesses und die Auseinandersetzung mit „Heimat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Rückkehr in den Osten und Integration im Westen: Integrationspolitische Implikationen der protestantischen Auseinandersetzung mit „Heimat“ . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Zwischen Eingliederungserfolg und Rückkehrhoffnung . . 4.1.2 Zwischen theologischer Legitimation und Kritik: Das Recht auf Heimat als moralisches, rechtliches und theologisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Heimat und Heimatrecht als Thema der protestantischen Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.4 Zwischen Annäherung und Distanz: Das Verhältnis von Ostkirchenausschuss und Vertriebenenverbänden . . . . . 4.2 Die Bilanzierung des Integrationsprozesses im Vorfeld der Vertriebenen- und Ostdenkschrift von 1965 . . . . . . . . . . . 4.3 Die Genese der Vertriebenen- und Ostdenkschrift von 1965 . . 4.3.1 Entstehungsbedingungen und Debattenzäsuren . . . . . . 4.3.2 Streit um Zuständigkeit und Deutungskompetenz . . . . . 4.3.3 Debatten im Vorfeld und die Situation der Vertriebenen in der Gesellschaft: Der DEK 1965 in Köln . . . . . . . . . 4.3.4 Das „Schmerzenskind der Denkschrift“: Der Stellenwert der Integrationsproblematik während der Genese der Denkschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die Ost- und Vertriebenendenkschrift als integrationspolitisches Dokument . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Die Rezeption, Diskussion und Kommunikation der Denkschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Überblick über die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte . 4.5.2 Rechtfertigung und Diskussion der Denkschrift auf der Synode der EKD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3 Die Diskussion der Denkschrift in den kirchlichen und säkularen Vertriebenengremien und -medien . . . . . . . 4.5.4 Die Rezeption in allgemeinen kirchlichen und säkularen Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.5 Friedrich Spiegel-Schmidts Kritik an der Denkschrift . . . 4.5.6 Die Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik in Kirche, Politik und Gesellschaft in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4.6 Gescheitertes Themensetting? Empirische Beobachtungen und systematische Überlegungen zum Vertriebenendiskurs . . . . . 448 4.7 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die verlorene Gemeinschaft und die Entdeckung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die protestantische Bilanzierung des Integrationsprozesses und die Auseinandersetzung mit „Heimat“ . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Abschließende Überlegungen: Der Protestantismus in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . 6.1 Archivalische Quellen . . . . . . . . 6.2 Unveröffentlichte Literatur . . . . . . 6.3 Veröffentlichte Quellen und Literatur

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7. Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 8. Personenregister/Biografische Angaben . . . . . . . . . . . . . . . . 531

1. Einleitung 1.1 Thema, Fragestellung und Aufbau der Arbeit Während der letzten Kriegswirren und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden ca. 14 Millionen Deutsche aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße vertrieben. Viele von ihnen waren bereits während der letzten Kriegsmonate vor der heranrückenden Roten Armee geflohen, manche von ihnen hatten nach Kriegsende wieder die Rückkehr in die Heimat angetreten, ehe sie erneut vertrieben wurden.1 Von den 14 Millionen erreichten 8 Millionen Westdeutschland, 4 Millionen die Sowjetische Besatzungszone, während die Zahl der ums Leben Gekommenen auf knapp 2 Millionen geschätzt wird.2 Die Integration von Millionen besitzlosen Flüchtlingen und Vertriebenen stellte die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft wie den Nachkriegsprotestantismus vor immense Herausforderungen. Der Historiker Hans-Günter Hockerts spricht mit Blick auf die Vertriebenen von der „Gründerkrise der Bundesrepublik“3, andere identifizieren die Vertriebenenfrage als „schwerwiegendstes Strukturproblem der Nachkriegszeit.“4 Soziale Spannungen und materielle Verteilungskonflikte prägten die „Zusammenbruchgesellschaft“, die zugleich eine Konfliktgesellschaft war.5 Der materielle Interessenkonflikt zwischen Vertriebenen und Einheimischen verband sich mit mindestens zwei divergierenden Erinnerungs- und Schicksalsgemeinschaften und war überlagert durch eine „veritable Opferkonkurrenz.“6 Nach Michael Schwartz habe sich das krasse, von der nationalsozialistischen Ideologie geförderte, vorurteilsbeladene Ost-Westgefälle nun gegen die eigenen Landsleute aus dem 1 Beer, Flucht, 16–19. Beer unterscheidet drei Vertreibungsphasen und erwähnt dabei die NSUmsiedlungspläne. 2 500 000 deutsche Opfer lassen sich gesichert nachweisen, während knapp 1,5 Millionen Schicksale ungeklärt sind und vermutlich bleiben. Die in der Literatur genannten Zahlen unterscheiden sich beträchtlich, nicht nur wegen der unsicheren Quellenlage, sondern auch deshalb, weil es sich hierbei um geschichtspolitisch schwieriges Terrain handelt. Dabei komme es, je nach Interesse, zu bewussten Über- oder Untertreibungen. Das geht hervor aus: Kossert, Heimat, 41. 3 Hockerts, Integration, 25. 4 Grosser, Solidargemeinschaft, 65. 5 Der Begriff „Zusammenbruchgesellschaft“ geht zurück auf: Klessmann, Doppelte Staatsgründung, 37; auch Schwartz, Umsiedlerpolitik, 21. Der Begriff der „Konfliktgesellschaft“ hier nach ebd., 8. 6 Schwartz, Umsiedlerpolitik, 22. Kossert spricht vom „deutschen Rassismus gegen deutsche Vertriebene“ und nennt eine Fülle an Beispielen. Vgl. Kossert, Heimat, v. a. 71–86. Grosser spricht von einem „Kalten Bürgerkrieg“ (Grosser, Solidargemeinschaft, 72).

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Einleitung

Osten gerichtet.7 So notierte Propagandaminister Joseph Goebbels, der während einer Autofahrt auf die ersten Flüchtlingstrecks stieß, in sein Tagebuch: „Was da unter der Marke deutsch in das Reich hereinströmt, ist nicht gerade erheiternd“.8 Zugleich resultierten aus der unfreiwilligen Massenzuwanderung auch längerfristige gesellschaftliche und wirtschaftliche Transformations- und Modernisierungsprozesse.9 Diese Prozesse sind aber nicht nur aus migrations- oder sozial- und politikgeschichtlicher, sondern auch aus einer diskursanalytischen, ideen- oder kulturgeschichtlichen Perspektive interessant: Der mit dem Kriegsende manifest gewordene Plausibilitätsverlust der vom Nationalsozialismus propagierten Volksgemeinschaftskonzeption, der Verlust der Ostgebiete, die Konfrontation mit dem kulturell Fremden in Gestalt der Vertriebenen und die gesellschaftlichen Transformationsprozesse der Nachkriegszeit stellten das gesellschaftliche Selbstverständnis und die nationale Identität der westdeutschen Gesellschaft zur Disposition. Die Integration der Vertriebenen, die zum überwiegenden Teil evangelisch waren,10 betraf nicht nur die deutsche Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, sondern tangierte auch religiöse Fragen und insbesondere den deutschen Protestantismus auf unmittelbare wie mittelbare Weise.11 Gleichzeitig verschob sich die bis dahin konfessionell relativ homogene Struktur Deutschlands grundlegend, denn bei der Verteilung der Vertriebenen in die einzelnen Regionen wurde keine Rücksicht auf die konfessionelle oder landsmannschaftliche Zusammensetzung genommen.12 Der Protestantismus sah sich mit der Herausforderung konfrontiert, ca. fünf Millionen zum Teil bekenntnisverschiedene evangelische Vertriebene in die eigenen Gemeinden und Landeskirchen integrieren zu müssen. Als gesamtgesellschaftlich relevante und – neben dem Katholizismus – „größte intermediäre Organisation der Gesellschaft“, die „zwischen der Privatsphäre des Einzelnen und den Makroinstitutionen der modernen Gesellschaft“ vermittelt13, leisteten die evangelischen Kirchen einen bislang unterbelichteten substantiellen Beitrag zur Integration 7 Schwartz, Umsiedlerpolitik, 20. Vgl. auch Herbert, Ausländerpolitik, 197. Insgesamt dominiert in Herbert wirtschafts- und sozialgeschichtlich orientierter Darstellung das Narrativ der „Erfolgsgeschichte“ (ebd., 195–201). 8 Zitiert nach Schwartz, Umsiedlerpolitik, 20. Vgl. Goebbels, Tagebücher, Teil II, Bd. 15, 450. 9 So Schçnw lder, Einwanderung, 11 f. Auch Herbert, Ausländerpolitik, 192–201. 10 Herzog, Art. Ostgebiete, 1432; siehe auch Neubach, Rolle, 202. 11 Demnach verlor allein die Altpreußische Union ein Drittel ihres Gebietes und ihrer Gemeinden. Hierzu Maser, Aufnahme, 652. 12 Ebd. Mathias Beer vergleicht die konfessionellen Verschiebungen mit denen infolge des 30jährigen Krieges: Beer, Flucht, 106. Die konfessionelle Durchmischung relativierend: Parisius, Aufnahme, 30 f. 13 Kçnemann, Interessenvertretung, 124. Ähnlich auch Nolte, der auf die Identität von „christlicher Gemeinschaft“ und „säkularer Gesellschaft“ und auf die privilegierte Situation der Sozialverbände im Sozialstaat aufmerksam macht: Nolte, Religion, 138 f. Grundsätzlich müssen religiöse Akteure in der Analyse der bundesrepublikanischen Gesellschaft systematisch berücksichtigt werden. So jedenfalls Großbçlting, Himmel.

Thema, Fragestellung und Aufbau der Arbeit

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der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft, und zwar auf zweifache Weise: Einerseits waren die Vertriebenen in die eigenen Institutionen und Strukturen in Form von Landeskirchen und Gemeinden zu integrieren, andererseits beanspruchten protestantische Akteure einen über die innerkirchliche Sphäre hinausgehenden gesellschaftspolitischen Mitgestaltungsanspruch. Aus diesem Grund stellt sich neben den primär kirchen- und konfessionsgeschichtlichen Problemen die Frage, inwieweit die zu integrierenden Vertriebenen den Protestantismus zu gesamtgesellschaftlichem, zu diakonisch-karitativem, sozialethischem und sozialpolitischem Engagement motivierten und inwieweit er gesamtgesellschaftlich-politische Integrationsdebatten mitgestaltete. Vor dem Hintergrund eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses möchte die vorliegende Arbeit die Wahrnehmung und Deutung der Integration der Vertriebenen durch den Protestantismus sowie Rolle und Einfluss des Protestantismus auf die Integrationsdebatten, die hier zugleich als gesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurse verstanden werden, untersuchen. Insgesamt verspricht die Arbeit einen dreifachen Mehrwert: Sie fügt der sozialgeschichtlich dominierten Vertriebenenforschung eine Analyse der gesellschaftlichen Selbstverständigungsdebatten hinzu, die im Protestantismus anlässlich der Vertriebenenproblematik geführt wurden. Zugleich möchte die Arbeit die historische Erscheinungsform „Protestantismus“ in einer gesellschaftlichen Debatte beleuchten, wie er sich in Form seiner Debattenbeiträge, der gebrauchten Argumentations- und Deutungsmuster und seiner Akteure präsentiert. Ein weiteres Erkenntnisziel ist die Parallelisierung und Gegenüberstellung der innerkirchlichen und gesamtgesellschaftlichen Integrationskonzepte. Insgesamt kann von einer substantiellen Beteiligung des Protestantismus an den Debatten über die Integration der Vertriebenen ausgegangen werden. Drei Leitfragen stehen im Zentrum der Arbeit, die zugleich das thematische Gliederungsprinzip dieser Arbeit bestimmen und die teilweise mit einer chronologischen Phasenabfolge korrespondieren: Im ersten Teil stehen die Integrationskonzepte und dahinterliegende Gesellschaftsvorstellungen im Mittelpunkt des Interesses, die von Theologen und Soziologen,14 die sich in protestantischen Kommunikationskontexten mit der Vertriebenenproblematik befassten, formuliert wurden. Welche Vorstellungen von Gesellschaft, die höchst verunsichert, in einem fundamentalen Wandel begriffen und auf der Suche nach einem nationalen und gesellschaftlichen Selbstverständnis war, wurden anlässlich des Integrationsprozesses entwickelt und diskursiv ausgehandelt? Wie wurde die neue Differenzerfahrung verarbeitet, wie das Problem der Verhältnisbestimmung von Pluralität und Integration gelöst? Wie wurden dabei Auswirkungen und Modernisierungserscheinungen im Kontext 14 Im Folgenden schließt die grammatikalisch männliche Form auch alle weiblichen Akteure mit ein.

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Einleitung

der Vertriebenenintegration gedeutet und bewertet? Welche Rolle spielte dabei die Theologie und die im Protestantismus rezipierte Soziologie? Inwieweit lässt sich eine „Soziologisierung des Flüchtlingsproblems“15 im protestantischen Kontext beobachten und welcher Anteil an diesem Prozess kann dem Protestantismus zugesprochen werden? In diesem Zusammenhang interessieren die theologisch-soziologischen Gesellschaftsanalysen und das in der Forschung bislang vernachlässigte Verhältnis von Flüchtlingssoziologie und Protestantismus. Im zweiten Teil werden die protestantischen Beiträge zu sozialpolitischen Gesetzgebungsvorhaben, insbesondere zum Lastenausgleich, thematisiert. Dabei wird der Frage nachgegangen, inwieweit sich der Protestantismus als Impulsgeber profilieren konnte. Hier kommen einerseits Akteure, Netzwerke, Wirkungspotentiale und Kommunikationskanäle und das konkrete sozialpolitische Engagement in den Blick, andererseits interessieren die sozialethischen Beiträge und normativen Leitvorstellungen anlässlich des Lastenausgleichs. Neben diesem institutionenspezifischen Zugang über die relevanten Parlamentsausschüsse und Ministerien wird ein akteursspezifischer Zugang über ausgewählte protestantische Politiker gewählt. Im dritten und letzten Teil rückt der in den 1960er Jahren entstandene Topos der „schnellen und gelungenen Integration“ in den Fokus. Im Mittelpunkt steht die protestantische Bilanzierung und rückblickende Reflexion des Integrationsprozesses. Hier ist zu fragen, ob protestantische Akteure den Topos des „Integrationswunders“ mitformten oder infrage stellten. Die Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) von 1965 mit dem Titel „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“, die gerade wegen der hier enthaltenen ostpolitischen Aussagen und Forderungen ein großes Echo hervorrief, thematisierte auch die gesellschaftspolitische Situation der Vertriebenen in der Bundesrepublik und zeichnete ein kritisches Bild des Integrationsverlaufes und -standes.16 Während die Forschung die Denkschrift in erster Linie vor dem Hintergrund der späteren Neuausrichtung der Ostpolitik unter Willy Brandt wahrnimmt und den hier ausgesprochenen Tabubruch würdigt, soll die Denkschrift in dieser Arbeit als integrationspolitisches Dokument wahr- und ernstgenommen werden. Daher wird im Folgenden auch die Kurzfassung „Vertriebenen- und Ostdenkschrift“ anstelle der gebräuchlichen Bezeichnung „Ostdenkschrift“ gewählt, denn der Kurztitel „Ostdenkschrift“ spiegelt bereits die Verengung auf die ostpolitischen Fragen wider. Ein besonderes Anliegen dieser Arbeit ist zudem, neben der expliziten Thematisierung von Integrationsdefiziten die Debatten um Heimatrecht, Grenzverzicht und Neuausrichtung der Ostpolitik auf ihre bislang vernachlässigten integrationspolitischen 15 Begriff nach Nolte, Ordnung, 228. 16 Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn. Abgedruckt in Denkschriften, Bd. I/l, 77–126. Zugleich auch als Einzeldruck: Die Lage der Vertriebenen.

Thema, Fragestellung und Aufbau der Arbeit

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Implikationen zu befragen.17 Damit verfolgt die Arbeit den Anspruch, der an ostpolitischen Fragen orientierten Forschung ein ergänzendes Interpretationsangebot hinzuzufügen und einen differenzierteren Blick auf die vielfältigen Konnotationen und Implikationen des Heimatdiskurses zu werfen. Schließlich wird der Frage nachgegangen, warum die integrationspolitischen Thesen in der öffentlichen Diskussion der Denkschrift eine geringe Rolle im Vergleich zu den außenpolitischen und friedensethischen Thesen spielten. Innerhalb der einzelnen Großkapitel gliedert sich die Darstellung nach thematischen Zusammenhängen, Diskussionsfeldern und Deutungsmustern, wobei soweit wie möglich auch die chronologische Abfolge berücksichtigt wird. Um den protestantischen Beitrag und die protestantische Mitwirkung in einer gesellschaftlichen Debatte analysieren zu können, müssen Orte identifiziert werden, an denen die verschiedenen protestantischen und nicht-protestantischen Akteure sowie die protestantischen und nicht-protestantischen Teilöffentlichkeiten miteinander kommunizierten und an denen die Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik stattfand.18 Neben der Analyse ausgewählter protestantischer Publikationsorgane geraten gesamtprotestantisch und gesamtgesellschaftlich relevante Gesprächsforen wie der Deutsche Evangelische Kirchentag (DEK) und die evangelischen Akademien, die als die bedeutendsten institutionellen Innovationen des Protestantismus der Nachkriegszeit gelten, in den Blick.19 Die von zahlreichen Prominenten und Politikern besuchten Akademien waren einer „Kultur des Dialogs“ ver17 Ausführlicher zum Verständnis von „integrationspolitisch“ vgl. unten 32–38. 18 Der Begriff Teilöffentlichkeit hier nach F hrer/Hickethier/Schildt, Öffentlichkeit, 1 f. In der Publizistik wird zudem zwischen Versammlungs- oder Themenöffentlichkeit, wie sie, übertragen auf dieses Thema, beispielsweise in Gremien oder Synoden zum Ausdruck kommt, und Medienöffentlichkeit unterschieden. Vgl. Donges/Imhof, Öffentlichkeit, 151 f. Beide, zum Teil miteinander kommunizierenden Öffentlichkeiten sind für diese Arbeit relevant. Ausdrücklich werden hier auch interne Korrespondenzen berücksichtigt, die nicht an eine Öffentlichkeit adressiert waren, in denen aber ebenfalls gesellschaftliche Themen verhandelt und Debatten ausgetragen wurden und die unter Umständen entscheidungsrelevant waren. 19 J hnichen, Kirchentage, 129 f. Der Sozialethiker Traugott Jähnichen spricht den Akademien eine wichtige Funktion für die politische Kultur der Bundesrepublik zu (ebd., 144). Seine These, dass den Akademien nach 1945 eine „innovative Rolle für die demokratische Kultur“ und die „[…] Demokratisierung der Gesellschaft“ zuzusprechen ist (ebd.), muss allerdings als problematisch bewertet werden, da eine Wirkung der Akademien auf die Demokratisierung der Deutschen bzw. der politischen Elite empirisch nicht nachweisbar ist. Zudem verweist Schildt auf die verbreitete Skepsis gegenüber Parlamentarismus und Liberalismus und auf das Rechristianisierungsprogramm, das auf einen Primat des Christentums in der gesellschaftlichen Ordnung rekurrierte und auf die Platzierung christlich gebundener Eliten an gesellschaftlichen und politischen Schlüsselpositionen zielte. Vgl. Schildt, Abendland, 138 und 215–219; auch Greschat, Protestantismus im Kalten Krieg, 351. Zu den Akademien insgesamt siehe Treidel, Akademien; und Mittmann, Akademien. Christian Hanke spricht dem Rechristianisierungsprogramm, in dessen Kontext die Akademien entstanden sind, einen vordemokratischen Charakter zu, da es an die Identität von christlicher Gemeinde und Volk anknüpfe. So jedenfalls Hanke, Deutschlandpolitik, 103 und 457.

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pflichtet und am Kompromiss orientiert.20 Als „Orte sozialethischen Nachdenkens“ sollten hier die divergierenden gesellschaftlichen Gruppen, aber auch „Kirche“ und „Welt“ in einen Dialog treten, um sich über die sozialen Fragen der Gegenwart zu verständigen. Besondere Relevanz gewinnt in diesem Zusammenhang die evangelische Akademie Hermannsburg, der ein eigenes, von der Soziologin Stella Seeberg geleitetes Referat für Vertriebenenfragen angeschlossen war.21 Daneben interessieren auch die Gremien der kirchlichen Vertriebenenarbeit wie der Ostkirchenausschuss (OKA) und der Ostkirchenkonvent (OKK). Der sich 1946 konstituierende OKA, in dem überwiegend die ehemaligen ostdeutschen Kirchenleitungen vertreten waren, war das mit geringen Kompetenzen ausgestattete Repräsentationsorgan der evangelischen Vertriebenen beim Rat der EKD.22 Der etwas später gegründete OKK war zunächst als eine Art „Parlament“ konzipiert und sollte eigentlich den OKA, der das exekutive Organ sein sollte, mit zusätzlicher kirchenrechtlicher Legitimität ausstatten.23 Nachdem ihm eine kirchenrechtliche Aufwertung verwehrt blieb, wurde der Konvent als „Mittelpunkt“ gedacht, „von dem aus eine echte, christliche Durchdringung der Arbeit an den Vertriebenen möglich ist.“24 Neben den Vertretern der Kirchenkanzlei, des Hilfswerks und der Hilfskomitees, die die alten heimatlichen Landeskirchen repräsentierten und die die seelsorgerliche und karitative Betreuung übernahmen,25 waren daher auch Personen des öffentlichen und politischen Lebens auf den Sitzungen des Konvents präsent.26 Insofern ist der OKK als protestantischer Diskursort, an dem die Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik unter Beteiligung von Vertretern des öffentlichen und politischen Lebens stattfand und das Gespräch zwischen „Kirche und Welt“ praktiziert wurde, für diese Untersuchung relevant.

20 Reitmayer, Elite, 59. 21 Dieser Aspekt wird in der Literatur kurz erwähnt, siehe Treidel, Akademien, 153 f.; und Schildt, Abendland, 123. Ausführlicher Teuchert, Anspruch, 171–200. 22 Zur Gründungsgeschichte siehe Rudolph, Kirche Bd. I, 196–199 und 410. 23 Ebd., 421. 24 Schreiben des Vorsitzenden des Ostkirchenkonvents an Klaus v. Bismarck, Rüdiger v. d. Goltz, Harald von Königswald und Martin Donath, 30. 11. 1955 (EZA Berlin 17/710). Vgl. auch Niederschrift über die Sitzung des OKAs am 18. und 19. 12. 1951 in Bethel (EZA Berlin 17/566). 25 In dieser Zuspitzung: Stoltz/Teuchert, Integration, 24 f. Später wurde die Zuständigkeit des Hilfswerks und der Hilfskomitees begrenzt. Die seelsorgerlichen Aufgaben sollten in die Zuständigkeit der Gliedkirchen, die karitativen in die des Hilfswerks fallen (Vorlage Nr. 1.: Lage der Heimatvertriebenen. In: Kirchenkanzlei, Berlin-Weissensee, 414). 26 Ausdrücklich sollte dazu der Kreis durch Vertreter der sozialen und politischen Flüchtlingsorganisationen erweitert werden. Konkret wurde an Flüchtlingsminister Heinrich Albertz, Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer, den BHE-Vorsitzenden Waldemar Kraft, Reichsminister a. D. Walter Keudell, Staatssekretär Ottomar Schreiber, die Flüchtlingssoziologin Stella Seeberg, den Volkswirt Friedrich Karrenberg und Carl Gunther Schweitzer von der evangelischen Sozialakademie Friedewald gedacht (Niederschrift über die Sitzung des OKAs am 18. und 19. 12. 1951, EZA Berlin 17/566).

Ein Forschungsüberblick

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1.2 Die Vertriebenen in der allgemeinhistorischen und kirchengeschichtlichen Literatur: Ein Forschungsüberblick Angesichts der Fülle an allgemeinhistorischer und sozialwissenschaftlicher Literatur genügt es, die Forschungsgeschichte zur Vertriebenenproblematik kurz zu skizzieren. Anschließend werden die neuere Forschung sowie die Literatur, die sich mit dem Thema evangelische Kirche und Vertriebenenproblematik beschäftigt, etwas detaillierter dargestellt. Mathias Beer unterscheidet vier Phasen der Forschungsgeschichte.27 Die erste Phase datiert Beer in die 1950er Jahre. Hier sind vor allem die Arbeiten der sogenannten Flüchtlingssoziologen zu nennen, die soziologische, wirtschaftliche, kulturelle und sozialpsychologische Aspekte thematisierten und z. T. sozialstatistische Daten zusammentrugen.28 Unzählige Arbeiten, denen Beer einen „dokumentarischen Charakter“ attestiert, befassten sich zudem mit völkerrechtlichen, juristischen, demographischen und volkskundlichen Aspekten.29 Die zweite Phase umfasst nach Beer die späten 1950er und 60er Jahre. Hier stellt Beer einen stärkeren Fokus auf die wissenschaftliche, methodisch innovative Erforschung des Eingliederungsprozesses fest. Die vom Bundesvertriebenenministerium in Auftrag gegebene dreibändige Dokumentation über die Integration der Vertriebenen, an der renommierte Wissenschaftler mitwirkten, fällt nach Beer in diese Phase.30 Zudem rückte die Erforschung des Vertreibungsgeschehens in den Fokus.31 Die dritte Phase beginnt nach Beer mit den 1960ern: Hier beobachtet Beer einen „Wandel vom Opfer- zum Täterdiskurs“32. In dieser Phase sei es zu einer „Marginalisierung des Themas in der Wissenschaft und zu einer Instrumentalisierung des Themas in der Öffentlichkeit“ gekommen.33 Die 1980er Jahre markieren für Beer den Beginn der vierten Phase.34 Methodische Innovationen wie die der Oral History und der Alltagsgeschichte ließen einen neuen Forschungsboom über die Vertriebenen und eine Fülle an regionalen und lokalen Studien entstehen, die mentalitäts27 Im Folgenden nach Beer, Flucht, 23–31. Die gesamte bis 1988 erschienene Literatur ist aufgeführt in Krallert-Sattler, Bibliographie. 28 Beer, Flucht, 23 f. 29 Ebd., 65. 30 Ebd., 26. Zur Dokumentation siehe Lemberg/Edding, Vertriebenen. 31 Auch hierzu gab das Bundesvertriebenenministerium eine groß angelegte Dokumentation unter Mitarbeit der Historiker Werner Conze und Theodor Schieder in Auftrag, die sich im Spannungsfeld von geschichtspolitischen Interessen des Bundesvertriebenenministeriums und wissenschaftlichem Anspruch bewegte und die ein „heißes Eisen“ war (Beer, Flucht, 26). Vgl. auch ders., Großforschungsprojekt. Zur Entstehungsgeschichte und zur sich daran anschließenden methodischen Debatte siehe Faulenbach, Vertreibung, 47–49. 32 Beer, Flucht, 27. 33 Ebd. 34 Ebd., 28.

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und erfahrungsgeschichtliche Fragestellungen verfolgten.35 In diesem Zusammenhang sei der Topos der schnellen und gelungenen Integration als Mythos entlarvt, die Bundesrepublik dabei selbst als Ergebnis des Integrationsprozesses bewertet worden.36 Auch Uta Gerhardt und Thomas Grosser erblicken in den 1980er Jahren eine Zäsur.37 Für Grosser ist dafür die „Neudefinition der Zeitgeschichte als Sozialgeschichte“ entscheidend, die die „strukturgeschichtliche Perspektive auf die Bundesrepublik“ fruchtbar gemacht und dabei das Themenfeld „Zuwanderung aus strukturgeschichtlicher Sicht“ entdeckt habe.38 In diesen groben forschungsgeschichtlichen Rahmen fügt sich mittlerweile eine kaum zu überblickende Menge an lokalen und regionalen, mentalitäts- und alltagsgeschichtlichen Einzelstudien ein. Auch wenn man diese Mikrostudien vielleicht nicht pauschal als „additive Unendlichkeit des Partikularen“ abwerten muss, so kann Grosser zugestimmt werden, wenn er einen Mangel an verallgemeinernden und systematisierenden Studien feststellt und in der Konsequenz die „kritische Analyse des problemrelevanten zeitgenössischen Diskurses“ einfordert.39 An neuerer Literatur ist die umfangreiche Untersuchung von Michael Schwartz zu nennen, der die Assimilationsstrategien von SMAD bzw. SEDRegime umfassend analysiert.40 Andreas Kossert legt den Fokus auf die mit dem Integrationsprozess verbundenen Konflikte und rekonstruiert die materiellen Interessengegensätze, die Xenophobien, die systematischen Ausgrenzungs- und Diffamierungsmechanismen auf lokaler und gesellschaftlicher Ebene sowie den aus seiner Sicht „kaltschnäuzig-taktischen Umgang“ der Politik mit den Vertriebenen.41 Unzählige Sammelbände und Einzelstudien beleuchten Teilaspekte42 und beschäftigen sich beispielsweise mit dem Lastenausgleichsgesetz43, der Kulturpolitik bzw. dem Vertriebenengesetz44, erin35 Vgl. Plato, Flucht. 36 Beer, Flucht, 28 f. Vgl. auch L ttinger, Mythos. Ausführlicher ders., Integration. 37 Abweichend davon unterscheidet die Soziologin Uta Gerhardt zwei Phasen der Beschäftigung mit den Vertriebenen. Vgl. Gerhardt, Bilanz, 61. Auch Thomas Grosser identifiziert in den 1980er Jahren eine forschungsgeschichtliche Zäsur. Siehe Grosser, Solidargemeinschaft, 67. 38 Ebd. 39 Ebd., 79 f. 40 Schwartz, Umsiedlerpolitik. Schwartz beschränkt sich auf die DDR. In einigen Aufsätzen wählt er transfergeschichtliche und vergleichende Perspektiven. Im Rahmen des Systemwettbewerbs sind die jeweiligen Integrationspolitiken im Rahmen einer Abgrenzungs- und Konkurrenzlogik zu verstehen. Vgl. Schwartz, Umsiedlerpolitik, 104 f. 41 Kossert, Heimat. 42 Hier seien genannt: Hoffmann/Krauss/Schwartz, Vertriebene; Beer/Kintzinger/Krauss, Migration; Schraut/Grosser, Flüchtlingsfrage; Bade, Heimat; Oltmer, Migration; und Riecken, Migration. Jüngst erschien ein Sammelband, der die Integration der Vertriebenen mit der Integration der französischen Pieds-Noirs vergleicht und dabei zwar Unterschiede, aber auch einige strukturelle Parallelen zutage fördert. Siehe Borutta/Jansen, Vertriebene. 43 Hierzu z. B. Schillinger, Entscheidungsprozess; und Goschler/R fner, Ausgleich. In: Sozialpolitik, Bd. 3; Uffelmann, Gesellschaftspolitik; und Schwartz, Lastenausgleich. 44 Pohl, Integration; und Parak, Kultur.

Ein Forschungsüberblick

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nerungskulturellen Fragestellungen45 sowie den Vertriebenenorganisationen.46 Trotz der umfassenden Literatur zur Vertriebenenproblematik47 stellt die Rolle von Religion, Konfession und Kirche ein Desiderat da.48 Eine zweibändige Studie des Kirchenhistorikers Hartmut Rudolph aus den Jahren 1984 und 1985,49 die im Auftrag der EKD die innerkirchliche Dimension der Vertriebenenintegration aufarbeitet, ist bislang die einzige umfassende Arbeit, die sowohl die Großorganisation der EKD als auch die einzelnen evangelischen Landeskirchen, Hilfskomitees und evangelischen Verbände wie Hilfswerk und Innere Mission berücksichtigt. Rudolph würdigt in seiner Studie das umfassende karitative Engagement der evangelischen Kirche und insbesondere des Evangelischen Hilfswerks, analysiert den Umgang mit der innerkirchlichen Differenz und thematisiert die Impulse der Vertriebenen, ihrer kulturellen Traditionen und Frömmigkeitspraktiken.50 Schließlich rekonstruiert er die ekklesiologischen Debatten über das kirchliche Selbstverständnis und verortet die Auflösung der ostdeutschen Landeskirchen im Verfassungsprozess der sich neu formierenden EKD.51 Der zweite Band dieser Dokumentation rekonstruiert Genese, Inhalt und Rezeption der Denkschrift der EKD „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ von 1965.52 In Gesamtdarstellungen zur kirchlichen Zeitgeschichte nach 1945, die den Fokus auf die kontrovers geführten Westintegrations- und Wiederbewaffnungsdebatten legen, wird die Vertriebenenproblematik allerdings bes45 Lotz, Deutung; Hahn/Hahn, Flucht; dies., Vertreibung; Knittel, Vertreibung; und Scholz, Vertriebenendenkmäler. Daneben befassen sich einzelne Studien mit einzelnen Facetten, Gattungen oder Teilaspekten der Erinnerungskultur. Vgl. z. B. Faehndrich, Heimatbücher. Einen Überblick über Flucht und Vertreibung im öffentlichen Bewusstsein geben: Faulenbach, Vertreibung; Roeger, Ereignis- und Erinnerungsgeschichte. 46 Stickler, Ostdeutsch; Schwartz, Funktionäre; Ahonen Expellees; und Holtmann, Interessenvertretung. An internationalen Studien zum deutschen Vertriebenenproblem wäre vor allem die Studie von Ahonen zu nennen, die sich mit den Vertriebenenorganisationen, ihren Selbstverständnissen und ihren politischen Zielsetzungen befasst. Siehe Ahonen, Expulsion. Vgl. auch Borutta/Jansen, Vertriebene; und Hughes, Burdens. 47 Beer, Flucht, 31. Trotz dieses Befundes gebe es nach Beer immer noch Forschungslücken. 48 So zumindest Sommer, Rechtswahrungsansprüche, 395; und Wendebourg, Kirche, 17 f. Damit korrespondierend diagnostiziert Nowak „Bewußtseinsblockaden mancher Allgemeinhistoriker“ in Bezug auf Religion, Konfession und Kirche (Buchna, Jahrzehnt, 29). Inwieweit diese Aussage angesichts des Booms der zeithistorischen Religionsforschung immer noch gilt, scheint allerdings fraglich. 49 Rudolph, Kirche Bd. I; und ders., Kirche Bd. II. Den innerkirchlichen Integrationsverlauf zusammenfassend: Wendebourg, Kirche, 37–47. 50 Rudolph, Kirche Bd. I, 182–212 und 383–389; und ders., Kirche Bd. II, 293–311. 51 Ders., Kirche Bd. I, v. a. 182–212, 390–446 und 480–521. 52 Ders., Kirche Bd. II. Die vorliegende Arbeit legitimiert sich gegenüber der verdienstvollen Dokumentation von Rudolph dadurch, dass sie eine deutlich andere Perspektive und ein anderes Erkenntnisinteresse profiliert. So bleibt Rudolph auf die innerkirchliche Dimension beschränkt. Punktuelle Überschneidungen in Bezug auf die Quellenauswahl werden sich allerdings nicht vermeiden lassen. Zur Genese der EKD-Denkschrift: Heck, EKD, 149–160.

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tenfalls am Rande erwähnt.53 Einige kleinere Studien befassen sich mit einzelnen Regionen oder einzelnen Teilaspekten.54 Eine umfangreiche theologische und historische Schriftproduktion veranlasste die bereits erwähnte, berühmt gewordene Vertriebenen- und Ostdenkschrift von 1965.55 Beachtung findet die Vertriebenenproblematik auch im Rahmen verschiedener diakoniegeschichtlicher Arbeiten, die die Gründung, den Aufbau und die Neuorganisation der diakonischen Arbeit nach 1945 sowie die entsprechenden theologischen Konzepte analysieren.56 Verschiedene kleinere Aufsätze bewerten, allerdings zumeist ohne detaillierte empirische Analyse, die Rolle der Kirchen bei der Integration der Ostvertriebenen.57 Der von Uwe Rieske herausgegebene Sammelband „Migration und Konfession“ nimmt die konfessionelle Dimension der Vertreibung in den Blick und analysiert den Wandel des kirchlichen Lebens anhand der Themen Gemeindeaufbau, Frömmigkeitspraktiken, Liturgie und Liedgut.58 Einen guten Überblick über die Gesamtproblematik gibt der Kirchenhistoriker Martin Greschat, der den Zusammenhang von Vertriebenenintegration und der Pluralisierung und Säkularisierung des religiösen Feldes andeutet.59 Mit den Studien von Rainer Bendel, Sabine Voßkamp und Michael Hirschfeld liegen Analysen für die Integration der Vertriebenen in die katholische Kirche vor.60 53 Greschat, Christenheit, 56 und 217 f.; ders., Protestantismus im Kalten Krieg, 295; und ders.; Protestantismus in der Bundesrepublik. 54 Wetzel, Integration; Kaminsky, Kirche, 87–100; Bitter, Altarkerzen; Oberpenning, Flüchtlinge; und dies., Arbeit. 55 Die ost- und außenpolitische Dimension steht im Zentrum der Forschung. Siehe Rudolph, Kirche Bd. II; Huber, Kirche, v. a. 380–420; Rudolph, Fragen; Greschat, Protestantismus und evangelische Kirche; Lepp, Wort, 81–107; Greschat, Ostdenkschrift, 79–91; und ders., Wahrheit. Thomas Heck nimmt die „Bedeutung der Evangelischen Kirche“ für die „Neuformulierung der Ost- und Deutschlandpolitik“ bis 1969 in den Blick und widmet sich in diesem Kontext ausführlich der Denkschrift. Vgl. Heck, EKD, 113–206. Zur Denkschrift aus politikwissenschaftlicher Perspektive siehe Hanke, Deutschlandpolitik., 198–216. 56 Z. B. Wischnath, Kirche; Foss, Diakonie; Degen; Diakonie; und Kaminsky, Integration, 221–252. 57 Weitere Literatur in Auswahl: Rudolph, Beitrag, 245–251. Schott nennt die Integrationsschwierigkeiten in den aufnehmenden Landeskirchen, das mangelnde Verständnis gegenüber den Vertriebenen, kritisiert das Territorialprinzip und nennt die Veränderungsprozesse in den Landeskirchen, die er allerdings nicht weiter konkretisiert. Vgl. Schott, Heimat, 354 f. und 360 f.; ders., Alternativen, 105–115; ders., Rolle, 291–308; ders., Vertriebenenprobleme, 179–183; ders., Wandlungen; Greschat, Vertriebenen, 47–76; Merz, Flüchtlingshilfe, 123–139; Wustmann, Flüchtlingsnothilfe, 117–141; Beer, Alte Heimat, 244–272; Maser, Neuanfang, 35–56; und Beer, kirchliche Integration. 58 Rieske, Migration. 59 Greschat, Vertriebenen, 47–76, hier 75 f.; Hirschfeld, Milieu. Einen Gesamtüberblick gibt auch die Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg in zwei wörtlich identischen Aufsätzen. Siehe Wendebourg, Kirche. In: ZThK, 16–49; und Dies., evangelische Kirche. In: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte, 43–80. Im Folgenden wird der in der ZThK publizierte Aufsatz zitiert. 60 Bendel, Aufbruch; ders., Vertriebene; ders./Janker, Katholiken; Hirschfeld, Milieu; und Voßkamp, Kirche.

Untersuchungsperspektiven und Diskussionszusammenhänge

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1.3 Untersuchungsperspektiven und Diskussionszusammenhänge Nach diesem Überblick werden nun im Rekurs auf die interdisziplinäre Literatur weiterführende und übergreifende Frageperspektiven, Forschungsparadigmen und Diskussions- und Untersuchungszusammenhänge systematisierend skizziert, in denen sich die vorliegende Arbeit verortet und die in dieser Arbeit zusammengeführt werden sollen.61 Dabei nenne ich erstens eine spezifisch kirchengeschichtliche Perspektive, zweitens das vor einiger Zeit von der historischen Migrationsforschung entdeckte Untersuchungsfeld Religion und Integration und drittens das Feld der gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskurse und Ordnungsentwürfe. Erstens bietet sich eine kirchen-, protestantismus- und theologiegeschichtliche Perspektive sowie eine Verortung in der zeitgeschichtlichen Religionsforschung an, die religionssoziologisch und theologisch informiert arbeitet. Neben der im Forschungsüberblick bereits skizzierten innerkirchlichen Dimension interessiert in diesem Zusammenhang der Mitgestaltungsanspruch des Protestantismus in gesellschaftspolitischen Fragen. Dieser manifestiert sich in theologisch-sozialethischen Konzepten wie dem der „gesellschaftlichen Diakonie“, der „politischen Diakonie“ oder der „verantwortlichen Gesellschaft“62 und äußerte sich im karitativen und sozialpolitischen Engagement. Die akademische Theologie verwandte und verwendet einen großen argumentativen Aufwand darauf, die Präsenz der Kirche in der Gesellschaft, Aufgabe und Sinn der Kirche in Politik und Gesellschaft, das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft bzw. von Kirche und Staat und die Bedingungen für eine gesellschaftspolitische Positionierung und Mitwirkung zu legitimieren und zu reflektieren. Ein wichtiges Movens ist dabei die Anpassung der kirchlichen Selbst- und Rollenverständnisse an Modernisierungs- und Pluralisierungsprozesse. Dazu arbeitet sich die theologische Theoriebildung an verschiedenen Denkfiguren und theologischen Traditionsbeständen ab, die von Theologen jeweils neu interpretiert und aktualisiert wurden und werden.63 Bei aller Unterschiedlichkeit und der unterschiedlichen 61 Rudolph nennt: 1) Gesellschaftliche Diakonie angesichts der Besitzlosigkeit, 2) die Frage der konfessionellen und verfassungsmäßigen Struktur des protestantischen Landeskirchentums, 3) das Spannungsfeld zwischen Autonomiebestreben der Landeskirchen und Zentralisierung der Gesamt-EKD und 4) die Frage nach Legitimation und Grenzen kirchlicher Äußerungen im Raum des Politischen. Siehe Rudolph, Beitrag, 251. Vgl. auch die von Reitmayer genannten Untersuchungszusammenhänge: 1) Erforschung der deutschen Eliten, 2) Konservatismusforschung, 3) Amerikanisierung und Westernisierung und 4) Liberalisierung. Siehe Reitmayer, Elite, 12. 62 Hierzu im Überblick: J hnichen/Friedrich, Geschichte, 867–1103. 63 Huber, Kirche. Wolfgang Huber unterscheidet vier Konzepte: 1) Zwei-Reiche-Lehre (ebd., 435–452), 2) Königsherrschaft Christi (ebd., 453–464), Gesamtgesellschaftliche Diakonie (Ebd., 465–472) und Politische Theologie (ebd., 473–481). Eine aktuellere Verhältnisbestimmung findet sich bei: Huber, Öffentliche Kirche, 157–180. Zum Überblick über die Geschichte der

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Interpretierbarkeit dieser Denkfiguren teilen sie die Gemeinsamkeit, dass sie alle auf die Verhältnisbestimmung von Kirche und Gesellschaft rekurrieren und überwiegend eine Legitimation einer kirchlichen Mitverantwortung implizieren.64 Im Kontext dieser Arbeit spielt demnach die Frage eine Rolle, mit welchen theologisch-sozialethischen Reflexionsfiguren das Kirche-Gesellschafts-Verhältnis beschrieben, ob und wie der Mitgestaltungsanspruch reflektiert und legitimiert wurde und wie sich diese Selbstverortung in der Gesellschaft vor dem Hintergrund der Vertriebenenfrage wandelte. Daneben wird aber auch analysiert, welchen Niederschlag der gesellschaftspolitische Anspruch in der konkreten sozialpolitischen Mitwirkung erfuhr und welche Rolle diese Reflexions- und Legitimationsfiguren im Selbstverständnis einzelner protestantischer Akteure spielten. Die zeithistorische Religions- und Kirchenforschung fragt nach Bedeutung und Stellenwert von Religion und Kirche in der bundesrepublikanischen Gesellschaft und nimmt dabei die Veränderungsprozesse im religiösen Feld in den Blick, die sich nicht oder nur teilweise unter dem Begriff der Säkularisierung fassen lassen.65 Kristian evangelischen Sozialethik siehe J hnichen/Friedrich, Geschichte. Insgesamt wurde die dichotomisch verstandene Gegenüberstellung von „Kirche und Welt“ ab Mitte der 1950er Jahre, aber vor allem während der 1960er Jahre vom Terminus „Kirche und Gesellschaft“ abgelöst, der das Verhältnis beider Entitäten weniger dichotomisch als vielmehr integrativ modelliere. Vgl. Kçnemann et al., Interessenvertretung, 130. In der protestantischen Sozialethik spielte die Überlegung eine Rolle, dass die Kirche selbst eine gesellschaftliche Einrichtung sei und somit soziologischen Bedingungen unterläge. Vgl. z. B. Ziemann, Suche. Auch Politikwissenschaftler befassten sich mit dem Verhältnis von Kirche und Staat bzw. Kirche und Gesellschaft, das eine innerkirchliche, religiös-theologische und gesellschaftlich-historische Dimension umfasse. Prägend für die religiöse Auseinandersetzung mit Staat und Gesellschaft seien 1) das Selbstverständnis der Kirche als „congregatio sanctorum“, die Eigengesetzlichkeiten unterläge; 2) die theologischen Interpretationen der Funktionen des Staates, der in der gefallenen Welt als theologisch notwendig gedacht wurde und wird; 3) die christlichen Ethiken, die die Verantwortung der Kirche und des Einzelnen in Politik und Staat begründen; 4) die Wechselwirkungen zwischen kirchlicher und gesellschaftspolitischer Demokratisierungsdebatte; 6) die zahlreichen personellen Beziehungen zwischen Kirche und Politik und Parteien und 7) die ökumenische Bewegung. Hierzu Hanke, Deutschlandpolitik, 344. 64 Kçnemann et al., Interessenvertretung, 164. Als Beispiel dafür gilt die sog. öffentliche Theologie. Siehe ebd., 9 f. 65 Die hier vorliegende Arbeit kommt entgegen dem Mainstream der Religionsforschung ohne Säkularisierungsthese aus. Anstatt eine lineare oder nichtlineare Säkularisierung im Zeitverlauf anzunehmen, fragt die Arbeit nach Bedeutung und Funktion religiöser Argumente im säkularen, gesellschaftspolitischen Diskurs und nimmt Säkularisierungsphänomene eher funktionsbedingt und bereichsbezogen, nicht jedoch als erklärendes Angebot für einen gesellschaftsgeschichtlichen Prozess in den Blick. Ein solches Modell, das von einer Koexistenz von religiösen und säkularen Diskursen ausgeht (Berger, Niedergang, 4), scheint analytisch fruchtbarer. Eine Bezugnahme auf die Säkularisierungsthese bietet sich auch deshalb nicht an, weil die Vertriebenenproblematik unterschiedliche Themen, Aspekte und Teilfragen berührt, die wiederum je eigenen Diskurslogiken folgen, was eine Vergleichbarkeit erschwert. Einen Rehabilitationsversuch der vielfach kritisierten Säkularisierungsthese unternahm jüngst das Münsteraner Exzellenzcluster „Religion und Moderne“. Vgl. Berger, Niedergang; sowie die jüngeren zeitgeschichtlichen Forschungen zur Religionsgeschichte: Großbçlting, Himmel; Hannig, Reli-

Untersuchungsperspektiven und Diskussionszusammenhänge

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Buchna macht Olaf Blaschkes umstrittene These eines zweiten konfessionellen Zeitalters in analytischer Hinsicht fruchtbar und stellt die in der Zeitgeschichtsforschung weit verbreitete, empirisch nicht belegte Auffassung infrage, dass in der „formativen Phase“ der Bundesrepublik eine Entkonfessionalisierung stattgefunden habe.66 Zweitens ließe sich das skizzierte Forschungsvorhaben in den allgemeineren Diskussionszusammenhang von „Religion und Integration“ einordnen, der in letzter Zeit in der soziologischen Literatur und in der historischen Migrationsforschung verstärkt in den Fokus geraten ist67. Insbesondere Studien zur Auswanderung in die USA machten auf den wechselseitigen Zusammenhang von Religion und Migration aufmerksam68. Diese allgemeinen Überlegungen lassen sich aber auch auf die Integration der Vertriebenen übertragen. Religionen bedienen demnach mit ihren religiös-theologischen Deutungsangeboten den erhöhten Sinnstiftungsbedarf der Vertriebenen, verarbeiten den (gewaltsamen) Heimatverlust, fungieren als Kontingenzbewältigungs- und Vergemeinschaftungsressourcen, vermitteln Netzwerke und übernehmen somit gesellschaftliche Funktionen im Integrationsprozess.69 Einige Untersuchungen arbeiten auf der Grundlage eines funktionalen Religionsverständnisses mit der sozialwissenschaftlichen Rational-ChoiceTheorie.70 Diese eher sozialgeschichtlichen Überlegungen, die ja auf die tatsächliche Bedeutung und Funktion von Religion rekurrieren, lassen sich aber

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gion; Bçsch/Hçlscher, Kirche; Hermle/Lepp/Oelke, Umbrüche; Lepp/Oelke/Pollack, Religion; Nolte, Religion; Buchna, Jahrzehnt; und Große-Kracht/Graf, Religion. Buchna, Jahrzehnt, 25–27, 348–368 und 525 f. Der Begriff „formative Phase“ geht zurück auf: Wolfrum, Bundesrepublik, 108. Buchna verweist auf die Selbstdeutung der Zeitgenossen, die konfessionell motivierte Personalpolitik der Kirchen und die konfessionell bedingten Abgrenzungsmechanismen im Alltag. Auch die Kritik der Bruderräte an der aus ihrer Sicht „katholischen Bundesrepublik“ speiste sich aus konfessionellen Motiven oder wurde in konfessionellen Rhetoriken vorgebracht. Die Konfessionalisierungsthese ist hier allerdings nur partiell ergiebig. Einen Überblick zum Thema Migration und Religion geben Lehmann, Migration, 7–12; Alba, Immigration; und Stark, theory. Zu aktuelleren soziologischen Arbeiten siehe z. B. Koenig, Religion, 737–738; und Connor/Ders., Bridge, 3–38. Lehmann, Migration, 7–12, hier 8. Lehmann spricht von einer „Theologisierung der Emigrationserfahrung“ und verweist auf die Bedeutung der Kirchengemeinden als Integrationsagenturen (ebd., 9). Neue Frageperspektiven eröffnen die sogenannten Sekundärwanderungen. Nach Waldmann spielt die Konfessionszugehörigkeit in Bezug auf die Sekundärwanderungen eine geringe Rolle. Parisius sieht konfessionelle Wanderungsmotive allerdings vernachlässigt, auch wenn die wirtschaftlichen Motive ausschlaggebend gewesen seien. Parisius kommt zu dem Ergebnis, dass konfessionelle Ungleichheit Abwanderungstendenzen verstärkt hätten. In evangelischen Gebieten glaubt Parisius eine überproportional hohe Abwanderung katholischer Vertriebenen zu entdecken. Die Diasporasituation habe sich demnach auf die Entscheidung zur Umsiedlung ausgewirkt. Hierzu Parisius, Aufnahme, 29–49; und Waldmann, Eingliederung, 190. Demnach wird, vereinfacht gesprochen, die Religionszugehörigkeit einer rationalen KostenNutzen-Analyse unterzogen, wobei die Zugehörigkeit zu einer Religion für Migranten besondere Attraktivität genösse. Vgl. Wustmann, Vertrieben, 534–547.

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Einleitung

auch für eine Debattenanalyse fruchtbar machen: Inwieweit lassen die protestantischen Beiträge ein moderierendes, vermittelndes und integrierendes Rollenverständnis erkennen? Inwieweit trug der Protestantismus zu einer „Theologisierung“,71 Sakralisierung oder Entsakralisierung des Heimatverlustes bei? Inwieweit bediente er das Bedürfnis der Zwangszugewanderten nach Sinnstiftung und Kontingenzbewältigung – und leistete damit einen spezifischen Beitrag zur Akzeptanz des Schicksals und damit zur seelischen, geistigen und emotionalen Beheimatung in der westdeutschen Gesellschaft? Ein dritter Diskussionsstrang verweist zugleich auch auf das methodische Selbstverständnis dieser Arbeit. Die Historiker Morten Reitmayer, Axel Schildt, Friedrich Kießling oder Paul Nolte beschäftigen sich in ihren Arbeiten mit der Geschichte gesellschaftlicher Ordnungsentwürfe der westdeutschen Gesellschaft.72 Die Soziologie gerät dabei besonders in den Fokus, die soziales Deutungswissen generiert, soziale Ordnungsentwürfe formuliert und die Deutungshoheit über das Soziale beansprucht.73 In diesem Zusammenhang werden auch die Milieus der Bundesrepublik, in denen diese Gesellschaftsentwürfe zu verorten sind, darunter vor allem der bundesrepublikanische Konservatismus und die partiellen Überschneidungsflächen zwischen Christentum und Konservatismus in den Blick genommen.74 Der Historiker Morten Reitmayer analysiert in seiner Arbeit zum Elitenbegriff, den er als soziale und politische Ordnungsidee begreift, Deutungsmuster, die auch im Kontext der Vertriebenenproblematik eine Rolle spielten.75 Daneben ist auch auf die mittlerweile ältere historiographische Bewertung der 1950er Jahre zu verweisen. In Abgrenzung zur älteren Forschung, die den restaurativen Charakter der Adenauer-Zeit betonte, akzentuieren die während der 1990er Jahre entstandenen sozialgeschichtlichen Arbeiten die Modernisierungserschei71 Begriff nach Lehmann, Migration, 9. 72 Reitmayer, Elite; Nolte, Ordnung; Metzler, Konzeptionen; Schildt, Abendland; ders., Feld; und Kießling, Archäologie. 73 Nolte untersucht in seiner Arbeit, die er als „intellectual history der Soziologie“ versteht, die gesellschaftliche Selbstbeschreibung im Medium der soziologischen Beschreibung und Beobachtung und weist der Soziologie eine herausgehobene Bedeutung für die Formulierung sozialer Ordnungsentwürfe zu. Siehe Nolte, Ordnung, 26. Die Grenze zwischen Wissen und Deuten kann dabei als fließend angenommen werden. Was aus analytischer Perspektive als Deutung erscheint, war für die Zeitgenossen selbstverständliches Wissen, mit dem die Welt angeeignet wurde. Von daher scheint es am zutreffendsten, von „Deutungswissen“ zu sprechen. 74 So Axel Schildt und Morten Reitmayer. Eine besondere Rolle spielten dabei die evangelischen Akademien, die überwiegend von einem bürgerlich-konservativem Publikum besucht worden seien. Vgl. Schildt, Konservatismus, 213 und 217 f.; ders., Abendland, 140–143. Reitmayer weist zudem darauf hin, dass sich der Kreis der Tagungsteilnehmer und der Leserkreis der Kulturzeitschriften zum großen Teil überschnitten. 75 Reitmayer arbeitet mit der Konzeption des literarisch-politischen Feldes, das durch Konkurrenz und Machtbeziehungen charakterisiert ist. Die Konzeption geht auf Pierre Bourdieu zurück. In Analogie dazu ließe sich sicherlich von einem religiösen oder protestantischen Feld sprechen, das institutionell mit der Kirche verknüpft ist und sich ebenfalls durch Macht und Konkurrenz auszeichnet. Vgl. Reitmayer, Elite, 37–44.

Untersuchungsperspektiven und Diskussionszusammenhänge

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nungen der 1950er.76 So erkennt der Historiker Christoph Klessmann eine „Modernisierung unter konservativen Auspizien“,77 Axel Schildt eine „Modernisierung im Wiederaufbau.“78 Der Soziologe Peter Waldmann führt die Modernisierungserscheinungen der frühen Bundesrepublik auf die Integration der Ostvertriebenen zurück und spricht „von einem Modernisierungsschub unter konservativen Vorzeichen.“79 Den Vertriebenen kommt dabei eine zugleich stabilisierende und modernisierende Funktion zu, wenn er ihnen eine „Kombination aus progressiven Verhaltenselementen im ökonomischen Bereich und skeptisch-retardierenden Einstellungen in politisch-kultureller Hinsicht“80 zuspricht. Die hier vorliegende Arbeit erhebt keinen sozialgeschichtlichen Erklärungsanspruch, sondern untersucht, wie „der Protestantismus“ den Zusammenhang von Integration und Modernisierung interpretativ verarbeitete. Vor dem Hintergrund dieser Diskussionszusammenhänge können die Ziele dieser Arbeit folgendermaßen formuliert werden: Erstens rekonstruiert die vorliegende Arbeit Integrationsdebatten und die dahinterliegenden Gesellschaftsentwürfe aus einer protestantischen Perspektive, wobei das weite Feld der gesellschaftlichen Selbstverständigung und Selbstbeschreibung in zweifacher Hinsicht eingegrenzt wird: Sie fokussiert die protestantische Perspektive auf die Gesellschaft und nimmt die gesellschaftlichen Selbstverständigungsdebatten vor dem Hintergrund einer spezifischen gesellschaftspolitischen Problemlage, nämlich der Integration der Ostvertriebenen, in den Blick.81 Zweitens steht hier in Abgrenzung zu einer kirchengeschichtlichen Arbeit, die ihren Fokus vor allem auf die fest umrissene Institution evangelische Kirche legt, der Protestantismus im Mittelpunkt des Interesses. Protestantismus umfasst dabei die institutionalisierte Kirche, überschreitet allerdings den fest umrissenen Organisationsrahmen Kirche und nimmt seine individuellen, unabhängig von der Amtskirche agierenden Akteure in den Blick, die eigene

76 Zur historiographischen Auseinandersetzung mit den 1950er Jahren siehe Sywottek, Wege, 13–39. 77 Hans Peter Schwarz sprach von einer „aufregenden Modernisierung“. Dies relativierend: Kleßmann, Schiff, 485. 78 Schildt/Sywottek, Modernisierung. Auch Nolte, Ordnung, 242. Schildt und Sywottek nennen die Kriterien Rationalisierung, Differenzierung, Individualisierung und Pluralisierung. Siehe Sywottek, Wege, 13. Eine stärker normativ aufgeladene Bestimmung findet sich bei: Sch fers, Gesellschaft, 309 und 313. 79 Waldmann, Eingliederung, 190. Waldmann nennt Tendenzen wie Industrialisierung, Urbanisierung, Säkularisierung, Auflockerung der kirchlichen Kontrolle in den bis dahin konfessionell homogenen Milieus, die konfessionelle Durchmischung, die Durchsetzung eines ökonomischen Leistungs- und Wettbewerbsdenkens und die Entstehung einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Siehe ebd., 188–191. 80 Waldmann, Eingliederung, 190. 81 Zum Begriff Protestantismus siehe v. a. unten 44–52.

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Einleitung

Interessen und Agenden verfolgten82. Bisher unerforschtes Terrain betritt die Arbeit mit der Analyse der konkreten Umsetzung des gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruches am Beispiel des Lastenausgleiches, des Engagements protestantischer Einzelakteure in einem politischen Prozess, des protestantischen Gesellschaftsdiskurses angesichts der Vertriebenenproblematik, des Verhältnisses von Protestantismus und Flüchtlingssoziologie, der Neuinterpretation des Heimatdiskurses und der vernachlässigten integrationspolitischen Debatten im Kontext der EKD-Denkschrift von 1965. Im Rekurs auf die neuere politik- und sozialwissenschaftliche Religionsforschung sollen abschließend die gebrauchten Argumentations- und Deutungsmuster einer Typologisierung und näheren Bestimmung unterzogen und die Spezifika protestantischen Argumentierens herausgearbeitet werden.83 Auf der Basis der materialen Befunde wird ein Verständnis von Protestantismus induktiv entwickelt und mit den theologischen Selbstbeschreibungen konfrontiert.

1.4 Methodisches Selbstverständnis Die Arbeit ist methodenpluralistisch angelegt und orientiert sich an den hermeneutisch arbeitenden Methoden, d. h. an der historischen Semantik, der neueren Ideengeschichte, der Diskursanalyse und der Kulturgeschichte, ohne sich streng einer der genannten Methoden und Theorien zu verpflichten.84 Zudem versteht sie sich als kirchengeschichtlich, religionsgeschichtlich und theologiegeschichtlich informiert.85 Eine detaillierte Abgrenzung und klare Verortung in dieser umfangreichen Theorie- und Methodendiskussion scheint an dieser Stelle weder sinnvoll noch notwendig, zumal in der jüngeren Literatur die Komplementarität der einzelnen Ansätze betont wird.86 Alle diese Ansätze und Spielarten zeichnen sich dadurch aus, dass ihnen ähnliche epistemologische Voraussetzungen zugrunde liegen. Die Kulturgeschichte 82 Die individuellen protestantischen Akteure gewinnen dabei eine besondere Relevanz für die bislang vernachlässigte Analyse der Beteiligung des Protestantismus an einer gesellschaftspolitischen Debatte, wie noch zu zeigen ist. Ausführlicher zum Protestantismusbegriff vgl. unten 44–52. 83 Kçnemann et al., Interessenvertretung. 84 Alternativ ließen sich die genannten Ansätze unter den Begriff „qualitative Hermeneutik“ subsumieren. Begriff nach Schçnw lder, Einwanderung, 15. Eberl/Marciniak, Ideengeschichte, 367–388. Die Autoren unterscheiden zwischen klassischer Begriffsgeschichte, der ideengeschichtlichen Schule der Cambridge School und Diskursanalyse. Alle drei Ansätze werden als Unterarten der Ideengeschichte verstanden. Siehe ebd., 370–373. Zum Postulat des Methodenpluralismus siehe ebd., 367; Zitat ebd., 369. Daniel, Kompendium. 85 Vgl. v. a. die in Anm. 65 genannten Titel. 86 Reitmayer verortet sich an der Schnittstelle von Begriffs- und Diskursgeschichte, lehnt eine genaue Verortung jedoch ab. Vgl. Reitmayer, Elite, 42–44.

Methodisches Selbstverständnis

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lenkt beispielsweise den Fokus auf „Sinn- und Unterscheidungssysteme, die als spezifische Formen der Weltinterpretation dienen und im historischen Verlauf hervorgebracht und verändert werden.“87 In Abgrenzung zur Sozialgeschichte untersucht die Kulturgeschichte „Sinngebungsformen und Bedeutungsnetze, mit denen die Zeitgenossen ihre Wirklichkeit ausgestattet haben.“88 Die Diskursgeschichte und Diskursanalyse betonen ebenfalls den „Konstruktionscharakter soziokultureller Wirklichkeit“, legen den Fokus allerdings stärker auf das Regelwerk und die Mechanismen, die das Aussagespektrum ermöglichen und eingrenzen und die Wissensproduktion präfigurieren.89 Zudem geraten die (repressiven) Machtbeziehungen in den Blick, die die Akteure mit Definitionsmacht ausstatten.90 Sie fragt nach dem Denkmöglichen und Sagbaren, das in der Wiederholung der Argumente sichtbar wird. Lange wurde der Diskursgeschichte vorgeworfen, die Agency und den Gestaltungsspielraum individueller Akteure zu vernachlässigen, die einem übermächtigen Diskurs unterworfen seien. Mittlerweile wurden allerdings Vermittlungsversuche formuliert, die Akteur und Diskurs komplementär denken.91 Auch die Frontstellung zwischen hermeneutischer Kulturgeschichte und Sozialgeschichte hat sich mittlerweile gelockert, wobei die Komplementarität beider Theorieansätze betont wird.92 Landwehr identifiziert ein Defizit an kulturgeschichtlichen Untersuchungen im sozialen Bereich und spricht sich für eine „Kulturgeschichte des Sozialen“93 aus. Demnach könne auch die Gesellschaft als soziokulturelles Konstrukt verstanden werden, das mit Bedeutung aufgeladen und „in kulturelle Sinnmuster eingepasst wird“94. Einen etwas anderen Akzent setzt Morten Reitmayer, der seine Arbeit zum 87 Hier zitiert nach Landwehr, Kulturgeschichte, 320. Insgesamt auch Daniel, Kompendium, 7–25. Daniel begreift Kultur als „System kollektiver Sinnkonstruktionen, mit denen Menschen Wirklichkeit definieren.“ Es handle sich um einen „Komplex von allgemeinen Vorstellungen, mit denen zwischen wichtig und unwichtig, wahr und falsch, gut und böse sowie schön und hässlich“ unterschieden werde (Daniel, Kultur, 69–99, 72). 88 Landwehr, Kulturgeschichte, 313. 89 Landwehr, Diskursanalyse, 93, 96 und 98 f. Zum Regelwerk auch Reitmayer, Elite, 44 f. 90 Ebd., 98–99 und 91; Reitmayer, Elite, 43 f. 91 Landwehr, Diskursanalyse, 93 f. 92 Daniel, Kultur, 91–97; und Landwehr, Foucault, 64. Raphael stellt den Zusammenhang von sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion und sozialstaatlicher Expansion her. Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung; und ders., Experten. 93 Begriff nach Landwehr, Foucault, 64. Im Sinne einer Kulturgeschichte der Politik wird das Politische als Spielart des Sozialen verstanden. Das Politische lässt sich demnach als institutionalisierter Ausdruck des Sozialen und seiner Repräsentationsformen begreifen. Institutionen, in denen politisches Handeln und politische Kommunikation stattfindet, werden „als durch Wiederholung auf Dauer gestelltes kommunikatives Handeln“ begriffen. Im Sinne einer Kulturgeschichte der Politik präsentiert sich das Politische in einer „Vielzahl politisch handelnder Akteure […], die im Mit- und Gegeneinander symbolische Ordnungen und Organisationsformen des Sozialen hervorbringen, die in ihrer institutionalisierten Form als ,das Politische‘ verstanden werden können“ (ebd, 326). Hierzu auch Mergel, Überlegungen, v. a. 596–598. 94 Landwehr, Kulturgeschichte, hier 328; Lipp, Kulturgeschichte; und Nolte, Ordnung, 16.

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Begriff der Elite als „akteursorientierte Sozialgeschichte einer politischen Idee“ versteht.95 Reitmayer verknüpft die hermeneutisch-begriffsgeschichtliche Analyse politischer und gesellschaftlicher Ideen mit der Analyse des dahinterliegenden Interessengeflechts und berücksichtigt die sozialen Träger spezifischer Gesellschaftsvorstellungen, die kommunikativen Situationen sowie institutionelle Rahmenbedingungen; zudem betont er den Konkurrenzcharakter sozialer Ordnungsentwürfe. Ausdrücklich rekurriert Reitmayer nicht nur auf die ideengeschichtliche „Höhenkammliteratur“ soziologischer Gesamtentwürfe, sondern auch auf die gerade nicht reflektierten, unhinterfragten Wissens- und Glaubensbestände, die gleichermaßen sinnstiftend und handlungsrelevant waren.96 Im Hinblick auf Integrationsdebatten macht Karen Schönwälder deutlich, warum eine kulturgeschichtliche Analyse von Integrationsdebatten lohnenswert ist: Ausgangspunkt […] ist die Überlegung, dass Migrationsprozesse sowie die Koexistenz von ethnisch verschiedenen Individuen oder Bevölkerungsgruppen nicht einfach per se klar bestimmte Probleme konstituieren, sondern dass sich in den politischen Eliten und in der breiteren gesellschaftlichen Diskussion ein Prozess vollzieht, in dem über die Wahrnehmung der Neuankömmlinge als willkommen oder lästig, als Arbeitsmarkt- oder Wohnungsproblem, als Frage der Außenpolitik oder Bedrohung nationaler Interessen etc. entschieden wird.97

Mit Blick auf die Integration der Vertriebenen und die sozialpolitischen Debatten gilt das Interesse also „weniger dem Ergebnis des politischen Prozesses, sondern dem Prozess selbst als kommunikativ vermitteltes politisches Interpretationsangebot.“98 Entscheidend sind demnach die diskursiv zugeschriebenen Problemwahrnehmungen. Das gilt auch für die Analyse politischer Aushandlungsprozesse, die in Diskursen strukturiert sind. Die jeweils vertretenen Lastenausgleichskonzeptionen z. B. sind nicht an sich sozial gerecht oder wirtschaftsfreundlich, sondern es handelt sich hierbei um diskursive, kommunikativ vermittelte und interessengeleitete Zuschreibungen mit dem

95 Reitmayer, Elite, 11. 96 Ebd., 10 f. und 31. Diese grundsätzlich plausiblen Überlegungen verdichtet Reitmayer im konzeptionellen Leitbegriff der Doxa, womit gesellschaftliche Ordnungsentwürfe gemeint sind, denen er drei Funktionen zuschreibt: „Lenkt man die Perspektive dieser spezifischen methodischen Vorentscheidungen auf die Akteure, das heißt auf die Autoren, Redner, Zuhörer und Leser, so stellt sich den Sprechern und ihren Rezipienten die Doxa als ein Code dar, dessen Gebrauch – also seine Verwendung als sprachliche Handlung – die Elemente der Doxa (Orientierung, Legitimation und Handlungswissen) aktiviert und damit deren politisch-ideelles Potential entfaltet. […] Gleichzeitig macht dieser Umstand die Sprache des Code mehrdeutig und interpretationsoffen“ (ebd., 36 f.). Klärungsbedürftig scheint, welchen Erkenntnismehrwert der Begriff „Doxa“ mit sich bringt. 97 Schçnw lder, Einwanderung, 31. 98 Ebd., 13.

Methodisches Selbstverständnis

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Ziel, die eigene Position dominant zu setzen. Politische Kommunikation kann mit Thomas Mergel als „deutendes Handeln“ verstanden werden.99 Wie lassen sich diese Überlegungen fruchtbar machen? Die Arbeit wählt insofern eine kulturgeschichtliche Herangehensweise, als sie die Deutung der sozialen Welt oder die Deutung einer spezifischen sozialen Problem- und Konfliktlage aus der Perspektive protestantischer Akteure in den Blick nimmt. Dabei interessiert das spezifisch protestantische, religiös-kulturelle Sinn- und Deutungssystem, in das die Integrationsproblematik eingepasst wird. Der Arbeit liegt dabei ausdrücklich kein radikales sozialkonstruktivistisches Verständnis zugrunde. In Anlehnung an Morten Reitmayer wird die kulturgeschichtliche Perspektive um eine sozialgeschichtliche ergänzt. Im Fokus stehen konkrete protestantische Akteure, die Problemwahrnehmungen formulierten und auf etablierte Deutungsmuster zurückgriffen, diese jedoch an die historische Konstellation anpassten. Dabei sind ihre Interessen, Motivationen, Netzwerke, institutionellen Anbindungen sowie die kommunikativen Kontexte und spezifischen Debattendynamiken soweit wie möglich zu berücksichtigen. Die in den Debatten artikulierten Integrationskonzepte werden zudem auf ihre handlungsleitenden Dimensionen und politisch-programmatischen Implikationen hin befragt. Noch stärker gelten diese Überlegungen für den zweiten Teil, der sich mit dem Lastenausgleich und den dezidiert politischen Kommunikations- und Aushandlungsprozessen zwischen Politik und Kirche befasst. Hier sollen ebenfalls die Argumentationsmuster und vertretenen Konzepte, aber auch die strukturellen Bedingungen einer protestantischen Einflussnahme analysiert werden. Zudem verfügten die sozialpolitischen Konzepte über eine handlungsleitende und Wirklichkeit gestaltende Konnotation. Schließlich wird in Anlehnung an Ute Daniel auch davon ausgegangen, dass die Deutung des Sozialen sich nicht im luftleeren Raum vollzieht, sondern auf reelle soziale und soziostrukturelle Entwicklungen reagiert, die als gegeben vorausgesetzt werden und die Bedingungen des Diskurses darstellen. Die Sozial- und Realgeschichte ist Voraussetzung der Deutung des Sozialen, die sich dem Interpreten allerdings nur im Modus der kulturell codierten Deutung erschließt.100 Wie lässt sich der dieser Arbeit zugrundeliegende Begriff „Protestantismus“ in dieses Konzept eintragen? Verstanden als Deutungssystem, stellte er zunächst spezifische Muster der Weltdeutung und -aneignung zur Verfügung. Protestantische Akteure konnten demnach auf ein Set an Wissens-, Glaubensund Deutungsbeständen zurückgreifen und sich aus einer spezifischen Problemwahrnehmung heraus mit der Vertriebenenproblematik und der bundesrepublikanischen Gesellschaft auseinandersetzen. Um das spezifisch Protestantische zu fassen, wird daher nach Verwendungsweise, Bedeutung und Funktion religiöser bzw. theologischer Argumente gefragt. Gerade die Theo99 Mergel, Kulturgeschichte. 100 Hierzu siehe Daniel, Kultur, 69–99.

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logie brachte und bringt, so die Vorüberlegung, ein spezifisches kulturelles Sinnmuster und Deutungsrepertoire der Weltaneignung und Weltdeutung hervor. Was ist unter einem religiösen Argument zu verstehen? Religiöse Argumente zeichnen sich durch einen expliziten Transzendenz- oder Gottesbezug, durch Bezüge auf die Bibel und durch den Rückbezug auf theologische, vielseitig interpretierbare Traditionsbestände aus.101 „Religion“ bzw. „religiös“ wird in diesem Zusammenhang bewusst weit verstanden und schließt alle Transzendenzbezüge mit ein, die nicht nur in der Theologie, sondern auch in der Alltagssprache oder in der massenmedialen Kommunikation begegnen. Religion ist demnach eine Deutungs- und Sinnstiftungsressource zur Verarbeitung der kontingenten Wirklichkeit und zugleich eine Begründungs- und Reflexionsressource gesellschaftspolitischen Handelns. Theologie wird in diesem Kontext als spezifische Variante religiösen Argumentierens verstanden, nämlich als professionalisierte Deutungs- und Reflexionsinstanz der Religion. Insgesamt interessiert die „Deutung des Sozialen“ aus einer protestantischen Perspektive, die durch protestantische Akteure vermittelt wird. Die Arbeit verortet den Protestantismus im bundesrepublikanischen Gesellschaftsdiskurs und beschreibt den protestantischen Beitrag zur Geschichte der gesellschaftlichen Selbstthematisierung, die wiederum Aufschluss über die protestantische Selbstverortung in der Gesellschaft gibt. Die Arbeit kann demnach gleichermaßen als religionsgeschichtlich informierte Kulturgeschichte des Sozialen und zugleich als protestantische Selbstdeutungsgeschichte begriffen werden.

1.5 Begriffe und Konzepte 1.5.1 Integration Zentrale analytische Kategorien sind die Begriffe „nationale Identität“ und „gesellschaftliche Integration.“ Die Klärung und Schärfung des Integrationsbegriffs ist notwendig, weil er „erhebliche Unschärfen“ aufweist, „widersprüchliche Integrationsvorstellungen“ beinhaltet und häufig politisch-normativ aufgeladen ist.102 Der Begriff weist, um eine gängige Definition zu zitieren, auf den

101 Ähnlich auch Kçnemann et al., Interessenvertretung, 195–197. Im protestantischen Bereich können bei aller Heterogenität die vielseitig interpretierbaren reformatorischen Kernbezüge wie das „allgemeine Priestertum der Gläubigen, die Rechtfertigungslehre und die Schriftautorität“ hinzugefügt werden. So jedenfalls Klingbein/Thadden, Art. Protestantismus, 1008. Vgl. v. a. unten 44–52. 102 Ackermann, Integration, 22; ähnlich auch Wustmann, Vertrieben, 48.

Begriffe und Konzepte

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Prozess und Abschluss eines Vorgangs, in dem neu hinzukommende Elemente mit den alten zu einer Ganzheit werden, indem sie in ein System so aufgenommen werden, das sie sich danach von den alten Elementen nicht mehr unterscheiden als diese untereinander.103

Nach Markus Wustmann bezeichnet der Integrationsbegriff „in erster Linie die Abwesenheit äußerlicher sozialer und, soweit dies erfassbar ist, innerlicher psychologischer Konflikte […] im Sinne einer Entdifferenzierung.“104 In ähnlicher Weise definiert der Migrationshistoriker Jochen Oltmer: Integration ist ein alltäglicher und in der Regel unauffälliger wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller und mentaler Anpassungsprozess, der schrittweise verläuft und Generationen übergreifen kann. Dabei verblassen vorgebliche oder tatsächliche distinktive Merkmale zwischen Zuwanderern bzw. Zuwanderergruppen und einheimischer Bevölkerung, das gilt für Selbst- bzw. Fremdzuschreibungen (z. B. ethnische Zugehörigkeit, kulturelle Prägung, nationale oder regionale Identität) ebenso wie für soziale bzw. wirtschaftliche Kriterien (z. B. Sprache, soziale bzw. berufliche Position, Qualifikation).105

Die Integration von Minderheiten in Aufnahmegesellschaften ist ein klassisches Forschungsgebiet der Sozialwissenschaften und der Integrationsbegriff demnach eine „sozialwissenschaftliche Grundkategorie.“106 In der Soziologie wird zudem unterschieden zwischen Akkulturation als „wechselseitige Übernahme von Teilelementen einer anderen Kultur“ und Assimilation „als Angleichung von Individuen oder Gruppen an die Kulturmuster einer aufnehmenden Gruppe oder Gesellschaft.“107 Eine weitere Nuance bringt der Begriff der „Interkulturation“ zum Ausdruck, der die „Aufnahme von Neuem bei gleichzeitiger Bewahrung eines Teils des soziokulturellen Erbes und einen diffusen, beide Kulturen spannungsreich integrierenden Bereich“ bezeichnet.108 Dabei sei sowohl vor einer „monistischen Assimilation“, die eine völlige Angleichung der Migranten an die Aufnahmegesellschaft vorsähe und die Gefahr der Spannung und Feindschaft der unterschiedlichen Ethnien in sich berge, und vor einer „pluralistischen Assimilation“, die zu einer Verfestigung 103 Geenen, Art. Integration, 247–249, hier 247 f. Eine zweite Definition geht vom lateinischen „integere“ aus und versteht darunter den „nicht additive[n] Zusammenschluss von Teilen zu einer umfassenden Einheit.“ Integration sei ein „Vorgang, bei dem Teile eine Einheit bilden, die qualitativ etwas anderes sind als die Summe der vereinigten Teile.“ Integration bedeute die „Aufnahme neuer Teile in der Weise, dass sie sich danach nicht mehr unterscheiden als diese untereinander“ (ebd). Zum Integrationsbegriff auch Ackermann, Integration, 11–26, hier 11. Zur Stellung des Integrationsbegriffs in der Gesellschaftstheorie siehe Imbusch/Rucht, Integration. 104 Wustmann, Vertrieben, 49. 105 Oltmer, Migration, 6. 106 Zitiert nach Imbusch/Rucht, Integration, 19. 107 Geenen, Art. Integration, 248. 108 Ebd.

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kultureller Unterschiede führen könne, zu warnen.109 Insgesamt wird deutlich, dass die Begriffsverwendung in der soziologischen Forschung neben der typologisierenden Beschreibungsdimension häufig auch über eine normative Konnotation verfügt, wobei beide Dimensionen nicht immer trennscharf unterschieden werden können. So wird in der Soziologie als „optimales Modell“ das Konzept einer „wechselseitigen Akkulturation“ vorgeschlagen, „die in eine Konvergenz der unterschiedlichen Wertesysteme münden kann“.110 Die Soziologie plädiert dafür, die soziostrukturelle Integration stärker unter dem Gesichtspunkt von Sozialisation und Akkulturation zu diskutieren, da diese Begrifflichkeiten stärker den Aspekt der wechselseitigen Auseinandersetzung von Individuen und Gesellschaft und der Gegenseitigkeit betonten.111 In eine ähnliche Richtung zielt auch die Kritik Volker Ackermanns: Bei aller Heterogenität der Verwendungsweisen nehme der Integrationsbegriff in der Regel die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft ein, da ihm die Vorstellung der Integration einer Minderheit in die Mehrheit zugrunde läge.112 Die sozialhistorische Migrationsforschung plädiert dafür, nicht nur den Migrationsvorgang samt seiner Entstehungsvoraussetzungen, sondern auch den Integrationsprozess samt seiner sozialen Folgen zu berücksichtigen.113 Grundsätzlich sei, im Gegensatz zur zeitgenössisch vorherrschenden „assimilationistischen Einbahnstraßenideologie“, ein „offener“, „den prozesshaften Charakter betonende[r].“114 Integrationsbegriff zu bevorzugen. Demnach wird unter Integration eine Form des soziostrukturellen Wandels […], bei dem Mitglieder eines Sozialsystems unter Zuweisung von Positionen und Funktionen in die Struktur eines anderen Sozialsystems aufgenommen werden,

begriffen.115 Im Unterschied zu den soziostrukturell argumentierenden Integrationsmodellen nehmen manche Soziologen wie Wolfgang Bosswick den Blick auf die Perspektive der Zuwanderer und die konfliktualen Austauschprozesse, die auf einer zwischenmenschlichen Ebene und in den Feldern Recht, Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Kultur und Religion ausgetragen werden. Für die Zuwanderer bedeutet Integration demnach ein „permanentes Aushandeln von Chancen der wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen und kulturellen Teilhabe in einem vielschichtigen Aushandlungsprozess.“116 Insgesamt gibt es nicht den, also einen kohärenten, konzeptualisierten Integra109 110 111 112 113 114 115

Hier nach ebd. Ebd. Ackermann, Integration, 22. Ebd., 19. Bade, Migrationsforschung, 35. Hier nach Wustmann, Vertrieben, 48. Ebd.; und Krauss, Integration, 13. Der Begriff „assimilationistische Einbahnstraßenideologie“ geht zurück auf: Bade, Migrationsforschung, 44. 116 Bosswick, Art. Integration, 295–298.

Begriffe und Konzepte

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tionsbegriff, sondern verschiedene Vorstellungen und Implikationen von „Eingliederung“, die sich aus impliziten, nicht hinterfragten Vorannahmen und expliziten Ausführungen zusammensetzten.117 In Analogie dazu kann auch in einer Debattenanalyse von einer heterogenen Verwendungsweise und einer polyphonen Semantik des Integrationsbegriffes und somit von „Integrationen“ ausgegangen werden.118 Im Rahmen einer Kulturgeschichte des Sozialen soll der Begriff inhaltlich nicht festgelegt, sondern die Prozesshaftigkeit und Ergebnisoffenheit in den Mittelpunkt gestellt werden. Dabei gilt es gerade darum, die vielfältigen Bedeutungen von „Integration“ aus dem Quellenmaterial heraus zu rekonstruieren. Der Begriff beinhaltet dabei keine „Festlegung“ darüber, „ob Integration Assimilierung ein- oder ausschließt.“119 Verstanden als ein heuristischer Filter werden unter „Integration“ alle Beiträge subsumiert, die auf den Sozialprozess des Zusammenwachsens von Vertriebenen und Einheimischen mit seinen vielfältigen gesamtgesellschaftlichen Folgen Bezug nehmen und Vorstellungen davon beinhalten, was das Ziel der Eingliederung sei und wie diese zu gestalten sei. Integration als Sozialprozess entzieht sich einerseits der politischen Gestaltung, verfügt andererseits aber auch über eine handlungsleitende Dimension und ist Gegenstand der staatlich-administrativen bzw. kirchenadministrativen Steuerung. Integration ist sowohl auf der gesellschaftlichen Makro- als auch auf der zwischenmenschlichen Mikroebene angesiedelt. Der Integrationsbegriff kann von den Zeitgenossen sowohl in programmatischnormativer Absicht als auch deskriptiv-beschreibend gebraucht werden, wobei beide Dimensionen in der Praxis Mischungsverhältnisse eingehen. Abschließend ist eine Bemerkung zu einem spezifisch kirchlichen Wahrnehmungsmuster in Bezug auf die Integrationsproblematik notwendig. Viele Theologen und kirchliche Akteure verstanden die Vertriebenenproblematik als seelsorgerliches Problem, wenn sie beispielsweise feststellten, dass sich viele Vertriebene in der westdeutschen Gesellschaft nicht heimisch fühlten.120 Im Folgenden soll erläutert werden, was unter Seelsorge in diesem Kontext verstanden wird, welche Funktion ihr zugewiesen wird und warum der Seelsorge hier Relevanz zukommt. Dabei sind vier verschiedene Ebenen und Funktionen der seelsorgerlich motivierten Auseinandersetzung mit der Vertriebenenfrage zu unterscheiden. Seelsorge zählt, erstens, zweifellos zu den zentralen kirchlichen Handlungsfeldern und ist konstitutiver Bestandteil des kirchlichen Selbstverständnisses und des kirchlichen Auftrages. Sie sollte 117 Marita Krauss spricht von „Integrationen“ im Plural und rekurriert auf die unterschiedlichen Erfahrungen der Betroffenen. Siehe Krauss, Integrationen, 11. 118 Ackermann, Integration, 11–26. 119 Wustmann, Vertrieben, 49. 120 Auf der Vollversammlung der Ökumene in Amsterdam 1948 vertraten einige Akteure das Postulat, dass „die seelsorgerliche Hilfe […] die gesellschaftliche Reintegration“ unterstützen könne, wozu die Seelsorge der „soziologischen Diagnose“ bedürfe (Trotha, Auflösung, 138–163, 138 FN 1; und Luther, Vertriebenen, 163–173).

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zudem, zweitens, zunächst auf einer individuellen Ebene einen Beitrag zur Integration der Ostvertriebenen leisten. Dies konnte in Form der persönlichen und individuellen An- und Fürsprache und in Form der Bereitstellung von sinnstiftenden Deutungsangeboten zur Kontingenz- und Schicksalsbewältigung geschehen. Diese theologischen Deutungsmuster legten in letzter Konsequenz die Akzeptanz des Heimatverlustes als „Gottes Geschichtshandeln“ und als „Gottes unergründlichen Ratschluss“ nahe, öffneten damit den Blick für das Leben im Westen und verfügten damit letztlich über eine integrationspolitische Konnotation.121 Drittens beanspruchte „Seelsorge“, einen Beitrag zur Klärung von Problemen und Fragen zu leisten, die die Vertriebenen besonders beschäftigten und die in öffentlichen Debatten thematisiert wurden. Zu denken wäre beispielsweise an die Debatten über Heimat, Recht, Schuld, Gericht Gottes, Schicksal oder Versöhnung.122 Aus einem explizit seelsorgerlichen Verständnis und Auftrag heraus positionierten sich Theologen und kirchliche Akteure öffentlich zu diesen als problematisch empfundenen Themen, deren Klärung als Voraussetzung für die seelische Bewältigung wie für die innere oder geistige Beheimatung der Vertriebenen im Westen begriffen wurde. Zugleich positionierten sich seelsorgerlich motivierte Beiträge auch in den politischen und gesellschaftlichen Selbstverständigungs- und Orientierungsdebatten der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die wiederum integrationspolitische und allgemein politische Implikationen enthielten. So verdeutlicht insbesondere die Vertriebenen- und Ostdenkschrift der EKD von 1965, die explizit als seelsorgerliches Dokument begriffen wurde, den Zusammenhang von seelsorgerlicher Intention und politischer Positionierung. Seelsorge konnte einerseits als apolitisch interpretiert werden – was nicht bedeutet, dass sie dies auch war –, andererseits postulierten viele Akteure im Kontext der EKD-Denkschrift von 1965 gerade eine Konvergenz von Seelsorge und Politik. Schließlich und viertens wurde Seelsorge nicht nur individuell, sondern auch kollektiv verstanden und war an die soziale Gruppe der Vertriebenen wie die Gesamtgesellschaft adressiert.123 Daraus resultierte wiederum eine gesellschaftspolitische Funktion der Seelsorge. Viele Theologen glaubten in der Seelsorge ein Mittel gegen die Entfremdung zwischen Vertriebenen und Einheimischen, gegen die Integrati121 Siehe v. a. unten 337–376. 122 Diese genannten Themen wurden von den Akteuren der kirchlichen Vertriebenenarbeit immer wieder als seelsorgerliche Probleme bezeichnet. Hierzu v. a. unten 362–371. Ursprünglich war ein zweites Projekt vorgesehen, das den protestantischen Schuld- und Heimatdiskurs analysieren sollte. Wendebourg erkennt in der Gerichtsfigur ein leitendes Deutungsmuster. Vgl. Wendebourg, Kirche, 31–34, v. a. 31. 123 Zur seelsorgerlichen Intention der EKD-Denkschrift siehe Raiser, Ludwig: Bericht über die Denkschrift vor der Synode (EZA Berlin 650/85). Außerdem Krap, Art. Heimat, 582. Insgesamt auch Schott, Rolle, 302–305. Z. T. wird Seelsorge explizit als „Seelsorge an der Gesellschaft“ verstanden. So z. B. Honecker, Seelsorge, 544–563. Zur Denkschrift selbst: Die Lage der Vertriebenen.

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onskonflikte und gegen die von ihnen beobachtete fortschreitende Radikalisierung zu erblicken und wiesen der Seelsorge ebenfalls eine deradikalisierende, sozial pazifizierende, vermittelnde, mäßigende und damit integrative Funktion und Wirkung zu. Interessanterweise handelte es sich hierbei nicht nur um eine Selbstzuschreibung protestantischer Seelsorger, sondern auch um eine Fremdzuschreibung durch politische Akteure, insbesondere im Bundesvertriebenenministerium.124 Da die kirchliche Seelsorge einen Beitrag zur Verständigung sowie zur gesellschaftlichen Befriedung zu leisten beanspruchte, nahm sie nicht zuletzt eine gesamtgesellschaftliche Integrationsfunktion für sich in Anspruch, die auf moralischer, seelischer oder geistiger Ebene angesiedelt war und als komplementär zur materiellen und wirtschaftlichen Eingliederung verstanden wurde. Mit anderen Worten: Seelsorgerlich motivierte Beiträge werden hier als spezifisch kirchliche und religiöse Beiträge zur Integration der Ostvertriebenen verstanden, die aus der kirchlichen Eigenlogik heraus zu erklären sind, denen jedoch zumindest im eigenen Selbstverständnis eine gesamtgesellschaftliche Relevanz und Funktion zugesprochen wurde.125 Wenn im Folgenden von „integrationspolitisch“ die Rede ist, dann handelt es sich dabei um einen analytischen Begriff, der so in der Quellensprache nicht existiert. „Integrationspolitisch“ rekurriert auf den Sachverhalt, dass die Entscheidungsträger und Akteure in Politik, Verwaltung oder Kirche, die mit der Vertriebenenproblematik befasst waren, eine spezifische handlungsleitende Vorstellung davon hatten, wie die Integration der Vertriebenen zu gestalten und an welchem Ziel diese zu orientieren war. Der Begriff „integrationspolitisch“ rekurriert demnach auf die Steuerungs- und Gestaltungsabsicht der Akteure. Die quellensprachlichen Aussagen werden dann unter den Begriff „integrationspolitisch“ subsumiert, wenn sie ein spezifisches Gestaltungsziel gegenüber anderen möglichen Zielen dominant setzten. In diesem Sinne lassen sich unter das Attribut „integrationspolitisch“ verschiedenste Politikfelder wie beispielweise Sozial-, Wirtschafts- oder Kulturpolitik fassen. Unter „integrationspolitisch“ werden hier, insbesondere im Kontext des Heimatdiskurses, auch solche Beiträge subsumiert, die entgegen der intendierten Rückkehr den Fokus auf den zu leistenden oder geleisteten Integrationsprozess legten – und sich damit in einem ausgesprochen polarisierenden Diskurs implizit politisch positionierten.

124 Siehe v. a. unten 230–233. 125 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei den seelsorgerlich motivierten Beiträgen nicht nur um einen theologischen Elfenbeindiskurs handelte, sondern das Gros der Seelsorger auch praktisch seelsorgerlich tätig war und eine eigene Anschauung von der Vertriebenenproblematik hatte. Die spannende, aber methodisch schwierige Frage, wie die Seelsorge angenommen wurde, welche Interaktionsprozesse zwischen Vertriebenen und ihren Seelsorgern zu beobachten sind und welche Wirkung und Funktion der Seelsorge zugesprochen werden kann, muss weiteren Forschungen überlassen bleiben.

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1.5.2 Gesellschaft Im Fokus dieser Arbeit liegt auch die grundlegende Frage, welche Vorstellungen von Gesellschaft bzw. welche gesellschaftlichen Selbstverständnisse im Kontext der Integration der Vertriebenen zum Ausdruck gebracht wurden. Das legt die Frage nahe, wie die „schwer greifbare Normalität“ Gesellschaft, die vom Staat als Organisationseinheit zu unterscheiden ist, überhaupt zu fassen ist.126 Der Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann verweist auf zwei Möglichkeiten, „Gesellschaft“ zu beschreiben, nämlich soziostrukturell in der Form ihrer Differenzierung und semantisch in der Form ihrer Selbstthematisierung.127 Diese Unterscheidung korrespondiert zunächst mit der in der Geschichtswissenschaft gebräuchlichen Unterscheidung von Sozial- und Kulturgeschichte, wobei sich aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive einwenden ließe, dass sich auch die soziostrukturelle Dimension nur kulturell vermittelt präsentiert und demnach nur in Form ihrer Selbstthematisierung fassen lässt. Die Arbeit verfolgt dabei nicht das Ziel einer eigenen Begriffsbestimmung von Gesellschaft; sie beansprucht auch nicht, einen soziologischanalytischen Gesellschaftsbegriff auf das historische Material zu übertragen, sondern sie beabsichtigt, die zeitgenössischen Gesellschaftsvorstellungen und Ordnungsentwürfe aus dem historischen Material zu eruieren.128 Die auf die Gesellschaft bezogenen Deutungsmuster, Hoffnungen, Wünsche, Phantasmagorien und Ressentiments drücken aus, was stillschweigend als selbstverständlich hingenommen wird. […] Soziale Ordnungsentwürfe […] stellen also politisch-ideelle Sinnstiftungsleistungen dar, die es den Menschen ermöglichen, heterogene Erfahrungs- und Daseinskontingenzen zu bewältigen, das heißt, sie erzeugen jenen Sinnkosmos, ohne den Individuen und Gruppen nicht dauerhaft handeln, ohne den politische Institutionen nicht bestehen und ohne den soziale Ordnungen nicht gerechtfertigt werden können.129

126 Schwietring, Gesellschaft, 19. 127 Hier nach Nolte, Ordnung, 19. Auch Luhmann, Unterscheidung, 67–73. Reinecke und Mergel unterscheiden zwischen gesellschaftlicher Differenzierung und Ungleichheit. Während Differenzierung eine notwendige Beschreibungsdimension zur Erfassung des Sozialen ist und das soziale Angeordnetsein der Gesellschaft aus einer analytischen Perspektive heraus zu beschreiben beansprucht, sei soziale Ungleichheit als normative Selbstbeschreibungskategorie zu verstehen. Die soziale Ungleichheit ist eine Problematisierung der sozialen Ordnung durch die Zeitgenossen selbst. Vgl. Reinecke/Mergel, Das Soziale, 10. Beinahe klassisch sind Wehlers vier Dimensionen Wirtschaft, soziale Ungleichheit, politische Herrschaft und Kultur. Diese bilden zugleich das Strukturierungsprinzip seiner fünfbändigen Gesellschaftsgeschichte. Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, XVI. 128 So auch Nolte im Rekurs auf Otto Brunner. Siehe Nolte, Ordnung, 12. Auch Brunner, Problem. Ähnlich auch Kollmeier, Begriffsgeschichte, 420. 129 Reitmayer, Elite, 31 f.

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Diese die Wirklichkeit strukturierenden und sinnstiftenden Deutungsmuster verfügen über eine Orientierungsfunktion, eine Legitimationsfunktion und stellen ein Handlungswissen für die Akteure zur Verfügung.130 Diese Deutungsmuster drückten zugleich Ordnungsentwürfe aus. Der Fokus liegt hier überwiegend auf der Analyse der Beiträge solcher Soziologen und Theologen, die jenseits der theologischen und soziologischen Theoriebildung in den Gremien der kirchlichen Vertriebenenarbeit tätig waren, eine praktische Anschauung von der Vertriebenenproblematik hatten und gewissermaßen an der Schnittstelle zwischen theologischer Reflexion, soziologischer Beobachtung und praktischer Erfahrung standen.131 Da die genannten Theologen auch als Seelsorger tätig waren und die Theologen regelmäßig auf Tagungen zusammenkamen, kann auch von einer gewissen Breitenwirkung ihrer Deutungen ausgegangen werden, auch wenn der Effekt empirisch kaum zu messen ist. Mit Paul Nolte und im Rekurs auf klassische soziostrukturelle Definitionen wird schließlich der Referenzbereich132, auf den sich die zeitgenössischen Gesellschaftsvorstellungen bezogen, eingegrenzt. „Gesellschaft“ wird demnach pragmatisch als „nationalstaatlich begrenztes Sozialsystem […], unter dessen Dach sich die Vielfalt spezieller Sozialbeziehungen in Familie und Verein, Institutionen und Verbänden organisiert“, verstanden.133 Die bisherigen Ausführungen befassten sich mit der Frage, wie „Gesellschaft“ aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive beschrieben werden kann. Daran schließen sich zwei miteinander zusammenhängende Fragen an. Erstens die Frage, warum die Deutung der „Gesellschaft“ überhaupt analytisch vielversprechend ist und zweitens die Frage, wie die allgemeine, auf die Gesellschaft bezogene Deutung im Hinblick auf die Integrationsproblematik operationalisiert, spezifiziert und konzeptionell weitergedacht werden kann. Angesichts der Zuwanderung von Millionen Vertriebenen und der damit einhergehenden Differenzerfahrung stellt sich die über die allgemeine Gesellschaftsdeutung hinausgehende, integrationsspezifische Frage, wie das Verhältnis von Pluralität und Integration, von Differenz und Einheit austariert wurde und ob die Gesellschaft überhaupt gleichermaßen als plural und integriert gedacht werden konnte. Das Austarieren des Verhältnisses findet auf der Ebene der gesellschaftlichen Selbstverständigung statt. Es handelt sich demnach um einen diskursiven Aushandlungsprozess, der kulturgeschichtlich beschreibbar ist. Mit anderen Worten: Angesichts zunehmender faktischer 130 Ebd., 31. 131 Mit theologischen Denkfiguren, Deutungsmustern, Glaubens- und Wissensbeständen wird genauso umgegangen wie mit allen anderen Wissensbeständen. Eine Annäherung kann nur im Modus der Historisierung erfolgen. 132 Der Sprachwissenschaftler Ekkehard Felder verweist darauf, dass Begriffe sprachlich konstituiert sind, aber über einen außersprachlichen Referenzbereich verfügen. Der Begriff Referenzrahmen wird hier in Anlehnung an Felder gebraucht. Vgl. Felder, Kämpfe, 17–19. 133 Nolte, Ordnung, 14. Nach Nolte sind „innere Differenzierung“ und „Abgrenzung nach außen“ zwei relevante, heuristisch operationalisierbare Beschreibungsdimensionen.

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Differenz, die mit dem Zuzug der Vertriebenen offenbar wurde, stellt sich die Frage, wie Einheit und Integration jenseits der sozialgeschichtlichen Ebene auf einer begrifflich-symbolischen Ebene hergestellt und wie die Spannung von Differenz und Einheit, Pluralität und Integration diskursiv verarbeitet wurde.134 An dieser Stelle gerät der enge Zusammenhang der beiden konzeptionellen Leitbegriffe „gesellschaftliche Integration“ und „(nationale) Identität“ in den Blick. Ein erklärendes Angebot für den engen Zusammenhang von Integration und Identität kommt im Konzept der „Gesellschaftsgemeinschaft“ zum Ausdruck, das auf die Soziologen Uta Gerhardt und Birgit Hohenester zurückgeht. Zwei Aspekte konstituieren demnach eine „Gesellschaftsgemeinschaft“: Einerseits materiell-institutionelle Integrationsmechanismen wie die Zuweisung gesellschaftlicher Rollen, sozioökonomische Faktoren, Status oder die Partizipation an gesellschaftlichen Institutionen, andererseits müsse es trotz faktischer Differenz und verschiedener Einzelidentitäten gelingen, eine kollektive sozio-kulturelle, normativ verpflichtende Wertordnung zu konstruieren, der sich die Mitglieder einer Gesellschaft trotz aller Unterschiede „zugehörig“ oder „verpflichtet“ fühlen und die symbolischbegrifflich artikuliert wird.135 Diese kulturelle Wertordnung war für Hohenester und Gerhardt die demokratische Wertordnung und Verfassung der Bundesrepublik, wobei diese Engführung auch Fragen aufwirft.136 Strukturell ließe sich der Aspekt einer kulturell-normativen Wertordnung, mit der sich die Mitglieder einer Gesellschaft identifizieren, öffnen, beispielsweise für kollektive oder nationale Identitätsentwürfe, die nicht zwangsläufig auf die Verfassungsordnung rekurrieren und andere Gemeinsamkeitskriterien nennen. In dieser Arbeit wird zwar nicht mit dem Konzept der Gesellschaftsge134 Die Verhältnisbestimmung von Pluralität und Integrität ist ein klassisches Thema der soziologischen Theorie, allerdings gehen diese Theorien überwiegend vom Theorem der funktional differenzierten Gesellschaft aus. Einen Überblick über die Theorien, die sich mit der Frage befassen, wie moderne Gesellschaften angesichts funktionaler Differenzierung und Pluralisierung als integriert gedacht werden können, findet sich in Imbusch/Rucht, Integration, 13–74; auch Hohenester/Gerhardt, Identität, 403–432; und Willem/Hahn, Einleitung, 17 f. Willem und Hahn führen den Erfolg des Nationenkonzepts seit dem 19. Jahrhundert auf die zunehmende Ausdifferenzierung und Pluralisierung der Gesellschaft zurück. 135 Hohenester/Gerhardt, Identität, 404. 136 Ebd., 427. Gerade mit Blick auf die frühe Bundesrepublik und die Vertriebenen scheint mir diskussionswürdig, inwieweit der verfassungsrechtliche Rahmen zugleich als kulturell-normative Ordnung fungierte. Historisch scheint es plausibler, dass der Verfassungsrahmen Demokratie erst nach und nach als Identität und Integration stiftendes normatives und kulturelles Konzept etabliert wurde. Ausdruck dafür ist das sehr viel später entstandene Konzept des Verfassungspatriotismus. Auch nicht-demokratische Gesellschaften sind in der Lage, kulturell-normative, Identität stiftende Ordnungen hervorzubringen. Hohenesters und Gerhardts Ausführungen gewönnen an Plausibilität und analytischer Prägnanz, wenn man sie ausweitet und nicht auf den verfassungsrechtlichen Rahmen beschränkte. Hier kommt das Konzept der nationalen Identität ins Spiel, die seit dem 19. Jh. Konjunktur erfuhr und die ebenfalls die Funktion einer normativ-kulturellen Ordnung erfüllt, die nicht deckungsgleich mit der Verfassungsordnung ist.

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meinschaft gearbeitet, jedoch bietet es einige Anknüpfungspunkte, weil es ein erklärendes Angebot für den Zusammenhang von Integration und Identität zum Ausdruck bringt und zugleich die Relevanz einer kulturgeschichtlichen Perspektive erhellt. Überträgt man die Überlegungen Gerhardts und Hohenesters auf das Thema dieser Arbeit, dann stellt sich die Frage, ob und wie die Zugehörigkeit eines Individuums oder einer sozialen Gruppe zu einer Gesellschaft konstruiert und behauptet wurde, mit anderen Worten: ob und wie kollektive Identitäten anlässlich der als fremd empfundenen Vertriebenen aufgerufen, herausgebildet oder konstruiert wurden. „Nationale Identität“, verstanden als Spezialfall der „kollektiven partizipativen Identität“, konstituiert sich über zumeist national bestimmte Zugehörigkeitskriterien und die emphatische Behauptung überindividueller, nationaler Gemeinsamkeiten bei „Unterschlagung“ der sozialen oder kulturellen Differenz.137 Dabei ist der sozialkonstruktivistische, imaginative Charakter der nationalen Identität zu betonen138, was allerdings nicht bedeutet, dass ihr als handlungsleitendes politisches Konzept keine Wirklichkeit zukomme: „Der emphatische Begriff [gemeint ist Volk, FT] wurde als Realität gesetzt und hat damit Realität induziert.“139 Im Kontext von Migrationsprozessen ist das paradoxe Phänomen zu beobachten, dass unterschiedliche Traditionsstränge einerseits neue „hybride Identitäten“ entstehen lassen, andererseits ein verstärkter Rückbezug auf die Abgrenzungsfiguren „Nation“ oder „Volk“ unter Priorisierung der eigenen Tradition zu beobachten ist.140 Nationale Identitätsentwürfe dienen demnach der Abgrenzung und Legitimation im Kampf um Ressourcen.141 Die Debatten über die Integration der Vertriebenen berühren insofern Fragen der kollektiven, national bestimmten Identität, als die Zugehörigkeit der Ver137 Bei der nationalen Identität handelt es sich um „eine besondere Form kollektiver Identität im Sinne eines von einer Gruppe von Menschen geteilten Zusammengehörigkeitsgefühls, das sich auf die Vorstellung einer Nation bezieht“. Neben der Selbstdefinition durch Abgrenzung werden nationale oder kollektive Identitäten über die emphatische Behauptung von gemeinsamen Eigenschaften, in der Behauptung einer gemeinsamen Sprache, Kultur, Geschichte, gemeinsamer Mythen konstituiert. Vgl. Piwoni, Identität, 46. Vgl. auch Willem/Hahn, Einleitung, 17 f. Für Koselleck ist der Volks- und Nationenbegriff dadurch charakterisiert, dass „durch eine individualisierende Benennung der anderen Völker […] Begriffe zu asymmetrischen Gegenbegriffen aufgeladen“ werden, „die das eigene Volk auszeichnen.“ Dies geschehe in Form von „Herkunftslegenden“, der „Selbstzuschreibung von Eigenschaften“, durch „missionarische Berufungen und Vorurteile gegen fremde Völker“ (Koselleck, Art. Volk, 146). 138 Nationen und nationale Identitäten sind demnach sozialkonstruktivistisch zu verstehen und „als kulturell konstruierte Gemeinschaften zu untersuchen“ (zit. nach Szçllçsi-Janze, Wissensgesellschaft, 298). Ähnlich auch Piwoni, Identität; und Krauss, Ausgrenzung, 27–39. 139 Koselleck, Art. Volk, 329. Nach Koselleck definierten sich die Begriffe „Volk“ und „Nation“ grundsätzlich über Oppositionsverhältnisse, so eine „Oben-Unten-Relation“ und eine „InnenAußen-Relation“ (ebd., 145 f.). 140 Krauss, Ausgrenzung, 33. 141 Ebd., 29 f.

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triebenen zum deutschen Volk behauptet, begründet, postuliert, stillschweigend und selbstverständlich vorausgesetzt, in Zweifel gezogen oder die Bedingungen formuliert wurden, die über die Zugehörigkeit zum deutschen Volk entschieden. Kollektive und nationale Identitätsdiskurse stellten, so die Ausgangsüberlegung, das begrifflich-symbolische und sozialpsychologische Äquivalent zur materiellen Integration der Vertriebenen dar und formulieren Integrationsangebote auf einer begrifflichen und symbolischen Ebene. Allerdings weist die Vertriebenenproblematik im Vergleich zu klassischen Einwanderersituationen einige Besonderheiten auf. Dass die Vertriebenen deutsche Staatsbürger mit allen staatsbürgerlichen Rechten waren, stand zu keiner Zeit zur Debatte. Insofern befanden sie sich in einer privilegierten Einwanderungssituation, zumal es keine sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten gab.142 Dennoch fand auch anlässlich der Vertriebenenproblematik eine integrationspolitisch relevante Thematisierung der nationalen Identität statt. Das Bundesvertriebenengesetz von 1953 betonte expressis verbis die Zugehörigkeit der Vertriebenen zum deutschen Volk, das als ethnonationale „Kultur- Abstammungs- und Sprachgemeinschaft“ imaginiert wurde.143 Neben diesen ethnonationalen und kulturellen, gesetzlich zementierten Kriterien ist auch das gemeinsame Wissen um den verlorenen Krieg und die bedingungslose Kapitulation zu nennen, die ebenfalls die nationale Identität konstituierten.144 Dieser nationale Identitätsentwurf wurde vor allem im Hinblick auf die sog. Volksdeutschen formuliert, die als Angehörige des deutschen Volkes betrachtet wurden, aber im Gegensatz zu den sogenannten Reichsdeutschen außerhalb der Reichsgrenzen gelebt hatten.145 Die gemeinsame ethnonationale Identität war nicht nur symbolischer Natur, sondern für die reale Integration in hohem Maße relevant. Auf der hier zementierten Zugehörigkeit basierte wiederum die Partizipation an sozialpolitischen Leistungen. In scharfen Kontrast zum Integrationsangebot des Bundesvertriebenengesetzes standen „der deutsche Rassismus gegen deutsche Vertriebene“146 und die alltäglichen Integrationskonflikte, in deren Verlauf den Vertriebenen zuweilen sogar das Deutsch-Sein abgesprochen, sie aus dem Nationenverband exkludiert wurden.147 Vorstellungen davon, was das deut142 Beer, Flucht, 104. Bade vergleicht die Integration der Vertriebenen mit klassischen Einwanderungssituationen und arbeitet dabei Parallelen heraus. Siehe Bade, Integration. 143 Pohl, Integration, 318. Gerade dieses ethnonationale Selbstverständnis konnte auf eine lange Tradition zurückblicken. Jörn Retterath weist auf die partielle Synonymität und den engen Zusammenhang von „Volk“ und „Nation“ hin, die beide in der Regel ethnisch verstanden wurden. Vgl. hierzu Retterath, Volk, 32–45. 144 Theißen, Zeiten; Wildt, Volksgemeinschaft. 145 Nach Gosewinkel wurde die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts im dt. Kaiserreich ausdrücklich im Hinblick auf die sog. Auslands- oder Volksdeutschen formuliert, um deren Zugehörigkeit zu behaupten. Hier auch zur Konzeption des „Auslandsdeutschtums“, die sich in diesem Kontext niederschlägt. Siehe Gosewinkel, Rückwirkungen. 146 Kossert, Heimat, 71. 147 Krauss, Ausgrenzung, 30 f. Viele Beispiele nennt Kossert, Heimat. Diese Ausgrenzungsme-

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sche Volk als Nation konstituierte, wurden zudem im Kontext der EKDDenkschrift von 1965 formuliert. Neben der emphatischen Behauptung oder Begründung von Zusammengehörigkeit und der Formulierung von Zugehörigkeitsbedingungen interessieren die Kategorien, in denen die soziale, ethnonational bestimmte und begrenzte Entität beschrieben wurde. Diese tangierten sowohl die Ebene der innergesellschaftlichen Ordnung als auch die Ebene des kollektiv-nationalen Selbstverständnisses. Zu denken ist an Beschreibungsfiguren wie Volk, Volkstum, Nation, Staat, Gemeinschaft oder Gesellschaft, die die soziale Entität zum Ausdruck brachten. Mit den jeweiligen Beschreibungskategorien gingen spezifische Vorstellungen der inneren Gesellschaftsstruktur sowie Vorstellungen davon einher, was die Nation bestimmte. Die Begrifflichkeiten zur Beschreibung der sozialen, national bestimmten Entität waren zudem integrationspolitisch relevant. Die Kategorien modellierten, so die These, das Verhältnis von Integration und Pluralität, von Zusammengehörigkeit und Differenz und brachten damit ein an die Vertriebenen adressiertes Integrationsangebot zum Ausdruck, das die Zugehörigkeit der Vertriebenen zum deutschen Volk und die Integrität ihrer Kultur betonte. Die Dichotomie von Homogenität und Pluralität, von Differenz und Integrität dient demnach als heuristischer Schlüssel, mit dem die gesellschaftlichen Selbstbeschreibungskategorien analysiert werden.148 Die Vertriebenen konnten sich demnach als Teil der ethnonational bestimmten Kultur- und Abstammungsgemeinschaft betrachten, ohne ihre kulturelle Identität aufgeben zu müssen. Die aus diesen theoretischen Überlegungen abgeleitete Frageperspektive lautet also: Welche Konzepte oder Vorstellungen der sozialen Entität speiste der Protestantismus in die Debatten ein, wie nahm er den gesellschaftlichen Selbstbeschreibungsdiskurs auf ? War es möglich, eine gemeinsame Identität unter den Bedingungen der kulturellen Differenz und Pluralität zu konstruieren? Gelang es, die Gesellschaft gleichermaßen als integriert und plural zu begreifen und ein übergreifendes Identitätsangebot zu formulieren? In diesem Zusammenhang gerät auch die Kultur in den Blick. In der Kulturpolitik konkretisierte und materialisierte sich die integrationspolitische Frage, ob eine Assimilation oder eine Bewahrung der kulturellen Autonomie angestrebt werden soll. In dieser Arbeit interessieren dabei die kulturpolitischen Entscheidungen und Kon-

chanismen wurden von der zeitgenössischen Flüchtlingssoziologie durchaus bemerkt. Eugen Lemberg etwa beschrieb den Integrationsprozess als „Nationalitätenkampf und Klassengegensatz“ (Lemberg, Ausweisung, 24). 148 In Analogie dazu plädierte Jörn Retterath dafür, die Unterscheidung demokratisch-nichtdemokratisch durch das heuristische Raster plural-holistisch zu ersetzen. Vgl. Retterath, Volk, 12 f. In der Theologie kommt dem Begriff „Volkskirche“ ein zentraler Stellenwert zu. Vgl. hierzu die Dissertationsschrift von Benedikt Brunner: Brunner, Ordnung; und ders, Ordnung der Kirche. In: MKiZ 8 (2014), 247–256.

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zepte, wobei die kirchliche und die allgemeingesellschaftliche Sphäre miteinander zu vergleichen sind.149 Die vielfältigen, auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Vorstellungen von „Integration“ dienen hier also als heuristischer Schlüssel, mit dessen Hilfe die deskriptiven wie normativen Gesellschaftsvorstellungen und -deutungen sichtbar gemacht werden. Schließlich führt der Begriff „gesellschaftliche Debatte“ zwangsläufig zum Begriff der Öffentlichkeit, der ebenfalls einige begriffliche und definitorische Schwierigkeiten mit sich bringt. Zunächst wird zwischen analytischem und quellensprachlichem Gebrauch unterschieden. In der Quellensprache fungierte der Begriff in der Regel als Appell- und Suggestionsbegriff, dessen außersprachlicher Referenzbereich ausgesprochen diffus und vage ist. Analytisch kann Öffentlichkeit mit Axel Schildt, Karl Christian Führer und Knut Hickethier als „gesellschaftliche Kommunikation in zentrierter Form, als Ort der überschaubaren kommunikativen Interaktion“ verstanden werden.150 1.5.3 Protestantismus Die Themenstellung der vorliegenden Arbeit enthält den vielschichtigen, programmatisch aufgeladenen und schwer bestimmbaren Begriff „Protestantismus.“ Dieser Begriff bezeichnet zunächst die eine von zwei christlichen Großkonfessionen. Zugleich umfasst „Protestantismus“ mehr als die Summe der verschiedenen evangelischen Konfessionen und ist folglich nicht mit seinen verfassten Kirchen und ihren tradierten Bekenntnissen gleichzusetzen.151 Die Bestimmung von „Protestantismus“ wird zudem dadurch erschwert, dass der Begriff eine prominente Position in der theologischen Schulbildung einnimmt und von programmatischer Natur ist.152 Daher soll im Folgenden eine Annäherung an den Begriff des Protestantischen in zwei Schritten erfolgen: Zuerst werden Bedeutung und Ort von „Protestantismus“ bzw. der Attributivform „protestantisch“ in der Theologie schematisiert skizziert und Grundmotive der Ideengeschichte herausgearbeitet.153 In einem 149 Die Analyse der Implementierung kulturpolitischer Konzepte muss weiteren Forschungen überlassen bleiben. 150 F hrer/Hickethier/Schildt, Öffentlichkeit, 1 f. Für Hodenberg ist Öffentlichkeit eine „Arena, in der kollektive Deutungsmuster generiert, Werte ausgehandelt und Interessenkonflikte ausgetragen werden“ (dies, Konsens, 17). 151 Fischer/Graf, Art. Protestantismus, 542–580, und 558; Klingbein/Thadden: Art. Protestantismus, 1007 f. 152 Theologen und Philosophen wie Schleiermacher, Hegel, Troeltsch oder Paul Tillich setzten sich mit dem Protestantismus auseinander, profilierten eigene Protestantismustheorien und betonten dabei das Prinzip der Autonomie des Subjekts. Vgl. Fischer/Graf, Art. Protestantismus, 544. Tillich definierte den Protestantismus als überzeitliches Prinzip, das von der historischen Erscheinungsform zu unterscheiden sei. Vgl. Tillich, Protestantismus. 153 Dies erfolgt in Anlehnung an den Theologen Friedrich Wilhelm Graf, der die Begriffsge-

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zweiten Teil wird ein analytisch fruchtbares und historisch operationalisierbares Verständnis von Protestantismus entwickelt. Dazu kann zum Teil an die Theologie angeknüpft werden, zum Teil erfolgt die Operationalisierung auch in bewusster Abgrenzung zur Theologie. Anhand der theologischen Literatur lassen sich einige Grundmotive herausarbeiten, die in der Begriffs- und Ideengeschichte von Protestantismus nachweisbar sind, die allerdings zeit-, kontext- und interessenbedingt jeweils aktualisiert und an die Gegenwart angepasst wurden.154 Ein erstes Grundmotiv besteht erstens im kritischen Potential gegenüber der verfassten Kirche mit ihren tradierten Bekenntnissen und ihrem Wahrheits- und Verkündigungsanspruch, das sich nicht nur gegen die katholische, sondern auch gegen die eigene Konfession richtete und das aus dem protestantischen Theologumenon der „unmittelbaren Beziehung des Glaubenden zu Gott“ abgeleitet wurde.155 Zweitens ist der Protestantismus historisch und normativ durch die Vielfalt seiner Bekenntnisse, Kirchen, Kulturformen, Glaubensgemeinschaften, Glaubens- und Lebensformen gekennzeichnet: „Wie die kulturelle, so gehört auch die lehrmäßige Pluralität zur Grundverfassung der Protestantismus.“156 Drittens wird Protestantismus mit dem Aspekt der Zugewandtheit zur modernen Gesellschaft oder Kultur in Verbindung gebracht, wobei dieser Aspekt nicht von allen Theologen geteilt wird.157 Dieser Aspekt rekurriert a) auf die theologisch-religiöse Aufwertung der Welt und der außerkirchlichen Sphäre, b) auf die kulturprotestantische Behauptung einer Identität oder Verflechtung zwischen Protestantismus und moderner bürgerlicher Gesellschaft und auf den c) in affirmativer Absicht beschriebenen Beitrag des Protestantismus zur Hervorbringung der modernen Welt.158 Kulturprotestanten sehen zudem im Protestantismus weniger eine Religion als vielmehr einen spezifischen Habitus, eine Geisteshaltung und ein „normativ-kulturelles

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schichte und die verschiedenen programmatischen Verwendungsweisen herausarbeitet. Vgl. hierzu Graf, Protestantismus; und Fischer/Graf, Art. Protestantismus. Graf, Protestantismus; Fischer/Graf, Art. Protestantismus. Ebd., 544. Für Schleiermacher waren Subjektivität und Autonomie Kernprinzipien des Protestantismus. Vgl. ebd., 544–546. Vgl. auch Raiser, Art. Protestantismus, 1352. Die Kritik an der verfassten Kirche und ihrem Bekenntnis betont auch L chele, Protestantismus, 151. Ebd., 154. Insbesondere trifft dieser Aspekt nach Graf auf die großbürgerlich-liberale Variante von Protestantismus zu. Hierzu Fischer/Graf, Art. Protestantismus, 554. Ebd., 562 f. Einige Theologen und Soziologen befassten sich mit dem Protestantismus und der modernen Welt. Hier sind v. a. die Arbeiten von Max Weber und Ernst Troeltsch zu nennen, die Aspekte wie die Rationalisierung der Lebensführung, Individualisierung oder Prinzipien der Aufklärung mit dem Protestantismus und reformatorischen Prinzipien in Verbindung brachten. Dabei wäre auch Max Webers Theorie über den Zusammenhang von Kapitalismus und innerweltlicher Askese zu nennen. Vgl. ebd., 562–566. Vgl. auch Troeltsch, Methode, 2–25; und ders., Soziallehren, 93–115. Eine Offenheit der Protestantismus für den Zeitgeist beobachtet: L chele, Protestantismus, 151.

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Konzept.“159 In der Verhältnisbestimmung von bürgerlicher Kultur bzw. Gesellschaft und evangelischer Kirche zeigt sich nicht zuletzt eine der zentralen Konfliktlinien zwischen liberaler und dialektischer Theologie, so dass diesem Gesichtspunkt auch eine normative und kirchenpolitische Bedeutung zukommt. Stellt die liberale Theologie den Begriff der Kultur und der Gesellschaft in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen und hinterfragt dabei die dichotomisierende Gegenüberstellung von Kirche und Welt, geht die dialektische Theologie von einer Dichotomie von Kirche und Welt aus und denkt das Kirche-Welt-Verhältnis von der Kirche aus, deren zentrale Aufgabe in der „Verkündigung des Wortes Gottes“ bestünde.160 Schattenseite dieser Kulturzugewandtheit ist allerdings die von dialektischen Theologen immer wieder kritisierte Offenheit gegenüber säkularen Integrationsideologien wie der des Nationalismus, mit der der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert eine verhängnisvolle Symbiose einging.161 Diese genannten Grundmotive des Protestantismusbegriffs wurden immer wieder auf reformatorische, allerdings vielseitig interpretierbare und aktualisierte Kernprinzipien zurückgeführt: Obgleich eine verbindliche Auslegung der gemeinsamen dogmatischen Positionen nicht erreicht wurde, ist man sich doch einig in der Wahrung der reformatorischen Prinzipien des allgemeinen Priestertums der Gläubigen, der Rechtfertigungslehre und der Schriftautorität.162

Seit dem Kulturkampf habe sich zudem eine antikatholische Grundhaltung als verbindendes Merkmal herausgebildet.163 Diese Grundmotive sollten allerdings auch methodisch reflektiert und historisch relativiert werden. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um theologisch-normative Bestimmungen und Selbstverständnisse handelt, die nur bedingt etwas über die historischen Erscheinungsformen verraten. So wäre auf die große Diskrepanz aus der liberal-theologischen Selbstdeutung des Protestantismus als „reformatorische Freiheitsreligion“ und der Praxis einer rigiden und repressiven Sozialdisziplinierung in den Gemeinden hinzuweisen, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beobachtet werden kann.164 Zudem ist auch der Rekurs auf den Theologen Friedrich Wilhelm Graf problematisch, auf den diese Ausführungen zurückgehen. Wenn Graf in seinem Lexikonartikel Allgemeingültigkeit beansprucht, dann kann nicht unerwähnt bleiben, dass Graf mit diesem Artikel eine profilierte theologische Positionierung in den Auseinandersetzungen zwischen dialektischer und liberaler Theologie vornimmt. Die normative und deskriptive Ebene ist 159 160 161 162 163 164

Fischer/Graf, Art. Protestantismus, 556. Berger et al., Art. Kirche, 272. Fischer/Graf, Art. Protestantismus, 570 f. Klingbein/Thadden, Art. Protestantismus, 1008. L chele, Protestantismus, 150. Fischer/Graf, Art. Protestantismus, 560.

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dabei kaum trennscharf zu unterscheiden bzw. der Verdacht liegt nahe, dass in Grafs Beschreibung eine normative Dimension mitschwingt. Selbst innerhalb der liberalen Richtung der evangelischen Gegenwartstheologie stellt Graf im Übrigen eine einzelne, pointierte Position dar. Bereits der Begriff „Protestantismus“ oder „protestantisch“ steht, so die These, mit der Richtung der sogenannten liberalen Theologie in Verbindung. Diese These findet ex negativo Bestätigung in den spärlich zu findenden, in der Regel pejorativen Bezugnahmen dialektischer Theologen auf den Protestantismusbegriff. Ihr Hauptvertreter Karl Barth beispielsweise lehnte den Begriff Protestantismus oder protestantisch ab: „Die Worte ,protestantisch‘ und ,Protestantismus‘ sähe ich gerne aus unserem Sprachschatz verschwinden.“165 Der linksprotestantische Theologe Hans Joachim Iwand erkannte gerade im Verzicht auf die Deutungshoheit über den Protestantismusbegriff ein Defizit und kritisierte, dass man den Begriff des Protestantischen der liberalen, kulturprotestantischen Theologie überlassen habe.166 Was Iwand hier als Defizit der eigenen theologischen Tradition benennt, bestätigt damit ex negativo, dass der Begriff des Protestantismus mit der Tradition der eher kirchenkritischen liberalen Theologie verbunden ist, gegen die sich Iwand wandte.167 Da die liberale Theologie die Deutungshoheit über diesen Begriff für sich beansprucht und andere Stellungnahmen spärlich zu finden sind, bleibt keine Wahl, als der Beschreibungstradition der liberalen Theologie zu folgen. Damit wird die dialektische Theologie nicht aus dem Protestantismus „ausgeschlossen“, jedoch beanspruchte sie in geringerem Maße die Deutungshoheit über diesen Begriff, verband damit kein eigenes theologisches Programm und bietet demnach auch keine Anknüpfungspunkte. Für dieses methodische Problem gibt es letztlich keine Lösung als die der Explikation: Durch das Referieren dieser in der Begriffsgeschichte implizit mitschwingenden Position eignet sich der Verfasser diese Position nicht an, sondern er setzt sich gegenüber theologisch-normativen Positionierungen in kritische Distanz. Zugleich lassen diese Überlegungen die Notwendigkeit evident werden, einen eigenen, methodisch operationalisierbaren, heuristischen Protestantismusbegriff zu entwickeln, der einerseits in Abgrenzung zur theologischen Theoriebildung formuliert wird, andererseits aber auch an die oben herausgearbeiteten Grundmotive anzuknüpfen vermag. „Protestantismus“ interessiert in diesem Untersuchungszusammenhang erstens als historisches und empirisch greifbares Phänomen, nicht als Geis-

165 Zitiert nach ebd., 558. 166 Iwand, Kirche, 241. 167 Kirchenvertreter und Vertreter der dialektischen Theologie bedienten sich stattdessen der kirchenpolitischen und theologischen Selbstbezeichnung evangelisch. Vgl. Fischer/Graf, Art. Protestantismus, 558. Diese Selbstbezeichnung dominiert auch in den Aussagen der Zeitgenossen.

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teshaltung oder abstraktes Kulturprinzip.168 Zweitens ist der Begriff nicht auf den engeren Bereich der Institution Kirche beschränkt, wie dies beispielsweise in einer kirchengeschichtlichen Arbeit der Fall wäre. Stattdessen berücksichtigt „Protestantismus“ ausdrücklich individuelle Einzelakteure, Politiker und evangelische Organisationen, die aus einem, so die idealtypisch gedachte Vorannahme, individuellen protestantischen Selbstverständnis heraus politisch und gesellschaftlich handelten und sich an gesellschaftlichen oder politischen Debatten beteiligten. Diese individuellen Akteure werden idealtypisch als unabhängig von Kirchenleitungen gedacht. Hieraus ergibt sich auch der Mehrwert gegenüber einer kirchengeschichtlichen Arbeit.169 „Protestantismus“ umfasst demnach in quantitativer Hinsicht „mehr“ als die Institution „evangelische Kirche“ und beschreibt zugleich eine konfessionell bestimmte Teilmenge der nationalstaatlich begrenzten Gesamtgesellschaft.170 In Analogie zu soziologischen und politischen Elitetheorien ist hier allerdings nicht die Gesamtheit aller Protestanten von Interesse, sondern solche Akteure, die Schlüsselpositionen in Entscheidungsprozessen besetzten und von hieraus Kommunikationsprozesse steuerten oder gestalteten.171 Drittens materialisiert und präsentiert sich der Protestantismus in konkreten gesellschaftlichen Debatten und Prozessen in Form seiner individuellen und überindividuellen oder institutionellen Akteure.172 Wie genau lässt sich darüber hinausgehend ein protestantischer Akteur identifizieren? Der Akteursbegriff ist zunächst weit zu verstehen. Er schließt sowohl individuelle als auch überindividuelle Akteure wie Kirchenleitungen, evangelische Akademien, konfessionell gebundene Zeitschriften oder Verbände mit ein, die in unterschiedlicher Intensität Beziehungen zur Amtskirche unterhielten.173 Insofern gilt auch für die Bestimmung des protestantischen Akteurs, was Judith Könemann, AnnaMaria Meuth, Christiane Frantz und Max Schulte in ihrer Studie „religiöse Interessenvertretung“ zum religiösen Akteur feststellen: Das Autorenkollektiv 168 Ein solches Prinzip wurde in der Theologie immer wieder behauptet. Vgl. v. a. die stark rezipierten Beiträge von Paul Tillich, die in Anm. 135 genannt werden. 169 Die Dokumentation von Hartmut Rudolph ist daher auf die Institution evangelische Kirche beschränkt. Vgl. Rudolph, Kirche Bd. I und 2, Göttingen 1984/1985. 170 Definition von Gesellschaft in Anlehnung an Nolte, Ordnung, 14. 171 Politikwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche empirische Elitentheorien verfolgen v. a. einen positionalen Ansatz. Demnach interessieren die Inhaber politischer oder funktionaler Schlüssel- oder Entscheidungspositionen in gesellschaftlichen Teilsystemen, die im Hinblick auf die soziale oder konfessionelle Zusammensetzung analysiert werden können. Vgl. Hoffmann-Lange, Eliten, 83–90. Reitmayer verweist auf solche Ansätze, die Eliten als den relevanten Teil der Gesellschaft begreifen. Eliten stellen demnach den Schlüssel für eine umfassende Gesellschaftsanalyse und -beschreibung dar. So jedenfalls Reitmayer, Elite, v. a. 191 und 573. 172 Z. B. Albrecht/Anselm, Nachkriegsprotestantismus, 387–395, 387. 173 So wäre das Beispiel der Akademien und des DEK zu nennen, die mit der Amtskirche institutionell und personell verbunden waren, zugleich aber ihre institutionelle Unabhängigkeit bewahrten und zum Teil aus einem kirchenkritischen Impetus gegründet wurden. Hierzu Palm, Brüder, 12, 34, 303.

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fasst darunter regionale wie nationale „Leitungsstrukturen der jeweiligen Kirchen“, vereinsrechtliche Verbände wie Diakonie und Caritas und diverse, eher locker zusammengeschlossene Gruppen.174 Analytisch gewinnbringender ist allerdings die Unterscheidung zwischen „religiösen Akteuren mit Organisationsgrad“ und „Einzelakteuren mit ideologisch-religiöser Orientierung“, wobei in der Realität „hybride Akteursformen“ begegnen.175 Diese individuellen „christlichen“ Akteure werden auch als „Mehrfachengagierte“ bezeichnet, die in Politik und Kirche aktiv waren.176 Anhand des hier gesichteten Quellenmaterials zeigt sich, dass die Selbstzuschreibung der Akteure als „Protestant“ und die Bezugnahme auf das Attribut protestantisch in den Selbstaussagen der Akteure kaum eine Rolle spielte. Offenbar stellen „Protestantismus“ oder „protestantisch“ keine nennenswerten Legitimationsressourcen im gesellschaftlichen und politischen Handeln dar. Allerdings liegt dieser Befund auch in den hier gesichteten Quellengattungen begründet. In den politischen Korrespondenzen, Reden, Referaten und veröffentlichten Aufsätzen, d. h. in politischen und nicht-protestantischen Kommunikationskontexten, sahen sich die hier behandelten Akteure offenbar nicht dazu veranlasst, über ihre mögliche Selbstkonzeption als protestantische Akteure Auskunft zu geben oder ihr politisches und gesellschaftliches Handeln protestantisch rückzubinden, zu begründen oder zu legitimieren. Andere Quellengattungen wie Egodokumente, die hier nicht zugänglich waren oder möglicherweise auch gar nicht existieren, können durchaus ein anderes Bild ergeben.177 Da die Selbstzuschreibung der Akteure als „protestantisch“ als 174 Kçnemann et al., Interessenvertretung. Könemann et al. nennen zudem Ordensgemeinschaften, die im Protestantismus kaum eine Rolle spielen. Siehe ebd., 40. 175 Ebd., 11. Unterschieden wird zudem zwischen „offiziellen Vertretern oder Sprechern von Teilorganisationen und Verbänden“, oder in Form von „Christen, die sich auf Grund von religiösen Grundhaltungen politisch engagieren und in den Diskurs einbringen“ (ebd., 12). 176 Ebd., 172–189. Vgl. auch unten 321–329. Der praktische Theologe Dietrich Rössler legt einen Typologisierungs- und Bestimmungsversuch vor und unterscheidet die drei Dimensionen „öffentliches“, „kirchliches“ und „individuelles“ Christentum (Rçssler, Grundriß, 90–99). Albrecht und Anselm plädieren für ein dreidimensionales Modell, wobei alle drei Dimensionen in unterschiedlichen Gewichtungen vorhanden seien. Vgl. Albrecht/Anselm, Nachkriegsprotestantismus, 389–391. Dieses ließe sich allerdings auch auf nichtprotestantische, christliche Akteure übertragen und stellt kein protestantisches Alleinstellungsmerkmal dar. Der heuristische Mehrwert dieses Modells gegenüber dem von Könemann et al. skizzierten Typus des Mehrfachengagierten scheint fraglich. 177 Egodokumente wie Tagebücher, in denen die Akteure gegebenenfalls Auskunft über ihre protestantischen Motive geben, sind nicht verfügbar oder nicht vorhanden. Der Selbstbeschreibung als „christlich“ scheint eine etwas größere Bedeutung zuzukommen. Könemann et al. nennen immerhin Formen der religiösen Rückbindung, die allerdings schwer operationalisierbar sind: Religion präsentiert sich demnach als „Quelle für persönliche Kraft“, als „Quelle für die Gestaltung des Allgemeinwohls“ und als handlungsleitendes und prägendes Moment „für die politische Selbstkonzeption.“ In der Selbstwahrnehmung religiöser Akteure erscheinen die „aus religiösen Werten gezogenen Handlungsanweisungen“ allenfalls als „Interpretationsergebnis eines impliziten Wertefundaments.“ Ausgehend vom Theorem der funktional differenzierten Gesellschaft könne auch das politische Handeln religiöser Akteure „weder aus

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Identifizierungsmerkmal ausscheidet, müssen alternative Kriterien entwickelt werden. So gerät der von der liberalen und kulturprotestantischen Theologie negierte Kirchenbezug aus heuristischen Gründen wieder in den Blick. Die institutionelle Zugehörigkeit zu einer evangelischen Kirche stellt hier ein notwendiges, aber nicht hinreichendes Kriterium zur Identifizierung eines protestantischen Akteurs dar. „Protestantismus“ ohne den Organisationsrahmen „evangelische Kirche“ ist vielleicht theoretisch denkbar, aber methodisch nicht operationalisierbar und historisch nicht identifizierbar.178 Weitere Kriterien sind ein Engagement in kirchlichen Gremien oder Strukturen oder die Selbstzuschreibung zu einer kirchenpolitischen und theologischen Schule, was auf ein inhaltliches Interesse an der evangelischen Kirche und an der protestantischen Konfession deutet. Zugleich stellt die Beteiligung an einer gesellschaftlichen Debatte oder am politischen Prozess ein notwendiges Kriterium dar. Im Sinne des Typus des Mehrfachengagierten sind protestantische Akteure demnach, idealtypisch gedacht, in den Sphären Politik bzw. Gesellschaft und Kirche gleichermaßen engagiert und verfolgen sowohl ein politisch-gesellschaftliches als auch ein kirchliches Gestaltungsinteresse. Sie sind institutionell bzw. durch Netzwerke mit evangelischer Kirche und Politik bzw. Gesellschaft verbunden und setzen sich inhaltlich mit der Kirche wie mit der Gesellschaft und Politik auseinander. Darauf aufbauend lassen sich für den Protestantismus folgende konstitutive Merkmale formulieren: Erstens verfügt der Protestantismus z. B. in Form des DEKs, seiner Akademien und Publikationsorgane, aber auch in Form von EKD, Landeskirchen und einzelnen Kirchengemeinden mit ihren synodalen und kirchenleitenden Gremien über institutionalisierte Kommunikationsstrukturen, die auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind. Protestantismus ist somit als Kommunikationszusammenhang zu begreifen. Zweitens sind diese institutionell angebunden an und inhaltlich bezogen auf die Großinstitution „evangelische Kirche“ und beteiligen sich zugleich an gesellschaftspolitischen Debatten. Der Kommunikationszusammenhang Protestantismus wird drittens durch personenzentrierte Netzwerke zusammengehalten. Über netzwerkbasierte oder institutionalisierte Kommunikationskanäle werden viertens Themen und Deutungsmuster transportiert und kommuniziert, die sowohl an protestantische als auch an nichtprotestantische Teilöffentlichkeiten oder individuelle Akteure kommuniziert werden. In Form seiner Theologie bringt der Protestantismus fünftens eigene, kulturelle und tradierte Muster der Welt- und Schicksalsdeutung hervor, die von protestantischen Akteuren, keineswegs nur von professionellen Theologen, geder Logik des Religiösen noch des Politischen abgeleitet werden“ (Kçnemann et al., Interessenvertretung, 180). Zur funktionalen Differenzierung ebd., 186. 178 Als Beispiel sind die evangelischen Akademien zu nennen, die zwar einerseits nach Unabhängigkeit strebten, andererseits an die Landeskirchen angebunden waren. Die Kirchen als Organisation der Religion analysiert Ziemann, Kirchen, 440–446.

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braucht werden. Über die Kommunikationskanäle konnten Informationen aus dem politischen System und gesellschaftliche Probleme aufgenommen und aus einer spezifischen Problemwahrnehmung heraus und im Rekurs auf ein spezifisches Deutungssystem verarbeitet werden. Insofern lässt sich der Protestantismus auch in der auf Pierre Bourdieu zurückgehenden Metapher des „Feldes“ beschreiben, das Eigengesetzlichkeiten unterliegt, aber auch auf äußere Einwirkungen und Umweltbedingungen reagiert.179 Verstanden als Kommunikationszusammenhang, der einerseits vom gesellschaftlichen Diskurs und der Gesamtgesellschaft zu unterscheiden ist, aber zugleich strukturell und personell mit der Gesellschaft verbunden ist und auf den gesellschaftlichen Diskurs reagiert, gerät der Protestantismus als Resonanzraum des gesellschaftlichen Diskurses in den Blick. Symptomatisch für die kommunikative Verflechtung mit der Gesellschaft sind die evangelischen Akademien und der DEK, die als „Dritte Orte“ gedachte waren, an denen „Kirche und Welt“ miteinander ins Gespräch treten sollten und die von Publizisten, Intellektuellen und Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung besucht wurden.180 Ziel der Arbeit ist es, auf Basis dieser heuristischen, programmatisch offenen und inhaltlich nicht festgelegten Bestimmungen herauszuarbeiten, was die charakteristischen Deutungs-, Denkfiguren und Handlungsmuster protestantischer Akteure in einer spezifischen Debatte waren. Dabei wird auch der Frage nachgegangen, in welcher Weise auf protestantische oder religiöse Traditions-, Glaubens- und Wissensbestände zurückgegriffen wurde und wie gesellschaftliche Problemlagen in die eigene Deutungstradition eingepasst wurden. Ziel ist eine induktive Bestimmung von Protestantismus.181 Damit möchte diese Arbeit einen Beitrag zum Dialog von Kirchen- und Zeitgeschichtsforschung leisten. Wenn im Folgenden von „Kirche und Gesellschaft“ und in Analogie dazu von „säkularen“ und „kirchlichen“ Medien die Rede ist, dann handelt es sich hierbei um eine sprachliche Verkürzung, die heuristisch notwendig ist, um die Kirche von der Gesellschaft unterscheiden, abgrenzen, identifizieren und sprachlich benennen zu können. Diese sprachliche Verkürzung, die in den 179 Hier nach Bollenbeck, Interesse, 25. 180 J hnichen, Kirchentage, 127–144, 129 f.; Zu den Akademien auch Treidel, Akademien, 39. 181 In der kirchlichen Zeitgeschichte wurde mehrfach das berechtigte Postulat formuliert, konfessionsvergleichend zu arbeiten. Dies scheint berechtigt, da sich Protestantismus und Katholizismus über die gegenseitige Abgrenzung definierten und sich beide in einem gegenseitigen Interaktions-, Beobachtungs- und Konkurrenzverhältnis befanden. Hier wird allerdings keine komparatistische Perspektive gewählt. Dies wäre aus arbeitsökonomischen Gründen sowie vor dem Hintergrund der Struktur und Ausrichtung der DFG-Forschergruppe 1765, in deren Rahmen diese Arbeit entstand, nicht möglich. Daneben stellt sich auch die inhaltliche Frage, ob die konfessionsübergreifende Analyse von gesellschaftsbezogenen Deutungsmustern heuristisch weiterführend ist. Es ist nicht zu erwarten, dass protestantische und katholische Akteure ihre Gesellschaftsdeutungen in Abgrenzung oder in Bezug auf die jeweils andere Konfession formulierten. Punktuell kann jedoch im Rekurs auf die Arbeit von Rainer Bendel eine katholische Perspektive eingeholt werden. Vgl. Bendel, Aufbruch.

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1950er Jahren überwiegend auch dem Verständnis der zeitgenössischen Akteure entsprechen dürfte, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kirche und Gesellschaft realiter auf vielfältige Weise miteinander vernetzt waren. Die Mitglieder der evangelischen Kirche stellten eine relevante Teilmenge der Gesamtgesellschaft dar, so dass von einer großen Überschneidungsfläche zwischen Gesellschaft und Kirche ausgegangen werden kann.182 Die Kirchen übernahmen zudem als „größte intermediäre Instanzen“ gesellschaftliche Integrationsfunktionen. Schließlich geraten die Mehrfachengagierten in den Fokus, die sich in kirchlichen Organisationsstrukturen, protestantischen Kommunikationszusammenhängen und politisch-administrativen Funktionsbereichen gleichermaßen bewegten, so dass auf individueller Ebene Austauschbeziehungen bestanden. Daher ist die „Kirche“ einerseits funktional und institutionell von der Gesellschaft zu unterscheiden, andererseits auf vielfältige Weise mit der Gesellschaft, verstanden als „nationalstaatlich begrenztes Sozialsystem“,183 verflochten. Wenn im analytischen Sinne von „Kirche“ die Rede ist, so rekurriert diese Formulierung, abweichend vom zeitgenössischen Sprachgebrauch184, primär auf die Organisationsgestalt der Kirche in Form der EKD, Landeskirchen sowie ihren Funktionsträgern und Repräsentanten. Vor dem Hintergrund der Vorannahme, dass Kirche und Gesellschaft sprachlich und heuristisch zu unterscheiden und dennoch miteinander verflochten sind, nimmt der Begriff des Protestantismus einerseits den kirchlichen Organisationsrahmen in den Blick, geht aber andererseits deutlich darüber hinaus und fokussiert individuelle protestantische Akteure, die als Vermittlungsinstanzen zwischen Kirche und Gesellschaft bzw. Politik gedacht werden. 1.5.4 Vertriebene Auch der Begriff „Vertriebene“ selbst, der mit anderen Bezeichnungen wie Flüchtlinge, Ausgewiesene, Umsiedler oder Neubürger konkurrierte, bereitet einige Schwierigkeiten.185 Diese ergeben sich daraus, da mit der Wahl der Begrifflichkeit Sprachpolitik betrieben wurde und die quellensprachlichen Begrifflichkeiten teils ideologisiert waren. Die Begriffe sollten teils den Unrechtscharakter betonten (Vertriebene), euphemistisch verharmlosen (Um182 Umso mehr gilt dies für die Nachkriegszeit. Vgl. Nolte, Religion, 138 f. Die subjektiv empfundene Zugehörigkeit zur Kirche konnte dabei stark divergieren. 183 Nolte, Ordnung, 23. 184 Im zeitgenössischen Sprachgebrauch war „Kirche“ häufig ein nicht präzisierter Appell- und Suggestivbegriff. 185 Darauf sowie auf die ausgesprochen heterogene Verwendungsweise, die gruppenspezifisch motiviert sei und Rückschlüsse auf politische Ziele, Integrationskonzepte und unterschiedliche Integrationsphasen zulasse, weist hin: Beer, Flüchtlinge, 145–167. Beer beklagt einen Mangel an begriffsgeschichtlichen Untersuchungen. Siehe ebd., 144.

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siedler), Besitzansprüche auf den deutschen Osten festschreiben (Heimatvertriebene), die staatliche Veranlassung verdecken (Flüchtling) oder die Integration in die neue Heimat fokussieren und dabei die Gleichwertigkeit mit den Einheimischen betonen (Neubürger).186 Der Sprachgebrauch veränderte sich im Wandel der Zeit und divergierte zwischen den politischen Systemen. Der Begriff Neubürger wurde überwiegend von den Alliierten gebraucht, um die Unumkehrbarkeit des Vertreibungsgeschehens deutlich zu machen und den Fokus auf die zu leistende Integration zu legen.187 Während allgemeinsprachlich in den ersten Jahren nach der Vertreibung von Flüchtlingen die Rede war, setzte sich im Laufe der Zeit der Begriff Heimatvertriebener oder Vertriebener durch, was auch der Sprachregelung der Vertriebenenverbände entsprach. Die Begrifflichkeiten „Vertriebene“ oder „Heimatvertriebene“ dürfte dabei am ehesten dem Selbstverständnis der Vertriebenen entsprechen, während „Flüchtling“ als pejorative Fremdzuschreibung empfunden wurde.188 Wegen dieser Begriffsvielfalt wurden die Begrifflichkeiten im Bundesvertriebenengesetz 1953 klar definiert und somit rechtlich normiert. Hier wurde deutlich zwischen Vertriebenen – gemeint waren die aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße vertriebenen Deutschen, wobei sowohl Reichs- als auch Volksdeutsche gemeint waren – und Flüchtlingen zur Bezeichnung von Flüchtlingen aus der SBZ und DDR unterschieden.189 Das Gesetz ermöglichte es zudem, die Zugehörigkeit der vertriebenen auslandsdeutschen Gruppen, der sog. Volksdeutschen, die außerhalb der Reichsgrenzen gelebt hatten, zu begründen. Aus der Perspektive der sozialhistorischen Migrationsforschung ist die analytische Kategorie „Zwangsmigration“ oder „Zwangsmigranten“ zu nennen, die die strukturelle Vergleichbarkeit mit anderen Zwangsmigrationen wie beispielsweise den Griechen im osmanischen Reich ermöglicht und vom spezifisch deutschen Kontext zu abstrahieren vermag.190 Der Terminus „Zwangsmigranten“ oder „Zwangsmigration“ korrespondiert mit der historischen Migrationsforschung, die das Vertreibungsgeschehen nach 1945 im Kontext der genocidalen Umsiedlungspläne des NS verstanden wissen will, die „die Genese der Aussiedlungspläne für die deutsche Bevölkerung entscheidend“ mitbestimmten.191 Im Bewusstsein, dass letztlich jede Bezeichnung verkürzend ist, wird hier pragmatisch verfahren und der Begriff „Vertriebene“ als Oberbegriff bevor186 Zur Sprachproblematik: Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 101–103; und ders., Umsiedlerpolitik, 4. 187 Die Alliierten setzten dabei auf eine Assimilationspolitik. Hierzu Haerendel, Politik, 111. 188 In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde „Flüchtling“ allerdings auch zur Selbstbeschreibung gebraucht. 189 Beer, Flüchtlinge, 147. 190 Schwartz plädiert für den Begriff „ethnische Säuberung“, der im Gegensatz zum deutschen Begriff „Flucht und Vertreibung“ an die internationale Forschung anknüpfungsfähig sei. Siehe Schwartz, „Säuberungen“, 3 f. 191 Beer, Flucht, 17. Vgl. auch Schwartz, „Säuberungen“.

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zugt,192 ohne dass sich der Verfasser die inhärenten Konnotationen der Quellensprache aneignet. Der analytische Begriff „Zwangsmigranten“ wäre grundsätzlich ebenfalls denkbar, ist aber insofern unbefriedigend, weil er eher geeignet scheint, die verschiedenen Migrationsformen und Migrationsmotive voneinander abzugrenzen und zu typologisieren. Eine solche Fragestellung wird hier nicht verfolgt.193 Damit folgt die Arbeit dem Usus der Forschungsliteratur, die durchgängig von „Vertriebenen und Flüchtlingen“ oder nur von „Vertriebenen“ spricht.194 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass eine Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung existierte. So konnten Akteure die Interessen der Vertriebenen vertreten und sich mit ihren Anliegen identifizieren, ohne selbst formaljuristisch Vertriebene zu sein.195 Umgekehrt konnte es den Fall geben, dass Vertriebene, die formaljuristisch Vertriebene waren, im Laufe der Zeit gar nicht mit einer eigenen Vertriebenenidentität in Verbindung gebracht werden wollten, weil ihnen an einer Assimilation und einem wirtschaftlichen Wiederaufstieg gelegen war. Die im Bundesvertriebenengesetz festgelegte Vererbbarkeit des Vertriebenenstatus, die die Sonderidentität der Vertriebenen aus deutschland- und außenpolitischen Gründen zementierte, trug zu einer künstlichen Vergrößerung der Gruppe „Vertriebene“ bei, verstärkte aber auch die Diskrepanz von Selbst- und Fremdzuschreibung, zumal die Assimilationsbereitschaft in der jüngeren Generation stärker ausgeprägt war als in der Erlebnisgeneration.196 Auch die quellensprachliche Kollektivbezeichnung „Vertriebene“ war letztlich ein Appell- und Suggestivbegriff, der ein einheitliches soziales Kollektiv implizierte, das so nicht existierte bzw. mit dem sich nicht jeder identifizierte, auf den der Begriff formaljuristisch zutraf. Im Folgenden wird der Begriff „Vertriebene“ als Oberbegriff für jene Gruppen und Menschen gebraucht, die während der Kriegswirren aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße geflohen waren

192 So auch Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 102; und Fischer, Heimat-Politiker, 24. 193 Eine solche Perspektive wählt: Schwartz, „Säuberungen“. Das Vertreibungsgeschehen nach 1945 erhält in seiner Monographie ein Kapitel. Siehe ebd., 425–578, v. a. 492–578. Eine „ethnische Säuberung“, verstanden als „Entfernung von Menschen aus einem bestimmten Raum“, zielte nicht zwangsläufig auf ihre Ermordung und sei daher nicht mit Genozid gleichzusetzen. In der Praxis seien Genozid und „ethnische Säuberung“ nicht leicht voneinander zu trennen. Genozid sei eine radikale Form der ethnischen „Säuberung“ (ebd., 1 f.). Auch Schwartz verweist auf die Kontinuität zwischen NS-Umsiedlungsplänen und Vertreibungsgeschehen nach 1945. 194 Ebd.; und Beer, Flucht. 195 Stickler entwirft eine Typologie des Vertriebenenpolitikers und unterscheidet vier Typen. Vgl. Stickler, Ostdeutsch, 192 f.; Fischer macht zudem auf die subjektive Dimension aufmerksam, wobei der Geburtsort als Bestimmungsmerkmal nicht ausreichend sei. Siehe Fischer, HeimatPolitiker, 25–27. 196 Beer, Flucht, 21.

Untersuchungszeitraum und Quellenbasis

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oder im Zuge der Potsdamer Abkommen vertrieben wurden und nach 1945 in das Gebiet der späteren Bundesrepublik gelangten.197

1.6 Untersuchungszeitraum und Quellenbasis Der Untersuchungszeitraum setzt mit dem Beginn der Vertreibungswellen im Jahr 1945 ein, wobei die Thematisierung und Reflexion der Vertriebenenproblematik mit einer gewissen Verzögerung einsetzte. Für das Jahr 1972 als Endpunkt der Untersuchung lassen sich mehrere Argumente anführen. Die Diskussionen über die Vertriebenenprobleme erlebten mit der Vertriebenenund Ostdenkschrift der EKD von 1965 und der darauffolgenden Synodalerklärung den entscheidenden Höhepunkt. 1966 verabschiedete die Synode der EKD eine Erklärung, die einen Schlussstrich unter die kirchlichen und protestantischen Diskussionen setzte. Es ist nicht zu erwarten, dass sich die im Wesentlichen festgefahrenen Fronten im deutschen Protestantismus, die im Zuge der Auseinandersetzungen vor und während der Vertriebenen- und Ostdenkschrift zutage getreten waren, während der 1970er und 80er Jahre wesentlich verschoben.198 1969 kam zudem die neue sozialliberale Regierungskoalition unter Bundeskanzler Willy Brandt an die Macht, die die Auflösung des Bundesvertriebenenministeriums beschloss und damit das Signal setzte, dass die Bundesregierung die Vertriebenenproblematik als gelöst betrachtete.199 Schließlich setzte die SPD-geführte Bundesregierung mit den Moskauer und Warschauer Verträgen den ostpolitischen Paradigmenwechsel auch um, der einer Defacto-Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gleichkam und der von keiner künftigen Bundesregierung mehr infrage gestellt werden sollte. Der überwältigende Wahlerfolg Brandts in der Bundestagswahl 1972 zeige zudem, so Michael Schwartz, dass es „ein einheitliches Interesse ,der Vertriebenen‘ längst nicht mehr gab.“200 Vor dem Hintergrund des Untersuchungsinteresses dieser Arbeit lässt sich zwischen Versammlungs- und medialen Öffentlichkeiten unterscheiden, wobei zwischen beiden Öffentlichkeiten Wechselwirkungen und Überschneidungen existierten und beide Öffentlichkeiten miteinander kommu197 Nicht mit eingeschlossen sind die Flüchtlinge aus der SBZ bzw. DDR, die nicht Gegenstand dieser Arbeit sein sollen. Ebenso werden die zwei Millionen Spätaussiedler nicht behandelt. 198 Greschat, Protestantismus und Evangelische Kirche, 569. 199 Z. B. Großbçlting, Himmel, 176–179 und 262. Großbölting verweist auf die sukzessive einsetzenden Liberalisierungs-, Individualisierungs- und Pluralisierungserscheinungen, die bereits in den 1950er Jahren eingesetzt hätten und auch im religiösen Feld spürbar seien. 200 Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 134. Damit fügt sich die Arbeit auch in die Konzeption der langen 1960er Jahre ein, die anstelle einer scharfen Zäsur von 1968 längerfristige Wandlungsprozesse identifiziert, die in den späten 1950er Jahren einsetzten und bis in die 1970er Jahre hineinreichten.

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nizierten.201 Neben dieser formalen Unterscheidung ist zwischen protestantischen, nicht-protestantischen und vertriebenenspezifischen Teilöffentlichkeiten mit jeweils eigenen Publikationsorganen und Foren zu unterscheiden. Systematisch wurde die beim OKK angesiedelte Zeitschrift „Der Remter. Blätter für ostdeutsche Besinnung“ durchgesehen, die 1960 mit der Zeitschrift „Europäische Begegnung“ fusionierte. Die verschiedenen Ausgaben des „Evangelischen Soziallexikon“ (ESL) und des „Evangelischen Staatslexikons“ wurden ebenfalls vergleichend ausgewertet.202 Daneben wurde die überregionale protestantische Presse gesichtet, wobei darauf geachtet wurde, dass die unterschiedlichen protestantischen Lager, Ausprägungen und Institutionen vertreten sind. Zu nennen sind die Zeitschriften „Christ und Welt“, die beim Hilfswerk angesiedelt war, das „Sonntagsblatt“, die „Zeitschrift für evangelische Ethik“ (ZEE), die „Evangelische Welt“ (EvWe) und die „Evangelischen Kommentare“ (EvKo). Punktuell wurden die Zeitschriften „Evangelische Theologie“ (EvTh), „Junge Kirche“ (JK), „Stimme der Gemeinde“, „Kirche in der Zeit“ und „Zeitwende. Die neue Furche“ gesichtet. Als Vergleichsfolie dienten außerprotestantische Zeitschriften wie der „Rheinische Merkur“, „Die Zeit“, die „Süddeutsche Zeitung“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Der Spiegel“, „die Welt“, die „Soziale Welt“ und die „Kölner Zeitschrift für Sozialpsychologie und Soziologie“. Die Publikationsorgane der säkularen Vertriebenenorganisationen wurden ebenfalls punktuell berücksichtigt. Daneben war das umfangreiche Einzelschrifttum zu beachten. Im Fokus der Analyse standen neben der protestantischen Publizistik die kirchlichen Vertriebenengremien sowie die gesamtprotestantisch relevanten Gesprächsforen wie die evangelischen Akademien oder der DEK. Die Wahl der Gremien und Einrichtungen bestimmt zugleich die Quellenbasis. Besondere Berücksichtigung fanden die Überlieferungen solcher Organisationen, die innerhalb der EKD für die Bearbeitung der Vertriebenenproblematik oder die Austragung gesellschaftspolitischer Debatten zuständig waren, so die Akten des OKAs und des OKKs, der EKD-Kammer für soziale Ordnung, der EKDKammer für öffentliche Verantwortung, des DEKs, des Umsiedlerbeauftragten 201 Donges/Imhof, Öffentlichkeit, 151 f. Insgesamt unterscheiden Donges und Imhof zwischen drei Öffentlichkeiten und nennen noch „spontane öffentliche Kommunikation“, die hier nicht in den Blick genommen wird. Hierzu auch Brunner, Ordnung. 202 Das 1966 erstmals erschienene „Evangelische Staatslexikon“ enthält nur einen kurzen Artikel zu „Flucht und Vertreibung“. Gotthard Olearius betont hier den Unrechtscharakter der Vertreibung und die Rolle der Kirchen, die nicht nur Hilfe geleistet, sondern das Unrecht thematisiert hätten. Der Verfasser bewertete die Leistung der Kirchen ausgesprochen positiv. Vgl. Olearius, Art. Flüchtlinge. Der in der dritten Auflage von 1987 erschienene Artikel „Flüchtlinge und Vertriebene“ thematisiert hingegen verschiedene weltweite Zwangsmigrationssituationen. Lediglich die Begrifflichkeit „Flüchtling und Vertriebene“ wird aus der spezifisch deutschen Situation nach 1945 abgeleitet, aber auch auf andere Zwangsmigrationen übertragen. Vgl. Klapper, Art. Flüchtlinge und Vertriebene. Daneben enthält das Staatslexikon einen längeren Artikel über die „deutschen Ostgebiete“. Siehe Herzog, Art. Ostgebiete, deutsche; und Glassl, Art. Ostgebiete, deutsche.

Untersuchungszeitraum und Quellenbasis

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der EKD und des Beirats für Umsiedler, Vertriebene und Flüchtlinge bei der EKD und die Bestände des Bevollmächtigten der EKD bei der Bundesregierung. Auch die Protokolle des Rates der EKD und der Synode der EKD wurden gesichtet. Gesellschaftliche Debatten wurden schließlich auch in privaten Korrespondenzen ausgetragen. Deshalb wurden die Nachlässe folgender Personen gesichtet, die in der kirchlichen Vertriebenenarbeit aktiv waren: Gerhard Gülzow, Eberhard Schwarz, Klaus Hamm und Carl Brummack, allesamt führende Mitglieder im OKA. Außerdem wurden die Nachlässe von Hermann Kunst, Bevollmächtigter der EKD bei der Bundesregierung, OKR Hansjörg Ranke, Referent der EKD für Vertriebenenfragen, Mitarbeiter des Bevollmächtigten und Leiter der Bonner Außenstelle der Kirchenkanzlei, Erwin Wilkens, Geschäftsführer der Kammer für öffentliche Verantwortung und späterer Vizepräsident der Kirchenkanzlei, Harald von Rautenfeld, geschäftsführender Referent in der Hermannsburger Forschungsstelle und Friedrich Bartels, landeskirchlicher Flüchtlingsreferent der hannoverschen Landeskirche, berücksichtigt. Ausgewertet wurden zudem die Nachlässe von Max Hildebert Boehm im Bundesarchiv Koblenz, der in den 1940er Jahren für das Hilfswerk arbeitete und in protestantischen Kommunikationsräumen auftrat, und von Ludwig Landsberg im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, der Flüchtlingsreferent im nordrheinwestfälischen Sozialministerium und in der kirchlichen Vertriebenenarbeit engagiert war. Im Diakonischen Archiv Berlin wurden die Bestände des Zentralbüros des Hilfswerks und die entsprechenden vertriebenenspezifischen Unterorganisationen gesichtet. Daneben wurden die Bestände der evangelischen Akademie Hermannsburg-Loccum im landeskirchlichen Archiv Hannover, punktuell die Bestände aus dem Archiv der evangelischen Akademie Bad Boll und die Unterlagen des Sozialethischen Ausschusses der rheinischen Landeskirche im landeskirchlichen Archiv Düsseldorf ausgewertet. Für die staatliche Parallelüberlieferung wurden die Bestände des Bundesfinanzministeriums, des Bundesvertriebenenministeriums, des Bunds der Vertriebenen (BdV) im Bundesarchiv Koblenz sowie die Unterlagen des Bundestagsausschusses für den Lastenausgleich im Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages in Berlin gesichtet.

2. Die verlorene Gemeinschaft und die Entdeckung der Gesellschaft Die Vertreibung warf die Grundfrage auf, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Das Konzept einer Volksgemeinschaft war erschüttert. Auf der Suche nach der verlorenen Gemeinschaft wurden verschiedene Leitvorstellungen des Sozialen verhandelt – ein Diskurs, der insgesamt den Paradigmenwechsel von der Gemeinschaft zur Gesellschaft markiert. Das folgende Kapitel befasst sich mit der protestantischen Deutung und Vorstellung des Sozialen angesichts der Vertriebenenproblematik. Es werden gesellschaftliche Beschreibungs-, Deutungs- und Vorstellungskategorien analysiert, auf die protestantische Akteure zurückgriffen, um die sozialen Spannungen, die soziostrukturelle Dimension oder den gesellschaftlichen Wandel zu beschreiben. Ein Großteil der Autoren griff auf ein Set ähnlicher Deutungsmuster zurück, die jedoch sehr unterschiedlich aktualisiert wurden und die mit unterschiedlichen Integrationsstrategien, Programmen, Handlungsaufforderungen und Lösungsvorschlägen verbunden waren.1 Innerhalb des folgenden Kapitels werden in einem ersten größeren Abschnitt die Figuren der protestantischen Gesellschaftsdeutung rekonstruiert. Anschließend werden die Kategorien und Begriffe sowie die Semantiken der gebrauchten Begriffe herausgearbeitet, in denen die soziale Entität beschrieben und die Zusammengehörigkeit von Vertriebenen und Einheimischen ausgedrückt wurden. Schließlich werden die Auseinandersetzung mit der ländlich-dörflichen, städtischen und industriellen Gesellschaft sowie die Verarbeitung der Moderne im Kontext der Vertriebenenproblematik analysiert. Zentrale Begriffe zur Beschreibung der Vertriebenenproblematik waren „Vermassung“, „Atomisierung“, „Proletarisierung“ „Nihilismus“, „Vereinzelung“, „soziale Frage“ oder Klassenkampf“.2 Für die Zeitgenossen schienen

1 Die Quellenbasis dieses Kapitels stellen demnach solche Publikationen, Artikel, Referate oder unveröffentlichte Quellen aus der Feder protestantischer Akteure dar, die auf die soziale Dimension der Vertriebenenproblematik Bezug nahmen. Dabei werden sowohl theologische als auch nichttheologische Autoren berücksichtigt. 2 Morten Reitmayer identifiziert im Begriffspaar „Masse“ und „Vermassung“ eine von sechs zentralen gesellschaftlichen Ideenkomplexen. Weitere Ordnungsentwürfe sind neben dem der „Masse“ „Klasse“, „Stand“, „Führer“, „Elite“ und seit den 1960er Jahren „Partizipation“ (Reitmayer, Elite, 37–41). Nach Reitmayer lässt sich gerade der politisch-gesellschaftliche Entwurf der Elite als Gegenentwurf zum Beschreibungskategorie „Masse“ begreifen (ebd., 565). Weitere handlungsleitenden, legitimierende und sinnstiftenden gesellschaftliche Deutungsmuster ließen sich hinzufügen, so beispielsweise „Rasse“ oder „Geschlecht“.

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Begriffe wie Masse/Vermassung eine Vielzahl empirischer Einzelerscheinungen sowie die soziale Welt in ihrer Gesamtheit zu beschreiben: Übergreifende Ordnungskonzepte wie dasjenige des ,Zeitalters der Massen‘ […] ermöglichten es den Akteuren, einzelne Phänomene (beispielsweise die Verführbarkeit des Menschen durch die Werbung, die Vereinsamung des Individuums […], Probleme der politischen Demokratie, die Abnahme religiöser Bindungen) zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen oder als Teil eines Ganzen zu erkennen und darüber hinaus die spezifische Relevanz eines solchen Einzelphänomens zu ermessen.3

Der Begriff „Masse“ hatte bereits während der Industrialisierung und der Sozialen Frage des 19. Jahrhunderts Konjunktur, um die Situation der Arbeiter in Großstadt und Fabrik zu beschreiben, erfuhr seinen Höhepunkt jedoch in den 1920er Jahren.4 Während der Spätzeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik erweiterte sich die Beschreibungsfähigkeit des Begriffs, löste sich vom konkreten Kontext der Arbeiterfrage und avancierte zu einer allgemeinen Kategorie, um die soziale Welt in ihrer Gesamtheit beschreib- und verstehbar zu machen.5 Der Glaube, im Zeitalter der Masse zu leben, avancierte dabei zum Allgemeinplatz und wurde fester Bestandteil der Kultur-, Zeit- und Modernekritik, ging aber auch in die soziologische Theoriebildung und Sozialphilosophie ein.6 „Masse“ oder „Vermassung“ erhielten Eingang in das unreflektierte und für selbstverständlich gehaltene Meinungswissen, wurden aber vor allem im konservativen und völkischen Spektrum gebraucht und führten „ideologisches Gepäck“ mit sich: Als Gegenbild zu einer chaotischen, ungegliederten, die Ordnung gefährdenden und mechanischen „Massengesellschaft“ wurde das Bild einer organischen, gegliederten, natürlichen und homogenen Volksgemeinschaft oder einer organisch-hierarchischen Ständegesellschaft präsentiert, in der jedes Individuum seinen festen Platz erhielt.7 Im völkischen Spektrum gewann der Begriff zudem einen antidemokratischen und republikfeindlichen Charakter. Parlamentarismus und Parteiendemokratie wurden als „Massendemokratie“ delegitimiert – im Gegensatz zur Volksgemeinschaft oder einem organisch, holistisch und homogen imaginierten Volk, dem die einzelnen Gruppen-, Partikular- und Einzelinteressen 3 Ebd., 55. Reitmayer nennt den Sozialphilosophen Jos Ortega y. Gasset, dessen 1930 erschienenes Buch „Der Aufstand der Massen“ zur Verbreitung der Beschreibungsfigur „Masse“ beigetragen habe (ebd., 135). Zur Begriffsgeschichte von Vermassung siehe Nolte, Ordnung, 304–319, v. a. 304–308. Außerdem Koselleck, Art. Volk. 4 Ebd., 304. 5 Ebd., 305. 6 Ebd., 304; Reitmayer, Elite, 37. 7 So wurde „Masse“ auch als Chiffre für eine angeblich mechanisch zusammengeschlossene Gesellschaft gebraucht, der das Volk als organische Gemeinschaft gegenübergestellt wurde. Das geht hervor aus: Retterath, Volk, 47. Zum Konzept „Stand“ siehe Reitmayer, Elite, 40; Nolte, Ordnung, 348; und Retterath, Volk, 297–318.

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untergeordnet wurden.8 Nicht zuletzt ermöglichte es der Begriff, sich in einer Art elitärem Standesdünkel von der unqualifizierten, moralisch fragwürdigen „Masse“ abzugrenzen. Nach 1945 spielte der Begriff der Masse oder Vermassung für die Deutung des Nationalsozialismus als auch des Kommunismus eine Rolle, die sich beide sowohl als Elite- als auch als Massenbewegung zu inszenieren versuchten und als solche wahrgenommen wurden.9 „Vermassung“ schloss sowohl eine Beschreibungsdimension als auch einen gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch ein und rekurrierte auf eine gesellschaftliche Erfahrung oder die Erwartung einer gesellschaftlichen Zukunft, die kritisiert oder befürchtet wurde. Angesichts des visuell und physisch spürbaren Eindrucks überfüllter Flüchtlingslager schien sich das Gefühl, im „Zeitalter der Massen“ zu leben, nach 1945 zu aktualisieren. Dem Begriffspaar Masse und Vermassung kam auch in den protestantischen Kommunikationszusammenhängen ein großer Stellenwert zu. Dabei sind die genannten problematischen ideologischen, antipluralen Konnotationen zu bedenken. Deutungsmuster wie „Masse, Vermassung, Atomisierung oder Nihilismus“ erfuhren zwar, wie nun gezeigt wird, zum Teil eine Umdeutung oder eine Aktualisierung, aber der Bedeutungshaushalt, die semantischen Schichten aus den 1920er und 30er Jahren, die den protestantischen Akteuren bekannt gewesen sein dürften, können hier nicht ignoriert werden und klingen zum Teil auch nach 1945 noch an. „Masse und Vermassung“ war ein beliebtes Thema der sich ab 1947 formierenden evangelischen Akademien, insbesondere der Evangelischen Akademie Hermannsburg, die den Anspruch erhob, einen Beitrag zur Klärung der gesellschaftlichen und politischen Fragen der Zeit zu leisten.10 An ihren Tagungen nahmen zahlreiche Prominente des politischen und intellektuellen Lebens teil, so auch der spanische Sozialphilosoph Ortega y. Gasset.11 Masse und Vermassung wurden als Folge der Industrialisierung, Modernisierung und Technisierung interpretiert.12 In diesem Zusammenhang wurde Vermassung mit der Entfremdung des Menschen in einer anonymisierten, technisierten, kollektivierten und unpersönlichen Welt gleichgesetzt; darüber hinaus erschien Vermassung als negatives Pendant zum Menschlichen, zu Freiheit, Verantwortung, Individualität und Personalität.13 Diese klassischen Topoi der modernekritischen Gesellschafts8 Zur republikfeindlichen Gebrauch des Massebegriffs in völkischen und radikalnationalistischen Kreisen siehe ebd., 47. Zum holistischen, pluralismus- und parlamentarismusfeindlichen Charakter von Volk siehe ebd., 64 f. 9 Nolte, Ordnung, 308. Vgl. auch Metzler, Konzeptionen, 36. 10 J hnichen, Kirchentage, 132 f. 11 Reitmayer, Elite, 57 und 136; und Schildt, Abendland, 123. 12 Schildt, Abendland, 129. Viele weitere Beispiele ließen sich anführen. 13 Ebd., 129 f. Ähnlich brachte es auch eine Entschließung des Deutschen Evangelischen Kirchentags in Essen zum Ausdruck. Vgl. Entschließung der Arbeitsgruppe I, 27. 8. 1950 (EZA Berlin 71/1186). Der Flüchtlingsseelsorger Karl Ahme begriff Vermassung explizit als negativen Gegenbegriff zu „Individuum“. Siehe Ahme, Flüchtling, 4.

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deutung schienen im protestantischen Kontext offenbar geeignet, den Gegensatz von Individuum und Kollektiv zu bearbeiten bzw. gegenüber einer befürchteten Kollektivierung, Anonymisierung und Technisierung die Persönlichkeit des Menschen ins Zentrum zu rücken. Zugleich wurden mit der Diagnose einer Vermassung gesellschafspolitische Gestaltungsansprüche formuliert, wie eine Predigt des Berliner Bischofs und ersten EKD-Ratsvorsitzenden Otto Dibelius von 1946 verdeutlicht: Freiheit für den Einzelnen [ist] […] das Gegenteil von Vermassung. […] Es ist nicht nur eine Forderung der Volksgesundheit, daß der Arbeiter sein eigenes Häuschen mit einem Stück Gartenland haben sollte, sondern es ist zugleich eine Forderung vom christlichen Evangelium her. Und die Welt soll wissen, daß die Kirche für diese Art des Wohnens eintritt und nicht für die Betonklötze, in denen der Einzelne nur ein belangloser Teil der großen Masse ist. […] Zu den Ordnungen Gottes gehört nicht zuletzt die Familie und das Eigentum.14

1954 veröffentlichte Otto Heinrich von der Gablentz im Evangelischen Soziallexikon den Artikel „Masse“15. Der Soziologe und CDU-Wirtschaftspolitiker hatte „Masse“ als „ungegliederte Gesellschaft“, als „ungegliederte Vielheit“, als „Quantität statt Qualität“ definiert.16 Zudem sei die Massengesellschaft durch Funktionsbeziehungen charakterisiert, sie reduziere den Menschen auf seine Funktion und gehe mit einem Gemeinschaftsverlust und dem Verlust persönlicher Beziehungen einher.17 In seiner Gesellschaftskritik schreckte Gablentz nicht vor polemischen und markigen Vergleichen zurück, wenn er die „Massengesellschaft“ mit einem „wohlgeordneten, gewaltfreien Konzentrationslager“ verglich.18 Als Antwort auf das Problem der Vermassung empfahl er die Förderung lokaler Gemeinschaften und die Wiederherstellung gesellschaftlicher Gliederung in Form persönlicher Beziehungen und kleinteiliger Gruppen, wobei er den christlichen Gemeinden eine exponierte Rolle zuwies.19 Zwar ging von der Gablentz in diesem Beitrag nicht direkt von der Vertriebenenproblematik aus, thematisierte aber im Allgemeinen das Problem gesellschaftlicher Integration und Desintegration in der modernen Gesellschaft. Insbesondere von der Gablentz’ Postulat, die Masse zu gliedern,20 begegnet in den innerkirchlichen Integrationsdebatten, gewann hier jedoch eine spezifische Konnotation. 14 Dibelius, Otto: „Wir rufen Deutschland zu Gott!“ Gottesdienstliche Rede, gehalten „am Tag der Kirche“ am 28. 4.1946 in der Ostberliner Marienkirche. Hier zitiert nach Rudolph, Kirche Bd. I, 123, Anm. 202. Ähnlich auch Gerstenmaier, Bericht über das Hilfswerk. In: Kirchenkanzlei, Berlin-Weissensee, 169 f. 15 Gablentz, Art. Masse, 705–709. 16 Ebd., 705 und 708. 17 Gablentz, Auflösung, 124 f.; und Gablentz, Art. Masse, 707. 18 Ebd. 19 Gablentz, Art. Masse, 708. 20 Gablentz, Weltkirchenrat und Weltpolitik. In: Ev. Welt, 15. 9. 1948, 512 f.

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Das Begriffspaar Masse und Vermassung war im protestantischen Kontext eine Leitvokabel zur Beschreibung der Vertriebenenproblematik. Die Akteure der kirchlichen Vertriebenenarbeit verstanden ihre Arbeit in der Regel als Kampf gegen die Vermassung, die ein Bedrohungspotential der Gesamtgesellschaft darstellte. „Vermassung“ beinhaltete dabei nicht nur eine quantitative und räumliche Dimension – beispielsweise, um das Zusammendrängen großer Menschenmengen im kleinen Raum des Flüchtlingslagers zu beschreiben –, sondern war auch qualitativ bestimmt. Vermassung korrumpierte demnach die Moral der Menschen und stellte eine Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung dar. So sprach ein Lagerbericht von 1946 von „Barackengesinnung“, die die „Einzelpersönlichkeit“ zum „Massenmenschen“ werden ließe.21 Ein weiterer Bericht beschrieb die Flüchtlingslager als „Seuchenherde und Quellen moralischen Verfalls.“22 Der Landesbischof der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, Hanns Lilje, verstand die Vertriebenenproblematik in einem auch von der überregionalen Presse beachteten Referat auf einer Flüchtlingstagung, die 1947 in Hermannsburg stattfand, als letzte „Variation […] der Vermassung“, die das „Kennzeichen der neueren großen soziologischen Entwicklung“23 sei. Die Deutungsfiguren „soziale Frage“, „Klassendualismus“, „Proletarisierung“ oder „5. Stand“, die auch auf die Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts rekurrierten, fanden ebenso Eingang in das nicht hinterfragte Meinungswissen, wie ein Blick auf die evangelische Publizistik und die Tagungen der evangelischen Akademien verrät. Während es sich bei den Begrifflichkeiten Masse und Vermassung um etablierte, vielseitig interpretierbare Deutungskategorien handelte, wurde mit der Vergleichsfolie der Sozialen Frage ein spezifischer historischer Erfahrungshorizont reaktiviert. Insbesondere die von Landesbischof Hanns Lilje begründete Zeitschrift „Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt“ griff auf diese Deutungsfiguren zurück.24 So sei die moderne Welt durch eine „Beziehungslosigkeit“ und eine „Umwertung aller Werte“ charakterisiert.25 Sie wirke heute noch nach, „da man die heute Besitzund Beziehungslosen, die Flüchtlinge und Vertriebenen, die Entrechteten und Enterbten als 5. Stand bezeichnet.“26 Sowohl der sogenannte Vierte Stand im 19. Jahrhundert als auch der sogenannte Fünfte Stand der Vertriebenen 21 Dein Weg, 7. 8. 1949, 4. 22 Rundschreiben des Hauptbüros des Hilfswerks der evangelischen Kirche im Rheinland vom 4. 12. 1946 (ADW Berlin 681). Die Gleichsetzung von Vermassung und moralischem Verfall findet sich auch bei Luther, Vertriebenen 165 f.; und Trotha, Auflösung, 148. 23 Lilje, Hanns: Die exemplarische Bedeutung des Flüchtlingsschicksals für die Christenheit. Vortrag auf der Hermannsburger Flüchtlingstagung vom 25. 10. 1947–27. 10. 1947 (LKA Hannover L 3 III Nr. 302). Zur Presse-Resonanz siehe Moltor, Jan: Ist die große Stunde der Kirche gekommen? In: Die Zeit, 30. 10. 1947, 3. 24 Die Epoche des Arbeitsbürgers. In: Sonntagsblatt, 25. 6. 1950, 10 f. 25 Ebd. 26 Ebd.

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stellten ein „Proletariat“ dar.27 Auch das Ständewesen sei im Zuge dieser Entwicklungen eingeschmolzen und durch Klassen ersetzt worden.28 Der spätere Chefredakteur Axel Seeberg verwies auf das destruktive Potential, das aus der Heimat- und Bindungslosigkeit der Vertriebenen resultiere.29 Der Wirtschaftsredakteur des „Sonntagsblattes“, Ferdinand Fried, diagnostizierte die Entstehung eines neuen Proletariats, zu dem er die Erwerbslosen und die Vertriebenen zählte.30 Nach einem umfassenden Prozess der Proletarisierung im 19. und 20. Jahrhundert gelte es auch mit Blick auf die Vertriebenen, die Massen in die sich neu formierende soziale Ordnung zu integrieren: „Die soziale Frage – das ist die Eingliederung der Massen in eine neue Gesellschaft und in eine neue Ordnung.“31 Die Deutungsfiguren „Proletarisierung“ und „Entwurzelung“ oder auch die des „Nihilismus“ findet sich nicht nur bei tendenziell konservativen, sondern auch bei linksprotestantischen Autoren.32 Der Bruderrat der EKD warnte anlässlich der Vertriebenenfrage vor der „Gefahr der Proletarisierung, der Entwurzelung und des Nihilismus.“33 Die im völkischen Deutungsspektrum verbreitete Vokabel „Entwurzelung“ bedeutete implizit „gelöst vom Boden“, in welchem die Vertriebenen der Vorstellung gemäß verwurzelt gewesen seien. Implizit verweist die Metapher daher auch auf den Raum jenseits der Oder-Neiße-Grenze.

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Ebd. Ebd. Seeberg, Axel: Die verlorene Heimat. In: Sonntagsblatt, 9. 9. 1951, 20 Fried, Ferdinand: Das neue Proletariat. In: Sonntagsblatt, 9. 12. 1951, 20. Allerdings rekurrierte „Proletarisierung“ hier nicht auf die Gesamtheit der Vertriebenen, sondern auf die Alten und Kranken. 31 Fried, Ferdinand: Kalte Sozialisierung? In: Sonntagsblatt, 11. 5. 1952, 20. Weitere Beispiele: Bartels, Heimat, 105; und Aussprache. In: Seeberg, Lage, 51. 32 Unter „linksprotestantisch“ wird jener Flügel verstanden, der aus der sog. Bekennenden Kirche hervorgegangen war und dessen Vertreter den Anspruch erhoben, das Erbe der Bekennenden Kirche in der Bundesrepublik weiterzuführen. Inhaltlich nahmen sie eine Oppositionshaltung gegenüber der EKD und der Adenauerregierung ein. Der linksprotestantische Flügel verfügte mit dem sog. Bruderrat über eine eigene, parallele Organisationsstruktur. In den 1960er und 70er Jahren kam es zu einer inhaltlichen und personellen Neuformatierung des Linksprotestantismus. Zum Linksprotestantismus siehe Kroll, Linksprotestantismus. 33 Er ruft und rettet. Ein Sendschreiben des Bruderrats zur Flüchtlingsnot. In: EvWelt, 1. 2. 1949, 50 f.

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2.1 Masse, Vermassung und sozialer Kampf: Topoi der kulturkritischen Gesellschaftsdeutung als integrationspolitische Argumente 2.1.1 Die Gesellschaftsdiagnosen der kirchlichen Vertriebenengremien im Kontext der innerkirchlichen Integrationsdebatten Die genannten Schlüsselbegriffe der allgemeinen wie spezifisch protestantischen Gesellschaftsdeutung begegnen auch in der protestantischen Vertriebenenarbeit, so in den Beiträgen des Theologen und Vorsitzenden des OKAs Herbert Girgensohn. Diesem Theologen kommt eine herausragende Bedeutung für die protestantische Auseinandersetzung mit der Vertriebenenfrage zu. 1945 übernahm der aus dem Baltikum stammende Pfarrer in der Kirche St. Marien in Lübeck die Betreuung von Vertriebenen und Flüchtlingen, forcierte die Selbstorganisation der evangelischen Vertriebenen in den Hilfskomitees und prägte als Gründungsvorsitzender des OKAs, dem Repräsentationsorgan der evangelischen Vertriebenen in der EKD, die kirchliche Vertriebenenarbeit maßgeblich mit.34 Neben seinen kirchenpolitischen Funktionen reflektierte der spätere Professor für Praktische Theologie Möglichkeiten und Aufgaben der Vertriebenenseelsorge.35 In einer 1948 erschienenen Schrift mit dem Titel „Flüchtlinge und Kirche“ griff Girgensohn mehrfach auf den Begriff der „Masse“ zurück, um die Vertriebenen zu charakterisieren: Die Rede war von der „rechtlosen Flüchtlingsmasse“, der „homogenen Masse der Besitzlosen“, den „hereinströmenden Flüchtlingsmassen“ oder den „zusammengedrängten Massen.“36 Neben der quantitativen und räumlichen Dimension machte der Theologe auf das sozialrevolutionäre Potential der Vertriebenen aufmerksam. Er glaubte, eine „Konsolidierung der Massen gegenüber den Einheimischen“ zu beobachten, die die Gefahr des Klassenkampfes mit sich brachte.37 Eines der Kernprobleme war für Girgensohn der moralisch konnotierte Bindungs- und Gemeinschaftsverlust sowie die Atomisierung:

34 Wittram, Girgensohn, v. a. 63 f.; Zur Rolle Girgensohns im OKA: Rudolph, Kirche Bd. I, 61–98, 192–212, 390–402. Zur Biografie auch Braun/Gr nzinger: Personenlexikon, 87. 35 Zum Wintersemester 1946/1947 wurde Girgensohn Dozent, 1955 Professor für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Bethel. Siehe Wittram, Girgensohn, 63. 36 Girgensohn, Flüchtlinge, Zitate auf den Seiten 9, 11, 16 und 19. Diese Veröffentlichung basiert auf einem Referat mit dem Titel „Die kirchliche Aufgabe an den Flüchtlingen“, gehalten auf der „Tagung für Flüchtlingsseelsorge“ am 7./8. 4. 1948 in Rothenburg o. D. (EZA Berlin B 512/149). Auf die Parallelität von Referat und Publikation macht aufmerksam: Rudolph, Kirche Bd. I, 241 FN 86. Ausschnitte aus dem Schlusswort sind zudem in der Zeitschrift „Evangelische Welt“ veröffentlicht. Siehe Mehr als die Flüchtlinge. In: EvWelt, 1. 1. 1949. 37 Girgensohn, Flüchtlinge, 26.

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Die Hauptnot der Flüchtlinge liegt in der Gemeinschaftslosigkeit. Wir sind atomisiert. […] Wir sind Menschen, die nirgendwo hingehören. Alle Bindungen lösen sich auf, der Mensch, der nicht mehr in der Gemeinschaft gehalten wird, verkommt. Es findet ein Absinken statt.38

Die „zusammenhanglose Masse“ sei „reif für die Radikalisierung, bereit zu einer Armee des Nihilismus.“39 Die sozialrevolutionär aufgeladenen Deutungsfiguren der Masse und Vermassung waren aber nicht nur gesellschaftsdiagnostischer Natur, sondern fungierten als integrationspolitisches Argument in den Auseinandersetzungen zwischen Landeskirchen und OKA. Hier spielte das spezifisch protestantische Problem der innerprotestantischen Differenz hinein. Innerhalb der Kirche wurden Fragen wie das Problem der konfessionellen Differenz, der Gestaltung des kirchlichen Zusammenlebens, des Umgangs mit unterschiedlichen Frömmigkeitspraktiken, der heimatlichen Traditionen, Liturgien, heimatkirchlichen bzw. landsmannschaftlichen Bindungen sowie der Stellung der ehemaligen Gemeinden und Landeskirchen aufgeworfen. Bezüglich der konfessionellen Differenz zwischen Lutheranern, Reformierten und Unierten galt im Kirchenrecht das Territorialprinzip, das die Einheit von Territorium und Bekenntnis, das Prinzip „cuius regio eius religio“ festhielt.40 Von den zugewanderten evangelischen Vertriebenen wurde seitens der Landeskirchen eine Unterordnung unter die Kirchenordnung erwartet; bei bekenntnisverschiedenen Vertriebenen analog zum freiwilligen Wohnortwechsel der Bekenntniswechsel erzwungen. Die integrationspolitischen Aussagen Girgensohns sind im Kontext der Bemühungen des OKAs zu verstehen, die grundsätzlichen Linien der kirchlichen Integrationspolitik festzulegen und sich mit den aufnehmenden Landeskirchen zu einigen.41 Girgensohn verfasste 38 Referat von Herbert Girgensohn. Protokoll der Tagung von Vertretern der bedrängten Ostkirchen am 1.–2. 5. 1947 in Marburg (EZA Berlin 17/57). Diese Vorstellungen wurden auch auf die zwischenmenschliche Dimension bezogen. So jedenfalls Rautenfeld, Harald von: Entwurf, o. D. (LKA Hannover N 57 Nr. 6). Die Gefahr der Vereinsamung und der Gemeinschaftslosigkeit wurde auf dem DEK von 1949 als Schlüsselproblem der Zeit identifiziert. So jedenfalls Resolution „Grenzenlos allein“, August 1950, gez. Klaus von Bismarck (EZA Berlin 71/1187). Vgl. auch Bismarck, Grenzenlos allein, 60–64. 39 Girgensohn, Herbert: Diaspora als Lebensform der Kirche. Referat auf der Marburger Ostkirchentagung am 1.–2. 5. 1947 (ADW Berlin ZB 886). Die Angst vor der Radikalisierung war weit verbreitet und erhielt neuen Aufschub, als sich die ersten Vertriebenenorganisationen und Parteien zu formieren begannen. 40 Zur Stellung der Ostkirchen: Rudolph, Kirche Bd. I, 192–212. Zum „cuius regio, eius religio“: ebd., 206. 41 Insbesondere die Tagung des OKAs im Mai 1947 thematisierte den Zusammenhang von Assimilations- und Nivellierungsstrategie einerseits und Atomisierung und Bindungsverlust andererseits. Vgl. Protokoll der Tagung von Vertretern der bedrängten Ostkirchen am 1. und 2. 5. 1947 (EZA Berlin 17/57; ADW Berlin ZB 886). Vgl. auch Notiz über die Tagung der Vertreter der Ostkirchen, 1.–2. 5. 1947 (ADW Berlin ZB 886). Letztlich ging es auf dieser Tagung auch um das Verhältnis von Einheit und Gliederung. Vgl. Protokoll der Tagung von Vertretern der bedrängten Ostkirchen am 1. und 2. 5. 1947 in Marburg (EZA Berlin 17/57).

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1947 im Auftrag des OKAs ein „Memorandum zur Frage der Eingliederung der Ostkirchen“, „um die Position des OKAs dem Rat der EKD gegenüber verständlich zu machen.“42 Anhand seines Memorandums und weiterer Beiträge lassen sich drei Argumentationszusammenhänge identifizieren, die Aufschluss über die Integrationskonzepte und Gesellschaftsvorstellungen des OKAs geben. Diese basierten auf der Diagnose oder Befürchtung einer Vermassung der Gesellschaft. Erstens entfaltete der Vorsitzende des OKAs ein innerkirchliches Integrationskonzept, das gegen den Assimilationsdruck der Landeskirchen gerichtet war. Die vorhandenen Gemeinschaftsreste dürften keinesfalls gestört werden.43 Girgensohn und der OKA sprachen sich für eine „gliedhafte Einfügung“ aus.44 „Gliedhaft“ hieß, dass sie gerade nicht als Einzelmenschen, sondern als kirchliche und soziale Gemeinschaften aufzunehmen waren.45 Die Arbeit der Hilfskomitees, die die ostdeutschen Landeskirchen repräsentierten, stellte den „Versuch“ dar, „der restlosen Zerschlagung der alten Bindungen vorzubeugen […] [und] der immer chaotischer werdenden Masse eine Gliederung zu erhalten.“46 Diese integrationspolitischen Vorstellungen richteten sich zunächst gegen die, wie er zu beobachten glaubte, kirchenrechtlich gestützte Assimilationspolitik der Landeskirchen, die sich als gemeinschaftsunfähig erwiesen: Die „kirchenrechtliche Gemeinde“ oder der „kirchenrechtliche Verwaltungskörper“ habe sich nicht als „Lebensgemeinschaft“ erwiesen und sei „nicht imstande, den atomisierten Massen die Gemeinschaft zu bieten, in der sie heimisch und entspannt werden können, befreit von allen Dämonien.“47 Sie führe zur „Gleichschaltung“ und letztlich zur „Entkirchlichung“48. 42 Girgensohn, Herbert: Memorandum zur Frage der Eingliederung der Ostkirchen (ADW Berlin ZB 886). Das entsprechende Ratsprotokoll vermerkt allerdings keinen Beschluss und keine Aussprache. Siehe 11. Sitzung des Rates der EKD am 27. und 28. 3. 1947. In: Nicolaisen/Schulze (Bearb.): Protokolle, Bd. 2, 66. Das Memorandum ist auch publiziert in Brummack, Unverlierbarkeit, 42–57. 43 Notiz über die Tagung der Vertreter der Ostkirchen in Marburg, 1.–2. 5. 1947 (ADW Berlin ZB 886). 44 Protokoll der Tagung von Vertretern der bedrängten Ostkirchen, 1.–2. 5. 1947 in Marburg (EZA Berlin 17/57). 45 Ein namentlich nicht genannter Redner plädierte für ein „gliedhaftes Einfügen“ anstelle eines „Einfügen[s] des Einzelmenschen“ (Girgensohn, Herbert: Diaspora als Lebensform der Kirche. Referat auf der Marburger Ostkirchentagung am 1.–2. 5. 1947, ADW Berlin ZB 886). Ähnlich auch Vermerk über die Tagung des OKAs am 18. 1. 1947 in Bielefeld, 22. 1. 1947 (EZA Berlin 17/ 559). 46 Girgensohn, Herbert: Memorandum zur Frage der Eingliederung der Ostkirchen (ADW Berlin ZB 886). 47 Ders,: Diaspora als Lebensform der Kirche. Referat auf der Marburger Ostkirchentagung am 1.–2. 5. 1947 (ADW Berlin ZB 886). In diesem Zusammenhang zog Girgensohn den Vergleich mit der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts. Die Aussage, dass sich die Gemeinde nicht als Lebensgemeinschaft erwiesen habe, findet sich in Girgensohn, Flüchtlinge, 31. Ähnlich auch Er ruft und rettet. Ein Sendschreiben des Bruderrats zur Flüchtlingsnot. In: EvWelt, 1. 2. 1949, 50 f.

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Zweitens zog die Frage der Existenz der alten Heimatkirchen auch die Frage nach der Bewahrung der „völkischen Sonderart“ nach sich, vor allem nach dem „Recht ihrer Berücksichtigung auf dem kirchlichen Gebiet.“49 So stelle sich die Frage, „ob die kirchliche Arbeit den Menschen als Glied seines Volkes, als Glied auch der besonderen Volksgruppe der Sondertradition, aus der er kommt, ansprechen darf.“50 Trotz schwerer Bedenken gegenüber dem „Kult des Völkischen“51 bekräftigte Girgensohn die Notwendigkeit der alten, und das hieß: der landsmannschaftlichen Gemeinschaften: Die Kirche hat den Menschen in seinem Stand anzureden, in dem er sich befindet: Es ist einfach eine Pflicht der christlichen Liebe, dem Gliede einer solchen Volksgruppe in der Vorwegnahme einer noch nicht erfolgten Vermassung nicht das Letzte zu nehmen, was er noch hat.52

In diesem Zusammenhang kam den vertriebenen kirchlichen, mit den landsmannschaftlichen Zusammenschlüssen zum Teil identischen Gruppen „als Träger einer kirchlichen gemeindlichen Tradition“ eine zentrale Rolle zu.53 Das oben entfaltete Konzept der „gliedhaften Einfügung“ rekurrierte neben der primär innerkirchlichen Dimension folglich auf die Bewahrung und Pflege der landsmannschaftlichen Bindungen der Vertriebenen.54 Die Hermannsburger Forschungsstelle unter der Leitung der Soziologin Stella Seeberg55 bekräftigte auf einer gemeinsamen Arbeitstagung im November 1948 das Integrationskonzept der „gliedhaften Einfügung“ in Abgrenzung zum Bedrohungsszenario der Vermassung. Der Vermassung sei durch die Bewahrung und Pflege der „letzten verbliebenen Bindungen“56 entgegenzutreten. Stärker noch als in den Beiträgen des OKAs betonte Seeberg in der Tradition des völkisch-kulturkritischen Denkens die letzten verbliebenen Bindungen an Familie, Stammesgemeinschaft und Volkstum. […] Der radikale Verlust der Heimat bedingt das Streben, die noch vorhandenen Heimatwerte als Rest menschlicher Beziehungen zu erhalten und weiter zu entwickeln.57

48 Girgensohn, Herbert: Memorandum zur Frage der Eingliederung der Ostkirchen, 14. 2. 1947 (ADW Berlin ZB 886). 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd. Vgl. auch Spiegel-Schmidt, Wandlungen, 24. 55 Ausführlicher hierzu siehe unten 179–193. 56 Entschließung I der Forschungsstelle Hermannsburg, 18. 11. 1948 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1099). 57 Seeberg, Stella: Arbeitstagung über Flüchtlingsfragen der Forschungsstelle der ev. Akademie Hermannsburg vom 12.–19. 11. 1948 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1099).

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Zur Bewahrung dieser „bedrohten“ Bindungen schlug Seeberg, die unter dem Nationalsozialismus Karriere gemacht und inhaltlich klar den Anschluss an den NS vollzogen hatte,58 ein zweifaches Gliederungsprinzip vor. Demnach sollte die „kirchliche Eingliederung in die Gemeinden“ um eine „parallel laufende landsmannschaftliche Gliederung der Vertriebenen und Bewahrung des heimatkirchlichen Erbes“ ergänzt werden.59 Für ein ähnliches Integrationskonzept hatte sich auch der Flüchtlingsausschuss der hannoverschen Landessynode, in welcher Seeberg als Gast und Expertin teilnahm, ausgesprochen: „Die Flüchtlinge müssen in ihrer geistig-seelischen Eigenheit erhalten bleiben“, da „Kirche und Volkstum bei den Flüchtlingen in engsten Wechselbeziehungen bestehen“ und die „Kirche als stärkste Trägerin des Volkstums“ zu betrachten sei.60 Mit dem Integrationskonzept der „gliedhaften Einfügung“ hingen drittens die Frage der Fortexistenz und Stellung der ostdeutschen Landeskirchen und die Frage der Repräsentation der evangelischen Vertriebenen innerhalb der EKD zusammen. Der OKA, der die einzelnen Hilfskomitees versammelte,61 verstand sich als legitimes Repräsentationsorgan der evangelischen Vertriebenen, als „Mund der Flüchtlinge“, der die „eigentliche Vollmacht, die Anliegen der Flüchtlinge im Gespräch mit den Landeskirchen zum Ausdruck zu bringen“, innehabe.62 Girgensohns integrationspolitischen und gesellschaftsdiagnostischen Erwägungen sind somit auch im Kontext der Auseinandersetzungen zwischen OKA und EKD über den kirchenrechtlichen Status des OKAs zu verstehen. Aus dem integrationspolitischen Konzept einer Bewahrung der heimatkirchlichen Gemeinschaften, das die drohende Vermassung der Gesellschaft verhindern sollte, wurde nicht zuletzt die Legitimation für die intendierte kirchenrechtliche Aufwertung des OKAs wie der Hilfskomitees abgeleitet, die diese alten Gemeinschaften repräsentierten. Der OKA versuchte dabei zu beweisen, dass die Ostkirchen weiterhin als Kirchen und damit als gleichberechtigte Pendants der westdeutschen Landeskirchen existierten, auch wenn sie ihrer territorialen Grundlage beraubt waren.63 Girgensohn kritisierte nicht nur die Assimilationspolitik der Landeskirchen aus seelsorgerlichen und integrationspolitischen Erwägungen, sondern setzte gegen die kirchenrechtliche Bewertung durch die aufnehmenden Kirchen eine 58 Ausführlicher hierzu siehe unten 179–193. 59 Ebd. Neun Jahre später distanzierte sie sich davon allerdings. Vgl. Seeberg, Stella: Bericht für den Landesbischof vom 17. 3. 1958 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1120). 60 Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses der vorläufigen Landessynode betr. Flüchtlingsfragen am 11. 12. 1945 (LKA Hannover N 14 Nr. 19). An den Tagungen des Flüchtlingsausschusses der hannoverschen Landessynode nahm Seeberg teil. 61 Neubach, Rolle, 202–213, 210. 62 Girgensohn, Flüchtlinge, 35. 63 Schreiben von Gerhard Gülzow an Ulrich Scheuner, 15.11.194; Ulrich Scheuner: Gutachten Rechtsstellung der Ostkirchen, 30. 3. 1948 (ADW Berlin, ZB 1023); und Niederschrift der von der Kanzlei der EKD vom 19.–21. 9. 1950 Konferenz über die Fragen der kirchlichen Flüchtlingsarbeit, Königswinter (ADW Berlin, CAW 682).

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ekklesiologische Bewertung. So waren nicht die ihres Territoriums beraubten Ostkirchen, sondern die westdeutschen Landeskirchen in ihrem Bestand durch die „zerstreuten Kirchen, die Kirchen unter dem Kreuz“ infrage gestellt.64 Für die Legitimation seines Integrationskonzeptes baute er rhetorischen Druck auf, indem er die Warnung vor dem Radikalisierungspotential der Vertriebenen mit seinen integrationspolitischen und ekklesiologischen Erwägungen verknüpfte. So drohe eine Radikalisierung der Vertriebenen, „wenn dieser Mund [gemeint ist der Ostkirchenausschuss, FT] zum Schweigen gebracht wird.“65 Die Kirchenleitungen der hannoverschen, der bayerischen und der Berliner Landeskirche sahen das Problem der Fortexistenz der Ostkirchen weniger als ekklesiologisches, sondern als kirchenrechtliches Problem. So verhinderten sie, dass der OKA mit kirchenregimentlichen Befugnissen ausgestattet, kirchenrechtlich aufgewertet und die Hilfskomitees als legitime Kirchen anerkannt wurden.66 Der OKA wurde lediglich als „subordiniertes“ und letztlich beratendes Organ der EKD anerkannt.67 Scharfen, jedoch folgenlosen Protest rief der Rat der EKD schließlich hervor, als er die Ostkirchen als „ehemalig“ bezeichnete und damit die Fortexistenz der Ostkirchen als Kirchen negierte.68 Der OKA durfte daher lediglich den Titel „Kirchlicher Hilfsausschuss für die Ostvertriebenen“ führen.69 Girgensohns Integrationsvorstellungen waren zwar primär an die Landeskirchen und die EKD adressiert, jedoch sprach er der innerkirchlichen Integrationspolitik eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung zu und brachte 64 Schreiben von Herbert Girgensohn an den Rat der EKD; 14. 2. 1947. In: Nicolaisen/Schulze (Bearb.), Protokolle, Bd. 2, 81 f. Kirchenrechtlich waren die ostdeutschen Landeskirchen als erloschen anzusehen, da ein konstitutives Merkmal einer Landeskirche, das Territorium, fehlte. Einige Vertreter des OKAs wehrten sich allerdings gegen eine solche Lesart, betonten die ekklesiologische Dimension und sahen die westdeutschen Landeskirchen infrage gestellt, wie ein Schreiben von Gerhard Gehlhoff und eine Resolution eines Pommerschen Konvents vom Juli 1947 verdeutlichen. Hierzu Rudolph, Kirche Bd. I, 204 f. Girgensohn stellte zwar nicht den Bestand der Landeskirchen infrage, wies allerdings den Kirchen in der Zerstreuung mit ihrer Glaubenserfahrung eine höhere theologische Wertigkeit zu. Siehe Girgensohn, Flüchtlinge, 29 f.; und ders.: Diaspora als Lebensform der Kirche. Referat auf der Marburger Ostkirchentagung am 1.–2. 5. 1947 (ADW Berlin ZB 886). Der OKA gab 1948 ein kirchenrechtliches Gutachten hierzu in Auftrag. Dieses Gutachten habe die Unübertragbarkeit des Kirchenrechts und des Territorialprinzips auf die Zwangswanderung postuliert. Siehe Schreiben von Herbert Girgensohn an Direktor Dr. Richard Kammel vom 17. 2. 1948 (EZA Berlin 17/559). 65 Girgensohn, Flüchtlinge, 35. 66 Rudolph, Kirche Bd. I, 202. 67 Ebd., 199. 68 Schreiben von Herbert Girgensohn an die Kirchenkanzlei, 30. 9. 1946 (EZA Berlin 17/296); Schreiben von Gerhard Gülzow an die Kirchenkanzlei, 30. 9. 1946 (ADW Berlin ZB 886); und Vermerk über die Tagung des OKAs am 18. 1. 1947 in Bielefeld, 22. 1. 1947 (EZA Berlin 17/559). Der OKA bevorzugte die Bezeichnung „verdrängte Ostkirchen“ (Spiegel-Schmidt, Friedrich: Gedanken über die kirchliche Flüchtlingsarbeit in Vergangenheit und Zukunft, 10. 2. 1950, EZA Berlin 607/121). 69 Protokoll der Tagung des OKAs in Bethel am 16. 8. 1949 (EZA Berlin B 512/149). Immerhin konnte etwas später eine Mittelaufstockung erwirkt werden. Siehe Rudolph, Kirche Bd. I, 409 f.

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übergreifende gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen zum Ausdruck. Kirchlich geförderte, positiv konnotierte Gliederung, Bindung und Gemeinschaft waren das Rezept gegen die gesellschaftlichen Negativszenarien einer Vermassung, Atomisierung und Radikalisierung der gesamten Gesellschaft. Kirche wurde dabei idealtypisch als Gegenstück zur Welt, als „positive[s] Gegenstück zu dieser sozialen Aufspaltung“70 gedacht, die die Integration des gespaltenen Volkes erst ermöglichte. Girgensohn verwies auf die Bedeutung der „Einheit der Kirche“, die ein „großes Gut und lebensnotwendig für das zerrissene Volk“71 sei. Die Integrations- und Gesellschaftsvorstellungen des OKAs und insbesondere seines Vorsitzenden waren am Leitbild einer gegliederten, landsmannschaftlich und sozial differenzierten, auf Tradition, Gemeinschaft und Christentum beruhenden Gesellschaft orientiert, wobei die heimatkirchlichen Gemeinden und Heimatkirchen ein korrespondierendes, die gesellschaftliche Gliederung unterstützendes Gliederungsprinzip darstellten. Im komplizierten, innerkirchlich ausgetragenen Aushandlungsprozess zwischen den westdeutschen Kirchenleitungen und den Repräsentanten der evangelischen Vertriebenen im kirchlichen Raum wurde das Negativszenario der Vermassung und Atomisierung gebraucht, um die positiv konnotierten Integrations- und Gesellschaftsvorstellungen wie Bewahrung der Bindungen, Wiederherstellung der Gemeinschaft, Aufrechterhaltung der heimatkirchlichen Gliederung und Wertschätzung des kulturellen und religiösen Erbes profilieren zu können, in Girgensohns Worten: den „Fremden als volles Glied aufzunehmen.“72 Für den Theologen erschien hier das uralte Problem des Fremdlings, das hier auftritt und auch als Problem in der Kirche erscheint, und zwar nicht so sehr als Problem des einzelnen Fremdlings, sondern […] das Problem einer fremden Welt, wie sie eine Gemeinschaft darstellt, die in eine geschlossene, einheimische Welt hereinbricht.73

Nicht zuletzt kam den hier profilierten gesellschaftlichen Bedrohungsszenarien der Vermassung und Atomisierung die Funktion zu, die Integrationspolitik der Landeskirchen zu kritisieren und die eigene Arbeit zu legitimieren. Denn Girgensohn warnte vor dem Radikalisierungspotential der Vertriebenen für den Fall, dass die Landeskirchen seinen Integrationsvorstellungen nicht entsprächen. Es wäre allerdings zu kurz gedacht, diese Radikalisierungsangst lediglich als rhetorische Strategie zu disqualifizieren. Aus der Perspektive der Zeitgenossen war die Angst vor einer Radikalisierung eine reelle und damit Bestandteil des sozialen Glaubens. Diese dürfte sich mit der Gründung einer eigenen Vertriebenenpartei, dem Bund der Heimatlosen und Entrechteten 70 Girgensohn, Flüchtlinge, 26. 71 Ders.: Memorandum zur Frage der Eingliederung der Ostkirchen, 14. 2. 1947 (ADW Berlin ZB 886). 72 Girgensohn, Flüchtlinge, 26. 73 Ebd., 17.

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(BHE,) und der Konstituierung der weltlichen Vertriebenenorganisationen in den Jahren 1949 und 1950 noch verstärkt haben. So bezeichnete der Leiter des Hilfswerks, Eugen Gerstenmaier, die weltlichen Vertriebenenorganisationen als „Kampforganisationen“, die sich dem kirchlichen Einfluss entzögen und radikalisierten.74 In der damaligen, für die Zeitgenossen prinzipiell offenen Situation und vor dem Hintergrund der als bedrohlich wahrgenommenen Entwicklung der Vertriebenenorganisationen war es alles andere als klar, welcher integrationspolitische Weg der richtige wäre und ob eine Assimilation oder eine Bekräftigung der Sonderidentität zum Ziel führen würde. Zweifellos versteht sich das Integrationskonzept einer „gliedhaften Einfügung“, das weit verbreitet war und später auch vom Bundesvertriebenenministerium vertreten wurde, zumindest mittelfristig nicht nur im Kontext der innerkirchlichen Integrationsdebatten, sondern war ab Anfang der 1950er Jahre auch gegen die DDR gerichtet, die ab Anfang der 1950er Jahre eine Assimilationspolitik verfolgte – und die in den Vorstellungen der Zeitgenossen als unausgesprochene Referenzfolie stets präsent war. Gegenüber der Assimilationspolitik der DDR, die als „Zwangsvermassung“ bezeichnet wurde,75 sollten die Sonderidentität der Vertriebenen und die Gemeinschaft stiftenden Identitäten der einzelnen Landsmannschaften bewusst zementiert und bewahrt wurden. Auch die vielfach artikulierte Angst vor der Radikalisierung rekurrierte auf eine kommunistische oder sozialistische Revolution, deren Ziel in der Beseitigung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung bestehe. 2.1.2 Gesellschaftsdiagnosen und Integrationskonzepte von EKD, Hilfswerk und Landeskirchen Die Integrationsdebatten innerhalb der evangelischen Kirchen in Deutschland fanden gleichzeitig mit den Verfassungsdebatten der EKD statt. Die Verfassungsdebatte drehte sich im Kern ebenfalls um die Frage, wie angesichts konfessionell verschiedener Landeskirchen die kirchliche Einheit gewahrt werden könne und welche ekklesiologische, institutionelle und kirchenrechtliche Gestalt die EKD erhalten solle, wobei die Landeskirchen eine starke und autonome Stellung beanspruchten. Die Auflösung oder Verdrängung der ostdeutschen Landeskirchen, die nun „Kirchen ohne Land“ waren, konnte als Anfrage an die künftige verfassungsmäßige Struktur und Gestalt der EKD und insbesondere an das landeskirchliche Territorialprinzip begriffen werden. Sowohl einzelne Vertreter des OKAs, aber auch einige bruderrätliche Theo74 Gerstenmaier, Bericht über das Hilfswerk. In: Kirchenkanzlei, Berlin-Weissensee, 169. Spiegel-Schmidt bestätigte dies und erblickte darin ein Scheitern der Hilfskomitees wie der Gesamtkirche. Siehe ebd., 200 f. 75 Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 123. Ausführlicher hierzu siehe unten 121–127.

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logen wie Martin Niemöller sahen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, die landeskirchliche Struktur infrage gestellt.76 Niemöller vertrat das Konzept einer „Kirche von unten“, die sich gegen die aus ihrer Sicht autoritäre „Behördenkirche“ richtete, der sie eine mangelnde Widerstandsfähigkeit gegenüber dem NS attestierten. Die Bruderräte waren aus der Bekennenden Kirche hervorgegangen und erhoben nach 1945 den Anspruch, das Erbe der Bekennenden Kirche auch über die NS-Zeit hinaus fortzuführen. Dabei nahmen sie eine Oppositionshaltung gegenüber den aus ihrer Sicht autoritär-restaurativen lutherischen Kirchenleitungen, denen sie eine Mitschuld am NS gaben, aber auch gegenüber der ebenso für autoritär und restaurativ gehaltenen Adenauer-Regierung ein. Stattdessen sollten die einzelnen Gemeinden die stärksten und halbwegs autonomen Einheiten sein, in denen sich der christliche Glaube verwirkliche, während die Landeskirchen entmachtet werden sollten. Die Landeskirchen, die nach Kriegsende über halbwegs intakte Strukturen verfügten und damit als die zentralen Integrationsinstanzen fungierten, konnten allerdings ihre traditionell starke Rolle in zweifacher Hinsicht ausspielen und plädierten für eine starke Stellung der Landeskirchen.77 Auf kirchengemeindlicher und landeskirchlicher Ebene wurde die Entscheidung zugunsten konfessioneller Einheit, d. h. für eine kirchenrechtliche Assimilation der Vertriebenen getroffen und damit das Territorialprinzip bekräftigt. Auch auf der Ebene des Verfassungsprozesses war schnell klar, dass die EKD auf den starken und autonomen Landeskirchen aufbauen würde. Die starke Stellung der Landeskirchen innerhalb der EKD und die Bekräftigung des Territorialprinzips hatten wiederum Konsequenzen für den Umgang mit den alten Ostkirchen, denen eine kirchenregimentliche Aufwertung verweigert und lediglich eine subordinierte Beratungsfunktion zugesprochen wurde. Als „Kirchen ohne Land“ konnten sie kirchenrechtlich keine gleichberechtigten Landeskirchen sein. Die Frage der Stellung der Ostkirchen mochte zwar aus der Perspektive des OKAs das Landeskirchenprinzip infrage stellen, hatte aber letztlich keinen Einfluss auf den Verfassungsprozess der EKD. Als einer der wenigen Vertreter der EKD stellte der Präsident der Kirchenkanzlei der EKD, Hans Asmussen, in seinem Eröffnungsreferat auf der Marburger Ostkirchentagung den Zusammenhang von Integrationsfrage und Verfassungsfrage her. Grundsätzlich schloss sich Asmussen dem Integrationskonzept des OKAs zumindest im Hinblick auf die konfessionelle Vielfalt an, setzte den Akzent jedoch deutlich anders: Auch Asmussen bezeichnete „Gliederung“ als 76 Dabei unterschieden sich die Motive Girgensohns und Niemöllers. Während Girgensohn vor allem auf die Vertreibung der ostdeutschen Landeskirchen rekurrierte, ging Niemöller von der Erfahrung eines Scheiterns der Kirche in der NS-Zeit aus. Niemöller knüpfte an diese Erfahrung dezidierte Vorstellungen der kirchlichen Neuordnung. Die bestimmende Größe sollte fortan die Gemeinde sein; der Kirchenaufbau von unten nach oben erfolgen. Girgensohn stellte die Verfassungsgrundlage der Landeskirchen infrage, ohne daraus konkrete Konsequenzen für den Verfassungsaufbau abzuleiten. Siehe hierzu Rudolph, Kirche Bd. I, 191–196. 77 Greschat, evangelische Christenheit, 73 und 98.

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„unbedingt nötig“ und warnte davor, „die Unterschiede zu nivellieren, um auf diese Weise eine Einheit zu schaffen […].“78 Allerdings betonte Asmussen im Gegensatz zum OKA die kirchliche Einheit im Verfassungsprozess der sich gerade formierenden EKD. Die große Herausforderung der innerkirchlichen Integration bestünde in der Schaffung von Einheit bei gleichzeitiger Bewahrung von Gliederung.79 Der Präsident der Kirchenkanzlei bewertete die Vertriebenenproblematik aus dem Blickwinkel der sich formierenden EKD: Die Frage nach der Einheit der EKD führt zum Problem der Flüchtlinge. Die Flüchtlingsgemeinden sind in den Lebensordnungen zu erhalten, die sie von früher her haben. Es gibt keine Normallebensordnung für evangelische Christen in Deutschland. Auf der Detmolder Tagung wurde festgelegt, dass die Flüchtlinge in die Ortsgemeinden und die Abendmahlsgemeinschaft aufgenommen werden sollen. Die Kirchenleitungen haben darauf zu achten, dass die Flüchtlingsgemeinden entsprechend ihrem Bekenntnis pastoriert werden. Wie Mann und Frau in der Ehe einander ähnlich werden und doch Mann und Frau bleiben, so gilt es auch für die Konfessionen. Die Konfession ist ein Durchgangspunkt zu einem Hirten und einer Herde. Die Unterschiede sollen nicht nivelliert werden.80

Auch in diesem Zusammenhang sprach sich der Präsident der Kirchenkanzlei für die Bewahrung der alten Gemeinschaften oder „Lebensordnungen“ und gegen eine Nivellierung der Unterschiede aus und teilte die Gesellschafts- und Integrationsvorstellungen des OKAs. Das Postulat der Wahrung der Gliederung blieb bei Asmussen allerdings auf den innerkirchlichen Bereich und damit auf den Umgang mit der konfessionellen Heterogenität, nicht auf die Bewahrung heimatkirchlicher und landsmannschaftlicher Gemeinschaften bezogen. Demnach war es für Asmussen ausreichend, wenn die Vertriebenen gemäß ihrem heimatlichen Bekenntnis „pastoriert“ und in die Abendmahlsgemeinschaft der aufnehmenden Landeskirchen integriert würden.81 In eine ähnliche Richtung, wenn auch anders ausgeprägt, weist ein Grundsatzreferat Eugen Gerstenmaiers, der das Hilfswerk der evangelischen Kirche mit initiiert hatte. Auch Gerstenmaier hob zunächst die Bedeutung und Stellung der Hilfskomitees hervor, die als Vertretungsorgane der evangelischen Vertriebenen zu verstehen sind. Dabei handelte es sich um genossenschaftliche Organisationen auf landsmannschaftlicher Basis, die für die Durchführung der karitativen und seelsorgerlichen Vertriebenenarbeit verantwortlich waren. Damit seien, so Gerstenmaier, den Flüchtlingskirchen und 78 Asmussen, Hans: Einführung in die heutige Kirchensituation. Protokoll der Tagung von Vertretern der bedrängten Ostkirchen am 1. und 2. 5. 1947 in Marburg (EZA Berlin 17/57). 79 Ebd. 80 Ebd. Ähnlich formulierte es auch Herbert Krimm, der Generalsekretär des Hilfswerks. Vgl. Schreiben von Herbert Krimm an Max Hildebert Boehm vom 30. 7. 1948 (BArch Koblenz N 1077/4). 81 Hans Asmussen auf der Marburger Ostkirchentagung. Protokoll der Tagung von Vertretern der bedrängten Ostkirchen am 1. und 2. 5. 1947 in Marburg (EZA Berlin 17/57).

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Flüchtlingsmassen „Selbstgliederung und der Start zur landsmannschaftlichen Selbsthilfe“ angeboten worden.82 Demnach setzte Gerstenmaier auf „Gliederung“ als ordnungsstiftendes Prinzip. Die Hilfskomitees seien „Ausdruck der Solidarität der Kirchen“, gegenüber den Landeskirchen „Gleiche unter Gleichen“, die „berufene[n] Führungsorgane der Vertriebenengemeinden im Rahmen des Hilfswerks und der Landeskirchen“ und „Pfähle im Damm gegen die Flut des Chaos“:83 In erster Linie entspringt die Bildung der Hilfskomitees einem ursprünglichen Ordnungsbedürfnis, weil Ordnung die Grundlage ist, auf der sich menschliches Leben vollzieht. Ordnung bedeutet aber auch Heimat. Wo Heimat verloren geht, droht Zerfall.84

Zugleich machte Gerstenmaier jedoch klar, dass die Hilfskomitees der Assimilation der Vertriebenen in die aufnehmenden Kirchen und Gemeinden dienten. Zur Bildung einer kirchlichen Diaspora innerhalb der Heimatkirchen sollte es nicht kommen. Gerstenmaier sprach somit zwar nicht explizit von der Einheit der Kirche, aber sein Plädoyer für eine Assimilation und gegen eine kirchliche Diaspora wies dieselbe Stoßrichtung wie das Referat von Asmussen auf. Der Leiter des Hilfswerks machte klar, dass „die unbestreitbare Legitimität der Hilfskomitees in erster Linie zu einer Assimilierung im Sinne einer Eingliederung verpflichtet.“ Es dürfe „zu keiner volkskirchlichen Diaspora innerhalb der Landeskirchen kommen.“85 Girgensohn, der ja für eine Bewahrung der alten Gemeinschaftsformen und eine Akzeptanz des mitgebrachten Traditionsgutes plädierte, stimmte Gerstenmaier grundsätzlich zu und zeigte sich auf der Tagung „tief beeindruckt“ von Gerstenmaiers Ausführungen.86 Diese Zustimmung Girgensohns lässt sich damit erklären, dass Girgensohns Integrationsvorstellungen primär seelsorgerlich motiviert waren, es ihm also nicht um eine Separierung und Bewahrung der Differenz an sich und auf Dauer ging. Gerstenmaiers integrationspolitische Überlegungen, die sich im Begriff der politischen Diakonie und im Begriff der Selbsthilfe verdichten lassen, beinhalteten zudem eine dezidierte gesellschaftspolitische Vorstellung. Selbst82 Gerstenmaier, Wichern II, 494 f. 83 Eröffnungsrede von Eugen Gerstenmaier auf der Flüchtlingstagung des Hilfswerks auf der Karlshöhe bei Ludwigsburg am 16. 8. 1948 (ADW Berlin ZB 946). Auch Gerstenmaier, Heimatlose. 84 Die Flüchtlingsfrage im Spiegel der Gegenwart. Zur Hilfswerkstagung auf der Karlshöhe bei Ludwigsburg, 23. 8. 1948 (ADW Berlin ZB 946). Ähnlich auch Stichwortmäßige Wiedergabe der Eröffnungsrede des Herrn Dr. Gerstenmaier auf der Karlshöhe am 16.8.194 (ADW Berlin ZB 946; Archiv des IfZ M nchen, ED 94/338). 85 Ebd. Die Hilfskomitees dienten dem Ziel, „die Flüchtlinge so in die Gemeinden hereinzuziehen, daß sie sich möglichst schnell zu assimilieren vermögen“ (ders., Bericht über das Hilfswerk. In: Kirchenkanzlei, Berlin-Weissensee, 168). 86 Vortrag von Herbert Girgensohn auf der Flüchtlingstagung des Hilfswerks auf der Karlshöhe bei Ludwigsburg am 16. 8. 1948 (ADW Berlin ZB 946).

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hilfe hieß für Gerstenmaier auch, die Vertriebenen nicht nur mit Arbeit zu versorgen, sondern ihnen auch zu (Wohn-)Eigentum zu verhelfen. Der Theologe bewertete Privateigentum offenbar als Voraussetzung für eine gesunde Sozialordnung, die die Vertriebenen vor dem Zustand der Vermassung und Proletarisierung bewahrte. Im Wesentlichen bekräftigte Gerstenmaier die Gesellschaftsdiagnosen des OKAs, stellte allerdings die gesellschaftspolitische Zielsetzung der Förderung des Privateigentums, die sich durchaus antikommunistisch interpretieren lässt, stärker heraus: Was ist das Definitivum? Eine Kardinalaufgabe bei der Erhaltung des inneren Friedens, nämlich die Existenzermöglichung mit der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit von vielen Millionen in einer schrecklichen Weise abhängig gewordener Menschen wird […] nach unserer Überzeugung nur möglich sein durch die Bildung neuen persönlichen privaten Eigentums. Wir glauben nicht daran, daß es möglich ist, mit kollektiven Parolen oder mit Organisationsformen dem Problem zu begegnen. Als Grundlage der Selbständigkeit, als Grundlage einer leiblichen Unabhängigkeit darf und muß gelten und sollte auch von der Kirche bewußt und betont angestrebt und bejaht, ja gefordert werden, die Bildung neuen persönlichen Eigentums für diejenigen, die nichts mehr haben […], um auf Dauer zu erreichen, daß Menschen, die ihrer Herkunft, ihrer soziologischen Schichtung nach keineswegs einfach der Prototyp des Massenmenschen sind, einem schrecklichen Prozeß der Vermassung jedenfalls gewehrt wird, indem man diese Menschen auf eine, wenn auch noch so bescheidene, aber doch eigene Scholle, unter ein eigenes Dach mit eigenem Handwerkszeug stellt.87

Aufschluss über das Verhältnis von OKA und Landeskirchen gibt eine gemeinsame Tagung, die 1948 stattfand.88 Der Ratsvorsitzende der EKD, Otto Dibelius, übernahm die Tagungsleitung und appellierte an die Loyalität der Ostpfarrer gegenüber den westdeutschen Landeskirchen.89 Die Sorge des Ratsvorsitzenden galt weniger den Interessen der Vertriebenen als der Integrität und Autorität der westdeutschen Landeskirchen. Girgensohn bekräftigte hingegen sein Integrationskonzept und begründete die Notwendigkeit der heimatkirchlichen Traditionspflege nicht nur integrationspolitisch, sondern auch theologisch, da der Glaube der Sitte bedürfe: „Gewiss, eine tote Sitte ersetzt den Glauben nicht, aber die Sitte hat Kraft. Es ist leicht, eine Sitte zu zerstören, aber schwer, eine neue Sitte zu pflanzen.“90 Ebenso bestätigte der Geschäftsführer des OKAs, der deutsch-ungarische Pfarrer Friedrich SpiegelSchmidt, den Zusammenhang von Sitte, Gemeinschaft und Glaube, indem er

87 Gerstenmaier, Bericht über das Hilfswerk. In: Kirchenkanzlei, Berlin-Weissensee, 169 f. 88 Protokoll der Sitzung des OKAs am 6.–8. 4. 1948 in Rothenburg (EZA Berlin 17/57). 89 Niederschrift über die Tagung der Ostkirchen und Flüchtlingsreferenten der Landeskirchen für Flüchtlingsseelsorge, 7./8. 4. 1948 in Rothenburg (EZA Berlin 17/297). 90 Wortbeitrag Herbert Girgensohn. In: Ebd.

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Sitte und Gemeinschaft als „Gefäße des Glaubenslebens“ bezeichnete. Mit der Vertreibung, so Spiegel-Schmidt, ging das Gefäß des Glaubenslebens ihrer Glieder verloren. Plötzlich war der Glauben mitten in der größten Bewährungsprobe ohne jede schützende Hülle, jede tragende Sitte und Gemeinschaft, ganz auf Gott allein gestellt.91

Aus einem Schreiben des späteren Vorsitzenden des OKAs, Gerhard Gülzow, geht hervor, dass die aufnehmenden Kirchenleitungen den Anliegen der ehemaligen Ostkirchen keine allzu große Relevanz beimaßen. Gülzow betrachtete die Tagung zwar als „großen Gewinn“, kritisierte aber, dass die „Repräsentanten des eingefleischten satten und selbstsicheren Kirchentums“ nicht anwesend waren und die Kirchenkanzlei lediglich „niedrigere Repräsentanten“ wie einzelne Flüchtlingspfarrer, jedoch keine Kirchenleitungen eingeladen habe.92 Letztlich kristallisierte sich heraus, dass der OKA nicht nur in seinem Anliegen, eine kirchenrechtliche Aufwertung zu erreichen, gescheitert war, sondern auch die Verantwortung für die Flüchtlingsseelsorge an die Landeskirchen abgeben musste. So stellte der OKA auf dem Rothenburger Fortsetzungsausschuss fest, daß die Verantwortung für die allgemeine Flüchtlingsseelsorge ausschließlich den Landeskirchen zukommt. Die Hilfskomitees dürfen ihnen weder bei dieser Aufgabe und Verantwortung dreinreden noch können sie ihnen die Verantwortung abnehmen.93

Dagegen böten die landeskirchlichen Unternehmungen in der allgemeinen Flüchtlingsbetreuung ihren besonderen Dienst der speziellen Betreuung an. Daraus folgt […] die Pflicht jeder Landeskirche, über die formale, rechtliche Eingliederung der Flüchtlinge hinaus ihre echte innerliche Eingliederung, ihr Heimischwerden in den neuen kirchlichen Verhältnissen zu ermöglichen.94

Demnach hielt der OKA an seinem Gemeinschaftsanspruch fest, akzeptierte aber den Primat der Landeskirche.

91 Spiegel-Schmidt, Wandlungen, 24. 92 Schreiben von Gerhard Gülzow an Paul Collmer, 20. 4. 1948 (ADW Berlin ZB 886). 93 Protokoll der Sitzung des Rothenburger Fortsetzungsausschusses am 14. 6. 1948 (EZA Berlin 17/559). 94 Ebd.

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2.1.3 Die Soziale Frage und die Verbürgerlichung der Kirche: Eine Denkfigur der theologischen Gesellschaftsdeutung und Kirchenkritik Ein verbreitetes, sozialdiagnostisches wie kirchenkritisches Deutungsmuster war das Motiv einer „Verbürgerlichung der Kirche.“ Im Folgenden werden drei verschiedene Semantiken dieser Figur herausgearbeitet, nämlich eine a) sozialmoralische, eine b) theologisch-symbolische oder spiritualistische und eine c) sozialreformerische. Für Herbert Girgensohn war die Vertriebenenproblematik eine „soziale Frage“, die mit der Frage der kirchlichen Integration in einem Zusammenhang stand.95 Er glaubte „eine neue soziale Spaltung im deutschen Volk“ und die Entstehung eines „fünften Stand[es]“ zu beobachten und parallelisierte die Situation der Vertriebenen mit der Situation des „entstehenden Industrieproletariats vor etwa 100 Jahren, nur daß das Absinken in das Proletariat jetzt plötzlicher, viel radikaler und in viel größerem Ausmaße geschieht.“96 Das Herabsinken ins Proletariat sei durch drei Merkmale charakterisiert: Durch die „völlige Besitzlosigkeit“, die zu einer „völlige[n] Ohnmacht“ führe, durch die „völlige Gemeinschaftslosigkeit“, die zur Asozialität führe, und durch „völlige Rechtlosigkeit.“97 Für Girgensohn bestand die Gefahr, „eines sozialen Kampfes.“98 Indizien dafür glaubte er bereits zu erkennen. Die Vertriebenen schlössen sich zusammen und solidarisierten sich, die herkömmlichen Sozialkategorien und Differenzierungskriterien verlören an Bedeutung. In düsteren Farben beschwor er den bevorstehenden Bürgerkrieg: Die Konsolidierung der Masse zu einer geschlossenen Bewegung gegenüber den Einheimischen ist im Zunehmen begriffen. Es entsteht eine Solidarität der Flüchtlinge, die bisherige Unterschiede der Parteien, der bisherigen sozialen Schichtungen und Parteiungen, ja der Konfessionen hinter sich lässt. […] Ein solcher Kampf wird bestenfalls in Generationen ausgefochten, kann aber auch zu einer blutigen Auseinandersetzung im Fall einer politischen Veränderung führen. […] Die Masse verfällt der Radikalisierung. […] Aus einer Gegend wird berichtet, wie dort unter den Flüchtlingen schon die geheime Abmachung bestünde, mit den Bauern abzurechnen, und daß jeder Flüchtling seinen Bauern schon für den Fall eines politischen Umbruches zugeteilt bekommen habe.99

Der Vergleich mit der Arbeiterfrage im 19. Jahrhundert hatte zunächst die Funktion, die gegenwärtige, neuartige Erfahrung der Vertreibung erklär-, beschreib- und verstehbar zu machen. Sie diente aber auch als Negativfolie, 95 96 97 98 99

Girgensohn, Flüchtlinge, 12. Ebd., 22 f. Ebd., 23 f. Ebd., 26. Ebd.

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um vor der Wiederholung historischer Fehler im Umgang mit sozialen Problemen zu warnen. So diagnostizierte der Theologe eine „historische Schuld“ der Kirchen, die „mit dem Industrieproletariat […] ihr Volk einmal geistlich verloren haben.“100 Die Kirchen und Gemeinden vermochten ihre gesamtgesellschaftliche Integrationsfunktion offenbar nicht zu erfüllen, obwohl Girgensohn die Kirche als „positives Gegenstück zu dieser sozialen Aufspaltung“ verstanden wissen wollte.101 Dafür wiederum machte der Theologe die spezifische Erscheinungsform der Gemeinde verantwortlich, die er als eine bürgerliche beschrieb: „Wo aber die Kirchengemeinde mehr den Charakter der ,bürgerlichen‘ Gemeinde zeigt, da bleibt die Wunde brennend und offen.“102 Als positives Gegenüber zur bürgerlichen Gemeinde präsentierte Girgensohn die Idealvorstellung einer lebendig-christliche[n] Gemeinschaft, die bereit wäre, den Fremden als volles Glied in sich aufzunehmen. […] Aus ihr kann und soll die Tat der Überwindung dieses Gegensatzes erfolgen. Wo auf beiden Seiten […] lebendiger Glaube in der Liebe ist, da geschieht es auch. Da wird in kleinem Kreise die soziale Frage gelöst, da entsteht Heimat.103

Damit variierte er letztlich den verbreiteten Topos einer „Verbürgerlichung der Kirche“. Im Kern zielte diese normativ aufgeladene Denkfigur auf die weitgehende Identität von Kirche und bürgerlichem Milieu, die die Kirche und ihre Mitglieder vom Glauben entfremdet habe und die Gemeinschaftsfähigkeit der Gemeinde beeinträchtige. Positives Gegenbild zur bürgerlichen, d. h. reellen Gemeinde war das normativ aufgeladene Bild einer christlichen Gemeinschaft. Varianten dieser Deutungsfigur lassen sich verschiedentlich finden. Der Geschäftsführer des OKAs Friedrich Spiegel-Schmidt sprach von einer „volkskirchlichen Scheinsituation“ und einer „sakralen Überhöhung der Dorfgemeinschaft“, in der die Christen vergessen hätten, „dass die Kirchengemeinde eigentlich die Jüngerschar Jesu Christi in der gottlosen Welt

100 Ebd., 35. Ähnlich auch ders.: Memorandum zur Frage der Eingliederung der Ostkirchen; ders.: Diaspora als Lebensform der Kirche. Referat auf der Marburger Ostkirchentagung am 1.–2. 5. 1947 (ADW Berlin ZB 886); Bericht. Arbeitstagung über Flüchtlingsfragen der Forschungsstelle der evangelischen Akademie Hermannsburg vom 12.–19. 11. 1948 (LKA Hannover N 57 Nr. 6); Girgensohn, Bewältigung, 28; Olearius, Gottfried: Art. Flüchtlinge, 531; und Seeberg, Stella: Zum deutschen Flüchtlingsproblem. Bericht auf Grund von amtlichen Mitteilungen und Länderregierungen des Länderrats der amerikanischen Zone, des Flüchtlingsrates der britischen Zone und eines Gutachten des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, o. D. (LKA Hannover N 57 Nr. 6). 101 Ebd., 26. 102 Ebd., 25. 103 Ebd., 26. Auf einer Tagung führte er damit korrespondierend aus: „Auch die Kirche ist verbürgerlicht und die Begegnung mit den Flüchtlingen wird der Probestein für die Echtheit und Liebe und die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses sein“ (Niederschrift über die Sitzung des OKAs am 6.–8. 4. 1948 in Rothenburg, EZA Berlin 17/57).

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sein möchte.“104 Für Spiegel-Schmidt stellten die Vertriebenen daher auch eine Infragestellung überkommener kirchlicher Strukturen und damit einen Impuls für eine Erneuerung der Kirchen dar. Sie waren für ihn eine „Frage Gottes an die Kirche“ und stellten die gegenwärtige Form der Verkündigung, den seelsorgerlichen Auftrag und die missionarische Verantwortung auf den Prüfstand.105 In einem rückblickenden, 1959 erschienenen Aufsatz wiederholte der Theologe im Wesentlichen seine ekklesiologisch motivierte Kritik an den Westkirchen, denen er „bürgerliche Saturiertheit“, „Kirchenträgheit“, „Opportunismus“ und die Entstehung einer „kirchenfremden Masse“106 attestierte. Die Vertriebenen stellten einen „beunruhigenden Faktor eines in sich ruhenden Behördenkirchentums“ dar, der zum „Ruf nach der aktiven, lebendigen Gemeinde“ geworden sei.107 Letztlich kam in der Denkfigur der verbürgerlichten Kirche ein gesellschaftsdiagnostisches und ein kirchenkritisches Motiv zum Ausdruck. Dass sich die Kirche vom Idealbild einer heilenden, „lebendig-christlichen Gemeinschaft“ entfremdet habe und ihr in der Konsequenz ein desintegrierender oder exkludierender Charakter zugeschrieben wurde, war also auch auf die Verbürgerlichung der Kirche und damit auf die Identifizierung der Kirche mit einer spezifischen gesellschaftlichen Erscheinungsform zurückzuführen. Im Kontext der innerkirchlichen Integrationsdebatten kam dem Deutungsmuster der verbürgerlichten Kirche eine spezifische Funktion zu. Denn an die Landeskirchen wie die aufnehmenden Gemeinden wurde die Erwartung gerichtet, den Fremden „als volles Glied“ aufzunehmen. Zugleich wurden die Assimilationspolitik der Landeskirchen und die mangelnde Aufnahmebereitschaft der Gemeinden moralisch und theologisch delegitimiert, denn hieran zeigte sich, dass die Landeskirchen für den „Fremden“ gerade nicht offen waren. Daneben lässt sich eine spiritualistisch-transzendierende oder theologisierende Semantik herausarbeiten. Der lutherische Theologe und Landesbischof der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, Hanns Lilje,108 griff in einem Grundsatzreferat zur Vertriebenenproblematik ebenfalls auf eine Variation der Unterscheidung von bürgerlicher Gesellschaft und Christengemeinschaft zurück.109 Gerade weil die Vertriebenen ihren Besitz verloren hatten, sprach der Landesbischof den Vertriebenen eine intensivere Gottesbeziehung zu: „Der Flüchtling kann seine direkte Beziehung zu Gott leichter 104 Spiegel-Schmidt, Vertriebenen, 191. 105 Ebd., 196–200. Eine Kurzfassung findet sich in ders.: Vertriebene sind Kinder Gottes! In: Sonntagsblatt, 21. 7. 1952, 19. 106 Spiegel-Schmidt, Wandlungen, 48. 107 Ebd., 63. 108 Zu Hanns Lilje siehe Oelke, Lilje. 109 Hierzu auch Lilje, Hanns: Die exemplarische Bedeutung des Flüchtlingsschicksals für die Christenheit. Vortrag auf der Hermannsburger Flüchtlingstagung vom 25. 10. 1947–27. 10. 1947 (LKA Hannover L 3 III Nr. 302). Ausführlich zu Liljes Referat: Teuchert, Anspruch, 185–189.

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realisieren als derjenige, der seinem bürgerlichen Besitz verhaftet ist.“110 Die massenhafte Vertreibung wertete Lilje als Infragestellung des nach Besitz und materiellem Schutz strebenden Sicherheitsdenkens, das nach Lilje charakteristisch für den „bürgerlichen Geist“ und das „bürgerliche Zeitalter“111 sei. Angesichts dieser gewaltigen Erschütterung der „Sekurität“, die die Vertriebenen bewirkt hätten, erklärte der Landesbischof das vom Streben nach Sekurität bestimmte „bürgerliche Zeitalter“ kurzerhand für beendet.112 Die Vertriebenen erhielten dabei einen beispielhaften Charakter, da sie den „Pilgrimstand des Christen“ in Erinnerung riefen.113 Bei der symbolischen Deutung der Vertriebenenproblematik als Erinnerung an den Pilgrimstand des Christen handelt es sich um eine beinahe klischeehafte Deutungsfigur, die in Kirchenzeitungen und Predigten immer wieder bemüht wurde.114 Auch Lilje identifizierte letztlich eine Diskrepanz zwischen einer verbürgerlichten, d. h. vom bürgerlichen Sicherheits- und Besitzstreben geprägten Kirche und der christlichen Lebensführung: Eine „verbürgerlichte Christenheit habe es dringend nötig“, „daran erinnert zu werden […], dass [sic] die christliche Einstellung zum Flüchtlingsschicksal ein grosses [sic] Ja zum Flüchtlingsschicksal ist.“115 In der Konsequenz konfrontierte der Theologe die tatsächliche, verbürgerlichte Kirche mit ihrem idealen Gegenüber. Den Vertriebenen sprach Lilje eine symbolische Bedeutung zu, wenn sie an den nicht weiter konkretisierten „Pilgrimstand des Christen“ erinnerten. Der Bischof stellte zwar das Postulat auf, dass in der Kirche das „Heimatrecht […] voraussetzungslos“ gelte,116 verlor aber kein Wort darüber, ob Kirchen wie Gemeinden dieser Integrationserwartung gerecht würden. In einem anderen Zusammenhang, anlässlich des 101. Jahrestages der Inneren Mission, stellte er immerhin einen Zusammenhang zwischen einer Verbürgerlichung der Kirche und einer mangelnden Opferbereitschaft der Christenheit her.117 Insgesamt 110 Lilje, Hanns: Die exemplarische Bedeutung des Flüchtlingsschicksals für die Christenheit. Vortrag auf der Hermannsburger Flüchtlingstagung vom 25. 10. 1947–27. 10. 1947 (LKA Hannover L 3 III Nr. 302). 111 Ebd. 112 Ebd. 113 Ebd. 114 Wustmann spricht von einem „frommen Stereotyp, das den einheimischen Christen als Spiegel vorgehalten wurde.“ (Wustmann, Vertrieben, 39). Zur Aufnahme der Figur: SpiegelSchmidt, Vertriebenen, 194; Bartels, Flüchtlingsarbeit, 44. Eine ähnlich gelagerte Kritik am bürgerlichen Sicherheitsdenken findet sich auch im Wort der Bruderräte. Hier wurde die Mahnung nicht an die Einheimischen, sondern an „den Flüchtling“ adressiert, der sich davor hüten solle, „daß er in einem krampfhaften Bemühen um bürgerliche Sicherheit die gnädige Heimsuchung vergißt“ (Er ruft und rettet. Ein Sendschreiben des Bruderrats zur Flüchtlingsnot. In: EvWelt, 1. 2. 1949, 50 f.). 115 Lilje, Hanns: Die exemplarische Bedeutung des Flüchtlingsschicksals für die Christenheit. Vortrag auf der Hermannsburger Flüchtlingstagung vom 25. 10. 1947–27. 10. 1947 (LKA Hannover L 3 III Nr. 302). 116 Ebd. 117 Die ganze Kirche muss Innere Mission sein. In: EvWelt, 1. 2. 1949, 82.

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hinterlässt das Referat einen ambivalenten Eindruck: Einerseits sprach Lilje mit seinen Ausführungen eine theologisch-symbolische Würdigung der Vertriebenen aus, andererseits reflektierte er im Gegensatz zu den Ausführungen führender Mitarbeiter des OKAs wie Spiegel-Schmidt oder Girgensohn, die selbst vertrieben wurden, nicht darüber, wie es um die gesellschaftliche Integrationsfähigkeit von Kirche und Gemeinde bestellt war. Demnach existierte für Lilje auch kein Zusammenhang von Sozialer Frage und Verbürgerlichung der Kirche. Das von Lilje skizzierte Idealbild eines christlichen Pilgrimstandes war zudem in hohem Grade antimaterialistisch-spiritualistisch konnotiert,118 so dass zumindest fraglich sein dürfte, ob Lilje damit den Interessen der Vertriebenen entsprach, die in der Mehrheit ja gerade eine Wiedererlangung von Status, Besitz und ihrer Stellung im bürgerlichen Leben anstrebten. Im Mittelpunkt von Liljes Referat stand dagegen die symbolischtheologische Sinnzuschreibung, die als Beitrag zur Kontingenzbewältigung verstanden werden kann und die in der überregionalen Presse Beachtung fand. „Die Zeit“ paraphrasierte Liljes Referat ausführlich und bezeichnete ihn als „großen Redner von glänzender Eloquenz, die sowohl den pastoralen Predigerton als auch die Versuchung allzu abstrakten Formalismus meidet.“119 Lilje habe die hier wirksamen „geistesgeschichtliche Zusammenhänge“ sowie das Kernproblem „deutlich gemacht und dies aus tiefer christlicher Einsicht […] [und] mit Hinweisen, wie christliche Haltung sich zu bewähren habe.“120 Allerdings zweifelte der Verfasser, ob die „unpathetische Mahnung“, das „Ja zum Pilgrimstand“, der „entscheidende Weg [ist], aus dem Chaos herauszukommen.“121 Verschiedene protestantische Akteure aus dem Umfeld der sogenannten Bruderräte, die die politische Nähe zur SPD suchten und sich in besonderer Weise für die sog. Soziale Frage und die Belange der sozial Benachteiligten interessierten,122 artikulierten im Kontext der Vertriebenenproblematik sozialreformerische Vorstellungen und griffen dabei ebenfalls auf die Diagnose- und Deutungsfigur einer Verbürgerlichung der Kirche zurück. Ein Sendschreiben des Bruderrats der EKD vom Februar 1949 deutete eine solche Perspektive an, wenn der Bruderrat anlässlich der Flüchtlingsnot einerseits vor der „bürgerlichen Sicherheit“ warnte, andererseits die „Frage nach Reichtum und Gerechtigkeit“ gestellt sah.123 Auf dem DEK von 1949

118 So kritisierte er das „bürgerliche Sekuritätsbedürfnis“, das es zu überwinden gelte, als „geistige Entleerung, Veräußerlichung und Verdiesseitigung des Lebens“ (Lilje, Hanns: Die exemplarische Bedeutung des Flüchtlingsschicksals für die Christenheit. Vortrag auf der Hermannsburger Flüchtlingstagung vom 25. 10. 1947–27. 10. 1947, LKA Hannover L 3 III Nr. 302). 119 Moltor, Jan: Ist die große Stunde der Kirche gekommen? In: Die Zeit, 30. 10. 1947, 3. 120 Ebd. 121 Ebd. 122 Zu den Bruderräten siehe Anm. 32. 123 Er ruft und rettet. Ein Sendschreiben des Bruderrats zur Flüchtlingsnot. In: EvWelt, 1. 2. 1949,

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gewann dieser Zusammenhang an Kontur. Hier referierte der Flüchtlingspastor, SPD-Politiker und niedersächsische Flüchtlings- und Sozialminister Heinrich Albertz, der dem bruderrätlichen Flügel des Protestantismus angehörte und der vor 1945 in der Bekennenden Kirche engagiert war.124 Albertz glaubte letztlich eine Entfremdung von bürgerlicher Gemeinde und Gemeinde Jesu Christi zu beobachten, wofür die Verbürgerlichung der Kirche verantwortlich sei: Aber ich habe in den über drei Jahren Arbeit im Rahmen dieser weltlichen Verantwortlichkeit kaum jemals eine Stelle gefunden, in der es spürbar wurde, dass die bürgerliche Gemeinde, die eine Aufgabe zu übernehmen hatte, gleichzeitig eine Gemeinde Jesu Christi war, wie es jedenfalls das Steuerregister behauptet. Es sind […] auch dort immer nur einzelne, die sich um die Dinge bemühten und sie begriffen, Rufer in der Wüste eines Christentums, das die bürgerlichen oder bäuerlichen Rückstände einer vergangenen Welt mit von Gott gegebenen Formen verwechselten.125

Bei Albertz erhielt das Motiv der Verbürgerlichung eine andere Konnotation. Im Gegensatz zu Liljes rein theologisch-symbolischen Ausführungen erwartete der Sozialdemokrat einen Einsatz der Kirchen für eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse, was er als Ausdruck der „christlichen Liebesarbeit“ verstand: „Die Weiterführung echter christlicher Liebesarbeit [besteht, FT] heute nicht im Festhalten, sondern in einer Veränderung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse.“126 Die Diagnose einer Verbürgerlichung war für Albertz weniger ein sozialmoralisches oder individualethisches Problem, sondern ein Problem der Identität von Kirche und gesellschaftlicher Struktur, für deren Veränderung sich die Kirche einsetzen solle. Dies korrespondiert mit anderen Beiträgen des sozialdemokratischen Politikers, in denen er die Forderung einer gewerkschaftsähnlichen Interessenorganisation und -artikulation erhob.127 Ein „rechtes Verständnis“ für die Situation der Vertriebenen bedeutete für Albertz gerade eine Akzeptanz ihrer materiell-wirtschaftlichen Interessen. Mit deutlichen Worten kritisierte er solche Stimmen, die in der Interessenorganisation der Vertriebenen Anzeichen eines „sozialen Kampfes“ und einer Entchristlichung erblickten und damit der Interessenvertretung indirekt die Legitimität absprachen.128

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50 f. Dass das Wort von der Synode angenommen wurde, geht hervor aus: Erste Synode der EKD. In: EvWelt, 15. 1. 1949, 25 f. Albertz, Heinrich: Krise und Heilung des Gemeinschaftslebens. Vortrag gehalten auf dem Kirchentag bzw. der Deutschen Evangelischen Woche am 30. 7. 1949. Zusammenfassung des Vortrags in Evangelischer Pressdienst, Nr. 80/49, Sonderausgabe (EZA Berlin 71/3972). Ebd. Ebd. Bericht über die Arbeitstagung über Flüchtlingsfragen der Forschungsstelle der evangelischen Akademie Hermannsburg vom 12.–19. 11. 1948 (LKA Hannover N 57 Nr. 6). Ausführlicher hierzu siehe unten 85–90.

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Der Universitätsprofessor und systematische Theologe Hans Joachim Iwand, der vor 1945 Mitglied der Bekennenden Kirche war, dem bruderrätlichen Flügel des Protestantismus angehörte und als Vorsitzender des ostpreußischen Bruderrats sowie des ostpreußischen Hilfskomitees in der kirchlichen Vertriebenenarbeit engagiert war,129 reflektierte in seinen posthum erschienenen Vorlesungen das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft und griff dabei ebenfalls auf das Motiv einer „Verbürgerlichung der Kirche“ zurück, ging aber nicht explizit auf die Situation der Vertriebenen ein, sondern thematisierte den Umgang mit sozial Benachteiligten im Allgemeinen. Der Theologe kritisierte den aus seiner Sicht zu engen Fokus der Kirche auf den Dual von Staat und Kirche und plädierte für eine Öffnung gegenüber einer dritten Sphäre, die er als „Gesellschaft“ bezeichnete.130 Die postulierte Offenheit für die Gesellschaft bedeutete für Iwand, dass der „Christus draußen vor der Tür“ zu finden ist, d. h. in den sozial benachteiligten, exkludierten Gruppen gesehen werden kann, die bislang aus der Kirche ausgeschlossen seien.131 Diese Exklusion führte er darauf zurück, dass die Kirche „eine bürgerliche, eben dieser Gesellschaft dienende Kirche“ sei.132 Der Kirche warf Iwand vor, sich mit der bürgerlichen Gesellschaft, mit restaurativen und konservativen Kräften verbündet und die bestehende gesellschaftliche Ordnung legitimiert zu haben.133 Mit der postulierten Offenheit der Kirche für die Gesellschaft müsse eine Offenheit der Kirche für soziale, sozialreformerische oder sogar sozialrevolutionäre Bewegungen einhergehen: „Kirche und Theologie müssen offen sein für den Gedanken, dass Gott auch in der Revolution handeln kann.“134 Auch Iwand identifizierte folglich in der Verbürgerlichung der Kirche eine Ursache für die Exklusion sozial Benachteiligter aus der Kirche und damit für die mangelnde gesellschaftliche Integrationsfähigkeit der Kirche insgesamt.135 Auf dem DEK in Essen übertrug Iwand diese Überlegungen auf die Situation der Vertriebenen und postulierte eine Sozi129 Zu Iwand siehe Surkau, Art. Iwand, 427–432. Zu seinem Engagement in der kirchlichen Vertriebenenarbeit auch Seim, Iwand und die vertriebenen Ostpreußen, 33. Seim verfasste zudem eine allerdings eher populärwissenschaftliche, von deutlicher Sympathie getragene Biographie. Vgl. Seim, Iwand. Iwand hatte das „Haus der helfenden Hände“, eine Selbsthilfeeinrichtung und Versorgungseinrichtung für aus Ostpreußen vertriebene Geistliche und Pfarrwitwen, ins Leben gerufen. Zugleich war dies der Versammlungsort des ostpreußischen Bruderrats. 130 Iwand, Kirche, 15. 131 Ebd., 46. 132 Ebd. 133 Ebd., 15. 134 Ebd. Später bezog er dies auf den Sozialismus. Siehe ebd., 246. 135 Iwand hatte den Konflikt zwischen Arbeitern und Bürgertum im Blick. Das beweist seine explizite Bezugnahme auf Paul Tillich, der in den 1930er Jahren eine Offenheit des Protestantismus für die proletarische Situation eingefordert hatte. Siehe hierzu ebd., 126–128. Vgl. auch Tillich, Prinzip; und ders., Protestantismus. Tillich hatte dafür plädiert, dass sich der Protestantismus von seiner Verschmelzung mit der bürgerlichen Ideologie lösen solle. Siehe ebd., 24 und 15.

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alreform zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit, allerdings konnte er sich damit gegenüber der Arbeitsgruppe nicht durchsetzen.136 Eine wiederum ähnliche, leicht abgewandelte Variante dieser Deutungsfigur findet sich beim Sozialethiker Heinz Dietrich Wendland, der auf einer Tagung des OKKs vom „Fluch des volkskirchlichen Erbes“ sprach und die kirchliche Aufgabe darin erblickte, einen „positiven Dienst an der Neuordnung der Gesellschaft“ zu leisten.137 Wendland gehört zu den Neubegründern der evangelischen Sozialethik nach 1945 und lässt sich nicht klar dem lutherischen, barthianischen oder liberaltheologischen Lager zuordnen.138 Gelegentlich ist diese sozialreformerisch konnotierte Variante auch außerhalb des bruderrätlichen Lagers zu finden. Zumindest strukturell ähnlich argumentierte der Jurist Ludwig Landsberg, der in der kirchlichen Vertriebenenarbeit engagiert und Flüchtlingsreferent im nordrheinwestfälischen Sozialministerium war.139 Landsberg fällt zeitlich etwas aus dem Rahmen, weil er seine Kirchen- und Gesellschaftskritik in den späten 1950er und frühen 60er Jahren formulierte und den Integrationsverlauf aus einer rückblickenden Perspektive kritisch bewertete. Der Jurist führte die Defizite innerhalb der Kirche darauf zurück, „daß sie sich weitgehend als verbürgerlichte, von der Haltung der einheimischen bürgerlichen Gesellschaft abhängige Kirche erwiesen hat.“140 Damit war die innerkirchliche Integrationsproblematik Bestandteil der Gesamtproblematik unserer wieder verbürgerlichten Gesellschaft geworden, in der Eigentum und Besitz, soziale Stellung und Lebensstandard die wesentlichen Kriterien für den Wert und die Würde des Menschen geworden sind.141

136 Iwand, Hans Joachim: Entwurf für eine Entschließung. o. D. (EZA Berlin 71/1187). In der veröffentlichten Version wurde die Entschließung abgeschwächt und die Forderung einer Sozialreform fallen gelassen. Vgl. Memorandum der Arbeitsgruppe II „Rettet die Heimat“, 26. 8. 1950. Abgedruckt in Deutscher Evangelischer Kirchentag, Kreuz, 64 f. Wichtige Themen in Iwands Denken waren die Themen Schuld und Gericht Gottes. Der Verweis auf die eigene Schuld entfiel in der veröffentlichen Variante der Entschließung. In einem 1949 gehaltenen Vortrag priorisierte Iwand die religiöse Dimension gegenüber der sozialen. Siehe Hamburger Bericht, 22. 137 Wendland, Heinz Dietrich: Gesamtüberblick über die Thematik von Evanston. Vortrag für die Tagung in Königswinter 1954. Anhang zum Schreiben von Heinz Dietrich Wendland an Friedrich Spiegel-Schmidt vom 10. 6. 1954 (EZA Berlin 17/707). 138 Zu Wendlands Biografie siehe Dahm, Konzepte, 299–302; zu seiner Theologie ebd., 302–307. 139 Landsberg war Mitglied der rheinischen Kirchenleitung und Vorstandsmitglied im Diakonischen Werk im Rheinland. Auf den Tagungen des OKKs trat er regelmäßig als Redner auf. Eine Mitgliedschaft im Vorstand des OKKs lehnte er allerdings ab. Ausführlicher zu Landsberg siehe unten 396–401. 140 Landsberg, Ludwig: Die evangelische Kirche und das Vertriebenenproblem, o. D. (LKA D sseldorf 1 OB 001 168). Später wurde das Referat publiziert. Vgl. Landsberg, die Vertriebenen und Flüchtlinge, 259–261. 141 Ders.: die evangelische Kirche und das Vertriebenenproblem, o. D. (LKA D sseldorf 1 OB 001 168). Vgl. auch ders., die Vertriebenen in der gesellschaftlichen Ordnung, 6.

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Da es nach Landsberg den „Gegensatz zwischen Vertriebenen und Einheimischen […] in der industriellen Welt nicht“ gebe, war das Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem für Landsberg „ausschließlich ein Problem dieses Bürgertums.“142 2.1.4 „Sozialer Kampf“ als „Kampf gegen Christus“? Abgesehen von den Gremien der kirchlichen Vertriebenenarbeit setzte sich die evangelische Akademie Hermannsburg, die später ins Kloster Loccum umzog, der eine eigene Forschungsstelle für Vertriebenenfragen, Pädagogik und Ostkirchen unter der Leitung der Soziologin Stella Seeberg angeschlossen war, in besonderer Intensität mit der Vertriebenenproblematik auseinander.143 Die Forschungsstelle veranstaltete bis 1957 Tagungen zu diesem „Kernproblem unserer Zeit, ohne dessen Lösung eine Gesundung Deutschlands, ja Europas gar nicht möglich ist.“144 Der bestimmende Deutungsrahmen für Seeberg und ihre Forschungsstelle war die Säkularisierungsthese. Gerade diese dezidiert christlich-religiöse Semantik verdeckte dabei die Beziehung zum NS, die Seeberg vor 1945 eingegangen war: Die 1901 in Dorpat geborene, in Rostock und Kiel aufgewachsene Agrarsoziologin und Volkswirtin hatte während der NS-Zeit Karriere gemacht; nach ihrer mit summa cum laude bestandenen Promotion und verschiedenen Anstellungen als Hauslehrerin war sie seit Beginn des Krieges stellvertretende Leiterin der agrarpolitischen Abteilung des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts in Berlin, anschließend Dozentin in Graz.145 Ab 1934 war sie Mitglied in verschiedenen NS-Organisationen wie dem NS-Frauenwerk, dem NS-Rechtswahrerbund und der NSVolkswohlfahrt, der NSDAP selbst trat sie jedoch nicht bei.146 Auch inhaltlich vollzog sie explizit den Schulterschluss mit dem NS.147 Aus der Gesellschaftsdiagnose einer Säkularisierung leitete Seeberg ein spezifisches Programm der Forschungsstelle ab: 142 Ders.: Vortrag vor Ungarndeutschen, o. D. (LAV NRW Duisburg RW 305–10). Später floss dieses Argument in die EKD-Denkschrift von 1965 ein. Vgl. Die Lage der Vertriebenen, 14. In einem 1952 erschienenen Beitrag glaubte Landsberg zu erkennen, dass die „ostdeutschen Landarbeiter“ in der Industrie eine Besserstellung erfahren hätten (Ders., Die Vertriebenen in der gesellschaftlichen Ordnung, 5). 143 Zur Gründungsgeschichte der Forschungsstelle siehe Teuchert, Anspruch, 169–198. Eine kurze Erwähnung findet die Forschungsstelle bei: Schildt, Abendland, 123; und Treidel, Akademien, 153 f. Vgl. auch unten 179–193. 144 So jedenfalls Moltor, Jan: Ist die große Stunde der Kirche gekommen? In: Die Zeit, 30. 10. 1947, 3. 145 Siehe Kernbauer, Art. Seeberg, 677. Klingemann widmet sich in einem Abschnitt auch der NS-Agrarsoziologie, Seeberg wird allerdings nicht erwähnt. Vgl. Klingemann, Soziologie, 109–122. 146 Kernbauer, Art. Seeberg, 677. 147 Ausführlich hierzu siehe unten 179–193.

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Die verlorene Gemeinschaft und die Entdeckung der Gesellschaft Die Aufgabe des Referats für Flüchtlingsfragen ist die Festhaltung oder ihre Wiedergewinnung für den christlichen Glauben, ihre Eingliederung in die kirchlichen Gemeinden ihrer neuen Wohnorte unter Berücksichtigung der sowohl für die Flüchtlinge als auch für die Einheimischen notwendigen Voraussetzungen, Abschleifung und Milderung der auf eine soziale Explosion hindrängenden Entwicklung einer rein säkularen Flüchtlingsbewegung.148

Entchristlichung oder Entkirchlichung und Klassenkampf erschienen in den Vorstellungen Seebergs in einem direkten Zusammenhang. Die klassenkämpferisch aufgeladene Soziale Frage des 19. Jahrhunderts, auf die Seeberg als Vergleichsfolie zurückgriff, war für die Soziologin eine Folge der Abwendung der Arbeiter von der Kirche, die wiederum aus dem unzureichenden Engagement oder dem mangelnden Verständnis der Kirchen für die Situation der Arbeiter resultierte.149 In Analogie zur Sozialen Frage des 19. Jahrhunderts identifizierte Seeberg auch hinsichtlich der Vertriebenenproblematik in der Säkularisierung und Entkirchlichung eines der zentralen Problemfelder, das von den Kirchenleitungen „unvollkommen gesehen oder verharmlost werde, um den Gemeindepastor nicht noch zusätzlich zu belasten.“150 Die gegenwärtige Situation stellte die Kirche demnach „vor eine ähnliche, aber ungleich schwierigere Aufgabe.“151 Dabei sei ein schnelles Handeln der Landeskirchen notwendig, weil die Entchristlichungs- und Entkirchlichungstendenzen die bevorstehende „soziale Explosion“ beflügelten.152 Gelinge es den Kirchenleitungen nicht, eine den „geistigen, seelischen und kirchlichen Nöten der Flüchtlinge Rechnung tragende Zusammenfassung von Vertriebenen und Einheimischen“ zu erreichen, dann käme „der sowieso schon einsetzende Prozess einer rein säkularen und nur auf die Durchsetzung wirtschaftlicher Forderungen gerichteten Entwicklung zum Durchbruch.“153 Neben der übergreifenden Gesellschaftsdiagnose einer Säkularisierung äußerte sich Seeberg zu den sich ab 1948 formierenden nicht-kirchlichen Interessenor-

148 Witt, Karl: Entwurf. Die Forschungsstelle der evangelischen Akademie Hermannsburg, o. D. (LKA Hannover N 57 Nr. 1). 149 Das geht hervor aus: Seeberg, Stella: Zum deutschen Flüchtlingsproblem. Bericht auf Grund von amtlichen Mitteilungen der Länderregierungen des Länderrats der amerikanischen Zone, des Flüchtlingsrates der britischen Zone und eines Gutachtens des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, o. D. Der Bericht wurde versandt mit Schreiben von Harald von Rautenfeld an die Landeskirchen, Oktober 1948 (LKA Hannover N 57 Nr. 6). 150 Bericht. Arbeitstagung über Flüchtlingsfragen der Forschungsstelle der evangelischen Akademie Hermannsburg vom 12.–19. 11. 1948 (LKA Hannover, N 57 Nr. 6). 151 Seeberg, Stella: Zum deutschen Flüchtlingsproblem. Bericht auf Grund von amtlichen Mitteilungen und Länderregierungen des Länderrats der amerikanischen Zone, des Flüchtlingsrates der britischen Zone und Gutachten des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, o. D. (LKA Hannover N 57 Nr. 6). 152 Bericht. Arbeitstagung über Flüchtlingsfragen der Forschungsstelle der evangelischen Akademie Hermannsburg vom 12.–19. 11. 1948 (LKA Hannover, N 57 Nr. 6). 153 Ebd.

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ganisationen der Vertriebenen.154 Diese bedrohten den sozialen Frieden, beflügelten den Klassenkampf und die Entchristlichung, die auch die Einheimischen nicht unberührt ließe: Das [die Bildung säkularer Interessenorganisationen, FT] würde den sozialen Kampf eines neu sich bildenden fünften Standes mit allen unausweichlichen Folgen einer Entchristlichung nicht nur der Flüchtlinge, sondern natürlich auch der Einheimischen bedeuten.155

Während Seeberg die Bildung nichtkirchlicher Interessenorganisationen als bedenklich bewertete, begrüßte sie allerdings landsmannschaftliche Zusammenschlüsse, die nicht primär materielle Interessen verfolgten.156 Die ersten Tagungsberichte und Satzungsentwürfe der Forschungsstelle wiesen insgesamt eher einen programmatisch-normativen Anspruch auf, der sich klar gegen die Säkularisierung im Gesamten wie die Bildung säkularer Interessenorganisationen im Besonderen richtete und in einer Rechristianisierung der Vertriebenen einen Beitrag zur Wiederherstellung des sozialen Friedens erblickte. Diese Skepsis deckte sich allerdings auch mit der Einschätzung des OKAs, in dem überwiegend selbst vertriebene Kirchenfunktionäre vertreten waren. Der OKA sah in den Vertriebenenverbänden ebenfalls ein Symptom für eine „Radikalisierung und eine Aufspaltung der deutschen Volksgemeinschaft.“157 Als Gegenrezept empfahl er die Entsendung von „Einzelpersönlichkeiten in christlicher Verantwortung“ in die „Gesamtvertretung der Ostvertriebenen.“158 Insgesamt hatten die Akademietagungen eher das gesellschaftliche Gefahrenpotential der Vertriebenen als ihre Interessen im Blick.159 Gelegentlich wurde allerdings auch einzelnen Vertriebenen Gelegenheit gegeben, über alltägliche Schikanen zu berichteten.160 154 Zur Entstehungsgeschichte der ausgesprochen heterogenen Vertriebenenorganisationen siehe Kossert, Heimat, 139–164. Bereits 1945 gründeten sich die ersten Flüchtlingsorganisationen, die aber in der Illegalität operieren mussten und nur über begrenzte Wirkungsmöglichkeiten verfügten. 1947 erhielten bereits die ersten Organisationen Lizenzen. Hierzu ebd., 139 f. und 142. Zwischen Juli 1948 bis in die 1950er Jahre hinein begannen sich die Landsmannschaften als überregionale Verbände zu firmieren. Im April 1949 bildeten sich zwei überregionale Dachverbände heraus: Die „Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften (VOL)“ und der von Linus Kather begründete „Zentralverband der vertriebenen Deutschen (ZvD)“, der die sozialpolitischen Interessen vertreten sollte. Die scharfen Interessenkonflikte zwischen diesen beiden überregionalen Organisationen konnten erst 1957 behoben werden, als sich beide Organisationen zum Bund der Vertriebenen (BdV) zusammenschlossen. Siehe ebd., 143 f. 155 Bericht. Arbeitstagung über Flüchtlingsfragen der Forschungsstelle der evangelischen Akademie Hermannsburg vom 12.–19. 11. 1948 (LKA Hannover, N 57 Nr. 6). 156 Das geht hervor aus: ebd. 157 Bericht über die Sitzung des OKAs am 1. 12. 1948 in Bethel (ADW Berlin ZB 886). 158 Ebd. Wambach, der keinen Archivort angibt, führt dieses Zitat auf die EKD zurück, was allerdings so nicht richtig ist. Vgl. Wambach, Verbändestaat, 31. 159 Treidel, Akademien, 152. 160 So berichtete „Die Zeit“. Siehe Moltor, Jan: Ist die große Stunde der Kirche gekommen? In: Die Zeit, 30. 10. 1947, 3. In den Tagungsprotokollen schlug sich dies allerdings nicht nieder.

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Die von Stella Seeberg profilierte Identifizierung von Interessenvertretung, Säkularisierung und sozialem Kampf wurde allerdings nicht von allen Tagungsteilnehmern geteilt. Der sozialdemokratische Politiker, Pastor und spätere Landesminister Heinrich Albertz kritisierte bereits auf der Hermannsburger Flüchtlingstagung von 1947 die „klassenkämpferische These“ und bemängelte, dass keine „positive Formulierung“ gefunden worden sei, die der „Flüchtlingsmasse“ signalisiere, dass „sie als entwurzelte Masse erkannt wird, und dass sie nun positiv in die neue Gemeinschaft aufgenommen werden soll.“161 Der sozialdemokratische Pastor, der in der Kombination Pfarrer, Politiker und Sozialdemokrat in der überregionalen Presse gleichermaßen als Kuriosum wie Faszinosum wahrgenommen wurde162, hielt, wie er ein Jahr später in Hermannsburg ausführte, die „Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen“ in „gewerkschaftsähnlicher Form“ vielmehr für „wünschenswert.“163 Der Pastor zeigte sich in seiner Korrespondenz mit Seeberg und Lilje tief enttäuscht über die Hermannsburger Tagung. Denn er habe mit der Akademie die „letzte Hoffnung verbunden, dass hier innerhalb der Landeskirche der letzte Ort geschaffen würde, an dem an den Vertriebenen wirkliches Verständnis erweckt werden“ könne.164 Die Unterstellung klassenkämpferischer Tendenzen lehnte Albertz ab, weil diese mit der Diskreditierung der wirtschaftlich-materiellen Interessen einherging und zu Unrecht „sozialen Kampf“ mit „Kampf gegen Christus“ gleichsetze.165 Wie Seeberg interpretierte auch Albertz die Vertriebenenfrage vor dem Hintergrund der Sozialen Frage des 19. Jahrhunderts, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Man geht bewusst oder unbewusst denselben Weg, den die Kirche in ihrer Stellung zu den sozialen Kämpfen der Arbeiterschaft gegangen ist, und meint auch heute noch, sozialen Kampf verwechseln zu müssen mit einem Kampf gegen Christus.166

Für Albertz beinhaltete „wirkliches Verständnis“ im Umkehrschluss, dass auch die materiellen Forderungen der Vertriebenen akzeptiert und ein „sozialer Kampf“ unter Umständen begrüßt werde. Dabei sprach der Pfarrer der Kirche insgesamt das Recht ab, sich für oder gegen die Revolution zu positionieren: 161 Ebd. 162 Die ZEIT nannte Albertz einen „seltsamen Fall“ und bezeichnete ihn als „einen weißen Raben.“ An anderer Stelle nannte sie ihn „unbestreitbar eine[n] der interessantesten Männer dieser Tagung“ (ebd.). 163 Bericht über die Arbeitstagung über Flüchtlingsfragen der Forschungsstelle der evangelischen Akademie Hermannsburg vom 12.–19. 11. 1948 (LKA Hannover N 57 Nr. 6). Die Forderung einer „geschlossenen Front der Flüchtlinge“ hatte Albertz auf der Tagung 1947 erhoben, diese sei aber unter den Pfarrern nicht auf einhellige Zustimmung gestoßen (Moltor, Jan: Ist die große Stunde der Kirche gekommen? In: Die Zeit, 30. 10. 1947, 3). 164 Schreiben von Heinrich Albertz an Stella Seeberg vom 13. 12. 1948 mit Abschrift an Landesbischof Hanns Lilje (LKA Hannover N 57 Nr. 6). 165 Ebd. 166 Ebd.

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Es wäre äußerst interessant zu erfahren, woher die Konferenz ihr christliches Recht abgeleitet hat, die zu einer sozialen Explosion drängende Entwicklung aufzuhalten. Ich glaube, dass [sic] die Kirche kein Recht hat, sich für oder gegen die Revolution zu entscheiden.167

Albertz lehnte also nicht das Deutungsmuster der sozialen Frage oder des „sozialen Kampfes“ als solches ab, sondern eine spezifische, von der Hermannsburger Akademie bzw. von Seeberg profilierte pejorative Lesart, die das Deutungsmuster der „sozialen Frage“ mit der Säkularisierungsthese in Verbindung brachte und eine Interessenorganisation damit diskreditierte. Eine Klassenbildung als Instrument zur Durchsetzung einer sozial gerechten Gesellschaft begrüßte er durchaus. 1948 forderte er die Vertriebenen während einer Versammlung in Kiel dazu auf, „[…] nüchtern und revolutionär zu denken, in den Handlungen zur Durchführung der Flüchtlingsforderungen radikal zu sein.“168 Albertz’ Hoffnung auf eine wirksame Interessenorganisation und seine Revolutionserwartung erfüllte sich jedoch nicht, was er auch den Vertriebenen selbst zuschrieb. 1949 referierte der Minister auf einer vom Ökumenischen Weltkirchenrat einberufenen Tagung zur „sozialen Lage“ der Flüchtlinge.169 Hatte Albertz 1948 die Verurteilung einer Klassenbildung, die überkommene Sozialhierarchien infrage stellte und die Grundlage einer sozialen Neuordnung sei, abgelehnt, glaubte er ein Jahr später die gegenläufige, von ihm beklagte Tendenz einer sozialen Statusrestauration zu entdecken. Die im Aufbau begriffenen Flüchtlingsorganisationen waren ein Indiz dafür, dass [sic] die verschiedenen sozialen Herkunftsgruppen verschiedene Anschauungen von ihrem eigenen Schicksal haben und verschiedene Lösungen als gangbar anpreisen […], dass selbst der furchtbare Vorgang der Vertreibung die sozialen Unterschiede unter den Vertriebenen nicht so restlos auslöschen konnte, dass das Bild der sozialen Vergangenheit verloren gegangen wäre. […] Nur von daher ist auch zu erklären, dass die meisten unter den Flüchtlingen um die Wiederherstellung ihrer sozialen Vergangenheit kämpfen, ohne dass wesentliche Anhaltspunkte zu einem völlig neuen Anfang der verschiedenen Berufsgruppen unter den Flüchtlingen zur Geltung kommen. Die Erfahrung der Besitzlosigkeit strebt natürlicherweise nach dem bisherigen Besitz zurück, und nur die wenigsten haben den Mut, aus dieser Erfahrung Konsequenzen für eine Neuorientierung ihrer sozialen Formen von Grund auf zu ziehen. Der leidenschaftliche Wille in den Forderungen der Vertriebenen, im Lastenausgleich wenigstens symbolisch eine

167 Ebd. 168 Nach Xylander, Flüchtlinge, 175 f. 169 Hierzu existiert ein veröffentlichter Konferenzbericht: Hamburger Bericht. Zum Referat von Albertz: Ebd., 13–16. Das Referat publizierte Albertz zudem in der Zeitschrift „Evangelische Welt“. Siehe Albertz, Heinrich: Revolution oder soziale Neuordnung? In: EvWelt, 15. 3. 1949, 146–148.

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Die verlorene Gemeinschaft und die Entdeckung der Gesellschaft individuelle Schadensfeststellung vornehmen zu lassen, ist das deutlichste Zeichen für diese nicht verloren gegangene Grundeinstellung.170

Auch wenn zunächst alles für die Bildung eines „5. Standes“ zu sprechen schien, glaubte Albertz nun keine Anzeichen mehr zu entdecken, die auf eine neue Klassenbildung oder die Entstehung eines 5. Standes und damit eine neue Gesellschaftsordnung deuteten.171 Ebenso konnte auch keine Rede mehr davon sein, dass sich neue Sozialkategorien zur Beschreibung der Gesellschaft durchgesetzt hätten, die alle bisherigen Sozialkategorien relativierten.172 Damit sah Albertz auch seine Hoffnung auf eine soziale Neuordnung enttäuscht. Gerade wegen des Strebens der Vertriebenen nach Statusrestauration werde der Versuch, eine „gemeinsame politische Willensbildung der Masse“ herzustellen, scheitern, „ebenso wie die Hoffnung, dass [sic] der vertriebene Mensch zum Träger einer sozialen Neuordnung […] werden könnte, nüchtern gesehen, zum Scheitern verurteilt ist.“173 Dennoch wolle er weiterhin für die von ihm erhoffte soziale Neuordnung kämpfen, auch wenn die Versuche dieser Art „täglich unpopulärer“ würden.174 2.1.5 Der kritische Blick auf den Westen: Die modernekritische Gemeinschaft-Gesellschaft-Dichotomie in der soziologischen und theologischen Gesellschaftsdeutung Max Hildebert Boehm und Stella Seeberg Eine typische, weit verbreitete Denkfigur, die Eingang in die protestantische Gesellschaftsdeutung fand, war die dichotomische Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft, die auf die Gesellschaftstheorie des Soziologen Ferdinand Tönnies zurückging, den Unterschied zwischen modern-industriellen und traditionellen Gesellschaften zum Ausdruck brachte und dabei in der Regel eine antimodernistische Stoßrichtung aufwies.175 Dabei handelte es sich in der Regel nicht nur um die Gegenüberstellung verschiedener Gesell170 171 172 173 174 175

Hamburger Bericht, 14. Ebd., 13 f. Ebd. Ebd., 14. Ebd. Zu Tönnies Gesellschaftsverständnis siehe Riedel, Art. Gesellschaft, 854–857. Vgl. auch Tçnnies, Gemeinschaft; und Retterath, Volk, 62–64. In der NS-Zeit wurde auch diese Dichotomie gerne gebraucht und zugleich mit dem Führerprinzip in Verbindung gebracht. Siehe Hausmann, Termitenforschung, 62 f. Die Denkfigur einer Gesellschafts-Gemeinschafts-Dichotomie findet sich nicht nur bei Tönnies, auch wenn Tönnies besonders wirkmächtig war. Strukturell verwandte Denkmuster finden sich beispielsweise bei Hans Freyer oder Arnold Gehlen, aber auch bei Sozialethikern wie Heinz Dietrich Wendland. Vgl. Huber, Kirche, 467; Laube, Theologie, 23.

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schaftsentwürfe, sondern zugleich verschiedener gesellschaftsgeschichtlicher Stadien, die mit Ost und West in Verbindung gebracht wurden. Die Gegenüberstellung von ostdeutscher und westdeutscher Gesellschaft, die bei völkischen Denkern verbreitet war, findet sich beispielsweise in den Beiträgen des Volkstumsforschers und Soziologen Max Hildebert Boehm, der während der späten 1940er Jahre im Umfeld des Hilfswerks und des OKAs referierte und publizierte.176 Boehm, der dem jungkonservativen und konservativrevolutionären Spektrum der Weimarer Republik entstammte, war in den 1920er und 30er Jahren mit der Erforschung des „Grenz- und Auslanddeutschtums“ und der europäischen Nationalitätenkunde befasst.177 Diese Tradition hatte eine dezidiert politische Stoßrichtung, denn ihm ging es auch darum, die ethnisch homogen imaginierte auslandsdeutsche, als höherwertig erachtete Volksgruppe gegenüber den vermeintlichen Assimilationstendenzen der umgebenden Nationalstaaten zu verteidigen und selbst einen aktiven politischen Beitrag zum Volkstumskampf in Osteuropa zu leisten.178 Die volkspolitischen Ambitionen brachten ihm den Titel „Scharfmacher der 30er Jahre“179 ein. 1933 übernahm der prominente Verfechter der Volkskunde und Volkspolitik die eigens geschaffene Professur für Volkstheorie und Volkstumssoziologie an der Universität Jena und wurde Vorsitzender des neu geschaffenen Seminars für „Volkstheorie und Grenzlandkunde.“180 Während der 1940er Jahre geriet er allerdings allmählich in einen Konflikt mit den nationalsozialistischen Machthabern oder einzelnen nationalsozialistischen Akteuren.181 176 Ausführlicher hierzu siehe unten 206–215. 177 Prehn, Gesichter, 124–126; Pohl, Soziologen. Zum Nutzen der Biografieforschung für die Wissenschaftsgeschichte siehe Szçllçsi-Janze, Lebens-Geschichte. 178 Prehn, Gesichter, 131 f. Seine Rolle hierbei ist umstritten. Während Nolte Boehm als „Scharfmacher der 30er Jahre“ bezeichnet, schreibt Klingemann, dass sich Boehm auch für das Existenzrecht nichtdeutscher Volksgruppen ausgesprochen habe. Daher sei umstritten, inwieweit Boehms Konzepte die ideologischen Grundlagen des NS-Volksgruppenrechts waren. Vgl. Nolte, Ordnung, 227. Zur Kritik daran: Klingemann, Soziologie, 132. Auch die Auffassung einer Minderwertigkeit der slawischen Rasse habe Boehm nach Klingemann nicht geteilt. Siehe ebd., 48. Angesichts seiner nach 1945 erschienenen Beiträge, in denen Boehm vor einer „Blutsmischung“ von Slawen, Ost- und Westdeutschen warnte, erscheint dies jedoch nicht ganz plausibel. Vgl. z. B. Boehm, Max Hildebert: Denkschrift Flüchtlingsproblem in ökumenischer Verantwortung (ACSG L neburg AR 12/5). 179 Nolte, Ordnung, 227. Zur Kritik daran: Klingemann, Soziologie, 132. 180 Prehn, Gesichter, 133. Die Universität Jena, deren NS-Geschichte früher begann als die anderer Universitäten, avancierte zu einem Sammelbecken nationalsozialistischer Ideologen und Wissenschaftler. Fächer wie Rassekunde oder völkische Soziologie waren hier besonders stark vertreten. Hierzu Dyk/Schauer, Soziologie, 62 f. In Jena fanden die Tagungen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie statt, in der die völkisch-nationalsozialistische Ideologie unter der Führung von Hans Freyer organisiert war. 181 Klingemann, Soziologie, 139–145. Eine Rolle spielte Boehms Kritik an Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts.“ Akteure aus der thüringischen Wissenschaftspolitik betrieben seinen Sturz, später auch Rosenberg selbst und der Sicherheitsdienst (ebd., 141). Szöllösi-Janze weist auch auf die permanenten Verschiebungen im Machtgefüge des NS hin. Wissenschaftliche Gestaltungsspielräume hingen auch davon ab, ob die Wissenschaftler „den richtigen Partner

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Sein wissenschaftliches Streben galt dem Versuch, eine Theorie des Volkes zu begründen, die gegen die „Massengesellschaft“, „Westlertum“, Individualismus und das Konzept der Staatsbürgernation gerichtet war und einen Beitrag zur Stiftung einer „deutschen Kollektividentität“ leisten sollte.182 Zwar konnte Boehm, als „Souffleur der Macht“ diskreditiert, nach 1945 nicht mehr an seine akademische Karriere anknüpfen, er blieb aber ein einflussreicher Publizist, der die ethno- und ordnungspolitischen Diskurse um die Neuordnung Europas bis in die 1960er Jahre hinein mitgestaltete und der zudem über exzellente Netzwerke in die Bundespolitik hinein verfügte.183 Sein wichtigstes Projekt der Nachkriegszeit war die 1951 gegründete, am Vorbild der evangelischen Akademien ausgerichtete Nordostdeutsche Akademie, die sich der Bewahrung und Erhaltung des ostdeutschen Erbes verschrieb und das politische Ziel verfolgte, die ostdeutschen Eliten zu sammeln und auf die Rückkehr in den deutschen Osten vorzubereiten.184 Nach 1945 begann Boehm mit umfangreichen „semantischen Umbauarbeiten“, um an frühere Entwürfe anknüpfen und sich als Experte für den demokratischen Staat empfehlen zu können. Diese erweisen sich allerdings bei genauerem Hinsehen weniger als inhaltlich-konzeptionelle Umbauarbeiten als vielmehr als „Neuetikettierungen“ und „oberflächliche Transformationen“.185 Boehm argumentierte nach 1945 zwar nicht explizit in den Kategorien Gesellschaft und Gemeinschaft, allerdings lag seinen Ausführungen ebenfalls ein strukturverwandtes dichotomisches Gesellschaftsverständnis zugrunde, das auf den Unterschied von moderner und nicht moderner Gesellschaft rekurrierte. Bei Boehm verband sich diese dichotomische Denkfigur mit einer scharfen Abwertung des industrialisierten Westens. Die Vertreibung war für Boehm eine „Fortsetzung der Industrialisierung.“186 So sprach er von den

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185 186

im Machtpoker gefunden hatten“ (Szçllçsi-Janze, Wissensgesellschaft, 306 f.). Diese Konflikte hielten Boehm nicht davon ab, nach 1945 für angeklagte Kriegsverbrecher wie den SSOffizier Ulrich Richard Greifelt Partei zu ergreifen. Das geht hervor aus: Schreiben von Max Hildebert Boehm an Werner Otto Hentig, 13. 3. 1948 (BArch Koblenz N 1077/4). Ausdruck dafür ist sein Hauptwerk mit dem Titel „Das eigenständige Volk.“ Hierzu Boehm, Volk. Zur Einordnung siehe Prehn, Volk, 58 f.; und ders., Gesichter, 131. Vgl. auch Klingemann, Volkstheorie. Zitat: Prehn, Kaderschmiede, 242. Zur Nachkriegsbiografie: Prehn, Gesichter, 129. Als Beispiel für seine Netzwerke kann Boehms Freundschaft mit Bundespräsident Heuss gelten. Siehe Prehn, Boehm, 241, 306 und 407. Prehn, Kaderschmiede, 243 f. Die Akademie wurde dabei großzügig vom Ministerium für gesamtdeutsche Fragen unterstützt. Weitere Unterstützung erhielt er durch Hans Lukaschek, Ottomar Schreiber und den Präsidenten des Hauptamtes für Sozialhilfe, Boehms deutschbaltischen Landsmann Manteuffel-Szoege. Prehn, Gesichter, 140 f. und 126. Boehm, Max Hildebert: Denkschrift Flüchtlingsproblem in ökumenischer Verantwortung (ACSG L neburg AR 12/5). Der Proletarier des 19. Jahrhunderts war für Boehm der „Vorläufer des wurzellosen Menschen von heute“, der Vertriebene ein „partikulares Sozialatom, analog zum marxistisch erzogenen Arbeiter.“

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Auswirkungen der stetigen Entwurzelungsvorgänge, die mit der Industrialisierung und Vergroßstädterung begannen und nun durch die Umsiedlungen in ein neues bedrohliches Stadium treten.187

Das Ergebnis der absichtlich durch „absolutistische Besatzungsbehörden“ vollzogenen Vermassungs- und Atomisierungspolitik war für Boehm eine soziale und ethnische Nivellierung, die eine Gefahr für die landsmannschaftliche Grundstruktur des deutschen Volkes war.188 Die Assimilation der Vertriebenen in die westdeutsche Industriegesellschaft und die dadurch in Kauf genommene „Vermassung und Entwurzelung“ habe „einen hohen Preis: Die Vertriebenen werden dadurch im Ofen des deutschen Industrialismus verheizt“, die Stammesstruktur zerstört – und damit die durch die Industrialisierung hervorgerufenen Auflösungstendenzen weiter verschärft.189 Zudem führe die soziale und ethnische Nivellierung zur Bildung homogener Klassen und in letzter Konsequenz zum Klassenkampf, der die Soziale Frage des 19. Jahrhunderts überlagerte.190 Nach Boehm war die Stammesstruktur in der westdeutschen Gesellschaft infolge der Industrialisierung bereits in der Auflösung begriffen, während die Ostdeutschen infolge der Vertreibung dieser gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung nun ausgesetzt würden. Dieser gesellschaftlichen Negativfolie stellte Boehm als Idealbild die Bewahrung der landsmannschaftlichen und sozialen Struktur gegenüber, die er integrationspolitisch für geboten hielt.191 Damit unterschied Boehm letztlich zwischen modernen und traditionellen Gesellschaften und beschrieb die moderne Industriegesellschaft aus einer Verlustperspektive. Boehm sprach zwar gelegentlich auch von „organisch gebundenen Dorfgemeinschaften als Hüterinnen von Sitte und Landesbrauch“192, im Wesentlichen hatte er aber ethnisch konnotierte, als organisch oder natürlich wahrgenommene Entitäten wie Volkstum oder Stamm sowie den „organischen Volkszusammenhang“ vor 187 Ebd. Ähnlich auch Boehm, Doppelgesicht, 172. 188 Ebd., 169–174. Anstoß der Kritik war das „undemokratische“ Koalitionsverbot. Die Formulierung „absolutistische Besatzungsbehörden“ entstammt Boehms Memorandum (Denkschrift Flüchtlingsproblem in ökumenischer Verantwortung, ACSG L neburg AR 12/5). 189 Boehm, Einschmelzung, 106. In diesem Zusammenhang bezeichnete er das deutsche Volk als „Krüppel unter den Völkern.“ An anderer Stelle sprach er von der „Einstampfung“ der „landschaftlich geprägte[n] und heimatlich gebundene[n] ostdeutsche[n] Stammestümer.“ Dabei seien „Kulturüberlieferungen von großer Geschichtstiefe abgerissen, deren Bedeutung für die abendländische Geistes- und Seelengeschichte kein Mensch leugnen kann“ (Ders.: Die ostdeutschen Stammestümer. In: ChrWelt, 26. 11. 1948). 190 Boehm, Einschmelzung, 106. 191 Auf einer Tagung der evangelischen Akademie Hermannsburg leitete Boehm die Arbeitsgruppe „Der Flüchtling in der Ordnung des Volkes“. Im Arbeitsbericht sprach sich die Arbeitsgruppe unter Boehms Leitung für eine Bewahrung der „landsmannschaftlichen Gliederung“ aus, weil es sich hierbei um eine natürliche Begebenheit handelte (Bericht über die Arbeitstagung über Flüchtlingsfragen der Forschungsstelle der evangelischen Akademie Hermannsburg vom 12.–19. 11. 1948, LKA Hannover N 57 Nr. 6). 192 Boehm, Max Hildebert: Denkschrift Flüchtlingsproblem in ökumenischer Verantwortung (ACSG L neburg AR 12/5).

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Augen, der für ihn gefährdet war.193 In seinen modernekritischen Gesellschaftsdiagnosen sind allerdings auch Inkohärenzen zu bemerken: Einerseits befürchtete er, dass der durch die Industrialisierung ausgelöste Vermassungsund Zersetzungsprozess, der die westdeutsche Stammesstruktur bereits zerstört habe, nun auch die bis zum Vertreibungsgeschehen intakten Stammesstrukturen der Ostdeutschen zerstöre. Andererseits behauptete Boehm, dass die Umsiedlungen und Vertreibungen die intakte westdeutsche Stammesstruktur zu zerstören drohten. Er ging folglich davon aus, dass die „westdeutschen Stämme“ intakt seien.194 Es handelt sich wohl weniger um eine kohärente Integrationstheorie als um einen diffusen, mit völkischen Versatzstücken gepickten Krisendiskurs, der sich in die Kontinuität seines völkischen Denkens einordnen lässt und seine „volksdeutsche Arbeit“, die er wiederbeleben wollte, legitimieren sollte.195 Eine ähnliche dichotomische, allerdings weniger drastisch formulierte Gegenüberstellung findet sich bei Stella Seeberg.196 Zentral war auch hier die Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft.197 Den Gemeinschaftsbegriff bezog die wie Boehm aus dem Baltikum stammende Soziologin primär auf die auslandsdeutschen Vertriebenengruppen und insbesondere auf die Baltendeutschen: „Die Balten lebten noch in Gemeinschaften, die alle Bereiche ihres Lebens umfassten und sich noch nicht in Gesellschaften aufgelöst hatten.“198 Dagegen lebten die Westdeutschen „nicht in Gemeinschaftsverbänden“, sondern seien „in Gesellschaften zusammengefasst, in denen es weniger zusammengehörige Gruppen gibt.“199 Die in Ostdeutschland vorherrschende Gemeinschaft war für Seeberg durch eine „unmittelbare Zusammengehörigkeit auf allen Gebieten“, feste und kleinräumige Dorfgemeinschaften und eine stärkere Identifizierung von „Kirche und Welt“ charakterisiert und fand ihren Ausdruck im „glaubenden Suchen“ und dem „Erleben echter Gemeinschaft.“200 In einem Arbeitsbericht für den Landesbischof von 1957 attestierte Seeberg dem Westen Phänomene wie Liberalisierung und Säkularisierung, die pejorativ konnotiert waren.201 Dem Liberalismus samt seiner Werte wie 193 Boehm, Einschmelzung, 106; und ders., Kirche, 31. Boehm beschrieb „Volk“ in einem biologistisch-organologischen Vokabular. Siehe ebd.; und ders.: Denkschrift Flüchtlingsproblem in ökumenischer Verantwortung (ACSG L neburg AR 12/5). Ausführlicher hierzu siehe unten 99–121 und 206–215. 194 Ebd. 195 Ausführlicher hierzu unten 99–121 und 206–215. 196 Seeberg, Landvolk, 65–74; und dies., Vertriebenen. In: Zeitwende, 687–694. 197 Das geht aus dem Artikel „Gemeinschaft“ im ESL hervor. Vgl. Seeberg, Art. Gemeinschaft. In: ESL 41963, 463. 198 Seeberg, Vertriebenen. In: Zeitwende, 687. 199 Ebd., 691. Ganz ähnlich argumentierte später Klaus von Bismarck. Vgl. Bismarck, Heimat, 72. 200 Seeberg, Vertriebenen. In: Zeitwende, 691 f. Auch Seeberg ging von einer Identität von Kirche und Volkstum bei den auslandsdeutschen Gruppen aus. Ausführlicher hierzu unten 112–121. 201 Seeberg, Stella: Bericht für den Landesbischof vom 17. 3. 1958 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1120).

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„Vernunft, Fortschritt, Unglaube“ und „Freiheit des Einzelnen“ stellte Seeberg „Gemeinschaft, Tradition, christlicher Glauben“ sowie „Heimat oder Volkstum“ gegenüber, die nach Seeberg erst im Nationalsozialismus zur Ideologie geworden seien und nun rehabilitiert werden sollten.202 Während diese sogenannten traditionellen Werte im Prinzip legitime, allerdings durch den NS missbrauchte Werte waren, wurde der Liberalismus von vornherein als Ideologie abqualifiziert, da er an den Menschen dieselben „Totalitätsansprüche“ stelle „wie der Marxismus.“203 Zugleich machte sie den Liberalismus für die Säkularisierung des Westens verantwortlich.204 Da Liberalisierung und Säkularisierung vor allem westliche Phänomene waren, waren sie zugleich auch konstitutive Merkmale für die Unterscheidung von westlicher Gesellschaft und östlicher Gemeinschaft: Gegenüber den aus dem säkularisierten Westen stammenden Ideologien wie Vernunft, Fortschritt und Freiheit des Einzelnen wurden unter Führung der Kirche traditionelle Werte wie Gemeinschaft, Volkstum und Heimat gepflegt […]. So standen sich in West- und Ostdeutschland einerseits und in Industrie- und Landwirtschaft andererseits Fortschrittsideologie und Traditionsbewahrung gegenüber. In der NS-Zeit nahm auch sie den Charakter einer Ideologie an.205

Wie bereits dargestellt, war die Diagnose eines umfassenden Entchristlichungs- und Entkirchlichungsprozesses konstitutiver Bestandteil ihrer Integrationsvorstellungen und Gesellschaftsdeutungen.206 Seeberg interpretierte die Vertriebenenproblematik auch in ihren späteren Beiträgen im Horizont der Säkularisierungsthese, die sie mit der westlichen Gesellschaft in Verbindung brachte. Allerdings hatte die Diagnose einer Säkularisierung im Laufe der Zeit ihr gesellschaftliches Bedrohungspotential verloren. Der Frage der kirchlichen Eingliederung der Vertriebenen wurde nun ein beispielhafter Charakter für den Umgang mit Kirchenfremden im Allgemeinen zugesprochen, ohne dass das Säkularisierungsnarrativ mit einem gesellschaftlichen Bedrohungspotential in Verbindung gebracht wurde.207 In den Ausführungen Seebergs deutet sich eine Verlustperspektive auf die westliche Gesellschaft an. 202 Ebd. Hieran zeigt sich eine Kontinuität zu ihren vor 1945 entstandenen Texten. Siehe v. a. unten 179–193. 203 Ebd. So hieß es: „Die liberalistische Wirtschaftsordnung stellt dieselben Totalitätsansprüche an den Menschen. Sie lasse keinen Raum für den Herrschaftsanspruch Gottes und die menschliche Würde.“ 204 Ebd. Eine ähnliche Zuordnung von Westen und Säkularisierung findet sich bei Boehm, der auf die Bedeutung der Mission und Christianisierung in Osteuropa verwies und forderte, die Vertriebenen als „regulatives Evangelisationsorgan der Gesamtkirche“ zu betrachten, um der Säkularisierung des Westens zu begegnen (ders.: Glaube, Volkstum und Grenzlandkirchen. Vortrag auf der Tagung des OKAs am 15. 1. 1947 in Bethel, ADW Berlin ZB 886). 205 Seeberg, Stella: Bericht für den Landesbischof vom 17. 3. 1958 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1120). 206 Vgl. oben 85–90. 207 Ebd.

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Andererseits konnte Seeberg diese Verlustperspektive zum Teil ablegen. Jedenfalls erblickte die Agrarsoziologin in der Dorfgemeinschaft nicht per se die bessere Gesellschaftsform. In ihrem 1954 entstandenen Artikel für das ESL wies sie auf den desintegrierenden und exkludierenden Charakter enger Gemeinschaften hin; zudem kam sie in einem 1956 entstandenen Gutachten zu dem Ergebnis, dass die Beschäftigung von vertriebenen Landwirten in der Industrie nicht zwangsläufig zur Vermassung und Proletarisierung führe.208 Im Kontext der Konsolidierung der Verhältnisse erklärte sie die Traditionsbewahrung, die in den späten 1940er Jahren noch das Gegenrezept zur Vermassung war, nun für obsolet: Anfangs erschien es den Verantwortlichen, daß es unter allen Umständen darauf ankam, die Tradition im Hinblick auf einen Neuen Anfang nach der Rückgewinnung der Heimat zu pflegen; je länger die Zeit nach dem Zusammenbruch verstreicht, desto weniger kann eine solche Aufgabe im Hinblick auf die Zukunft Bedeutung haben, und desto mehr ist es auch den Kindern und den Vertriebenen im arbeitsfähigen Alter gelungen, in das wirtschaftliche und kirchliche Leben Westdeutschlands hineinzuwachsen, falls sie nicht vom westdeutschen Säkularisierungsprozess erfasst wurden.209

Dichotomische Denkfiguren in der protestantischen Theologie Auch die Protagonisten der evangelischen Vertriebenenarbeit im OKA griffen auf die gesellschaftsgeschichtlich interpretierte Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft und organologische Ordnungsentwürfe zurück, die in unterschiedlichen Begrifflichkeiten artikuliert wurden. Der deutschungarische, d. h. volksdeutsche Pastor Spiegel-Schmidt, langjähriger Geschäftsführer des OKAs, attestierte den Ostvertriebenen „mit ihrer starken bäuerlichen Struktur“ eine „natürlich gewachsene Gesellschaft“, in die der „moderne Technisierungsprozeß noch nicht eingedrungen ist.“210 Daher sei der „Prozeß der Wiederbeheimatung“ auch der „Übergang in eine ganz andere Gesellschaftsstruktur.“211 Dies beschrieb der Theologe allerdings nicht nur aus einer Verlustperspektive heraus, sondern er lenkte den Blick auf das integrative Potential der modernen Industriegesellschaft, und zwar sowohl hinsichtlich der Arbeitsmöglichkeiten als auch in kultureller oder mentaler 208 Zu Kritik an der Dorfgemeinschaft: Seeberg, Stella, Art. Gemeinschaft. In: ESL 1954, 465–467, 466. Zu ihrem Gutachten siehe Dies.: Vertriebene Bauernfamilien in der Industrie. Untersuchung von 100 vertriebenen Bauernfamilien in der Grafschaft Bentheim [Gutachten für das Landwirtschaftsministerium], Loccum 1956 (EZA Berlin 512/67). Ausführlicher hierzu siehe oben 64–71 sowie unten 141f. und 179–193. 209 Seeberg, Stella: Bericht für den Landesbischof vom 17. 3. 1958 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1120). 210 Spiegel-Schmidt, Beobachtungen, 155. 211 Ebd., 157. Siehe auch unten 215–218.

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Hinsicht.212 Der Theologe Herbert Girgensohn suchte in einem Grundsatzreferat von 1959 nach einer Erklärung für das aus seiner Sicht mangelnde Verständnis der Westdeutschen für den Heimatverlust der Ostdeutschen.213 Diesen Grund erblickte er in den unterschiedlichen Gesellschaftsformen und den daraus resultierenden Gesellschaftsauffassungen bei den West- und Ostdeutschen. In seinem Aufsatz unterschied Girgensohn zwischen „primären Gesellschaftssystemen“, die aus „gewachsenen, organischen Gliederungen“ bestünden, und „sekundären, künstlichen Gesellschaftssystemen“.214 Ähnlich wie bei Seeberg waren auch für Girgensohn sekundäre, künstliche Gesellschaftssysteme die im Westen vorherrschende Gesellschaftsform, während im Osten, also bei den Vertriebenen, die primäre organische Gesellschaft vorherrschend war.215 Diese Unterscheidung war für Girgensohn das Ergebnis einer gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung, die sich vor allem im Westen vollzogen hatte. Die Vertreibung erschien demnach als radikale Verdichtung und als Katalysator einer gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung: Von diesem Blickpunkt aus erscheint der Vorgang der Vertreibung als ein Stück der Wandlung vom primären zum sekundären System der Gesellschaft. Diese Wandlung aber vollzog sich nicht in ähnlicher Entwicklung durch die Industrialisierung, sondern abrupt, zunächst durch die radikale Vernichtung des primären Systems der Gesellschaft mit allen ihren bodenständigen, gewachsenen Gemeinschaften und Lebensformen. […] Daß die Problematik eines solchen plötzlichen Übergangs noch wesentlich größer ist, als die ohnehin schon bestehende Problematik bei der Industrialisierung der Gesellschaft, dürfte deutlich sein.216

Diese auf den Soziologen Hans Freyer zurückgehende Unterscheidung implizierte zunächst eine Verlustperspektive auf die westdeutsche Gesellschaft. Andererseits verschob sich die Blickrichtung auf die westdeutsche Gesell-

212 Spiegel-Schmidt, Beobachtungen, 157, 158. 213 Dieses wurde anschließend in der Zeitschrift „Der Remter“ publiziert. Siehe Girgensohn, Recht auf Heimat als seelsorgerliches Problem, 198; und ders.: Das Recht auf Heimat als seelsorgerliches Problem in der Gegenwart, o. D. (EZA Berlin 17/585). Ähnliche Gesellschaftsdiagnosen lassen sich auch in der evangelischen Sozialethik, z. B. bei Wendland finden. Auch Spiegel-Schmidt nannte Iwand als Beispiel für eine ähnliche Gesellschaftsdiagnose, gab aber keinen Fundort an. Vgl. Spiegel-Schmidt, Christ, 117 f. Ursprünglich ging diese dichotomische Gesellschaftsfigur auf Hans Freyer zurück. Vgl. Huber, Kirche, 467; und Laube, Theologie, 23. Brepohl unterschied damit korrespondierend zwischen traditionell-statischen und dynamischen Gesellschaften. Siehe Brepohl, Heimat, 25. 214 Girgensohn, Recht auf Heimat als seelsorgerliches Problem, 198. 215 Ebd. 216 Ebd. Ganz ähnlich identifizierte auch der Geschäftsführer des OKAs in einem sehr viel später entstandenen Aufsatz im Unterschied von ländlich-östlicher und industriell-westlicher Gesellschaft ein integrationshemmendes Moment. Vgl. Spiegel-Schmidt, Vertriebenen in der Gesellschaft, 152 f.

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schaft, in der mittlerweile viele Vertriebene Heimat gefunden hätten.217 Mit der dichotomischen Gegenüberstellung von primären und sekundären Gesellschaftssystemen, die zugleich einen Interpretationsrahmen für die gesellschaftlichen Folgen des Vertreibungsgeschehens bereitstellte, ging offenbar eine gewisse Akzeptanz der westdeutschen Industriegesellschaft einher. Immerhin wurde die Beheimatung im Westen als Möglichkeit in Betracht gezogen oder nicht als unmöglich verworfen. Einige Jahre später gebrauchte auch der in der kirchlichen Vertriebenenarbeit engagierte Jurist Ludwig Landsberg218 eine vergleichbare, strukturverwandte dichotomische Unterscheidung und reflektierte dabei die Integrationsfähigkeit der modernen Gesellschaft. Nach Landsberg warf die Vertreibung das Problem der Verhältnisbestimmung von „traditioneller“ und „sozial fortschrittlicher Gesellschaft“ auf.219 Landsberg unterschied zwischen innen- und außengeleiteten Gesellschaften: Innengeleitete Gesellschaften seien solche, die über klare Vorstellungen und Lebensprinzipien verfügten.220 Die Bundesrepublik sei jedoch eine industrialisierte, moderne und damit außengeleitete Gesellschaft, die über keine verbindlichen Ziele und Lebensprinzipien verfüge. Dies war hinsichtlich der Integrationsfähigkeit allerdings ein Nachteil, weil von einer außengeleiteten Gesellschaft ein größerer Konformitäts- und Anpassungsdruck ausging, der wiederum eine von Landsberg so bezeichnete „innere Eingliederung“ unmöglich mache:221 Deshalb ist der Gedanke Eingliederung ein Gedanke, der ins Nichts stösst; nämlich keiner von Ihnen kann mir sagen, worein ich eigentlich eingliedern soll. […] Die moderne Gesellschaft erwartete nichts anderes, und das ist das eigentliche Ziel und sollte das eigentliche Ziel sein, wenn man in der gesellschaftlichen Ent-

217 Girgensohn, Recht auf Heimat als seelsorgerliches Problem, 202. Zu Hans Freyer siehe Laube, Theologie, 23. Hans Freyer, der 1933 zum „Führer“ der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ gewählt wurde, war einer der führenden Soziologen in den 1920er und 30er Jahren und während des NS. Siehe Dyk/Schauer, Soziologie, 89–91. 218 Landsberg war Mitglied des Steinbacher Kreises und wurde 1969 in den Ostdeutschen Kulturrat berufen, lehnte die Berufung aber ab. Vor dem Landesvertriebenenbeirat in Nordrheinwestfalen und dem Beirat des Bundesvertriebenenministeriums profilierte er seine eigenen kulturpolitischen Vorstellungen. Siehe Landsberg, Ludwig: Referat über die Durchführung des § 96. Anhang zur Niederschrift über die Sitzung des Beirates für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen, 30. 10. 1963 (LAV NRW Duisburg BW 200, Nr. 234); ders.: Drei Diskussionsgrundlagen über Kulturarbeit, XII 1959 (LAV NRW Duisburg RW 305 Nr. 8); und ders.: Referat vor dem Kulturausschuss des Landesvertriebenenbeirats in Königswinter am 25. 6. 1962 (LAV NRW Duisburg RW 305 Nr. 9). 219 Ebd. 220 Ders.: Vortrag vor Ungarndeutschen, o. D. (LAV NRW Duisburg RW 305–10). 221 „Innere Eingliederung“ beinhaltete für Landsberg die Wahrung eigener Verhaltensweisen, Traditionen und kultureller Autonomie. Siehe Ders.: Referat vor dem Kulturausschuss des Landesvertriebenenbeirat in Königswinter am 25. 6. 1962 (LAV NRW Duisburg RW 305–9).

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wicklung den tatsächlichen Verhältnissen gerecht werden will, als dass die Menschen, die fremd hereinkommen, dass [sic] diese Menschen sich anpassen.222

Dieser Anpassungsdruck stelle die Vertriebenen deshalb vor besondere Herausforderungen, weil ihnen die dafür notwendigen, in der modernen Gesellschaft kultivierten Eigenschaften, „die man haben muss [sic], […] um dieser Gesellschaft mit ihren Anforderungen gerecht werden zu können“, fehlten.223 Für Landsberg gab es daher nur zwei Wahlmöglichkeiten: Diese Menschen haben im Grunde nicht die Wahl zwischen Eingliederung und Nichteingliederung, sondern es bleibt ihnen nur die Wahl zwischen Anpassung und Heimatlosigkeit. Wer sich nicht anpasst, wird notwendigerweise heimatlos und erleidet dieses Schicksal in vollem Masse [sic].224

2.2 Auf der Suche nach Gemeinsamkeit: Ethnonationale Selbstentwürfe und das Verhältnis von Einheit und Differenz Neben der Analyse von Integrationskonzepten und dahinterliegenden Gesellschaftsentwürfen ist die Frage von Interesse, inwieweit die Integrationsdebatten als nationale Identitätsdebatten zu verstehen sind. Unter Identität wird, wie dargelegt, die emphatische Behauptung von Zusammengehörigkeit verstanden.225 Das Bundesvertriebenengesetz zementierte die Zugehörigkeit der Vertriebenen zum deutschen Volk gesetzlich, indem es einen ethnonational und kulturell bestimmten Identitätsentwurf einer „Abstammungs- und Kulturnation“ formulierte.226 Dieses sogenannte ius sanguinis, das auch die Grundlage des Staatsbürgerschaftsrechts war, blieb bis zur Staatsbürger222 Ders.: Vortrag vor Ungarndeutschen, o. D. (LAV NRW Duisburg RW 305–10); und ders., Vertriebenen in der gesellschaftlichen Ordnung, 12. 223 Ders.: Vortrag vor Ungarndeutschen, o. D. (LAV NRW Duisburg RW 305–10). Konkret nannte Landsberg Eigenschaften wie „Geselligkeitstrieb, Liebenswürdigkeit, Freundlichkeit, Toleranz, Fair Play und Konformismus.“ 224 Landsberg, Ludwig: Vortrag vor Ungarndeutschen, o. D. (LAV NRW Duisburg RW 305–10); und ders., die Vertriebenen in der gesellschaftlichen Ordnung, 6. Von einer das Volkstum nivellierenden Wirkung der Industrialisierung sprach auch Spiegel-Schmidt, Wandlungen, 37. 225 Nach Willem und Hahn sei nationale Identität als emphatische Behauptung von Zugehörigkeit bei gleichzeitiger Unterschlagung von Differenz zu verstehen. Vgl. Willem/Hahn, Einleitung, 17 f. Auch wenn dies im 19. und frühen 20. Jahrhundert de facto der Fall gewesen sein mag, ist dieser Zusammenhang nicht zwangsläufig. So ist auch denkbar, dass plurale Gesellschaften die Zusammengehörigkeit bei gleichzeitiger Affirmation der Differenz zum Ausdruck bringen. Vgl. Piwoni, Identität, 46; und Hohenester/Gerhardt, Identität, 403–432. Vgl. auch oben 38–44. 226 Zitiert nach Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz) vom 19. 5. 1953. In: Bundesgesetzblatt vom 22. 5. 1953, Nr. 22(1953), 201–221, hier 204. Vgl. auch Pohl, Integration, 324.

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schaftsreform im Jahr 2000 in Kraft, als es durch ein „ius soli“ ersetzt wurde.227 Die Zugehörigkeit zum deutschen Volk bestimmte sich dem Bundesvertriebenengesetz zufolge über „Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur“; zudem war „deutscher Volkszugehöriger“, wer vor 1945 außerhalb der Reichsgebiete lebte und ein „Bekenntnis zum deutschen Volkstum“ abgelegt hatte.228 Das Gesetz formulierte die Volkszugehörigkeit offen und war demnach als Integrationsangebot an die vertriebenen Deutschen zu verstehen. Eine Debatte über die Zugehörigkeitsbedingungen oder die Diskussion alternativer Konzepte fand, soweit erkennbar, im Protestantismus nicht statt, was für die unausgesprochene Akzeptanz des im Bundesvertriebenengesetz formulierten nationalen Identitätsentwurfes spricht.229 Während die Zugehörigkeit der Vertriebenen zum deutschen Volk sowohl in den politischen Debatten als auch in den Auseinandersetzungen der kirchlichen Vertriebenengremien oder der westdeutschen Kirchenleitungen nicht in Abrede gestellt wurde, sind auf der Ebene des alltäglichen und zwischenmenschlichen Zusammenlebens gegenteilige Beispiele zu beobachten. In den alltäglichen, zwischenmenschlichen Integrationskonflikten wurde den Vertriebenen zuweilen das Deutsch-Sein abgesprochen und die Vertriebenen zumindest rhetorisch aus der Nation exkludiert. In den ländlichen Regionen rückten die Vertriebenen semantisch vielfach an die Stelle der ehemaligen, zumeist aus Osteuropa stammenden und deportierten Zwangsarbeiter.230 Solche Exklusionsrhetoriken resultierten nicht zuletzt aus dem Neid über die Gewährung von sozialstaatlichen Leistungen. Ein Beispiel dafür nennt der Historiker Andreas Kossert: Der Vorsitzende des Heidenheimer Haus- und Grundbesitzvereins ließ sich auf einer Versammlung 1950 zu einem „zweieinhalbstündigen Haßausbruch gegen 227 Ebd., 325. 228 Zitiert nach Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz) vom 19. 5. 1953. In: Bundesgesetzblatt vom 22. 5. 1953, Nr. 22(1953), 201–221, hier 204. 229 Die wenigen Beiträge, die gemeinsame nationale Eigenschaften oder Zugehörigkeitsbedingungen definierten, bestätigten in der Regel den Identitätsentwurf des Bundesvertriebenengesetzes als „Abstammungs-, Sprach- und Kulturnation.“ Teilweise war von einer „Gemeinschaft des Blutes“ die Rede oder Volk wurde als etwas „Lebendiges“, „Beseeltes“, „Individuelles“ oder „Organisches“ vorgestellt, das mit Charakter und Individualität ausgestattet war. Siehe z. B. Bartels, Heimat, 105; Kruska, Volk, 31; Spiegel-Schmidt, Probleme, 51; Brepohl, Heimat als Beziehungsfeld, 21; Lemberg, Reichsgedanke; und ders., Die Vertriebenen, 264. Auch Boehm, Einschmelzung; ders.; Doppelgesicht; und ders., Eingliederung. 230 Herbert erblickt jedenfalls Kontinuitäten zwischen der Wahrnehmung der aus Osteuropa stammenden Fremdarbeiter, den DP,s und den Vertriebenen. Allerdings habe es auch keine rassistischen und volkstumspolitischen Abwehrreaktionen gegeben. Vgl. Herbert, Ausländerpolitik, 197–200. Nach Beer seien die Vertriebenen als Ersatz für die weggefallenen Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft betrachtet worden. So jedenfalls Beer, Flucht, 112. Daneben wurden antipreußische Ressentiments mobilisiert. Die Vertriebenen wurden als Preußen diskreditiert, die eine besondere Mitschuld am NS trügen. Siehe Schwartz, Vertriebene und Umsiedlerpolitik, 20 f.

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Flüchtlinge hinreißen“, die „vor fünf Jahren noch gar keine Deutschen gewesen“ seien.231 Die Vertriebenen beherrschten „durch die politischen Parteien die übrige Bevölkerung“ und hätten den „Krieg gewonnen, den die Hausbesitzer, die man so behandelt wie die Juden im Dritten Reich, verloren hätten.“232 Solche krassen Ausgrenzungsrhetoriken mögen zwar eher die Ausnahme als die Regel gewesen sein und wurden auch staatlicherseits, hier vom Stuttgarter Innenministerium, sanktioniert233, sie illustrieren aber das Spektrum. Angesichts solcher Verweigerungshaltungen erklären sich die Solidaritätsrhetoriken, die die Schicksals-, Haftungs- und Risikogemeinschaft der Deutschen beschworen.234 Hierbei handelte es sich insofern um nationale Identitätsentwürfe, als normativ aufgeladene, verpflichtende Vorstellungen davon, was die nationale Gemeinschaft konstituierte und miteinander verband, zum Ausdruck gebracht wurden. Die Vorstellung einer Haftungs- und Schicksalsgemeinschaft und die damit verbundenen Solidaritätsrhetoriken, die einen Mangel an Solidarität feststellten, an die Opferbereitschaft der Einheimischen appellierten und als Mobilisierungsressource zu verstehen waren, gingen mit der Klage über den Verlust der Volksgemeinschaft einher. Vertriebene und Einheimische wurden demnach als ein Volk imaginiert, dessen moralisch-verpflichtender Zusammenhalt mit dem Ende des Krieges verloren gegangen war.235

231 Hier nach Kossert, Heimat, 103–105. 232 Ebd., 105. 233 Dafür wurde der Vorsitzende allerdings zu einer zweimonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Das geht hervor aus: Ebd. 234 Hierfür ließen sich unzählige Beispiele anführen. Vgl. Bericht über die Sitzung des OKAs am 1. 12. 1948 (ADW Berlin ZB 886); o. V., Entfaltung eines Konzepts der Forschungsstelle, o. D. (LKA Hannover L 3 II Nr. 25 Bd. 1); Seeberg, Stella: Der Dienst der Kirchen an den Heimatvertriebenen in unseren ländlichen Gemeinden. Vortrag auf einer Tagung des Lutherischen Weltbundes am 4. 9. 1951 (LKA Hannover N 14 Nr. 19); Albers, Lastenausgleich, 20; Wort der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Flüchtlingsfrage vom 13. 1. 1949, abgedruckt in Merzyn, Kundgebungen, 63; Bericht von Prof. Scheuner: Probleme des Lastenausgleichs, 17. 8. 1948 (ADW Berlin ZB 934); Gerstenmaier, Heimatlose. In: Ders, Reden, 81; Donath, Art. Lastenausgleich. In: ESL 1954, 650; ders., Art. Lastenausgleich. In: ESL 1963, 770–778; und ders.: Ist christliche Wirtschaftsordnung Utopie? Vortrag auf dem DEK am 1. 8. 1949 (EZA Berlin 71/1253). 235 „Volksgemeinschaft“ muss nicht zwangsläufig als NS-Propagandaformel, sondern kann Michael Wildt als sozial attraktives Inklusionsangebot verstanden werden. So sei nach Semantiken und Praktiken der kollektiven Vergemeinschaftung zu fragen. Für Wildt ist „Volksgemeinschaft“ ein Appell- und Suggestionsbegriff, der eine Mobilisierungsressource und ein kollektives Vergemeinschaftungsangebot darstellte und die auch nach 1945 aufgerufen worden sei. Vgl. Wildt, Volksgemeinschaft. Zudem wurden Volksgemeinschaftsvorstellungen gerade überparteilich gebraucht, so bei Linksliberalen und Sozialdemokraten, für die, als vaterlandslose Gesellen verunglimpft, die Volksgemeinschaftskonzeption ein sozial attraktives Inklusionsangebot war. Auch Retterath, Volk, 284–297. Malte Theißen gebraucht den Begriff explizit für die Nachkriegsgesellschaft, die sich als Schicksals- und Aufbaugemeinschaft verstanden habe. Vgl. Theißen, Zeiten. Gegenüber der NS-Zeit habe „Volksgemeinschaft“ nach

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2.2.1 Die Beschreibungskategorien „Volk und Volkstum“ als ordnungspolitische und integrationspolitische Begriffe Neben der Formulierung von Zugehörigkeitsbedingungen interessieren hier insbesondere die Begriffe und Kategorien, die die soziale, ethnonational und kulturell bestimmte Entität beschrieben und damit spezifische Vorstellungen, Entwürfe und Konzepte von Volk, Nation und dem Verbindenden zum Ausdruck brachten. Zur Beschreibung der sozialen Entität dominierten in den kirchlichen Vertriebenengremien die Begriffe Volk und Volkstum, die integrationspolitisch und ordnungspolitisch konnotiert waren, in denen sich aber auch eine Kontinuität des völkischen Denkens der 1920er und 30er Jahre zeigt.236 Letztlich wurde in diesen Begrifflichkeiten das Verhältnis von Pluralität und Homogenität, von Integrität und Differenz artikuliert. Demgegenüber spielte der Begriff der Gesellschaft als kollektive Selbstbeschreibungsfigur zumindest in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine untergeordnete Rolle. Zudem fand eine theologische Reflexion von Volk und Volkstum statt. Neben den Repräsentanten der evangelischen Vertriebenen setzten sich insbesondere die Soziologin Stella Seeberg und der Soziologe Max Hildebert Boehm mit Volk und Volkstum in integrationspolitischer und theologischer Hinsicht auseinander. Das vom OKA bevorzugte Integrationskonzept einer „gliedhaften Einfügung“, d. h. die Bewahrung der landsmannschaftlichen und sozialen Differenzierung, führte zu der Frage, welcher Stellenwert „Volk und Volkstum“ zuzusprechen sei. Max Ilgner, der mit der Planung der evangelischen Flüchtlingsstädte beauftragt war, strebte nach eigener Aussage die „wirtschaftliche Verwurzelung unter Erhaltung von Heimatgefühl und Volkstum“ an.237 Bei Max Hildebert Boehm, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit regelmäßig als Referent auf den Tagungen des OKAs zu Gast und in den 30er Jahren in der völkischen Bewegung aktiv war, waren die Begrifflichkeiten Volk und Volkstum biologistisch und organologisch aufgeladen; außerdem wurden die einzelnen deutschen Stämme idealiter als homogene Gebilde gedacht.238 Die häufig in Körpermetaphern beschriebene Entität Volk war bei Boehm offenbar auch mit einer eigenen Persönlichkeit, Individualität und einem 1945 ihren lebensbedrohenden Exklusionscharakter verloren. Explizit begegnet der Begriff Volksgemeinschaft in den Quellen selten. 236 Zur Dominanz des völkischen Denkens in den 1920er Jahren und zur Dominanz im Bildungsbürgertum siehe die beiden jüngst erschienenen Arbeiten: Vordermayer, Bildungsbürgertum; und Retterath, Volk. 237 Wortbeitrag Max Ilgner. In: Entwurf. Niederschrift der Tagung des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen, 12.–14. 10. 1952 (EZA Berlin 17/701). 238 So bezeichnete Boehm die Vertreibung als „Sozialexperiment am deutschen Volkskörper“ und als „vivisektorischen Eingriff in die Struktur des deutschen Volkes“ (Boehm, Max Hildebert: Denkschrift Flüchtlingsproblem in ökumenischer Verantwortung, ACSG L neburg AR 12/5).

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Charakter ausgestattet.239 Daraus leitete er, in Kontinuität zu seiner „Volkstumsarbeit“ der 1920er und 30er Jahre, Schutzrechte von „Volk und Volkstum“ ab, die mit der Vertreibung verletzt worden seien.240 Denn mit der Vertreibung sei das „Recht des omnipotenten Staates“ anerkannt worden, „ein anderes auf seinem Territorium verbleibendes Volkstum oder eine Persönlichkeit zwangsweise zu assimilieren oder zu entnationalisieren.“241 Die Problematik der Spannung von „völkischer Identität“ und Assimilation, die Boehm während der 1920er und 30er Jahre beschäftigt hatte, schien sich unter den Bedingungen der westdeutschen, assimilatorischen Industriegesellschaft zu wiederholen, auch wenn sich die Vertriebenen nicht mehr in „fremdvölkischer“ Umgebung befanden. Zugleich betonte er die Zugehörigkeit der „ostdeutschen Volkstümer“ zum deutschen Volk, denn es handelte sich hierbei um „Typen“ und „Varietäten der deutschen Wesensart.“242 Explizit nahm Boehm in seinen Vorträgen vor dem OKA auf die innerkirchlichen Integrationsdebatten Bezug und forderte eine Erhaltung und Förderung der Ostkirchen, die das landsmannschaftliche Gliederungsprinzip unterstützen konnten.243 1951 fand eine Tagung der Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Heimatbünde statt, an welcher Vertreter beider Konfessionen und Akteure der nichtkirchlichen Vertriebenenarbeit und -politik, darunter der katholische Bundesvertriebenenminister Hans Lukaschek, teilnahmen.244 Die Tagung verfolgte die grundsätzliche Zielsetzung, die Begriffe Volk, Volkstum und Volksgemeinschaft zu legitimieren und zu rehabilitieren.245 Volk und Volks239 Boehm bezeichnete die Stämme als „psychologischen Typus“ und verwies auf die „Charakteristik der einzelnen Stämme“ (ders.: Die ostdeutschen Stammestümer. In: ChrWelt, 26. 11. 1948). An anderer Stelle umschrieb er „Volk“ als eine „überregionale und transregionale Individualität höherer Ordnung“, die „einmalig und unvergleichbar“ sei (Ders.: Denkschrift Flüchtlingsproblem in ökumenischer Verantwortung, ACSG L neburg AR 12/5). Insgesamt auch Prehn, Boehm. 240 Zu Boehms NS-Vergangenheit siehe unten 206–215. 241 Ders.: Denkschrift Flüchtlingsproblem in ökumenischer Verantwortung (ACSG L neburg AR 12/5). 242 Ebd. 243 Boehm, Max Hildebert: Volkstum und Glauben im Lichte der Ostkirchen. Notiz über die Tagung der Vertreter der Ostkirchen in Marburg, 1.–2. 5. 1947 (ADW Berlin ZB 886); Auch Ders.: Glaube, Volkstum und Grenzlandkirchen auf der Tagung des Ostkirchenausschusses am 15. 1. 1947 (ADW Berlin ZB 886). In der Regel beschrieb der Begriff „Volkstum“ die „Wesensart“ des gesamten deutschen Volks, das in verschiedene Stämme gegliedert sei. Zuweilen begegnet in der Quellensprache aber auch der Plural „Volkstümer“, um die einzelnen ostdeutschen Stämme oder die europäischen Völker zu beschreiben. Das Verständnis von Volkstum als vorstaatliche „Wesenheit eines Volkes“ oder als „Kollektivcharakter eines Volkes“ war verbreitet (Retterath, Volk, 39). 244 Das geht hervor aus: Bericht der Tagung der Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Heimatbünde am 19. 9. 1951 in Königswinter (EZA Berlin 607/122). 245 Das geht hervor aus: Entschließung der Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Heimatbünde auf der Tagung am 19. 9. 1951 (EZA Berlin 607/122). Der Vertreter der katholischen Vertriebenenarbeit, Wilhelm Tennert, aber auch Vertreter der weltlichen Vertriebenenarbeit wie

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tum wurden hier integrationspolitisch und ordnungspolitisch verstanden; die Bewahrung der ethnischen Differenzierung und die Verhinderung einer Verschmelzung sollten sowohl die Vertriebenen als auch die Gesamtgesellschaft vor der Vermassung und Nivellierung bewahren.246 In einer gemeinsamen Entschließung der Tagungsteilnehmer wurde auf die gemeinschaftsbildenden Kräfte des Volkstums verwiesen. Denn die „Ordnung im Volk und im Völkerleben“ könne nur erreicht werden, „wenn hierbei die im angestammten Volkstum liegenden Gemeinschaftskräfte berücksichtigt und aktiviert werden.“247 „Volkstumsarbeit“ war demnach am integrationspolitischen Ziel orientiert, die „Eigenheit“ der Vertriebenen zu erhalten, um „in echter Begegnung die westdeutsche Heimat in ihrer Geschichte und Eigenart kennen und lieben [zu] lernen.“248 Eine Assimilationspolitik, d. h. die Forderung einer „Aufgabe ihrer Eigenheit“, wurde als „Verrat am ostdeutschen Erbe“ scharf abgelehnt.249 Die verschiedenen ostdeutschen Stämme wurden in der Resolution als integraler und zugehöriger Bestandteil des gesamten deutschen Volkstums, als Gliederungsprinzip des deutschen Volkstums verstanden: Die Kraft des Volkstums ist die Kraft des gesamten Volkes. […] Das deutsche Volkstum, in Stämmen, Landschaften und Volksschlägen gegliedert, stellt für West- und Ostdeutsche auch heute einen unersetzlichen Wert dar.250

Sowohl Boehm als auch diese Resolution brachten damit ein ethnonationales Selbstverständnis zum Ausdruck und postulierten eine kollektive Zusammengehörigkeit: Das deutsche Volk war einerseits durch ethnisch-kulturelle Differenzierung charakterisiert, andererseits waren die verschiedenen Stämme oder Volksgruppen integraler Bestandteil eines ethnisch-kulturell imaginierten Volkes.251 Die Vertreter der katholischen wie der evangelischen Vertriebenenarbeit, die an dieser Tagung teilnahmen, stimmten der Zielsetzung der Tagung grundsätzlich zu. Der Vertreter der katholischen Vertriebenenarbeit, Wilhelm Trennert, bekräftigte den gesellschaftlichen Ordnungscha-

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Wilhelm Schulte argumentierten mit dem Begriff der Volksgemeinschaft. Siehe Referat von Wilhelm Schulte: Volkstumsarbeit: Dienst am Menschen, o. D.; und Wilhelm Trennert: Kirchliche Zusammenarbeit zwischen Einheimischen und Vertriebenen, o. D. (EZA Berlin 607/122). Ähnlich Kanika, o. V.: Zusammenarbeit zwischen Einheimischen und Vertriebenen in der Volkstumspflege, o. D. (EZA Berlin 607/122). Entschließung der Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Heimatbünde auf der Tagung am 19. 9. 1951 in Königswinter (EZA Berlin 607/122). Zumindest kann davon ausgegangen werden, dass die gemeinsame Resolution unter Mitwirkung und mit der Zustimmung Gehlhoffs zustande kam. Ebd. Ebd. Ebd. Diese Vorstellungen entsprachen denen des Bundesvertriebenenministers Theodor Oberländer, der von einem „Landsmannschafts- oder Stammesgarten“ sprach (Pohl, Integration, 336).

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rakter des Volkstumsbegriffs, denn eine „Aufgabe der Eigenständigkeit“ verursache eine „Nivellierung des Menschen“ und einen „Vermassungsprozess“, der wiederum den „Bolschewismus“ vorbereite.252 Eine volkstumsbasierte Integrationsstrategie war für Tennert ein Beitrag zur „Rettung des christlichen Abendlandes.“253 Landesflüchtlingspfarrer und Mitglied des OKAs Gerhard Gehlhoff repräsentierte die evangelische Vertriebenenarbeit und bekräftigte, in ordnungstheologisch-nationalprotestantischer Tradition, die „Bindung der Kirche an Volkstum und Heimatboden.“254 Die Kirche habe die Aufgabe, die „Volkstümer möglichst zu kräftigen, nicht aber auf eine Verschmelzung hinzuarbeiten“, nicht zuletzt, weil das „gesamte christliche Sein an die geschichtliche und landsmannschaftliche Eigenart des Menschen gebunden“255 sei. Andere Akteure aus dem Umkreis des OKAs griffen zwar ebenfalls auf die Begrifflichkeiten Volk und Volkstum zurück und plädierten für eine landsmannschaftliche Integrationspolitik, unterzogen diese Begriffe aber auch einer Relativierung. So hatten Girgensohn und Spiegel-Schmidt auf die Gefahren hingewiesen, die vom „Volkstum“ ausgingen.256 Die von Girgensohn aufgeworfene „Frage nach der Existenz der Ostkirche“ stelle nämlich „die Frage nach der völkischen Sonderart“, vor allem nach dem Recht ihrer Berücksichtigung auf dem kirchlichen Gebiet: „[Darf] die kirchliche Arbeit den Menschen als Glied seines Volkes, als Glied auch der besonderen Volksgruppe der Sondertradition, aus der er kommt, ansprechen […]?“257 Girgensohn, der sich während seiner Tätigkeit in Riga in den 1930er Jahren der Dialektischen Theologie zugewandt und dort zudem enge Kontakte zum linksprotestantischen Theologen Iwand unterhalten hatte,258 erkannte zwar infolge der Erfahrung des Nationalsozialismus die Problematik des Volkstums an, hielt jedoch aus seelsorgerlichen und integrationspolitischen Gründen daran fest, da er die Gefahr der Vermassung als gravierender bewertete:

252 Vortrag von Wilhelm Trennert: Kirchliche Zusammenarbeit zwischen Einheimischen und Vertriebenen (EZA Berlin 607/122). 253 Ebd. 254 Vortrag von Gerhard Gehlhoff: Kirchliche Zusammenarbeit zwischen Einheimischen und Vertriebenen ( EZA Berlin 607/122). 255 ebd. Zugleich relativierte er das Recht auf Heimat und verwies auf die irdische Heimatlosigkeit des Christen. 256 Siehe unten 112–121. Spiegel-Schmidt schwankte zwischen Legitimation und Kritik an der Kategorie Volkstum. Einzelnen Vertriebenengruppen attestierte er eine Zusammengehörigkeit von „Deutsch und Evangelisch.“ Vgl. Spiegel-Schmidt, Wandlungen, 28. Zugleich unterschied Spiegel-Schmidt zwischen den „Selbstgerechten“, die glauben, dass Gott nur ein Gott sei, wenn er ein „Gott des Vaterlandes“ sei, und den „Schuldbewussten“, die „gelernt haben, sich unter die gewaltige Hand des Gottes zu beugen.“ (ebd., 90). 257 Girgensohn, Herbert: Memorandum zur Frage der Eingliederung der Ostkirchen (ADW Berlin ZB 886). 258 Bitter, Umdeutung, 279 f.

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Es ist einfach eine Pflicht der christlichen Liebe, dem Gliede einer solchen Volksgruppe in der Vorwegnahme einer noch nicht erfolgten Vermassung nicht das Letzte zu nehmen, was er noch hat.259

Voraussetzung dafür war, dass das Volkstum „unter dem Evangelium“ stünde.260 Trotz struktureller und semantischer Parallelen gingen Volk und Volkstum bei Girgensohn und Boehm mit unterschiedlichen Vorstellungen und Bedeutungsaufladungen einher. Ein entscheidender Unterschied besteht darin, dass Girgensohn in der Vermischung der „Stämme“ keine gesellschaftliche Bedrohung erblickte. Für Girgensohn waren Volk und Volkstum keine Organismen, sondern er hielt eher aus seelsorgerlichen und integrationspolitischen Erwägungen daran fest und erkannte dabei die Problematik dieser Kategorien an. Auch die Vorstellung ethnisch-kultureller Homogenität schien bei Girgensohn eine geringere Rolle zu spielen, auch wenn er die heimatkirchlichen Gemeinschaften samt ihrer Traditionen grundsätzlich affirmierte. Denn Girgensohns Integrationsvorstellungen waren gegen die Separierung der Vertriebenen gerichtet und zielten langfristig auf die Gemeinschaftsbildung zwischen Vertriebenen und Einheimischen innerhalb der Gemeinde.261 Allerdings ist auch zu fragen, inwieweit sich diese Integrationsvorstellungen hinsichtlich der praktischen Konsequenzen unterschieden. Beide Konzepte legten die Traditionsbewahrung und -förderung nahe. Insgesamt changierten die Auseinandersetzungen mit Volk und Volkstum auf den Tagungen des OKKs. Die zweite Tagung des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen von 1952, die sich mit dem Thema „Heimat und Volkstum“ beschäftigte, verdeutlicht diese Ambivalenz aus Affirmation und Kritik.262 Im Vortrag von Friedrich Spiegel-Schmidt deutet sich eine kritische Perspektive auf die Kategorie Volkstum an. In seinem Bericht über seine Reise in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo er ausgewanderte deutsche Gruppen besuchte und sich mit deren Integration in die amerikanische Gesellschaft befasste, wies Spiegel-Schmidt darauf hin, dass sich gerade die „volksdeutschen Gruppen“ gut eingegliedert hätten und „ihre Zukunft in 259 Girgensohn, Herbert: Memorandum zur Frage der Eingliederung der Ostkirchen, 14. 2. 1947 (ADW Berlin ZB 886). Zu Girgensohns Kritik am Volkstum siehe unten 112–121. 260 Ebd. In einem vor dem OKK gehaltenen Vortrag lehnte auch Wendland die Schöpfungsordnung ab. Siehe Wendland, Heinz Dietrich: Gesamtüberblick über die Thematik von Evanston. Vortrag für die Tagung in Königswinter 1954. Anhang zum Schreiben von Heinz Dietrich Wendland an Friedrich Spiegel-Schmidt vom 10. 6. 1954 (EZA Berlin 17/707). 261 Zu Girgensohns Integrationsvorstellungen siehe oben 64–71. 262 Planungen zum Konvent am 12.–15. 10. 1952, Thema: Heimat und Volkstum (EZA Berlin 17/ 700). Auf der Tagung referierten der Historiker Gotthold Rohde zum Thema „Heimat, Volkstum. Ihr Wesen, ihre Entwicklung und ihre heutige Lage“, außerdem der aus Siebenbürgen stammende Theologe Erich Roth über „Heimat und Volkstum in christlicher Sicht.“ Im Mittelpunkt stand die Frage, ob Volkstum an Heimat gebunden sei (Entwurf. Niederschrift der Tagung des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen, 12.–14. 10. 1952, in Travemünde, EZA Berlin 17/701). Beide Referate sind nicht überliefert.

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Amerika“ sähen.263 Insgesamt sei er in Amerika zu der Erkenntnis gelangt, dass auch das Volkstum dem „Werden und Vergehen unterworfen“264 sei. Volk und Volkstum interpretierte er also als historisch gewordene, vergängliche Größe. Aus dem „Wesen des volksdeutschen Volkstumsschutzes draussen [sic]“ sei, so seine Beobachtung, dasselbe geworden, „was der Binnendeutsche Heimatpflege nennt.“265 Gegen die Vorstellung einer separierenden Volkstumsarbeit setzte Spiegel-Schmidt das „Leitbild der christlich-abendländischen Gemeinschaft.“266 Andererseits wollte auch Spiegel-Schmidt an den Kategorien Volk und Volkstum festhalten. Die Theologie solle die „Frage des Volkes nicht als belanglos oder erledigt ansehen, sondern diese Frage […] neu durchdenken.“267 Eine ganz ähnliche Tendenz weist die vorbereitende Tagung für die Ökumenische Vollversammlung in Evanston 1954 auf.268 Der Sozialethiker Heinz Dietrich Wendland aus Münster, der eines der Hauptreferate hielt, befasste sich mit der Frage, wie mit dem Fremden oder mit Minderheiten umgegangen werden könne.269 Für Wendland gab es, wie er mit Blick auf die „historischen Völkerverschiebungen der 1920er und 30er Jahre“ ausführte, drei Möglichkeiten, nämlich die der „Integration“, bei Wendland gleichgesetzt mit Assimilation, die des „Pluralismus“ und die der „Rassentrennung“, wobei er dem Modell der „Rassentrennung“ mit Blick auf Südafrika ausdrücklich auch positive Aspekte abgewann.270 Das abschließende Thesenpapier kritisierte die Tendenz der Völker, „ihre Gemeinschaft zu verabsolutieren“, zugleich sei aber auch der Negation der Unterschiede eine Absage zu erteilen.271 Vielmehr bestehe die „Bruderschaft“ darin, den anderen trotz seiner „Verschiedenheit“ zu achten.272 Die Vorstellung eines einheitlichen Menschheitsvolkes wurde als „gleichmacherische und assimilierende Ideologie“ abgelehnt.273 263 Ebd. Offenbar spielte das Vorbild der Einwanderungsgesellschaft USA eine gewisse Rolle. So glaubte Franz Hamm, ebenfalls engagierter Protestant und Mitarbeiter im Bundesvertriebenenministerium, am Beispiel der USA drei verschiedene Konzepte im Umgang mit kultureller, ethnischer und nationaler Differenz zu entdecken, die er als „Schmelztiegel, Völkermosaik und Völkerteppich“ bezeichnete. 264 Ebd. 265 Ebd. 266 Ebd. Zum Abendlanddiskurs insgesamt siehe Steber, Hüter. 267 Spiegel-Schmidt, Wandlungen, 91. 268 Auf die zeitgleich diskutierte theologische Dimension wurde bereits verwiesen. Vgl. oben 102–121. 269 Wendland, Heinz Dietrich: Gesamtüberblick über die Thematik von Evanston. Vortrag für die Tagung in Königswinter 1954. Anhang zum Schreiben von Heinz-Dietrich Wendland an Friedrich Spiegel-Schmidt, 10. 6. 1954 (EZA Berlin 17/707). 270 Ebd. 271 Niederschrift über die Tagung des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen in Königswinter, 19.–21. 5. 1954 (EZA Berlin 17/70). 272 Ebd. 273 Ebd. Da die Akteure der kirchlichen Vertriebenenarbeit Volk und Volkstum eine besondere Relevanz zusprachen, sahen sie sich genötigt, die Deutungshoheit darüber zu verteidigen.

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Eine ganz andere und wohl nicht typische Richtung schlug das bruderrätlich dominierte ostpreußische Hilfskomitee unter der Leitung von Hans Joachim Iwand ein. Das Hilfskomitee sprach sich für eine Assimilationspolitik aus, in deren Folge sämtliche landsmannschaftliche Sonderidentitäten verschwinden und die Vertriebenen an Ordnung und Sitte der aufnehmenden Kirchen assimiliert werden sollten. Das ostpreußische Hilfskomitee forderte, ganz ähnlich wie die aufnehmenden Landeskirchen, in seinen „Thesen der ostpreußischen Pfarrertagung“ von 1946 die Eingliederung der Flüchtlinge und lehnte in diesem Zusammenhang die Bildung von Flüchtlingsgemeinden ab. Auch der Bildung von provisorischen Flüchtlingsgemeinden erteilte das ostpreußische Hilfskomitee eine Absage.274 Eigene Flüchtlingsgottesdienste in heimatkirchlicher Liturgie wurden in jenen Thesen zwar zugebilligt, aber nur als vorübergehende Maßnahme mit dem Ziel der langfristigen Eingliederung und Assimilation in die Ortsgemeinde.275 Zwar nahmen die Thesen des Hilfskomitees vor allem auf die innerkirchliche Dimension Bezug, die innerkirchlichen Integrationskonzepte tangierten aber letztlich auch die Frage der landsmannschaftlichen Sonderart. Damit zeigt sich, dass die Haltung pro oder kontra Assimilation keineswegs mit der Frontlinie Ostkirchen versus Westkirchen identisch ist, sondern auch von theologischen Positionen und nicht zuletzt von der Erfahrung und Haltung während der NS-Zeit bestimmt war. Der aus der Tradition der Bekennenden Kirche stammende Theologe Iwand war grundsätzlich gegenüber Kategorien wie Volk und Volkstum kritisch eingestellt, was sich auch vor dem Hintergrund seiner Deutung und Erfahrung der NS-Vergangenheit und des sogenannten „Kirchenkampfes“ erklärt. In der Identität von Kirche und Volkstum sah Iwand einen Grund dafür, dass sich die Kirche im NS mitschuldig gemacht habe.276 Dem stellte Iwand ein Kirchenverständnis gegenüber, das von der Unterscheidung von Kirche und Volk ausging und Kirche als Korrektiv begriff. In seinen Vorlesungen „Kirche und

Spiegel-Schmidt hatte in einem an Karrenberg adressierten Brief bemängelt, dass die Expertise des OKAs für den Artikel Volk und Volkstum im ESL nicht gehört worden sei. Siehe Schreiben von Friedrich Karrenberg an Friedrich Spiegel-Schmidt, 14. 6. 1956 (EZA Berlin 17/714). Ähnlich auch Schreiben von Ernst Lehmann an Friedrich Karrenberg, 3. 8. 1955; und Schreiben von Friedrich Karrenberg an Ernst Lehmann, 25. 7. 1955 (EZA Berlin 17/575). 274 Erhaltung oder Eingliederung der Flüchtlingsgemeinde? Thesen des ostpreußischen Pfarrertagung in Hannover, Okt. 1946 (ADW Berlin ZB 1023). Vgl. auch Seim, Iwand, 296. Flüchtlingsgemeinden wurden als weitere Stufe auf dem Weg in die Radikalisierung bewertet. 275 Ebd. 276 Bereits 1935 hatte Iwand in seinen Bloestauer Vorlesungen gegen die völkische Theologie einen „biblischen Realismus“ profiliert, der vom Wort Gottes ausginge. Nach dem Krieg verstand er Christus als „bleibendes Gegenüber“ zur Gesellschaft, „zum Schutz gegenüber säkularisierten Ordnungsvorstellungen“ wie dem „völkischen Organismusdenken“ (Neddens, Theologie, 612. Zitat ebd., 801). Zudem kritisierte er die aus seiner Sicht drohende Restauration und ordnungstheologische Legitimation der „Einheit von Kirche und Volk, Glaube und Heimat, Religion und Tradition“ (ebd., 764).

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Gesellschaft“ sprach er konsequent von Gesellschaft und nicht von Volk.277 Aus dieser Deutung der Kirchengeschichte im NS zog der Theologe nun die integrationspolitische Konsequenz, dass die „völkische Sonderart“ gerade kein erstrebenswertes und daher zu erhaltendes Gut war. Iwand erkannte zwar an, dass „Volk und Volkstum“ als „geistige Gehäuse“ für die Vertriebenen eine Realität darstellten, fürchtete jedoch, dass der Trend zur Restauration die „echte Busse [sic]“ zurückdränge.278 Der Glaube an Heimat und Volk war für Iwand Ausdruck jener Restauration, die es zu verhindern galt:279 Die Not schuf eine Gemeinschaft, die alle Grenzen, alle Generationen, Weltanschauungen und Schuld überwand. Dankbarkeit für all das ist das stärkste, politische Ethos, das wir nicht zerschlagen lassen dürfen. […] Allenthalben steht die Hoffnung auf, dass wir durch militärischen Druck, wenn auch ohne Krieg, die verlorene Welt noch einmal wieder herstellen können. Das drängt alles, was wir an echter Busse [sic] erlebt haben, zurück. Nun meldet sich bei den Flüchtlingen ein schwieriges Problem. Ihr innerstes Gut, das geistige Gehäuse, im dem sie gross [sic] geworden sind, heisst [sic] Glaube an Volk und Sprache, Theologie der Ordnung, preußische Reaktion auf jede Marschmusik, das Evangelium von Glaube und Heimat, die gebundene Form der Dorfgemeinschaft.280

Die Flüchtlingssoziologen Eugen Lemberg und Wilhelm Brepohl281, die ebenfalls in protestantischen Kontexten auftraten und zudem in der völkischen und volksdeutschen Bewegung engagiert waren,282 gingen ebenfalls von den Kategorien Volk und Volkstum aus, kamen aber zu ganz anderen Konsequenzen und stellten die Vorstellung einer unvermischten Bewahrung der Stämme infrage. Lemberg, der in den 1930er Jahren von der Existenz eines homogenen deutschen Volkstums ausging und der 1933 große Hoffnungen hegte, unter einer NS-Regierung seine aggressiven volkspolitischen Vorstellungen in Osteuropa verwirklichen zu können,283 glaubte nach 1945 eine gegenseitige Assimilation und die Entstehung eines „neuen Volkes aus Bin277 Iwand, Kirche. Dabei wollte er die Staatsfixierung der Kirche und das Dual von Kirche und Staat überwinden und lenkte den Blick auf die Gesellschaft. Kirche verstand er zudem als Korrektiv zu Staat und Gesellschaft. Die Kirche müsse zwar offen sein für die Gesellschaft, dürfe sich aber gerade nicht mit einer bestehenden Gesellschaftsordnung identifizieren (ebd., 15f–21 und 231 f.). Der Begriff Volk und Volkstum spielte insgesamt eine geringe Rolle in seinem Werk und wurde allenfalls abgrenzend gebraucht. 278 Wortbeitrag Iwand. In: Niederschrift über die von der Kirchenkanzlei der EKD nach Ratzeburg einberufene Tagung für kirchliche Fragen der ehemaligen D.P.s und der Heimatvertriebenen, 29–30. 8. 1951 (EZA Berlin 17/565). 279 Ebd. 280 Ebd. 281 Zu den NS-Verstrickungen von Brepohl und Lemberg und zur Kontinuitätsfrage siehe unten 171–179 und 193–206. 282 Pohl, Soziologen; und Goch, Art. Brepohl. 283 So wollte Lemberg die deutsche Minderheit in der „fremdvölkischen“ Tschechoslowakei schützen und opponierte in diesem Zusammenhang gegen den tschechoslowakischen Nationalstaat. Siehe Pohl, Soziologen.

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nendeutschen und Ostvertriebenen“ zu beobachten: „[…] Hier im Schmelztiegel der deutschen Stämme [entsteht] ein neues deutsches Volk.“284 Ebenso wie Lemberg oder Boehm entstammte auch der Volkskundler und Soziologe Wilhelm Brepohl, der bereits 1933 in die NSDAP eingetreten war,285 einer soziologischen Richtung, die sich für Volk, Volkstum oder Volkskunde interessierte. Brepohl befasste sich vor 1945 mit der Frage, wie sich im Zuge der Industrialisierung und der Ost-West-Wanderung bereits seit dem 19. Jahrhundert aus verschiedenen, aus Ost und West stammenden Bevölkerungsgruppen ein eigenes, industrialisiertes „Ruhrvolk“ herausgebildet habe. Er beschrieb „soziokulturelle Phasen des Zusammenwachsens verschiedener aus dem Osten stammenden Bevölkerungsgruppen in einer hochindustriellen Gesellschaft zu einem ,Ruhrvolk‘“ und setzte gegen die Vorstellung homogener, separater Stämme die Vorstellung eines Schmelztiegels, der zur Entstehung eines neuen Volkes führe.286 Seine nach 1945 entstandenen Publikationen, die auf vor 1945 erhobenen Daten basierten, konnten direkt an diese Arbeiten anknüpfen. Gerade der scheinbar neutrale Assimilationsbegriff erweist sich dabei als problematisch, rückte er doch an die Stelle anderer, nun als belastet geltender Begriffe wie „Umvolkung“287. In einem Gutachten für das Arbeitswissenschaftliche Institut der Deutschen Arbeitsfront beschrieb er, sozialdarwinistisch argumentierend, den „Typus Pollack“, der in der Unterschicht stärker ausgeprägt sei als in der „westdeutsch-westfälischen Oberschicht“ und dem fast alle „denkbaren negativen Eigenschaften“ zugeschrieben wurden.288 Nach Brepohl ist er „weder eine ,Nationalität‘ noch ein ,Volkstum‘, weder eine ,Rasse‘ noch eine ,Klasse‘. (..) Der P ist ein Typ menschlicher Haltung schlechthin, er kommt in allen Völkern vor und ist rassisch bedingt“ und sei „das Element der Dekomposition und der Zersetzung.“ Obwohl der „Typus P“ in allen Völkern vorkomme, sei er doch verstärkt aus Galizien und Russisch-Polen zugewandert.289 Seine Studien zur Assimilation bzw. Eindeutschung im Ruhrgebiet hatte Brepohl als Beispiel und Vorbild für die Germanisierungspolitik der besetzten Gebiete in Polen verstanden.290 Die in seinen vor 1945 entstandenen Texten zu findenden krassen und expliziten Rassismen verschwanden nach 1945 aus dem Sprachgebrauch. Allerdings konnte er sich auch nach 1945 von Homogenitätsvorstellungen 284 Lemberg stellte zwar gegenüber der Vorstellung eines „Schmelztiegels“, die er selbst in pejorativer Absicht gebrauchte, die Idealvorstellung einer „Symphonie“, erkannte aber auch die Unvermeidbarkeit der Verschmelzung an. Zugleich kam Lemberg zu dem Ergebnis, dass es zu einer gegenseitigen Assimilation käme (Lemberg, Ausweisung, 26; und ders., Entstehung). 285 Goch, Art. Brepohl, 82. 286 Zit. nach Tolksdorf, Phasen, 108; Adamski, Kulturraumforschung, 3–8. Zu Brepohl siehe Brepohl, Aufbau. 287 Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 52 f. „Assimilation“ und „Umvolkung“ wurden zum Teil sogar synonym gebraucht. 288 Klingemann, Soziologie, 317. 289 Ebd. 290 Ebd.

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nicht ganz lösen und stellte das Ruhrvolk als neue völkische Entität vor, ohne sich der „Herausforderung interner Differenzierung“ zu öffnen, wie Jens Adamski bemerkt.291 Der entscheidende Punkt besteht jedoch darin, dass Brepohl der modernen Industriegesellschaft dennoch Heimat- und Integrationsfähigkeit zusprach, wobei ihm das Heimatgefühl als „Vehikel der Integration“ galt.292 Brepohl formulierte seine Beobachtungen zwar mit Blick auf die Ost-West-Wanderung im Zuge der Industrialisierung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, die Parallele zum Vertreibungsgeschehen ist jedoch unübersehbar.293 Im Zeitverlauf rückte der Gedanke der Assimilation bei einigen Soziologen stärker in den Fokus, was wiederum Konsequenzen für das Verständnis von Volk und Volkstum hatte. Lemberg betonte in einem 1959 erschienenen Aufsatz die Unangemessenheit der Formel „Eingliederung auf Vorbehalt“ und diagnostizierte ein „Aufgehen“ der „verschiedenen Volksgruppen im Gesamtdeutschtum“, das durch „das Heranwachsen einer jungen Generation mit anderer Erlebnisgrundlage“ beschleunigt werde.294 Sogar die Soziologin Stella Seeberg, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch eine landsmannschaftlich orientierte Integrationspolitik vertreten hatte, distanzierte sich nun vom Ziel der traditionsbewahrenden, landsmannschaftlichen Integrationspolitik. 1958 erklärte sie die Traditionsbewahrung vor dem Hintergrund der erfolgreichen wirtschaftlichen Eingliederung für obsolet.295

291 Adamski, Kulturraumforschung, 7 f. 292 Nach Adamski habe Brepohl den Entstehungsprozess eines „Ruhrvolkes“ positiv bewertet. Auch Adamski, Kulturraumforschung, 3–5. Ausführlicher hierzu unten 166–171. 293 In anderen Beiträgen stellte Brepohl diese Verknüpfung explizit her. In seiner Heimattheorie parallelisierte er die Folgen der Vertreibung und der Industrialisierung. Siehe Brepohl, Heimat als Beziehungsfeld; ders., Heimat und Selbstentfremdung; ders., Art. Heimat. In: ESL 1963, 560 f.; und ders., Heimat. Sein Buch zur Entstehung des Ruhrvolkes erschien 1948, basierte aber auf empirischen Vorarbeiten aus der Zeit des Dritten Reiches. Das geht hervor aus: Klingemann, Soziologie, 270 f. Vgl. auch Brepohl, Aufbau. 1964 sprach der Soziologe Friedrich Wilhelm Heering in einem in der Zeitschrift „Europäische Begegnung“ erschienenen Artikel von einem „Einschmelzen der Vertriebenen“, der „Verschmelzung heterogener Volkstumselemente“ und einer enormen „Assimilationskraft […] des rheinisch-westfälischen Industriegebietes“ (Heering, Schmelztiegel, 197). Zu Brepohl siehe unten 166–171 und 193–206. Die Zeitschrift „Europäische Begegnung“ war das Nachfolgeorgan des „Remter“. 294 Zitiert nach Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 130. Vgl. auch Lemberg, Wandel. In: Edding/Lemberg, Vertriebenen, Bd. 3, hier 451 u. 474. 295 Seeberg, Stella: Bericht für den Landesbischof vom 17. 3. 1958 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1120); und dies.: Bericht. Arbeitstagung über Flüchtlingsfragen der Forschungsstelle der evangelischen Akademie Hermannsburg vom 12.–19. 11. 1948 (LKA Hannover N 57 Nr. 6). Einige wenige protestantische Akteure gebrauchten den Begriff des Volkstums als ethnopolitische, supranationale Ordnungskategorie, um ihren Vorstellungen eines „Europa der Völker“ Ausdruck zu verleihen. Diese knüpften an die völkischen Konzepte der 1920er Jahre an. Vgl. z. B. Wittram, Wandlungen; Kruska, Volk; Spiegel-Schmidt, Christenvolk; Ullmann, Grundlagen; Lemberg, Reichsgedanke; H raud, Recht; und Boehm, Verwirrung. Zur Kontinuität zwischen den 1930ern und 60ern: Prehn, Gesichter, 140 f. und 126. Diese Beiträge finden sich im „Remter“ und seinem Nachfolgeorgan, der „Europäischen Begegnung.“

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2.2.2 Die Identität von Kirche und Volk und die theologische Bewertung von Volk und Volkstum Begriffe wie Vaterland, Volk und Volkstum waren, explizit oder implizit, Gegenstand kirchenamtlicher und theologischer Stellungnahmen, die damit zugleich eine Vorstellung von Nation und Volk beinhalteten und das Verhältnis von Kirche und Volk, Volkstum oder Nation bestimmten. Gerade die Behauptung einer Identität von Kirche oder christlicher Gemeinde und deutschem Volk weist eine lange Tradition auf und war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ein nicht hinterfragter Bestandteil der nationalprotestantischen Tradition, die eine religiöse Aufladung des Begriffs „Volk“ begünstigte.296 Die „Volkstumsideologie“ war, wie Christian Hanke bemerkt, eine zentrale Idee im Protestantismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.297 In vielen, in der unmittelbaren Nachkriegszeit verfassten Stellungnahmen von Kirchenleitungen kommt ein spezifisches Verständnis der Kirche als „Anwältin nationaler Interesse“ zum Ausdruck, die sich mit dem notleidenden deutschen Volk solidarisierte und sich als Fürsprecherin des deutschen Volkes gegenüber den Alliierten präsentierte. Die Synode der EKD rief beispielsweise die Alliierten sowie die Regierungen der Welt dazu auf, das „Flüchtlingselend nicht zu verewigen.“298 In den kirchenamtlichen Stellungnahmen forderte der Rat der EKD ein Ende der Demontagen, den Abbau von Exportbeschränkungen oder die Rückgabe der Ostgebiete.299 Diese Stellungnahmen rekurrierten weniger auf die spezifische Notlage der Vertriebenen, sondern brachten eine Solidarisierung mit dem gesamten notleidenden Volk zum Ausdruck.300 Diese Verlautbarungen sind für die Fragestellung dieser Arbeit deshalb relevant, weil sie eine Identität von Kirche und deutschem Volk implizierten, indem sich die evangelische Kirche mit der Not und den Inte296 Hanke, Deutschlandpolitik, 30–35. In diesem Kontext wurde „Volk“ in den Rang einer Schöpfungsordnung gehoben und nach dem Ende des 1. Weltkrieges die Einheit von Christentum und Nation betont (ebd., 30). 297 Ebd., 36. 298 Keine Verewigung des Flüchtlingselends. Ein Wort der evangelischen Kirche in Deutschland. In: EvWelt, 1. 2. 1949, 52. Auch Christian Hanke glaubt ein solches Selbstverständnis als „Interessenvertreter“ zu erkennen und führt dies auf die nationalprotestantische Tradition zurück (ders., Deutschlandpolitik, 103). 299 Wustmann sieht hierin einen Beleg für die nationalprotestantische Tradition. Siehe Wustmann, Vertrieben, 152–156. Vgl. auch Sommer, Rechtswahrungsansprüche und folgende Stellungnahmen der EKD: Schreiben des Rates der EKD an den Alliierten Kontrollrat und die UNO wegen der fortgesetzten Ausweisung und Umsiedlung von Deutschen aus den abgetrennten deutschen Ostgebieten vom 30. 1. 1946. In: Merzyn, Kundgebungen, 25 f.; Aufruf des Rates der EKD zur Hilfe für die Gemeindeglieder in den abgetrennten deutschen Ostgebieten, 26. 10. 1949. In: Ebd., 84 f.; Wort der Synode der EKD zur Flüchtlingsfrage, 13. 1. 1949. In: Ebd., 62 f.; und Wort des Rates an die Christen in England vom 14. 12. 1945, abgedruckt in Nicolaisen (Bearb.), Protokolle Bd. 1, 215–217. 300 Wustmann, Vertrieben, 153 f.

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ressen des deutschen Volkes solidarisierte. Grundsätzlich ist aber auch festzustellen, dass Synode und Rat der EKD eine Rückgabe der Ostgebiete zwar für unumgänglich hielten, um die wirtschaftlich angespannte Nachkriegsnot zu beheben, bezüglich eines Rechts auf Heimat als Rechtsanspruch allerdings tendenziell zurückhaltend waren.301 Die Forderung einer Rückgabe der Ostgebiete wurde angesichts der deutschen Not formuliert und als Voraussetzung für den wirtschaftlichen Wiederaufbau angesehen; die Historikerin Claudia Lepp erkennt in den kirchenamtlichen Stellungnahmen daher eine wirtschaftliche Intention, die auf das wirtschaftliche Überleben des deutschen Volkes zielte.302 Demgemäß würde die Rückgabe der Ostgebiete obsolet, wenn andere wirtschaftliche Möglichkeiten gefunden würden. Das wird anhand der Stellungnahme der EKD-Synode von 1949 deutlich: „In ihren ersten, an die ausdrücklich auch an die Vertriebenen gerichteten Stellungnahmen war von einer nationalen Lebensnotwendigkeit einer Grenzkorrektur keine Rede mehr.“303 Vielmehr schien es notwendig, „die Schaffung der wirtschaftlichen Gründe zu ermöglichen, ,die der Gesamtbevölkerung einschließlich der Flüchtlinge eine menschenwürdige Existenz sichert.‘“304 Verhießen wurde nicht „seine Heimat, sondern eine Heimat.“305 Zudem erteilte die Synode der EKD jedem Vergeltungsdrang eine klare Absage und stellte Frieden und soziale Gerechtigkeit über die Rückgabeforderung.306 Daneben war die nicht weiter reflektierte Identität von Kirche und Volk oder Volkstum auch Thema der kirchlichen Vertriebenenarbeit und der protestantischen Theologie. Stella Seeberg und Max Hildebert Boehm setzten sich mit dem Verhältnis von Kirche und Volkstum auseinander und behaupteten im Hinblick auf die auslandsdeutschen Gruppen, korrespondierend mit 301 Ebd. Wustmann grenzt sich damit von Sommer ab, der die Auffassung vertritt, die Kirche habe sich zum „Anwalt eines Rechts auf Heimat“ gemacht. Vgl. Sommer, Rechtswahrungsansprüche, 400. Wustmanns Auffassung lässt sich anhand der hier zitierten Beispiele leicht bestätigen. Vgl. v. a. die in Anm. 299 genannten Stellungnahmen. Offenbar brachten die katholische Kirche und verschiedene katholische Akteure wie die „Laienführerschaft der deutschen katholischen Jugend“, eine Resolution der katholischen Diözesanflüchtlingsseelsorger und verschiedene katholische Zeitschriften die Forderung eines Rechts auf Heimat wesentlich deutlicher zum Ausdruck. Katholische Akteure griffen dabei vor allem auf naturrechtliche Begründungsfiguren zurück und bezeichneten das Recht auf Heimat als Naturrecht, als „elementares Menschenrecht“ oder als „göttliches Recht“. Derartige Begründungsfiguren sind zumindest in dieser frühen Phase bei protestantischen Akteuren nicht oder ausgesprochen selten zu finden. Vgl. Zurek, Nationalismus, 195–213, v. a. 198 f. 302 Ebd.; Lepp, Tabu, 61. Einzelne Landeskirchenleitungen wie die westfälische Landessynode forderten eine Rückgabe der Ostgebiete. Z. B. Im Kampf gegen die Heimatlosigkeit. In: EvWelt, 1. 2. 1949, 51. 303 Zit. nach Wustmann, Vertrieben, 156. 304 Wort der Synode der EKD zur Flüchtlingsfrage vom 13. 1. 1949. In: Merzyn, Kundgebungen, 62–64, 62. 305 Zit. nach Wustmann, Vertrieben, 156. Kursiv original. Ähnlich auch Hanke, Deutschlandpolitik, 96–102. 306 Ebd., 97 f.

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der Gesellschafts-Gemeinschafts-Dichotomie,307 eine enge Identität und Zusammengehörigkeit von Kirche und Volkstum. Nach Boehm war es auf den Mangel an staatlichen Strukturen bei den auslandsdeutschen Volksgruppen sowie auf ihren „Selbstbehauptungskampf“ gegen die assimilatorischen Bestrebungen in „fremdvölkischer“ und „fremdkonfessioneller“ Umwelt zurückzuführen, dass sich eine enge Identität von Kirche und Volkstum herausgebildet und sich der weltliche und der kirchliche „Selbstbehauptungskampf“ miteinander verbunden hätten.308 Der „Kampf um die Heimat“, so führte Boehm weiter aus, „ist für die Ostkirchen Ringen um ganz bestimmte Gemeinschaft in enger Verbindung zum Volkstum.“309 Mit solchen Aussagen knüpfte Boehm deutlich an die Soziologie und Volkskunde des sogenannten Aus- und Grenzlanddeutschtums sowie an die volksdeutsche Bewegung der 1920er und 30er Jahre an. Boehm war seit den 1920er Jahren mit dieser Volkskunde befasst,310 die sich für die im Grenzland oder im Ausland lebenden deutschen Volksgruppen interessierte. Die Anhänger dieses Paradigmas gingen von der Prämisse des „Völkerkampfes“ aus und verfolgten eine dezidiert politische Stoßrichtung. Es galt, Volksgruppenpolitik zu betreiben, also das „Deutschtum“ der auslandsdeutschen Gruppen in „fremdvölkischer Umgebung“ gegenüber der angeblichen oder tatsächlichen Assimilation der umgebenden Nationalstaaten zu verteidigen.311 Zugleich wurden die Höherwertigkeit des Deutschtums gegenüber den Nachbarvölkern behauptet und die auslandsdeutschen Diasporagemeinschaften als Vorbild und Modell für die Erneuerung der deutschen Volksgemeinschaft empfohlen, weil den grenzland- und auslanddeutschen Gruppen in „fremdvölkischer Umgebung“ eine besondere Gemeinschaftsfähigkeit und starke völkische Selbstbehauptungskräfte attestiert wurden.312 Boehm selbst war dabei in zahlreichen Gremien politikberatend tätig und galt als „Souffleur der Macht“313. Daher setzten nahezu alle Volkstumspolitiker und Volkssoziologen wie Max Hildebert Boehm, 307 Vgl. oben 90–99. Sowohl Boehm als auch Seeberg argumentierten mit dieser Denkfigur. 308 In seiner Typologie der Grenzlandkirche nannte er den Typ „Kirchen mit konfessioneller Sonderstellung in fremdvölkischer Umwelt“, die eine „Glaubens- und Volkstumskirche“ sei (Boehm, Max Hildebert: Glaube, Volkstum und Grenzlandkirchen. Vortrag auf der Tagung des OKAs am 15. 1. 1947 in Bethel, ADW Berlin ZB 886). Die hannoversche Landessynode bewertete die „Kirche als stärkste Trägerin des Volkstums“ (Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses der vorläufigen Landessynode betr. Flüchtlingsfragen am 11. 12. 1945, LKA Hannover N 14 Nr. 19). Die integrationspolitischen Konsequenzen wurden bereits analysiert. Vgl. hierzu oben 102–112. 309 Boehm, Max Hildebert: Volkstum und Glauben im Lichte der Ostkirchen. Notiz über die Tagung der Vertreter der Ostkirchen in Marburg, 1.–2. 5. 1947 (ADW Berlin ZB 886). 310 Vgl. oben 102–112. 311 Zur Erforschung des sog. Grenzland- und Auslandsdeutschtums siehe Prehn, Gesichter, 129–137. Vgl. auch ders., Boehm; Prehn, Kaderschmiede; und ders., Volk. Zum deutschen Führungsanspruch: Pohl, Soziologen. Pohl erkennt zudem eine „Sakralisierung der ethnischen Nation“ (ebd., 39 f.). 312 Ebd. 313 Prehn, Gesichter, 137.

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Eugen Lemberg oder der spätere Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer, die ihre wissenschaftlichen Studien mit aktivem politischem Engagement verbanden, große Hoffnungen in den Nationalsozialismus, ihre volkspolitischen Bestrebungen intensivieren und ihre volkspolitischen Ziele verwirklichen zu können.314 Im Kontext dieses Paradigmas gerieten nicht zuletzt Kirche und Religion in den Blick, von denen eine das Volkstum bestärkende und legitimierende Funktion erwartet wurde. Angesichts einer fehlenden staatlichen Selbstorganisation der auslandsdeutschen Gruppen hätten, so lautete das Narrativ, gerade die Kirchen zur Stiftung von Gemeinschaft, Eigenbewusstsein und Zusammengehörigkeit beigetragen. Demzufolge wurde eine Identität von Kirche und Volkstum behauptet. Boehm forderte von der Theologie eine Klärung und Legitimierung der Begriffe „Volkstum“ und „Volk“ ein, die er als mit „religiösen Weihen“ ausgestattet verstanden wissen wollte.315 Auch aus dieser Identität von Kirche und Volkstum resultierte für Boehm das integrationspolitische Argument, dass die Ostkirchen zu erhalten seien.316 Stella Seeberg setzte sich, ganz ähnlich argumentierend, im Modus der historisierenden Beschreibung mit dem Verhältnis von Kirche und Volkstum auseinander. Den im Osten stärker ausgeprägten Zusammenhang von öffentlichem und kirchlichem Leben führte die aus dem Baltikum stammende Soziologin auf den „Selbstbehauptungskampf der Völker“ zurück: Die Kirchen der deutschen Volksgruppen jenseits der deutschen Reichsgrenzen waren seit jeher im wesentlich stärkeren Maße an dem politischen und kulturellen Selbstbehauptungskampf ihrer Glieder beteiligt als die Kirchen im Reich.317

314 Zu Lemberg siehe Pohl, Soziologen; zu Oberländer: Wachs, Art. Oberländer, 449. Zum Verhältnis zwischen völkischem Denken und NS-Ideologie, die beide über deutliche Schnittmengen verfügten, aber auch nicht vollständig deckungsgleich waren, siehe Weindling, Einleitung, 14. Einige der Völkischen zeigten sich nach anfänglicher Begeisterung bald enttäuscht über den NS. Problematische Begriffe wie „fremdvölkisch“ sind in der 3., 1987 erschienenen Auflage des Evangelischen Staatslexikons noch zu finden. Siehe Klapper, Art. Flüchtlinge, Sp. 909. 315 So forderte er die Durchdringung des „Problem[s] der echten Volks- und Völkerordnung im Rahmen der Schöpfungs- und Erhaltungsordnung Gottes“ und konstatierte eine große Bedeutung der Reformation für die Volkwerdung der Landsmannschaften in Osteuropa. Boehm sprach von daher von einer „religiöse[n] Aufwertung des Volkstums durch den Protestantismus“ (Boehm, Max Hildebert: Glaube, Volkstum und Grenzlandkirchen. Vortrag auf der Tagung des OKAs am 15. 1. 1947 in Bethel, ADW Berlin ZB 886) Zugleich sprach er von einem „abendländischen Auftrag“ in Form einer „Missionierung und Christianisierung des Ostens“ (Ders.: Volkstum und Glauben im Lichte der Ostkirchen. Siehe Notiz über die Tagung der Vertreter der Ostkirchen in Marburg, 1.–2. 5. 1947, ADW Berlin ZB 886). 316 ebd. 317 Seeberg, Stella: Bericht. Arbeitstagung über Flüchtlingsfragen der Forschungsstelle der evangelischen Akademie Hermannsburg vom 12.–19. 11. 1948 (LKA Hannover N 57 Nr. 6). Diese Identität verknüpfte sie mit einem emphatischen Gemeinschaftsbegriff. Vgl. v. a. oben 64–71 und 90–99.

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Sowohl Boehm als auch Seeberg grenzten sich von solchen Theologen ab, die eine Identität von Kirche und Volkstum negiert und eine theologische Legitimation von Volk und Volkstum abgelehnt hatten, was als Seitenhieb gegen die bruderrätliche Theologie zu verstehen war, die sich dem Erbe der Bekennenden Kirche verpflichtet fühlte. Stella Seeberg stellte im Rekurs auf solche Theologen, die „Volk“ mit Sünde, Gottes Gericht und Vergänglichkeit in Verbindung gebracht und somit theologisch relativiert hatten, die Wertigkeit des Volkstums heraus: „Heimat und Volkstum“ seien demnach „nicht an sich heilig“, sie könnten aber „geheiligt werden […], wenn wir sie als Gaben Gottes auffassen.“318 Die Angst einer „Verabsolutierung von Volkstum und Heimat“ war für Seeberg nach der nationalsozialistischen Erfahrung verständlich. Jedoch ließ sie dieses Argument nicht gelten, denn „die Gefahren [brauchen] nicht einzutreten […], wenn wir Gott als den Herrn anerkennen, der von sich aus über unsere Heimat verfügen kann.“319 In eine ähnliche Richtung weist ein Aufsatz des späteren Vorsitzenden des OKKs, Harald Kruska, der die Auffassung vertrat, dass „die Zeit der Überschätzung von Volk und Volkstum […] hinter uns [liegt]. […] Was darauf folgte und uns heute noch bannt, ist eine Unterschätzung von Volk und Volkstum.“320 Der hannoversche OLKR Friedrich Bartels warnte in seinem Referat „Heimat und Volkstum aus christlicher Sicht“ auf einer Hermannsburger Flüchtlingstagung 1953 zwar vor einer „Vergötzung“ von Heimat und Volkstum, bezeichnete beides aber auch als „Gaben Gottes“ und als „Schöpfungsordnungen, ohne die der Mensch nicht sein kann.“321 Auch nicht-protestantische Akteure zeigten sich an einer theologischen Herleitung interessiert. Die abschließende Entschließung einer Tagung der Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Heimatbünde behauptete, dass das Volkstum seinen „Sinn und Maßstab aus der Religion“ erhalte und „Heimat und Glaube im Volkstum“ verwurzelt seien.322 Der Bundesvertriebenenminister Hans Lukaschek, der an der Tagung teilnahm, bekräftigte: „Das Volkstum wächst aus dem religiösen Bereich. Das Recht auf Heimat ist im vierten Gebot verankert. Vater und Mutter sind nicht zu denken ohne Volkstum und ohne Heimatboden.“323 Der Protestant und Staatssekretär im Bundesvertriebenenministerium, Ottomar Schreiber, der auch Mitglied des OKAs war, griff auf schöpfungs- und ordnungstheologische Begründungsfiguren zurück. Die Schöpfungs- und Ordnungstheologie, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert insbesondere in der lutherischen Theologie Konjunktur erfahren hatte, ging, sehr schematisch zusammengefasst, davon aus, dass es von Gott gewollte und geschaffene Schöpfungs- und Seinsord318 319 320 321 322

Seeberg, Einleitung, II. Ebd. Kruska, Volk, 29. Bartels, Heimat, 107 f. Entschließung der Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Heimatbünde auf der Tagung am 19. 9. 1951 (EZA Berlin 607/122). 323 Lukaschek, Schlusswort.

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nungen gebe.324 Auch „Volk“ wurde, neben Familie, Eigentum oder Geschlechterordnung als eine solche gottgewollte Ordnung theologisch hergeleitet. So postulierte Schreiber die Gottursprünglichkeit von Heimat und Volkstum: „Auch Volkstum kann nicht anders gesehen werden als eine Entscheidung des Schöpfers, der den Menschen in diese Gemeinschaft stellte und damit ein bestimmtes Schicksal über ihn verhängte.“325 Der Staatssekretär sah hierin eine Voraussetzung für die Gemeinschaft und erwartete in diesem Punkt explizit die Unterstützung der Kirche.326 Dessen Vorschlag für eine Entschließung wurde angenommen, allerdings mit der Einschränkung, dass neben der Gottursprünglichkeit von Heimat und Volkstum auch ein göttlicher Vorbehalt aufgenommen wurde, der in Schreibers Entwurf nicht vorgesehen war: Gott gibt die Heimat, Gott kann sie nehmen. Heimat und Volkstum prägen den Menschen. Das Ringen um das Recht auf dieser Erde, auch um die verlorene Heimat, ist keine unchristliche Auflehnung gegen eine göttliche Fügung.327

Von Anfang an begegnen auf den Tagungen des OKAs auch solche Stimmen, die Volk und Volkstum aus theologischen Gründen kritisch bewerteten. So wurde auf der Marburger Tagung des OKAs 1947 auf die Gefahr der widergöttlichen Verabsolutierung und ideologischen Instrumentalisierung des Volkstums aufmerksam gemacht und betont, dass Volk und Volkstum unter dem „Fluch der Sünde“ stünden.328 Es sei problematisch, so führte der Geschäftsführer des OKAs Friedrich Spiegel-Schmidt aus, von einer „göttlichen Sendung des Volkstums“ zu sprechen.329 Die Frage nach der Legitimität der „völkischen Sonderart“ verstand Girgensohn angesichts der nationalsozia324 Zum theologischen Konstrukt der Schöpfungsordnung siehe Rosenau, Art. Schöpfungsordnung. „Mit Bezug auf Luthers Unterscheidung dreier „Stände“ (ecclesia, oeconomia, politia) und auf reformatorisches Weltverständnis (CA XVI) […] sind hier mit Ehe / Familie, Arbeit / Beruf, Wirtschaft / Eigentum, Recht, Volk, Staat und Kirche ursprünglich mit Gottes guter Schöpfung […] vorgegebene Seinsordnungen […] benannt wurden, die als solche zugleich auch normierende Grundordnungen […] sein sollen“ (ebd., 356). Die Rede von einer „Schöpfungsordnung“ war nach 1945 schnell diskreditiert. Vertreter der Schöpfungsordnungstheologie waren Paul Althaus, Werner Elert oder Emil Brunner. In diesem Sinne wurde auch „Volk“ als „überzeitliche Schöpfungsordnung“ gedeutet (Honecker, Art. Volk, 207). Zur Tradition der Schöpfungsordnung im Nationalprotestantismus auch Hanke, Deutschlandpolitik, 30–36. 325 Vgl. Entwurf. Niederschrift der Tagung des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen in Travemünde vom 12.–14. 10. 1952; Staatssekretär Dr. Schreiber auf der Tagung des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen am 12.–14. 10. 1952 in Travemünde. Anhang zur Tagungsniederschrift ( EZA Berlin 17/701). 326 Ebd. 327 Ebd. Insgesamt waren sich die Tagungsteilnehmer darin einig, dass der Begriff des Volkstums unklar sei. 328 Friedrich Spiegel-Schmidt auf der Marburger Ostkirchentagung 1947. Notiz über die Tagung der Vertreter der Ostkirchen in Marburg, 1.–2. 5. 1947 (ADW Berlin ZB 886). 329 Ebd.

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listischen Vergangenheit im Kontext von Schuld und Gericht Gottes: Aus dieser Perspektive ergeben sich zwei schwerwiegende Einwände an eine Kirche, die sich mit dem Volkstum verbinde und „völkische Sonderarten“ im kirchlichen Leben berücksichtige. Girgensohn deutete Kriegsniederlage und Vertreibung derart, dass „Gott selbst […] die Volksgemeinschaft zerschlagen“ habe, für deren Bau sich die Kirche habe „missbrauchen“ lassen.330 Kritisch seien Volk und Volkstum auch deshalb zu bewerten, weil diese „aus dem Kult des Völkischen“ herkomme.331 Insgesamt gewichtete er allerdings, wie gezeigt, die seelsorgerlichen Gründe höher, da er trotz dieser Bedenken an einer landsmannschaftlich orientierten Integrationsstrategie, an der seelsorgerlichen Ansprache „des Menschen“ „in seinem Stand“ und damit letztlich auch am Begriff Volkstum festhielt, sofern dieses „unter dem Evangelium“ stehe.332 Zur Beschreibung der sozialen Entität schienen die Kategorien Volk und Volkstum während der 1960er Jahre im gesellschaftlichen Diskurs an Erklärungskraft zu verlieren, um die soziale Wirklichkeit zu beschreiben und anzueignen.333 In den Gremien der kirchlichen Vertriebenenarbeit lässt sich allerdings eine entgegengesetzte Tendenz beobachten. Der beim OKA angesiedelte, 1959 gegründete „Arbeitskreis für Ethik und Recht“334 setzte sich in einem 1969/1970 entstandenen Thesenpapier mit den Begriffen Volk, Nation und Staat auseinander, die als theologisch klärungsbedürftig empfunden wurden. Die Verfasser setzten sich mit zentralen Ordnungskategorien auseinander, in denen die soziale Entität gedacht und vorgestellt wurde. Insgesamt strebte das Diskussionspapier eine Aufwertung des Volksbegriffes bei gleichzeitiger Abwertung des Begriffs „Gesellschaft“ an.335 Anlass für diese Diskussionsvorlage war einerseits die „Verwendung des Begriffes ,Nation‘ in der Studie der Kammer der evangelischen Kirche in Deutschland für öffentliche Verantwortung“, andererseits aber auch die Beobachtung, dass solche „tiefgreifende[n] Veränderungen in der menschlichen Gesellschaft“ im Gange 330 Girgensohn, Herbert: Memorandum zur Frage der Eingliederung der Ostkirchen (ADW Berlin ZB 886). Girgensohn war gegenüber der in Dorpat und Riga gelehrten, deutschbaltischen, völkisch orientierten Theologie bereits während der 1930er Jahren kritisch eingestellt und suchte den Austausch mit Iwand, der für kürzere Zeit in Riga lehrte. Vgl. Bitter, Umdeutung, 279 f.; und Wittram, Theologen. 331 Girgensohn, Herbert: Memorandum zur Frage der Eingliederung der Ostkirchen (ADW Berlin ZB 886). 332 Ebd. 333 Nolte, Ordnung, 219; Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 133. 334 1959 wurde der Ausschuss als „Arbeitskreis Recht auf Heimat“ gegründet, der 1961 in „Arbeitskreis für Ethik und Recht“ umbenannt wurde. Siehe Niederschrift über die Sitzung des OKAs und des Vorstandes des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen am 16. und 18. 10. 1961 (EZA Berlin 512/150). 335 Volk, Nation, Staat. Vorlage des Arbeitskreises Ethik und Recht, o. D. (EZA Berlin 607/81). Bereits 1961 setzte sich der OKA gemeinsam mit der Deutschen Jugend des Ostens mit den Begriffen „Heimat – Volk – Nation – Vaterland“ auseinander, die bei den Gesprächspartnern „weitgehende Übereinstimmung in der Definition und Bewertung der Begriffe erbracht hätte“ (Gespräch über Heimat und Nation. In: FAZ, 1. 10. 1963, 1).

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seien, die „ein neues Verständnis von Volk, Nation und Staat“ erforderten.336 Die namentlich nicht genannten Verfasser erklärten zunächst, dass Werte wie „Volk“, „Volkstum“ und „Nation“ fragwürdig geworden seien. In diesem Kontext bedienten sie sich eines typischen Narratives. Demnach habe der Nationalsozialismus Werte wie Volk, Volkstum und Nation missbraucht und damit zur Fragwürdigkeit eben jener Kategorien beigetragen. Mit der Behauptung eines „Missbrauchs“ implizierten sie aber zugleich eine gewisse Legitimität von Volk und Volkstum, ohne darüber zu reflektieren, inwieweit sie selbst problematisch waren. Hierbei handelt es sich um eine typische Verteidigungsstrategie, die nach 1945 bei den Protagonisten der volksdeutschen Bewegung zu finden ist: So ging beispielsweise auch Max Hildebert Boehm nach 1945 davon aus, dass die an sich richtigen Konzepte der Deutschtumsbewegung der 1920er Jahre lediglich pervertiert worden seien.337 Daher strebten sie trotz des Missbrauchs im Nationalsozialismus eine Rehabilitation von Volk und Volkstum an: Denn der Missbrauch des Volksbegriffs rechtfertige seine „totale Eliminierung“ nicht.338 Aus theologischer Perspektive verwiesen die Verfasser auf das Paradox, dass die Völker einerseits Teil der „göttlichen Schöpfungsordnung“ und demnach Gottes Willen entsprungen, andererseits aber auch die Völker dem Irdischen und der Sünde verhaftet seien, so dass sie „Gottes Strafgericht“ und dem „Werden und Vergehen“ unterlägen.339 Vor beiden Extremen sei zu warnen: Vor der „Übersteigerung und Überhöhung der völkischen Idee und des Volkes“ gleichermaßen wie vor dem anderen „Extrem“, das dazu führe, „die gegebene Wirklichkeit des Volkes überhaupt zu missachten und sie durch soziologische Zusammenhänge oder kosmopolitische zu ersetzen.“340 Neben diesen theologischen Erwägungen wurde zudem erörtert, inwieweit diese Begriffe geeignet waren, die soziale Entität adäquat zu beschreiben. Volk wurde in diesem Zusammenhang modernekritisch verstanden und, ganz im Paradigma der Gesellschafts-Gemeinschafts-Dichotomie, als Gegenbegriff zu „Gesellschaft“ empfohlen, denn „Gesellschaft“ stelle im Gegensatz zu „Volk“ ein „künstliches“, „unnatürli336 Jahresbericht des OKAs und des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen für das Jahr 1969 (EZA Berlin 607/59). 337 Vgl. oben 102–121, 206–215 und 218–230. Vgl. auch Prehn, Gesichter, 140. 338 Volk, Nation, Staat. Vorlage des Arbeitskreises Ethik und Recht, o. D. (EZA Berlin 607/81). 339 Ebd. Ähnlich auch eine 1949 entstandene Abhandlung des Theologen Walther Bienert. Vgl. Bienert, Volk. 340 Volk, Nation, Staat. Vorlage des Arbeitskreises Ethik und Recht, o. D. (EZA Berlin 607/81). Zudem argumentierten die Verfasser, dass die Reformation und das Evangelium zur Volkswerdung beigetragen hätten. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Ursachendeutung des NS: Das Fortschrittspathos der Aufklärung sei für die „nationalistische Übersteigerung“ verantwortlich, denn dieses habe die „Überlegenheitsgefühle der Völker“ genährt. Besonders schlimm habe sich dies in Osteuropa ausgewirkt, wie die panslawistische Bewegung zeige. Der NS habe diesen Überlegenheitspathos mit biologistischen, natur- und kulturphilosophischen Elementen vermischt und daraus eine „religiös verbrämte Weltanschauung“ gemacht.

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ches“ Gebilde dar.341 Gerade der hier negativ konnotierte, im gesellschaftlichen Feld prominente Gesellschaftsbegriff wurde daher als unangemessen empfunden, um die soziale Entität zu beschreiben und gesellschaftliche Integration herzustellen.342 Diesem fehle die Gemeinschaftsfähigkeit und die normative Verbindlichkeit: Der Begriff der Gesellschaft rückte immer mehr in den Vordergrund, der nicht als Ersatz gedacht ist, sondern eine völlige Neuorientierung des Gemeinschaftsorganismus propagiert. Praktisch tritt damit der Einzel- und Gruppenegoismus an die Stelle der gleichen politischen Verantwortung aller Bürger für den Staat als Hüter und Verteidiger von Freiheit und Sicherheit nach innen und außen.343

Im Anschluss daran profilierten die Verfasser ein schöpfungs- und ordnungstheologisches Verständnis von Volk: Das Christsein zeige sich auch in jenem „Bereich, der ihm Gott zugewiesen hat“, wozu auch „Volk“, „Heimat und Familie“ zählten.344 Trotz eines eschatologischen Vorbehalts bleibe das Volk „zu dieser Weltzeit […] der relativ gültige Lebenszusammenhang.“345 In diesem Zusammenhang legitimierten die Verfasser die soziale, ethnische und biologische Gliederung als Teil der Schöpfungsordnung.346 Volk war, im Gegensatz zu Gesellschaft, Staat und Nation, durch „objektive Faktoren wie Abstammung, Kultur oder Sprache“ konstituiert.347 „Volk“ und „Volkstum“ wurden demnach nicht nur als soziale Ordnungsentwürfe gesetzt und brachten die Zusammengehörigkeit der Deutschen zum Ausdruck, sondern wurden auch als gottgewollte, essentialistisch verstandene Schöpfungsordnung, als göttliches Gliederungsprinzip gesetzt und damit soziologisch und theologisch legitimiert. Auch wenn Volk und Volkstum aus integrationspolitischen Notwendigkeiten und theologischen Relativierungen unterschiedlich bewertet wurden, zeigt sich insgesamt, dass alle Akteure an ethnischer, kultureller und sozialer Differenzierung festhielten und Gleichheitsvorstellungen oder Vorstellungen einer Vermischung aus integrations-, ordnungspolitischen oder theologischen Gründen ablehnten, da die Völkervielfalt gottgewollt und gesellschaftliche Differenzierung notwendig für die gesellschaftliche Ordnung seien. Gesellschaftliche Ordnung war offenbar nicht ohne Differenzierung und Gliederung zu denken. Mit Blick auf die Vertriebenen suggerierte der Volksbegriff Homogenität und brachte die Identität und Zusammengehörigkeit von

341 342 343 344 345 346

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. So kritisierte das Papier die „Einebnung der schöpfungsmäßig unterschiedlichen Gliederung der Menschheit in einem großen Völkerbrei“ (Ebd.). 347 Ebd.

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Vertriebenen und Einheimischen zum Ausdruck, ohne dabei auf die kulturelle Eigenständigkeit der Vertriebenen verzichten zu müssen.

2.3 Kulturpolitische Konzeptionen und Initiativen 2.3.1 Die gesetzliche Verankerung der Kulturpolitik und die kulturpolitischen Vorstellungen in den staatlichen Vertriebenengremien Das oben skizzierte Spannungsverhältnis von Integration und Pluralität, Einheit und Differenz findet seinen konkreten und materiellen Ausdruck auf dem Feld der Kultur. Korrespondierend mit den abstrakten gesellschaftlichen und kulturellen Selbstentwürfen, die implizit ebenfalls das Verhältnis von Pluralität und Homogenität zum Ausdruck brachten, ging es hier ganz konkret um die Frage, wie viel kulturelle Verschiedenartigkeit und Vielfalt akzeptiert und zugelassen war oder nicht erwünscht war. Im Folgenden interessieren die kulturpolitischen Konzeptionen und Verständnisse auf bundespolitischer Ebene, anhand derer sich das Verhältnis von kultureller Autonomie und Assimilation, von Differenz und Autonomie konkretisiert.348 Darüber hinaus interessieren die Mitwirkung kirchenpolitischer und protestantischer Akteure an der Kulturpolitik des Bundes und die Verflechtungen und Austauschbeziehungen zwischen Politik und kirchlicher Vertriebenenarbeit, die im weitesten Sinne auch eine eigene Kulturarbeit betrieb und mit konfessioneller und kultureller Differenz umzugehen hatte. Schließlich sollen die innerkirchlichen und bundespolitischen Integrationsvorstellungen, wie sie in der Kulturpolitik und -arbeit zum Ausdruck kamen, parallelisiert werden. Zwar liegt die Kulturhoheit bei den Ländern, dennoch traten der Bund und insbesondere das Bundesvertriebenenministerium als kulturpolitische Akteure in Erscheinung, auch wenn das Bundesvertriebenenministerium über einen begrenzten Spielraum verfügte. In diesem Abschnitt werden der staatliche und kirchliche Umgang mit der kulturellen Unterschiedlichkeit, die protestantischen wie staatlichen Kulturkonzepte und ihre integrationspolitischen Implikationen auf bundespolitischer Ebene analysiert und in Beziehung gesetzt. Dass auch der Umgang mit der religiösen Differenz hier thematisiert und in ein Verhältnis zur staatlichen Kulturpolitik gesetzt wird, ergibt sich aus dem hier zugrundeliegenden Verständnis von Religion und Kultur. Religion manifestiert sich, so die Vorüberlegung, nicht nur im „Glauben“ von Individuen, sondern sie ist auch an Traditionsbestände, Überlieferungen, Artikulationsformen und Praktiken gebunden, die wiederum in der Glaubensgemeinschaft kommuniziert, tradiert, ausgetauscht und neu interpretiert werden. Insofern 348 Wünschenswert wäre es, kulturpolitische Praktiken zu analysieren und Konvergenzen zwischen kulturpolitischen Konzepten und kulturellen Praktiken herauszuarbeiten.

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ist auch Religion an kulturelle Formen gebunden, auch wenn sie sich inhaltlich, beispielsweise durch einen Transzendenzbezug, von der säkularen Kultur unterscheidet.349 Im innerkirchlichen Raum begegnet primär der Begriff „religiöses Erbe“ als religiöses, innerkirchliches Pendant zum Begriff „Kultur“. Im Folgenden steht also die Frage im Zentrum, welche Vorstellungen kirchenpolitische, protestantische und politische Akteure von den Zielen, Aufgaben und Funktionen von Kultur hatten. Zudem interessieren die dahinterliegenden Pluralitäts- und Homogenitätskonzepte, die Aufschluss über gesellschaftliche Selbstverständnisse und Ordnungsvorstellungen geben. Um die protestantische Kulturkonzeption angemessen kontextualisieren zu können, wird zunächst die staatliche Kulturpolitik und die Genese des Kulturparagraphen im Bundesvertriebenengesetz skizziert. Der § 96 des 1953 verabschiedeten Bundesvertriebenengesetzes, der die Förderung der Kultur der Vertriebenen zum Staatsziel erhob, setzte den rechtlichen Rahmen für alle kulturpolitischen Aktivitäten.350 In integrationsund symbolpolitischer Hinsicht ist dem § 96 eine hohe Bedeutung zuzusprechen, denn er „zielte auf die Integration in die deutsche Kulturnation, mit seiner Hilfe sollte der Anteil des kulturellen Erbes der Vertreibungsgebiete an der Nationalkultur sichtbar gemacht und vor dem Vergessen bewahrt werden.“351 Die in verschiedenen Vertriebenenzeitschriften zu lesende Behauptung, dass der in der kirchlichen Vertriebenenarbeit engagierte Jurist Ludwig Landsberg Urheber des § 96 war,352 kann nicht bestätigt werden. Hier ist zunächst die treibende Rolle der Vertriebenenorganisationen zu betonen, die naturgemäß ein Interesse an einem solchen Gesetz hatten.353 Erstmalig findet sich diese Forderung im Programm des BHE-Landesverbandes SchleswigHolstein, der im Flüchtlingsland Schleswig-Holstein besonders stark und zudem an der Landesregierung beteiligt war.354 Auf der 19. Sitzung des Flüchtlingsausschusses für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen des Bundesrates am 10. und 11. September 1951 wurde bemängelt, dass die Regie349 Umgekehrt, aber hier nicht relevant, kann auch die sog. säkulare Kultur religiös geprägt oder religiös aufgeladen sein. Transzendenzbezüge finden sich z. B. auch im säkularen Liedgut, so dass die heuristische Unterscheidung von säkular und religiös nicht ganz trennscharf ist. Demnach konnte die säkulare Kulturarbeit der Vertriebenenverbände religiös aufgeladen werden, wenn sie z. B. in den Dienst des christlichen Abendlandes gestellt wurde. Der BHE Schleswig-Holstein sprach von einer „vom Christentum geprägten abendländischen Kultur als schützenswerte Voraussetzung für die Freiheit der Persönlichkeit und der Menschenrechte“ (Pohl, Integration, 338). 350 Insgesamt auch ebd.; auch Parak, Kultur, 431. 351 Zitiert nach Pohl, Integration, 318. 352 So jedenfalls zu lesen in Schöpfer des Paragraphen 96. In: Siebenbürger Zeitung, 25. 8. 2003. Allerdings war Landsberg in der Kulturarbeit und -politik auf regionaler Ebene aktiv und profilierte eigene kulturpolitische Vorstellungen, die er in die säkularen Vertriebenengremien einbrachte. Vgl. die folgenden Ausführungen 121–127 und Anm. 377. 353 Pohl, Integration, 332. 354 Ebd.

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rungsvorlage keine Bestimmungen über die Kulturfragen enthielt.355 In derselben Sitzung regte die „Arbeitsgruppe Kulturfragen“ an, in der geplanten Präambel des Gesetzes „nicht nur von Eingliederung in das politische, wirtschaftliche und soziale, sondern auch von der Eingliederung in das kulturelle Leben zu sprechen.“356 Der Staatssekretär im bayerischen Sozialministerium und spätere Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer,357 der 1933 in die NSDAP eingetreten und vor 1945 in der sogenannten deutschen Volkstumsarbeit engagiert war und dabei als Professor in Königsberg, Greifswald und Prag in den 1930er Jahren für eine enge Kooperation zwischen Wissenschaft und NSDAP plädiert hatte,358 formulierte Richtlinien für die Verankerung der Kulturarbeit, die er der Arbeitsgruppe Kultur im Deutschen Bundesrat vorlegte und die schließlich die Grundlage für den Kulturparagraphen des Vertriebenengesetzes bildete.359 Nach einer kürzeren Debatte darüber, ob ein solcher Kulturparagraph mit der verfassungsrechtlichen Kulturhoheit der Länder in Übereinstimmung zu bringen sei,360 wurde der § 96 ohne größere Diskussion und mit folgendem Wortlaut verabschiedet: Bund und Länder haben entsprechend ihrer durch das Grundgesetz gegebenen Zuständigkeiten das Kulturgut der Vertriebenen im Bewusstsein der Vertriebenen und des gesamten deutschen Volkes zu erhalten, Archive und Bibliotheken zu sichern, zu ergänzen und auszuwerten und die Aufgaben, die sich für Wissenschaft und Forschung aus der Vertreibung ergeben, zu erfüllen.361

Oberländer verfolgte damit eine Integrationspolitik, die „die Eingliederung fördern, die Verschmelzung verhindern“ sollte und dem Motto „erst gliedern, 355 Niederschrift über die 19. Sitzung des Arbeitsstabes des Ausschusses für Flüchtlingsfragen am 10./11. 9. 1951 (LAV NRW Duisburg NW 94 Nr. 1417); und Kabinettsache, 29. 9. 1951 (LAV NRW Duisburg NW 94 Nr. 1418). 356 Ebd. 357 Oberländer war Pfarrersohn, so dass von einem protestantischen Hintergrund ausgegangen werden kann. Allerdings war er nicht in den Gremien der evangelischen Vertriebenenarbeit engagiert, so dass die Bestimmung „protestantischer Akteur“ hier nur partiell anwendbar ist. Hierzu Wachs, Art. Oberländer, 449. 358 Ebd. Oberländer, der die Radikalisierung der NS-Ostpolitik in mehreren Denkschriften kritisiert hatte, fiel 1937 und 1943 in Ungnade und verlor seine Ämter. 359 So hieß es: „Der Arbeitsstab stellt fest, daß die Kulturfragen der Heimatvertriebenen in dem Bundesvertriebenengesetz nicht angesprochen worden sind. Der Arbeitsstab setzte eine Arbeitsgruppe Kulturfragen zur Sonderberatung ein. Staatssekretär Prof. Dr. Oberländer gab bestimmte Richtlinien vor“ (Beratungsergebnis des Ausschusses für Innere Angelegenheiten am 27. 9. 1951, LAV NRW Duisburg NW 94 Nr. 1418). 360 Die Länder Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, der Rechtsausschuss und der Finanzausschuss machten Einwände geltend. Siehe Kabinettssache, 29. 9. 1951 (LAV NRW Duisburg NW 94 Nr. 1418). Auch Antrag der Länder Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen vom 4. 10. 1951. Bundesrats-Drucksache Nr. 630/6/51; und Änderungsvorschläge und Empfehlungen des Rechtsausschusses des Bundesrates vom 27. 9. 1951. Der Innenausschuss wies diese Bedenken schließlich zurück. Siehe Beratungsergebnis des Ausschusses für Innere Angelegenheiten am 27. 9. 1951, (LAV NRW Duisburg NW 94 Nr. 1418). 361 Bundesrats-Drucksache Nr. 630/51, 13. 10. 1951 (LAV NRW Duisburg NW 94 Nr. 1419).

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dann eingliedern“ folgte.362 Dahinter stand der Ordnungsentwurf von Deutschland als eines Landsmannschafts- oder Stammesgartens, der nach Meinung Oberländers nicht zuletzt deswegen in seiner Eigenart gehegt und erhalten werden müsse, weil er die Pflege des ostdeutschen Kulturgutes als eine wichtige Voraussetzung für die Wiederbesiedelung des deutschen Ostens ansah. Um eine irreversible Assimilation zu vermeiden, propagierte Oberländer dementsprechend eine zukunftsoffene Eingliederung auf Zeit, durch welche vollendete Tatsachen, die eine Rückkehr unmöglich gemacht hätten, vermieden werden sollten.363

Dieses Integrationskonzept enthielt zugleich einen gesellschaftlichen Ordnungsentwurf. Das deutsche Volk setzte sich demnach aus verschiedenen, intern homogenen, miteinander verwandten Stämmen zusammen. Die Kultur solle der Bewahrung dieser Stammesstruktur dienen. Im Ergebnis ist das Bundesvertriebenengesetz und der Kulturparagraph als ambivalent zu beurteilen: Es zementierte die „Förderung des ostdeutschen Erbes im Zusammenhang mit der Suche nach einer deutschen Nationalidentität unter Rückgriff auf die Idee einer ethnischen deutschen Kultur- und Abstammungsnation.“364 Zugleich beinhaltete der § 96 „neben einer innenpolitischen Zielsetzung der Eingliederung stets auch eine deutschland- bzw. außenpolitische Funktion.“365 Der § 96 ist schließlich auch aus der Konkurrenzsituation zur DDR heraus zu verstehen. Der Assimilationspolitik des SED-Regimes stellte er nicht zuletzt eine Würdigung des Kulturgutes der Vertriebenen, der sozialistischen Gesellschaftsvision einer ethnisch und sozial entdifferenzierten Gesellschaft eine sozial und ethnisch differenzierte Gesellschaftskonzeption gegenüber, die im § 96 ihren gesetzlichen Ausdruck fand.366 Die Bundeskulturpolitik zielte auf eine Zementierung und Bewahrung der Vertriebenenidentität wie der einzelnen landsmannschaftlichen Identitäten, während es in der DDR spätestens ab Anfang der 1950er Jahre gar keine 362 Theodor Oberländer auf der Sitzung des kulturellen Unterausschusses am 2. und 3. 11. 1953 (BArch Koblenz B 150/2334). In ähnlicher Weise entfaltete Oberländer sein integrationspolitisches Leitbild: Das Ziel sei eine „wirtschaftliche Eingliederung ohne geistige Verschmelzung“ (Niederschrift der 1. Sitzung des Beirats des Bundesvertriebenenministeriums am 29. 3. 1954, BArch Koblenz B 150/352, B. 1,3). 363 Ebd. Nach seinem Rücktritt kündigte der Minister eine Rehabilitation der in Misskredit geratenen volksdeutschen Arbeit an. Das geht hervor aus: Schreiben von Theodor Oberländer an Max Hildebert Boehm, 20. 10. 1964 (BArch Koblenz N 1077/9). 364 Pohl, Integration, 332. Auf die partielle Synonymität und den engen Zusammenhang von Volk und Nation verweist: Retterath, Volk, 32–45. 365 Pohl, Integration, 332. 366 Zur Abgrenzung von der DDR siehe Parak, Kultur, 423 f.; Schwartz: Vertriebene im doppelten Deutschland, 118 und 123. Das Bild einer „echten Eingliederung“ profilierte sich vor dem Hintergrund der Negativfolie der DDR-Integrationspolitik. Oberländer sprach mit Blick auf die DDR von einer „Zwangsvermassung“. Umgekehrt diente das Bundesvertriebenengesetz dem SED-Regime als Beleg für den revanchistischen Charakter der BRD.

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Vertriebenen mehr geben durfte.367 In der Praxis hatte das Bundesvertriebenenministerium aufgrund der Kulturhoheit der Länder beschränkte Gestaltungsspielräume, es konnte jedoch koordinierend tätig werden und Fördermittel verteilen.368 Die wichtigsten Mittelempfänger waren laut eigener Auskunft die „stammesmäßig gebundenen zentralen Kulturstellen“, darunter das Südostdeutsche Kulturwerk, das Nordostdeutsche Kulturwerk, das Kulturwerk Schlesien und der Adalbert-Stifter-Verein sowie die Kirchen.369 Mitte der 1950er Jahre wurden im Beirat des Bundesvertriebenenministeriums eine Intensivierung sowie eine bessere Koordinierung der Kulturarbeit gefordert.370 Einen Vorschlag von Ludwig Landsberg aufgreifend, sollte das Bundesvertriebenenministerium die vier großen regionalen Kulturwerke und die Landsmannschaften fördern, die Länder hingegen für die „praktische Volkstumsarbeit“ und die „Durchführung von Volkstumswochen“ verantwortlich sein.371 In den Beiräten des Bundesvertriebenenministeriums sowie in den Landesvertriebenenbeiräten und auf der Flüchtlingsministerkonferenz wurde in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren darüber debattiert, welche Ausrichtung die Kulturpolitik des Bundesvertriebenenministeriums verfolgen sollte. Im Wesentlichen und schematisiert zusammengefasst standen sich zwei kulturpolitische Konzeptionen gegenüber: Einerseits ein Verständnis von Kultur, das vor allem die Sonderidentität der landsmannschaftlichen Gruppen festigen und damit auch das Recht auf Heimat zementieren sollte, andererseits ein solches Verständnis, das die gesamtdeutsche Bewusstseinsbildung in den Mittelpunkt stellte, die Vertriebenenkultur als integralen Bestandteil der gesamtdeutschen Nationalkultur begriff und die integrative Funktion der Kultur betonte. Für die erste Konzeption standen Theodor Oberländer und Max Hildebert Boehm.372 Im Jahr 1964 brachte Boehm, der zwar kein Beiratsmitglied war, aber das Nordostdeutsche Kulturwerk aufgebaut hatte und als Präsidialmitglied des Ostdeutschen Kulturrats ein zentraler Akteur in der vertriebenenspezifischen und ostdeutschen Kulturpolitik war,373 sein eigenes, 367 Wustmann, Vertrieben, 178. 368 Pohl, Integration, 425. 369 Dreijahresbericht des Vertriebenenministeriums, 10. 10. 1952 (BArch Koblenz B 150/2329); und Arbeitsbericht über die Sitzung des kulturellen Unterausschusses am 2./3. 11. 1953 (BArch Koblenz B 150/2334). Offenbar hat sich an dieser Zusammenstellung nicht viel geändert. 1967 wurden dieselben Werke genannt. Vgl. Niederschrift über die 3. Plenarsitzung des Beirates für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen am 21. 3. 1967 (EZA Berlin 2/4256). 370 Niederschrift der 1. Sitzung des Beirats des Bundesvertriebenenministeriums, 29. 3. 1954 (BArch Koblenz B 150/4352, Bd. 1); und Niederschrift über die Besprechung über Fragen der Kulturarbeit im BMVt, 20. 5. 1957 (BArch Koblenz 150/2332). 371 Arbeitsbericht über die Sitzung des kulturellen Unterausschusses, 2./3. 11. 1953 (BArch Koblenz B 150/2334). 372 Pohl, Integration, 336. 373 Das geht hervor aus: Niederschrift über die Besprechung über Fragen der Kulturarbeit im BMVt am 20. 5. 1957 (BArch Koblenz 150/2332, Bd. 2).

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zum Teil völkisch konnotiertes Verständnis von Kulturarbeit noch deutlicher zum Ausdruck. Der mit Oberländer freundschaftlich verbundene Boehm374 warnte hier vor einer „Allvermischung der deutschen Stämme und Volksakzente“ und hielt an der Vorstellung verschiedener, in sich homogener, mit eigenen Charaktereigenschaften ausgestatteten Stämme fest.375 Die Kulturarbeit diene der „Herausarbeitung eines nordostdeutschen Eigenbewusstseins“, womit zugleich die „Frage der inneren Neuorientierung des gesamtdeutschen Volkes“ aufgeworfen werde.376 Dieses kulturpolitische Verständnis wurde jedoch nicht von allen Akteuren geteilt. Der in der protestantischen Vertriebenenarbeit engagierte Jurist und nordrheinwestfälische Sozialreferent Ludwig Landsberg hatte die „isolierende“, das Eigenbewusstsein betonende Kulturarbeit der Vertriebenenverbände auf den Sitzungen des nordrheinwestfälischen Vertriebenenbeirats und des Bundesvertriebenenbeirats wiederholt kritisiert und dabei den integrierenden Charakter der Kultur betont. Anstelle einer separaten Vertriebenenkultur postulierte Landsberg eine gesamtdeutsche Nationalkultur, die eine Brücke zwischen Vertriebenen und Einheimischen sein und damit der Integration dienen sollte.377 Auf der Flüchtlingsministerkonferenz im Juni 1965, nur weniger Monate vor dem Erscheinen der Vertriebenen- und Ostdenkschrift der EKD, wurde die Ausrichtung der Kulturpolitik diskutiert. Auf die Frage, ob die Kulturpolitik als „Gruppenförderung“ oder als „allgemeine gesellschafts-, kultur- und staatspolitische Arbeit“ zu verstehen sei,378 gab die Bremer Senatorin Annemarie Mevissen eine eindeutige Antwort. Sie sah in der „ersten Auffassung“ die Gefahr, daß diese Arbeit auf eine Gruppe zugeschnitten würde, die aufgrund ihrer verlorenen Heimat in diesen Fragen eine besondere Haltung einnehme und besondere Ansprüche geltend mache. Es ginge darum, eine Entwicklung zu verhindern, 374 Darauf deutet ein Briefwechsel zwischen Max Hildebert Boehm und Theodor Oberländer: Schreiben von Max Hildebert Boehm an Theodor Oberländer, 20. 10. 1964; und Schreiben von Theodor Oberländer an Max Hildebert Boehm, 20. 10. 1964, (BArch Koblenz N 1077/9). 375 Boehm, Max Hildebert: Zehn Thesen zur Grundlegung einer ostdeutschen Kulturpflege, 1964 (BArch Koblenz N 1077/8). Zu Boehms explizit völkischen Vorstellungen, die an den Diskurs der 1920er, 30er und 50er Jahre anknüpften, vgl. oben 102–121 und 206–215. 376 Ebd. 377 Das geht hervor aus: Landsberg, Ludwig: Drei Diskussionsgrundlagen über Kulturarbeit, XII 1959 (LAV NRW Duisburg RW 305 Nr. 8); ders.: Referat vor dem Kulturausschuss des Landesvertriebenenbeirats in Königswinter am 25. 6. 1962 (LAV NRW Duisburg RW 305–9); ders.: Referat über die Durchführung des § 96. Anhang zur Niederschrift über die Sitzung des Beirates für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen, 30. 10. 1963 (LAV NRW Duisburg BW 200, Nr. 234); und ders.: Die gesellschaftliche Eingliederung der Vertriebenen und ihr kultureller Auftrag, o. D. (LAV NRW Duisburg RW 305 Nr. 13). Damit ging Kritik Landsbergs an der „Propaganda für das Recht der Deutschen auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie“ einher (Landsberg, Situation, 11; vgl. auch unten 360 f.). 378 Wortbeitrag der Senatorin Annemarie Mevissen. In: Protokoll über die Konferenz der Flüchtlingsminister am 3. 6. 1965 in Bonn (LAV NRW Duisburg NW 200 Nr. 2).

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daß diese Auffassung zu einem Engpass und zur Isolierung führe. Das Ziel der Arbeit könne nicht Isolierung, sondern müsse Integrierung sein. Deshalb gehören […] diese Aufgaben nicht in den Bereich der Vertriebenenarbeit, sondern in den Gesamtbereich der Kulturpolitik, […] die die gesamte Bevölkerung und insbesondere die Jugend einbezöge.379

Zwar war das Postulat einer gesamtdeutschen Ausrichtung unumstritten, jedoch war einigen Akteuren die Zementierung eines isolierenden Sonderbewusstseins zu stark und die gesamtdeutsche Ausrichtung der Kulturarbeit zu schwach. Im Ergebnis forderte die Flüchtlingsministerkonferenz die „Intensivierung der gesamtdeutschen Arbeit.“380 2.3.2 Der Umgang mit der innerkirchlichen Differenz Der Umgang mit der Differenz war auch Thema der innerkirchlichen Integrationsdebatten. Vor dem Hintergrund des oben skizzierten gesetzlichen Rahmens, das die Bewahrung der Kultur und die Zementierung der Sonderidentität der Vertriebenen zum Staatsziel erklärte, stellt sich die Frage, wie bundespolitische und innerkirchliche Integrationsvorstellungen in Beziehung zu setzen sind und ob sich Parallelen oder Wechselwirkungen zwischen den innerkirchlichen und außerkirchlichen Integrationskonzepten und -debatten aufzeigen lassen. Die Landeskirchen setzten, wie gezeigt, zunächst auf eine Assimilation. Demnach sollten die Vertriebenen in den Gemeinden möglichst nicht als separate Gruppe oder Glaubensgemeinschaft erscheinen, sondern zum vollwertigen, aber nicht mehr unterscheidbaren Glied der aufnehmenden Gemeinde werden. Die Assimilationspolitik zeigte sich vor allem daran, dass die bekenntnisverschiedenen Vertriebenen zum Wechsel des Bekenntnisses gezwungen, die Gültigkeit der Kirchenordnung sowie das landeskirchliche Prinzip der Einheit von Territorium und Bekenntnis, d. h. das Prinzip „cuius regio, eius religio“ bekräftigt wurden.381 Diese Integrationspolitik zog zunächst innerhalb der Kirchen und Gemeinden einen Verzicht auf eine eigene Traditionsbewahrung nach sich. Grundsätzlich rekurrierten die Landeskirchen damit primär auf die geistliche, religiöse und konfessionelle Dimension. Aus einer analytischen Perspektive kann jedoch davon ausgegangen werden, dass sich Religion in kulturellen Ausdrucksformen, Objekten und Praktiken manifestiert und dass zwischen Kultur und Religion Überschneidungsflächen und Wechselverhältnisse bestehen. Insofern war die landeskirchliche Integrationspolitik auch für den Umgang mit kulturellen Formen, Traditionen, Praktiken und Objekten relevant. Dass die Vertreter der evangelischen Vertriebenen ein anderes Verhältnis zur Differenz hatten als die Kirchenleitun379 Ebd. Konjunktiv im Original. 380 Ebd. 381 Vgl. oben 71–77.

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gen, ist nicht sehr überraschend. Die Repräsentationsorgane der evangelischen Vertriebenen kritisierten die Assimilationsstrategie und die Nötigung zum Bekenntniswechsel, die auf eine Elimination der Differenz zielte, wiederholt scharf. Sie forderten aus seelsorgerlichen, theologischen, moralischen und integrationspolitischen Erwägungen eine Bewahrung der heimatkirchlichen und landsmannschaftlichen Gemeinschaften, Sozialgefüge und der mitgebrachten Traditionsbestände und Glaubensformen.382 Die integrationspolitischen Vorstellungen des OKAs implizierten demnach eine Anerkennung und Förderung des kulturellen und religiösen Erbes der Vertriebenen.383 Allerdings ist das wiederholt vorgebrachte Narrativ des OKAs, dass die Landeskirchen eine Assimilationspolitik betrieben, auch etwas zu differenzieren und zu relativieren. Zwar lässt sich nicht leugnen, dass die Vertriebenen zum Bekenntniswechsel genötigt und ihnen hohe Anpassungsleistungen zugemutet wurden. Andererseits gab es überhaupt Repräsentationsorgane jener alten heimatkirchlichen Gemeinschaften, die zwar mit einer geringen Machtfülle ausgestattet waren, aber auch einzelne Zugeständnisse aushandeln konnten.384 Zudem wurden Gottesdienste nach heimatkirchlicher Liturgie abgehalten und vielfach Ostpfarrer mit der Betreuung ihrer alten Gemeindeglieder betraut,385 auch wenn die aufnehmenden Kirchenleitungen heimatkirchlichen Gottesdiensten zweifellos reserviert gegenüber standen und jeder einzelne Flüchtlingsgottesdienst in heimatkirchlicher Liturgie zum Politikum werden konnte. Der Umgang mit den Frömmigkeitspraktiken der Vertriebenen war dabei von Landeskirche zu Landeskirche höchst verschieden. Die bayerische Landeskirche beispielsweise wollte in ihren Richtlinien von 1949 den Eingliederungsvorgang nicht als „Gleichschaltung“ verstanden wissen, genehmigte Heimattreffen, gewährte außerdem eine seelsorgerliche Betreuung der Vertriebenen durch „Ostpfarrer“ und forderte eine bessere Repräsentanz der Vertriebenen in den Kirchenvorständen. Zugleich formulierten die Richtlinien Einschränkungen, wie die „Evangelische Welt“ berichtete. Heimatkirchliche Liturgien sollten nur „ausnahmsweise zur Anwendung 382 Vgl. oben 64–71. 383 Ähnlich auch das Integrationsprogramm der Hermannsburger Forschungsstelle. Vgl. Seeberg, Stella: Bericht. Arbeitstagung über Flüchtlingsfragen der Forschungsstelle der evangelischen Akademie Hermannsburg, 12.–19. 11. 1948 (LKA Hannover N 57 Nr. 6). 384 Zu den innerkirchlichen Integrationskonzepten siehe oben 71–77 und 64–71 sowie Rudolph, Kirche Bd. I. 385 Nach Rudolph lässt sich die Zahl derjenigen Ostpfarrer, die Kontakte zu den alten Heimatgemeinden herstellten und die Betreuung ihrer alten Gemeindeglieder übernahmen, nicht genau beziffern. Er nennt jedoch das Beispiel einer schlesischen Dokumentation, die einen „vagen Eindruck“ vermittelt. Hier werden 54 Pfarrer aufgelistet, die seelsorgerliche Aufgaben in Form von Rundbriefen übernahmen. Jeder 15. schlesische Geistliche habe solche Rundbriefe initiiert und Kontakte zu ihren alten Gemeinden reaktiviert. Rundbriefe waren das wirkungsvollste und zum Teil das einzige Kommunikationsmittel, das nicht nur der seelsorgerlichen Betreuung, sondern auch der Informationsbeschaffung und -vermittlung diente. Einige Pfarrer absolvierten auch Hausbesuche. Hierzu ebd., 224 f.

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kommen, sofern diese nicht als Hauptgottesdienst gehalten werden.“386 Während der Feier des Abendmahls waren heimatkirchliche Liturgien ganz untersagt.387 Den deutlich benachteiligten388, erst nach und nach gleichgestellten Ostpfarrern, die in der Regel die Gottesdienste in der heimatlichen Liturgie veranstalteten und in Form von Rundbriefen und Besuchsdiensten die Beziehungen zu ihren ehemaligen Gemeindegliedern reaktivierten, erwuchs dabei eine besondere Relevanz. Einerseits waren sie die Ansprechpartner der evangelischen Vertriebenen vor Ort, die sie zu repräsentieren beanspruchten. Andererseits vertraten die Ostpfarrer die aufnehmenden Landeskirchen, denen sie, sofern sie mit einem landeskirchlichen Dienstauftrag ausgestattet waren, disziplinar- und kirchenrechtlich unterstellt waren.389 Insofern können die Ostpfarrer als integrationspolitische Puffer betrachtet werden, die einerseits die Adressaten für die Forderungen und Bedürfnisse der evangelischen Vertriebenen waren, dabei Stimmungen und Wünsche kanalisierten, andererseits die landeskirchliche Kirchenordnung an die neuen Gemeindeglieder zu vermitteln hatten und sich mit entsprechenden Erwartungshaltungen der Kirchenleitungen konfrontiert sahen. Schließlich ist festzustellen, dass die im OKA versammelten Hilfskomitees das landeskirchliche Territorialprinzip prinzipiell anerkannten.390 Der OKA ließ zwei Gut386 Richtlinien für den kirchlichen Dienst an den Heimatvertriebenen. Entwurf für eine Bekanntmachung im Kirchlichen Amtsblatt der ev. luth. Kirche in Bayern vom Juli 1949 (EZA Berlin 17/296). Die „Evangelische Welt“ berichtete hierüber. Vgl. Dienst an den Heimatvertriebenen. In: EvWelt, 1. 3. 1950, 142. 387 Ebd. Bis in die 1970er Jahre bestand zwischen den evang. Bekenntnissen keine Abendmahlsgemeinschaft. 388 Im Gegensatz zu den einheimischen Pfarrern waren die meisten vertriebenen Pfarrer nur mit einem Dienstauftrag ausgestattet. Auch hinsichtlich Sold und Versorgungsbezüge waren die Ostpfarrer gegenüber den westlichen Pfarrern zunächst deutlich benachteiligt, wurden aber nach und nach gleichgestellt, sofern sie in ein regelmäßiges Dienstverhältnis übernommen wurden. Die Ostpfarrerversorgung stellte die aufnehmenden Kirchen vor große materielle Herausforderungen. Hierzu Rudolph, Kirche Bd. I, 320–380. Wetzel verweist auf die zumeist ablehnende Haltung der aufnehmenden Gemeinden und Amtsbrüder gegenüber den Ostpfarrern. Siehe Wetzel, Integration, 105–149. Insgesamt zum Komplex der Ostpfarrerversorgung: Wustmann, Vertrieben, 467–523; Maser, Neuanfang; Baier, Flüchtling, 157 f.; Sommer, Rechtswahrungsansprüche, 407; und Schott, Heimat, 357–359. 389 Dies galt nur für solche Ostpfarrer, die einen landeskirchlichen Dienstauftrag erhalten hatten. Pfarrer ohne Dienstauftrag waren disziplinarrechtlich den Hilfskomitees unterstellt. Es wäre wünschenswert, die Rolle und Funktion der Ostpfarrer im Integrationsprozess näher zu beleuchten und der Frage nachzugehen, welche Mittelwege zwischen den Ansprüchen der evangelischen Vertriebenen und der landeskirchlichen Integrationspolitik sie jeweils gingen, welche Handlungsspielräume sie nutzten oder wie sie die landeskirchliche Integrationspolitik durch eine freie Interpretation möglicherweise abfederten. Interessant wäre auch die Frage, inwieweit die Landeskirchen ihre Disziplinargewalt zur Durchsetzung des Landeskirchenregiments und damit als integrationspolitisches Instrument nutzten. 390 So schrieb Girgensohn, dass aus der „territorialen Gebundenheit der Landeskirchen“ die Schlussfolgerung zu ziehen sei, dass die Ostkirchen kirchenrechtlich nicht mehr existierten. Die „Forderung nach Existenzberechtigung der Ostkirchen“ könne demnach nicht erhoben

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achten zur Stellung der Ostkirchen erstellen. Ein erstes, kirchenrechtliches Gutachten aus der Feder des Kirchenjuristen Ulrich Scheuner vertrat die Theorie einer „doppelten Kirchenmitgliedschaft“ der Vertriebenen, betonte damit die Fortexistenz der Ostkirchen als „Kirchen ohne Land“ und erklärte zudem die Unübertragbarkeit des Territorialprinzips auf den Fall der massenhaften Zwangswanderung.391 Offenbar kam diesem Gutachten in den Integrationsdebatten und -entscheidungen keine weitere Relevanz zu. Ein weiteres vom OKA in Auftrag gegebenes, von den Landeskirchen prinzipiell anerkanntes theologisches Gutachten betonte die Gültigkeit der Kirchenordnung, mahnte aber einen freien, kompromissbereiten Umgang mit der landeskirchlichen Ordnung im Geist der Brüderlichkeit an und warnte vor kirchenregimentlichem Druck.392 Ein Beispiel aus der Kirchengemeinde Rheydt, das als sogenannter „Altarkerzenstreit“ überregionale Beachtung erfuhr, verdeutlicht die schwierigen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Integrationskonflikte in den Gemeinden und im kirchlichen Alltag. 3800 lutherische Vertriebene aus Schlesien wurden der reformierten Kirchengemeinde Rheydt zugewiesen und brachten ihrer Sitte gemäß den Wunsch mit, Kerzen auf dem Altar aufzustellen, eine lutherische Abendmahlsfeier abzuhalten und ihre Kinder nach Luthers Katechismus unterrichten zu lassen, was die aufnehmende reformierte Kirchengemeinde mit dem Verweis auf das aus reformierter Sicht zentrale Theologumenon, dass allein das Wort Gottes gelte, ablehnte.393 Der reformierte Theologe Wilhelm Niesel erblickte in den von den Vertriebenen gewünschten Altarkerzen ein „Relikt aus Heiligenverehrung und Heidentum.“394 Eine geflüchtete Familie beschwerte sich daraufhin bei der Vereinigung Lutherischer Kirchen (VELKD): In unserer Heimat sind wir in einer evangelischen Kirche groß geworden und erzogen, die ganz lutherisches Gepräge trug und Luthers Katechismus und die lutherische Gottesdienstordnung für unser kirchliches Leben maßgebend sein ließ. Jetzt sind wir hier in eine reformierte Gemeinde geraten, die rücksichtslos

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werden (Ders.: Memorandum zur Frage der Eingliederung der Ostkirchen, ADW Berlin ZB 886). Niederschrift der von der Kanzlei der EKD vom 19.–21.9. nach Königswinter einberufenen Konferenz über die Fragen der kirchlichen Flüchtlingsarbeit (ADW Berlin CAW 682). Das Gutachten ist unter dem Titel „Rechtsstellung der Ostkirchen“ überliefert. (ADW ZB Berlin 886). Brunner/Weber/Wolf: Theologisches Gutachten. In: Pöpping (Bearb.), Protokolle, Bd. 5: 1951, 118–122. Explizit wurde hier empfohlen, die Unterrichtung nach Luthers Großen Katechismus zuzulassen. Siehe Hoffmeyer, Migration, 106. In einem rückblickenden Aufsatz bewertete Spiegel-Schmidt den landeskirchlichen Konfessionszwang weniger kritisch. Siehe ders., Wandlungen, 49 f. Ungenügend gelöst erschien ihm rückblickend die Repräsentation der Vertriebenen in Kirchenvorständen und Synoden. Siehe ebd., 58 f. Hierzu ausführlich: Bitter, Altarkerzen. Insgesamt auch Rudolph, Kirche Bd. I, 502–509. Bitter, Altarkerzen, 37.

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und schroff alle hierher gekommenen Evangelischen unter das Joch ihrer kalvinistischen Ordnungen und des Heidelberger Katechismus zwingen will. Das geht so weit, daß kürzlich bei der Trauerfeier für meinen Vater, die ein uns befreundeter lutherischer Geistlicher abhielt, das Anzünden von zwei Altarkerzen verboten und verhindert wurde in unserer Friedhofskapelle, die nüchtern und kahl nicht einmal ein Kreuz enthält. Auch das Spiel eines Harmoniums zur Begleitung der Choräle wurde verboten.395

Nachdem sich der lutherische Bischof der bayerischen Landeskirche, Hans Meiser, zugunsten der lutherischen Schlesier eingeschaltet und sich die schlesischen Vertriebenen nach mehreren weiteren Eskalationsstufen zu einer eigenen lutherischen Bekenntnisgemeinschaft zusammengeschlossen hatten,396 konnte immerhin ein Modus Vivendi erreicht werden: Die Lutheraner verzichteten auf eine Abspaltung, ihnen wurde jedoch eine größere Eigenständigkeit und eine eigene Minderheitenbetreuung gewährt.397 Der „Kerzenstreit“ kann dabei paradigmatisch für den Umgang mit dem innerprotestantischen Bekenntnisproblem auf Gemeindeebene stehen; ähnliche Fälle dürften sich dutzendfach abgespielt haben, auch wenn der Integrationsprozess jeweils höchst unterschiedlich verlief und auch von lokalen Machtverhältnissen abhing. Der Kirchenhistoriker Hans Otte beispielsweise nimmt in einer Lokalstudie den Zuzug von lutherischen Vertriebenen aus der Altpreußischen Union in die reformierte Kirchengemeinde Weener in Ostfriesland in den Blick. Die Vertriebenen erhoben die Forderung nach einer besseren Vertretung im Kirchenrat und baten zudem darum, dass benachbarte lutherische Pastoren in Weenern Konfirmandenunterricht nach Luthers Katechismus hielten. Nachdem sich das lutherische Landeskirchenamt Hannover eingeschaltet hatte und die Bildung einer eigenen Gemeinde forcierte, musste dieser Fall vor dem Schiedsgericht der EKD entschieden werden.398 Neben konfessionell-dogmatischen Unterschieden wie der Unterweisung nach Luthers oder nach dem reformierten Heidelberger Katechismus wurden liturgische Praktiken wie das Aufstehen während der Liturgie oder des Gebets, das Liedgut oder die liturgischen Gesänge als fremd empfunden.399 Insgesamt 395 Zitiert nach Rudolph, Kirche Bd. I, 502. 396 Bitter, Altarkerzen, 41 und 44. 397 Ebd., 45–48. Ein Gutachten des Kirchenrechtlers Rudolf Smend, der das Prinzip der Liebe über das Kirchenrecht stellte und angesichts der kirchenhistorischen Notlage die historische Relativität des Territorialprinzips sowie die Unübertragbarkeit des Konfessionszwanges aus dem 19. Jahrhundert auf die Situation der massenhaften Zwangswanderung begründete, mit anderen Worten: eine kirchenrechtliche Anpassung des Kirchenrechts an die Situation nach der Vertreibung versuchte, blieb unberücksichtigt. Vgl. ebd., 53–55. 398 Die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannover fühlte sich für die Betreuung der lutherischen Vertriebenen verantwortlich und unterstützte die Bildung einer Gemeinde, die der Hannoverschen Landeskirche beitreten sollte. Vor dem Schiedsgericht konnte sich die Hannoversche Landeskirche durchsetzen. Hierzu Otte, Konfession, 243. 399 So Wetzel am Beispiel der aufnehmenden Schleswig-Holsteinischen Gemeinden. Hier be-

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sollte die Bedeutung theologisch-dogmatischer Lehrinhalte auf der Ebene des Zusammenlebens in der Gemeinde jedoch nicht überbewertet werden. Vielmehr waren es vielfältige Fremdheitserfahrungen, deren einzelnen säkularen und religiösen Komponenten kontingent und austauschbar waren, wie der Vergleich mit katholischen Gemeinden zeigt, wo es ein solches Bekenntnisproblem nicht gibt, es aber dennoch zu vergleichbaren Konflikten in den Gemeinden kam.400 In den Integrationskonflikten vor Ort war das Bekenntnisproblem ein zusätzlicher, letztlich kontingenter und damit austauschbarer Aspekt. Vielfach dürften auch Interessenkonflikte ausschlaggebend gewesen sein. Differenzen wurden demnach inszeniert, um die eigene Dominanz zu zementieren und gesellschaftliche Positionen und Interessen in der Kirchengemeinde zu verteidigen.401 Andererseits stellte die Wahrung der konfessionellen Identität der Landeskirche oder Gemeinde für Kirchenvorstände und Kirchenleitungen eine handlungsrelevante Dimension dar, was sich konfliktverschärfend auswirkte. In der Folge wurden dogmatisch-konfessionelle Unterschiede zwischen den Bekenntnissen, die den einzelnen Gemeindegliedern vielleicht nicht einmal bekannt waren, als Abgrenzungs- und Identitätsressource entdeckt und wirkten sich aufgrund der geringen Kompromissbereitschaft der aufnehmenden Kirchenvorstände konfliktverschärfend aus. Besonders galt dies, wenn sich kulturell-soziale Milieus mit einer hohen Kirchlichkeit verbanden.402 Dabei waren es im Einzelfall gar nicht unbedingt die Landeskirchenleitungen, die ihrerseits kein Interessen an der angedrohten Kirchenspaltung hatten, sondern die Kirchenvorstände und aufnehmenden Gemeinden vor Ort.403 Konfessionelle Motive, Begründungsmuster und Identitäten wurden zwecks Abgrenzung und Identitätsbildung verstärkt bemüht. Dieser Befund lässt sich an die These einer Konfessionalisierung rückbinden, die nach Olaf Blaschke drei Dimensionen, darunter auch ausdrücklich den konfessionsinternen Bereich, umfasst.404 Zugleich ist auch auf

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klagten sich die Vertriebenen über den Mangel an Feierlichkeit. Hierzu Wetzel, Integration, 114–117. Greschat, Vertriebene, 49 und 71. Wetzel, Integration, 121. Greschat, Vertriebene, 71. Nach Otte könne äußeren Merkmalen die größere Bedeutung zugesprochen werden. Vgl. Otte, Konfession, 241. Im Fall des Rheydter Altarkerzenstreits nahm die Landeskirchenleitung eine vermittelnde Position ein. Schott berichtet am Beispiel der Kirchengemeinde Weener, dass die Gemeindeleitung die Anregungen des reformierten Landeskirchenrats, Vertreter der Vertriebenen in den Kirchenrat zu entsenden und lutherischen Konfirmandenunterricht in Weenern abzuhalten, ignorierte. Ebd., 219. Blaschke unterscheidet drei Dimensionen: Konfessionalisierung innerhalb der Konfession, Konfessionalismus gegen eine andere Konfession und einen systemexternen Konfessionalismus. Hier nach Buchna, Jahrzehnt, 351. Es scheint wahrscheinlich, dass der Zuzug von Millionen Vertriebenen und die Veränderung der konfessionellen Struktur diese Konfessionalisierung erst einmal sogar verstärkte, da die konfessionelle Identität in der Konfrontation mit dem Fremden entdeckt und als Abgrenzungsressource gebraucht wurde.

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die begrenzte Reichweite des kirchenleitenden Handelns hinzuweisen. Die anvisierte Assimilation konnte demnach nur bedingt in der Praxis umgesetzt, Zugeständnisse in einem mühsamen Aushandlungsprozess durchgesetzt werden. Allein auf der Ebene der kulturellen Praktiken und Gewohnheiten vollzogen sich Veränderungsprozesse, die sich der kirchenadministrativen Steuerung teilweise entzogen oder die eine nachträgliche Reaktion einzelner Kirchenleitungen erzwangen. Umgekehrt erwarteten auch die Vertriebenen die Anpassung der Einheimischen und konnten sich damit zumindest partiell durchsetzen.405 In Schleswig-Holstein fand 1954 eine Liturgiereform statt, die Differenzen beseitigte und heimatkirchliche Elemente in die Agende übernahm. Dem Abendmahl wurde dabei eine größere Stellung im Gottesdienst eingeräumt, wobei dieser Kompromiss wiederum Fremdheitsgefühle bei den Einheimischen hervorrief und nicht alle Vertriebenen zufrieden stellen konnte.406 Der Integrationsprozess entfaltete seine eigene konfliktbeladene Dynamik, veränderte Aufnehmende wie Aufzunehmende und entzog sich zumindest teilweise der kirchenamtlichen Steuerung. Es scheint nicht unwahrscheinlich anzunehmen, dass diese Differenzerfahrungen und der mittelfristig pragmatische Umgang mit der eigenen Tradition zu einem Relevanzverlust dogmatischer Lehrinhalte beitrugen, die Verbindlichkeit kirchenleitenden Handelns beeinträchtigten und einen Effekt auf das religiöse Feld insgesamt hatten.407 2.3.3 Kulturpolitik und Differenzbewältigung in der EKD Diese skizzierten Debatten rekurrierten zunächst auf den Umgang mit der geistlichen und religiösen Differenz im kirchlichen Alltag. Daneben betrieben die evangelischen Kirchen eine eigene Kulturarbeit, die allerdings auf den 405 Wetzel, Integration, 122. In einigen Fällen konnten die Vertriebenen aufgrund der Mehrheitsverhältnisse eine Dominanz gewinnen, wie Otte am Beispiel des Emslandes zeigt. Siehe Otte, Konfession, 216. 406 Wetzel, Integration, 118–120. 407 So vermutet: Bitter, Altarkerzen, 51 f. Ein Zusammenhang zwischen Vertreibung, konfessioneller Durchmischung und Pluralisierung des religiösen Lebens ab der zweiten Hälfte der 1950er scheint grundsätzlich plausibel, allerdings besteht hier noch Forschungsbedarf. Hier ist auch auf den Anstieg der gemischtkonfessionellen Eheschließungen zu verweisen, die sich auf die Frömmigkeitspraxis und das kirchliche Leben auswirkten und die kirchenleitende Autorität untergruben. Aus diesem Grund beäugten Kirchenleitungen Mischehen skeptisch. Siehe hierzu Buchna, Jahrzehnt, 358. Zur religiösen Pluralisierung seit den späten 1950ern insgesamt Großbçlting, Himmel. Einen Zusammenhang von Vertreibung und Pluralisierung vorsichtig andeutend: Greschat, Vertriebenen, 75 f. Letztlich korrespondiert dieser Streit mit einem soziologischen Phasenmodell, das folgende Phasen nennt: 1) „Kulturschock“, 2) „Kulturkontakt“, 3) „Kulturkonflikt“, 4) „Sekundäre Minderheitenbildung“, 5) „Akkulturation“ und 6) die Phase der „punktuellen Bewahrung“ bzw. Entstehung einer „Volkskultur in der postmodernen Gesellschaft“ (M ns, Heimatvertriebenen, 233). Etwas abweichend: Frantzioch, Vertriebenen, 171.

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innerprotestantischen Bereich, d. h. die Pflege und Konservierung des ostprotestantischen Erbes beschränkt war. Zunächst waren es die Hilfskomitees, die nach Überwindung der gröbsten Nachkriegsnot eigene katalogisierte Archive und Bibliotheken aufbauten.408 Der Kirchenhistoriker Hartmut Rudolph verweist zudem auf die Fülle an „Heimatbüchern, Jahrbüchern, Heimatkalendern einzelner Gemeinden, Distrikte oder ganzer Landsmannschaften“, die neben heimatkirchlichen Periodika „von ihrer Verbreitung her das wirkungsvollste literarische Mittel zur Bewahrung des kirchlichen Erbes und zur Erinnerung an die verlorene Heimat“ waren.409 Neben mitgebrachten Altargegenständen, Kirchenschmuck, Liedgut, liturgischen Praktiken und Bräuchen, die im kirchlichen Alltag weiter gepflegt wurden, bildete sich eine Erinnerungskultur an die alte Heimat heraus. Diese findet in Gedenktafeln und sogenannten Ostlandkreuzen, die häufig von lokalen Gruppen und Initiativen errichtet wurden, ihren materiellen Ausdruck.410 Im Jahr 1951 organisierten der OKA und die Hilfskomitees einen groß angelegten, kirchentagsähnlichen Tag der zerstreuten Heimatkirche, auf dem in der Lübecker Marienkirche im Beisein des Bundeskanzlers eine Heimatgedenkkapelle eröffnet wurde.411 1957 und 1958 erhoben einzelne kirchenamtliche Stellungnahmen die Forderung, das kulturelle, geistige und religiöse „Erbe der Vertriebenen“ zu berücksichtigen und ernst zu nehmen, zielten dabei aber vor allem auf die theologisch-geistliche, nicht jedoch auf die säkular-kulturelle Dimension des Erbes.412 Ab Mitte der 1950er Jahre ist zudem die Tendenz erkennbar, die Pflege des Erbes zu professionalisieren, auf EKD-Ebene zu bündeln und zu institutionalisieren. Ausdruck hierfür war der vom OKA entwickelte, von den westdeutschen Landeskirchen anerkannte Plan für ein „Ostkircheninstitut der EKD“, das am Vorbild des Ostpriesterseminars der 408 409 410 411

Rudolph, Kirche Bd. II, 295 Ebd., 296. Hierzu insgesamt Stoltz/Teuchert: Integration, 16. 6 Jahre. Dieser auch von Adenauer besuchte Tag der zerstreuten Heimatkirche erfuhr auch die Aufmerksamkeit der säkularen und der protestantischen Presse. Siehe z. B.: Die zerstreute Heimatkirche. In: Die Zeit, 6. 9. 1951, 1. Für die „Welt“ standen der Besuch Adenauers und der Protest gegen die „Potsdamer Grenze“ im Zentrum: Das unvergängliche Recht auf die Heimat. In: Die Welt, 6. 8. 1951, 1; Heimat für Heimatlose. In: ChrWelt, 30. 8. 1948, 1. Das Wunder von St. Marien. In: SZ, 1. 9. 1951, 5; und Bindeglied zwischen Deutschen. Der Bundeskanzler sprach in Lübeck. In: Sonntagsblatt, 9. 9. 1951, 1. 412 So rekurrierte diese Formulierung auf das Vertreibungsgeschehen, das als Glaubenserfahrung und -bewährung empfunden wurde, und das kirchengeschichtlich-reformatorische Erbe Osteuropas. Abgesehen von der Denkschrift der EKD von 1965 wären drei Stellungnahmen zu nennen, die eine Berücksichtigung des Erbes forderten: Erklärung der hessischen Synode. Abschrift. Material zur Vorbereitung der nächsten Tagung, versendet von Spiegel-Schmidt an die Mitglieder des OKAs mit Schreiben vom 28. 3. 1957 (EZA Berlin 17/580); Wort und Beschlüsse der westfälischen Landessynode, 19.–24. 10. 1958 in Bethel (EZA Berlin 17/717); und Wester, Reinhard: Recht auf Heimat? Ein Brief an die Heimatvertriebenen. Anhang zum Schreiben von Wilhelm Gundert an die Mitglieder des Rates der EKD vom 18. 3. 1963 (EZA Berlin 2/4297).

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katholischen Vertriebenenarbeit im Taunus orientiert war.413 Das 1957 eröffnete Ostkircheninstitut sollte sich der Dokumentation und Erforschung der osteuropäischen Kirchengeschichte widmen und hatte primär einen dokumentarisch-archivierenden Charakter. 1959 eröffnete der OKA auf dem DEK in München die breit rezipierte und mit großem Aufwand vorbereitete Ausstellung „Zeugnisse des Evangeliums,“ die das „Erbe der Reformation im Osten“ ins Bewusstsein rufen sollte.414 Handelt es sich um einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel, wenn der Rat der EKD mit der Einrichtung eines Ostkircheninstituts nun ab Mitte der 1950er Jahre kulturpolitisch tätig wurde, obwohl Landeskirchen wie EKD eine Assimilationspolitik verfolgten? Als die EKD ab Mitte der 1950er Jahre kulturbewahrend tätig wurde, waren bereits die zentralen integrationspolitischen Konflikte ausgetragen und Entscheidungen gefallen. 1957 war, im Gegensatz zur unmittelbaren Nachkriegszeit, nicht mehr zu erwarten, dass die landeskirchliche Ordnung und die verfassungsmäßigen Grundlagen der Landeskirchen infrage gestellt wurden. Möglicherweise basierte die Institutionalisierung der Kulturarbeit auf EKD-Ebene auch auf einer impliziten Unterscheidung von säkular-kultureller und religiöser Sphäre. Die aufnehmenden Kirchen pochten dann auf Assimilation, wenn die Kirchenordnung und das landeskirchliche Deutungsmonopol über Glaubensfragen und im eigentlichen Sinne religiöse Fragen tangiert war. Dieses Verständnis fand z. B. seinen Ausdruck im Begriff des Traditionschristentums und des „Brauchtums“. Diese pejorativ gebrauchten Begriffe unterstellten den Vertriebenen, die auf eine Akzeptanz ihrer Traditionsbestände beharrten, eine Glaubensschwäche, weil sie an überkommenen Formen festhielten und sich nicht auf den reinen Glauben, der unabhängig von Traditionen, von Formen und Sitten existierte, verließen.415 Von den wahrhaft Glaubenden könne, so der Umkehrschluss, verlangt werden, dass sie auch ohne Konservierung heimatlicher Traditionen Heimat in den aufnehmenden Kirchen fänden. Eine Dokumentation des ostprotestantischen Erbes war hingegen keine Bedrohung für die landeskirchliche Deutungshoheit über das religiöse Leben und schien unproblematisch – erst recht, wenn diese Kulturarbeit einen primär dokumen413 Rudolph, Kirche Bd. II, 296. 414 Die vorbereitenden Materialien und Korrespondenzen finden sich in der Akte EZA Berlin 607/125. Erwähnt wird die Ausstellung in Schmidt, Doris: Aus der Bilderwelt der Reformation. In: FAZ, 11. 8. 1959, 11. 415 Vor diesem Hintergrund erklärt sich Girgensohns Kritik am Begriff des Traditionschristentums, der in der Regel pejorativ gebraucht wurde. Girgensohn hatte das Festhalten an Traditionen zwar an einer Stelle als „Schwäche des Glaubens“ bezeichnet, betonte aber auch die Zusammengehörigkeit von Glauben und Form bzw. Sitte. Vgl. Ders.: Memorandum zur Frage der Eingliederung der Ostkirchen (ADW Berlin ZB 886); Niederschrift über die Tagung der Ostkirchen und Flüchtlingsreferenten der Landeskirchen für Flüchtlingsseelsorge am 7./8. 4. 1948 in Rothenburg (EZA Berlin 17/297); und ders., Flüchtlinge, 13 f. In Analogie dazu bezeichnete Spiegel-Schmidt die Traditionen und Sitten in einem späteren Aufsatz als „Gefäß des Glaubens“ (Spiegel-Schmidt, Wandlungen, 24).

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tarischen oder konservatorischen Charakter hatte. Nur wenige Akteure wie etwa Herbert Girgensohn reflektierten die symbiotische Beziehung von Tradition und Glaube, von Sitte und Religion.416 Gewissermaßen fand diese Diskussion in der sogenannten Erbediskussion ihre Fortsetzung, die in den 1960er Jahren ausgetragen wurde. Der in der kirchlichen Vertriebenenarbeit engagierte Pfarrer Oskar Söhngen erteilte einer Förderung des Erbes eine Absage, weil „die junge Generation“ das Erbe „als verpflichtenden Auftrag“ nicht übernähme.417 Der Theologe Eberhard Schwarz wies diesen Standpunkt dagegen als realitätsferne „Spiritualisierung“ zurück: Es gibt heute Stimmen, die die Ansicht vertreten, daß wir bezüglich des Erbes buchstäblich in ein Nichts gestellt sind, daß aber das Nichts vielleicht gerade der Ort sei, an dem der Glaube aufgerufen sei. Da es besonders fest umrissene und tradierbare Überlieferungen des Ostens nicht gebe, bleibe allein die geistliche Hoffnung, daß Gott die Heimatvertriebenen aus der bisherigen Segensgeschichte nicht entlassen habe […]. Diese einseitige Spiritualisierung des geschichtlichen Erbes, die hier allem Anschein nach vorgenommen wird, birgt die Gefahr in sich, daß es seine Realität verliert. Wenn die geschichtlich prägende Überlieferung wirksam bleiben soll, dann verlangt die innere Gewißheit, daß Gott uns als Schlesier, Ostpreußen, Danziger, Westpreußen, Pommern und Posener nicht aus der Geschichte entlassen hat, nicht nur ein geistliches Hoffen, sondern aus dieser Zuversicht heraus auch Sammlung, Zurüstung und Sendung.418

Diese beiden Positionen umreißen hier paradigmatisch das Deutungsspektrum.419 Insgesamt war die protestantische Kulturpolitik aber auf den innerkirchlichen Bereich, d. h. das ostprotestantische, kirchengeschichtliche und religiöse Erbe beschränkt und lässt keine Ambitionen in der Kulturpolitik der Bundesrepublik erkennen. Der in der praktischen Kulturarbeit engagierte Ludwig Landsberg, der die innerkirchliche Assimilationspolitik und Verständnislosigkeit der aufnehmenden Kirche scharf kritisierte, ist hierbei als Ausnahme zu betrachten.420 416 Girgensohn, Flüchtlinge, 13–15; ders.: Wahrheit zur Frage der Eingliederung der Ostkirchen (ADW Berlin ZB 886); und Niederschrift über die Tagung der Ostkirchen und Flüchtlingsreferenten der Landeskirchen für Flüchtlingsseelsorge am 7./8. 4. 1948 in Rothenburg (EZA Berlin 17/297). 417 Zit. nach Rudolph, Kirche Bd. II, 306 f. Vgl. auch Sçhngen, Erbe, 5–26. 418 Ebd., 308. Vgl. auch Schwarz, Vermächtnis, 30. 419 Ebd., 308 f. 420 Zu Landsbergs Kulturarbeit und kulturpolitischen Vorstellungen siehe Anm. 377. Seine Kritik an der innerkirchlichen Assimilationspolitik findet sich in fast jedem seiner Aufsätze und Vorträge. Vgl. Ders.: Aspekte der Vertriebenenarbeit aus staatlicher Sicht und Bericht über die augenblickliche Situation. Eine Kurzwiedergabe des Referats findet sich im Bericht über die Tagung „Die Kirche und das Vertriebenenproblem“ vom 25.–27. 11. 1958 (LKA D sseldorf 1 OB 001 251). Vgl. auch ders., die Vertriebenen in der gesellschaftlichen Ordnung; ders., Gemeinde; ders.: Vortrag auf der Pressetagung der evang. Flüchtlingsseelsorge, 30.5.–1. 6. 1965

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2.4 Die Integrationsfähigkeit des ländlichen und industriellen Raums Bislang wurden allgemeine Integrationskonzepte, die dahinterliegenden Gesellschaftsvorstellungen und die gesellschaftsbezogenen Denk- und Deutungsfiguren analysiert. Neben dieser eher abstrakten Deutungsebene stellt sich die Frage nach den Gesellschaftsformen und Gesellschaftsräumen, in die die Vertriebenen zu integrieren waren, ob also ländlichen, städtischen oder industriellen Räumen und Gesellschaftsformen der Vorzug gegeben werden sollte. In diesen Debatten wurden einerseits pragmatische Argumente wie arbeitsmarktpolitische Erwägungen oder Wohnraumkapazitäten ausgetauscht, zugleich spielten auch hier allgemeine Topoi der Gesellschaftsdeutung hinein. Hintergrund ist zunächst der Sachverhalt, dass die Vertriebenen nach 1945 zunächst in den überwiegend ländlichen, infrastrukturell weniger zerstörten Regionen Bayerns, Schleswig-Holsteins und Niedersachsens untergebracht wurden. Da diese Regionen im Gegensatz zu den industriellen Zentren im Westen allerdings über geringe Arbeitsmöglichkeiten verfügten, wurde ab Ende der 1940er Jahre vermehrt über Binnen- oder sog. Sekundärwanderungen diskutiert. Die auch in protestantischen Kommunikationszusammenhängen ausgetragene Diskussion war aber nicht nur pragmatischer Natur, sondern wies auch auf dahinterliegende Gesellschaftsvorstellungen und gesellschaftspolitische Präferenzen, die auch auf normative Prädispositionen zurückgeführt werden können. Im Folgenden wird die Diskussion und Konstruktion ländlicher, städtischer und industrieller Räume analysiert. Dabei werden zunächst die protestantische Auseinandersetzung mit der Eingliederung heimatvertriebener Landwirte, anschließend die Kritik an der ländlichen Dorfgemeinschaft, arbeitsmarktpolitisch-industriegesellschaftliche Erwägungen und die Auseinandersetzung mit der Flüchtlingsstadt dargestellt. 2.4.1 Die Eingliederung heimatvertriebener Landwirte und die Konstruktion des ländlichen Raumes Die zeitgenössischen Gesellschaftsvorstellungen basierten auf einer stark ausgeprägten Stadt-Land-Dichotomie, die auch anlässlich der Vertriebenenproblematik aktualisiert wurde und die zugleich mit konkreten integrationspolitischen Implikationen einherging.421 Bereits im Frühjahr 1949 fand (LAV NRW Duisburg RW 305–7); ders., Heimat und Heimatlosigkeit; ders., Situation; ders., Spannungsfeld; ders., Preis; und ders., Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem). 421 Letztlich zeigt sich im Diskurs eine starke Stadt-Land-Dichotomie. Eine Ausnahme stellt Ludwig Neundörfer dar, der darauf hinwies, dass viele Vertriebene auf dem Land lebten und in die Stadt pendelten, was auch einen Wandel des Dorfes zufolge habe. Siehe Neundçrfer,

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eine Konferenz mit „prominenten Vertretern beider christlicher Kirchen, Sachverständigen der Bauernverbände, der Flüchtlingsvertretungen und der Verwaltung für Ernährung und Landwirtschaft“ statt, auf der ein Patenschaftsprogramm vorgeschlagen und zur „Einordnung des Flüchtlings in die Dorfgemeinschaft“ aufgerufen wurde.422 Das Vertriebenenreferat der Hermannsburger Forschungsstelle unter Stella Seebergs Leitung legte einen Schwerpunkt auf die Eingliederung heimatvertriebener Landwirte. Einige der Referenten, die als Mitarbeiter in Ministerialbürokratien oder Kreisverwaltungen praktisch mit der Vertriebenenproblematik befasst waren, setzten sich auf den Hermannsburger Flüchtlingstagungen mit der Frage auseinander, ob die Vertriebenen in einer landwirtschaftlich oder industriell geprägten Region angesiedelt werden sollten. Manche der Referenten und Tagungsteilnehmer bevorzugten beispielsweise eine Unterbringung der Vertriebenen in den ländlichen Regionen, die im Gegensatz zu Industrie und Großstadt gegenüber der Vermassung resistenter schienen. Der Oldenburgische Oberregierungsrat Hans Heinrich von Scheliha erhob 1950 auf einer Hermannsburger Tagung die Forderung, dass die Arbeit zum Menschen gebracht werden müsste, anstatt dass die Menschen in die industriellen Zentren zögen, da die „nach amerikanischem Vorbild“ errichteten „größeren Wohnblocks zur Vermassung“ führten.423 Ein besonders krasses Beispiel der Stadt-Land-Dichotomie und einer Idealisierung der ländlichen Gesellschaft findet sich in der evangelischen Wochenzeitschrift „Das Sonntagsblatt.“424 Land und Landbevölkerung befänden sich, so die Verfasserin Anna Treut, im „Mahlstrom der technischen Zivilisation“ und das Dorf, die „letzte natürliche Lebensgemeinschaft, die wir in unserer Welt kennen, ist in Gefahr, sich aufzulösen.“ Damit gehe ein Verlust verpflichtender Gemeinschaft einher, der vom wachsenden Egoismus und Materialismus nach dem Krieg hervorgerufen worden sei. Der Verlust „verpflichtender Gemeinschaft“ war „für den Volkskörper“ von „außerordentlicher Bedeutung“. Explizit griff Treut auf Versatzstücke des völkischen Denkens und der Blut-und-Boden-Ideologie zurück: Die „moderne Zivilisation“ stelle eine Form der Zersetzung dar, die „tiefe Schäden und Löcher […] in das dörfliche Leben hineingefressen hat.“ Der Bauer sei hingegen noch an „Blut und Boden“ gebunden, jene „das Landleben tragende und bergende Kräfte.“ Strukturwandel, 54. Ähnlich auch Seeberg, Stella: Vertriebene Bauernfamilien in der Industrie. Untersuchung von 100 vertriebenen Bauernfamilien in der Grafschaft Bentheim, Loccum 1956. [Gutachten für das Bundesernährungs- und Landwirtschaftsministerium] (EZA Berlin 512/ 67). 422 Persönlicher Lastenausgleich. In: Die Zeit, 7. 4. 1949; Für sozialen Frieden auf dem Lande. Ein Aufruf zur Einordnung der Flüchtlinge in der Dorfgemeinschaft in EvWelt, 1. 4. 1949, 259. 423 Scheliha, Flüchtlingsarbeit, 22 f. Oberregierungsrat Wachsmann sprach sich für eine Dezentralisierung der Wirtschaft aus, um den „Vermassungsprozeß in den Großstädten“ zu stoppen. Siehe Wachsmann, Förderung, 139–141. 424 Hier und im Folgenden: Treut, Anna: Die Kirche steht noch im Dorf. In: Sonntagsblatt, 16. 8. 1953, 13.

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Einen besonderen Themenschwerpunkt der Hermannsburger Flüchtlingstagungen war die Frage der Eingliederung der heimatvertriebenen Landwirte, die schließlich auch praktisches Engagement nach sich zog. 1952 initiierte Seeberg eine „Ergänzungstagung“ zu Problematik der vertriebenen Bauern.425 Ziel war, dass „möglichst viele Bauern […] eine Siedlerstelle erhalten.“426 Die von Landesbischof Lilje „angenommene“ Resolution der Ergänzungstagung erläuterte die Gründe für dieses Engagement: Es sei die dringendste Aufgabe, heimatvertriebenes Landvolk in den nächsten Jahren wieder mit dem Boden zu verbinden, wenn nicht diese wertvollen Familien in ihrem menschlichen Bestand gefährdet und dem Land dauernd entfremdet werden sollen, so dass das soziale Gefüge unseres Volkes dadurch aufs Höchste bedroht wird.427

Auch der DEK hatte 1952 eine eigene Arbeitsgruppe zum Thema „Dorf“ eingerichtet und sich mit der Situation der vertriebenen Landwirte befasst.428 Vom Kirchentag ging zudem der Impuls zur Gründung einer „evangelischen Aktionsgemeinschaft zur Eingliederung heimatvertriebener Landwirte“ aus, deren Gründung schließlich 1955 realisiert wurde.429 An dieser Arbeitsgruppe wirkten Klaus von Bismarck, Stella Seeberg und Siegfried Palmer mit.430 Das Zentralbüro des Hilfswerks der evangelischen Kirche war Träger dieser Organisation, die eine praktische Integrationsagenda verfolgte.431 Offenbar war 425 426 427 428 429

Sesshaftmachung. In: Seeberg, Lage, 174–182. Ebd., 174. Ebd., 182. Seeberg, Landvolk, 65–74. Unterlagen für den Jahresbericht 1956, Referat Dr. Hermann Maurer, o. D. Dokument 2: Evangelische Aktionsgemeinschaft zur Eingliederung vertriebener Landwirte (ADW Berlin ZB 886). Vertriebene selbst baten die Kirchenleitungen und das Hilfswerk darum, eine solche Organisation zu gründen. Siehe Bericht über die Tätigkeit der evangelischen Aktionsgemeinschaft der Eingliederung vertriebener Landwirte, 15. 5. 1957 (EZA Berlin 2/4281). 430 Palmer war 1952 Leiter des Referats „ländliche Sozialfragen“ im Bundeslandwirtschaftsministerium und wechselte 1957 ins Bundesvertriebenenministerium, wo er mit der Eingliederung vertriebener Landwirte betraut war. Davon zeugt z. B.: Niederschrift über die Sitzung des Beirates für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen am 26. 2. 1959 (BArch Koblenz B 150/ 004347, Bd. 1); und Niederschrift über die Sitzung des Arbeitsausschuss im Beirat für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen vom 17. 3. 1960 (BArch Koblenz B 150/004351). Die biografischen Informationen nach Kabinettsprotokolle der Bundesregierung online, Biografien, Bundesarchiv, Stand: 15. 9. 2016. 431 Neben dem Hilfswerk waren die Kirchenkanzlei der EKD, der DEK, die Arbeitsgemeinschaft für dörflichen Heimatdienst der EKD, der Bauernverband der Vertriebenen und die AG deutscher Landwirte Mitglieder. Vorstandsmitglieder waren Constantin von Dietze, Siegfried Palmer und Hermann Maurer. Die Organisation leistete vor allem praktische Arbeit, z. B. Beratungsarbeit, Aufklärungsarbeit oder Stellenvermittlung. In einem Arbeitsbericht wurde bekannt gegeben, dass 125 landwirtschaftliche Objekte in Bearbeitung genommen und 19 Eingliederungsfälle abgeschlossen worden seien. Siehe Unterlagen für den Jahresbericht 1956, Referat Dr. Hermann Maurer, o. D. Dokument 2: Evangelische Aktionsgemeinschaft zur Eingliederung vertriebener Landwirte (ADW Berlin ZB 886).

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die Arbeit der Organisation wegen des Widerstandes der einheimischen Bauern und der unzureichenden finanziellen Ausstattung nicht sehr erfolgreich, so dass sie nur zwei Jahre später aufgelöst wurde.432 Das protestantische Engagement für die Eingliederung vertriebener Landwirte lässt sich insgesamt auf vier Motive zurückführen. Erstens wurde beklagt, dass der größte Teil ehemals selbständiger Landwirte keine selbständige Existenz erlangt habe, was als Beleg für eine Deklassierung der Vertriebenen und als Integrationsdefizit gewertet wurde. So stellte das Hilfswerk der evangelischen Kirche fest, dass in den vergangenen 10 Jahren „15 von Hundert vertriebenen Bauern“ eingegliedert werden konnten, davon „2,5 von Hundert auf Vollbauernstellen […]. Bei keinem Berufsstand ist das Eingliederungsergebnis so gering wie beim landwirtschaftlichen.“433 Dieser Aussage lag das integrationspolitische Ziel zugrunde, dass die Vertriebenen in einen Beruf vermittelt werden sollten, der der sozialen Stellung und beruflichen Tätigkeit in der alten Heimat möglichst entsprach. Sicherlich war der Verlust des Hofes für viele Vertriebene tatsächlich ein großer, als Deklassierung empfundener Verlust. Vermutlich hing diese Einschätzung aber auch mit einer, so das zweite Motiv, zumindest latent vorhandenen Höherbewertung der ländlichen gegenüber der industriellen Lebens- und Gesellschaftsform zusammen, da die ländliche Gesellschaft nicht zur Vermassung führe. Drittens sollte gerade die Aktionsgemeinschaft – offenbar erfolglos – konfessionelle Interessen wahren und bei Siedlungsprojekten auf konfessionelle Homogenität achten, da eine Ansiedlungspraxis, die die konfessionellen Grenzen missachte, den Frieden empfindlich störe.434 Viertens wurde die Eingliederung vertriebener Landwirte vor dem Hintergrund einer möglichen Rückkehr in die ehemaligen deutschen Ostgebiete diskutiert. Die Rückkehr wurde offenbar als Rekolonisationsprojekt gedacht, als sei der Osten eine unbesiedelte, entvölkerte Wildnis, die wiederbesiedelt und rekultiviert werden müsse. Die Bauern galten dabei als Träger des Kolonisationsgedankens und der Wiederbesiedelung. Es galt, die bäuerlichen Fähigkeiten zu erhalten. So führte Oberregierungsrat Siegfried Palmer, der als Referent im Bundesernährungs432 Der Flüchtlingsbeirat der EKD macht dagegen die unzureichende finanzielle Ausstattung der Aktionsgemeinschaft verantwortlich. Hierzu Niederschrift über die Sitzung des Flüchtlingsbeirates der EKD am 13. 9. 1960 in Kassel (EZA Berlin 2/4293). Auch der Beirat des Bundesvertriebenenministeriums setzte diese Thematik immer wieder auf die Agenda. Hier lassen sich zum Teil ähnliche Argumentationsfiguren finden. Vgl. z. B. die Akte BArch Koblenz B 150/4352, Bd. 1. 433 Aktenvermerk für Herrn Maurer, 14. 1. 1957 (ADW Berlin ZB 886). 434 Bericht über die Tätigkeit der evang. Aktionsgemeinschaft der Eingliederung vertriebener Landwirte, 15. 5. 1957 (EZA Berlin 2/4281). Auch Seebergs Engagement im Emsland war konfessionell motiviert und richtete sich gegen die von ihr beobachtete Benachteiligung evangelischer Bauern bei der Landvergabe. Siehe Schreiben von Stella Seeberg an OLKR Friedrich Bartels, 15. 8. 1956 (LKA Hannover N 14 Nr. 25); und Dies: Der Dienst der Kirche an den Heimatvertriebenen. Die Heimatvertriebenen in unseren ländlichen Gemeinden o. D. (LKA Hannover N 14 Nr. 19).

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und Landwirtschaftsministerium für Vertriebenenfragen zuständig war,435 1949 in Hermannsburg aus: „Wir brauchen weiterhin einen pionierfähigen Bauernstand, wenn wir wirklich einmal wieder den deutschen Osten kolonisieren wollen.“436 Variationen dieses Topos lassen sich in Vorträgen und Aussprachen der Hermannsburger Flüchtlingstagungen immer wieder finden.437 Seeberg glaubte 1953 den Konsens der Tagungsteilnehmer wiederzugeben, wenn sie in ihrer Einleitung das Rückkehrpostulat mit einer Absage an eine Beschäftigung der Industrie verband: Es genüge nicht, „wenn die Bauern Industriearbeiter werden, da eine künftige Rückbesiedelung des Ostens ohne Bauern unmöglich ist.“438 2.4.2 „Das Flüchtlingsproblem ist zu allererst ein Problem des Dorfes“439 – Das Dorf in der Kritik Trotz dieser grundsätzlichen Höherbewertung der ländlichen Gesellschaft und den Rückkehrhoffnungen, die auf die Bauern projiziert wurden, geriet das Dorf bereit in den 1940er Jahren in die Kritik. Offenbar konnten dieselben Akteure gleichzeitig die ländliche Lebensform als höherwertige und erhaltenswerte Lebensform preisen, während sie den exklusiven Charakter dörflicher Gemeinschaftsformen hervorhoben, denen gegenüber Stadt und Industrie ein geringeres Integrationspotential zuzusprechen sei. Die Agrarsoziologin Stella Seeberg, die sich seit den 1930er Jahren mit den Themen Dorf und Agrarwirtschaft befasste,440 hatte sich mehrfach mit der Integration der Vertriebenen in die Dorfgemeinschaft befasst und gerade hier Integrations435 Kabinettsprotokolle der Bundesregierung online, Biografien, Bundesarchiv, 15. 9. 2016. Offenbar lag das Ministerium am Anfang der NS-Herrschaft in deutschnationalen Händen und erfuhr mit dem Amtsantritt von Walther Darr eine zunehmende Ideologisierung. Inwieweit sich diese auch auf der mittleren Verwaltungsebene niederschlug, ist derzeit noch unklar. Möglicherweise wirkte sich das auf den Personalstamm des Bundeslandwirtschaftsministeriums aus. Hierzu Dornheim, Rasse, 134 und 137. 436 Palmer, Notwendigkeit, 22 f. Auch in Stellungnahmen der Aktionsgemeinschaft begegnet dieser Zusammenhang. Vgl. Aktenvermerk für Herrn Maurer, 14. 1. 1957 (ADW Berlin ZB 886). 437 Wortbeitrag Oberregierungsrat Mittig. In: Seeberg, Aufgaben, 138; weitere Beispiele für diese Lesart: Wortbeitrag Ministerialdirektor Lauenstein. In: Seeberg, Lage, 53. 438 Seeberg, Aufgaben, 138. In vertriebenenspezifischen Kommunikationskontexten waren ähnliche Positionen nicht selten zu vernehmen. Ähnlich auch Staatssekretär Nahm 1959. Vgl. Nahm, Wille, 154. 439 Referat OLKR Bartels. Tagung der Ostkirchen und Flüchtlingsreferenten der Landeskirchen für Flüchtlingsseelsorge, 7. und 8. 4. 1948 in Rothenburg (EZA Berlin 17/297). 440 Seeberg, Dorfgemeinschaft. Friedrich Bartels, Flüchtlingsreferent der hannoverschen Landeskirche, berief sich auf diese von ihm gewürdigte Abhandlung von 1938. Siehe Niederschrift über die Tagung der Ostkirchen und Flüchtlingsreferenten der Landeskirchen für Flüchtlingsseelsorge am 7./8. 4. 1948 in Rothenburg (EZA Berlin 17/297). Zur Kontinuität ihrer Arbeiten siehe unten 215–218.

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defizite diagnostiziert: „Die eigentliche Flüchtlingsproblematik liegt aber nicht in den Städten, das Flüchtlingsproblem ist ein Problem des Dorfes.“441 In diesem Zusammenhang verwies Seeberg erstens auf die bäuerliche Besitzstruktur, die es den Bauern unbegreiflich mache, dass Zugezogene Ansprüche auf den Boden erheben, zweitens die exkludierende Abgeschlossenheit der Dorfgemeinschaft, die sie darauf zurückführte, dass die Dorfgemeinschaft gleichermaßen eine „Blutsgemeinschaft“, „Arbeitsgemeinschaft“ und „Besitzgemeinschaft“ sei, und drittens existiere eine gegenseitige Angst vor dem Fremden.442 Mit Blick auf die exkludierenden Tendenzen sprach sie explizit von einer 1945 zerfallenen Volksgemeinschaft, womit sie die Existenz einer intakten Volksgemeinschaft vor 1945 voraussetzte: Die Volksgemeinschaft zerfiel nach dem Zusammenbruch, und viele Menschen im Westen, in deren Gebiet die Vertriebenen verschlagen wurden, sahen in ihnen nicht die notleidenden Brüder, sondern die Fremden, die die eigene Sicherheit zu gefährden drohten.443

Nach Seeberg bestehe daher die „Gefahr, nur die ansässigen Glieder der Dorfgemeinschaften als Glieder der Gemeinde zu sehen und zu vergessen, daß auch die nicht ansässigen Menschen Glieder der Gemeinde sind.“444 Zugleich kritisierte sie damit die Identität der Kirchengemeinden und Dorfgemeinden, die nicht mehr „christliche Gemeinden, sondern nur sakrale Überhöhungen außerkirchlicher Dorfgemeinden“445 seien. Ähnliche Kritikpunkte brachten auch Theologen vor. Landesbischof Lilje verwies auf die „Abgeschlossenheit dörflicher Milieus“ und erklärte das Dorf zum „Schauplatz des Flüchtlings441 Seeberg, Stella: Der Dienst der Kirche an den Heimatvertriebenen. Die Heimatvertriebenen in unseren ländlichen Gemeinden. Vortrag auf einer Tagung des lutherischen Weltbundes, o. D. Versendet an OLKR Bartels mit Schreiben vom 4. 9. 1951 (LKA Hannover N 14 Nr. 19). Zu Seebergs Beschäftigung mit der Landwirtschaft insgesamt siehe Seeberg, Landvolk. In: Palmer, Dorf, 65–74; dies., Art. Individualismus. In: ESL 1954; dies.: Bericht für den Landesbischof vom 17. 3. 1958 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1120); und Dies.: Vertriebene Bauernfamilien in der Industrie. Untersuchung von 100 vertriebenen Bauernfamilien in der Grafschaft Bentheim [Gutachten für das Landwirtschaftsministerium], Loccum 1956 (EZA Berlin 512/67). Vgl. auch ihre im „Sonntagsblatt“ erschienenen Artikel: Dies.: Das Schicksal der Flüchtlingsbauern. In: Sonntagsblatt, 7. 12. 1950, 17; und Dies., Aufgabe der Vertriebenen. In: Sonntagsblatt, 9. 9. 1951, 1. Manche ihrer Beobachtungen hatte Seeberg bereits 1938 formuliert. Vgl. unten 179–193. Ihre für das ESL verfassten Artikel werden in Anm. 722 genannt. 442 Seeberg, Stella: Der Dienst der Kirche an den Heimatvertriebenen. Die Heimatvertriebenen in unseren ländlichen Gemeinden. Vortrag auf einer Tagung des lutherischen Weltbundes, o. D. (LKA Hannover N 14 Nr. 19). 1938 hatte sie von „Blutkreisläufen“ gesprochen (Seeberg, Dorfgemeinschaft, 108 f.). 443 Dies.: Der Dienst der Kirche an den Heimatvertriebenen. Die Heimatvertriebenen in unseren ländlichen Gemeinden. Vortrag auf einer Tagung des lutherischen Weltbundes, o. D. (LKA Hannover N 14 Nr. 19). 444 Dies., Landvolk. In: Palmer, Dorf, 65–74, 74. 445 Dies.: Der Dienst der Kirche an den Heimatvertriebenen. Die Heimatvertriebenen in unseren ländlichen Gemeinden. Vortrag vor dem Lutherischen Weltbund, o. D. (LKA Hannover N 14 Nr. 19).

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geschehens“446. Der Geschäftsführer des OKAs, Friedrich Spiegel-Schmidt, teilte Seebergs Kritik an der Identifizierung von Kirchengemeinde und Dorfgemeinschaft.447 Der Theologe sprach in einem späteren Aufsatz im Hinblick auf die ländlichen Regionen von einer „brutalen Konfrontation zwischen Einheimischen und erzwungenen Eindringlingen.“448 Einer solchen Dorfgemeinschaft wurde nicht zuletzt ein veräußerlichtes Traditionschristentum attestiert.449 In der Arbeitsgruppe Dorf auf dem DEK forderte Seeberg die „Suche nach Wegen zur Erneuerung und Überwindung der Dorfgemeinschaft“, in denen die Frage der örtlichen, beruflichen und sozialen Herkunft nicht mehr zur Grenzziehung gebraucht werden dürfe.450 Mit Blick auf die Tatsache, dass viele Dorfbewohner einer gewerblichen Arbeit in der Stadt nachgingen und demnach zwischen Dorf und Stadt pendelten, stellte sie fest: „Die Zeiten abgeschlossener Dorfgemeinschaften sind vorüber.“451 2.4.3 Integration durch Industrie und das Modell der Flüchtlingsstadt: Arbeitsmarktpolitische Erwägungen und der Selbsthilfegedanke des Hilfswerks Eines der wichtigsten integrationspolitischen Ziele war die Integration der Vertriebenen ins Arbeits- und Wirtschaftsleben der westdeutschen Gesellschaft, was unweigerlich den Blick auf die Gesellschaftsräume und -formen Industrie und Stadt, darunter die Industriezentren des Ruhrgebietes, lenkte, die ein erhebliches Arbeitskräftereservoir benötigten. Obwohl Seeberg zuweilen auf einen emphatischen Gemeinschaftsbegriff zurückgriff und sich in der von ihr beschriebenen Entwicklung von einer Gemeinschaft zur Gesellschaft auch eine verlustkritische Perspektive andeutete, war sie pragmatischen Argumenten gegenüber nicht verschlossen. Dies deutet sich bereits in einem 1948 verfassten Gutachten Seebergs an, wo sie eine volkswirtschaftliche Perspektive wählte, im Wesentlichen allerdings ein Gutachten des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel paraphrasierte. Demnach stelle die Verteilung der Vertriebenen in ländliche Regionen, die ungünstige Verteilung der Fachkräfte sowie die dadurch erzwungene berufsfremde Beschäftigung vieler Vertrie446 Lilje, Gemeinden, 58. Ähnlich auch Seeberg, Stella: Wie soll man sich im Dorf vertragen? Zusammenfassung des Referats, o. D. (EZA Berlin 71/1297). Bereits auf der Hermannsburger Flüchtlingstagung im Jahr 1947 geriet das Dorf in die Kritik. Vgl. Erstes Gespräch über Flüchtlingsfragen am Sonntag, 26. 10. 1947 (LKA Hannover L 3 III Nr. 302). 447 Spiegel-Schmidt, Vertriebenen, 191; ders., Wandlungen, 48; und ders., Beobachtungen, 157 f. Ausführlicher hierzu siehe oben 77–85. 448 Spiegel-Schmidt, Vertriebenen, 145. 449 Palmer, Einleitung. In: Palmer, Dorf, 3. Der Begriff Traditionschristentum war pejorativ und begegnet im Kontext der Figur einer „Verbürgerlichung der Kirche“, die jenes Traditionschristentum hervorbringe. Vgl. hierzu oben 77–85. 450 Seeberg, Landvolk, 65–74, 74. 451 Ebd., 73.

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benen eines der größten Produktions- und Effektivitätshemmnisse der deutschen Wirtschaft dar.452 Im Umkehrschluss ergab sich die Forderung, die Vertriebenen ihrem Beruf gemäß und nach arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten zu verteilen.453 Dies schloss einen Umzug der Vertriebenen in die industriellen Zentren mit ein. Einerseits befürwortete sie zwar die Integration der vertriebenen Landwirte in die Landwirtschaft, auch mit Blick auf eine mögliche Rückkehr, andererseits war ihr klar, dass nur ein kleiner Teil der vertriebenen Landwirte in der Landwirtschaft arbeiten könne. Im „Sonntagsblatt“ wies die Volkswirtin darauf hin, dass von 500 000 ländlichen Familien nur jede 6. in der Landwirtschaft arbeiten bzw. Land und Hof erwerben könne und 80 % der Arbeitslosen gerade in den ländlichen Gebieten Schleswig-Holsteins oder Niedersachsens lebten.454 Daraus ergab sich für Seeberg nur eine Schlussfolgerung: Wir können diesen Prozeß nicht aufhalten, weil die Bundesrepublik nur bei äußerster Industrialisierung überlebensfähig ist. Wir sollten sogar alles daran setzen, den Industrialisierungsvorgang zu beschleunigen.455

1952 widmete sich eine Tagung der Hermannsburger Forschungsstelle wirtschaftlichen Fragen und lud zu diesem Zweck Vertreter der industriellen Wirtschaft, der Arbeitgeberverbände und Leiter einiger Arbeitsämter als Referenten und Teilnehmer ein.456 Die Hermannsburger Tagungen dienten eher dem gegenseitigen Austausch zwischen Politik, Verwaltung und Kirche, ohne dass daraus unbedingt eine Handlungsrelevanz erwachsen musste. Offenbar bestand seitens der Forschungsstelle und der Akademie ein Interesse an der Problemwahrnehmung solcher Akteure, die sich mit der Vertriebenenproblematik aus einer praktischen Perspektive befassten.457 Im Gegensatz zu den oben formulierten agrarromantischen Vorstellungen sprachen sich einige der Tagungsteilnehmer auf dieser Tagung dafür aus, dass die Eingliederung der Vertriebenen vor allem durch und in der Industriewirtschaft zu 452 Seeberg, Stella: Zum deutschen Flüchtlingsproblem. Bericht auf Grund von amtlichen Mitteilungen der Länderregierungen und des Länderrats der amerikanischen Zone, des Flüchtlingsrates der britischen Zone und Gutachten des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, o. D. (LKA Hannover N 57 Nr. 6). 453 Ebd. 454 Seeberg, Stella: Das Schicksal der Flüchtlingsbauern. In: Sonntagsblatt, 7. 12. 1950, 17. 455 Ebd. 456 Auf der Tagung referierten Verwaltungsbeamte und Vertreter der freien Wirtschaft: Oberregierungsrat Dr. Isenberg; Ministerialdirigent Lauenstein, Dr. Stolze von der Hannoverschen Siedlungsgesellschaft Meppen, Rechtsanwalt Dr. Stein vom Bundesverband der Deutschen Industrie, Oberregierungsrat Wachsmann, Oberregierungsrat Söhlmann vom Landesjugendamt Hannover und weitere. Siehe Seeberg, Lage. 457 Dies hängt aber auch mit dem spezifischen Profil der evangelischen Akademien und insbesondere der Akademie Hermannsburg – Loccum zusammen, die das Gespräch mit wirtschaftlichen Führungskräften suchte. Darauf weist hin: Reitmayer, Elite, 63 und 570; und ders., Protestantismus. Andeutungsweise auch Schildt, Abendland, 121.

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erfolgen habe. Hintergrund dieser Tagung war auch der kurz zuvor erschienene sogenannte Sonne-Report. Im Auftrag der Bundesregierung hatte eine internationale, u. a. aus US-amerikanischen und deutschen Volkswirten und Soziologen zusammengesetzte Expertengruppe ein Gutachten zur Integration der Vertriebenen in die industrielle und gewerbliche Wirtschaft verfasst und Lösungsvorschläge unterbreitet.458 Der Report kam zu dem Ergebnis, dass 110 000 industrielle Arbeitsplätze geschaffen werden müssten und Umsiedlungen in die industriellen Zentren notwendig seien.459 Auf der Hermannsburger Tagung bekräftigten mehrere Referenten aus der freien Wirtschaft diese Forderung.460 Das Hilfswerk der evangelischen Kirche gestaltete die Integration der Vertriebenen aktiv und praktisch mit. Maßgebend für seine Arbeit war die Konzeption der Selbsthilfe. Diese zielte u. a. auf die Wiederherstellung einer selbstständigen wirtschaftlichen Existenz und die Erhöhung der wirtschaftlichen Produktivität. Der Selbsthilfegedanke wurde als Voraussetzung für die Überwindung der Vermassung interpretiert und verfolgte die gesellschaftspolitische Zielsetzung einer „sozialen Ordnung“, deren „wesentliches Ziel die Erhaltung der Arbeitskraft sein müßte.“461 Im Zuge dieses Selbsthilfegedankens baute das Hilfswerk zahlreiche Wirtschaftsunternehmen auf.462 Zu diesem Zweck konnte das Hilfswerk seine ausländischen Spendengeber zu Rohstoffspenden bewegen, um eine Veredelungs- und Fertigungsindustrie aufzubauen und Arbeitsplätze zu schaffen.463 1949 fand in Hamburg eine internationale ökumenische Flüchtlingskonferenz statt, die in der überregionalen protestantischen und nichtprotestantischen Presse wahrgenommen und die von manchen Kommentatoren als „internationaler Durchbruch“ bewertet wurde.464 Hier erläuterte Gerstenmaier seine Vorstellung einer wirtschaftli458 Technical Assistance Commission, Eingliederung. Der Bericht wird nach dem Chefherausgeber, Christian Sonne, auch abkürzend als Sonne-Report bezeichnet. Von deutscher Seite war der Soziologe Ludwig Neundörfer beteiligt. Hierzu insgesamt Klingemann, Flüchtlingssoziologen als Politikberater, 106 f. 459 Technical Assistance Commission, Eingliederung. 460 So z. B.: Rechtsanwalt Dr. Stein, Bundesverband der Deutschen Industrie: Eingliederung. In: Seeberg, Lage, 82–95. Regierungsrat Müller ging noch weiter und forderte eine Industrialisierung des industriellen Raumes. Siehe Wortbeitrag Regierungsrat Müller. In: Dies., Lage, 97 f. 461 Gerstenmaier, Bericht über das Hilfswerk. In: Kirchenkanzlei, Berlin-Weissensee, 183. 462 Einen Überblick über die Wirtschaftsunternehmen des Hilfswerks und den Umbau zu einem Wirtschaftskonzern gibt: Gniss, Politiker, 191, Anm.10. Bei den Hilfskomitees handelte es sich um Selbstorganisationen der Vertriebenen im innerkirchlichen Bereich, die unter dem Dach des Hilfswerks organisiert waren. Vgl. oben 64–71. Zudem schloss die Selbsthilfekonzeption einen sozialpolitischen Gestaltungsanspruch mit ein. Vgl. oben 240–253. Insgesamt zur Selbsthilfekonzeption: Rudolph, Kirche Bd. II, 52–157. 463 Stichwortmäßige Wiedergabe der Eröffnungsrede des Herrn Dr. Gerstenmaier auf der Karlshöhe am 16. 8. 1948 (ADW Berlin ZB 946). 464 Hamburger Bericht. Die Tagung war prominent besetzt: Anwesend waren Eugen Gerstenmaier, Heinrich Albertz, Hans Joachim Iwand, Werner Middelmann und Elfan Rees, Di-

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chen Integration. In der Eingliederung der Vertriebenen in die deutsche Wirtschaft sah Gerstenmaier die einzige Möglichkeit, die Vertriebenenfrage zu lösen. Alternative Lösungsvorschläge wie die zeitgenössisch diskutierte Auswanderung oder Rückkehr kamen für ihn nicht in Betracht.465 Die Vertriebenen waren für Gerstenmaier gerade kein „Ferment der Zersetzung“, sondern eine wirtschaftliche Chance. Mit ihrer „Tradition“, ihren „handwerklichen Fähigkeiten“, ihrer „wirtschaftliche[n] und kulturelle[n] Intelligenz“ könnten sie „zu einer produktiven fördernden Kraft in unserem Leben werden.“466 Der spätere Bundestagspräsident erblickte eines der Hauptprobleme darin, dass ein Großteil der Vertriebenen auf dem Land und in den Dörfern untergebracht wurde, während in den Städten „Arbeitskräfte gesucht, aber nicht untergebracht werden können.“467 Notwendig war aber auch eine berufliche Flexibilität der Vertriebenen, einschließlich des Berufswechsels.468 Die Eingliederung der Vertriebenen in die deutsche Landwirtschaft bot für Gerstenmaier nur ein begrenztes Potential: Trotz „strengster Bemühungen um Ödlandkultivierung und der Vermittlung herrenloser Höfe“ sei nur für ein Zehntel der Bauern Land vorhanden.469 Daher genoss die „Beschaffung industrieller Arbeitsplätze“ klar Priorität: „So rückt in den Mittelpunkt aller Bestrebungen zur Beschaffung einer neuen Existenz der Flüchtlinge in Deutschland die Erweiterung der industriellen Arbeitsplätze.“470 Letztlich lässt sich Gerstenmaiers Beitrag als Affirmation der Industriegesellschaft lesen, die sich vor dem Hintergrund pragmatischer integrations-, wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Erwägungen versteht. Diese ökonomische Integrationspolitik war für Gerstenmaier Bestandteil einer umfassenden Wirtschaftspolitik. So nannte der Theologe die konkreten Aufgaben: „Soforthilfe des Lastenausgleichs“, „Kreditgewährung an kapitalarme Flüchtlingsbetriebe“,

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466 467 468 469 470

rektor der Flüchtlingsabteilung des Ökumenischen Rats der Kirchen, sowie Vertreter des OKAs. Die Presse hob hervor, dass die Vertriebenenproblematik international gewürdigt werde: Döring, K: Flüchtlingselend geht alle Völker an. Internationale Beratung über die Not von 11 Millionen. In: Die Zeit, 3. 3. 1949, 2; Flüchtlingsfrage ein Internationales Problem. In: SZ, 26. 2. 1948; Gegenseitige Hilfe der Völker oder – keine Zukunft mehr. In: ChrWelt, 10.3.949, 3 und 7; An die Kirchen der Welt. In: EvWelt, 15. 3. 1949, 1; und Wende der Flüchtlingsnot. In: EvWelt, 15. 3. 1949, 164 f. Hamburger Bericht, 11. Die Vorstellung der Auswanderung war offenbar virulent. Auf der Ökumenischen Flüchtlingskonferenz in Hamburg war ein Ausschuss mit der Auswanderung befasst. Siehe ebd., 7. Das Hilfswerk betrieb 15 Auswanderberatungsstellen und vermittelte Auswandermöglichkeiten über den Ökumenischen Weltkirchenrat und den Lutherischen Weltbund. Die USA gestatteten insgesamt 54 000 vertriebenen Deutschen die Einreise. Hierzu Rudolph, Kirche Bd. I, 150–153. Die Kirchenkanzlei erwog die Möglichkeit, vertriebene Bauern in Südfrankreich anzusiedeln. Siehe Schreiben von Hansjörg Ranke an Otto Dibelius, 30. 10. 1951 (EZA Berlin 87/135). Hamburger Bericht, 9. Ebd., 9 f. Ebd., 10. Ebd., 11. Ebd. Kursiv original.

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„Lockerung der Zonengrenzen“ mit dem Ziel einer „besseren Verteilung der Vertriebenen“, „Kapitalbeschaffung für Siedlung“, „industrielle Erweiterung“, und „Kultivierung von Land.“471 Zur Verwirklichung des Selbsthilfegedankens setzte das Hilfswerk auf genossenschaftliche Siedlungsprojekte. Hier sollte die Schaffung von dringend benötigtem Wohnraum mit der Ansiedlung bzw. dem Aufbau von Industrie- und Gewerbebetrieben und der Schaffung von Arbeitsplätzen verbunden werden. Das Hilfswerk setzte also auf eine Industrialisierungsstrategie. Kernanliegen war, Siedlung und Industrie miteinander zu verbinden und zugleich einen Beitrag zum Aufbau der deutschen (Export)-wirtschaft zu leisten. Als nahezu idealtypische Umsetzung des Gedankens einer „Hilfe zur Selbsthilfe“ kann die Industriesiedlung Espelkamp-Mittwald gelten, die unter Federführung des Hilfswerks, mit ökumenischer Hilfe und mit Beteiligung des Landes Nordrhein-Westfalen in einer ehemaligen Munitionsanstalt errichtet wurde.472 Dass angesichts der Vielzahl existierender Flüchtlingsstädte – allein in Bayern gab es fünf städtische Neugründungen in Kombination mit der Ansiedlung von Industriegebieten – gerade Espelkamp-Mittwald so prominent herausgestellt wurde, ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass das evangelische Hilfswerk am Aufbau Espelkamps stark beteiligt war und Gerstenmaier hier auch die eigene gesellschaftliche Relevanz und Bedeutung hervorheben konnte. Möglicherweise kommt hier aber auch ein konfessionell verengter Blickwinkel, eine Leerstelle im Diskurs, zum Ausdruck. Demnach war der Blick auf das „protestantische Norddeutschland“ beschränkt, der katholische Süden blieb hingegen weitgehend ausgeblendet. Komplementär zum Selbsthilfegedanken verhielt sich die Baugemeindebewegung, die bruderrätlichen Ursprungs war. Die Baugemeindekonzeption verband äußere Bautätigkeit mit dem Postulat einer kirchlichen Erneuerung, verstand sich zugleich als Vergemeinschaftungsangebot im kirchlichen Raum und stellte ein umfassendes Integrationsangebot dar.473 Die Bruderräte erwarteten, dass „die Gemeinde als ganze bzw. jede Gemeinde zur Baugemeinde“ werde, um den Vertriebenen zu Wohneigentum zu verhelfen.474 Im Kontext der Auseinandersetzung mit den Gesellschaftsräumen Stadt und Industrie kam dem Konzept der Flüchtlingsstadt, von denen nach 1945 viele gegründet und anschließend soziologisch beschrieben wurden, ein besonderer Stellenwert zu. Die Flüchtlingssoziologin Elisabeth Pfeil, die ebenfalls in protestantischen Debattenräumen als Referentin auftrat und zahlreiche Artikel für protestantische Publikationsorgane veröffentlichte, setzte sich in verschiedenen Kontexten mit den Flüchtlingssiedlungen auseinander und ging dabei auf die Flüchtlingsstadt Espelkamp ein, der sie einen Vorbildcha471 472 473 474

Ebd., 12. Zu Espelkamp siehe Oberpenning, Flüchtlingsverwaltung, 269–294; und dies., Arbeit. Oberpenning, Flüchtlingsverwaltung, 288. Rudolph, Kirche Bd. I, XIX.

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rakter zuwies. Pfeil, seit 1937 Mitglied der NSDAP,475 hatte ihre Karriere als Großstadtsoziologin im NS begonnen, mit dem sie auf vielfältige Weise verstrickt war. Von 1936 bis 1943 war sie Schriftleiterin des Archivs für Bevölkerungswissenschaften, von 1939–1942 Schriftleiterin der Zeitschrift „Volk und Rasse“,476 von 1941 bis 1945 Referentin am Institut für Bevölkerungswissenschaft in München unter der Leitung des Statistikers Friedrich Burgdörfer, der während der NS-Zeit an der statistischen Erfassung des jüdischen Anteils der Bevölkerung beteiligt war.477 Auf dem 16. Internationalen Soziologenkongress, der 1954 in Beaune stattfand, referierte Pfeil zum Thema Flüchtlingsstädte.478 Hier sprach sie sich für die Neugründung von Städten aus, die mit den Mitteln der Raum- und Sozialplanung entsprechend gestaltet werden könnten.479 In ihren Überlegungen verband Pfeil stadtplanerische mit flüchtlingssoziologischen Überlegungen und reflektierte das Integrationspotential der separierten Flüchtlingsstadt: Die Flüchtlinge sollten in eigenen Städten isoliert werden, um die Großstädte zu entlasten. […] Dabei käme es […] auf die Nutzung oder Errichtung eines ,Wirtschaftskreises‘ an, respektive mehrerer Kreise, die sich konzentrisch um die Stadt legen.480

Diese städtischen Neugründungen sollten „neue Sozialgefüge“ herstellen, „welche für sozialen Halt sorgten.“481 All diese Formulierungen brachten Ordnungskonzepte zum Ausdruck: Die Stadtsoziologin ging von einer Überlastung der Großstädte aus, daher sei eine Separation und Isolation in neuen Städten notwendig. Möglicherweise spielte auch die in der Kulturkritik verbreitete Großstadtkritik hier mit hinein. Pfeil setzte auf Separation statt auf gegenseitige Vermischung und Assimilation. Es waren dabei auch integrationspolitische Gründe, weshalb sie Stadtneugründungen gegenüber der Eingliederung in bestehende Strukturen den Vorzug gab: Denn statt einer Zerstreuung, Vereinzelung und Zerstörung bestehender sozialer und landsmannschaftlicher Gefüge ermöglichten die Vertriebenenstädte, wie Pfeil 1959 ausführte, eine Sammlung der Vertriebenen und einzelner Vertriebenengruppen.482 Zudem sollten die städtischen Neugründungen eine eigene, neue soziale Ordnung und Gliederung hervorbringen. Dieser wies sie nicht nur eine sozialmoralische Funktion zu, wie die an Girgensohn erinnernde Formulierung „sozialer Halt“ nahelegt,483 vielmehr verbesserten die neuen Sozialgefüge 475 476 477 478 479 480 481 482 483

Mai, Rasse, 32, FN 95. Ebd. Schnitzler, Pfeil, 408. Zu Burgdörfer auch Bryant, Art. Burgdörfer, 85–88. Schnitzler, Pfeil, 408. Ebd. Zit. nach ebd. Ebd., 333. Pfeil, Neugründungen, 512. Diese Ausführungen erinnern an Girgensohn. So hatte Girgensohn der Befürchtung Ausdruck

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die Position der Vertriebenen gegenüber den Einheimischen. Denn während sich die Vertriebenen in der Umgebung von Einheimischen mit schlechteren Positionen in der Sozialhierarchie zu begnügen hatten, sei dies in separierten Vertriebenenstädten mit eigenen Sozialgefügen nicht der Fall: „Einzig in den neuen Städten bestand die Gelegenheit, daß die gesamte Sozialstruktur von Vertriebenen besetzt wurde.“484 Der Zusammenhalt mit der Gesamtbevölkerung ergebe sich, indem die Flüchtlingsstädte Markt- und Handelsbeziehungen mit den umliegenden Orten aufbauten.485 Auf Anregung des Ökonomen Gerhard Weisser baute Pfeil ihre Überlegungen zu einem Gutachten für die Planung weiterer Städte aus.486 Im Gutachten grenzte sie sich gegenüber den Plänen des Architekten Max Ilgner ab, der im Hilfswerk mit der Planung von Vertriebenensiedlungen beauftragt worden war.487 Ilgners stadtplanerische Vorstellungen einer „neuen Fabrik mit dazugehöriger Werksiedlung“ müsse man überwinden, denn eine integrationspolitisch erfolgreiche Flüchtlingssiedlung solle neben wirtschaftlichen Funktionen kulturelle, soziologische und sozialpsychologische Funktionen erfüllen.488 Unter den zahlreichen Siedlungsprojekten des Hilfswerks blieb Espelkamp in seiner Kombination von sozialem Wohnungsbau, Gewerbebetrieben und kulturellen und gemeindlichen Funktionen exzeptionell. 1959 setzte sich Pfeil in einem bilanzierenden Aufsatz für die vom Bundesvertriebenenministerium in Auftrag gegebene Dokumentation „Die Vertriebenen in Westdeutschland“ erneut mit der Idee der Vertriebenensiedlung auseinander und brachte hier sowohl ihre Integrationsvorstellungen als auch ihre Vorstellungen einer idealen Stadt zum Ausdruck.489 Dabei argumentierte Pfeil durchgängig in sozioökonomischen und sozialpsychologischen Kategorien. Exemplarisch ging sie auf die unter Beteiligung des Hilfswerks gegründete Flüchtlingsstadt Espelkamp-Mittwald, in Nordrhein-Westfalen gelegen, und die bayerische, bei Kaufbeuren gelegene, überwiegend von Sudetendeutschen bewohnte Stadt Neugablonz ein, wo die Sudetendeutschen ihre Glas- und Schmuckindustrie wiederaufbauten. Grundsätzlich plädierte sie, ausgehend von einer „industriebürokratischen Gesellschaft“, für das Konzept der Gewerbestadt bzw. der mittelgroßen Industriestadt, die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in der „Theorie des Städtewesens“ bekannt geworden, die gegenüber dem kleinen „Landstädtchen“ zu bevorzugen sei und

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verliehen, dass „Gemeinschaft“, „Bindung“ und „Tradition“ „sozialen Halt“ vermittelten und vor der Vermassung bewahrten. Pfeil und Girgensohn war die Einbindung der Individuen in Gemeinschaften wichtig. Vgl. hierzu oben 64–71. Pfeil, Neugründungen, 512. Schnitzler, Pfeil, 333. Ebd. und 341. Ebd., 334. Ebd. Pfeil verband damit spezifische Vorstellungen davon, wie eine optimale Stadt auszusehen habe, die sie in Espelkamp verwirklicht sah. Hierzu Pfeil, Neugründungen, 508–511, 519. Pfeil, Neugründungen, 501–520.

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die im „Umkreise von Metropolen“, aber auch „entfernt von Ballungsgebieten“ errichtet werden könnten.490 Explizit berief sie sich dabei auf das Vorbild der englischen Trabantenstädte.491 Die Städte sollten über ein eigenes „Industrie- und Kulturzentrum“ sowie ein „Verwaltungszentrum“ verfügen, um die Bildung „wilder Zentren“ zu verhindern.492 Sie plädierte für eine „autarke Stadt“ mit einer „vielseitigen Produktion“, da „monoindustrielle Städte besonders krisenempfindlich“ seien, zudem sollten sie mit Schlüssel- oder Primärindustrien ausgestattet werden, die weitere sekundäre Industriebetriebe, also Zulieferbetriebe, nach sich zögen.493 Die Vertriebenensiedlungen waren für Pfeil Ausdruck der schöpferischen Initiative und der Selbsthilfe, die zur Sammlung der Vertriebenen und damit zur Bildung von Aufbau- und Solidargemeinschaften beitrage.494 Aus integrationspolitischer und ökonomischer Perspektive bewertete sie die Stadtgründungen als erfolgreich. Sie bräuchten nur geringe staatliche Zuschüsse und brächten große Steuermittel ein, die die Ausgaben deutlich überträfen.495 Zudem handelte es sich hierbei um die einzige Möglichkeit einer „eigenständigen Eingliederung.“496 Sie kritisierte aber auch, dass die Vertriebenensiedlungen über eine schlechte verkehrstechnische Anbindung verfügten, was eine schlechte Marktposition zur Folge habe.497 Zudem hänge der Erfolg auch vom Industrialisierungsgrad der Umwelt ab: So böte vor allem das wenig industrialisierte Bayern gute Voraussetzungen für die Gründung von Vertriebenensiedlungen.498 Daher befanden sich von den sechs erfolgreichen Vertriebenenstädten fünf – nämlich Neugablonz, Geretsried, Traunreut, Waldkraiburg und Neutraubling – in Bayern, während Espelkamp die einzige erfolgreiche Flüchtlingsstadt im norddeutschen Raum war und blieb.499 Auf der gesamtgesellschaftlichen Makroebene wies Pfeil den Flüchtlingssiedlungen eine geringe integrationspolitische Bedeutung zu. Nur ein kleiner Teil der Vertriebenen konnte in neu gegründeten Vertriebenensiedlungen untergebracht werden, so dass die Siedlungen vor allem wegen ihres exemplarischen und symbolischen Charakters bedeutend seien.500 Am Vorbild Espelkamp, das Pfeil besonders herausstellte, würdigte Pfeil die stadtplanerisch gelungene Umsetzung, darunter die sog. „Fußgängerviertelstunde“, d. h. die Erreichbarkeit des gesamten Stadtgebietes zu Fuß, die Ausstattung der Häuser mit Gärten, die Integration des Waldes in die Stadt 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500

Ebd., 502. Ebd., 503 f. Pfeil parallelisierte die Landflucht in England und die Vertreibung in Deutschland. Ebd., 502 f. Ebd., 503 f. An anderer Stelle hielt sie „mittelgroße Industriesiedlungen“ mit 30 000 bis 60 000 Einwohnern für optimal (ebd., 503 und 510). Ebd., 505, 507, 515 f. und 518. Ebd., 512 und 520. Ebd., 514. Ebd., 506. Ebd., 507. Ebd., 507 f. Weitere Gründungen seien nicht über die ersten Anfänge hinausgekommen. Ebd., 508 und 519.

Zwischen Affirmation und Kritik

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und die gute Zusammenarbeit zwischen Landeskirche, Hilfswerk, Landesregierung und dem Institut für Weltwirtschaft.501 Das Modell Espelkamp war integrationspolitisch bedeutsam, weil die Vertriebenen, die am Aufbau der Stadt beteiligt waren, ein Gemeinschaftsgefühl entwickelten, das durch ein lebendiges Vereinswesen, eine Baugemeinde, eine Kulturgemeinde, landsmannschaftliche Zusammenschlüsse, eine erfolgreiche Streitschlichtungsstelle, ein Jugendparlament und andere „Gesellungsformen“ unterstützt werde.502

2.5 Zwischen Affirmation und Kritik: Modernedeutungen angesichts der Vertriebenenfrage 2.5.1 Elisabeth Pfeil: Der Flüchtling als Symbol der Zeitenwende Der Zuzug von 8 Millionen Vertriebenen initiierte oder beschleunigte grundlegende gesellschaftliche Transformationsprozesse.503 Vor diesem Hintergrund setzten sich einige Akteure im Kontext mit der Vertriebenenproblematik mit jenen Transformations- und Modernisierungserscheinungen auseinander und stellten den Zusammenhang von Vertreibung und gesellschaftlichem Wandel interpretativ her. In diesem Argumentationszusammenhang wurden die Vertriebenen zum Symbol für eine Zeitenwende stilisiert. Die Flüchtlingssoziologin Elisabeth Pfeil, die während des NS eine führende Bevölkerungswissenschaftlerin gewesen war, legte eine vielfältige, zum Teil empirisch unterfütterte Publikationstätigkeit zur Vertriebenenproblematik an den Tag und stellte Vertreibungsgeschehen und gesellschaftlichen Wandel in einen interpretativen Zusammenhang.504 Ihr Buch „Der Flüchtling. Gestalt einer Zeitenwende“ von 1948 zählt zu den frühesten und bekanntesten Buchveröffentlichungen zu diesem Thema und wurde in kirchlichen Kreisen breit rezipiert.505 In den protestantischen Zeitschriften „Sonntagsblatt“ und 501 Ebd., 507 und 510 f. Pfeil grenzte Espelkamp positiv vom bayerischen Neugablonz ab, deren unzureichenden Arbeiterwohnungen sie kritisierte. Da Pfeil nicht nur Espelkamp, sondern auch Beispiele aus dem katholischen Bayern nannte, lässt sich im Gegensatz zu Gerstenmaier bei ihr keine „Leerstelle im Diskurs“ ausmachen, was den Katholizismus betrifft. Das protestantische Beispiel Espelkamp nahm bei Pfeil aber eine herausragende Stellung ein. 502 Ebd., 515 f. Für Schnitzler ist Pfeil ein „social engineer“ (Schnitzler, Pfeil, 333). Ihre Kooperation mit Architekten reichte in die NS-Zeit zurück. Vgl. Kuchenbuch, Gemeinschaft, 41, 186, 193, 199 f., 216, 233 f. und 284 f. 503 Waldmann, Eingliederung. 504 Pfeil, Flüchtling; dies., Stichprobenverfahren; dies., Thema; dies., Fünf Jahre; dies., Soziologische und psychologische Aspekte; und dies., Neugründungen. 505 Pfeil, Flüchtling. Zur Rezeption: Bendel, Einführung. Insgesamt Klingemann, Soziologie, 310–316; ders., Flüchtlingssoziologen, 81–123; Nolte, Ordnung, 228 f.; Schnitzler, Pfeil, 321–334; Gerhardt, und Bilanz, 46–49.

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„Christ und Welt“ wurde Pfeils Buch ausgesprochen wohlwollend rezensiert.506 Grundsätzlich lassen sich anhand von Pfeils Buch drei Deutungs- und Argumentationslinien herausarbeiten: Erstens reflektierte sie die Situation der Vertriebenen, die mit der Auflösung der „heimatlichen Ordnung“ und einer neuen gesellschaftlichen Ordnung konfrontiert würden und „von der Mitte an den Rand der Gesellschaft geraten“ seien.507 Zweitens stellte sie die Frage nach den Auswirkungen der Vertriebenen für die Gesamtgesellschaft und postulierte angesichts der Beobachtung, dass die Lebensordnungen der Vertriebenen zerstört waren und sie sich zugleich den intakten Ordnungen der Gesellschaft gegenüber sahen, die Entstehung einer „neuen Ordnung“, die aus Vertriebenen und Einheimischen hervorgehen sollte.508 Dabei lehnte sie eine einseitige Assimilation ab und sah herkömmliche Sozialkategorien der Gesellschaftsbeschreibung wie Stand oder Klasse infrage gestellt.509 Drittens stilisierte sie die Vertriebenen zum Symbolbild jener neuen Sozialordnung. Sie erschienen ihr als „Vortrupp einer neuen Lebensordnung“, obwohl sie „bisher eher als Vertreter einer rückständigen Ordnung gelten.“510 Indizien für den Übergang in die Moderne waren für Pfeil, die in diesem Zusammenhang von einer „Offenheit der Flüchtlingssituation“ sprach, der Übergang in eine Leistungsgesellschaft, in der zunehmend Leistungskriterien den sozialen Status konstituierten, sowie die Zunahme an geographischer und sozialer Mobilität.511 Mit ihrer Beschreibung konkreter Desintegrationserscheinungen anhand sozioökonomischer Kriterien konnte sie nicht zuletzt die pauschalisierende These eines Klassendualismus hinterfragen. Insgesamt changierte ihr Buch von 1948 zwischen einer „eigenartigen Mischung aus soziologischer Präzision, kulturkritischer Diffusität und begrifflichen Versatzstücken völkischen Denkens.“512 Der kulturkritische Duktus sollte allerdings nach und nach in den Hintergrund treten. In einem auf dem DEK gehaltenen Vortrag entwickelte Pfeil sozialstatistisch fundierte Integrationsindikatoren, um den Integrationsprozess zu beschreiben und den Integrationsstand zu „messen.“513 506 Z. B. Schicksal und Aufgabe. Neues Schrifttum zur Flüchtlingsfrage. In: ChrWelt, 27. 10. 1948; Der Flüchtling. Gestalt einer Zeitenwende. In: Sonntagsblatt, 14. 11. 1948, 15. 507 So auch Vertriebene und Eingesessene, psychologisch gesehen (EZA Berlin 71/1186). 508 Alle hier zitiert nach Pfeil, Flüchtling, 6, 145 und 150. Hierzu auch Klingemann, Soziologie, 310. 509 Ebd., 311. Unklar ist, wie Klingemann in Abgrenzung von Gerhardt zu dem Urteil kommt, dass Pfeil die Assimilation gefordert habe. Vgl. Klingemann, Soziologie, 287. Vielmehr diagnostizierte sie eine grundlegende Neuordnung der Gesellschaftsordnung und machte auf die gegenseitige Assimilation aufmerksam. Vgl. auch unten 215–218. 510 Pfeil, Flüchtling, 145 und 150. Ähnlich auch Dies., Art. Vertriebenenprobleme. In: ESL 1954. Ähnlich auch Schelsky, Flüchtlingsfamilie. 511 Klingemann sieht hier die Vorwegnahme des Individualisierungsparadigmas. Siehe Klingemann, Soziologie, 311. 512 Ebd., 315 f.; Nolte, Ordnung, 228 f. 513 Vertriebene und Eingesessene, psychologisch gesehen (EZA Berlin 71/1186). Das Material dafür trug Pfeil vermutlich im Rahmen ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin des

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Zentral dafür waren sozioökonomische Kriterien wie Beruf, Status und das Kriterium „Konnubium“, das den geselligen Verkehr zu erfassen vorgab.514 In ihrem 1954 erschienenen Artikel für das ESL ging Pfeil auf die soziale Beschreibungskategorie „5. Stand“ und die lange dominierende Verlustperspektive ein, wonach die Vertriebenen die Auflösung jeglicher gesellschaftlicher Ordnung bewirkten. Klang ein solches Auflösungsnarrativ in Pfeils Buch von 1948 noch an, so lehnte sie diese Perspektive nun explizit ab: „Falsch war es, aus der gesellschaftlichen Entfugung ein Abgleiten in asoziale Zustände zu befürchten.“515 Es habe sich „kein 5. Stand“ gebildet, denn „in ihrer Bewusstseinslage sind die Vertriebenen eher konservativ, auf nichts bedacht als auf die Wiederherstellung ihres eigentlichen gesellschaftlichen Status.“516 Im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel identifizierte Pfeil auch in diesem Artikel Deklassierungserscheinungen, einen Bedeutungszuwachs der die gesellschaftliche Stellung konstituierenden „persönlichen Leistung“ und eine konfessionelle Durchmischung, die vor allem die Kirchen vor Herausforderungen stelle.517 Zugleich machte Pfeil auch auf den „Preis der Eingliederung“ aufmerksam: Dieser bestehe im „Verlust an kultureller Vielfalt, Verstädterung, Aufgehen des ostdeutschen Bauerntums in der Industrie und in einer Zerstörung der dörflichen Strukturen in Westdeutschland.“518 Obwohl Pfeil explizit Kritik an den kulturkritischen Deutungsfiguren artikuliert hatte, konnte sie sich von einer Verlustperspektive auf die moderne Gesellschaft offenbar nicht ganz lösen. Im ESL bekräftigte sie schließlich die Kernthese ihres Buches von 1948: Es lag nahe, den Flüchtling als Symbol zu sehen, als Typus eines Überganges, Gestalt einer Zeitenwende, ja eines Menschen schlechthin. Der Kirche liegt es ob, diese symbolischen Züge sichtbar zu machen. […] Nimmt die Kirche die Frage nach der Begegnung von Gesicherten und Ausgesetzten ernst, so wird die Flüchtlingsfrage zur Existenz von Kirche und Gemeinde, sind doch die Probleme nichts anderes als die offen zutage tretenden Probleme unserer Zeit wie des Menschen überhaupt.519

Pfeil ordnete die Vertriebenenproblematik in die gesellschaftlichen Transformations- und Modernisierungsprozesse der Nachkriegszeit interpretierend ein, deren symbolischer Ausdruck die Vertriebenen waren. Damit wurden die Vertriebenen von der Peripherie ins Zentrum der Gesellschaft gerückt.

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bayerischen statistischen Landesamtes zusammen. Vgl. auch Pfeil, Jahre; Dies: Soziologische und psychologische Aspekte. In: Europa, 40–69. Pfeil, Elisabeth: Vertriebene und Eingesessene, psychologisch gesehen (EZA Berlin 71/ 1186). Pfeil, Art. Vertriebenenprobleme. In: ESL 1954, 1084. Ebd. Ebd., 1086. Ebd. Ebd., 1086 f.

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Trotz ihrer tendenziell moderneaffirmativen Deutung machte sich eine Verlustperspektive auf die Moderne zuweilen bemerkbar. Allerdings wurden auch diese Erscheinungen, die vor allem auf die spezifische Form der Industriegesellschaft rekurrierten, als unvermeidbarer „Preis der Eingliederung“ angesehen. In ihrem Artikel zum Thema „Großstadt“ im ESL erteilte sie traditionellen kulturkonservativen Deutungsfiguren schließlich eine deutliche Absage: „Das Schlagwort der Wurzellosigkeit sollte verschwinden, auf Entwurzelung folgt neue Einwurzelung, auf horizontale Mobilität neue Seßhaftigkeit.“520 Während sie dem „Gegensatzpaar Nivellierung und Individualisierung“ Beschreibungskraft zusprach, kam dem Begriff der „Vermassung“ keine erklärende Kraft mehr zu: „Dagegen sollte das Schlagwort vom Massenmenschen nicht mehr angewandt werden, da es den Tatbestand ungebührlich vereinfacht.“521 In diesem Zusammenhang grenzte sich Pfeil explizit von einer „von der Biologie beeinflussten Soziologie“ und vom „Kulturpessimismus“ ab, denn beides habe die Stadt einseitig aus der Perspektive der Auflösung heraus betrachtet.522 Mit ihrer Beschreibung der tendenziell konservativen und sozialrestaurativen Einstellung der Vertriebenen und der Rolle der Vertriebenen im Modernisierungsprozess nahm sie letztlich die Deutung des Soziologen Peter Waldmann von 1989 vorweg, der mit Blick auf die Vertriebenen von einem „Modernisierungsschub unter konservativen Vorzeichen“ sprach.523 2.5.2 Modernedeutungen auf den Tagungen des Ostkirchenkonvents und in der Zeitschrift „Remter“ Wandlungen der heimatvertriebenen Familie und die Vertriebenen in der Großstadt: Soziologische Moderne- und Gesellschaftsdeutungen Neben dem für die Repräsentation und die kirchenpolitischen Belange zuständigen OKA wurde, wie bereits dargelegt, Anfang der 1950er Jahre der sogenannte Ostkirchenkonvent gegründet. Ursprünglich als eine Art Parlament gedacht, avancierte dieses Gremium zunehmend zu einem Forum der intellektuellen Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik; neben den Akteuren der kirchlichen Vertriebenenarbeit nahmen auch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens an den Tagungen teil.524 Da der OKK im Wesentlichen das Forum der protestantischen Deutung der Vertriebenenfrage war und Soziologen ihre vertriebenenspezifischen Modernedeutungen gerade 520 521 522 523 524

Pfeil, Art. Großstadt, 463. Ebd., 465. Ebd., 461. Waldmann, Eingliederung, 190. Vgl. oben 11 f.

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hier einbrachten, verdient der OKK als „Schnittstelle“ der vertriebenenspezifischen theologischen und soziologischen Gesellschaftsdeutung einen eigenen Abschnitt. Im Oktober 1954 fand eine Tagung zum Thema „Die Vertriebenen in der Gesellschaft“ statt. Zwei Schwerpunkte standen im Zentrum der Tagung: Erstens die Frage nach Wandlungen in der heimatvertriebenen Familie, zweitens die Situation der Vertriebenen in Stadt und Großstadt.525 Auf dieser Tagung hielten der Soziologe und Sozialethiker Dietrich von Oppen, die Soziologin Stella Seeberg, der Volkswirt Fritz Rudolph, der Soziologe Gerhard Wurzbacher, der Jurist Ludwig Landsberg und der Theologe Friedrich SpiegelSchmidt die Hauptvorträge.526 Einige der hier genannten Vorträge erschienen während der Jahre 1954 und 1955 in der Zeitschrift „Der Remter.“527 Eine Größe des Sozialen, an der der soziale Wandel beobachtet wurde und der zugleich ein fester Platz in der protestantischen Gesellschaftsdeutung zukam, war die Familie.528 Der Soziologe Helmut Schelsky zählt wohl zu den führenden Soziologen der frühen Bundesrepublik und war darüber hinaus ein gern gesehener Gast und Referent der evangelischen Akademien.529 Schelsky referierte zwar nicht selbst auf der Tagung des OKKs, jedoch wurde seine Studie zum „Wandel der deutschen Familie“ vielfach, so auch im OKK, aufgenommen. Diese gilt als „Inbegriff der empirischen Sozialforschung über die deutsche Familie zwischen Weltkrieg und Wirtschaftswunder“, aber auch als „Brücke zwischen Krisenanalyse und Bauplan für eine neue Gesellschaft.“530 525 Vgl. Zwischenbericht über die Ostkirchentagung in Willingen, 4.–7. 10. 1954 (EZA Berlin 17/ 572). 526 Ebd. Das Einladungsschreiben nennt die Referenten Ludwig Landsberg, Gerhard Wurzbacher, Friedrich Bartels, Elisabeth Pfeil, Stella Seeberg und Dietrich von Oppen. Siehe Einladung zur Ostkirchentagung, 4.–8. 10. 1954 (EZA Berlin 17/570). Im Folgenden wird die publizierte Fassung zitiert. 527 Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an Elisabeth Pfeil, 5. 6. 1954. Wie aus dem Schriftwechsel zur Vorbereitung der Tagung hervorgeht, war zuerst Dietrich von Oppen für diese Sektion vorgesehen. Oppen selbst empfahl daraufhin Elisabeth Pfeil mit dem Argument, dass dies „nicht mein eigentliches Thema“ (Schreiben von Dietrich von Oppen an Friedrich SpiegelSchmidt, 11. 5. 1954). Nachdem Pfeil die Übernahme des Hauptreferats abgesagt hatte, sprang von Oppen ein (Schreiben von Elisabeth Pfeil an Friedrich Spiegel-Schmidt, 14. 6. 1954). Offenbar standen Pfeil und Oppen in kollegialem Kontakt und ließen sich gegenseitig Manuskripte Korrektur lesen (Schreiben von Elisabeth Pfeil an Friedrich Spiegel-Schmidt, 14. 6. 1954, EZA Berlin 17/570). 528 Zum Strukturwandel der westdeutschen Familie siehe Niehuss, Familie. 529 Reitmayer, 463; und Schildt, Abendland, 123. 530 Nolte, Ordnung, 231. In einem Aufsatz mit dem Titel „Die Flüchtlingsfamilie“ sprach sich Schelsky für die induktive anstelle der deduktiven Methode aus, allerdings mit dem Anspruch, aus der empirischen Analyse „allgemeine Gesetzmäßigkeiten“ abzuleiten (Schelsky, Flüchtlingsfamilie, 161). Auf der Tagung der deutschen Soziologen trug Schelsky seine familiensoziologischen Überlegungen vor und wurde dafür von Elisabeth Pfeil kritisiert. Schelskys These, dass eine Isolation und „Einigelung“ der Flüchtlingsfamilie zu beobachten wäre, relativierte Pfeil mit dem Argument, dass ihre „gleichartigen Untersuchungen in Bayern ergeben hätten, daß mehr als die Hälfte der Vertriebenen geselligen Verkehr mit den Einheimischen pflege.“ Zudem seien mehr als die Hälfte aller in Bayern geschlossenen Ehen zwischen

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Dieses Werk, für die der Soziologe Untersuchungen an 167 Flüchtlingsfamilien durchgeführt hatte, war ursprünglich als Studie über die Flüchtlingsfamilie konzipiert, die er 1950 in einem Aufsatz publizierte.531 Allerdings avancierte die Vertriebenenfamilie für Schelsky zum Modell für die Nachkriegsfamilie überhaupt.532 Ähnlich wie Pfeil beobachtete er einige gesamtgesellschaftliche Wandlungen wie eine veränderte, nivellierte Binnenstruktur der Familie einschließlich eines Autoritätsverlustes des Vaters, eine Orientierung an Leistungsprinzipien, die für die angestrebte soziale Statusrestauration notwendig war, eine veränderte Haltung kleiner sozialer Formationen zur Gesamtgesellschaft, eine Stabilisierung der Familie, eine gewachsene Solidarität der Familienmitglieder untereinander angesichts eines harten „Lebenskampfes“ und das Festhalten an etablierten Familienbildern.533 Entgegen diesen Wandlungsprozessen diagnostizierte er zugleich die gegenläufige Tendenz einer „Stabilitätserhöhung der Familie.“534 Der Soziologe Gerhard Wurzbacher, der das Referat auf der Tagung des OKKs 1954 hielt, übernahm im Wesentlichen Schelskys Deutungen.535 Die Ergebnisse, die Schelsky 1950 in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ publiziert hatte, teilte Wurzbacher, nahm allerdings fast ausschließlich auf die Binnenstruktur der Familie Bezug.536 Auch Wurzbacher beobachtete im Hinblick auf die Vertriebenenfamilie eine höhere „lokale und soziale Mobilität“537. Dabei diagnostizierte er einen allgemeinen „Wandel der Verhaltensnormen“, eine „gelockerte“ „Autoritätsordnung zwischen Mann und Frau“, eine gestärkte Stellung der Frau bei gleichzeitiger Schwächung, Belastung und Verunsicherung des Mannes und einen Wandel von der Groß- zur Kleinfamilie.538 Ähnlich

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Flüchtlingen und Einheimischen geschlossen worden (Ottmann, Anton: Einigelung der Flüchtlinge? Nachwort zur Tagung der deutschen Soziologen. In: Die Zeit, 2. 11. 1950). Zu Schelskys Hinwendung zur empirischen Sozialforschung siehe Laube, Theologie, 188. Das geht hervor aus: Nolte, Ordnung, 218. Methodisch habe er Interviews, Fragebogenauswertungen, Erlebnisberichte und soziographische Analyse miteinander kombiniert. Vgl. Schelsky, Flüchtlingsfamilie, 161. Klingemann, Soziologie, 293. Vgl. Schelsky, Flüchtlingsfamilie. Schelsky, Flüchtlingsfamilie, 176. Diese Folgen bestanden nach Schelsky in der „Mobilitätserhöhung und Vermassung“, der „Desorganisation der Familie“ und in ihrem „Aufsplittern in Individualitäten“ (ebd). Zwischenbericht über die Ostkirchentagung in Willingen, 4.–7. 10. 1954 (EZA Berlin 17/572). Im Folgenden die publizierte Fassung: Wurzbacher, Betrachtungen, 47–55. Wurzbacher berief sich trotz aller Ähnlichkeiten nicht auf Schelsky, sondern auf Karl Valentin Müller, dessen Datenmaterial er verwandte. Schelskys Werk kannte er allerdings. Siehe ebd., 50, FN 3 und 4. Seine Referenztexte waren: M ller, Jugend; Wurzbacher, Leitbilder; ders., Dorf. Wurzbacher nahm auch die Integration in den Blick. Maßstab für die Integration war der Kontakt zwischen Vertriebenen und Einheimischen: Demnach hätten ein Fünftel der Vertriebenen gute Kontakte zu den einheimischen Nachbarn, zwei Fünftel fühlten sich noch als Fremde, ein Fünftel habe wenig Kontakt, ein weiteres Fünftel sei isoliert. Siehe ders, Betrachtungen, 52. Ebd., 51–53. Ebd., 48 f., 50 und 53.

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wie Schelsky beobachtete Wurzbacher eine Verinnerlichung des Familienlebens, gewachsene Entfaltungsräume der Kinder, eine Entfunktionalisierung der Kinder, deren Bedeutung als Altersversorgung von den Sozialsicherungssystemen abgelöst worden sei, und einen Rückzug auf soziale Kleinverbände und ins Private.539 Wurzbacher bewertete die Familie ambivalent: Einerseits sei die Tendenz des Rückzugs und der Isolation ein „bedenklicher Zug unserer Zeit,“ andererseits bewertete er die Familie als gesellschaftlichen Stabilitätsfaktor, was die pessimistische Ansicht älterer Soziologen über den Bedeutungsverlust der Familie widerlege.540 Der Sozialethiker Dietrich von Oppen referierte 1954 vor dem OKK zum Thema „Die Vertriebenen in der Großstadt“541. Allerdings beschrieb von Oppen eher allgemeine Modernisierungserscheinungen statt die spezifische Lebenssituation der Vertriebenen. Insgesamt ging Oppen von drei Voraussetzungen aus: Erstens war die heimatvertriebene Familie in der Großstadt mittlerweile eingegliedert, zweitens machte die Unterscheidung von Vertriebenen und Einheimischen von Jahr zu Jahr weniger Sinn, und drittens müsse anstelle einer einseitigen Assimilation von einer wechselseitigen Beeinflussung gesprochen werden.542 Im Kontext übergreifender Modernisierungsprozesse könne, so von Oppens Schlussfolgerung, der Vertriebene „nicht hoffen, mit seiner Eingliederung oder gar einem guten ,Einleben‘ im Westen seinem Schicksal grundsätzlich zu entrinnen“, denn er stünde „in einem breiten und allgemeinen Volksschicksal.“543 Die zweite Schlussfolgerung rekurrierte auf das Verhältnis von Kirche und moderner Industriegesellschaft. Angesichts der Feststellung, dass die Vertriebenen der Kirche nicht als „Sondertypus“, sondern als „modernes Schicksal schlechthin in seiner fortgeschrittensten und ausgeprägtesten Form“ gegenübertreten, stellte sich „die Frage nach dem Verhältnis der Kirche zur industriellen Welt noch einmal in der schärfsten Weise.“544 In den Vertriebenen trete der Kirche gerade keine „gesellschaftliche Gruppe mit ganz bestimmten Merkmalen“ gegenüber.545 Kennzeichen der Moderne waren für von Oppen eine Mobilisierung der Gesellschaft, das „Aufhören von Traditionen“ und die Partizipation des mo-

539 Ebd., 53 f. 540 Ebd., 54 f. Zitat ebd., 52. 541 Das Referat von Oppens wurde im Zwischenbericht am ausführlichsten wiedergegeben. Vgl. Zwischenbericht über die Ostkirchentagung in Willingen, 4.–7. 10. 1954 (EZA Berlin 17/572). Im Folgenden wird die publizierte Fassung zitiert: Oppen, Vertriebene, 36–46. Viele der Thesen von Oppens basierten auf Schelskys familiensoziologischen Untersuchungen. Vgl. ebd., 38. Zur Parallelstelle siehe Schelsky, Flüchtlingsfamilie, 163. Pfeil wurde ursprünglich angefragt, sagte aber ab. Siehe Anm. 527. 542 Oppen, Vertriebene, 36 f. 543 Ebd., 39. 544 Ebd. 545 Ebd., 37.

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dernen Menschen an verschiedenen gesellschaftlichen Rollen, die von Oppen im Rekurs auf Arnold Gehlen als „Schnittpunktexistenzen“ bezeichnete.546 Obwohl von Oppen die Folgen von Industrialisierung und Vertreibungsgeschehen als Auflösung beschrieb,547 lehnte er die kulturkonservativen Deutungskategorien wie Vermassung, Atomisierung und Proletarisierung explizit ab. Diese ursprünglich berechtigten Vokabeln, die durch die Vertriebenenfrage zunächst eine Bestätigung erfahren hätten, blieben hinter der Wirklichkeit zurück.548 Das Vermassungs-, Proletarisierungs- und Atomisierungsvokabular mache „blind für die Ansätze zur Neubildung von Ordnungen“ und den „Drang nach Eigenständigkeit.“549 Anstelle einer Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung beobachtete er neue konstruktive Ordnungselemente wie eine wachsende Eigenständigkeit, Partnerschaft, Mitbestimmung und Miteigentum.550 Dieser gesellschaftliche Wandel machte auch eine neue Verhältnisbestimmung von Kirche und Gesellschaft notwendig. Indiz dafür waren die Vertriebenen, die ja gewissermaßen für eine zukünftige und zu erwartende gesellschaftliche Situation standen. Hatten sich die Vertriebenen nach dem Schockerlebnis der Vertreibung den „religiösen Gemeinschaften“, die die „ersten Organisationsformen des gesellschaftlichen Lebens“ waren, verstärkt zugewandt, sei nun zu beobachten, dass die Vertriebenen „die Verhaltensformen der modernen Gesellschaft“ übernähmen.551 Diese stünden wiederum im Widerspruch zu den „stark auf Dauer und auf enge Gemeinschaft gestellten kirchlichen Formen.“552 Daher empfahl er der Kirche: Der Vertriebene hat seine Bedeutung und seine Würde in besonderer Weise: eben die, in fortgeschrittenster und ausgeprägtester Form unser aller modernes Schicksal zu erleben. So kann die Begegnung mit der Kirche nur dazu führen, ihr Verhältnis zur industriellen Gesellschaft von heute überhaupt zu prüfen.553

Die Vertriebenen stilisierte er dabei zu einer Art Avantgarde einer übergreifenden Modernisierung, die ein „allgemeines Volksschicksal“ war.554 Zugleich konnte von Oppen auf kulturkritische Deutungsfiguren wie Vermassung oder Atomisierung nicht gänzlich verzichten. Allein die Tatsache, dass er die Unangemessenheit dieser Beschreibungskategorien feststellte und diese zudem 546 Ebd., 41 f. und 38. 547 Von Oppen beschrieb die Industrialisierung als Zerstörung der „alten tragenden Bindungen“. Zudem diagnostizierte er die „totale Auflösung ganzer Landschaften und Lebensordnungen“ (ebd., 38). 548 Ebd., 39 f. Kritik an einem überfrachteten Gemeinschaftsbegriff brachte Oppen auf dem Kirchentag zum Ausdruck. Siehe Oppen, Dietrich von: Nachbarschaft in der Großstadt (EZA Berlin 71/1607). 549 Oppen, Vertriebene, 39 f. 550 Ebd., 40. 551 Ebd., 45. 552 Ebd. 553 Ebd., 46. 554 Ebd., 39.

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als Negativfolie gebrauchte, zeigt ex negativo, dass diese Deutungsfiguren als Abgrenzungsfolie immer noch diskursrelevant waren. An anderer Stelle zeigt sich zudem, dass die Figur der Vermassung bei von Oppen als gesellschaftliche Gefahr nicht grundsätzlich überwunden war. Während von Oppen einerseits diagnostizierte, dass die Kategorie der Vermassung der sozialen Realität nicht gerecht werde, stellte er andererseits die Frage, ob die von ihm beobachtete Tendenz der Vereinzelung zur Vermassung führe.555 Dies verneinte er unter der Voraussetzung, dass die „persönliche Verantwortung“ die „richtige Richtung“ einschlage.556 Das Problem der modernen Gesellschaft war für Oppen, der eine radikale Isolation und Individualisierung ablehnte, eine Frage der „richtigen Abstandsbemessung“ zwischen den Menschen wie des richtigen Mischungsverhältnisses von Freiheit und Bindung.557 Damit war die Gefahr der Vermassung keineswegs von vornherein ausgeschlossen und immer noch latent vorhanden.558 Von Oppens Ausführungen lassen sich schließlich als Versuch lesen, einen gesellschaftlichen Wandel zu fassen, für den die entsprechenden Begrifflichkeiten noch nicht zur Verfügung standen. Der Sozialethiker entfaltete seine Modernedeutung, die vermutlich auch in anderen Kommunikationskontexten unabhängig von der Vertriebenenproblematik begegnet, nun im spezifischen kommunikativen Umfeld des OKKs. Der Soziologe referierte auf dieser Tagung vor allem deshalb, weil die Flüchtlingssoziologin Elisabeth Pfeil abgesagt hatte – er selbst hatte hier keinen erkennbaren Forschungsschwerpunkt.559 In seinem Vortrag nahm er zudem kaum auf die Vertriebenen selbst Bezug; der einzige Zusammenhang bestand darin, dass er im Rekurs auf Helmut Schelsky den Vertriebenen eine Art Avantgardefunktion im Modernisierungsprozess attestierte. Da von Oppen als Sozialethiker mit dem gesellschaftlichen Wandel befasst war und in seiner Ethik „Das personale Zeitalter“560 eine der Moderne angemessene Sozialethik zu formulieren beanspruchte, passte er seine in anderen Kontexten profilierte Modernedeutung an den kommunikativen Kontext des OKKs an, nachdem er infolge von Pfeils Absage zu seinem Referat vor dem OKK gekommen war. Vor dem Hintergrund der Argumentationsstruktur, der Tagungsvorbereitungen und des kommunikativen Kontextes sind seine Moderne- und Gesellschaftsdeutungen auch ohne den Konnex zum Integrationsprozess vorstellbar. Das Koreferat hielt der Diplomvolkswirt Fritz Rudolph, der im Gegensatz

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Ebd., 40 und 43. Ebd. Ebd., 42 f. Ebd. Siehe Anm. 527. Auf die z. T. wortgleiche Ähnlichkeit zwischen Schelsky und von Oppen wurde bereits verwiesen. Vgl. Anm. 541. Außerdem Oppen, Vertriebene, 38. Zur Parallelstelle: Schelsky, Flüchtlingsfamilie, 163. 560 Oppen, Zeitalter.

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zu von Oppen einen empirischen Zugang auf das Thema wählte.561 Rudolph verglich die Arbeitslosigkeit im städtischen und ländlichen Raum anhand sozialstatistischer Daten und nahm auf der Basis von Umfragen die Zufriedenheit der Vertriebenen mit ihrer Lebenssituation in den Blick.562 Die in der Großstadt lebenden Vertriebenen wiesen demnach eine niedrigere Arbeitslosenquote auf als die großstädtische einheimische Bevölkerung, was allerdings auch daran läge, dass vor allem die arbeitsfähigen Vertriebenen in die Städte gezogen seien.563 Der Beschäftigungsgrad steige mit zunehmender Verstädterung der Umwelt.564 Die Befragung der Vertriebenen habe zudem ergeben, dass die Art der Wohngemeinde mit der allgemeinen Zufriedenheit korreliere. Diese steige demnach mit der zunehmenden Größe der Wohngemeinde.565 Auch der Konnuptialindex, mit dem sich die Heiratsquote zwischen Vertriebenen und Einheimischen statistisch messen ließe, sei in der Stadt größer als auf dem Land; im Ergebnis seien weitaus mehr Vertriebene in der Stadt verwurzelt als auf dem Land.566 Daher sei eine Neubewertung von Stadt und Land notwendig: „Die ländliche Lebensweise galt früher als stabiler und sozial gesünder, bei den Vertriebenen ist nun das Gegenteil feststellbar.“567 Sowohl der Stadt als auch industriegesellschaftlichen Lebens- und Beschäftigungsformen war folglich ein größeres Integrationspotential zuzusprechen. Dies hatte in erster Linie ökonomische Ursachen, war aber auch darauf zurückzuführen, dass „der Vertriebene […] hier seltener auf sein VertriebenSein angesprochen“ werde.568 Parallel zu Schelsky, Pfeil oder von Oppen vertrat Rudolph die These, dass die Vertriebenen nicht als gesonderte Schicht oder Klasse unseres Volkes […], sondern als eine Gruppe von Menschen, die am zugespitztesten die Probleme der industriellbürokratischen Gesellschaft erfahren und dementsprechend ihre Verhaltensweisen eingerichtet haben,

anzusehen seien.569 Insgesamt schloss sich Rudolph dem Sozialethiker an, wählte jedoch eine andere Methode und führte andere, v. a. sozioökonomische Argumente ins Feld. Hatte von Oppen die Affirmation der Moderne eher 561 Das geht hervor aus: Zwischenbericht über die Ostkirchentagung in Willingen, 4.–7. 10. 1954 (EZA Berlin 17/572). Vgl. auch Rudolph, Heimatvertriebenen, 52–57. Für den empirischen Zugang sprechen die vielen Statistiken, auf die der Volkswirt zurückgriff. Die Frage, auf welche Weise Rudolph das Zahlenmaterial generierte, ob er die Erstellung der Statistik methodisch reflektierte und wie seine empirische Arbeit wissenschaftsgeschichtlich einzuordnen ist, muss anderen Studien überlassen werden. 562 Ebd., 51. 563 Ebd. 564 Ebd., 52. 565 Ebd. 566 Ebd., 54 f. 567 Ebd., 54. 568 Ebd., 55. 569 Ebd., 57.

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postuliert als empirisch belegt, leitete Rudolph das integrative Potential der Großstadt induktiv aus seinen empirischen Befunden ab. Die Ausführungen Rudolphs wurden jedoch im Gegensatz zu den Thesen von Oppens kaum rezipiert und spielten in der theologischen Auseinandersetzung kaum eine Rolle.570 Die Aufnahme der Modernedeutungen in der Theologie Die Modernedeutung von Oppens wurde von einigen Theologen rezipiert. Der Theologe Spiegel-Schmidt verfasste für die Zeitschrift „Integration. Bulletin International“, dem Publikationsorgan der Europäischen Forschungsgruppe für Flüchtlingsfragen, einen Aufsatz zum Thema „Religionssoziologische Beobachtungen an heimatlos gewordenen Menschen“ und berief sich explizit auf den Sozialethiker von Oppen. Der Theologe verwies in seinem Beitrag auf das integrative Potential der westlichen Industriegesellschaft auf sozioökonomischer, aber auch auf kulturell-mentaler Ebene.571 Neben dem Argument, dass eine wirtschaftliche Existenz nur im industriellen Bereich möglich sei, argumentierte er, dass die Großstadt und die industrielle Welt für die Vertriebenen „ein Gefühl der Befreiung“ hervorriefen, „daß sie nicht mehr als Flüchtling gestempelt und aus der Gesellschaft ausgegliedert“ werden.572 Insgesamt bestätigte Spiegel-Schmidt, der ebenfalls einen „Umschichtungsprozess“ der traditionellen zur modernen Gesellschaft zu beobachten glaubte, von Oppens These, dass der „heimatlose Mensch die fortgeschrittenste Type der modernen industriellen Gesellschaft“ sei.573 Ähnlich wie von Oppen attestierte der holistisch-traditionell argumentierende Theologe der Industrialisierung eine nivellierende Wirkung und glaubte zudem ein Auseinandertreten der „Ganzheit des Lebens“, eine Lockerung von Familienbindungen, eine „Individualisierung des religiösen Lebens“, die sich im Bedeutungszuwachs des persönlichen Glaubens zeige, und eine Infragestellung des „natürliche[n] Hineingestelltsein[s] in den auf Heimatgemeinschaften aufgebauten Volkszusammenhang“ zu erkennen.574 Der Theologe übernahm von 570 Von Oppen nahm in einem Tagungsbericht einen großen Raum ein, während Rudolph nur kurz erwähnt wurde. Vgl. Zwischenbericht über die Ostkirchentagung in Willingen, 4.–7. 10. 1954 (EZA Berlin 17/572). Möglicherweise bediente von Oppen mit seinen allgemeinen Thesen ein Sinnstiftungsbedürfnis, das Rudolph mit seinen sozialstatistischen Analysen nicht bedienen konnte. 571 Spiegel-Schmidt, Beobachtungen, 158. Die explizite Bezugnahme auf von Oppen findet sich auch Spiegel-Schmidt, Wege, 3–6. 572 Spiegel-Schmidt, Beobachtungen, 157 f. Zur gesellschaftsgeschichtlich-prozessualen Unterscheidung von moderner Gesellschaft und traditioneller Gemeinschaft siehe ebd., 155. 573 Ebd., 158. Genau genommen entstammte diese Formulierung Schelskys 1950 entstandenem Aufsatz zur heimatvertriebenen Familie. Spiegel-Schmidt nannte als Referenz jedoch von Oppen. Vgl. Schelsky, Flüchtlingsfamilie, 163; und Oppen, Vertriebene, 39. 574 Spiegel-Schmidt, Wandlungen, 37; und ders., Beobachtungen, 158 f.

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Oppens Modernedeutung und wandte sie auf das „religiöse Feld“ an. Aufgrund der Identität von Kirche und Gesellschaft sei der religiöse Bereich von denselben Wandlungserscheinungen betroffen.575 Wenn auf das intensivierte Glaubensleben der Notsituation parallel zur wirtschaftlichen Konsolidierung nun eine Phase der weitreichenden Entkirchlichung folge, wie der Theologe in einem 1959 erschienenen Aufsatz feststellte, dann war diese Entwicklung nicht zuletzt als Anpassung an das religiöse Leben unter den Bedingungen der industriegesellschaftlichen Moderne zu bewerten.576 Dies barg aber auch Chancen: Für den Geschäftsführer des OKAs vollzog sich eine Entwicklung von „einem breiten Strom volkskirchlichen Traditionschristentums auf eine zahlenmäßig geschrumpfte, aber intensivere kirchliche Betätigung.“577 Allerdings hing die Entkirchlichung nach Spiegel-Schmidt auch von den Umgebungsstrukturen ab. Insbesondere in den neu entstandenen, von Vertriebenen bewohnten Diasporagemeinden sei ein nach wie vor lebendiges kirchliches Leben zu beobachten.578 Mit der modernen Industriegesellschaft setzte sich Spiegel-Schmidt in einem 1969, also wesentlich später entstandenen Aufsatz auseinander. Letztlich zeigt sich in der hier profilierten Gesellschaftsdeutung eine Analogie zur oben rekonstruierten Gesellschafts-Gemeinschafts-Dichotomie. Spiegel-Schmidt gebrauchte zwar nicht den Gemeinschaftsbegriff, attestierte jedoch der ostdeutschen Gesellschaft ein „intensiveres gesellschaftliches Zusammenleben im Osten“, während die westdeutsche Gesellschaft infolge ihrer Verstädterung durch „kühle Zurückhaltung und Unverbindlichkeit“ und eine „verletzende Abweisung“ charakterisiert sei.579 Diese Diagnose einer unterschiedlichen Intensität der Zusammengehörigkeit war wiederum integrationspolitisch relevant, denn daraus rührte die „Verhaltensunsicherheit“ der Vertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft her.580 Explizit auf von Oppens Aufsatz bezugnehmend führte der Theologe aus: „Die tatsächliche Privatisierung und Atomisierung der deutschen Gesellschaft hat infolge der Massenzwangswanderung unserer Zeit einen großen Ruck nach vorne gemacht.“581 Zugleich habe die Stadt mit ihrer Tendenz zur Anonymität gegenüber der „brutalen Konfrontation“ zwischen Einheimischen und Vertriebenen im Dorf „wesentliche Erleichterung“ gebracht.582 Grundsätzlich war der Theologe trotz modernekritischer Versatzstücke kein Kritiker der modernen Industriegesellschaft, sondern forderte die Öffnung der Vertriebenen 575 Ebd., 161. 576 Spiegel-Schmidt, Wandlungen, 52. Folgt man Spiegel-Schmidt, ist der Rückgang der Kirchlichkeit im Sinne einer Anpassung an die Kirchlichkeit der aufnehmenden Gesellschaft zu deuten. Siehe ebd., 78, 82 und 88. 577 Spiegel-Schmidt, Wandlungen, 89. 578 ebd., 78 f. 579 Spiegel-Schmidt, Vertriebenen in der Gesellschaft, 145. 580 Ebd. 581 Ebd. 582 Ebd.

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für die moderne Gesellschaft und die Affirmation des sozialen Wandels gerade ein.583 Denn die Integrationsschwierigkeiten waren für Spiegel-Schmidt auch ein Ergebnis der traditionellen Gesellschaftsauffassung. Daher sei ein Wandel der Gesellschaftsauffassung, eine Affirmation der modernen Industriegesellschaft notwendig: Der gesellschaftliche Wandel erfordere einen „inneren Wandel“, ein „innerliches Ja […] zur Industriegesellschaft.“584 Bei allen dreien – von Oppen, Rudolph und Spiegel-Schmidt – lässt sich also eine Hinwendung zur modernen Industriegesellschaft verzeichnen. Diese Tendenz stellt gegenüber den vorigen modernekritischen Positionen tatsächlich einen Umschwung dar. Die allerdings nicht linear vollzogene Hinwendung zur modernen Industriegesellschaft sowie die explizite Infragestellung kultur- und modernekritischer Deutungsfiguren wird in der Soziologiegeschichtsschreibung häufig mit einer „Hinwendung zur empirischen Sozialforschung“ der Soziologie und dem Aufstieg der empirischen Sozialforschung in Verbindung gebracht.585 Anstelle einer normativ aufgeladenen, sozialphilosophischen Gesellschaftskritik habe die Soziologie den Anspruch entwickelt, die soziale Wirklichkeit unvoreingenommen und wertneutral empirisch zu beschreiben. In diesem Zusammenhang wurde auch die Industriegesellschaft als zu beschreibende soziale Realität entdeckt, die ihren Schrecken verlor. Auf den ersten Blick scheint dieser Zusammenhang auch in diesem Kontext evident: Dass die Industriegebiete Arbeitsplätze in großem Stil zur Verfügung stellten, war für jeden wahrnehmbar und empirisch leicht nachzuvollziehen. Allerdings ist diese These partiell zu relativieren. Erstens kann die wissenschaftsgeschichtliche Literatur, die sich mit der Rolle der Soziologie im NS befasst, nachweisen, dass bereits während der NS-Zeit eine anwendungsorientierte empirische Sozialforschung existierte.586 Die auch institutionell abgesicherte Expansion der empirischen Sozialforschung nach 1945 war demnach kein bruchloser Neubeginn der Soziologie, sondern basierte auf drei Säulen: Auf der Rückkehr von während der NS-Zeit emigrierten Soziologen, die in den Vereinigten Staaten mit der empirischen Sozialwissenschaft in Kontakt gekommen waren,587 in geringerem Umfang auf der 583 Das geht hervor aus: Ebd., 152 f. 584 Ebd., 153. 585 Nolte spricht von einer Trendwende zum Begriff Gesellschaft und zur empirischen Sozialforschung. Diese habe zu einer Entideologisierung und zu einem neuen wissenschaftlichen Selbstverständnis als „Wissenschaft der gesellschaftlichen Realität“ geführt (Nolte, Ordnung, 263). Vgl. auch Metzler, Konzeptionen, 37. 586 Vgl. unten 171–230. 587 Pohl, die sich für einen biografiegeschichtlichen Zugriff auf die Wissenschaftsgeschichte ausspricht, vergleicht die beiden Biografien von Lemberg, der während der NS-Zeit im Reich blieb, und Francis, der als Jude während der NS-Zeit in die USA emigrieren musste und dort mit der empirischen Sozialforschung in Kontakt kam. Dabei waren sowohl Lemberg als auch Emerich während der 1920er Jahre in der völkischen Bewegung aktiv. Pohl führt wissenschaftliche Innovationen wie die empirische Sozialforschung auch auf Biografien wie die von Francis zurück. Siehe Pohl, Soziologen. Dieses Urteil ist angesichts einer großen empirischen

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Wissenschaftspolitik der US-amerikanischen Besatzungsmächte588 und zu seinem sehr großen Teil auf den Arbeiten solcher Soziologen, die während der NS-Zeit empirisch gearbeitet hatten und nach 1945 am Aufbau der deutschen Soziologie in großem Umfang beteiligt waren. Gerade die Dortmunder Sozialforschungsstelle steht paradigmatisch für die Kontinuität der empirischen Arbeit über die NS-Zeit hinaus.589 Der Aufstieg der Sozialforschung ist nicht als linearer Prozess zu verstehen, sondern erfolgte in unterschiedlichen Phasen und Wellenbewegungen, zumal gerade „linke“ Soziologen wie Theodor Adorno die Tradition der sozialphilosophischen Gesellschaftskritik reaktivierten und die empirische Sozialforschung als „unkritische Affirmationswissenschaft in der Restauration“ ablehnten.590 Dabei bestanden zeitweilig verschiedene soziologische Schulen, eine empirische Soziologie und eine gesellschaftskritische Sozialphilosophie nebeneinander, die jeweils auf eigene Publikationsorgane zurückgriffen. Schließlich ist die Diskrepanz zwischen Paul Nolte, der die Hinwendung zur empirischen Sozialforschung in die 1950er Jahre datiert, und dem Soziologen Carsten Klingemann, der die empirische Sozialforschung während des NS in den Blick nimmt, nicht zuletzt auf die unterschiedlichen Forschungsgegenstände und Quellengattungen zurückzuführen.591 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der von Ren König und Helmut Schelsky nicht ohne Pathos propagierten „Suche nach Wirklichkeit“ schließlich um eine programmatische Selbstbeschreibung handelte, die den Sachverhalt verschleiert, dass Schelsky oder König mit ihrem Programm einer „entideologisierten“ empirischen Soziologie ein ausgesprochen politisches Anliegen verfolgten.592 Schelsky propagierte dabei den nicht unproblematischen Nivellierungsbegriff als Kategorie zur Beschreibung sozialer Prozesse mit dem Ziel, den aus seiner Sicht ideologischen Klassenbegriff und die „marxistische Klassentheorie“ zu diskreditieren und ein „allgemeines Bewußtsein kollektiver Spannungslosigkeit und sozialer Harmonie“ zu befördern.593 Schelsky liefere damit, wie der Theologe Martin Laube bemerkt, der

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Kontinuität der deutschen Soziologie vor und nach 1945 zu hinterfragen. Vgl. v. a. unten 171–179 und 215–218. Nolte attestiert der US-amerikanischen Wissenschaftsförderung eine unterstützende Wirkung, hält den Einfluss der amerikanischen Wissenschaftspolitik aber insgesamt für zu schwach. Siehe Nolte., Ordnung, 252. Klingemann, Verweigerung, 485–488; und Adamski, Ärzte, 128. Vgl. auch unten 171–230. Metzler, Konzeptionen, 46 f. Nolte nimmt vom bürgerliche Zeitschriften in den Blick, während Klingemann die Fachsoziologie und ihre spezialisierten Publikationsorgane untersucht. Vgl. Klingemann, Soziologie; und Nolte, Ordnung. So der programmatische Titel Schelskys. Siehe Schelsky, Suche, 1965. So jedenfalls Reitmayers Kritik an Nolte, der Schelskys Nivellierungsbegriff als Beleg für die Entideologisierung der Soziologie bewerte und dabei die politischen Absichten, die Schelsky mit seinem vermeintlich unideologischen Nivellierungsbegriff verfolgt habe, verkenne. Siehe Reitmayer, Elite, 20 und Nolte, Ordnung, 225. Vgl. auch Schelsky, Bedeutung, 352–383. Das

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Gesellschaft der Adenauer-Ära eine Ideologie […], die den Klassengegensatz verneint und vorhandene Restideologien aus der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung als bloße ,Einbildung‘ qualifiziert.594

Drittens kann der Verdacht nicht ausgeschlossen werden, dass Schelsky von seiner eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit abzulenken beabsichtigte, indem er im Gestus des Neuaufbruchs die Diskontinuität der soziologischen Tradition betonte.595 Während des NS habe, so Schelskys langlebige und falsche Diagnose, schlicht keine Soziologie existiert.596 Diese Überlegungen bedeuten nicht, dass die These einer „empirischen Wende“ falsch wäre, aber sie ist zum Teil differenzierungs- und relativierungsbedürftig. Zudem handelt es sich hierbei um programmatische Selbstansprüche beteiligter Akteure, die entsprechend zu kontextualisieren und mit Vorsicht zu genießen sind.597

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wörtliche Zitat findet sich bei: Laube, Theologie, 189. Der Theologe Martin Laube erkennt bei Schelsky eine Vermischung von „vorurteilsfreier, realistischer Gesellschaftsanalyse mit politisch-ideologischer Bewertung“ (ebd., 189). Schwartz sieht in der sozialen Pazifizierung der Vertriebenen einen Beleg für Schelskys Nivellierungsthese, die zwar übertrieben, in der Tendenz jedoch zutreffend sei. Siehe Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 123. Zitiert nach Laube, Theologie, 189. Auch Sch fer, Soziologe, 759. Schelsky repräsentierte eine Mischung auf Neuaufbruch und Kontinuität zur NS-Soziologie. So jedenfalls Nolte, Ordnung, 237; und Metzler, Konzeptionen, 38. Zu Schelskys Selbstdeutung: Schelsky, Ortsbestimmung, 29–42. Schelsky war Mitglied in zahlreichen NS-Organisationen und in der NS-Schulungsarbeit aktiv, darunter im Schulungsamt des Außenpolitischen Amtes der NSDAP und im Amt Rosenberg. Gerald Mozetic weist auf den Zusammenhang von Schelskys biografischen Verstrickungen und seinem Urteil über die NS-Soziologie hin. Siehe Laube, Theologie, 186, FN 5. Der Theologe Laube, der sich sehr kenntnisreich mit der Soziologie auseinandersetzt und über Schelsky schreibt, dass er sich über die NS-Zeit zu unwahren Behauptungen habe hinreißen lassen, übernimmt Schelskys Diagnose letztlich, wenn er schreibt, dass die Soziologie mit der nationalsozialistischen „Machtergreifung […] als wissenschaftliche Disziplin faktisch auf[hörte] zu existieren.“ Diesen Befunden wird in der wissenschaftshistorischen Literatur widersprochen. Vgl. ebd., 39 f. und 186 FN 5. Nach Silke von Dyk und Alexandra Schauer sei die theoretische Soziologie zum Erliegen gekommen, nicht jedoch die empirische. Vgl. Dyk/ Schauer, Soziologie, 86 f. In der Theologiegeschichtsschreibung wurde die These der empirischen Wende auf die Theologie übertragen, die seit den 1960er Jahren vermehrt die Soziologie rezipierte und darauf aufbauend neue Kirchenverständnisse entwickelte. Diese Theologen wiesen dabei auf die soziale Abhängigkeit der Kirche von der modernen Gesellschaft und die gegenseitige Verflochtenheit hin, glaubten soziologische Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Kirche zu erkennen und erhoben den Anspruch, die Kirche in soziologischen Kategorien zu beschreiben, ohne dabei die Selbstunterscheidung von der Welt aufgeben zu wollen. Vgl. hierzu Ziemann, Suche; Dahm, Konzepte; und Hermann, Diakonie. Quellenbelege: Bismarck, Kirche; und von Oppen, Gemeinde.

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Die verlorene Gemeinschaft und die Entdeckung der Gesellschaft

2.5.3 Kann Heimat auch im Westen sein? Wilhelm Brepohls Heimattheorie im Kontext der Moderne und ihre Rezeption in der Theologie Angelpunkt der Auseinandersetzung mit den Vertriebenen und ihrer Integration ist in besonderer Weise der Begriff und die Größe „Heimat“. Diesem Begriff kann eine über materielle und sozioökonomische Integrationsfragen hinausgehende integrationspolitische Konnotation zugesprochen werden, brachte er doch zum Ausdruck, ob die Vertriebenen auch im sozialen, geistigen oder seelischen Sinne „Heimat“ gefunden hätten. Im Sprachgebrauch rekurrierte der Heimatbegriff auf die „innere Eingliederung“ oder die sog. „Beheimatung“. Zudem implizierte der Heimatbegriff Vorstellungen einer sozialen Ganzheit, repräsentierte intakte soziale Ordnungsgefüge und ist demnach auch als gesellschaftlicher Ordnungsbegriff zu verstehen. Schließlich wurde „Heimat“ auch im Kontext der Moderne interpretiert, wobei dieser Deutungszusammenhang zwischen Kritik und Affirmation der Moderne changierte. Dieses Verständnis von „Heimat“ im Kontext der Moderne soll im Folgenden im Zentrum stehen. Der Soziologe und Volkskundler Wilhelm Brepohl, der in einem protestantischen Milieu aufwuchs, nach dem Abitur eine Tätigkeit als Missionar anstrebte und nach 1945 häufig in protestantischen Kommunikationszusammenhängen begegnet,598 publizierte 1952 in der soziologischen Zeitschrift „Soziale Welt“ einen Aufsatz mit dem Titel „Heimat als Beziehungsfeld.“599 Brepohl erhob hier den Anspruch, angesichts der modernen, d. h. mobilen Industriegesellschaft eine „Theorie der Heimat“ zu entwickeln, die ausdrücklich nicht nur für den ländlichen Menschen, sondern auch für den modernen Menschen und die industrielle Welt bestimmt war.600 Anstelle eines ontologischen Heimatverständnisses, das auf die reelle physische Landschaft bezogen war, lassen sich Brepohls Überlegungen zum Heimatbegriff als sozialkonstruktivistisch interpretieren.601 Insbesondere für den modernen Menschen galt, dass Heimat ihre Bezugnahme auf den Raum verloren habe. Heimat müsse daher durch ständige Anpassung an die „sozial-kulturellen Gegebenheiten des Raumes“ immer wieder neu geschaffen werden.602 Entscheidend war neben dem subjektiven Heimaterlebnis die soziale Dimension. Demnach waren es die sozialen Beziehungen, die aus einer Landschaft Heimat

598 Goch, Art. Brepohl, 81. 599 Brepohl, Heimat als Beziehungsfeld, 12–22. 600 Ebd., 22. Eine ausführliche Exegese seines Aufsatzes in der sozialen Welt muss hier aus Platzgründen unterbleiben. Hierzu auch Adamski, Kulturraumforschung, 11–17. 601 Brepohl, Heimat als Beziehungsfeld, 15 f. Heimat war für Brepohl nichts Objektives, sondern durch soziale Beziehungen und geistige, also subjektive Erlebnisse konstituiert. 602 Ebd.

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machten.603 Vor dem Hintergrund seines sozialen Verständnisses ergab sich hinsichtlich der Vertriebenen die Aufgabe, „die Dissoziierung aufzuheben, wieder in eine neue menschliche Umgebung hineinzuwachsen“, wobei die „Beziehungen zu den anderen Menschen“ entscheidend seien.604 Hieraus leitete er die Schlussfolgerung ab, dass, sofern dies gelänge, auch der „neue Raum“ „zur Heimat“ werde, wobei „das Soziale“ entscheidend bleibe.605 Seine auch von den Akteuren der kirchlichen Vertriebenenarbeit rezipierten Überlegungen präsentierte er zudem in protestantischen Kommunikationszusammenhängen wie der „Zeitschrift für evangelische Ethik“ (ZEE) und dem „Evangelischen Soziallexikon“ (ESL).606 In einem 1958 in der „ZEE“ erschienenen Aufsatz unterschied er zwischen statischen und modernen Gesellschaften, wobei die moderne Gesellschaft durch wachsende soziale und geographische Mobilität und Dynamik gekennzeichnet sei. Folglich sei die Sozialgliederung im ständigen Fluss; das Verlassen des Raumes wie des Sozialgefüges selbstverständlich geworden.607 Das Ergebnis war ein „fundamentaler Wandel der Lebensbezüge“ und ein „aus dem Ort gefallener Mensch“608. Die Vertriebenen stünden paradigmatisch für die krisenhafte Heimatlosigkeit der Moderne, die zu den „Grundnöten unserer Zeit“ gehöre und daher ein gesamtgesellschaftlich relevantes Phänomen sei.609 Während Brepohl in seinem Aufsatz in der Zeitschrift „Soziale Welt“ von 1952 ein anpassungsfähiges und dynamisches Verständnis von Heimat herausarbeitete oder sogar postulierte, kam nun im Kontext der Vertriebenenfrage die Krisenwahrnehmung stärker zum Vorschein: „Durch den Verlust der eigentlichen Heimat ist das seelische Trauma entstanden, das weite Bereiche in Geist und Kultur der industriellen Gesellschaft kennzeichnet.“610 Schließlich, und hier klingt die ordnungspolitische Bedeutung an, war der Verlust der Heimat auch der Verlust der „natürlichen Verbindung zur Gesellschaftsordnung.“611 Die „Zerstörung der alten Heimat“ war, wie er etwas drastischer und aus einer Verlustperspektive heraus formulierte, für Brepohl die „bedeutendste Folge von Industrie und Kapitalismus.“612 Für Brepohl war das Problem der Heimat

603 Ebd.; und ders., Heimat, 26. In diesem Aufsatz bezeichnete er den Raum als Bühne, in der sich die die Heimat konstituierenden sozialen Beziehungen auswirkten. 604 Ebd., 29. 605 Ebd., 30. 606 Brepohl, Heimat und Selbstentfremdung; ders., Art. Heimat. In: ESL 1963, 560 f. Vgl. auch ders., Heimat, 24–31. 607 Brepohl, Heimat und Selbstentfremdung, 365. 608 Ebd. 609 Ebd., 359. 610 Brepohl, Art. Heimat. In: ESL 1963, 561. 611 Brepohl, Heimat, 27. 612 Ebd., 24.

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daher ein Schlüsselproblem der modernen Gesellschaft, die „Heimatpflege“ eine der „wichtigsten Kulturaufgaben.“613 Die Theologen, die im OKA und OKK mit der Vertriebenenproblematik befasst waren, nahmen den Interpretationszusammenhang von Heimat und moderner Gesellschaft auf und nahmen zum Teil explizit auf Brepohls Ausführungen Bezug. Der langjährige Geschäftsführer des OKAs, Friedrich Spiegel-Schmidt, stellte zum Beispiel die Frage, ob Heimat angesichts fundamentaler Modernisierungsprozesse überhaupt noch eine relevante Größe sein könne.614 Trotz einiger Kritikpunkte an Brepohls Heimattheorie schien Spiegel-Schmidt Brepohls Heimatverständnis im Wesentlichen zu teilen. In einem zehn Jahre später erschienenen Aufsatz hob er ebenfalls die soziale Dimension von Heimat hervor und argumentierte, dass eine Landschaft erst durch die sozialen Beziehungen zur Heimat werde. So habe sich eine „Gewichtsverlagerung von der Landschaft auf die menschliche Gemeinschaft“ vollzogen, die Landschaft werde „erst liebenswert durch die Menschenhände, die Heimat geschaffen haben.“615 Explizit zog er daraus die Konsequenz für den Rückkehranspruch: Daß die Heimat mit den vertrauten Menschen wandern, daß der von Fremden besiedelte Raum zur Fremde werden kann, diese Erfahrung der Zurückgebliebenen und Spätaussiedler hat sich weit herumgesprochen und hat die erste Hoffnung, man könne einfach zurückkehren und das Heimatgefüge wiederherstellen, zerbrochen.616

Da sich die Sozialgefüge nicht einfach „zusammenleimen“ ließen, war der „Heimatraub schlechterdings und unwiederbringlich Mord.“617 Auch die „Ersatzgebilde der Landsmannschaften“ könnten dabei „allenfalls provisorische Überbrückungshilfe leisten.“618 Der Sozialethiker und lutherische Theologe Christian Walther schloss sich in einem Aufsatz für die „ZEE“ von 1958 Brepohls Verständnis von Heimat im Wesentlichen an. Vor allem teilte er Brepohls Ansicht, dass Heimat in der modernen Welt etwas Anpassungsfä-

613 Brepohl, Art. Heimat. In: ESL 1963, 562. Aus der Erfahrung der Heimatlosigkeit der Moderne resultierte ein gesteigertes Heimatbewusstsein des modernen Menschen. Siehe ebd., 561. 614 Spiegel-Schmidt, Christ, 117 f. Spiegel-Schmidt berief sich auch auf Iwand, nennt aber keine Literaturangabe. 615 Ders., Vertriebenen in der Gesellschaft, 144. Die Ausführungen Spiegel-Schmidts lassen eine klare Analogie zur Heimattheorie Brepohls erkennen, auch wenn sich der Theologe nicht explizit auf Brepohl berief. Dass Spiegel-Schmidt Brepohls Heimatverständnis kannte, geht jedoch aus seinem gerade zitierten Beitrag für die „ZEE“ von 1959 hervor. Kritisch betonte Spiegel-Schmidt die Unvergleichbarkeit von freiwilliger und unfreiwilliger Wanderung. Wanderungsbewegungen waren für ihn zudem nicht die Ausnahme, sondern der historische Normalfall. Siehe Spiegel-Schmidt, Frage der Heimat, 174 und 179. 616 Spiegel-Schmidt, Vertriebenen in der Gesellschaft, 144. 617 Ders., Frage der Heimat, 178. 618 Ebd., 144 und 146.

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higes, Dynamisches, etwas „zu Schaffendes“ sein müsste.619 Denn die „Instabilität des sozialen Gefüges“ gehörte auch für Walther zu den „Struktureigentümlichkeiten der industriellen Gesellschaft überhaupt.“620 Allerdings sah er die Aufgabe der Ethik im Vergleich zur Soziologie nicht darin, die „Entstabilisierung [der Heimat] als unabänderliches Faktum“ hinzunehmen und eine Anpassung um jeden Preis zu erbringen.621 Zudem kritisierte der Theologe Brepohls subjektivistische Interpretation von Heimat, die immer auch den Charakter von etwas „Vorhandenem“ trage, in das man „geworfen“ werde.622 Klaus von Bismarck identifizierte in einem 1952 gehaltenen Referat den Unterschied zwischen traditionellem und modernem Heimatverständnis mit der bereits bekannten Ost-West-Dichotomie und stellte fest: Während die „Traditionsgebundenheit der Menschen des Ostens“ eng mit ihrer „Bindung an Boden und Beruf verbunden“ sei, läge im „vergesellschafteten Bereich des Westens“ eine „gleichartige Bindung an Boden und Beruf nicht vor.“623 Demnach könne der „ländlich-konservative Heimatbegriff […] nicht für alle Deutschen absolut gesetzt werden.“624 Girgensohn definierte Heimat im Rekurs auf Brepohl als etwas Aktives und Dynamisches, wobei auch im Westen eine Beheimatung stattgefunden habe.625 Ein vertraulicher Entwurf für eine Besprechungshilfe der rheinischen Landeskirche von 1960 stellte angesichts der mobilisierten Gesellschaft fest, „dass bestimmte Heimatbezüge, zumindest, wenn sie über den engsten Bereich hinaus gehen, ersetzt werden können, ohne dass der Mensch in seinem Menschsein zerstört wird.“626 Nicht alle Autoren nahmen Brepohls Heimattheorie in affirmativer Absicht auf. Ludwig Landsberg grenzte sich von Brepohls soziologischem Verständnis von „Heimat als Summe sozialer Beziehungen“ zunächst ab und betonte den Wert des „ursprünglichen Heimaterlebnisses“627 – und stellte einen essentialistischen, auf einen geographischen Ort bezogenen Heimatbegriff ins Zentrum und knüpfte dabei direkt an die nationalsozialistische Blut- und Bodenideologie an. Sein geographisches Heimatverständnis basiere auf der 619 620 621 622 623 624 625

Walther, Problem, 369. Walther zitierte Brepohls Aufsatz von 1952. Ebd. Ebd., 370. Ebd., 373 und 375. Bismarck, Heimat, 72. Ebd. Girgensohn, Recht auf Heimat als seelsorgerliches Problem, 197–202, 202. Girgensohn hatte dieses Referat auf der ersten Sitzung des Arbeitskreises Ethik und Recht gehalten. Siehe Ders.: Das Recht auf Heimat und der kommende Friedensvertrag im Verständnis der vertriebenen evangelischen Kirchen aus dem Osten. Vorlage für die erste Sitzung des Arbeitskreises Ethik und Recht am 22. und 23. 5. 1959 in Münster (EZA Berlin B 512/149). 626 Vertraulicher Entwurf eines Wortes zur Frage des Rechts auf Heimat vom Okt. 1960 (BArch Koblenz B 150/2334, 2/2). 1967 kam der Soziologe Heiner Treinen auf einer Tagung der evangelischen Akademie Loccum zu dem Ergebnis, dass Heimat in der Auflösung begriffen sei. Siehe Loccumer Protokolle. 627 Landsberg, Situation, 7.

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„Bindung an Grund und Boden“ und werde vor allem in der Kindheit erlebt.628 Trotz dieser Kritik lassen sich andererseits auch inhaltliche Parallelen zu Brepohls Heimattheorie feststellen. Angesichts einer hohen gesellschaftlichen Fluktuation in einer mobilen Gesellschaft hielt er die Klärung des Heimatbegriffs für notwendig.629 Heimatlosigkeit war demnach nicht nur eine vertriebenenspezifische Angelegenheit, sondern ein „Schicksal und Wesen des Menschen“ und ein „Signum der Zeit.“630 Auch die Erfahrung von Fremdheit war „kein Alleinstellungsmerkmal mehr für die Vertriebenen in einer mobilen Gesellschaft“, sondern galt „in gleicher Weise für die Vertriebenen […] und die Einheimischen, die ja in unserer fluktuierenden Gesellschaft sehr häufig auch Zugezogene, also Fremde sind.“631 Auf einer religionspädagogischen Tagung zum Thema „Zur Frage des deutschen Ostens im Schulunterricht“ wurde Brepohls Heimattheorie ebenfalls explizit aufgenommen, allerdings verkürzt rezipiert und zum Teil ins Gegenteil gewendet.632 Hatte Brepohl die ständige Anpassung des Menschen an seine Umwelt gefordert,633 bewerteten die Thesen die Modernisierung als „wahrhaft dämonische Entheimatung des Menschen“.634 Indizien dafür waren „der Kapitalismus“, „die Industrialisierung“, „die Technisierung des Daseins“ und „die Zerstörung des Glaubens an eine jenseitige Welt“, „die Illusionierung und Ideologisierung des menschlichen Daseins“, „die Vernichtung der konkreten Lebensbezüge“, „Vermassung und Versklavung des Menschen unter angeblich überpersönliche, in Wahrheit untermenschliche Zwecke“ und ein „technisches Nomadentum.“635 Das Vertreibungsgeschehen erschien hier nicht als Ursache, sondern als Folge der Heimatlosigkeit: Die schlimmste Erfindung unseres Jahrhunderts ist der Heimatlose. Der gewaltige Fortschritt, in dem die Welt sich befindet, hat es mit sich gebracht, dass wir diese ihre letzte Erfindung in mehr als 50 Millionen Exemplaren betrachten können.636

Die hier negativ konnotierte Vorstellung, dass Heimatlosigkeit ein Charakteristikum der Moderne sei, begegnet als Topos sowohl in den Gremien der

628 Ebd., 8. 629 Ders.: Referat auf der Sitzung des Kulturausschusses des Landesvertriebenenbeirats, Königswinter, 25. 6. 1962 (LAV NRW Duisburg RW 305–9); und ders.: Vortrag auf der Pressetagung der evangelischen Flüchtlingsseelsorge, 30.5.–1. 6. 1965 (LAV NRW Duisburg RW 305–7). 630 Ebd. 631 Ders.: Die Vertriebenen und Flüchtlinge in der westdeutschen Gesellschaft, o. D. (LAV NRW Duisburg RW 305–11). 632 Thesenentwurf zur Frage des deutschen Ostens im Schulunterricht für die Religionspädagogische Tagung am 30. 8. 1954 (EZA Berlin 17/571). 633 Brepohl, Heimat als Beziehungsfeld, 15 f. 634 Thesenentwurf zur Frage des deutschen Ostens im Schulunterricht für die Religionspädagogische Tagung am 30. 8. 1954 (EZA Berlin 17/571). 635 Ebd. 636 Ebd. Ähnlich auch Bolewski, Biblische Besinnung. In: Loccumer Protokolle 19/1967.

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kirchlichen Vertriebenenarbeit als auch in der Publizistik.637 Der Interpretationszusammenhang von Heimat und moderner Gesellschaft konnte also beides zugleich zum Ausdruck bringen: Eine Affirmation der Moderne, die Integrationsfähigkeit des Westens und die Anpassungsfähigkeit der Vertriebenen an die neue Heimat im Westen oder die Negation der Moderne, in der die Heimat unwiderruflich verloren gegangen war. In beiden Interpretationszusammenhängen erhielten die Vertriebenen eine symbolische Bedeutung.

2.6 Völkisch und protestantisch? Die Flüchtlingssoziologie in protestantischen Kommunikationszusammenhängen und ihre Rolle im Nationalsozialismus 2.6.1 Wissenschaftsgeschichtliche Bemerkungen zur Flüchtlingssoziologie und zur Kontinuitätsfrage Im folgenden Kapitel ist die Frage von Interesse, ob es sich um eine spezifische völkische Soziologie handelte, die von protestantischer Seite rezipiert und nachgefragt wurde. Anhand der soziologie- und wissenschaftsgeschichtlichen Literatur werden personelle Kontinuitäten638 sowie ihre wissenschaftlichen Selbstverständnisse, Prägungen, Praktiken sowie mögliche Anleihen bei nationalsozialistischen Ideologemen oder völkischen Denktraditionen und ihre Rolle im NS, anders formuliert: die Kontinuitäten zwischen Weimarer, nationalsozialistischer Zeit und Nachkriegszeit berücksichtigt.639 Zudem stellt sich die Frage, ob und wie empirische Wissenschaft und völkisches Denken kompatibel waren. Darauf aufbauend werden mögliche Konvergenzen zwischen Protestantismus und Flüchtlingssoziologie herausgearbeitet. Schließ637 Vor allem in der Zeitschrift „Sonntagsblatt“ war dieser Topos beliebt. Hier seien nur zwei Beispiele genannt: Deutschland leben. In: Sonntagsblatt, 17. 10. 1948, 16; Alle sind sie auf Wanderschaft. Reisende ohne Ziel. In: Sonntagsblatt, 24. 10. 1948, 5. 638 Auf die fruchtbare Verknüpfung von Biografieforschung und Wissenschaftsgeschichte wurde bereits hingewiesen. Vgl. Pohl, Soziologen; und Szçllçsi-Janze, Lebens-Geschichte. Bollenbeck kritisiert personalisierende Ansätze, spricht sich aber dennoch für einen den Kontext berücksichtigenden biografiegeschichtlichen Zugriff in der Wissenschaftsgeschichte aus. Vgl. Bollenbeck, Interesse, 9–11. Neben den altbekannten „Bösewichten“ wie Carl Schmitt geriet eine jüngere Professorengeneration in den Blick, die in den 1930er Jahren ihre Karriere begann und sich in den 1960er Jahren einen linksliberalen Anstrich gab. Dazu zählten innovationsfreudige Modernisierer. Ein prominentes Beispiel aus der Geschichtswissenschaft ist Werner Conze, wobei strittig ist, inwieweit Conze ein „Vordenker der Vernichtung“ war (Pinwinkler, Bevölkerungswissenschaften, 110 f.). 639 Da die Soziologie im NS gut erforscht ist, kann auf die wissenschaftsgeschichtliche Literatur zurückgegriffen werden. Eine Ausnahme ist Stella Seeberg, die kaum Beachtung fand. Ihre vor 1945 erschienenen Beiträge werden daher punktuell berücksichtigt. Das Verhältnis von Protestantismus und Flüchtlingssoziologie ist bislang unerforscht.

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lich wird auch auf einen Sonderfall der soziologischen Thematisierung, nämlich die religionssoziologische Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik eingegangen. Zuvor ist allerdings zu klären, was unter „völkisch“ verstanden wird und wie Relikte des völkischen Denkens identifizierbar sind. Die Debatte darüber, was unter „völkisch“ eigentlich zu verstehen ist, ist so alt wie der Begriff selbst.640 Grundsätzlich handelte es sich dabei um ein programmatisches Schlagwort zahlreicher unterschiedlicher politischer Kräfte, kulturkritischer Theorien und literarischer Richtungen.641 Auch wenn das Attribut „völkisch“ hin und wieder im Zusammenhang mit dem Begriff „Ideologie“ begegnet, weist Uwe Puschner darauf hin, dass es „den Völkischen […] weder im wilhelminischen Kaiserreich noch in der Weimarer Republik“ gelungen sei, „eine einheitliche, systematische und für die Bewegung allgemein verbindliche Ideologie zu formulieren.“642 Daher wurde auch in der Forschung darüber gestritten, was eigentlich als verbindlicher programmatischer Kern des völkischen Denkens anzusehen sei. Puschner identifiziert in seiner 2001 erschienenen Studie die drei zentralen Diskursfelder „Sprache, Rasse und Religion.“643 Günter Hartung sieht im Attribut „völkisch“ einen Ideologiekomplex, der den Antisemitismus und Rassismus miteinander verband und danach trachtete, den rassischen Antisemitismus in die Politik einzubinden.644 Zudem war der ethnisch grundierte, homogenisierende und exkludierende Volksbegriff der völkischen Bewegung gegen den tendenziell pluralistischen Volksbegriff der Weimarer Verfassung gerichtet, die als „Massendemokratie“ in Diskredit gebracht wurde.645 Stefan Breuer äußerte 2008 jedoch Kritik an Puschners religionszentriertem Zugriff und der Annahme, die völkische Germanenideologie stünde im Zentrum der völkischen Bewegung.646 Thomas Vordermayer stellt in seiner kürzlich erschienenen Dissertationsschrift die Konzepte Nation, Volk und Rasse ins Zentrum und betont zugleich die Austauschbarkeit und partielle Synonymität dieser Elemente, die ausgesprochen heterogen gebraucht und biologistisch, psychologisch oder spiritualistisch verstanden werden konnten.647 Auch wenn sich bei vielen Vertretern des völkischen Denkens modernekritische Deutungsfiguren 640 Der Begriff entstand in den 1880er Jahren im österreichischen Raum. Hierzu Vordermayer, Bildungsbürgertum, 8. Zur Begriffsgeschichte von „völkisch“ siehe Hartung, Ideologie. 641 Ebd. 642 Zitiert nach Vordermayer, Bildungsbürgertum, 8. Auch Puschner, Völkisch, 57. 643 Vordermayer, Bildungsbürgertum, 8 f. So der Untertitel bei Puschner. Siehe Puschner, Bewegung. 644 Hartung, Ideologie, 22. 645 Retterath, Volk, 318–327. 646 Hier zit. nach Vordermayer, Bildungsbürgertum, 9. Vgl. auch Breuer, Völkischen, 10 und 722. 647 Vordermayer, Bildungsbürgertum, 10. „Rasse“ als zukunftsträchtiges wissenschaftliches Forschungsparadigma habe allerdings eine Wirkmächtigkeit erfahren, die weit über die völkische Bewegung hinausreichte.

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finden lassen – so beispielsweise die Klagen über die Folgen der Moderne wie die Massendemokratie, die Dichotomie von industrialisierungsbedingter Vermassung und organischer, „völkischer Gemeinschaft“, die Suche nach Ganzheit und Harmonie oder die Verdrängung der synthetischen durch die analytisch-trennende Denkfigur –, war dieser Antimodernismus kein konstitutiver Bestandteil des völkischen Denkens.648 Vorstellungen von Menschenzucht und Volks- oder Rassenhygiene oder die Affinität zum Sozialdarwinismus, die für viele zeitgenössische Autoren moderne, wissenschaftlich begründete Theorien waren, zeugen vielmehr von einer Offenheit für moderne Vorstellungen und Konzepte.649 Das völkische Denken ist, ebenso wie der Nationalsozialismus selbst, nicht „als Alternative zur Moderne, sondern als Entwurf einer alternativen Moderne“ zu denken.650 Wie können, ausgehend von diesen Befunden, einzelne völkische Ideologeme und Versatzstücke identifiziert werden? Unter „völkisch“ wird im Folgenden ein Set einzelner Ideologeme, ein „ideologisches Feld mit festen Koordinaten“ verstanden.651 Im Mittelpunkt standen dabei Kategorien wie Volk, Volkstum und Rasse. Die ethnisch konnotierten Begriffe Volk und Volkstum waren dabei zumeist, aber nicht zwangsläufig emphatisch, biologistisch, psychologisch, religiös oder spiritualistisch konnotiert und verfügten über eine exkludierende Stoßrichtung; teilweise begegnen diese Komponenten zusammen mit einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein und einer Betonung der Überlegenheit des deutschen Volkes. In den völkischen und radikalnationalen Vorstellungen der 1920er und 30er Jahre bezeichnete „Volk“ zudem sowohl eine staatliche als auch eine vorstaatliche Einheit.652 Andererseits waren „Volk“ und „Volkstum“ verbreitete Kategorien, die nicht per se mit einer wie auch immer gearteten völkischen Ideologie gleichgesetzt werden können. Die in der konservativen Kulturkritik verbreiteten Deutungsmuster wie „Vermassung“ oder „Atomisierung“ verfügen wiederum über Schnittmengen zum völkischen Denken und tragen ohne Zweifel ein „ideologisches Gepäck“ mit sich, ohne allerdings vollends mit diesem völkischen Denken identifizierbar zu sein.653 Die Sehnsucht nach einer völkischen Gemeinschaft war ebenso im liberaldemokratischen und sozialdemokratischen Spektrum verankert.654 Daher ist es heuristisch ergiebiger, die spezifischen kontextbedingten Semantiken, kommunikativen Kontexte, Verwendungsweisen und Funktio648 Ebd., 12 f 649 Ebd., 12. 650 Zitiert nach Vordermayer, Bildungsbürgertum, 11 f. Vgl. auch Sieferle, Revolution, 221. Kursiv der Verfasser. Die Frage, wie modern oder antimodern der NS war, ist mittlerweile eine alte historiographische Debatte. 651 Vordermayer, Bildungsbürgertum, 14. 652 Retterath, Volk, 42. 653 Nolte, Ordnung. 654 Wildt, Volksgemeinschaft.

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nen der gebrauchten Begrifflichkeiten zu analysieren. Als problematisch am völkischen Denken scheinen dabei der Stellenwert, der Minderheiten zugewiesen wurde, sowie der inhärente Rassismus und Antisemitismus. Zudem legt ein ethnisch homogen imaginiertes Volk, dem eine eigene Seele und eigene Schutzrechte zugewiesen und das als zusammenhängender Organismus beschrieben wurde, den Verdacht nahe, die Interessen und Rechte des Kollektivs höher zu bewerten als die Rechte und Interessen des Individuums. Ohne Zweifel übte das völkische Denken, das sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts etablierte, einen größeren Einfluss auf die NS-Ideologie aus als jede andere Philosophie und Weltanschauung des 19. und 20. Jahrhunderts, auch wenn völkisches Denken und NS nicht gleichgesetzt werden können.655 Inwieweit ist diejenige soziologische Strömung, die nach 1945 die Vertriebenenproblematik als Gegenstandsbereich entdeckte, als völkisch zu bezeichnen? In welchem Verhältnis standen die Soziologen zum völkischen Denken, wie können empirische Wissenschaft und völkische Ideologie in Beziehung gesetzt werden? Welche Rolle spielten sie im NS? Lässt sich überhaupt ein Zusammenhang zwischen völkischem Denken, NS-Herrschaft und Wissenschaft herstellen? Inwieweit folgte die Soziologie auch nach 1945 völkischen Prämissen? Die Soziologin Uta Gerhardt diagnostiziert in einem 2000 entstandenen Aufsatz große personelle und inhaltliche Kontinuitäten zwischen NS-Soziologie und Flüchtlingssoziologie, deren Arbeiten sowohl vor als auch nach 1945 am „Gesellschaftsbegriff der Volksgemeinschaft“ ausgerichtet gewesen seien.656 Daher sei der Flüchtlingssoziologie jegliche Wissenschaftlichkeit abzusprechen.657 Exemplarisch zieht sie Elisabeth Pfeil, Helmut Schelsky und Max Hildebert Boehm heran, deren Arbeiten nicht dem Stand einer modernen empirischen Soziologie entsprächen. Indizien dafür glaubt Gerhardt in folgenden Formulierungen zu erkennen: Die Soziologen diagnostizierten „gefährliche Schäden der Volkstumssubstanz“ oder eine „Zerstückelung der ostdeutschen Volkstumsgruppen“ und seien von „Autarkiebestrebungen“, „Homogenitätsvorstellungen“ oder „Kollektivierungstendenzen“ geleitet oder bezeichneten den Integrationsprozess als „Auslese der Tüchtigen“.658 Anhand von Schlüsselbegriffen wie „Entwurzelung“, „Entinnerlichung“, „Nivellierung“, „Überlastung“, „Sammlung“, „Kampf ums bloße Dasein“, „Lebenskampf“, „Zusammenhalt“ und „Aufeinanderangewiesensein“659 identifiziert Gerhardt völkische und ideologische Prädispositionen. Erst seit den 1980er Jahren werde die Vertriebenenfrage durch eine seriös 655 Hartung, Ideologie, 22. 656 Gerhardt, Bilanz, 53 f. Zu diesem Thema kürzlich erschienen: Christ/Suderland, Soziologie. 657 Gerhardt, Bilanz, 61 und 43. 658 Zitate bei: Gerhardt, Bilanz, 45, 47, 48, 52 und 54. 659 Gerhardt, Bilanz, 53.

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arbeitende empirische Soziologie erforscht.660 Mit dieser Einschätzung fügt sich Gerhardt nach Sonja Schnitzler in die „im Diskurs hegemoniale These“ ein, dass sämtliche Humanwissenschaften in der NS-Zeit „durch die Dominanz von Eugenik und Rassenhygiene“ einen pseudowissenschaftlichen Prozess der „Biologisierung“ durchlaufen hätten, der sich auch in den nach 1945 entstandenen Arbeiten zeige.661 Der Soziologe und Wissenschaftshistoriker Carsten Klingemann kritisiert Gerhardts Thesen hingegen scharf und wirft ihr einen ahistorischen Wissenschaftsbegriff vor.662 Er leugnet zwar nicht die Annahme einer Kontinuität zwischen der Soziologie der NS-Zeit und der Flüchtlingssoziologie nach 1945. Allerdings stellt er infrage, dass der Soziologie der NS-Zeit und damit auch der Flüchtlingssoziologie nach 1945 jegliche Wissenschaftlichkeit abzusprechen sei. Stattdessen habe es, trotz einer völkisch-biologistischen Metaphorik in der soziologischen Wissenschaftssprache, durchaus eine wissenschaftlich ernstzunehmende, empirisch arbeitende Soziologie während des NS gegeben.663 Dieser Befund kann allerdings nicht als Entlastung gelesen werden. Die Soziologie sei zwar keine nationalsozialistische Legitimationswissenschaft gewesen, jedoch habe sie nationalsozialistischen Herrschaftsträgern und Funktionseliten in Form von Politikberatung das notwendige Herrschaftswissen vermittelt, auf das die NS-Herrschaft bei ihren sozialgestalterischen Ansprüchen angewiesen war: Im diametralen Widerspruch zu der Legende von ,der‘ Wissenschaftsfeindlichkeit ,der Nazis‘ ist bei vielen wissenschaftsorganisatorischen Innovationen während des Dritten Reichs deren systematisch-rationale Planung und Implementierung evident.664

Von dieser Beobachtung ausgehend fordert Klingemann eine Neubewertung der Soziologie im NS und des Systemwechsels 1945 in der Soziologiegeschichte: Es gab keine Stunde Null in der Soziologie, was auch bedeutet, dass sie in Westdeutschland nicht allein von den wenigen zurückgekehrten Emigranten und der unbelasteten Nachkriegsgeneration aufgebaut worden ist. Die Karrieren von mehr als hundert vor wie nach 1945 tätigen Sozialwissenschaftlern belegen neben personeller auch eine beachtenswerte fachwissenschaftliche Kontinuität politischer Anwendbarkeit. Empirische Tatsachenforschung wird auch von Politikern 660 Ebd., 61 und 43. 661 Hier nach Schnitzler, Pfeil, 400. 662 Im Folgenden nach Klingemann, Soziologie, 287–291, v. a. 287 f. Zur Rolle der Flüchtlingssoziologie als Politikberater sowie zur Kontinuität von Flüchtlingssoziologie und NS-Soziologie: Klingemann, Flüchtlingssoziologen als Politikberater, 81–123. 663 Ebd., 81 f. 664 Klingemann, Soziologie, 15 und 290; Zitat ebd., 15. Vgl. auch Szçllçsi-Janze, Wissensgesellschaft, 305. Zum politikberatenden Anspruch der Bevölkerungswissenschaften, die sich als Planungswissenschaften verstanden, siehe Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 109.

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und Planungsinstitutionen totalitärer Regime benötigt. Die Geschichte der Soziologie im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit sollte in dem Bewusstsein aufgearbeitet werden, dass Sozialforschung nur als Wissenschaft gefährlich werden kann, als sogenannte Legitimationswissenschaft ist sie zumindest im Dritten Reich entbehrlich gewesen.665

Für Roger Uhle, der der NS-Soziologie sowohl wissenschaftliche als auch pseudowissenschaftliche Anteile bescheinigt, bildet die Anerkennung der Wissenschaftlichkeit der NS-Soziologie gerade die Voraussetzung für ihre Kritisierbarkeit: Gemessen an wissenschaftlichen Standards, beispielsweise Überprüfbarkeit, Unvoreingenommenheit, Präzision und offengelegten Methoden und Quellen, betrieben die Nationalsozialisten im Rassediskurs häufig Pseudowissenschaft; man macht es sich aber zu leicht, wenn man behauptet, die NS-Rassenforscher hätten ausschließlich Pseudowissenschaft betrieben. Bei vielen neuen Forschungsergebnissen war aber die Vorurteilsgebundenheit und Monokausalität […] schon damals nicht state of the art. Spräche man dem Nationalsozialismus ab, überhaupt seriöse Wissenschaft betrieben zu haben, schmälerte man gleichzeitig die Chance, die mitunter allzu willfährige Dienstbarkeit vieler Wissenschaftler inhaltlich kritisieren zu können.666

In der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte bestehen schon länger Zweifel an der These der Wissenschaftsfeindlichkeit des NS.667 Das „Verhältnis der NSMachthaber zu den Wissenschaftlern“ war, wie die Historikerin Margit Szöllösi-Janze feststellt, nicht einfach „wissenschaftsfeindlich, sondern bestimmte sich nach dem Grundsatz: gut ist, was nützt.“668 Insbesondere die anwendungsorientierte Forschung konnte von den „wuchernden Planungsund Verwaltungsbürokratien“ im NS profitieren und genügte zum Teil „hohen und höchsten wissenschaftlichen Anforderungen.“669 Zudem habe es, da es sich bei der NS-Ideologie nicht um eine abgeschlossene, kohärente Theorie gehandelt habe, durchaus eine gewisse „Offenheit und Interpretationspluralität“ gegeben, die den Wissenschaftlern Handlungsspielräume eröffneten,

665 Klingemann, Soziologie, 290. Das Narrativ, es habe während des NS keine Soziologie gegeben, entspricht auch der Selbstdeutung der Nachkriegssoziologen. Siehe z. B. Laube, Theologie, 186, FN 5. Martin Laube, der sich ansonsten sehr differenziert mit der Nachkriegssoziologie auseinandersetzt, übernimmt z. B. Schelskys Narrativ, dass es während der NS-Zeit keine Soziologie gegeben habe. Siehe ebd., 39 f. 666 Zitiert nach Schnitzler, Pfeil, 406. Vgl. Uhle, Volk, 148. 667 Nach Szöllösi-Janze wurde die „allzu bequeme“ Ansicht der Wissenschaftsgeschichte, dass der NS ein wissenschaftsfeindliches Regime gewesen sei, das nur „ideologisch verzerrte und dilettantische Pseudowissenschaften“ gefördert habe, bereits seit den 1970er Jahren in Zweifel gezogen (dies., Wissensgesellschaft, 305). 668 Ebd., 306. 669 Ebd., 307. Speziell zu den Disziplinen Soziologie und Psychologie: 308 f.

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solange sie den Nationalsozialismus nicht offen infrage stellten.670 Im Rekurs auf Lutz Raphaels These einer „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ macht der Soziologe Klingemann darauf aufmerksam, dass „von der grundlegenden Offenheit, ja Ambivalenz in der gesellschaftlichen Entwicklung und Nutzung wissenschaftlicher Rationalität ausgegangen“ werden muss.671 Damit wird wissenschaftliche Rationalität „als Kehrseite eines autoritären Wohlfahrtsstaates erkennbar, der auf modernste Sozialtechniken zurückgriff, die ihm ein Teil der Humanwissenschaften zur Verfügung stellte.“672 Diese wissenschaftsgeschichtlichen Befunde sind auch für die Analyse von Konvergenzen und Divergenzen zwischen Flüchtlingssoziologie und Protestantismus relevant. Die Frage, ob und wie die Soziologen auf völkische Semantiken und Metaphoriken zurückgriffen, erweist sich als unzureichend, um daraus Schlussfolgerungen auf ihre „Wissenschaftlichkeit“ oder ihre pseudowissenschaftlichen, völkisch-ideologischen Präpositionen zu ziehen, was im Umkehrschluss allerdings nicht bedeutet, dass es nicht auch Konvergenzen auf der semantisch-sprachlichen Ebene gegeben hätte. Aus der Präsenz flüchtlingssoziologischer Expertise in protestantischen Kommunikationszusammenhängen lassen sich folglich nur bedingt Schlussfolgerungen über Präpositionen des Protestantismus bzw. bestimmter Spielarten des Protestantismus ziehen. Stattdessen ist von einer Vielzahl divergenter und wechselseitiger Motive auszugehen, die zur Konsultation flüchtlingssoziologischer Expertise führten. Vor dem Hintergrund dieser wissenschaftsgeschichtlichen Gesamteinordnung muss das Ziel des Kapitels dahingehend präzisiert werden. Demnach sind im Rekurs auf die wissenschaftsgeschichtliche Literatur Kontinuitäten der Flüchtlingssoziologie über die Zäsur 1945 hinweg zu ermitteln, die Rolle der Soziologie im NS zu rekonstruieren und die Präsenz und Funktion flüchtlingssoziologischer Expertise in protestantischen Kommunikationszusammenhängen zu analysieren. Die Analyse semantischer und metaphorischer Kontinuitäten und Diskontinuitäten vor und nach 1945 ist dabei keineswegs obsolet, doch sollte ihr heuristisches Potential richtig eingeschätzt werden. Sprachgebrauch und Semantik werden hier für ein anderes Erkenntnisinteresse fruchtbar gemacht. Sie geraten als „kulturelle Codes“ in den Blick und werden hinsichtlich ihrer kommunikationsstrategischen Funktion analysiert.673 Eine wissenschaftsgeschichtliche Bewertung wird hier nicht angestrebt, jedoch soll die Flüchtlingssoziologie als Wissenschaft ernstgenommen werden, um ihre Funktion für die protestantische Ausein-

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Bollenbeck, Interesse, 13. Raphael, Verwissenschaftlichung, 185. Ebd. Nach Reitmayer rufen kulturelle Codes, vereinfacht gesprochen, ein spezifisches Set an interpretationsoffenen Wissens- und Glaubensbeständen auf, die über die Zugehörigkeit zu einem Milieu oder einer sozialen Gruppe entscheiden. Hier nach Reitmayer, Elite, 36.

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andersetzung mit der Vertriebenenproblematik analysieren zu können und kausale Kurzschlüsse zu vermeiden.674 Klingemann, der sich aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive mit der Flüchtlingssoziologie beschäftigt, nennt insgesamt 16 Flüchtlingssoziologen, darunter Hermann Bausinger, Max Hildebert Boehm, Wilhelm Brepohl, Eugen Lemberg, Karl Valentin Müller, Ludwig Neundörfer, Erich Reigrotzki, Helmut Schelsky, Elisabeth Pfeil, außerdem Friedrich Edding, Karl Heinz Gehrmann, Alfred Karasek-Langner, Dietrich von Oppen, Erik von Sivers, Gerhard Wurzbacher und Stella Seeberg.675 Von diesen genannten Flüchtlingssoziologen sind die folgenden in protestantischen Kommunikationskontexten nachweisbar: Stella Seeberg, Elisabeth Pfeil, Max Hildebert Boehm, Dietrich von Oppen, Gerhard Wurzbacher und Wilhelm Brepohl. Die Liste wäre zu ergänzen um den Volkswirt und Soziologen Fritz Rudolph und die Soziologin Else Bohnsack, die in der wissenschaftsgeschichtlichen Literatur nicht erwähnt werden.676 Von den genannten Soziologen wurden Pfeil, von Oppen, Brepohl, Wurzbacher und Rudolph in die Kammer für soziale Ordnung der EKD berufen.677 Diese Soziologen weisen die dichtesten Beziehungen zum Protestantismus auf und werden detaillierter behandelt. Zu nennen ist aber auch Helmut Schelsky, der Referent und Gast auf zahlreichen evangelischen Akademietagungen war, den interdisziplinären Austausch mit der Theologie pflegte und in der „ZEE“ publizierte.678 Eine kurze Erwähnung verdienen 674 Einen weiteren Horizont deutet an: Raphael, Verwissenschaftlichung, 166. Vgl. auch Anm. 957. 675 Klingemann, Soziologie, 288 und 290. Klingemanns Definition von Flüchtlingssoziologie lautet folgendermaßen: „Als Flüchtlingssoziologen werden jene Sozialwissenschaftler bezeichnet, die sich sowohl mit der Integration der ‘Vertriebenen, […] wie auch mit jener der aus den anderen ost- und südosteuropäischen Aussiedlungsländern stammenden Personen, aber auch mit den spezifischen Formen der Integration der ‘Flüchtlinge, aus der SBZ/DDR befassen“ (ebd., 287 FN 527). Die Selbstbeschreibung Flüchtlingssoziologe war nicht ganz kohärent. So war Seeberg Volkswirtin, Pfeil von Haus aus Historikerin. Klingemann stellt auch infrage, dass die Vertriebenenproblematik ein vernachlässigtes Thema der Soziologie gewesen sei. Siehe ebd., 290. Vgl. auch Krallert-Sattler, Bibliographie, 407–439. 676 Rudolph referierte auf einer Tagung des OKKs. Über Bohnsack ist wenig bekannt. Sie verfasste 1956 eine Studie zur Vertriebenenproblematik und referierte 1965 auf dem DEK. Siehe hierzu unten 391–395; und Bohnsack, Flüchtlinge. Sie war Mitglied im Kuratorium der Europäischen Forschungsgruppe für Flüchtlingsfragen. Siehe hierzu Anm. 680. 677 Zu Wurzbachers Mitgliedschaft siehe Reisekostenliste der Kammer für soziale Ordnung für die Sitzung am 11.–12. 11. 1958 (EZA Berlin 2/1505) und Beschluss des Rates der EKD vom 16. 6. 1964 (EZA Berlin 2/1507. Zu Pfeils und Rudolphs Mitgliedschaft siehe Beschluss des Rates der EKD vom 18. 5. 1961 (EZA Berlin 2/1505). Zu von Oppens Mitgliedschaft: Beschluss des Rates der EKD vom 16. 6. 1964 (EZA Berlin 2/1507). 678 Schildt, Abendland, 123; Reitmayer, Elite, 462–464. Reitmayer hält allerdings die Auffassung, dass Schelsky den Akademien nahe stünde, für falsch (ebd., 465). Zu Schelskys Beschäftigung mit den Akademien siehe Schelsky, Dauerreflektion, 129–145. Diese Debatte zusammenfassend: J hnichen, Kirchentage. Schelsky, gern gesehener Gast und Referent auf den evangelischen Akademietagungen, publizierte zur Vertriebenenproblematik allerdings nur außerhalb protestantischer Kommunikationszusammenhänge.

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zudem die Soziologen Ludwig Neundörfer und Eugen Lemberg. Zwar waren beide katholisch, aber beide Akteure sind in protestantischen Netzwerken und Kommunikationszusammenhängen nachweisbar.679 Neben der Rezeption von Fachsoziologen werden hier auch solche Autoren genannt, die einen soziologischen Anspruch erhoben, ohne selbst Soziologen zu sein.680 Auch diese Arbeiten geben Aufschluss über den Stellenwert der Soziologie in der protestantischen Auseinandersetzung mit der Vertriebenenfrage. 2.6.2 Stella Seeberg und die Hermannsburger Forschungsstelle Da die 1901 in Dorpat geborene Soziologin Stella Seeberg und die Forschungsstelle für Vertriebenenfragen der evangelischen Akademie Hermannsburg bislang kaum erforscht sind und auch in der wissenschaftsgeschichtlichen Literatur kaum eine Erwähnung finden, verdienen sie eine vertiefte Analyse. In ihren Arbeiten der 1930er Jahre vollzog Seeberg, die während der NS-Zeit zur stellvertretenden Leiterin der agrarpolitischen Abteilung des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts in Berlin aufgestiegen war, inhaltlich-semantisch einen klaren und expliziten Anschluss an den Nationalsozialismus.681 In einem 1936 erschienenen Aufsatz beabsichtigte Seeberg, den Zusammenhang zwischen Generationendauer und Bevölkerungsvermehrung nachzuweisen. Eine längere Generationendauer, d. h. eine niedrigere Geburtenrate und die Tendenz zur späten Heirat, verlangsame die Bevölkerungsvermehrung.682 Dies habe nicht nur Auswirkungen auf die Quantität, 679 Neundçrfer, Ludwig: Die Eingliederung der Heimatvertriebenen als gesellschaftliche und kulturelle Aufgabe. Vortrag auf der Arbeitstagung über Fragen der Heimatvertriebenen vom 3.–6. 3. 1952 (EZA Berlin 87/127); und ders., Strukturwandel. Lemberg referierte auf den Tagungen des OKKs und publizierte in der Zeitschrift „Der Remter.“ Vgl. Lemberg, Segen; ders., Volkssouveränität; ders., Vertriebenen; ders., Versöhnung; 612 f.; ders.: Wie können Völker miteinander leben? Vortrag auf der Tagung „Staat, Volk und Christenheit“. Zu einer Tagung des OKAs und der Arbeitsstelle Süd, 20. 5. 1955 (EZA Berlin 17/574); und ders.: Die Volkstumsfrage in Ostmitteleuropa. Referat auf der Tagung des OKKs in Königswinter am 19. 5. 1954 (EZA Berlin 17/706). 680 Z. B. Spiegel-Schmidt, Beobachtungen, 162. Viele der mit der Vertriebenenproblematik befassten protestantischen Akteure waren Mitglied in der Europäischen Forschungsgemeinschaft für Flüchtlingsfragen. Ein Mitgliederverzeichnis von 1962 nennt u. a. Wilhelm Brepohl, Carl Brummack, Martin Donath, Sup. Karl Ahme, Herbert Girgensohn, Gerhard Gülzow, Franz Hamm, Hans Harmsen, Harald Kruska, Elisabeth Pfeil, Kurt Rabl, Gotthold Rhode, Seeberg und Spiegel-Schmidt. Mitglieder des Kuratoriums der deutschen Sektion waren zudem Martin Kornrumpf, Karl Valentin Müller, Hans Harmsen, Else Bohnsack und Theodor Oberländer. Siehe Mitgliederverzeichnis der Europäischen Forschungsgruppe für Flüchtlingsfragen AER, Juli 1962 (EZA Berlin 17/634). 681 Zu ihrer Karriere während der NS-Zeit siehe oben 85–90. 682 So schrieb sie: „Nach den Berechnungen von Friedrich Lenz würden im deutschen Volk zur Zeit auf 9 Weiße 991 Schwarze kommen, wenn es zur Zeit des 30jährigen Krieges zur Hälfte aus Weißen und zur Hälfte aus Negern bestanden hätte und die Neger sich in 25jähriger Generationsdauer mit 4 Kindern, die Weißen in 33jähriger Generationsdauer mit 3 Kindern vermehrt

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sondern auch auf die Qualität der Bevölkerung. Insbesondere die langen Ausbildungszeiten von Akademikern seien dafür verantwortlich.683 Für Seeberg bestand die „Gefahr des Verdrängens durch andere Völker, wenn das deutsche Volk blutmäßig langsamer wächst“, z. B. durch eine von ihr kritisierte „Akademisierung“684. Daneben ging es ihr auch um die Überwindung der von ihr als künstlich charakterisierten Klassenunterschiede: Daraus geht hervor, daß die Klassenunterschiede, die frühere Zeiten künstlich zu schaffen suchten, blutmäßig nur in geringerem Maße vorhanden sein können. Denn wenn der Schritt vom ungelernten Arbeiter zum Akademiker auch eine Seltenheit sein mag, ist doch die blutsmäßige Bindung beider Schichten an Landwirtschaft und Handwerk viel stärker als gemeinhin angenommen wird.685

Dieser Hinweis auf die als künstlich und unnatürlich beschriebene Trennung durch Klassen verweist auf die Idee der Volksgemeinschaft, die ihre soziale Attraktivität aus der Idee der Überwindung der trennenden Klassenunterschiede schöpfte.686 Seebergs Argumentation ist im Einzelnen nicht immer nachvollziehbar, aber zumindest auf der Ebene der Semantik zeigt sich eine klare Affinität zur Blut-und-Boden-Ideologie. Sie sprach der Landwirtschaft und der bäuerlichen Existenz die höhere Existenzform zu und bezeichnete die Landwirtschaft als „Blutquelle des Volkes“, von der die Bevölkerungsqualität und das Überleben des Volkes abhänge.687 Eine breite landwirtschaftliche Basis setzte sie der von ihr kritisierten Tendenz der Akademisierung entgegen, die die Bevölkerungsqualität und -quantität absinken lasse.688 Entgegen der

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haben würden. Nur weil in dem Beispiel Generationsdauer und Kinderzahl miteinander verkoppelt sind, konnte es geschehen, daß die ungeheure Gefahr, die in dieser Verlängerung der Generationsdauer besteht, nicht längst allgemein erkannt wurde“ (Seeberg, Generationendauer, 610). Sie stellte eine Erhöhung der Generationendauer und damit die Reduzierung der Bevölkerungsvermehrung bei Akademikern gegenüber Arbeitern infolge zu langer Ausbildungszeiten fest (ebd., 613). Ebd. Ebd., 513. Wildt, Volksgemeinschaft, 5 f. Seeberg, Generationendauer, 614. Klingemann identifiziert anhand der NS-Agrarsoziologie eine Spannung aus Blut- und Boden-Ideologie und wirtschaftlichem Effizienzdenken. Vgl. Klingemann, Soziologie, 109–122. So stellte sie einen Zusammenhang von landwirtschaftlicher Basis als „Lebensquell des Volkes“ und „Bevölkerungsqualität“ fest: „Solange ein Volk fast ausschließlich aus landwirtschaftlich berufstätigen Volksgenossen besteht, nimmt die Arbeit eines jeden so verschiedenartige Fähigkeiten in Anspruch, daß Sonderbegabungen kaum Gelegenheit haben, vorzutreten. […] Aber der Bevölkerungsanteil, der dem eigentlichen Blutsquell des Volkes, der Landwirtschaft dadurch verloren geht, ist so gering, daß der durch seine langsamere Vermehrung stets neu entstehende Bedarf, stets wieder neu gedeckt werden kann. Und dadurch gerade wird die Volkskultur immer wieder mit bodennahem Blut gefüllt. […] Diese glückliche Harmonie wird aber gestört, wenn die Sonderbegabungen ein allzu starkes Übergewicht erlangen. […] Im Laufe der Zeit also würde der Anteil der Begabten immer mehr zugunsten der nicht mit

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Förderung von „akademischen Sonderbegabungen“ in langen Ausbildungszeiten forderte sie eine „art- und blutgemäße deutsche Kultur“, deren Basis die Landwirtschaft sei: Nicht jedes Volk muß untergehen, sondern nur jedes Volk, das dem Rhythmus seines Blutes zuwiderhandelt. Der Nationalsozialismus hat diese Gefahr erkannt. Sein Ziel ist daher nicht die höchstmögliche Kultur, die sich von den Bindungen des Blutes zu befreien sucht. Sein Streben gilt der arteigenen Kultur, die danach trachtet, die Aufgaben des Geistes mit den Forderungen des Blutes in Einklang zu bringen. Der Weg aus den allzu langen Ausbildungszeiten der Nachkriegszeit heraus ist noch weit. Aber der Nationalsozialismus kann ihn gehen. Er kann die allzu große Zahl derer beschränken, die lange Ausbildungszeiten durchmachen müssen, weil er überzeugt davon ist, daß Dauer und Wachstum der deutschen Kultur nur durch Leistung und Blut gewährleistet werden kann.689

Seebergs Ausführungen lassen sich innerhalb der Agrarsoziologie und Agrarökonomie des Nationalsozialismus verorten. In den NS-Agrarwissenschaften existierten zwei Paradigmen, nämlich das der Bodenproduktivität und das der Arbeitsproduktivität. Offenbar folgte Seeberg dem Paradigma einer bevölkerungspolitisch ausgerichteten Agrarpolitik, die dem Paradigma der Bodenproduktivität gefolgt und dabei eine Synthese mit der Blut- und Bodenideologie eingegangen sei.690 Die Vertreter dieses Paradigmas strebten eine Erhöhung der Produktivität des Bodens durch eine Vergrößerung des Bauernstandes an, die wiederum durch eine Steigerung der Geburten in der ländlichen Bevölkerung erreicht werden sollte. Mit dem Überfall auf Polen schlug die Stunde der Agrarökonomen, die, am Ideal einer völkischen Leistungsgemeinschaft ausgerichtet, schließlich einen Paradigmenwechsel von der Bodenproduktivität zur Arbeitsproduktivität herbeiführten.691 Während Seeberg ja gerade eine Vermehrung der ländlichen Bevölkerung anstrebte, was auf eine Vergrößerung der Zahl der Höfe hinauslief, sprach sich der Agrarökonom Konrad Meyer, Chefplaner des Generalplan Ost, für mechanisierte und effizientere landwirtschaftliche Großbetriebe in Kombination mit einer Veränderung der gesamten Bevölkerungsstruktur aus, in deren Folge das „Kleinbauerntum […] ins Fadenkreuz der Agrarplaner“ geriet.692 Die An-

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Sonderfähigkeiten ausgestatteten zurückgehen, so daß das durch Raubbau an der Volksbegabung errichtete Kulturgebäude früher oder später zusammenstürzen müßte, weil es an nachfolgenden mit Sonderfähigkeiten ausgestatteten Kulturträgern fehlen würde“ (Seeberg, Generationendauer, 614). Ebd., 615. Streb/Pyta, Bodenproduktivität 69. Ebd., 69–78. Hierzu auch Hohmann, ländliche Soziologie, v. a. 127 f. Seine Gestaltungsutopien liefen dabei auf eine Kombination einer Neubesiedlung des eroberten Ostraumes und der Neuordnung der Besitzverhältnisse im Altreich hinaus. Seine Vorstellungen hingen also unmittelbar mit der nationalsozialistischen Eroberungspolitik zusammen. Meyer sah in seinem Generalplan Ost die genocidale Räumung der eroberten Räume

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hänger dieses Paradigmas strebten gerade eine Verkleinerung des Bauernstandes und der Zahl der Höfe an. Dieses Paradigma wird deshalb als Paradigma der „Arbeitsproduktivität“ bezeichnet, weil die Produktivität der einzelnen Arbeitskraft durch Mechanisierung und Industrialisierung, die den Blut- und Boden-Romantikern zuwider war, anstrebten. Gemeinsam waren Seeberg und Meyer, dass das individuelle Eigentum der Volksgemeinschaft untergeordnet wurde. In einem 1942 verfassten Aufsatz postulierte Seeberg im Rekurs auf Johann Gottlieb Fichte ein dezidiert nationalsozialistisches, an der Volksgemeinschaft ausgerichtetes Eigentumsverständnis, das sie vor allem gegen den „individualistischen“ und „egoistischen“ Eigentumsbegriff des Liberalismus positionierte, von dem keine Verpflichtung für die Gemeinschaft ausginge.693 Daher propagierte sie die Überwindung des Materialismus und des Individualismus durch den Nationalsozialismus: In der Forderung einer gerechten Eigentumsbeteiligung aller stimmt Fichtes Auffassung mit einer Einstellung des […] Nationalsozialismus voll überein. Die eigentliche Bedeutung seines Eigentumsbegriffes liegt für uns in der Erkenntnis, daß das Streben nach Eigentum letzten Endes ein Streben nach freier Tätigkeit ist und daß dieses Streben jedes Einzelnen als eines Gliedes einer Gesamtheit nur unter Verzichtleistung auf andere Freiheiten und unter gleichzeitiger Übernahme von Pflichten Erfüllung finden kann. […] Die damit verbundene Überwindung sowohl des Individualismus als auch des Materialismus der klassischen Schule ist die Voraussetzung für das Verständnis der heutigen Wirtschaft.694

In ihrer 1938 erschienenen Habilitationsschrift mit dem Titel „Dorfgemeinschaft in 300 Jahren“ bediente sich Seeberg eines biologistischen Vokabulars mit antiliberalistischer Aufladung.695 Dabei konstruierte sie einen Gegensatz von Volksgemeinschaft und Liberalismus bzw. Individualismus.696 Auch hier galt ihr Interesse der Bevölkerungsentwicklung, dem Geburtenrückgang und der „Bevölkerungsqualität“, deren Garant die ländliche Bevölkerung sei. In dieser Untersuchung über den Strukturwandel der Dorfgemeinschaft, für die

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vor. Natürlich gingen damit massive „Eingriffe in die bürgerliche Besitzordnung“ einher – einschließlich der geplanten Zwangsumsiedlung von 200 000, nach ökonomischen und biologischen Kriterien auszuwählenden Bauern in die eroberten Gebiete. Zu diesem Paradigmenwechsel siehe Streb/Pyta, Bodenproduktivität, v. a. 69–78. Die Vernichtung der Menschen in Osteuropa wurde im von Meyer vorgelegten Generalplan Ost zwar nicht explizit erwähnt, im Zahlenmaterial jedoch vorausgesetzt. Vgl. Noack/R ckl, Agrarökonomen, 86. Seeberg, Überwindung, 264. Ebd. Dass es sich hierbei um ihre von Helmut Wollenweber betreute Habilitationsschrift handelte, geht hervor aus: Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 40. Vgl. auch Seeberg, Dorfgemeinschaft. Wollenweber hatte es aufgrund eines eindeutigen Bekenntnisses zum NS-Staat auf einen Lehrstuhl der Berliner Universität geschafft. Siehe auch Vogt, Studentinnen, 190. Zu Wollenweber siehe Noack/R ckl, Agrarökonomen, 81. Seeberg, Dorfgemeinschaft.

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sie ein Jahr mit den Dorfbewohnern des Dorfes Kuhbier lebte, Umfragen und Interviews mit den Bewohnern durchführte sowie Grundbuchakten und Kirchenbücher auswertete, bilanzierte sie die Auswirkungen des Liberalismus für die „Bevölkerungsqualität“. Ziel der Arbeit war die Untersuchung einer festen deutschen „Dorfgemeinschaft als gewordene Einheit sozialen Lebens in ihrem Wachstumsgängen.“697 Letztlich lässt sich Seebergs Leitthese folgendermaßen zusammenfassen: Sie ging von einer Minderung der Bevölkerungsqualität aus. Verantwortlich dafür waren der Liberalismus und die Industrialisierung, die eine Landflucht bewirkten und damit die „Ausleseschicht“ verringerten.698 Die ländliche Bevölkerung stellte für Seeberg jene „Ausleseschicht“ dar, die aufgrund der Höherwertigkeit der ländlichen Bevölkerung die Bevölkerungsqualität des deutschen Volkes insgesamt garantierte. Gegen diese aus Seebergs Sicht gefährliche Tendenz gehe der Nationalsozialismus vor, der „Bauern und Arbeiter wieder zu einer Gemeinschaft vereinigen“ und die Gefahren des Liberalismus „durch neue Bindung des Bauern an den Boden und durch Erhöhung seiner Kinderzahl bekämpfen“ wolle.699 Zwar führte Seeberg mit ihrer spezifischen Interpretation der liberalistischen Wirtschaftsverfassung auch vor 1945 Strukturwandlungen im Dorf auf ökonomisch-soziologische und politische Ursachen zurück, jedoch deutete sie die Konsequenzen dieser soziologischen Entwicklung biologistisch, wenn sie dem Liberalismus Konsequenzen für die „Blutsentwicklung“ attestierte. Damit machte sie sich Ideologeme der Blut-und-Boden-Ideologie zu Eigen.700 Insofern lässt sich die auf die Soziologin Elisabeth Pfeil bezogene These Klingemanns, dass Pfeil sowohl eine Soziologisierung als auch eine Biologisierung der Soziologie betrieben habe,701 zum Teil auch auf Seeberg übertragen. Die Beschreibung der Ursachen des ländlichen Strukturwandels wie Landflucht und Liberalisierung sowie die Unterscheidung von Arbeiterschicht und ländlicher Bevölkerung waren politisch-soziologischer Art, während sie die Auswirkungen dieser Entwicklungen in biologistischen Kategorien beschrieb. Inwieweit Seeberg selbst empirische Arbeiten für die Implementierung der NS-Herrschaft bereitstellte, ließ sich zwar nicht ermitteln.702 Aber mit diesen Beiträgen entsprach sie dem Konsens des bis zum 697 So Hellmut Wollenweber über seine Schülerin Seeberg. Hier nach Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 40. 698 Ebd., 108 f. Tatsächlich findet sich in ihren Beiträgen, die nach 1945 verfasst wurden, ein einziger Beleg für die biologistische Definition der Dorfgemeinschaft als Blutsgemeinschaft. Die enge Gemeinschaft auf dem Dorf machte sie für die Integrationsschwierigkeiten verantwortlich. Siehe Dies: Die Heimatvertriebenen in unseren ländlichen Gemeinden. Vortrag auf einer Tagung des lutherischen Weltbundes, o. D. (LKA Hannover N 14 Nr. 19). 699 Seeberg, Dorfgemeinschaft, 108 f. 700 Seeberg, Generationendauer, 614. 701 Klingemann, Soziologie, 175 f. 702 In der Literatur zur NS-Agrarsoziologie findet Seeberg keine Erwähnung. Siehe z. B. Mai, Rasse; Heinemann, Wissenschaft; und dies., Rasse. Klingemann erwähnt Seeberg ein einziges

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Kriegsbeginn vorherrschenden Paradigmas der NS-Agrarsoziologie, die in den Bauern die „Blutsquelle des deutschen Volkes“ erblickte, der dörflichen Lebensform eine höhere Wertigkeit zusprach, in Abwanderung und Verstädterung eine „Degeneration“ der „Blutsqualität“ erblickte und mit dem Beginn der NS-Herrschaft die soziale Frage für gelöst betrachtete.703 Die Orientierung an der „Blut- und Bodenideologie“ sowie am Paradigma der Bodenproduktivität geriet allerdings mit dem Überfall auf Polen gegenüber dem Produktivitäts- und Effizienzpostulat ins Hintertreffen.704 Ihre nach 1945 entstandenen Vorträge und Artikel zur Situation der Vertriebenen in der dörflichen Gesellschaft stehen in deutlicher Kontinuität zu ihren während der NS-Zeit entstandenen Arbeiten. Diese basierten zu einem großen Teil auf ihrer 1938 entstandenen Monographie „Dorfgemeinschaft in 300“ Jahren.705 Auch ein für das Bundeslandwirtschaftsministerium verfasstes Gutachten von 1956, für das sie Untersuchungen an 100 ehemaligen vertriebenen Bauernfamilien durchführte, knüpfte methodisch und thematisch deutlich an ihre Mikrostudie von 1938 an.706 Hier kam sie 1957 allerdings zu dem Ergebnis, dass sich die Unterschiede zwischen Arbeitern und Selbständigen nivelliert hätten und eine Beschäftigung vertriebener Bauern in der Industrie nicht automatisch zur Proletarisierung führe.707 Ihre 1947 in Her-

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Mal. Siehe Klingemann, Soziologie, 290. Zur Berliner Agrarsoziologie und -ökonomie vgl. Noack, Agrarökonomen, 79 f. Becker, NS-Agrarideologie, 178 und 180. In Analogie zum „Ende der sozialen Frage“ erklärte Seeberg, dass der NS die künstlichen Klassenunterschiede aufgehoben habe. Siehe Seeberg, Generationendauer, 513. Die in der Agrarsoziologie vorherrschende, auf Gunther Ipsen zurückgehende Blut-und-Boden-Ideologie leugnete die ökonomischen Bedingungen nicht, bewertete diese jedoch als vom „Blute vorgegeben“ (Hohmann, ländliche Soziologie, 118). Becker, NS-Agrarideologie, 181 f. Zentral für den Generalplan Ost war das von Konrad Meyer geleitete „Institut für Agrarwesen und Agrarpolitik.“ Hierzu Heinemann, Wissenschaft; und Dornheim, Agrargeschichte, 47. Auch der bevölkerungspolitische Aspekt spielte nach wie vor eine Rolle. Hierzu v. a. Anm. 706. Methodisch bezeichnete sie ihre Untersuchung als „Individualstatistik“, die im Vergleich zur allgemeinen Statistik eine beliebige Anzahl an Merkmalen miteinander kombinieren könne. Die von ihr untersuchten Bauernfamilien behandelte sie als „Modellfälle“. Diese ausgewählten Familien, die auf dem Land lebten, aber in der Industrie arbeiteten, befragte sie nach ihrer Einstellung zur ländlichen Gesellschaft, ihren Lebensverhältnissen und ihrer sozioökonomischen Situation. Grundsätzlich wies Seeberg darauf hin, dass sich diese Einzelfälle schwer verallgemeinern ließen, da es an allgemeinen Statistiken mangele. In diesem Gutachten spielte auch der bevölkerungspolitische Aspekt eine Rolle. So sprach sie sich für die Förderung von Nebenerwerbsstellen mit dem Argument aus, dass diese die Ernährungs- und Einkommensbasis von Familien verbesserten und damit die Kinderzahl und die Ernährungsproduktion erhöhten. Insgesamt kam sie zudem Ergebnis, dass die in der Industrie beschäftigten vertriebenen Bauern nicht proletarisiert würden (Seeberg, Stella: Vertriebene Bauernfamilien in der Industrie. Untersuchung von 100 vertriebenen Bauernfamilien in der Grafschaft Bentheim [Gutachten für das Landwirtschaftsministerium], Loccum 1956, EZA Berlin 512/67). In ihrer 1938 entstandenen Arbeit kombinierte Seeberg die Statistik, die Auswertung von Ahnentafeln und Interviews. Vgl. Seeberg, Dorfgemeinschaft, 11–14. ebd.

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mannsburg und 1951 vor dem Lutherischen Weltbund gehaltenen Referate zum Zusammenleben von Vertriebenen und Einheimischen im Dorf knüpften thematisch und methodisch an ihre Studie von 1938 an.708 Die hier profilierte Deutung des Dorfes wurde nach 1945 um einen entscheidenden Gesichtspunkt ergänzt: Vor allem das Säkularisierungsnarrativ bildete nun den Angelpunkt für ihre Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik.709 Ihre antiliberale Stoßrichtung behielt sie allerdings bei. Für die als gesellschaftliche Bedrohung empfundene Säkularisierung machte Seeberg nach 1945 eben jenen Liberalismus verantwortlich, der vor 1945 als ursächlich für die veränderte „Blutszusammensetzung“ des Volkes gedeutet wurde.710 Das Ergebnis sei die „Entstehung der säkularen Welt, in der die Geschehnisse sich nach scheinbar unumstößlichen Gesetzen zu vollziehen scheinen.“711 Gegenüber der modernen, liberalistischen Wirtschaftsordnung sei die „traditionelle Welt des 1. Reiches“ durch „eine am Allgemeinwohl orientierte Bedarfserweckungswirtschaft unter dem Schutz des Reiches und der kirchlichen Ethik“ gekennzeichnet, die sich über ein Jahrtausend erhalten habe.712 Dieser Gegensatz war für Seeberg nicht nur charakteristisch für die Unterscheidung von Ost und West, sondern auch zur Charakterisierung des Gegensatzes von Stadt und Land: In den Großstädten habe sich die Durchsetzung der liberalen Erwerbswirtschaft im Gegensatz zu den Bauerndörfern „in atemberaubendem Tempo“ vollzogen. Die moderne Marktgesellschaft überfordere die Bauern jedoch.713 Während sie auf biologistische Kategorien nach 1945 weitgehend verzichtete, behielten ihre Beiträge eine antiliberalistische Stoßrichtung bei. Der Liberalismus erschien nun als Ursache für die Säkularisierung und bedrohte die christliche Gemeinschaft. Im Ergebnis lässt sich zumindest auf der Ebene des Vokabulars vor 1945 eine semantische Anpassung an nationalsozialistische Ideologeme und nach 1945 an dezidiert christlich-protestantische Kommunikationskontexte beobachten.714 708 Ihr 1947 in Hermannsburg gehaltenes Referat basierte auf ihrer Untersuchung „Dorfgemeinschaft in 300 Jahren“ aus dem Jahr 1938. Seeberg berief sich nach 1945 explizit auf diese Studie. Die Studie aus den 1930er Jahren schien nach 1945 noch immer als Referenzwerk geeignet, um die Integrationsprobleme und Konflikte der Dorfgemeinschaft und die ländliche Sozialstruktur zu erklären. Auf die Integrationsdefizite abgeschlossener Dorfgemeinschaften, die als negatives Gegenstück zur Volksgemeinschaft verstanden werden können, hatte Seeberg ebenfalls bereits 1938 hingewiesen. Vgl. Seeberg, Dorfgemeinschaft, 25. Ihre Arbeiten wurden auch nach 1945 auf den Hermannsburger Flüchtlingstagungen als „Großtat und als Leistung ersten Ranges“ gewürdigt (Erstes Gespräch über Flüchtlingsfragen am Sonntag, 26. 10. 1947, LKA Hannover L 3 III Nr. 302). 709 Siehe hierzu v. a. oben 85–90. 710 Den Liberalismus bewertete sie als Ideologie, die „dieselben Totalitätsansprüche“ an den Menschen stelle wie der Marxismus (Seeberg, Stella: Bericht für den Landesbischof vom 17. 3. 1958, LKA Hannover L 3 III Nr. 1120). 711 Ebd. 712 Ebd. 713 Ebd. 714 Bollenbeck/Knobloch: Umbauarbeiten.

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Unter anderem aus diesem Grund fand Seeberg, die ihre letzte Anstellung an der Universität Graz mit dem Ende des Krieges verloren hatte, in der Forschungsstelle der evangelischen Akademie Hermannsburg, die im Rahmen der Öffentlichkeitsinitiative des Hannoverschen Landesbischofs Hanns Lilje gegründet worden war, ein berufliches Auskommen. Da ein Teil der Akademieakten nicht erhalten ist,715 kann nicht im Einzelnen rekonstruiert werden, wie und warum Seeberg nach 1945 zu ihrer Anstellung als Referentin für Vertriebenenfragen gelangte. Es ist aber zumindest sehr wahrscheinlich, dass ihre Verwandtschaftsbeziehungen und informelle, theologisch-kirchliche Netzwerke bei der Stellenbesetzung eine Rolle spielten. Die Deutschbaltin entstammte einer berühmten Theologenfamilie aus Dorpat, die zugleich zu den führenden Intellektuellen der Weimarer Republik zählte.716 Ihr Onkel Reinhold Seeberg gehörte zu den einflussreichsten Ethikern und Theologen der Weimarer Republik und war als Präsident des Centralausschusses der Inneren Mission maßgeblich dafür verantwortlich, die Innere Mission an sozialhygienischen und bevölkerungspolitischen Vorstellungen auszurichten.717 Ihr dem NS nahestehender Vater Alfred Seeberg und ihr Cousin Erich Seeberg waren ebenfalls bekannte Universitätstheologen.718 Möglicherweise kam der Kontakt zwischen Seeberg und Landesbischof Hanns Lilje über den Centralausschuss der Inneren Mission zustande.719 Der spätere Landesbischof der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, der Einfluss auf die Stellenbesetzung ausübte, trat die Nachfolge von Stella Seebergs Onkel Reinhold Seeberg als Präsident des Centralausschusses der Inneren Mission an. Neben Stella Seeberg wurde zudem ein weiteres Mitglied der Familie, nämlich Stella Seebergs Bruder Axel Seeberg, als Chefredakteur der ebenfalls von Hanns Lilje gegründeten Zeitschrift „Sonntagsblatt“ in die Dienste des Landesbischofs übernommen.720 Weitere Quellenfunde deuten darauf hin, dass 715 LKA Hannover: Findbuch. Eine gewisse Kompensation bietet immerhin der Nachlass von Harald von Rautenfeld, der geschäftsführender Referent der Forschungsstelle war. 716 Kaufmann, Harnacks, 165–222. 717 Dietzel, Seeberg, 184. 718 Den Hinweis auf die Verwandtschaft von Stella und Alfred Seeberg verdanke ich Stefan Dietzel. Zur Seeberg-Familie siehe Kaufmann, Art. Seeberg, Familie. Interessanterweise erwähnt Thomas Kaufmann, der ein profilierter Seeberg-Kenner ist, Alfred Seebergs Tochter Stella nicht. Vgl. Ders., Art. Seeberg, Alfred. Vgl. auch ders., Harnacks; und ders., Kirchenhistoriker. Zu Erich Seeberg auch Bitter, Umdeutung. 719 Ein eindeutiger Beleg dafür fehlt allerdings. 720 Zu Axel Seeberg siehe Uden, Lilje, 112 f. Dass Axel Seeberg Stella Seebergs Bruder oder zumindest ein naher Verwandter war, lässt sich anhand der Akten zwar nicht direkt belegen. Ein Nachruf auf Axel Seeberg weist ihn jedoch als Nachkomme einer Theologenfamilie aus Dorpat aus – ein eindeutiger Hinweis auf die seiner Zeit berühmte, aus Dorpat stammende Theologenfamilie Seeberg. Vgl. Mack, Günter: Ein kluger Skeptiker. In: Die Zeit, 27. 6. 1968. Zur Familiengeschichte der Seebergs: Kaufmann, Harnacks. Der Geschäftsführer, Harald von Rautenfeld, der an führender Stelle in der völkisch-nationalen Baltischen Bruderschaft engagiert war, stand wiederum mit Boehm in Verbindung, so dass sich in der Hermannsburger Forschungsstelle ein kleines deutschbaltisches Netzwerk formierte. Siehe Schreiben der

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ihre Verwandtschaftsbeziehungen eine Rolle bei der Stellenbesetzung spielten. So wurden Seebergs Überlegungen, einen christlichen Arbeitsdienst zur Moorlandkultivierung im Emsland einzurichten, seitens des Centralausschusses mit dem Hinweis weiterempfohlen, dass Seeberg eine „Nichte unseres verewigten Präsidenten“ sei und man mit ihr in verschiedenen Fragen „in einer guten Arbeitsbeziehung“ stehe.721 Neben ihren Beziehungen zur Inneren Mission und zur hannoverschen Landeskirche verfügte Seeberg auch über Verbindungen ins Lager des sozialen Protestantismus im Rheinland. Seeberg war Mitglied im Redaktionsausschuss des ESL, für das sie selbst die Artikel „Dorf“, „Armut“, „Gemeinschaft“ und „Individualismus“ verfasste, und referierte vor dem „Arbeitskreis für Flüchtlings- und Vertriebenenfragen“ des Sozialethischen Ausschusses der rheinischen Landeskirche.722 Die Soziologin lässt sich einer spezifischen Spielart des Protestantismus zuordnen. Ihr Onkel Reinhold Seeberg, der den Umbau der Inneren Mission zu einem modernen Fürsorgekonzern vorbereitet, durchgeführt und theologisch legitimiert hatte,723 zählte einerseits zu den Vertretern und Protagonisten eines gesellschaftlichen Fragen zugewandten sozialen Protestantismus, zugleich stand die gesamte Seeberg-Familie für eine spezifische Ausprägung des Nationalprotestantismus, der die Synthese von Protestantismus und Nation anstrebte.724 Im Centralausschuss für Innere Mission fielen Sozialer Protestantismus und Volksgemeinschaftsdenken schließlich zusammen, was die spätere Annäherung der Inneren Mission an den NS vorbereitete.725 Die Gründungsgeschichte der Forschungsstelle, die sich in den Jahren 1947 und 1948 konstituierte und bei der Seeberg nach dem Krieg angestellt war, kann wegen der fehlenden Überlieferung nicht im Einzelnen rekonstruiert

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Kanzlei des Landesbischofs an Boehm, 20. 3. 1948 (BArch Koblenz N 1077/5). Zu Rautenfeld: Filaretow, Bruderschaft. Schreiben von Engemann an Pastor Müller vom 23. 12. 1949 (ADW Berlin CAW 682). Mit „unser verewigter Präsident“ kann nur Reinhold Seeberg gemeint sein. Dies geht aus den Redaktionsprotokollen des Redaktionsausschusses des ESL hervor. Diese sind überliefert in der Akte LKA Düsseldorf 6 HA 006 37. Für diesen Hinweis danke ich Sabrina Hoppe. Zu Seebergs Vortrags- und Publikationstätigkeit vgl. Seeberg, Art. Armut. In: ESL 4 1963, 107–114; dies., Art. Dorf; dies., Art. Gemeinschaft; und Dies., Art. Individualismus. Zu ihrer Vortragstätigkeit vgl. auch Übersicht über die Arbeitstagung „Die Kirche und das Vertriebenenproblem mit Verantwortlichen aus der Flüchtlingsarbeit“ am 25.–27. 11. 1958 (LKA D sseldorf 1 OB 001 168); und Bericht über die Tagung „Die Kirche und das Vertriebenenproblem“, 25.–27. 11. 1958 in Mühlheim/Ruhr (LKA D sseldorf 1 OB 001 251). Dietzel, Seeberg, 213. Kaufmann, Harnacks. Dietzel, Seeberg, 214. Die Idee, eine moderne Sozialethik in den Dienst der Nation zu stellen, war typisch für den Protestantismus der 1920er Jahre. Vorstellungen einer Volksgemeinschaft kam eine hohe Attraktivität zu und waren bei Heinz Dietrich Wendland zu finden, der nach 1945 zum Spiritus Rector des sog. Sozialen Protestantismus rheinischer Spielart avancierte. Siehe hierzu Dahm, Konzept. Lepp macht auf die Problematik des Begriffs Nationalprotestantismus aufmerksam, der allenfalls für die Zeit vor 1945 gebraucht werden könne. Vgl. Lepp, Tabu, 67 f. FN 204.

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werden.726 Möglicherweise wurde die Idee zur Gründung einer Forschungsstelle auf der Hermannsburger Flüchtlingstagung entwickelt, die im Jahr 1947 unter der Leitung Liljes in Hermannsburg stattfand.727 Es ist auch nicht auszuschließen, dass Seeberg selbst die Gründung dieser Forschungsstelle initiierte. In einem rückblickenden Arbeitsbericht berichtete sie, dass sie selbst die Forderung erhoben habe, „die Kirche möge nicht nur Einzelfallhilfe leisten, sondern die Zusammenhänge wissenschaftlich-systematisch erforschen.“728 Dem Landesbischof sollte sie dabei in Form einer „Art Generalstabsarbeit“ zuarbeiten.729 Die ursprünglich geplante Zusammenarbeit mit dem „Sonntagsblatt“, das die Arbeit finanzieren sollte, bewährte sich jedoch nicht, so dass die Forschungsstelle nach langen Verhandlungen an die evangelische Akademie angeschlossen wurde.730 Im Januar 1958 beschloss der Konvent, die Forschungsstelle samt dem Flüchtlingsreferat zum 1. April 1958 aufzulösen; damit wurde auch das Arbeitsverhältnis mit Seeberg ohne weitere Begründung beendet.731 Offiziell wurden finanzielle Engpässe geltend gemacht. Allerdings ist dies aus zwei Gründen überraschend: Denn ein knappes Jahr zuvor war der Soziologe Werner Steinjan als soziologischer Fachreferent eingestellt worden.732 Außerdem ist die Auflösung der Forschungsstelle auch deshalb ungewöhnlich, da auf EKD-Ebene und in der rheinischen Landeskirche gleichzeitig eine Institutionalisierung und Verstetigung der Vertriebenenarbeit stattfand. So wurde in der rheinischen Landeskirche ein synodaler Arbeitsausschuss für Flüchtlingsfragen gegründet, zudem richtete die EKD angesichts der großen, anhaltenden Zahl an Flüchtlingen aus der DDR 1957 das neue Amt eines „Beauftragten des Rates der EKD für Umsiedler- und Flüchtlingsfragen“ sowie einen Beirat für Umsiedler-, Flüchtlings- und Vertriebenenfragen ein.733 In dieser Zeit wurden zudem die Pläne für ein Ost726 Da die Gründungsgeschichte der Forschungsstelle bereits aufgearbeitet und in Form eines Aufsatzes publiziert wurde, kann an dieser Stelle auf eine detaillierte Rekonstruktion verzichtet werden. Vgl. Teuchert, Anspruch. 727 Auf dieser Tagung wurde jedenfalls dem Wunsch Ausdruck verliehen, die Arbeit zu Vertriebenenfragen zu verstetigen. Siehe Schlusswort des Landesbischofs Dr. Lilje für die Frage des Gesprächs über Flüchtlingsfragen am 27. 10. 1947 (LKA Hannover L 3 III Nr. 302). 728 Seeberg, Stella: Bericht für den Landesbischof vom 17. 3. 1958 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1120). 729 Zitat aus: Protokoll über die konstituierende Sitzung der Forschungsstelle in der Evangelischen Akademie Hermannsburg am 19. 1. 1948; Satzung der Forschungsstelle [Entwurf], o. D. (LKA Hannover N 57 Nr. 1). 730 Ebd. 731 Tagungsordnung und Protokoll der Konventssitzung der Evangelischen Akademie Hermannsburg am 9. 1. 1958 (LKA Hannover N 76 Nr. 55). 732 Die evangelische Akademie Loccum und das Haus der Begegnung in Mühlheim/Ruhr zeigten sich beide ausgesprochen interessiert an Steinjan, dessen Dissertation mit 5 000 DM bezuschusst wurde. Siehe Schreiben von Pastor Johannes Doehring an Friedrich Karrenberg, 10. 7. 1956 (LKA D sseldorf 6 HA 006 40). Später wurde Steinjan von Karrenberg abgeworben. Umfassende Korrespondenzen hierzu finden sich in der Akte LKA D sseldorf 1 OB 001 168. 733 Darauf deuten Protokolle des Konventsausschusses, in denen Seeberg für eine Studienleitung

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kircheninstitut entwickelt.734 Möglicherweise wurde Seebergs Arbeit als nicht mehr zufriedenstellend empfunden.735 Nach ihrer Entlassung wechselte Seeberg an die Universität Göttingen als Oberassistentin für Sozialpolitik, nachdem verschiedene Vermittlungsversuche gescheitert waren. Offenbar erfolgte ihre Anstellung über die 131er-Regelung des Grundgesetzes, nach der Seeberg als ehemalige Beamte wieder in den Staatsdienst übernommen werden konnte.736 Lässt sich ein spezifisches inhaltliches Profil der Hermannsburger Forschungsstelle herausarbeiten? Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Seeberg die Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik im Kontext der Säkularisierungsthese verstand. Der Kampf gegen die Entchristlichung der Vertriebenen war ihr ein besonderes Anliegen. Daneben verstand Seeberg ihre Forschungsstelle als ein Beratungsorgan für Pastoren und Gemeinden, die bei der Wahrnehmung ihres Seelsorge- und Verkündigungsauftrages auf ihre Expertise angewiesen seien.737 Hauptaugenmerk der Forschungsstelle war, neben punktueller Gutachter-, Vortrags- und Publikationstätigkeit, die von Seeberg verantwortete Planung und Durchführung der Hermannsburger bzw. Loccumer Vertriebenentagungen. Primär dienten die Tagungen dem gegen-

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als ungeeignet erachtet wurde. Vgl. Protokoll über die Sitzung des Konventsausschusses der Evangelischen Akademie am 3. 6. 1957 (LKA Hannover E 46 Nr. 332). Denkbar ist auch, dass der Konvent der Akademie sich grundsätzlich an Soziologie und Sozialpolitik wenig interessiert zeigte. Akademiedirektor Johannes Doehring beklagte sich darüber, dass der Konvent „aus einer hyperkonservativen Grundhaltung heraus“ eine „Abneigung gegen die sozialpolitische Linie“ hege (Schreiben von Pastor Johannes Doehring an Friedrich Karrenberg, 10. 7. 1956, LKA D sseldorf 6 HA 006 40). Niederschrift über die 1. Sitzung des Arbeitskreises für Flüchtlings- Vertriebenenfragen am 27. 6. 1958 (LKA D sseldorf 1 OB 001 168). Zum Flüchtlingsbeauftragten und zum Flüchtlingsbeirat der EKD siehe Rudolph, Kirche Bd. I, 435–446. Damit reagierte die EKD zwar auf die steigende Zahl an DDR-Flüchtlingen, die Einrichtungen waren aber auch für die Vertriebenen zuständig, auch wenn es hier geringeren Regelungsbedarf gab. Teuchert, Anspruch. Kernbauer, Art. Seeberg, 677. Der Präsident des Landeskirchenamtes der Akademie, OKR Wagenmann, bemühte sich um eine Lösung über die 131er Regelung des Grundgesetzes. Die Korrespondenzen mit dem niedersächsischen Kultusministerium deuten an, dass ihre Anstellung als Oberassistentin in Göttingen über die 131er Regelung erfolgte. Siehe Schreiben von Müller an Präsident Karl Wagenmann, 15. 8. 1958 (LKA Hannover N 76 Nr. 81). Einerseits lassen die internen Akten des Landeskirchenamtes wenig Neigung erkennen, Seeberg in kirchliche Dienste zu übernehmen, andererseits wollte die Leitung des Landeskirchenamtes sie auch nicht einfach fallen lassen und warb für eine staatliche Anstellung, wie die vielen Vermittlungsversuche und Korrespondenzen zwischen dem Landeskirchenamt Hannover und dem niedersächsischen Kultusministerium zeigen. Im Nachlass von Landesbischof Hanns Lilje finden sich zahlreiche Empfehlungsschreiben. Vgl. die Akte LKA Hannover L 3 III Nr. 1120. Parallel zu ihrer Tätigkeit als Oberassistentin war Seeberg Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Bundesfamilienministeriums. Das geht hervor aus: Dr. Stella Seeberg 70 Jahre. In: Göttinger Tageblatt, 14. 7. 1971. Für diesen Hinweis danke ich Stefan Dietzel. Arbeitsbesprechung der Forschungsstelle am 1. 7. 1950 (LKA Hannover N 57 Nr. 1); Entwurf für eine Begründung für eine Übernahme der Forschungsstelle in den Haushalt der Landeskirche (LKA Hannover N 57 Nr. 3).

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seitigen Austausch der verschiedenen Stellen und Akteure, die in Wirtschaft, Verwaltung, Politik und Kirche mit der Vertriebenenproblematik befasst waren. Funktionsträgern auf der Ebene von Oberregierungsräten oder Oberkirchenräten, Ministerialdirigenten, Staatssekretären bis hin zu Landesund in Ausnahmefällen auch Bundesministern wurde die Gelegenheit gegeben, Teilprobleme und ihre eigene Perspektive der Vertriebenenproblematik in Form von Fachvorträgen darzustellen. Noch vor der eigentlichen Gründung der Hermannsburger Forschungsstelle äußerte sich die erste Hermannsburger Flüchtlingstagung 1947 zur gemeindlichen und innerkirchlichen Integration. Der auf der Tagung gebildete „Ausschuß für die gemeindliche Eingliederung der Flüchtlinge“ erhob die Forderung, die Frage der synodalen Vertretung zu regeln, um die „verantwortliche Beteiligung der Flüchtlinge an der kirchlichen Verantwortung sichtbar“ zu machen.738 Zu diesem Zweck seien für eine Übergangszeit „für jeden Kirchenvorstand je nach seiner Größe ein bis drei Kirchenvorsteher aus den Reihen der wahlberechtigten Flüchtlinge zu wählen und zu berufen.“739 Zudem sollten zehn Flüchtlinge „als stimmberechtigte Synodale in die Landessynode eintreten“; dabei könnten „die Hilfskomitees der in der Landeskirche vertretenen Ostkirchen je zwei Geistliche und vier Laien vorschlagen.“740 Mit diesem Bericht, dem freilich keine soziologische Analyse oder Expertise zugrunde lag, sondern der auf dem Meinungswissen, den Erfahrungen, Eindrücken und Wünschen einzelner Pfarrer und Vertriebenenseelsorger basierte, war der Appell verbunden, die Ostflüchtlinge als „Glieder der Gemeinde anzusehen“ und auf die „Beachtung und Pflege der im Osten bewährten kirchlichen Lebensäußerungen“ hinzuwirken.741 Auf EKDEbene waren Seeberg und ihre Forschungsstelle ebenfalls um eine Mitgestaltung der kirchlichen Vertriebenenarbeit bemüht: Sie warb für eine Zentrali738 Bericht des Ausschusses für die gemeindliche Eingliederung der Flüchtlingsarbeit. Anhang zum Schreiben von Superintendent Johannes Schulze an die Teilnehmer der Flüchtlingstagung in Hermannsburg, 12. 11. 1947 (LKA Hannover L 3 III Nr. 302). 739 Ebd. 740 Ebd. 741 Ebd. Die lutherische Landeskirche Hannover hatte die am weitesten gehenden Regelungen hinsichtlich der synodalen Vertretung verabschiedet. Per Kirchengesetz vom 19. 12. 1947 wurde jedenfalls die Aufnahme von sieben voll stimmberechtigten Vertriebenen in die Landessynode beschlossen. Andere Landeskirchen wie die in Schleswig-Holstein beriefen Vertriebene als Gäste ohne Stimmrecht, die bayerische Landeskirche sah zunächst gar keine Sonderregelung vor. Vgl. Rudolph, Kirche Bd. II, 301 f. Seeberg nahm an den Sitzungen des Flüchtlingsausschusses der hannoverschen Landessynode teil. Vgl. z. B. Protokoll der Sitzung des Flüchtlingsausschusses der 14. Hannoverschen Landessynode, 25. 3. 1949; Protokoll der Sitzung des Flüchtlingsausschusses der 14. Hannoverschen Landessynode, 18. 5. 1949; Protokoll der Sitzung des Flüchtlingsausschusses der 14. Hannoverschen Landessynode, 5. 10. 1949 (LKA Hannover N 14 Nr. 19). Tagesordnungspunkte waren die Situation in den Flüchtlingslagern und die Organisation der Lagerseelsorge. Zudem wurden eine schnelle Umsiedlung und Mittelerhöhungen für die Flüchtlingsseelsorge gefordert. Inwieweit Seeberg, die an den Sitzungen des Flüchtlingsausschusses nachweislich teilgenommen hatte, an der Verabschiedung dieser Regelungen beteiligt war, war den Protokollen allerdings nicht zu entnehmen.

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sierung und eine bessere Koordinierung der Vertriebenenarbeit, plädierte mehrfach für ein gesamtkirchliches Koordinierungsorgan und, in Analogie zur katholischen Kirche, für die „Einrichtung einer autoritativen und repräsentativen Spitze der Flüchtlingsarbeit der Evang. Kirche in Deutschland mit besonderen Hilfskräften als Zusammenfassung der bisher geleisteten Arbeit.“742 Diese Spitze in Form eines Flüchtlingsbischofs befürwortete sie auch deshalb, weil sie hoffte, mit einem zentralen, mit Kompetenzen ausgestatteten Ansprechpartner den evangelischen Einfluss auf die Vertriebenenpolitik, für die der katholische Minister Hans Lukaschek ressortmäßig zuständig war, stärken zu können. Damit konnte sich Seeberg allerdings nicht durchsetzen. Im Anschluss an die Flüchtlingstagung von 1951, die vor allem der Thematik des Lastenausgleiches gewidmet war, bat Seeberg den hannoverschen Landesbischof darum, ein Wort der Kirche an Bundesregierung und Bundestag zum bevorstehenden Lastenausgleich zu verfassen743 – offenbar mit Erfolg: Auf der Ratssitzung der EKD sei, wie Lilje erklärte, der Beschluss gefasst worden, dass sich Otto Dibelius als Vorsitzender des Rates zum Lastenausgleich „in dem von Seeberg vorgeschlagenen Sinne“ äußern würde.744 Die fachliche Grundlage liefert dann allerdings eine andere Einrichtung, nämlich die Kammer für soziale Ordnung der EKD.745 Auch diese Eingabe lässt sich als Versuch verstehen, die Ergebnisse der Tagungen in Handeln umzusetzen und Einfluss auf die Integrationspolitik zu nehmen. Schließlich trat Stella Seeberg als Gutachterin in Erscheinung. In ihren Gutachten nahm sie anhand von lokalen Einzelstudien die Situation der vertriebenen Bauern in den Blick. Hier verfolgte sie das Anliegen, einen Beitrag zu einer gesellschaftlichen Debatte zu leisten und konkrete Handlungsempfehlungen auszusprechen, beispielsweise, indem sie auf die aus ihrer Sicht konfessionell bedingte Benachteiligung bei der Eingliederung evangelischer vertriebener Bauern hinwies oder sich für eine Förderung der Nebenerwerbsstellen aussprach. Das niedersächsische Landwirtschaftsministerium und andere Akteure wie der Staatssekretär im Bundesvertriebenenministe742 Bericht. Arbeitstagung über Flüchtlingsfragen der Forschungsstelle der evangelischen Akademie Hermannsburg vom 12.–19. 11. 1948 (LKA Hannover, N 57 Nr. 6). 743 Schreiben von Stella Seeberg an die Kirchenkanzlei, 21. 1. 1951 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1120). 744 Schreiben von Landesbischof Hanns Lilje an Seeberg, 7. 3. 1951 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1120). Vgl. auch Schreiben von Friedrich Bartels an Stella Seeberg, 7. 3. 1951 (LKA Hannover N 14 Nr. 19). Eine entsprechende Eingabe der Hermannsburger Flüchtlingstagung, 20. 1. 1951 liegt dem Tagungsprotokoll der 20. Sitzung des Rates der EKD bei. Der Ratsvorsitzende wurde dazu ermächtigt, ein „Wort der Kirche an die Mitglieder des Bundestages und Bundesrates“ bezüglich des Lastenausgleichs zu verfassen (20. Sitzung des Rates am 6. 3. 1951. Anhang zur 20. Sitzung des Rates der EKD. In: Pçpping (Bearb.), Protokolle, Bd. 5, 114. Zur Eingabe siehe ebd., 132). Zugleich wurde dieses Anliegen aber auch vom OKA und anderen Akteuren vorgebracht. Ausführlicher unten 271–278. 745 Ratsames Gutachten der Kammer für soziale Ordnung vom 16. 5. 1951. Anhang zur 22. Sitzung des Rates der EKD, abgedruckt in Pçpping (Bearb.): Protokolle, Bd. 5, 237.

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rium, Ottomar Schreiber, wies sie auf solche von ihr beobachtete, konfessionell bedingte Ungerechtigkeiten hin und rief dazu auf, verlassene Bauernhöfe an vertriebene Bauern zu verteilen.746 Zudem versuchte sie, anhand eines ausgewählten, namentlich nicht genannten Dorfes die Kirchlichkeit der Vertriebenen zu messen.747 Hinsichtlich dieser auf Umfragen basierenden Mikrountersuchung ist festzustellen, dass Seeberg einerseits einen empirischen Anspruch vertrat, andererseits folgte diese Studie einem simplen methodischen Setting ohne einen Vergleichsmaßstab. Eine weitergehende methodologische Reflexion über die Repräsentativität der Daten oder eine Reflexion über die Abhängigkeit der Ergebnisse von den gestellten Fragen fand offenbar nicht statt.748 Der vom OKA mitfinanzierten Studie lagen folgende Fragen zugrunde, anhand derer sie die Kirchlichkeit der Vertriebenen zu messen beabsichtigte: „Wann waren Sie das letzte Mal in der Kirche? Wann haben Sie das letzte Mal am Abendmahl teilgenommen?“749 Ursprünglich plante Seeberg zudem, die Umfrage ohne einen standardisierten Fragebogen durchzuführen, „um mit den Menschen direkt ins Gespräch zu kommen“, was der OKA al746 Die Akten N 14 Nr. 25 und L 3/III Nr. 298 im LKA Hannover enthalten zahlreiche Gutachten und Eingaben aus der Feder Seebergs. Hier wies sie auf die Benachteiligung evangelischer Vertriebener bei der Landvergabe hin. Das statistische Landesamt habe den konfessionellen Strukturwandel vernachlässigt und den großen Anteil Evangelischer am katholischen Emsland unterschlagen. Siehe hierzu Schreiben von Stella Seeberg an OLKR Friedrich Bartels, 15. 8. 1956 (LKA Hannover N 14 Nr. 25); dies.: Der Dienst der Kirche an den Heimatvertriebenen, o. D. (LKA Hannover N 14 Nr. 19); und Die kirchliche Eingliederung der Vertriebenen, o. D., versendet an die Kirchenkanzlei mit Schreiben vom 6. 2. 1953 (EZA Berlin 17/303). Wiederholt hatte Seeberg bei Staatssekretär Ottomar Schreiber, Friedrich Bartels und bei OKR Ruppel in der Kirchenkanzlei der EKD interveniert, um gegen die konfessionell bedingte Benachteiligung evangelischer vertriebener Bauern vorzugehen. Vgl. Schreiben von Stella Seeberg an Staatssekretär Ottomar Schreiber, 22. 4. 1953; Schreiben von Stella Seeberg an Friedrich Bartels, 22. 4. 1953; Schreiben von Stella Seeberg an OKR Ruppel, 22. 4. 1953 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1120); Schreiben von Stella Seeberg an Friedrich Bartels, 15. 8. 1956 (LKA Hannover N 14 Nr. 25); und Schreiben der Kirchenkanzlei an Friedrich Spiegel-Schmidt, 11. 2. 1953 (EZA Berlin 17/303). 747 Harzbecher, Hildegard/Seeberg, Stella: Die kirchliche Eingliederung der Vertriebenen, o. D. Versendet an die Kirchenkanzlei der EKD mit Schreiben vom 6. 2. 1953 (EZA Berlin 17/303). 748 Schreiben von Stella Seeberg an Fräulein Spiegel-Schmidt, 15. 5. 1951; Schreiben von Gerhard Rauhut an Stella Seeberg, 26. 5. 1952; und Schreiben von Stella Seeberg an Gerhard Rauhut, 13. 6. 1952 (EZA Berlin 17/302). Zum Gutachten selbst: Harzbecher/Seeberg, Stella: Die kirchliche Eingliederung der Vertriebenen, o. D. Versendet an die Kirchenkanzlei der EKD mit Schreiben vom 6. 2. 1953 (EZA Berlin 17/303). Die Kirchenkanzlei der EKD stufte den Bericht als „sehr interessant“ ein und erwog, ihn sämtlichen Landeskirchen zukommen zu lassen. Siehe Schreiben der Kirchenkanzlei an Spiegel-Schmidt vom 11. 2. 1953 (EZA Berlin 17/303). Eine gekürzte Fassung wurde publiziert. Siehe Harzbecher, Sitte. In ihrem 1956 für das Landwirtschaftsministerium verfassten Gutachten lassen sich Ansätze einer methodischen Reflexion entdecken. Sie wies auf die mangelnde Repräsentativität ihrer Fall- und Mikrostudien hin; zudem gab sie vor, einen „gruppenweisen Vergleich“ zu leisten (Dies.: Vertriebene Bauernfamilien in der Industrie. Untersuchung von 100 vertriebenen Bauernfamilien in der Grafschaft Bentheim, Loccum 1956, EZA Berlin 512/67). 749 Schreiben von Stella Seeberg an Gerhard Rauhut, 13. 6. 1952 (EZA Berlin 17/302).

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lerdings ablehnte.750 Offenbar wies sie dem direkten Gespräch eine höhere Erkenntniskraft zu. 2.6.3 Der Soziale Protestantismus und die „Dortmunder Waschanlage“751 Elisabeth Pfeil Auch Elisabeth Pfeil, seit 1937 NSDAP-Mitglied, hatte ebenfalls während des NS Karriere gemacht.752 Der Soziologin kam als Schriftleiterin hinsichtlich der bevölkerungspolitischen Ausrichtung des Archivs für Bevölkerungswissenschaften und Bevölkerungspolitik ein nicht unwesentlicher Einfluss zu. Dort habe sie nach Klingemann entgegen dem Trend zur Biologisierung der Soziologie ein Sozialisierungsprogramm betrieben, auch wenn Pfeil selbst auf der Ebene des Vokabulars auf Biologismen zurückgriff.753 In ihren Beiträgen zur Raumforschung habe sie zudem ein von Klingemann als modern bezeichnetes sozialkonstruktivistisches Verständnis von Raum entwickelt, das nicht auf die konkrete physische Landschaft, sondern auf den geistigen, kulturellen und sozialen Raum rekurrierte.754 Nach Klingemann sei das Programm der Soziologisierung gegen die von Gunther Ibsen propagierte Schollenmystik sowie gegen das Ideologem der nordischen Rasse gerichtet gewesen.755 Alexander Pinwinkler stellt diese Einschätzung allerdings infrage und misst der Erbbiologie nicht nur eine „akzidentielle“ Bedeutung zu.756 Der Historiker erkennt in erbbiologischen Anleihen weniger ein opportunistisches Zugeständnis an den Zeitgeist, vielmehr sei der „biologistische Raumdeterminismus“ konstitutiv für Pfeils Werk gewesen.757 Auch wenn die genaue 750 Ebd. 751 Begriff nach Ahlheim, Oppen, 311–323. Zur Rolle der Dortmunder Sozialforschungsstelle auch Klingemann, Verweigerung, 485–488. Adamski gebraucht den Begriff „Sammelbeckentheorie“ (Adamski, Ärzte, 128). Der Begriff „sozialer Protestantismus“ ist ebenfalls zu problematisieren. So handelt es sich hierbei um eine Selbstbezeichnung einer protestantischen Strömung, die vor allem in der rheinischen Landeskirche und im Sozialethischen Ausschuss der rheinischen Kirche angesiedelt war und die das Deutungsmonopol für die „Soziale Frage“ beanspruchte. Zugleich befassten sich auch andere protestantische Lager und Richtungen wie beispielsweise das Hilfswerk, die Innere Mission oder die Hermannsburger Forschungsstelle mit sozialen Fragen, ohne allerdings das Attribut „sozialer Protestantismus“ für sich zu reklamieren. 752 Vgl. oben 143–151 und 151–154. 753 Vgl. hierzu oben 151–154 und Klingemann, Soziologie, 175 f. 754 Schnitzler, Pfeil, 175 f. Pinwinkler spricht von einem „relationalen Raumbegriff“, der auf die Beziehungen von Raum und Bevölkerungen rekurrierte. Pfeil habe demnach eine semantische Annäherung von Bevölkerungswissenschaften und Geopolitik betrieben. Hierzu Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 83. 755 Ebd., 175 f. 756 Ebd., 84. 757 Ebd.

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Verhältnisbestimmung von Soziologie und Biologie einer genaueren Bestimmung und Analyse aus wissenschaftshistorischer Perspektive bedarf, ist ihre empirische sozialwissenschaftliche Praxis, die sich z. B. anhand ihrer statistischen Arbeiten zeigt, unstrittig. In ihren stadtsoziologischen Arbeiten grenzte sie sich von solchen Vorstellungen ab, die die Stadt biologisierten und in ihr die Ursache des „Volkstodes“ erblickten. In Abgrenzung dazu rehabilitierte sie die Stadt, der sie, verstanden als „sozialer Raum“, die „stärksten Auslesekräfte“ attestierte.758 Zugleich vertrat sie die Auffassung, dass sich der „Genbestand einer Bevölkerung“ infolge der Ausleseprozesse verändere.759 Zudem vertrat sie eugenische Vorstellungen und sprach von einer „negativen Auslese“ der Stadt, die in Kombination mit der „Gewöhnung an die Fürsorge“ dazu beitrage, dass die Individuen „immer auffälliger und damit pflegebedürftig“ würden.760 Während des NS hatte Pfeil ihre stadtsoziologische Expertise den Wiederaufbauplänen der NS-Regierung zur Verfügung gestellt.761 Die Vorstellung, dass in der Stadt eine „soziale Auslese“ stattfände, blieb auch nach 1945 präsent.762 Der bevölkerungspolitische Arbeitskreis, der das „Archiv für Bevölkerungswissenschaft“ herausgab, empfahl sich explizit der nationalsozialistischen Politik und strebte die Kooperation mit Behörden an. Der Arbeitskreis wurde mit dem Ziel gegründet, „wissenschaftliche Vorarbeit für Eingriffe von bevölkerungspolitischer Seite aus zu leisten.“763 Nach Sabine Schleiermacher leisteten die „sozialstatistischen Erhebungen“ des bevölkerungswissenschaftlichen Arbeitskreises „Vorarbeiten, die später im Zusammenhang mit dem Überfall auf Polen und der Umsetzung des ,Generalplan Ost‘ sowie einer damit verbundenen rationalen Fundierung der Umsiedlungspraxis“ Bedeutung erlangten.764 Hierbei spielten Pfeils kirchliche Kontakte eine Rolle: Außerdem führte die Zusammenarbeit mit den kirchlichen Stellen dazu, dass in bevölkerungspolitischer Absicht, nämlich dem Interesse an Informationen zur Bevölkerungsentwicklung, über die Kirchen- und Pfarrbücher erstellte Kataster in den auslanddeutschen Gebieten für ,die Umsetzung des »Arierparagraphen« und letztlich die »Endlösung der Judenfrage« im Holocaust‘ verwandt wurden.765

758 Schnitzler, Pfeil, 282. So in einem 1937 erschienenen Aufsatz im Archiv für Bevölkerungswissenschaften. Vgl. Pfeil, Bevölkerung, 121. 759 Schnitzler, Pfeil, 282. 760 Zit. nach. Schnitzler, Pfeil, 264. 761 Ebd., 408. 762 Schnitzler, Pfeil, 337. In diesem Zusammenhang nannte sie soziologische Merkmale wie Beruf oder Alter. Ihr Aufsatz von 1950 basierte auf einem 1944 gehaltenen Vortrag vor der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumordnung. Vgl. auch Pfeil, Großstadtforschung. 763 Schnitzler, Pfeil, 151. Zitat ebd. Zur Kooperation mit Verwaltung und Politik auch Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 110. 764 Schleiermacher, Zeiss, 25. 765 Dies., Sozialethik 131. Nach Schnitzler stimme allerdings die verbreitete Auffassung nicht,

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In einem Tagungsbericht verband sie Bevölkerungswissenschaft und Raumplanung und umschrieb dabei die Aufgaben der obersten Reichsbehörde „Reichsstelle für Raumfragen“ folgendermaßen: „Dem deutschen Menschen“ eine „arteigene Zuordnung von Volk und Landschaft“ angedeihen zu lassen, damit ihm „die höchste Entfaltung seiner Lebens- und Kulturmöglichkeiten im deutschen Raum“ gewährleistet werde.766 Die politische Raumforschung benötige daher neben „basalen Planungsbedürfnissen“ wie Rüstung und Ernährung auch die Teildisziplinen „Bodennutzung, […] Siedlung und […] Sozialstruktur.“767 Der Forschungsauftrag der Reichsstelle für Raumfragen verfolge das Ziel, die „bestmögliche Verteilung der Menschen im Raum“ und „die zweckmäßigste Raumnutzung“ durch eine „umfassende Gesamtplanung des Raums im Osten“ zu erreichen.768 Nicht zuletzt die ostmittel- und osteuropäischen Gebiete gerieten hierbei als Projektionsfläche für Sozialgestaltungs- und Raumplanungsphantasien in den Blick. Die hier induzierte semantische Annäherung von Geopolitik und Bevölkerungswissenschaften sowie die anvisierte „Gesamtplanung“ sind durchaus als Beitrag zum „Generalplan Ost“ zu verstehen.769 Ihre großstadtsoziologischen Forschungen referierte sie vor der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, die hauptsächlich für die Koordination und Vorbereitungen des Generalplans verantwortlich war.770 Pfeil hatte bereits in dieser Zeit mit protestantischen Einrichtungen zusammengearbeitet. Netzwerkknoten waren der Arzt Hans Harmsen, zu dem sie private und berufliche Kontakte unterhielt.771 Die Soziologin wurde

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dass Pfeil zu den „Verantwortlichen der nationalsozialistischen Rassepolitik“ gehöre. Siehe Schnitzler, Pfeil, 408. Ebd., 278. Ebd. Ebd. Letztlich stand auch Pfeils 1959 entstandener Aufsatz für das „Sammelwerk Eingliederung“ in dieser Kontinuität. Hier ging es um die räumliche Verteilung der Vertriebenen und die Konzentration der Vertriebenen im städtisch-industriell geprägten Ruhrgebiet. Vgl. Pfeil, Sesshaftmachung. Im Sinne einer solchen Gesamtplanung umfasste Bevölkerungswissenschaft nicht nur Familien-, Gesundheits-, Sozial- und Agrarpolitik, sondern auch Raumplanung, die Umsiedlungen als Instrument der Bevölkerungspolitik und Raumplanung mit einschloss. Einem solchen Verständnis hing auch Pfeil an. Vgl. Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 109. Schnitzler, Pfeil, 278. Margit Szöllösi-Janze stellt fest: „Beteiligt an den monströsen NSPlanungen wie etwa dem Generalplan Ost waren keineswegs nur SS-Fanatiker, sondern rational handelnde, wissenschaftlich ausgebildete Siedlungs- und Verwaltungsexperten, Züchtungsforscher, Soziologen, Architekten, Demographen und Geographen […] und nüchterne Raumforscher und Landesplaner“ (Szçllçsi-Janze, Wissensgesellschaft, 306). Schnitzler, Pfeil, 242 und 262; Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 83. Zur Bedeutung der Reichsarbeitsgemeinschaft siehe Heinemann, Wissenschaft, 49. Hausmann nennt eine ganze Reihe an Forschungsinstitutionen, die sich mit den annektierten und den zu annektierenden Gebieten befassten und ein Informantennetzwerk vor Ort unterhielten, um das „Großraumprojekt“ zu verwirklichen (siehe hierzu Hausmann, Termitenforschung, 70–76). Mit Harmsen, den sie seit ihrer Kindheit kannte, arbeitete Pfeil eng zusammen. Den Kontakt

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Schriftleiterin im von Harmsen begründeten „Archiv für Bevölkerungswissenschaften und Bevölkerungspolitik“, dem Publikationsorgan des „Bevölkerungswissenschaftlichen Arbeitskreises.“772 Das „Archiv für Bevölkerungswissenschaften und Bevölkerungspolitik“ stand zugleich mit der Inneren Mission und dem Theologen Reinhold Seeberg in Verbindung. Dieses Publikationsorgan war aus dem „Archiv für Bevölkerungspolitik, Sexualethik und Familienkunde“ hervorgegangen, das u. a. auf Anregung der Inneren Mission zustande kam und von dieser mitfinanziert wurde.773 Der Mediziner Harmsen, der in der von der Inneren Mission geförderten protestantischen Sittlichkeitsbewegung engagiert war, wurde auf Reinhold Seebergs Veranlassung und wegen seines Engagements in der Sittlichkeitsbewegung zum Leiter des Referats Gesundheitsfürsorge des Central-Ausschusses für Innere Mission ernannt.774 Der Theologe wies der Inneren Mission im Allgemeinen und Harmsen im Besonderen eine Schlüsselstellung bei der von ihm avisierten „Therapie der Gesellschaft“ zu, die sich vermehrt von der Erneuerung der Sittlichkeit auf bevölkerungspolitisches und sozialhygienisches Feld verlagerte und sich einer biologistisch verstandenen „Volksgesundung“ sowie einer aktiven eugenischen Geburtensteuerung einschließlich Sterilisation verschrieb.775 Für die Implementierung der bevölkerungspolitischen Zielset-

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hielt sie auch nach 1945 aufrecht. Hierzu Schnitzler, Pfeil, 352 und 407. Hans Harmsen verfasste 1976 in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ den Nachruf auf Pfeil. Siehe Harmsen, Pfeil. Zu Harmsen siehe v. a. Schleiermacher, Sozialethik. Schnitzler, Pfeil, 20. Pfeil war Schriftleiterin. Hierzu ebd., 239–247. Zu Harmsens Wirken in der Inneren Mission auch Schleiermacher, Sozialethik; und Dietzel, Seeberg. Schnitzler, Pfeil, 65. Der herausgebende Bevölkerungspolitische Arbeitskreis war zwar aus ganz unterschiedlichen Initiativen hervorgegangen, hat aber auch „protestantische Wurzeln“. Eine weitere Vorgängerinstitution war das „Archiv für Volksgesundung“, dessen Hauptträger der Centralausschuß für Innere Mission war (ebd., 28 f.). Der Ausschuss für Familien- und Bevölkerungsfragen des Internationalen Verbandes für Innere Mission und Diakonie stellte offenbar die materiellen und ideellen Grundlagen für die Zeitschrift „Archiv für Bevölkerungswissenschaft“ bereit. Hans Harmsen war Herausgeber des Archivs und zugleich Leiter des Referats „Gesundheitsfürsorge des Central-Ausschusses für die Innere Mission“ (ebd., 75 f.). Auch der „Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik“ hing mit diesem Konglomerat zusammen, der politikberatend tätig war und das „Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses“ vorbereitete (ebd., 60, 65 und 103). Ebd., 32 f. und 65. Stefan Dietzel schreibt: „Ein wesentlicher Schritt auf dieses Ziel hin [gemeint ist die Therapie der Gesellschaft, FT] war mit der Anstellung Hans Harmsens als Fachreferent für eugenische Fragen getan. Mit ihm wurde unter Seebergs Präsidentschaft 1925 ein ausgewiesener Technokrat der Sozialhygiene für den CAfIM gewonnen […]. Die Verteidigung der christlichen Sittlichkeit trat unter seinem Einfluss zunehmend in den Hintergrund und machte einer biologistischen Bevölkerungspolitik Platz. Harmsen radikalisierte den von Seeberg vorgezeichneten Weg einer mit biologistischen Argumenten unterfütterten Sittlichkeitsbestrebung […]. Seine Anstellung führte mittelfristig zu einer Annäherung des Sozialprotestantismus an die radikale Rassenideologie des Nationalsozialismus“ (Dietzel, Seeberg, 214). Zur Entwicklung der Bevölkerungspolitik aus der Sittlichkeitsbewegung siehe Schleiermacher, Sozialethik, 85–88. Zur Kontinuität des sog. Sozialen Protestantismus und zur Auseinandersetzung

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zung war Hans Harmsen als „Fachreferent für Eugenik“ zuständig.776 Damit verfügte Pfeil über Kontakte zu einer Spielart des Sozialen Protestantismus, der in seinem modernen Selbstverständnis ein sozialhygienisches und bevölkerungspolitisches Programm formulierte und schließlich die Annäherung zwischen Innerer Mission und Nationalsozialismus vorbereitete. Nach 1945 engagierte sich Pfeil in protestantischen Kommunikationszusammenhängen, insbesondere im Umkreis des sogenannten „Sozialen Protestantismus“, der im Rheinland angesiedelt war und der aus dem Landesverband für Innere Mission hervorging.777 Diese Variante, die im Sozialethischen Ausschuss der rheinischen Landessynode ihr Forum fand, erhob den Austausch mit den Fächern Soziologie und Ökonomie zum Programm, um sozialwissenschaftlich und ökonomisch informierte evangelische Antworten auf die sozialen Herausforderungen der Gegenwart zu finden.778 Ausdruck hierfür war u. a. das ESL. Pfeil verfasste für das Soziallexikon, das an Pfarrer, Gemeinden und interessierte Laien adressiert war und das Ziel verfolgte, das „soziale Wissen der Zeit für Verantwortliche aus Politik und Gesellschaft unter der Zielperspektive einer verantwortlichen Gesellschaft“ aus interdisziplinärer Perspektive darzustellen und zu bündeln,779 den Artikel zur Vertriebenenproblematik. Sie galt auf diesem Gebiet als Expertin und hatte mit ihrem 1948 erschienenen Buch „Der Flüchtling. Gestalt einer Zeitenwende“ die soziologische Flüchtlingsforschung gewissermaßen eröffnet.780 Die Flüchtlings- und Stadtsoziologin referierte auf dem DEK in der Arbeitsgruppe IV „Wirtschaft“ zu Vertriebenenproblematik, verfasste darüber hinaus die Artikel zur Vertriebenenproblematik und zur Großstadt im ESL, wurde auf einige Tagungen des OKKs als Referentin eingeladen und schließlich in die Kammer für soziale Ordnung der EKD berufen.781 Daneben sind Auftragsar-

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nationalprotestantischer Akteure mit der Sozialen Frage in den 1920er und 30er Jahren vgl. Bruch, Wilhelminismus, 15 f. Dietzel, Seeberg, 214. Auf die Problematik des Begriffs „Sozialer Protestantismus“ wurde bereits verwiesen. Vgl. Anm. 751. J hnichen, Sozialethik, 1054. Im Vergleich zu den klassischen sozialethischen Themen wie die Frage der betrieblichen Mitbestimmung, der Arbeiterfrage, der Verhältnisbestimmung von Christentum und Sozialismus oder der grundsätzlichen Gestalt der Sozial- und Wirtschaftsordnung spielte die Vertriebenenproblematik eine untergeordnete Rolle. Spät wurde ein Ausschuss für Vertriebenenfragen ins Leben gerufen. Siehe Niederschrift über die 1. Sitzung des Arbeitskreises für Flüchtlings- Vertriebenenfragen am 27. 6. 1958 (LKA D sseldorf 1 OB 001 168). Kaminsky, Kirche, 109. Kaminsky bezeichnet das ESL als „evangelischen Sozialkatechismus“ und suggeriert damit, dass eine einheitliche, evangelische Soziallehre angestrebt sei. Jähnichen betont hingegen den sachlich-informierenden Charakter des ESL, das keine Lehrbildung intendiert habe. Siehe J hnichen, Sozialethik, 1054. Pfeil, Flüchtling. Vgl. auch Bendel, Aufbruch, 463. Siehe auch die wohlwollende Rezension ihres Buchs im „Sonntagsblatt“ und in „Christ und Welt“. Vgl. Anm. 506. Pfeil, Art. Vertriebenenprobleme. In: ESL 1954; dies., Art. Großstadt; und Dies.: Vertriebene und Eingesessene, psychologisch gesehen. Vortrag auf dem DEK am 24. 8. 1950 (EZA Berlin

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beiten zur Vertriebenenproblematik nachweisbar, die zwar im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit entstanden, jedoch von protestantischer Seite mitfinanziert wurden.782 Der Leiter des Sozialamtes der evangelischen Kirche in Westfalen, Klaus von Bismarck, der wiederum eng mit dem Sozialethischen Ausschuss kooperierte,783 knüpfte seine Bewilligung von Forschungsgeldern für ein Flüchtlingsprojekt an die Bedingung, dass Elisabeth Pfeil – und nicht der bekannte Soziologe Gunther Ipsen – als „Projektleiterin“ auftreten möge, „da sie durch ihre Flüchtlingsstudien in kirchlichen Kreisen besser bekannt“ sei.784 Die finanzielle Beihilfe des Sozialamtes der westfälischen Landeskirche wurde schließlich bewilligt,785 allerdings betonte Klaus von Bismarck ein weiteres Mal die Bitte, die Untersuchung von einer der Kirche bekannten Persönlichkeit, d. h. Elisabeth Pfeil, durchführen zu lassen und außerdem darzulegen, welche „besonderen Aufgaben“ sich aus den Untersuchungsergebnissen „für den kirchlichen Dienst“ ergeben.786 Nachdem, wie die Soziologin Sonja Schnitzler in ihrer 2012 erschienenen Dissertation bemerkt, Pfeil daraufhin auch die zusätzliche Bereitstellung der Ergebnisse der Dortmunder Untersuchung zugesichert hatte, richtete sich die gesamte Ergebnispräsentation mit ihren Empfehlungen letztendlich hauptsächlich an die Kirche.787

Die Ergebnisse der Dortmunder Untersuchung wurden mit einem „SonderVorwort für die evangelische Kirche“ und der „Anlage III: nur für die evangelische Kirche bestimmt“ versehen.788 Dies führt Schnitzler auf die „Ver-

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71/1186). Zur publizierten Fassung siehe Dies., Gemeinschaft, 64 f. Außerdem wurde Pfeil später in die Kammer für soziale Ordnung berufen. Siehe Mitgliederliste der Kammer für soziale Ordnung vom 18. 5. 1961 (EZA Berlin 656/456). Zudem arbeitete Pfeil an einer Bibelrüstzeit des OKAs mit. Vgl. Schreiben von Elisabeth Pfeil an Friedrich Spiegel-Schmidt vom 14. 2. 1951 (EZA Berlin 17/564). Auch Pfeil publizierte in der „ZEE“, allerdings nicht zur Vertriebenenfrage. Vgl. Dies., Rolle. Auf dem DEK 1956 referierte Pfeil zum Thema „Großstadt.“ Siehe Schreiben von Walz an Elisabeth Pfeil, 7. 9. 1955; Schreiben von Elisabeth Pfeil an Hans-Hermann Walz, 1. 8. 1955 (EZA Berlin 71/1607); dies., Aufnahme, 63–75. 1965 wurde sie als Expertin für den DEK angefragt, jedoch sagte sie ab. Vgl. unten 393. Schnitzler, Pfeil, 321 f. Kaminsky, Kirche, 108. Schnitzler, Pfeil, 322. Konkret handelte es sich um eine „soziologische Untersuchung in den Lagern der Sowjetzonenflüchtlingen.“ Pfeil bat um eine Beihilfe in Höhe von 1 000 DM. Siehe ebd., 361. ebd., 362. ebd., 362 f. Ebd., 367. Ebd., 363. Mit der Dortmunder Untersuchung ist die Studie „Die Aufnahme der Sowjetzonenflüchtlinge in Westdeutschland. Bericht der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund über ihre Erhebung in den Wohnlagern einer Großstadt des Ruhrgebietes“ gemeint. Die Studie wurde nur vervielfältigt und nicht publiziert. Auch der Bericht über die Berliner Untersuchung, welchen die Kirche mitfinanziert hatte, wurde nicht publiziert, sondern für den Dienstgebrauch den entsprechenden Stellen übermittelt. Siehe ebd., 365 f.

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bundenheit“ zurück, die Pfeil gegenüber der evangelischen Kirche empfunden habe.789 Pfeil beschrieb in protestantischen Kommunikationskontexten den Integrationsprozess und das Zusammenleben von Vertriebenen und Einheimischen.790 Den Zustand gesellschaftlicher Desintegration umschrieb sie nicht in klassenkämpferischen Kategorien, sondern als Kultur-, Mentalitäts- und Lebensführungskonflikt und als Zusammenprall von unterschiedlichen Normen. Dieser habe auf beiden Seiten zu Missverständnissen, Geltungsbestrebungen, Überlegenheits- und Unterlegenheitsgefühlen und einer kollektiven Solidarisierung innerhalb der Vertriebenen und Einheimischen geführt.791 In diesem Zusammenhang wies sie den Pfarrern eine vermittelnde, integrative, fast schon pädagogische Bedeutung zu: Den Pfarrern fällt bei den kirchlich-gläubigen Flüchtlingen […] eine bedeutende Rolle zu: Chance und Bewährungsproben der Kirchen [..] Auch psychologische Hilfe leisteten die Kirchen neben der praktischen, indem von den Kanzeln herunter die herzensträgen Ansässigen immer wieder auf die Not der Flüchtlinge hingewiesen wurden. […] Unendlich viel vermag ein Pfarrer […], der über den feindseligen Parteien im Dorfe steht, zu stiften.792

Schließlich beanspruchte Pfeil den Stand der Integration anhand der Integrationsindikatoren „Konnubium“ und „berufliche Stellung“ zu messen, wobei „Konnubium“ auf den geselligen Verkehr von Vertriebenen und Einheimischen rekurrierte.793 Auf der Basis einer Untersuchung des Statistischen Landesamtes Bayern kam Pfeil zu dem Ergebnis, dass jeder zweite Vertriebene geselligen Umgang mit Einheimischen pflege, obwohl zugleich eine Verhärtung der Fronten zu beobachten sei.794 Neben dem Konnubium nannte sie sozioökonomische Kriterien wie die Wiedererlangung der früheren beruflichen Stellung.795 Danach sei einem Drittel der Vertriebenen die Eingliederung gelungen, ein weiteres Drittel ringe noch um Eingliederung und habe Arbeit gefunden, müsse jedoch mit einer nicht statusgemäßen oder berufsfremden Stellung Vorlieb nehmen, während ein weiteres Drittel, vor allem Erwerbs-

789 Ebd., 367. 790 Siehe hierzu v. a. Anm. 781. 791 Pfeil, Elisabeth. Vertriebene und Eingesessene, psychologisch gesehen (EZA Berlin 71/ 1186). Zudem verwies sie auf das gekränkte Selbstbewusstsein der Vertriebenen. Vgl. Dies., Art. Vertriebenenprobleme. In: ESL 1954, 1084. 792 Ebd., 1087. Sie blendete jedoch aus, dass viele Pfarrer die Interessen der aufnehmenden Bevölkerung vertraten. 793 Dies.: Vertriebene und Eingesessene, psychologisch gesehen (EZA Berlin 71/1186). 794 Ebd. Pfeil war nach Kriegsende wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bayerischen Statistischen Landesamt und dort mit der Vertriebenenproblematik befasst. Vgl. Pfeil, Stichprobenverfahren; dies., Fünf Jahre. Mit dieser Deutung widersprach sie Schelsky. Vgl. Zottmann, Anton: Einigelung der Flüchtlinge? In: Die Zeit, 2. 11. 1950. 795 Dies.: Vertriebene und Eingesessene, psychologisch gesehen (EZA Berlin 71/1186).

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unfähige, Alte und Isolierte, „keine Wurzel“ mehr fassen könnten.796 Im ESL machte sie zudem auf die unterschiedliche Chancenverteilung der verschiedenen Berufsgruppen und die berufstypischen Schicksale aufmerksam, ohne ihre Ergebnisse allerdings näher auszuführen.797 Pfeil plädierte insgesamt für eine Umstellung auf eine „kapitalbedürftige Wirtschaft“, die auf eine große Zahl abhängig Beschäftigter angewiesen sei.798 Die Soziologin beschrieb zwar ebenfalls gesellschaftliche Desintegrationserscheinungen, profilierte allerdings eine gänzlich anders gelagerte Problemwahrnehmung, die eher auf einer zwischenmenschlich-psychologischen, kulturellen und sozioökonomischen Ebene angesiedelt war. Damit stellte sie nicht zuletzt die weit verbreitete These einer dichotomen Klassenbildung oder einer Vermassung infrage.799 Zusammenfassend lassen sich drei Verbindungslinien zwischen Pfeil und dem Protestantismus rekonstruieren. Erstens Klaus von Bismarck, der Leiter des Sozialamtes der westfälischen Landeskirche, der dem sog. Sozialen Protestantismus und dem Netzwerk Friedrich Karrenbergs zuzuordnen ist. Von Bismarck war ebenso wie Pfeil Mitglied der Arbeitsgruppe IV „Wirtschaft“ des DEK.800 Zweitens sind ihre Verbindungen zu Hans Harmsen und zum Centralausschuss der Inneren Mission zu nennen. Institutioneller Ausdruck ist das Archiv für Bevölkerungswissenschaften, das u. a. aus der protestantischen Sittlichkeitsbewegung hervorging. Drittens ist die Sozialforschungsstelle der Universität Dortmund mit Sitz in Münster zu nennen. Pfeil wurde hier 1952 wissenschaftliche Mitarbeiterin und stellvertretende Abteilungsleiterin.801 Gerade das Dortmunder Sozialforschungsinstitut, von dem maßgebliche Impulse zur Durchsetzung der empirischen Sozialforschung ausgingen, verkörpert im hohen Maße personelle Kontinuitäten zwischen der NS-Soziologie und der Nachkriegssoziologie.802 Aus der Dortmunder Sozialforschungsstelle, deshalb ironisch als „Dortmunder Waschanlage“ bezeichnet wird,803 rekrutierten die Akteure des Sozialen Protestantismus wiederum ihre soziologische und wirtschaftswissenschaftliche Expertise, wie die Beispiele Pfeil, Wilhelm Brepohl, Dietrich von Oppen und Gerhard Wurzbacher, aber auch die Ökonomen Herbert Giersch und Gerhard Weisser beweisen.804 796 797 798 799 800 801 802 803 804

Ebd. Pfeil, Art. Vertriebenenprobleme. In: ESL 1954, 1085. Ebd. Pfeil, Art. Großstadt. In: ESL 1954, 465. Schließlich grenzte sie sich explizit von einer „von der Biologie beeinflussten Soziologie“ und vom „Kulturpessimismus“ ab. Zu ihrer Auseinandersetzung mit der Flüchtlingssiedlung siehe oben 143–151. Zur Bedeutung der Arbeitsgruppe „Wirtschaft“ siehe Hoppe, Netzwerk, 225 f. Personell stand das ESL mit dem Sozialethischen Ausschuss der Rheinischen Landeskirche in Verbindung. Hierzu ebd., 218–221. Schnitzler, Pfeil, 343. Adamski, Ärzte, 128. Zur Bedeutung für die empirische Sozialforschung: Weischer, Unternehmen, 63–74. Der Begriff „Waschanlage“ nach Ahlheim, Oppen, 311. Vgl. v. a. unten 253–260 und 278–286.

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Wilhelm Brepohl, Dietrich von Oppen und Gerhard Wurzbacher Auch die drei Soziologen Wilhelm Brepohl, Dietrich von Oppen und Gerhard Wurzbacher waren während der NS-Zeit als Wissenschaftler tätig und bewegten sich nach 1945 in protestantischen Netzwerken und Debattenräumen.805 Der Volkstumsforscher und Soziologe Brepohl entstammte einem protestantischen Milieu, strebte zeitweilig eine berufliche Tätigkeit „im Umfeld des Protestantismus und im Bereich der Missionsarbeit“806 an und bewegte sich auch nach 1945 in protestantischen Kommunikationszusammenhängen. Seine Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff entwickelte er, wie gezeigt, in der soziologischen Zeitschrift „Soziale Welt“, im ESL und der „ZEE“, die als Flaggschiff des intellektuellen Protestantismus gelten kann.807 Diese Überlegungen sind zwar nicht direkt im Zusammenhang mit der Vertriebenenfrage entstanden, wurden aber innerhalb der kirchlichen Vertriebenenarbeit rezipiert, so nachweislich von Friedrich Spiegel-Schmidt oder Herbert Girgensohn.808 Der Konnex zur Vertriebenenproblematik lässt sich auf zweifache Weise herstellen: Zum einen sind seine Erörterungen zum Heimatbegriff im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der westdeutschen industrialisierten Gesellschaft am Beispiel des Ruhrgebietes zu verstehen. Diese Überlegungen lassen sich nicht zuletzt als Auseinandersetzung mit der Heimat- oder Integrationsfähigkeit moderner Industriegesellschaften begreifen; ein Thema, das zumindest in der Wahrnehmung der Zeitgenossen für die angeblich agrarisch geprägten Vertriebenen von besonderer Relevanz war.809 Zum zweiten sind seine Auseinandersetzungen mit dem Heimatbegriff im Kontext seiner Untersuchungen zur Assimilation unterschiedlicher, aus Ost und West stammender Volksgruppen zu verstehen, aus denen nach Brepohl ein „Ruhrvolk“ entstanden sei. Nicht zuletzt ließ sich der Zustrom der 805 Vgl. oben 102–112. 806 Goch, Art. Brepohl, 81. Hier heißt es über Brepohl: „Dem Gedanken eines protestantisch und national orientierten Herkunftsmilieus blieb er ein Leben lang verbunden.“ 807 Brepohl, Heimat als Beziehungsfeld, 12–22; Brepohl, Heimat und Selbstentfremdung. Zeitgleich erschien ein Artikel in der „ZEE“ ein theologischer Artikel zur Heimat. Vgl. Walther, Problem der Heimat; Brepohl, Art. Heimat. In: ESL 1963, 559–561. Zur „ZEE“ siehe Reitmayer, Elite, 163. Zu Brepohl siehe oben 143–151. 808 Girgensohn, Recht auf Heimat als seelsorgerliches Problem, 197; Spiegel-Schmidt, Frage der Heimat, 178; und Thesenentwurf zur Frage des deutschen Ostens im Schulunterricht für die Religionspädagogische Tagung am 30. 8. 1954 (EZA Berlin 17/571). Gerade dieser Entwurf zeigt allerdings auch, dass Brepohls Theorie nur fragmentarisch rezipiert wurde. So vor allem der Hinweis auf die existenzielle Bedeutung der Heimat für den Menschen und die existenzielle Bedeutung, die das Heimatproblem für die Gegenwart darstelle, jedoch wurde der Kern seines Heimatverständnisses, das auf die subjektivistische und soziologische Konstruiertheit der Heimat verwies, nicht wahrgenommen. Eine Besprechungshilfe der rheinischen Landeskirche weist zumindest Analogien auf. Vgl. Vertraulicher Entwurf eines Wortes zur Frage des Rechtes auf Heimat vom Okt. 1960 (BArch Koblenz B 150/2334, 2/2). 809 Vgl. oben 154–166.

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Vertriebenen in die länger anhaltenden, industrialisierungsbedingten OstWest-Wanderungen einordnen, eine Denk- und Deutungsfigur, die zur Beschreibung und Verstehbarkeit der Vertriebenenproblematik häufig gebraucht wurde.810 Brepohl, der bereits 1933 in die NSDAP eingetreten war,811 entstammte einer soziologischen Richtung, die sich für Volk, Volkstum oder Volkskunde interessierte. Brepohls während der 1920er und 30er Jahre entstandenen Arbeiten stehen in deutlicher Kontinuität zu seinen nach 1945 entstandenen Arbeiten, die sich mit den Themen Volkstum und Assimilation unter den Bedingungen der Industrialisierung im Ruhrgebiet befassten. In seinen Studien zur Zuwanderung von Polen ins Ruhrgebiet suchte er die These zu beweisen, dass sich ein neuer „Gauschlag des Ruhrgebietes“ gebildet habe.812 Hier ist eine rassistische Abwertung östlicher gegenüber westlichen Volksgruppen zu beobachten.813 Bei allen biologistisch aufgeladenen Bemerkungen über die drohende „Verostdeutschung“ bewertete er den „Aufbau eines Ruhrvolkes“ insgesamt positiv, auch deswegen, weil das Ruhrgebiet trotz aller Überfremdung westfälisch geblieben sei: Mit der „biologischen Verostdeutschung“ sei nämlich eine „kulturelle Verwestdeutschung“ einhergegangen.814 Andererseits zog Brepohl eine Assimilation von östlichen und westlichen Völkern überhaupt als Möglichkeit in Betracht, auch wenn er sich rassistischer Diffamierungen bediente.815 Dennoch bewerteten die nationalsozialistischen Herrschaftsträger Brepohls Auseinandersetzung mit Volk und Volkstum als inkompatibel mit der nationalsozialistischen Ideologie.816 In der Konsequenz wurde 1942 die von ihm begründete „Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet“ geschlossen, die von ihrer Programmatik und ihren Intentionen her vollkommen auf die Bedürfnisse der billige Arbeitskräfte suchenden Wirtschaft einerseits, auf die Rassen- und Expansionspolitik des NS andererseits zugeschnitten war.817

Auch nach der Schließung der Forschungsstelle stellte Brepohl seine Expertise dem NS-Regime zur Verfügung, und zwar als

810 Vgl. oben 102–112. 811 Goch, Art. Brepohl, 82. 812 Klingemann, Soziologie, 317. Seine Arbeiten lassen zumindest einen empirischen Anspruch erkennen, da er Fragebögen erstellte und statistische Erhebungen durchführen ließ. Hierzu Adamski, Kulturraumforschung, 3–8. v. a. 4. 813 Vgl. oben 102–112. 814 Ebd., 13. So seien die Polen für einfache Tätigkeiten, die westfälischen Gruppen für Führungsaufgaben berufen. 815 Adamski, Kulturraumforschung, 13. 816 Klingemann, Soziologie, 317 f. Nach Klingemann habe seine Forschungsstelle keine Unterstützung durch NS-Stellen erhalten. 817 Ebd., 317. Zur Forschungsstelle: Dyk/Schauer, Soziologie, 95 f. Zitat nach Weyer, Forschungsstelle, 139.

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Volkstumssachverständiger der Wehrmacht in Nordfrankreich, wo er an der rassischen Bewertung und Überprüfung der Abstammung der Aufnahme in die deutsche Volksliste mitwirkte.818

Die „Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet“ wurde nach 1945 in die Dortmunder Sozialforschungsstelle integriert und stellte, so der Gründungsdirektor Otto Neuloh, diese „auf eine etwas stabilere Grundlage.“819 Auf Brepohl ging die These zurück, dass das Ruhrgebiet ein Schmelztiegel sei,820 in welchem sich die osteuropäischen und westdeutsch-westfälischen Volksgruppen unter den Bedingungen der Industrialisierung gegenseitig assimilierten – ein Gedanke, der auch von vielen Flüchtlingssoziologen, beispielsweise von Eugen Lemberg, im Hinblick auf die Vertriebenenproblematik übernommen und aktualisiert wurde.821 Brepohls Vorstellung eines Schmelztiegels war gewissermaßen Vorbild und Referenzwerk für solche Integrationsvorstellungen, die die Verschmelzung von Vertriebenen und Einheimischen zu einem „neuen Volk“ oder eine Volkwerdung postulierten.822 Dabei blieb er seinen biologistischen Denk- und Beschreibungskategorien auch nach 1945 im Wesentlichen treu: Nach Adamski kreisten Brepohls Kernaussagen in seiner 1948 veröffentlichten Studie um Begriffe wie ,Umstammung‘ (Brepohl 1948, 165) oder ,Umvolkung und Versippung‘ (171) sowie Unterscheidungen zwischen dem ,Herrentum‘ (203) und den ,Minderwertigen‘ (183).823

Zudem glaubte Brepohl auch nach 1945 eine „führende Rolle der ,Maßgebenden des rheinisch-westfälischen Typs‘ (161) und der ,Einpassung der Ostmenschen‘ (189) im sogenannten Ruhrvolk“ zu beobachten, „die Brepohl bereits in seinen Abhandlungen im ,Dritten Reich‘ beschrieben bzw. prognostiziert hatte.“824 So stellt Adamski fest: „Der wissenschaftliche Fokus blieb konkret auf ,volkstümliche‘ Anpassungsprozesse an die rheinisch-westfäli-

818 Goch, Art. Brepohl, 83. Klingemann erwähnt allerdings nicht, dass die Forschungsstelle erst 1942 geschlossen wurde. Zudem erwähnt Klingemann zwar, dass Brepohl 1942 zur Wehrmacht eingezogen wurde, aber er lässt unerwähnt, dass Brepohl als „Volkstumssachverständiger der Wehrmacht“ der nationalsozialistischen Herrschaft seine Expertise weiterhin zur Verfügung stellte (Klingemann, Soziologie, 317). 819 Zitiert nach ebd. Für Klingemann basierte die Dortmunder Sozialforschungsstelle ganz wesentlich auf Brepohls Forschungsstelle. Siehe ebd., 20. 820 Adamski, Kulturraumforschung, 14. Die These des Schmelztiegels vertrat er in seinem 1948 erschienen Buch „Aufbau des Ruhrvolkes“. Die Vorarbeiten hierzu entstanden in der nationalsozialistischen Zeit. Vgl. Klingemann, Soziologie, 317. Insgesamt siehe oben 102–112. 821 Vgl. z. B. Lemberg, Entstehung. 822 Z. B. Ebd. Später: Heering, Schmelztiegel, 197 f. 823 Seine 1948 erschienene Studie „Der Aufbau des Ruhrvolkes“ verstand Brepohl explizit als Ergebnis seiner 1942 geschlossenen „Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet“. So jedenfalls Adamski, Kulturraumforschung, 15. 824 Ebd.

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sche Industriegesellschaft gerichtet.“825 In seinen Überlegungen zum Heimatbegriff griff er allerdings sehr viel weniger auf biologistische Beschreibungsfiguren zurück.826 Bei allen völkisch-biologistisch-nationalsozialistischen Anklängen bleibe, so jedenfalls die Deutung des Soziologen Jens Adamski, die innovative Leistung Brepohls, dass er in der auf die bäuerliche Gesellschaft fokussierten Volkskunde die industrielle Kulturraumforschung etablierte habe, wenn ihm auch für die Sozialforschung der 1950er Jahre insgesamt nur eine begrenzte wissenschaftliche Innovationsfähigkeit zukomme.827 Zugleich habe Brepohl zur Aufwertung des industriell geprägten Ruhrgebietes beigetragen, wobei er „Heimat“ als Integrationsfaktor erachtete.828 Mit seinen Studien zur Industriebevölkerung leistete er jedenfalls einen Beitrag zur Überwindung des zumindest im bürgerlichen Sinne als nicht identifikationsfähig geltenden Images der Ruhrregion, das auf den vormals vorhandenen umwelt- und bildungspolitischen Defiziten des als ,Kohlenpott‘ titulierten montanindustriellen Ballungsraums beruhte […].829

Schließlich seien die Soziologen Dietrich von Oppen und Gerhard Wurzbacher erwähnt, die ebenso wie Pfeil und Brepohl Mitarbeiter der Dortmunder Sozialforschungsstelle waren. Von Oppen und Wurzbacher publizierten in der „ZEE“ und in der Zeitschrift „Der Remter“; außerdem hielten sie Referate auf einer Tagung des OKKs.830 Von Oppen war zwar nicht hauptsächlich mit der Vertriebenenproblematik beschäftigt, führte jedoch im Rahmen seiner Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Dortmunder Sozialforschungsstelle eine Studie zur Integration der Ostvertriebenen in einer Zechenstadt durch.831 1960 wurde der Soziologe, der auch einige Semester Theologie studiert hatte, auf den Lehrstuhl für Sozialethik an der evangelischen Fakultät der Universität Marburg,832 d. h. als habilitierter Soziologe auf einen theologischen Lehrstuhl berufen. Von Oppens Beschäftigung mit der Vertriebenenproblematik in protestantischen Kommunikationszusammenhängen ist zwar insgesamt weniger umfassend, allerdings ist darüber hinaus eine umfangreiche Aktivität in protestantischen Kommunikationszusammenhängen zu verzeichnen, so auf Evangelischen Akademietagungen oder in der „ZEE“833. Für seinen Aufsatz „Der Vertriebene in der Großstadt“834 wurde von Oppen gezielt angefragt.835 825 826 827 828 829 830

Ebd. Ebd., 14 f. Ebd., 16. Zu Brepohls Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff siehe oben 166–171. Vgl. oben 166–171. Adamski, Kulturraumforschung, 17. Zum Heimatbegriff vgl. ebd., 14 f. Oppen, Vertriebenen; ders., Verantwortliche Gemeinde, 89–98; Zwischenbericht über die Ostkirchentagung in Willingen, 4.–7. 10. 1954 (EZA Berlin 17/572). 831 Oppen, Eingliederung. 832 Keil, Nachruf, 145 f. 833 Dietrich von Oppen hatte sich mit der Mobilisierung der Gesellschaft in der „ZEE“ ausein-

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Dietrich von Oppen, der während des NS an einem von Wurzbacher geleiteten Ausbildungslager teilgenommen hatte, verfasste seine Dissertation zum Thema „Die Umvolkung in Westpreußen von der Reichsgründung zum Weltkriege“836. Allein dem Begriff „Umvolkung“ kam eine große Bedeutung im völkischen Denken zu. Seine Dissertation wurde erst 1955 „unter Weglassung kompromittierender Stellen“ – Klingemann nennt Formulierungen wie „aus den Ostprovinzen verjudet das Reich“ – und „ohne Angabe des Entstehungskontextes“ mit dem unverdächtigeren Titel „Deutsche, Polen und Kaschuben in Westpreußen 1871–1914“ veröffentlicht.837 Seine in den 1940er Jahren entstandenen Untersuchungen lassen sich nicht zuletzt als Legitimation oder als Handlungsaufforderung lesen, der beobachteten Entwicklung des „Polentums“ entgegenzuwirken und die eigenen Bemühungen im „Volkstumskampf“ zu verstärken. Letztlich sind diese Arbeiten im Kontext einer Tendenz zu sehen, die Soziologie bzw. die soziologische Teildisziplin der Raumforschung in die von Heinrich Himmler angestrebte Germanisierungspolitik einzubetten. Ziel war „die Besiedlung der Ostgebiete durch bäuerliche Kolonisation aus dem Altreich,“ wofür die soziologische Expertise notwendig sei. Dabei ging es nicht nur darum, die Untersuchungen so anzusetzen, daß sie auf lange Sicht die soziologisch bedeutsamen Tatsachen für die Beurteilung der Gesamtstruktur der betreffenden Gebiete hinsichtlich vor allem der bäuerlichen Verhältnisse darbieten.838

Die Besetzung Osteuropas rechtfertigte von Oppen im Rückblick ganz explizit, indem er die Selbstverständlichkeit der Besetzung behauptete, die eine weitere Begründung offenbar obsolet mache: „Das darf und muß im Jahre 1942 offen ausgesprochen werden; denn heute brauchen wir nicht mehr gegen die Polen ein Anrecht auf diesen Raum zu begründen.“839 In diesem Zusammenhang wurde auch zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und allen infrage kommenden Stellen von Partei und Staat aufgerufen.840 Für von Oppens Schüler Klaus Ahlheim handelte es sich bei den rassistisch-biologistischen, die NS-Expansion legitimierenden Passagen allerdings nicht

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andergesetzt. So thematisierte von Oppen die Gemeinde unter den Bedingungen der mobilen Welt. Vgl. Oppen, Strukturfragen; ders., Auftrag, 305 f. Zwischenbericht über die Ostkirchentagung in Willingen, 4.–7. 10. 1954 (EZA Berlin 17/572). Schreiben von Dietrich von Oppen an Friedrich Spiegel-Schmidt vom 11. 5. 1954 (EZA Berlin 17/570). Klingemann, Soziologie, 201. Vgl. auch Oppen, Umvolkung. Zu von Oppen auch Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 66 f. Klingemann, Soziologie, 102. Die antisemitischen Passagen, die Oppen nach 1945 verschwiegen hatte, wurden in den 1960er Jahren aufgedeckt. Dazu vor allem: Ahlheim, Leben; ders., Oppen, 311–323. So ein Aufruf in der Zeitschrift „Raumforschung und Raumordnung“. Zit. nach Klingemann, Soziologie, 102. Ebd., 101. Ebd., 102.

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bloß als „Zugeständnis an den zeitgemäßen Ungeist“, sondern sie lagen „im statistischen Kern dieser Arbeit selbst begründet.“841 Ganz ähnlich argumentierte Gerhard Wurzbacher, der neben seiner Forschungstätigkeit als Geschichtslehrer an Adolf-Hitler-Schulen und an den NSOrdensburgen Sonthofen und Vogelsang unterrichtete.842 Der Soziologe machte sich in seiner Dissertation „Die Entwicklung der Sozialstruktur des Kreises Flatow von 1773 bis 1937 und die Auswirkungen auf die völkische Zusammensetzung der Bevölkerung“ die Prämissen der NS-Ideologie unmittelbar zu eigen, indem er davon ausging, dass der „Volkstumskampf entscheidend von den biologischen Kräften der Volkstümer bestimmt wird.“843 In seiner von Gunther Ipsen betreuten und von Theodor Schieder begutachteten Dissertation verfolgte er die Fragestellung, ob die Verschiebungen im völkischen Verhältnis ,durch Unterwanderung durch eine anspruchslose Arbeiterschicht oder auf dem Wege einer Überlagerung durch eine hochstehende Leistungsschicht‘ erfolgten.844

Unter der Prämisse des Völkerkampfes stellte er die wachsende Stärke der Polen im Völkerkampf heraus.845 Klingemann urteilt über diese Arbeit, dass es sich dabei durchaus um eine „sozialwissenschaftliche Studie“ in „ideologiekonformer Präsentation“ handelte, denn Wurzbacher habe soziologische Gründe wie den „Geburtenrückgang deutscher Frauen“, die „breite Lücke im Altersaufbau und der Arbeitsordnung“ und die Abwanderung als Grund dafür angeführt, dass das „Deutschtum“ gegenüber dem „Polentum“ geschwächt erscheine.846 Das Ergebnis dieser sozialen Prozesse war für Wurzbacher eine biologische Überlegenheit der Polen.847 2.6.4 Max Hildebert Boehm, der Ostkirchenausschuss und das Hilfswerk Auch der aus der völkischen Bewegung stammende Max Hildebert Boehm, dessen völkische Vorstellungen und dessen Rolle im NS bereits dargestellt wurde, unterhielt bereits während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik Verbindungen zu protestantischen Akteuren.848 Die „landsmannschaft841 842 843 844 845 846 847 848

Hier nach Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 67; und Ahlheim, Leben, 51. Ebd. FN 176. Zu seiner Vortragstätigkeit vor OKK und OKA siehe oben 154–166. Zitiert nach Klingemann, Soziologie, 100. Ebd; und Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 66. Klingemann, Soziologie, 100. Ebd., 100 f. Ebd., 101. So mit den beiden führenden Theologen Reinhold Seeberg und Adolf Harnack. Siehe Prehn, Boehm, 62. Zu Boehms völkischem, organologischem Verständnis von „Volk“, das an seine „volksdeutsche Arbeit“ in den 1920er und 30er Jahre anknüpfte, siehe oben 102–112. Auch seine einschlägige Vorgeschichte in der völkischen Bewegung und im NS kam bereits zur Sprache. Hier interessieren Boehms protestantische Netzwerke, seine Interaktionen mit pro-

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liche Verbundenheit“ mit den beiden berühmten Theologenfamilien Harnack und Seeberg, die beide aus dem Baltikum stammten, war für Boehm die „Eingangspforte“ in das „Berliner kulturprotestantische Milieu“, in dem er seine „vorläufige geistige Heimat“ und das „Zentrum seines gesellschaftlichen Umgangs“ erblickte.849 Nach dem Kriegsende und dem Verlust seiner Professur geriet Boehm in große finanzielle Schwierigkeiten.850 In dieser biografisch schwierigen Situation reaktivierte er seine protestantischen Netzwerke, um ein Auskommen in kirchlichen Kontexten zu finden. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit Publikationstätigkeiten in der Zeitschrift „Christ und Welt“ und durch Vorträge im OKA, im Hilfswerk und in der Evangelischen Akademie Hermannsburg.851 Die Kirchenkanzlei des Hannoverschen Landeskirche lud den Soziologen 1947 auf die Flüchtlingstagung in Hermannsburg ein und bot ihm eine Mitarbeit in der Hermannsburger Forschungsstelle an, aus der allerdings nichts wurde.852 Auf Vermittlung seines baltendeutschen Landsmannes Herbert Girgensohn trat Boehm mit Hans Asmussen, dem Leiter der Kirchenkanzlei der EKD, in Kontakt, um diesen auf seine schwierige finanzielle Situation aufmerksam zu machen.853 Fast zeitgleich reaktivierte Boehm Kontakte zum OKA, vermutlich ebenfalls durch Girgensohn vermittelt.854 Es sei, so Boehm, nach der Zurückdrängung

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testantischen Akteuren und seine Versuche, seine völkischen Vorstellungen ins Hilfswerk zu transportieren. Prehn, Boehm, 64, 62 f. und 66 f. Das geht auch hervor aus: Schreiben der Kanzlei des Landesbischofs an Max Hildebert Boehm, 26. 9. 1947; Schreiben von Harald von Rautenfeld an Max Hildebert Boehm, 16. 11. 1949; und Schreiben von Harald von Rautenfeld an Max Hildebert Boehm, 6. 3. 1948 (BArch Koblenz 1077/5). Schreiben des Hilfswerks an Max Hildebert Boehm, 12. 12. 1947 und 3. 12. 1947 (BArch Koblenz N 1077/4). Boehm übernahm auf der Hermannsburger Flüchtlingstagung im Oktober 1947 den Vorsitz der Kommission „Der Flüchtling in der Volksordnung.“ Siehe Drittes Gespräch über Flüchtlingsfragen (LKA Hannover L 3 III Nr. 302). Seine vor dem OKA gehaltenen Vorträge wurden bereits auf oben 102–121 analysiert. Schreiben der Kanzlei des Landesbischofs, 26. 9. 1947. In einem weiteren Schreiben hieß es, dass sich der Landesbischof Lilje gerne persönlich mit Boehm unterhalten würde; zudem wurde Boehm zur Aussprache in „kleinem Kreis“ eingeladen (Schreiben der Kanzlei des Landesbischofs an Boehm vom 20. 3. 1948, BArch Koblenz N 1077/5). Der Hinweis auf „gewisse Mittel“ für die Hermannsburger Forschungsarbeit ist insofern überraschend, als die finanzielle Situation der Forschungsstelle angespannt war. Hierzu auch Teuchert, Anspruch. Schreiben von Max Hildebert Boehm an Herbert Girgensohn, 29. 9. 1949 (BArch Koblenz N 1077/3). Durch die Vermittlung Girgensohns gelangte die Denkschrift an den Präsidenten der Kirchenkanzlei. Siehe Schreiben von Max Hildebert Boehm an Werner Otto Hentig, 15. 12. 1947 (BArch Koblenz N 1077/4). Schreiben von Max Hildebert Boehm an Hans Asmussen vom 26. 1. 1946 (BArch Koblenz N 1077/2). Asmussen versprach, sich für die Finanzierung eines Vortrags von Boehm durch einen Privatfonds einzusetzen. Siehe Schreiben von Hans Asmussen an Eugen Girgensohn, 6. 2. 1947 (BArch Koblenz N 1077/3). Möglicherweise war wiederum Girgensohn der Kontaktmann. Zumindest bat Boehm Girgensohn, dem er sich „landsmannschaftlich verbunden“ fühlte, darum, diesen Forschungs-

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der Auslandskirchen ins Reich „nur natürlich gewesen“, „sich dem Ostkirchenausschuss zur Verfügung zu stellen“ und „Fühlung mit meinem Landsmann Girgensohn“ aufzunehmen.855 Im OKA habe er Vorträge gehalten, „die die Aufmerksamkeit des Hilfswerks erregten.“856 Primär erhoffte sich Boehm durch seine Tätigkeit „eine kleine Vergütung […] von Fall zu Fall.“857 Zwei Jahre später äußerte sich Boehm deutlich selbstbewusster: Er werde die wichtige Frage „Kirche und Volkstum“ bald angehen, sobald die „äußeren Rahmenbedingungen stimmten: […] In Gestalt eines anständig dotierten kirchlichen Forschungsauftrages.“858 Das Hilfswerk gewährte ihm ein sechsmonatiges Stipendium für die Erarbeitung einer Denkschrift zur Vorbereitung der anstehenden Vollversammlung des Ökumenischen Weltkirchenrats in Amsterdam.859 Diese in säkularen und kirchlichen Medien beachtete Tagung sollte für die Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik deshalb eine besondere Bedeutung gewinnen, weil die deutsche Vertriebenenproblematik erstmals vor einer internationalen Öffentlichkeit thematisiert wurde. Daher wurden große Hoffnungen in diese Tagung gesetzt, die „Diskriminierung der deutschen Flüchtlinge“ zu überwinden und die Vertriebenenfrage ins Bewusstsein der internationalen Öffentlichkeit zu rufen.860 Die ökumenische Vollversammlung war demnach auch für Boehm ein willkommener Anlass, der Theologie Karl Barths etwas zu entgegnen und die Themen Volk und Volkstum auf die Agenda zu setzen. In seinem Schreiben an Asmussen wies Boehm darauf hin, dass er sich intensiv „mit einer evangelischen Neufundierung des Volkstumsgedanken[s]“ beschäftige.861 Dabei positionierte sich der Soziologe klar kirchenpolitisch und theologisch gegen die für Boehm dominante „barthianische Theologie“, die „volklos“ sei und der man etwas entgegenstellen müsse, das auch im Ausland wahr- und ernst ge-

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auftrag zu befürworten. Siehe Schreiben von Max Hildebert Boehm an Girgensohn, 1. 12. 1946. Ähnlich auch Schreiben von Max Hildebert Boehm an Oberpfarrer Christian Berg, 15. 1. 1949 (BArch Koblenz N 1077/2). An anderer Stelle war von einer „intimen Verbindung“ die Rede. Siehe Schreiben von Max Hildebert Boehm an Werner Otto Hentig, 22. 10. 1947 (BArch Koblenz N 1077/4). Schreiben von Max Hildebert Boehm an Werner Otto Hentig, 15. 12. 1947 (BArch Koblenz N 1077/4). Ebd. Ebd. Schreiben von Max Hildebert Boehm an Herbert Girgensohn, 29. 9. 1949 (BArch Koblenz N 1077/3). Schreiben von Herbert Krimm an Max Hildebert Boehm, 25. 11. 1947 (BArch Koblenz N 1077/ 4). Das Stipendium wurde wegen der Währungsreform von 500 DM auf 100 DM gekürzt (Schreiben von Max Hildebert Boehm an Collmer, 24. 7. 1948, BArch Koblenz N 1077/2; und Schreiben von Herbert Krimm an Max Hildebert Boehm, 17. 7. 1948, BArch Koblenz N 1077/ 4). Hans Luther und Trotha waren Mitglieder der deutschen Delegation und referierten hier über die Vertriebenenproblematik. Vgl. Luther, Vertriebene; und Trotha, Auflösung. Schreiben von Max Hildebert Boehm an Hans Asmussen, 26. 1. 1946 (BArch Koblenz N 1077/ 2).

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nommen werde.862 Aus Boehms Sicht war die Vernachlässigung der Problematik des Volkstums in der Vertriebenenproblematik gefährlich, weil sonst „bolschewisierungswillige deutsche Nationalisten“ entstünden.863 Er mache sich Sorgen um die Wahrung der legitimen Volkstumswerte im Raum der evangelischen Kirche. […] Heute ist zu beobachten, daß die katholische Kirche […] das Anliegen des Volkstums hochhält, während in der evangelischen Kirche sehr namhafte Kreise die Dinge in beängstigender Weise schleifen lassen und die Kirche in den Geruch einer billigen und unkritischen Verwechslung von Nationalismus und Volkstumspflege zu verfallen droht.864

Obwohl Asmussen Einwände gegenüber einer theologischen Legitimation von Volk und Volkstum hatte,865 wurde Boehms Mitarbeit als „wünschenswert“ angesehen und ihm ein Forschungsauftrag zur Vorbereitung der ökumenischen Konferenz erteilt.866 Er solle „der Konferenz […] doch noch so eine Art Marschroute vorgeben.“867 In seiner Denkschrift vertrat Boehm den Anspruch, eine „soziale und psychologische Analyse der deutschen Flüchtlingsnot“, der „paradigmatische[n] Verhältnisse in den stärker überfremdeten Gebieten“ und „der Rückwirkungen der Massenvertreibung des Ostdeutschtums auf die gesamte Sozialordnung Rumpfdeutschlands“ vorzulegen.868 Boehm wiederholte hier in scharfen Worten seine industrialisierungs- und modernekritischen Gesellschaftsdiagnosen, warnte vor einem im Entstehen begriffenen Klassendualismus wie einem bevorstehenden Klassenkampf und bekräftigte seine Kritik an einer Assimilationspolitik, die die deutsche Stammesstruktur zerstöre und eine „Vermassung“, „Atomisierung“ und „Zersetzung“ bewirke.869 Insgesamt identifizierte Boehm in seinem Gutachten vier verschiedene Zerstörungs- und 862 Ebd. 863 Schreiben von Max Hildebert Boehm an Werner Otto Hentig, 15. 12. 1947 (BArch Koblenz N 1077/4). 864 Ebd. 865 Schreiben von Hans Asmussen an Max Hildebert Boehm, 3. 9. 1946 (BArch Koblenz N 1077/2). 866 Schreiben von Max Hildebert Boehm an Werner Otto Hentig, 15. 12. 1947 (BArch Koblenz N 1077/4). 867 Schreiben von Wolfgang Höpker an Boehm, 30. 12. 1948 (BArch Koblenz N 1077/4). 868 Ders.: Denkschrift Flüchtlingsproblem in ökumenischer Verantwortung (ACSG L neburg AR 12/5). 869 Ebd. Die biologistisch-organologische Beschreibung homogen verstandener sozialer Entitäten wie Volk und Volkstum kam in dieser Denkschrift noch stärker zum Ausdruck als in seinen publizierten Beiträgen, wie die zahlreichen Körpermetaphern verdeutlichen. So warnte er von den Gefahren einer „Bluttransfusion“ oder „Blutsvermischung“ zwischen Ost- und Westdeutschen, die er nicht zuletzt deshalb für problematisch hielt, weil diese eine „Blutsmischung“ sowie „biologische Einkreuzungen“ zwischen Ostdeutschen und Slawen vorausgegangen waren, die „ganz Deutschland […] tiefer in den Osten“ rücken könnten und zu befürchten sei, „daß es [das deutsche Volk, FT] dadurch dem Abendland und der westlichen Völkerwelt instinktmäßig entfremdet werden“ könnte (ebd).

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Zersetzungserscheinungen infolge der Vertreibung, nämlich eine Zersetzung der persönlichen Würde, eine Zersetzung der Familie, die nach Boehm „genocidalen Charakter“ trage, die Zerstörung der Heimat und die Erschütterung von Volk und Staat.870 Auf der Basis dieser Problemdiagnose setzte sich Boehm zudem mit Wesen und Aufgabe von Theologie und Kirche auseinander und profilierte spezifische Vorstellungen davon, wie die Kirche zu handeln habe.871 Die öffentliche Verantwortung der Kirche sollte sich auf traditionelle Kernbereiche wie Diakonie, Nothilfe und missionarische Verkündigung beschränken und auf eine politische Betätigung verzichten.872 Dies galt insbesondere für den Lastenausgleich, der nach Boehm keine Befriedigung bringe und bloß die „klassenkämpferischen Leidenschaften“ aufputsche.873 Obwohl Boehm ein Integrationskonzept vertrat, das gerade auf Erhalt von Stamm, Stand und Volkstum setzte, erkannte er das Streben der Landeskirchen nach Einheit prinzipiell an und plädierte für einen „Mittelweg zwischen Autonomie der Flüchtlingsgemeinden“ und der „Integrität der Landeskirche“, den er in einem „elastischen landsmannschaftlichen Zusammenschluss im Rahmen der Kirche“ verwirklicht sah.874 Andererseits kritisierte er in ebenso scharfen Worten die Assimilationspolitik der Landeskirchen, die er auf eine „seltsame Einheitsfront von partikularistischem Landeskirchentum“, „Kreise der Besatzungsmächte“ und „pazifistisch gestimmten Exponenten auswärtiger Kirchen“ zurückführte.875 Sofern separate Gottesdienste nicht politisch missbraucht würden, „kann die Kirche unmöglich […] partikulare Zusammenschlüsse auf Grund gewisser Herkunft einfach unterbinden.“876 Schließlich setzte sich Boehm mit dem theologischen Deutungsrepertoire auseinander und lehnte verschiedene theologische Deutungsfiguren explizit ab. So kritisierte er die Deutung eines „Strafgerichtes Gottes“ und die daraus resultierenden „fragwürdigen Schulddebatten“,877 was als Seitenhieb gegen die bruderrätliche Theologie zu verstehen war, die das Erbe der Bekennenden Kirche für sich beanspruchte und die Schuldfrage immer wieder thematisierte.878 Auch das weit verbreitete theologische Deutungsmuster der „Vertriebenen als Spiegelbild menschlicher Pilgrimschaft“ lehnte er als idealisierend ab.879 Insgesamt profilierte Boehm in seiner Denkschrift durchaus spezifische Integrationsvorstellungen, Gesellschaftsdiagnosen und Auffas870 871 872 873 874 875 876 877 878 879

Ebd. Ebd. Ebd. Der Lastenausgleich trage nach Boehm zur Verhärtung bei und bewirke eine Aufputschung „klassenkämpferischer Leidenschaften“ (ders., Kirche, 31). Ebd. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses Zugeständnis strategischer Natur war. Ebd. Ebd. Ebd. Z. B. Greschat, Christenheit, 131–148. Denkschrift Flüchtlingsproblem in ökumenischer Verantwortung (ACSG Lüneburg AR 12/5).

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sungen, die an seinen „mystizistischen Volksbegriff“880 aus der Weimarer und der nationalsozialistischen Zeit anknüpften. Neben dem Versuch, die innerkirchliche Integrationspolitik in seinem völkischen Sinne mitzugestalten, erblickte er in der Ökumene die Chance, das Thema Volk und Volkstum „von einer deutschen Schicksalsposition“ aus auf die Agenda zu setzen und auf die aus seiner Sicht „verheerenden Folgen“ der Vertreibung für das deutsche Volk aufmerksam zu machen.881 Nachdem Boehm die Denkschrift eingesandt hatte, hörte er laut eigener Auskunft nie wieder etwas von ihr.882 Die Hilfswerkleitung ging auf Distanz und verweigerte, zur Enttäuschung Boehms, zunächst eine ursprünglich geplante Übersetzung ins Englische.883 Der Generalsekretär des Hilfswerks, Herbert Krimm, kritisierte dabei vor allem Boehms Empfehlung für die Gründung von Landsmannschaften im innerkirchlichen Raum. Zwar erachtete auch Krimm die Pflege der heimatlichen Traditionen und Bindungen aus seelsorgerlichen Gründen für notwendig, jedoch stellte er dem das Postulat der „Einheit des Bekenntnisses und die Idee eines organischen Zusammenhangs aller Glieder im Gefüge des grösseren [sic] Organismus“ gegenüber, der „mit dem Urbild, nämlich dem Organismus des Corpus Christi“ im Zusammenhang stünde.884 Im Vorfeld einer zweiten ökumenischen Konferenz, die 1949 in Hamburg stattfand und die sich ausschließlich mit der Vertriebenenfrage befasste, verstärkten sich die Diskrepanzen.885 Offenbar waren es auch die unterschiedlichen Bewertungen von Volk und Volkstum, die die Diskrepanzen zwischen Hilfswerk und Boehm hervorriefen. Boehm kritisierte eine Denkschrift von Elfan Rees, Leiter der Flüchtlingsabteilung des Ökumenischen Rates, dafür, dass diese Gemeinschaft nicht vom Volk her denke. Eine zugleich angekündigte Glosse verstand er explizit als Gegenkonzept zum Gesellschaftsverständnis der Ökumene.886 Auf Veranlassung von Ulrich Scheuner, Kirchenjurist und Mitglied in der sogenannten Assenheimer Außenstelle des Hilfswerks, wurde Boehm um eine Umarbeitung eines Aufsatzes 880 So die Interpretation von Klingemann, Soziologie, 311. 881 Schreiben von Max Hildebert Boehm an Werner Otto Hentig, 17. 1. 1948 (BArch Koblenz N 1077/4). 882 Schreiben von Max Hildebert Boehm an Werner Otto Hentig, 15. 12. 1947 (BArch Koblenz N 1077/4). Zu Boehms Klage über die mangelnde Berücksichtigung seiner Arbeit siehe auch Schreiben von Max Hildebert Boehm an Werner Otto Hentig, 13. 3. 1948; und Schreiben von Max Hildebert Boehm an Wolfgang Höpker, 3. 1. 1949 (BArch Koblenz N 1077/4). 883 Schreiben von Herbert Krimm an Max Hildebert Boehm, 30. 7. 1948. Zu Boehms Enttäuschung siehe Schreiben von Max Hildebert Boehm an Wolfgang Höpker, 3. 1. 1949 (BArch Koblenz N 1077/4). 884 Schreiben von Herbert Krimm an Max Hildebert Boehm, 30. 7. 1948 (BArch Koblenz N 1077/ 4). 885 Ders.: Denkschrift Flüchtlingsproblem in ökumenischer Verantwortung (ACSG L neburg AR 12/5). 886 Schreiben von Max Hildebert Boehm an Wolfgang Höpker, 3. 1. 1949 (BArch Koblenz N 1077/ 4).

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gebeten, der für die vom Hilfswerk herausgegebene Flüchtlingszeitung „Der Weg“ bestimmt war. Es habe sich ergeben, dass [sic] im Zentralbüro des Hilfswerkes ein bestimmter Kurs auf der Konferenz verfolgt werden soll, der nicht ganz mit Ihrer Darlegung übereinstimmt. […] Der ja auch Ihnen bekannte Prof. Scheuner – der Sie bei dieser Gelegenheit herzlich grüssen lässt – ist ja ständiger wissenschaftlicher Beirat des Hilfswerks […]. Er ,betreut‘ heute nicht zuletzt die Behandlung des Flüchtlingsproblems.887

Im Vorfeld der Tagung könnte nur ein Artikel erscheinen, „der der Initiative des Hilfswerks gleichläuft.“888 Zu dieser Zeit war der finanziell vom Hilfswerk abhängige Boehm889 gegenüber Oberpfarrer Christian Berg im Hilfswerk noch um Konsens bemüht und versuchte, die Diskrepanzen als Missverständnisse zu relativieren.890 Allerdings zeigte sich Boehm nicht dazu bereit, den Volkstumsschutz als „langfristiges Fernziel“ aufzugeben.891 In einem weiteren Artikel habe Boehm das Hilfswerk der „Lauheit“ bezichtigt und den Eindruck erweckt, „dass die evangelische Seite gegenüber der katholischen Flüchtlingshilfe erheblich nachhinke.“892 Eine 1949 für „Christ und Welt“ geplante Artikelserie mit dem Titel „Stammestümer“, die den „Volkstumsaspekt“ im Vorfeld der ökumenischen Konferenz stärken sollte, wurde schließlich abgesagt,893 Boehm daraufhin explizit nicht auf die Konferenz eingeladen und

887 Schreiben von Wolfgang Höpker an Max Hildebert Boehm, 14. 1. 1949 (BArch Koblenz N 1077/4). 888 Ebd. Dies galt auch für einen weiteren Artikel Boehms zum Thema Ostvertriebene und DP,s, der nicht abgedruckt werden könne. 889 Schreiben von Max Hildebert Boehm an Wolfgang Höpker vom 1. 12. 1949 (BArch Koblenz N 1077/4); auch Schreiben von Wolfgang Höpker an Max Hildebert Boehm vom 14. 1. 1949 (BArch Koblenz N 1077/4). 890 Schreiben von Wolfgang Höpker an Max Hildebert Boehm, 14. 1. 1949 (BArch Koblenz N 1077/4). 891 Schreiben von Max Hildebert Boehm an Wolfgang Höpker, 3.2.1949 (BArch Koblenz N 1077/4). 892 Schreiben von Heinz Zahrnt an Max Hildebert Boehm vom 8.2.1949 (BArch Koblenz N 1077/7). 893 Einige Artikel konnten noch erscheinen: Die ostdeutschen Stammestümer. Verdrängte Landsmannschaften in der Westzone / Das neue Gebiet der Aufnahmeräume. In: ChrWelt, 24. 11. 1948, 6 f: Verelendung oder Entwurzelung? Flüchtlingstagung in Hermannsburg. In: ChrWelt, 24. 11. 1948, 6 f.; Ökumenische Flüchtlingskonferenz in Hamburg. In: ChrWelt, 11. 2. 1949, 6 f.; und Das Niemandsland östlich des Rheins. In: ChrWelt, 11. 2. 1949, 3–7. Als Grund für die Absage wurden finanzielle Engpässe angegeben. Siehe Schreiben von Wolfgang Höpker an Max Hildebert Boehm vom 19. 3. 1949 (BArch Koblenz N 1077/4). Dies ist wohl nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Vgl. Gniss, Politiker, 203 f. Allerdings fällt auf, dass „Christ und Welt“ zugleich eine später als Buch veröffentlichte Serie des Publizisten Jürgen Thorwald mit dem Titel „Ostdeutsches Schicksal“ publizierte. Diese Serie, an der Boehm nicht beteiligt war, betonte klar die deutsche Opferperspektive: Es begann an der Weichsel. In: ChrWelt, 24.3.949; Sturm über Ostpreußen. In: ChrWelt, 24.3.949; und Das Grab in der Ostsee. In: ChrWelt, 26. 4. 1949. Zu Thorwalds Buch siehe Oels, Buch. Viele der Chefredakteure aus „Christ und Welt“ und dem „Sonntagsblatt“ hatten bereits in NS-Presseorganen Karriere gemacht. Hierzu Rosenstock, Presse, 213.

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damit defacto ausgeladen.894 Nachdem auch ein weiterer Artikel Boehms über die vertriebenen ostdeutschen Hochschullehrer mit dem Titel „Lebendig begrabene Intelligenz“ abgelehnt wurde – ein Thema, für das sich Boehm besonders engagierte, das von der Redaktion von „Christ und Welt“ jedoch als nicht erfolgversprechend empfunden wurde –, erklärte er 1949 schließlich den Bruch mit der Kirche: Ihr letztes Lebenszeichen war ja wohl Ihr ebenso denkwürdiger wie erschütternder Brief […], in dem Sie sich für meinen Versuch, Klopfzeichen aus dem Grab der lebendig verscharrten Ostintelligenz mangels Publikumssicherheit das Thema vor dem Forum des ,Kioskes‘ als nicht zuständig erklärten. Dieser Bescheid bestärkte mich in dem Entschluß, nunmehr mein dreijähriges Liebeswerben um die zeittypisch vereliqute [sic!] Kirche wegen fehlender Inteamität [sic!] abzustoppen und mich reumütig in die Welt zurückzubegeben in der Hoffnung, unter den Wilden doch bessere Menschen zu finden.895

Explizit völkische Vorstellungen waren gegenüber den internationalen Kirchenvertretern, die während der NS-Zeit Beziehungen zur Bekennenden Kirche unterhalten hatten, schwer vermittelbar. Daneben ist allerdings auch denkbar, dass die Kategorie des Volkstums auch darüber hinaus an gesellschaftlicher und politischer Diskursfähigkeit einbüßte. Die „FAZ“ lehnte einen Artikel Boehms mit dem Titel „Europa der Völker“ mit der Begründung ab, dass es nicht ratsam erscheine, „die Verdienste der deutschen Volkstumspolitik in der Tageszeitung zu rühmen. […] Die Dinge scheinen noch nicht weit genug gediehen.“896 Politiker im In- und Ausland wüssten „die Grenze zwischen dem, was am Volkstum gesund war und dem, was durch NS missbraucht wurde, nicht zu ziehen.“897 Dieses Antwortschreiben drückt grundsätzliche inhaltliche Zustimmung aus bzw. teilte das von Boehm selbst gepflegte, entlastende Narrativ einer Unterscheidung von legitimer Volkstumsarbeit und illegitimer nationalsozialistischer Vereinnahmung, empfahl aber, das Thema Volkstum aus Gründen der politischen Opportunität und der nicht lange zurückliegenden nationalsozialistischen Vergangenheit nicht auf die Agenda zu setzen. In einem rückblickenden, an Theodor Oberländer 894 Schreiben von Hans Christoph von Zahn an Max Hildebert Boehm, 8. 2. 1949; Schreiben von Zahn an Boehm, 13. 8. 1948; und Schreiben Boehm an Zahn, 24. 8. 1948 (BArch Koblenz N 1077/7). 895 Schreiben von Max Hildebert Boehm an Wolfgang Höpker, 1. 12. 1949 (BArch Koblenz N 1077/4). In einem anderen Artikel kritisierte er „Christ und Welt“ scharf und attestierte ihm mangelndes Interesse am „heute aus Feigheit totgeschwiegenen Volkstum“ (Schreiben von Max Hildebert Boehm an Wolfgang Höpker, 18. 4. 1949, BArch Koblenz N 1077/4). Zu Boehms Engagement siehe Prehn, Boehm, 399. Boehm initiierte z. B. den „Notverband Amtsverdrängter Hochschullehrer“. Ob das Argument, dass das Thema „vertriebene ostdeutsche Hochschullehrer“ nicht erfolgversprechend sei, ein vorgeschobenes Argument war, geht aus der hier gesichteten Korrespondenz nicht hervor. Möglich wäre dies allerdings. 896 Schreiben von Max Hildebert Boehm an die FAZ, 25. 2. 1951 (BArch Koblenz N 1077/3). 897 Schreiben der FAZ an Boehm vom 4. 3. 1951 (BArch Koblenz N 1077/3).

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adressierten Schreiben von 1964 sprach Boehm sein Bedauern darüber aus, dass er nach 1945 alle Presseorgane verloren habe.898 Er selbst habe sich kaum noch bemüht, zu Wort zu kommen, denn er wolle nicht „um das Wohlwollen jüngerer und wenig erleuchteter Redakteure ringen“, nachdem ihm vor 1933 die „größten Zeitungen“ offen gestanden hätten.899 Der 1959 zurückgetretene Vertriebenenminister hatte zuvor angekündigt, die „volksdeutsche Arbeit zu rehabilitieren.“900 Die Vertriebenen- und Integrationsproblematik ermöglichte es dem Soziologen und Volkstumspolitiker Boehm, an seine früheren Arbeiten als Erforscher des Grenz- und Auslandsdeutschtums anzuknüpfen. Die Problematik der Assimilation schien auch in der westdeutschen Gesellschaft unter den Bedingungen der Industrialisierung relevant zu bleiben, auch wenn sich die Vertriebenen nicht mehr in „fremdvölkischer Umgebung“ befanden. Gerade der scheinbar neutrale Assimilationsbegriff ist nicht unproblematisch, offenbart er doch eine deutliche Kontinuität zu seinen Forschungen zum „Grenz- und Auslandsdeutschtum“, das – in „fremdvölkischer“ Umgebung – unter besonderem Assimilationsdruck stünde, aber auch besondere Selbstbehauptungskräfte erwiesen habe.901 Der scheinbar wertneutrale Begriff der Assimilation rückte nach 1945 an die Stelle explizit völkischer Begriffe wie beispielsweise dem der „Umvolkung“ und steht demnach paradigmatisch für die „semantischen Umbauarbeiten“ in den deutschen Geisteswissenschaften.902 Neben den basalen materiellen Bedürfnissen der Existenzsicherung bot das Hilfswerk zugleich eine willkommene Möglichkeit, die kirchliche Integrationspolitik mitzugestalten sowie die Kategorien Volk und Volkstum auf die Agenda zu setzen. Sein Plädoyer für die Fortexistenz der Ostkirchen fügt sich in diese Vorstellungen ein. Im Hilfswerk war man gegenüber diesen Plänen allerdings reserviert. Völkische Vorstellungen galten gegenüber der Ökumene, auf deren materielle Hilfe das Hilfswerk angewiesen war, als schwer vermittelbar. Die an die Ökumene adressierten Passagen trugen vermutlich

898 Schreiben von Max Hildebert Boehm an Theodor Oberländer, 20. 10. 1964 (BArch Koblenz N 1077/9). Auch andere völkische Denker mussten einen schleichenden Einflussverlust hinnehmen. Siehe Vordermayer, Bildungsbürgertum, 353–407. 899 Ebd. 900 Ebd. Dabei sollte es auch um „die Problematik und Taktik propagandistischer Einwirkung auf das Ausland“ gehen. Für Boehm bestand das volksdeutsche Problem in der Frage, „wie man die wahren Lebensrechte der Völker auch mit großräumigen Herrschaftskonstruktionen in Einklang bringen kann. Es geht also noch immer um die Eigenständigkeit der Völker neben der Eigenständigkeit mehr oder minder homogener Bevölkerungen.“ 901 Zur Problematik des Assimilationsbegriffs, der in der Volkssoziologie der 1920er und 30er Jahre zur Beschreibung der befürchteten „Umvolkungsprozesse“ und zum Teil als Synonym für den nach 1945 diskreditierten Begriff „Umvolkung“ gebraucht wurde, siehe Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 52 f. Zu Boehm: Ebd., 57. 902 Ebd., 52 f. Im Hinblick auf Boehm spricht auch Prehn von semantischen Umbauarbeiten: Prehn, Boehm, 140.

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nicht unbedingt zu einer positiven Annahme bei.903 Letztlich handelt es sich um eine kurze Phase, in der Boehm für das Hilfswerk arbeitete und seine integrations- und „volkspolitischen“ Vorstellungen auf die Kirche zu übertragen versuchte. Trotz der Diskrepanzen würdigte er 1959 in seinem Aufsatz für die vom Bundesvertriebenenministerium herausgegebene Dokumentation „Die Vertriebenen in Westdeutschland“ die kirchliche Vertriebenenarbeit.904 Die Kirche habe die „ersten Ansätze zur Wiedererrichtung zerstörter Gesellschaftsstrukturen“ geboten und dabei vielfach die Bedeutung einer schützenden und tarnenden Glocke über den zunächst noch verbotenen landsmannschaftlichen und anderen Gruppenbildungen der Vertriebenen gewonnen.905

Die von Boehm angeblich abgelehnte Assimilationspolitik der Landeskirchen erklärte er mit der „Volkstumsfremdheit und der partikularistischen landeskirchlichen Überlieferung des binnendeutschen Protestantismus.“906 Damit griff Boehm auch 1959 auf bekannte und überkommene Denkmuster zurück. 2.6.5 Die Vertriebenenfrage als Thema der Religions- und Kirchensoziologie Zuletzt ist ein Sonderfall der soziologischen Auseinandersetzung mit der Vertriebenenfrage zu nennen. Neben der Flüchtlingssoziologie sind an dieser Stelle auch solche Soziologen und Theologen zu nennen, die sich mit der Vertriebenenproblematik aus einer religionssoziologischen Perspektive befassten.907 Im Mittelpunkt dieser zum Teil empirischen, d. h. umfragebasierten Untersuchungen stand die Frage nach der Kirchlichkeit der Vertriebenen, dem Fortleben religiöser Sitten und der Frage, wie sich das Vertreibungsgeschehen auf das religiöse Leben ausgewirkt habe. Teilweise wurde die Vertriebenenfrage auch mit einer übergreifenden Säkularisierungsdiagnose in Verbindung gebracht. Den Auftakt machte Stella Seeberg mit einer kleineren Studie für den internen Gebrauch, in welcher sie in einem eher simplen methodischen Set903 In seiner Denkschrift sprach er der Ökumene indirekt die Kompetenz ab, sich zur Vertriebenenproblematik zu äußern, denn die „Tiefe der Problematik“ könne von außen schwer durchdrungen werden. Für eine „echte Bewältigung“ sei eine „echte Schicksalssolidarität und Kreuzesträgerschaft mit den Vertriebenen und dem deutschem Volk“ nötig (Ders.: Denkschrift Flüchtlingsproblem in ökumenischer Verantwortung, ACSG L neburg AR 12/5). 904 Boehm, Gruppenbildung 524. 905 Ebd., 525. 906 Ebd., 528. 907 In der Forschungsliteratur werden Religions- und Kirchensoziologie voneinander unterschieden. In den 1960er Jahren habe sich aus der Kirchensoziologie der 1950er Jahre eine methodisch anspruchsvolle Religions- oder Christentumssoziologie entwickelt. Vgl. Ziemann, Suche. In der Selbstbezeichnung der Akteure ist allerdings von „Religionssoziologie“ die Rede. Vgl. Spiegel-Schmidt, Beobachtungen; und Neumann, Religionssoziologie.

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ting anhand von drei Dörfern der Frage nachging, ob die Vertriebenen am kirchlichen Leben partizipierten.908 Der Soziologe Gerhard Neumann veröffentlichte 1957 in der Zeitschrift „Soziale Welt“ einen Aufsatz aus religionssoziologischer Perspektive, in welchem er zu dem Ergebnis kam, dass auf dem sozial exkludierenden Land ein Niedergang der Kirchlichkeit zu beobachten sei, während er der Flüchtlingssiedlung sowie der überwiegend aus Vertriebenen zusammengesetzten Stadtrandsiedlung ein besseres Zeugnis ausstellte. Auch wenn die Vertreibung in Einzelfällen eine kurzfristige religiöse Intensivierung bewirkt habe, sei insgesamt ein starker Einbruch der Religiosität und Kirchlichkeit zu beobachten.909 Der Theologe Friedrich Spiegel-Schmidt verfasste 1955 für das Publikationsorgan der „Europäischen Forschungsgruppe für Flüchtlingsfragen“ einen Aufsatz, den er explizit als religionssoziologischen Beitrag verstanden wissen wollte, obwohl er selbst kein Fachsoziologe war.910 Im Wesentlichen übertrug der Theologe von Oppens Moderne- und Gesellschaftsdeutung auf den religiösen Bereich.911 Aufgrund der Identität von Kirche und Gesellschaft wirkten sich die gesellschaftlichen „Umschichtungsprozesse“ auf Kirche und Religion aus. Im Ergebnis sei eine „Individualisierung des religiösen Lebens“, ein Bedeutungszuwachs des „persönlichen Glaubens“ und ein „neuer Typus des religiösen Menschen“ zu erkennen.912 1959 gab das Bundesvertriebenenministerium einen dreibändigen Sammelband heraus, der die Zielsetzung verfolgte, die Situation der Vertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft, d. h. den Verlauf der Integration wie den Einfluss der Vertriebenen auf die westdeutsche Gesellschaft, aus einer interdisziplinären Perspektive heraus zu erforschen. An dieser Dokumentation, die von einer „Forschungsgruppe Eingliederung“ unter der Leitung des Flüchtlingssoziologen Eugen Lemberg vorbereitet wurde, waren auch protestantische Akteure beteiligt.913 Die Themen Religion, Konfession und Kirche wurden hier ebenfalls thematisiert.914 Während Hermann Maurer 908 Hierauf wurde bereits auf oben 179–193 und in Anm. 747 verwiesen. 909 Vgl. folgende Aufsätze, die darüber Aufschluss geben: Spiegel-Schmidt, Beobachtungen; ders, Wandlungen 89; und Neumann, Religionssoziologie. 910 Spiegel-Schmidt, Beobachtungen. Allerdings relativierte der Theologe den soziologischen Anspruch in seiner Einführung, wenn er den Aufsatz als „Erfahrungsbericht eines Mannes der kirchlichen Praxis“ bezeichnete (ebd., 155). Der Aufsatz basierte auf einem Vortrag auf einer Tagung der „Europäischen Forschungsgruppe für Flüchtlingsfragen“. Die Anregung, die Vertriebenenfrage aus einer religionssoziologischen Perspektive zu behandeln, geht auf Spiegel-Schmidt zurück, der mit diesem Themenvorschlag an die Forschungsgruppe herangetreten war. Vgl. Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an Martin Kornrumpf, 20. 12. 1954 (EZA Berlin 17/626); Schreiben von Else Bohnsack an Friedrich Spiegel-Schmidt, 16. 2. 1955; und Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an Else Bohnsack, 9. 3. 1955 (EZA Berlin 17/ 627). 911 Spiegel-Schmidt, Beobachtungen, 158 f. Zu Oppens Modernedeutung siehe oben 154–166. 912 Ebd., 158. 913 Vgl. vor allem die Beiträge von Boehm und Pfeil. Vgl. Boehm, Gruppenbildung; ders., Verluste; Pfeil, Neugründungen; und Dies., Sesshaftmachung. 914 Vgl. folgende Beiträge: Spiegel-Schmidt, Wandlungen; Menges, Wandel; aus katholischer

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die praktische Arbeit des Hilfswerks zur Darstellung brachte,915 setzte sich Spiegel-Schmidt mit dem Thema „Religiöse Wandlungen im evangelischen Bereich“ auseinander. Der Theologe berief sich auf sein Selbstverständnis als Seelsorger und die daraus erwachsene praktische Anschauung. Denn die „Methoden der empirischen Religionssoziologie“ seien nicht ausreichend, vielmehr bedürfe es der „langen Erfahrung der seelsorgerlichen Arbeit an Vertriebenen.“916 Trotz dieser Relativierung soziologischer Erkenntnisfähigkeit lassen der Aufsatz, an dem auch der Religionssoziologe Gerhard Neumann mitwirkte,917 und seine Vorbereitungen dem Anschein nach einen empirischen Anspruch erkennen. Spiegel-Schmidt forderte Unterlagen des kirchenstatistischen Amtes der EKD und der westdeutschen Landeskirchen, des Statistischen Bundesamtes und weiterer Institute an, ließ sich von Stella Seeberg bei der Erarbeitung von Fragebögen beraten und führte mit Elisabeth Pfeil, Dietrich von Oppen, Eugen Lemberg und Herbert Girgensohn vorbereitende Gespräche oder ließ das Manuskript von ihnen Korrektur lesen.918 Die Hauptthese des Aufsatzes, in welchem Spiegel-Schmidt ausführlich auf die innerkirchliche Integrationsproblematik, die Arbeit des Hilfswerks und die verschiedenen konkreten kirchlichen Handlungsfelder wie Ostpfarrerversorgung und karitative Hilfe einging, war die Wahrnehmung einer weitreichenden Entkirchlichung, die der wirtschaftlichen Konsolidierung folge.919 Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass diese religionssoziologischen Arbeiten zumindest partiell mit dem von Benjamin Ziemann beschriebenen Prozess einer „Versozialwissenschaftlichung“ konvergierten. Ziemann beschreibt mit diesem Begriff den Versuch der katholischen Kirchenleitungen, anlässlich

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Perspektive: Kindermann, Wandlungen. Spiegel-Schmidt wurde von Staatssekretär Nahm mit der Dokumentation beauftragt. Der dafür betriebene Aufwand war nicht gering. SpiegelSchmidt erhielt einen mit 5 500 DM dotierten Forschungsauftrag. außerdem stellte ihm das Ministerium drei Assistenten zur Verfügung. Siehe Schreiben von Peter Paul Nahm an SpiegelSchmidt, 20. 1. 1956; Schreiben von Peter Paul Nahm an Spiegel-Schmidt, 23. 2. 1956; und Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an Gerhard Hultsch, 19. 1. 1956 (EZA Berlin 17/516). Maurer, Hilfswerk. Spiegel-Schmidt, Wandlungen, 89. Offenbar hatte der Religionssoziologe Gerhard Neumann einzelne Passagen verfasst: Schreiben von Dietrich von Oppen an Spiegel-Schmidt, 24. 10. 1956; Schreiben von Gerhard Neumann an Dietrich von Oppen, 7. 11. 1956 (EZA Berlin 17/519). Davon zeugen folgende Schreiben: Schreiben der Kirchenkanzlei der EKD an die dt. evang. Landeskirchen in Westdeutschland, 17. 12. 1955; Schreiben vom evangelischen Siedlungswerk an Spiegel-Schmidt, 17. 1. 1956; Schreiben des Instituts für Demoskopie an Spiegel-Schmidt, 19. 2. 1952, Schreiben von Gerhard Neumann an Elisabeth Pfeil, 19. 1. 1956 und Schreiben von Elisabeth Pfeil an Neumann, 20. 1. 1956 (EZA Berlin 17/516); Schreiben von Herbert Girgensohn an Friedrich Spiegel-Schmidt, 3. 4. 1956 (EZA Berlin 17/517); Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an Dietrich von Oppen, 22. 8. 1956 (EZA Berlin 17/518); Schreiben von Dietrich von Oppen an Friedrich Spiegel-Schmidt, 24. 10. 1956 (EZA Berlin 17/519); Schreiben von Dietrich von Oppen an Friedrich Spiegel-Schmidt, 29. 10. 1956; und Schreiben von Eugen Lemberg an Friedrich Spiegel-Schmidt, 19. 12. 1957 (EZA Berlin 17/520). Spiegel-Schmidt, Wandlungen, 52.

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eines Krisenempfindens soziologische Expertise in den kirchlichen Strukturen zu verankern, um Kirchlichkeit und Frömmigkeit soziologisch zu beschreiben und neue Gemeindekonzepte zu entwickeln.920 2.6.6 Protestantismus, völkisches Denken und Flüchtlingssoziologie Abschließend sind diese materialen Befunde und die oben entfalteten wissenschaftsgeschichtlichen Überlegungen in Beziehung zu setzen. Wenn Klingemann und Schnitzler darauf hinweisen, dass die vermeintlich pseudowissenschaftliche Biologisierung der Soziologie vor allem metaphorischsprachlicher Natur war und dieser Befund nicht als Ausweis pseudowissenschaftlich-völkischer Ideologie gelten kann, so ist die dort intendierte Differenzierung zwischen wissenschaftlicher Praxis, Sprachgebrauch und Denkmustern auch für diesen Untersuchungszusammenhang relevant und stellt ein erklärendes Angebot für das Verhältnis von Protestantismus und Flüchtlingssoziologie nach 1945 zur Verfügung. Zwar übersteigt es die Kompetenz des Verfassers zu beurteilen, ob Statistiken korrekt erstellt wurden. Aber neben der Analyse von Semantiken und Denktraditionen sollten der empirische Anspruch und das wissenschaftliche Selbstverständnis, die sich in den Arbeiten zur Vertriebenenfrage zeigen, zur Kenntnis genommen werden. Auf der sprachlichen Ebene finden sich, so die erste zusammenfassende Beobachtung, bei fast allen Soziologen auch nach 1945 in unterschiedlichem Ausmaß kulturkritische Versatzstücke, die über Schnittmengen zum völkischen Denken verfügen. Dieses Vokabular macht die Arbeiten der Flüchtlingssoziologen allerdings nicht per se zu einer „pseudowissenschaftlichen Volksgemeinschaftssoziologie“, wie Gerhardt in ihrem Beitrag suggeriert. Der Begriff „pseudowissenschaftlich“ selbst ist nicht unproblematisch, weil er unter Umständen ahistorische Rückprojektionen nahelegt, die entscheidende Dimension der wissenschaftlichen Praxis außer Acht lässt und die ausgesprochen komplexe Kontinuitätsfrage ungebührlich vereinfacht. Zumindest dem Anspruch und Selbstverständnis nach legte ein Großteil der Soziologen empirische, d. h. sozialstatistisch fundierte Arbeiten zur Vertriebenenfrage vor, identifizierte anhand sozioökonomischer oder anderer Kriterien Integrationsdefizite, legte den Fokus auf die gleichermaßen affirmativ wie ablehnend beschriebene westdeutsche Industriegesellschaft oder befürwortete eine forcierte Industrialisierung der Gesellschaft, wobei ökonomische, aber 920 Ziemann, Suche. In seiner Monographie geht Ziemann am Beispiel der katholischen Kirche kurz auf die Vertriebenenproblematik ein, vertieft dies allerdings nicht. Der Zuzug von Millionen Vertriebenen und die konfessionelle Durchmischung hätten zur Wahrnehmung einer Krise des katholischen Milieus beigetragen und die Nachfrage nach soziographischen Studien verstärkt. Die Vertriebenenproblematik gerät bei Ziemann als dynamisierender Faktor in den Blick. Vgl. Ziemann, Kirche, 87–89.

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auch kulturelle Gründe ausschlaggebend waren.921 Nicht nur nach 1945, sondern auch vor 1945 hatten einige, jedoch nicht alle der Soziologen empirisch gearbeitet und waren politikberatend tätig. Das gilt neben Elisabeth Pfeil auch für die krass rassistischen und antisemitischen Autoren Wurzbacher, von Oppen und Brepohl, die durchaus empirisch-soziologische Analysen und Beschreibungen vorlegten, aber ihre Forschungen im Kontext eines Völkerkampfes zwischen Deutschen und Polen verstanden wissen wollten. Wissenschaftlich ernstzunehmende empirische Arbeit und völkisches Denken mussten sich folglich nicht widersprechen; völkisches Ordnungsdenken ist umgekehrt nicht gleichzusetzen mit Pseudowissenschaftlichkeit. Eine Anerkennung des empirischen Zugriffs bedeutet allerdings keine Entlastung von Verstrickungen mit dem NS-Regime. Diese sind nur auf einer anderen Ebene zu suchen und bestanden darin, dass die Soziologie dem NS-Regime empirisches Herrschaftswissen zur Verfügung stellte. Dieses entstand zum Teil im Kontext des „Generalplans Ost“ und floss in die Planung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik mit ein. Explizit empfahlen sich Wissenschaftler als Partner der NS-Bürokratie.922 Daneben waren es gerade die Soziologen, die kultur- und modernekritische Kategorien in einem allmählichen Prozess expressis verbis überwanden und sich Mitte der 1950er Jahre für eine Affirmation der modernen Industriegesellschaft aussprachen, was Uta Gerhardt offenbar nicht zur Kenntnis nimmt. Gerade dieser Befund ist erklärungsbedürftig. Die Beobachtung vieler Flüchtlingssoziologen, dass die großstädtisch-industriellen Gesellschafts- und Lebensformen über ein größeres sozioökonomisches und kulturelles Integrationspotential verfügten als die abgeschlossenen traditionellen Dorfgemeinschaften, dürften einen solchen Paradigmenwechsel begünstigt haben. Aber auch die von Helmut Schelsky programmatisch geforderte Entideologisierung der Soziologie und die vorurteilsfreie Hinwendung zur sozialen Wirklichkeit, also auch zur Industriegesellschaft, ist in diesem Kontext zu nennen.923 Der empirisch nachvollziehbare, offensichtliche und wahrnehmbare Befund, dass Großstadt und Industrie über ein größeres sozioökono921 Am Beispiel Pfeil lässt sich eine methodische Reflexion statistischer Probleme nachweisen. Klingemann sieht in Pfeil ein „hervorragendes Beispiel für eine frühe Selbstreflexion nach wie vor aktueller methodologischer Probleme einer empirischen Soziologie mit theoretischem Anspruch.“ Pfeil habe nach Klingemann „weder das ,Analogieverfahren‘, noch das ,deduzierende Vorgehen‘, noch die ‘in eine Grundkonzeption eingefügten Einzelbeobachtungen, verworfen“, wie von Ackermann behauptet (Klingemann, Soziologie, 313 f.). Vgl. Ackermann, Flüchtling, 30. Weiterführend wäre an dieser Stelle die Analyse der Produktionsbedingungen soziologischen Wissens, was im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. Dieses Postulat findet sich bei: Graf/Priemel, Zeitgeschichte, 505. 922 Die lange übliche Rede von der nationalsozialistischen Instrumentalisierung wird infrage gestellt, da diese ein passives Verhalten der Wissenschaftler suggeriert. Pinwinkler spricht stattdessen von einer „Selbstmobilisierung“ (Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 109). 923 Vgl. oben 154–166. Vgl. auch Schelsky, Suche; und Schelsky, Bedeutung, 352–383. An Forschungsliteratur ist zu nennen: Reitmayer, Elite, 20; und Nolte, Ordnung, 225.

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misches und sozialpsychologisches Integrationspotential verfügten, begünstigte den Paradigmenwechsel von der Gemeinschaft zur Gesellschaft. In der Folge fand ein von der US-amerikanischen Wissenschaftspolitik geförderter Aufstieg der empirischen Sozialforschung statt, die sich auch und gerade für industrialisierte Gesellschaftsformen interessierte.924 Klassische Beschreibungsfiguren wie „Vermassung“ und „Atomisierung“, die traditionell jene moderne Industriegesellschaft beschrieben, wurden angesichts des Postulats eines ideologie- und vorurteilsbefreiten Blicks auf die Industriegesellschaft, aber auch angesichts der Erfahrung einer gelingenden Integration in der Großstadt im Laufe der Zeit als inadäquat empfunden. Dieser Paradigmenwechsel bot zudem den Nebeneffekt, dass sich von der eigenen NS-Verstrickung ablenken ließ bzw. eine Beschäftigung mit der Industrie ideologisch unverdächtiger schien.925 Denn die NS-Ideologie hatte an den völkisch-agrarischen Gemeinschaftsdiskurs der Weimarer Republik angeknüpft und die Verherrlichung des ländlichen Bauerntums und der emphatisch beschworenen Gemeinschaft ins Zentrum gestellt, während die Industriegesellschaft kein explizit positiver Bezugspunkt der NS-Ideologie war. Auf diese Weise ließ sich eine Diskontinuität zwischen dem Wirken vor und nach 1945 herstellen und behaupten, was allerdings auch nicht bedeutet, dass nicht auch im NS eine Beschäftigung mit der Industrie möglich gewesen wäre. Sowohl Brepohl als auch Pfeil hatten vor 1945 explizit eine Stadt- oder Industriesoziologie betrieben.926 Anlässlich dieser Beobachtungen ist, zweitens, die Kontinuitätsfrage zu stellen. In die hier implizierte Relativierung des Stellenwerts von Vokabular und Semantik fügt sich nämlich der Befund ein, dass ein Großteil der hier behandelten Soziologen – Max Hildebert Boehm, zum Teil Stella Seeberg und Wilhelm Brepohl ausgenommen – trotz des Gebrauchs moderne- und kulturkritischer Versatzstücke kaum explizit biologistische und völkische Semantiken gebrauchte – im Gegensatz zu den vor 1945 entstandenen Beiträgen.927 Auch die krassen Rassismen und Antisemitismen, wie sie bei von Oppen vor 1945 begegnen, sind in den nach 1945 verfassten Beiträgen kaum zu finden. Brepohl argumentierte in seinem 1948 erschienenen Buch „Aufbau des Ruhrvolkes“ in biologistischen Kategorien, hielt sich in seinen in den 1950er 924 Metzler, Konzeptionen, 37. 925 Zumindest bei Schelsky scheint dies der Fall zu sein, der nach 1945 sehr stark die Diskontinuität betonte und sich sogar zu der falschen Behauptung verstieg, dass während des NS keine Soziologie existiert habe. Vgl. oben 154–166. Vgl. auch Nolte, Ordnung, 237; Metzler, Konzeptionen, 38; und Laube, Theologie, 39 f. und 186 FN 5; Dyk/Schauer, Soziologie, 86 f. Zu Schelskys Selbstdeutung siehe Schelsky, Ortsbestimmung, 29–42. 926 Vgl. oben 154–166. Zudem konnten in der NS-Agrarsoziologie die technischen Modernisierer gegenüber den Blut-und-Boden-Romantikern ein Deutungsmonopol aufbauen. 927 Das schließt nicht aus, dass sich Denktraditionen finden lassen. In ihren Beiträgen war es ihre antiliberale Grundhaltung, die sich vor und nach 1945 finden lässt, die semantisch angepasst wurde. Auch bevölkerungspolitische Aspekte wie das Plädoyer für eine hohe Geburtenrate lassen sich nach 1945 nachweisen.

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Jahren erschienenen Aufsätzen zum Heimatbegriff damit allerdings zurück.928 Die negativen Beschreibungsvokabeln Atomisierung, Masse und Vermassung, die auch in der völkischen Zeit- und Kulturkritik Anwendung fanden, erfreuten sich auch nach 1945 einer anhaltenden Beliebtheit, während die als positiv beschriebenen Bezugs- und Identifikationspunkte völkischer Ideologie, wie beispielsweise biologistische oder spiritualistische Volksvorstellungen, nach 1945 überwiegend als ideologisch diskreditiert und als NS-belastet galten.929 Möglicherweise spielte hier auch hinein, dass die Kompatibilität der moderne- und kulturkritischen Denkfiguren wie „Vermassung“ und „Atomisierung“ mit dem völkischen Denken weniger offensichtlich und explizit war, als dies bei expliziten Biologismen, Rassismen und Antisemitismen der Fall war.930 Von den Soziologen wurde das „deutsche Volk“ i. d. R. weniger als biologische, sondern vielmehr als soziologisch zu beschreibende Größe gedacht, die anhand soziologischer Kriterien differenziert wurde. So wurden die Vertriebenen i. d. R. als soziale Teilmenge und Gruppe beschrieben, die sich über soziale, ökonomische und sozialpsychologische Merkmale konstituierte. Auch hinsichtlich der Binnendifferenzierung der Großgruppe und Teilmenge „Vertriebene“ dominierten sozioökonomische Kategorien, während die Differenzierung nach landsmannschaftlichen Gesichtspunkten – also letztlich ein Relikt der im völkischen Denken verbreiteten Kategorien „Stamm“ oder „Volkstum“ – eine geringe Rolle spielte – Boehm, Brepohl und in frühen Jahren Seeberg ausgenommen. Dieser Befund legt nur scheinbar einen semantisch-sprachlichen Bruch nahe. Für die Bewertung der Kontinuitätsfrage oder die Suche nach der „Kontinuität hinter der Diskontinuität“931 müssen, so die Schlussfolgerung, neben der semantisch-sprachlichen Ebene thematische Anknüpfungspunkte, Forschungsfragen, methodische Settings und wissenschaftliche Selbstverständnisse berücksichtigt werden. Bei der Mehrheit der hier analysierten Soziologen zeigt sich, so das Ergebnis, eine starke Kontinuität im empirischen Anspruch, im Selbstverständnis und in der wissenschaftlichen Praxis bei starker Diskontinuität im Sprachgebrauch. Bei Pfeil wird diese Kontinuität in ihren stadtsoziologischen Arbeiten greifbar, aber auch in ihren Forschungen zur Bevölkerungsqualität und Raumplanung sowie ihren statistischen Erhebungen. Bei Seeberg zeigt 928 Adamski, Kulturraumforschung, 14 f. 929 Angesichts der „nationalsozialistischen Kontaminierung“ habe es sich nach 1945 verboten, „den sozialen Raum in völkischen und biologistischen Kategorien zu beschreiben.“ Dagegen habe sich die Kategorie der Masse angeboten. Diese sei nahezu konkurrenzlos auf dem Markt der sozialen Ordnungen gewesen (Reitmayer, Elite, 147). Max Hildebert Boehm mag diesbezüglich eine Ausnahme darstellen. In bestimmten Kontexten wie beispielsweise auf einigen Tagungen des OKAs spielten biologistische oder religiös konnotierte Volksvorstellungen zum Teil noch einige Rolle, auch wenn dieser Befund nicht für alle Akteure gleichermaßen gilt. Ausführlicher oben 102–112. 930 Nolte spricht von „Schnittmengen“. Vgl. die folgenden Ausführungen sowie Vordermayer, Bildungsbürgertum, 8; Puschner, Völkisch, 57; und Knobloch, Umbau. 931 Bollenbeck, Interesse, 14.

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sich diese Kontinuität im Vergleich ihrer 1938 erschienenen Studie und ihres 1956 entstandenen Gutachtens. In beiden Arbeiten legte sie methodisch ähnlich konzipierte Mikrostudien vor; zudem übernahm sie Beobachtungen zur dörflichen Gesellschaftsstruktur aus ihrer 1938 entstandenen Habilitationsschrift, in der sie ebenfalls den exkludierenden Charakter dörflicher Gemeinschaften festgestellt hatte.932 Die nach 1945 erschienenen Studien von Oppens und Brepohls basierten auf Daten, die vor 1945 erhoben worden waren.933 Das Narrativ der „Umvolkung“ oder „Volkwerdung“ „von der Seite des deutschen Stammestums her“934 ließ sich nach 1945 problemlos auf den Integrationsprozess der Vertriebenen übertragen, wenn auch nicht mehr unter den Bedingungen des „Völkerkampfes“. Auf dem Forschungsfeld der Vertriebenenproblematik lag es thematisch nahe, an soziologische Traditionen der 1920er und 30er Jahre wie die Bevölkerungswissenschaften, Stadtsoziologie, Agrarsoziologie oder Volkskunde anzuknüpfen, die die Methoden, Kategorien, Denkstrukturen und methodischen Settings bereitstellten. Die Diskrepanz im Gebrauch der Metaphorik vor und nach 1945 fügt sich in die wissenschaftsgeschichtliche Auseinandersetzung ein und legt die These nahe, dass die Flüchtlingssoziologie über den Systembruch hinweg zu semantischen und kommunikativen Anpassungsleistungen fähig war, wobei sie sowohl vor als auch nach 1945 empirisch arbeitete.935 Angesichts dieser Befunde täte man gut daran, von einem oberflächlichen „semantischen Umbau“ zu sprechen.936 932 Seeberg, Dorfgemeinschaft; dies.: Vertriebene Bauernfamilien in der Industrie. Untersuchung von 100 vertriebenen Bauernfamilien in der Grafschaft Bentheim [Gutachten für das Landwirtschaftsministerium], Loccum 1956 (EZA Berlin 512/67); und Niederschrift über die Tagung der Ostkirchen und Flüchtlingsreferenten der Landeskirchen für Flüchtlingsseelsorge am 7./8. 4. 1948 in Rothenburg (EZA Berlin 17/297). Die Einzelfall- und Mikrostudie war die vorherrschende Methode in der NS-Agrarsoziologie. Siehe Hohmann, ländliche Soziologie, 119. Soziologen, die solche Mikrostudien vorlegten, wirkten aktiv an der Selektion der Dorfbevölkerung mit und denunzierten Menschen, die den biologistischen Kriterien nicht entsprachen oder als „Volksschädlinge“ identifiziert wurden (ebd., 125). Ob Seeberg an solchen Denunziationen beteiligt war, ist nicht bekannt. 933 Klingemann, Soziologie, 201. Brepohl konnte seine Studie „Aufbau des Ruhrvolkes“, die der Referenzpunkt für die Idee einer „Volkwerdung“ aus „Binnendeutschen und Ostvertriebenen“ wurde, 1948 veröffentlichen. Das umfassende Datenmaterial hatte er allerdings in den späten 1930er und frühen 40er Jahren erhoben. Vgl. Adamski, Kulturraumforschung, 12 f. und 14 f.; und Brepohl, Aufbau. Brepohl hatte alle Gelsenkirchener Schuldkinder nach ihrer Herkunft befragt und 28 000 Fragebögen ausgewertet. Siehe Dyk/Schauer, Soziologie, 95. 934 Adamski, Kulturraumforschung, 14 f.; und Brepohl, Aufbau, 4. 935 Raphael, Verwissenschaftlichung, 185. Möglicherweise waren es gerade die empirischen Soziologen, die sich gegenüber konträren gesellschaftlichen Systemen und Kommunikationsstrukturen als semantisch und sprachlich anpassungsfähig erwiesen, während Boehms völkische Vorstellungen nach 1945 nicht mehr diskursfähig waren. Boehm strebte eine solche Anpassung allerdings auch nicht an. Zur Bedeutung politischer Zäsuren in der Wissenschaftsgeschichte: Ash, Kontinuitäten; ders., Wissenschaft; ders., Wissenschaftswandlungen; und ders., Umbrüche. 936 So im Hinblick auf die Geisteswissenschaften: Bollenbeck/Knobloch, Umbau; und Prehn, Boehm, 140.

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Allerdings stellt sich auch die Frage, ob nicht die die Wirklichkeit konstituierende und das Handeln legitimierende Funktion, mit anderen Worten: die diskursive Macht der Sprache stärker betont werden sollte, als dies bei Klingemann und Schnitzler der Fall ist. Die „Biologisierung der Soziologie“ war nicht einfach nur reine Kosmetik oder eine Etikette für soziologische Inhalte.937 Vielmehr hing und hängt die Definition des wissenschaftlichen Gegenstandsbereichs nicht zuletzt von einer spezifischen, auch sprachlich konstituierten Problemwahrnehmung ab, die normativen Vorverständnissen, Ordnungsmustern und Weltbildern folgen dürfte, ohne dass die Wissenschaftler selbst zwingend fanatische Ideologen gewesen sein mussten.938 Bollenbeck ist zuzustimmen, wenn er von einer mentalen Disposition spricht, die die deutsche Akademikerschaft für den Nationalsozialismus öffnete, auch wenn Teile von ihnen der NSDAP zunächst eher skeptisch gegenüberstanden.939 Die Grenze zwischen Nationalkonservatismus und Nationalsozialismus war fließend.940 Die sprachliche „Biologisierung der Soziologie“ vor 1945 entsprach einem spezifischen Gesellschaftsideal einer „völkischen Leistungsgemeinschaft“, die zur Legitimation jener wissenschaftlichen Interessen und Forschungen beitrug. Der Sprachgebrauch und die darin enthaltenen Ordnungsmuster präfigurierten demnach die Problemwahrnehmung, konstituierten den Gegenstandsbereich, die Wissensproduktion und den Einsatz jenes Wissens, das dem NS-Regime zugutekam.941 Darüber hinaus beschrie937 Schnitzler bezeichnet die Biologisierung als Etikettierung. Siehe Schnitzler, Pfeil, 410. Nach Pinwinkler sei die Erbbiologie allerdings keineswegs nur akzidentiell gewesen. Siehe Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 84. 938 Die Annäherung an den NS ist von daher nicht ohne den Sachverhalt zu erklären, dass viele der im NS tätigen Wissenschaftler einem extremen Nationalismus, gepaart mit utilitaristischen Leistungssteigerungsphantasien, anhingen. Diese Prämissen und Haltungen waren ebenfalls in hohem Grade NS-kompatibel. Dieser Nationalismus bildete die ideologische Grundlage des Einsatzes wissenschaftlicher Rationalität. So jedenfalls Klingemann, Soziologie, 15. Insofern kann Gerhardt, für die der Sprachgebrauch der Beleg für die ideologische Ausrichtung der Flüchtlingssoziologie darstellt, auch zugestimmt werden. Problematisch scheint allerdings die dichotomische Gegenüberstellung von Wissenschaft und Ideologie. Stattdessen flossen Weltanschauungen, normative Prämissen und Interessen in die wissenschaftliche Betätigung stets ein und trugen zur Konstitution des Forschungsgegenstandes wie zu seiner Legitimation bei. Die NS-Herrschaftsübernahme sei nicht ohne das Bündnis von alten akademischen Eliten und neuem Nationalismus zu verstehen. Den „echten Nazi“ gebe es nicht; dieser sei ein „Konstrukt der Filmbranche (Ulrich Herbert)“ (Bollenbeck, Interesse, 12 f.). 939 Ebd., 13. 940 Ebd. 941 Am deutlichsten bringt es Szöllösi-Janze auf den Punkt, die dabei auf den problematischen Ideologiebegriff verzichtet: „Selten ist das sowohl instrumentelle als auch legitimatorische Wechselverhältnis zwischen Politik und Wissenschaft jedoch deutlicher greifbar als im Nationalsozialismus, als die Politisierung von Wissenschaft und die Verwissenschaftlichung von Politik konvergierten.“ (Szçllçsi-Janze, Politisierung, 99 f.). Aufschlussreich hierfür ist zudem die linguistische Forschung, die sich in kritischer Auseinandersetzung mit dem Sprachund Wissenschaftspositivismus mit der Frage befasst, wie Forschungsgegenstände sprachlich konstituiert werden. Hierzu Felder, Kämpfe.

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ben Schelsky und Pfeil den Integrationsprozess nach 1945 zum Teil in Begrifflichkeiten wie „Auslese“ und „Lebenskampf“, die Denkkontinuitäten zur NS-Zeit zumindest andeuten. Belastete Versatzstücke wurden nach 1945 reaktiviert, um empirisch beobachtete Phänomene anlässlich des Integrationsprozesses zu beschreiben. Lassen sich die Flüchtlingssoziologen als völkische Autoren und Wissenschaftler im Sinne der oben gegebenen Definition beschreiben? Sicherlich griff, und hier kann Klingemann zugestimmt werden, die Mehrheit der Autoren gerade nicht auf einen biologistischen oder spiritualistischen, sondern einen soziologisch analysierbaren Begriff von Volk zurück, von der oberflächlichen, pragmatisch motivierten sprachlichen Anpassung einmal abgesehen. Gerade dem Volksbegriff wuchs im NS als „basissemantischer Identifikations- und Wertbegriff“ eine „neue Verbindlichkeit“ zu, der aber dennoch interpretationsoffen war, so dass eine „geduldete Mehrdeutigkeit“ auch nach dem Beginn der NS-Herrschaft durchaus möglich war.942 Nahezu alle Wissenschaftler gingen vor 1945 von der Prämisse eines Völkerkampfes aus, wollten – unter den Bedingungen des Völkerkampfes – an der Leistungssteigerung der „völkischen Leistungsgesellschaft“ durch anwendungsorientierte empirisch-soziologische Forschung und bevölkerungsstatistische Analysen mitwirken und durch bevölkerungspolitische Maßnahmen die „völkischen Gegenwartsprobleme“ überwinden.943 „Volksgemeinschaft“ war für die Bevölkerungswissenschaftler demnach nicht nur eine Pathosformel, sondern ein rationales, mit den Mitteln der Bevölkerungsstatistik planbares politisches Nahziel.944 Nicht zuletzt der Demographie- und Bevölkerungsforschung, die am Ziel einer Bevölkerungsvermehrung durch Steigerung der Geburtenzahl oder, wie bei Hans Harmsen, einer „Verbesserung der Bevölkerungsqualität“ ausgerichtet war,945 kam hierbei ein zentraler Stellenwert zu. Sie waren vielleicht keine Anhänger der zum Teil abstrusen mystizistischen völkischen Ideologeme der 1920er Jahre und keine pseudowissenschaftlichen Ideologen, wie Uta Gerhardt suggeriert. Aber sie stellten die Kategorie Volk über die Rechte und Interessen des Individuums und rechtfertigten umfassende „bevölkerungspolitische“ Eingriffe. In der Forschung zum völkischen Denken wurde zudem darauf verwiesen, dass sich „völkisch“ keineswegs pauschal als antimodern charakterisieren lässt.946 Vor dem Hintergrund dieser Einstellungen sowie eines ausgeprägten Krisendiskurses, der sich aus Begriffen und (vermeintlichen) Beobachtungen wie Degeneration, Volkstod und Geburtenschwund speiste, erklärt sich die Radikalisierung der Bevölkerungswissen942 943 944 945

Bollenbeck, Interesse, 28. Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 109. Ebd. Nach Pinwinkler war die Bevölkerungsforschung, die während der Weimarer Republik zunehmend politikberatende Ansprüche entwickelte, qualitativ und quantitativ ausgerichtet. Daraus gingen exklusive und inklusive Tendenzen hervor. Hierzu ebd. 946 Vordermayer, Bildungsbürgertum, 12–14.

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schaften in den 1920er und 30er Jahren, die sich bereits vor der eigentlichen NS-Herrschaft vollzogen hatte, so dass eine völkisch politisierte Forschungspraxis entstand.947 Auch wenn modernekritische Deutungsfiguren wie Vermassung und Atomisierung bei völkischen Autoren sehr beliebt waren und auch bei den hier behandelten Autoren vor und nach 1945 begegnen, zeigten sich völkische Autoren offen für moderne Elemente wie empirische Methoden, industriegesellschaftliche Lebensformen oder das Rassetheorem, das als zukunftweisendes, wissenschaftlich fundiertes Paradigma galt.948 Völkisches Denken und ernstzunehmende empirische Wissenschaft schlossen sich nicht aus, sondern gingen eine vielschichtige symbiotische Beziehung ein, wie sich auch hier zeigt. Auch dieser Befund ist auf die Mehrheit der hier behandelten Autoren übertragbar. Für die Frage nach den Konvergenzen zwischen Flüchtlingssoziologie und Protestantismus gilt daher mutatis mutandis Folgendes: Zunächst ist unstrittig, dass alle der hier erwähnten Soziologen auf unterschiedliche Weise NS-belastet waren und den Schulterschluss mit dem NS-Regime vollzogen hatten. Die Bezeichnung der Flüchtlingssoziologie als „völkische Soziologie“ ist allerdings vor dem Hintergrund der wissenschaftsgeschichtlichen Differenzierung zwischen wissenschaftlicher Praxis, Ordnungsdenken und Sprachgebrauch allenfalls partiell zutreffend und wird der Komplexität der Problemstellung nicht gerecht. Der Begriff „völkische Soziologie“ vermag zwar die semantisch-sprachliche Dimension zutreffend zu beschreiben, die Ausdruck eines spezifischen völkischen Ordnungsdenkens ist, suggeriert dabei aber eine Kontinuitätslinie, die differenzierungsbedürftig ist – insbesondere, wenn der Begriff als Synonym für „pseudowissenschaftliche Ideologie“ gebraucht wird, wie z. T. in der Literatur der Fall. Das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Praxis, Ordnungskonzepten und Sprachgebrauch, ja das völkische Denken selbst ist komplex. So verdeckt der Terminus, den Gerhardt als Synonym für „Pseudowissenschaftlichkeit“ gebraucht, den soziologischen Volksbegriff, die empirischen Praktiken und Ansprüche und verschleiert die vielfältigen Kontinuitäten vor und nach 1945 auf der Ebene der Netzwerke und Praktiken, der thematischen Interessen und wissenschaftlichen Selbstverständnisse, während er, wissenschaftliche Praxis, Ordnungsdenken und Sprachgebrauch gleichsetzend, eine semantisch-sprachliche Kontinuität suggeriert, die nicht oder nur bedingt gegeben ist – denn auf dieser Ebene treten, im Gegensatz zur wissenschaftlichen Praxis, gerade die Diskontinuitäten hervor. Daher sollte von einer wissenschaftlich ernstzunehmenden Soziologie ausgegangen werden, die sich allerdings völkische 947 Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 109 f. So erodierte nach dem Ersten Weltkrieg die im 19. Jahrhundert verbreitete „liberale“ Auffassung, dass Bevölkerungspolitik nicht zu den Aufgaben des Staates zählte. 948 Vordermayer, Bildungsbürgertum, 10. Pinwinkler sieht in einer „rassisch begründeten Differenzierung“ ein „handlungsleitendes Ordnungsmodell“, das sich in den 1920er Jahren etablierte (Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 109).

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Prämissen und Ordnungskonzepte angeeignet hatte. Somit lässt sich von der Präsenz einer nationalsozialistisch belasteten, partiell völkischen Soziologie im Protestantismus nur bedingt auf einen völkischen Protestantismus rückprojizieren, jedenfalls, wenn man sich ihre nach 1945 verfassten Beiträge vor Augen führt, in denen explizit biologistische Semantiken oder Rassismen kaum zu entdecken sind. Anders formuliert: Die Flüchtlingssoziologen, die zu systembedingten kommunikativen Anpassungsleistungen fähig waren, erhielten nach 1945 nicht deshalb eine Plattform im Protestantismus, weil sie völkisch waren. Da auf der semantisch-sprachlichen Ebene bei vielen der behandelten Soziologen durchaus eine Diskontinuität oder präziser ein „semantischer Umbau“949 über den Systembruch 1945 zu verzeichnen ist, beantwortet sich diese Frage für die Zeit vor 1945 natürlich anders.950 Nach 1945 inszenierten sich die Soziologen als apolitische und neutrale Wissenschaftler, die, unbehelligt vom NS, einfach ihrer Arbeit nachgegangen oder selbst zu Opfern des „manipulativen NS-Staates“ geworden seien.951 Die wenigen Autoren wie Boehm, die auch nach 1945 explizit völkisch argumentierten, hatten im Protestantismus tendenziell sogar eher Probleme. Explizit völkisch-biologistische Ideologeme wie ein biologistischer, religiös überhöhter Volksbegriff waren im Nachkriegsprotestantismus allenfalls in einigen wenigen kommunikativen Kontexten, aber nicht im Allgemeinen diskursfähig. Die von den Flüchtlingssoziologen gebrauchten moderne- und kulturkritischen Deutungsmuster, die über Schnittmengen zum völkischen Denken verfügten, waren im Protestantismus hingegen diskurs- und konsensfähig. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Beziehungsgeschichte zwischen Protestantismus und Flüchtlingssoziologie in die nationalsozialistische Zeit hineinreichte. Insbesondere Seeberg, Pfeil, der Centralausschuss der Inneren Mission und das von diesem mitgetragene „Archiv für Bevölkerungswissenschaft“ stehen für die gemeinsame nationalsozialistische Beziehungsgeschichte und die vielfältigen Symbiosen, die Protestantismus und NS eingegangen waren. Neben den organisatorischen, institutionellen und personellen Verflechtungen adaptierte auch eine Vielzahl an Theologen, darunter keineswegs ausschließlich Vertreter der Deutschen Christen, das völkische Denken und propagierten eine Theologie von Volk und Volkstum.952 Nach 1945 waren völkische Vorstellungen auf den Tagungen des OKKs durchaus präsent. Ausdruck dieser Kontinuität sind vor allem solche Beiträge, die Volk 949 Bollenbeck/Knobloch, Umbau; Prehn, Boehm, 140. 950 Eine ähnliche Diskontinuität in Bezug auf den Gebrauch völkischer und biologistischer Kategorien stellt auch Reitmayer fest – im Gegensatz zum Massebegriff. Vgl. Reitmayer, Elite, 147. 951 Weindling, Einleitung, 13; und Jehle, Umbau, 43 f. Die Rede von einem „inneren, unverletzten Kern“ war bis in die 1960er Jahre hinein verbreitet. Hierzu auch Bollenbeck, Interesse, 10. 952 Honecker, Art. Volk. In: TRE, 191–209. Vgl. auch die Dissertationsschrift von Benedikt Brunner, der den Volkskirchenbegriff analysiert: Brunner, Kirche. Siehe auch oben 99–137.

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und Volkstum religiös herzuleiten versuchten, dem deutschen Volk eine „abendländische Sendung“ im Osten zuschrieben oder Volk und Volkstum, über die integrationspolitischen und seelsorgerlichen Konnotationen weit hinausgehend, als Bestandteil einer von Gott geschaffenen Schöpfungsordnung interpretierten, die religiös verabsolutiert und damit der Kritik entzogen wurde.953 Allerdings traten nicht so sehr die Flüchtlingssoziologen als Akteure und Träger dieses Diskurses in Erscheinung. Das Verhältnis zwischen Flüchtlingssoziologie und Protestantismus lässt sich daher weniger anhand der Semantiken und des Sprachgebrauchs, die auf Affinitäten ideologischer Art verwiesen, sondern eher anhand der individuellen Netzwerke und Motive analysieren. Zunächst fällt auf, dass die genannten, auf unterschiedliche Weise NS-belasteten Flüchtlingssoziologen, die sich in protestantischen Kommunikationszusammenhängen zur Vertriebenenfrage äußerten, allesamt auch während der Weimarer und der NS-Zeit über unterschiedlich intensive Beziehungen zu protestantischen Akteuren und Institutionen unterhielten. Die Flüchtlingssoziologen konnten demnach auf etablierte, individuelle Netzwerkstrukturen zurückgreifen, die nach 1945 problemlos reaktiviert werden konnten. Daneben sind auch pragmatische Motive zu nennen. Sowohl Seeberg als auch Boehm hatten 1945 ihre Anstellung verloren und waren auf Finanzierungsquellen angewiesen, die sie beim Hilfswerk bzw. in der Forschungsstelle der evangelischen Akademie Hermannsburg fanden.954 Im Falle des Sozialethischen Ausschusses, der zu einem großen Teil Sozial- und Wirtschaftsexperten aus der Dortmunder Sozialforschungsstelle955 rekrutierte, spielte möglicherweise auch die geographische 953 Vgl. oben 102–112. Ähnliche Deutungsfiguren zeigen sich im Kontext des Heimatdiskurses. Vgl. unten 345–361. Zum Verhältnis von völkischem Denken und Protestantismus siehe L chele, Protestantismus. 954 Inwieweit sie auch vom moralischen Kapital der Kirche zu profitieren trachteten, sei dahingestellt. Beide Großkirchen konnten nach 1945 zunächst erfolgreich das Bild vermitteln, unbelastet aus der NS-Zeit hervorgegangen zu sein. Hierzu Greschat, Christenheit, 310–313; und Hanke, Deutschlandpolitik, 44. Dass neben den Deutschen Christen auch innerhalb der ausgesprochen heterogenen Bekennenden Kirche zahlreiche Verstrickungen mit dem NS bestanden, hat die Forschung mittlerweile herausgearbeitet. Hierzu Linck, Anfänge. 955 Ein Großteil der Flüchtlingssoziologen und Ökonomen, die in der protestantischen Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik eine Rolle spielten, waren in der Dortmunder Sozialforschungsstelle angestellt. Zu nennen wären Wilhelm Brepohl, Gerhard Wurzbacher, Dietrich von Oppen, Elisabeth Pfeil, Herbert Giersch und Gerhard Weisser. Auf der Leitungsebene bestanden zudem personelle Verflechtungen zwischen Sozialforschungsstelle und Sozialethischem Ausschuss. Der mit Pfeil persönlich bekannte Kölner Ökonomieprofessor Gerhard Weisser war Mitglied des Kuratoriums der Dortmunder Sozialforschungsstelle und unterhielt freundschaftlich-kollegiale Kontakte zu Friedrich Karrenberg. Siehe hierzu die Korrespondenzen zwischen Karrenberg und Weisser (LKA D sseldorf 6 HA 006 37) sowie die gegenseitig gewidmeten Festschriften (Karrenberg/Albert (Hg): Sozialwissenschaft; und Beckmann/Weisser, Gemeinde). Karrenberg war wiederum im Beirat der Sozialforschungsstelle vertreten. Das geht hervor aus: Schreiben von Friedrich Karrenberg an Herrn OKR Harney, 22. 10. 1948 (LKA D sseldorf 6 HA 006 35); und Schreiben von Friedrich Karrenberg an Präses Heinrich Held, 29. 6. 1955 (LKA D sseldorf 6 HA 006 39). Später wurde

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Nähe der renommierten Sozialforschungsstelle eine Rolle. Schließlich waren es vor allem NS-belastete Soziologen, die überhaupt das Forschungsfeld der Vertriebenenfrage erschlossen und die wiederum zu einem überwiegenden Teil in der Dortmunder Sozialforschungsstelle einen Arbeitgeber fanden. Eine Beschäftigung von aus dem Exil zurückgekehrten oder „linken“ Soziologen mit der Vertriebenenproblematik fand kaum statt. Zwar hatten Theodor Adorno und Max Horkheimer angesichts der Vertriebenenfrage auf die Notwendigkeit empirischer Sozialforschung hingewiesen und in der Vertriebenenfrage einen potentiellen Aufgabenbereich des Frankfurter Instituts für Sozialforschung erblickt, allerdings ist es zu einer Umsetzung dieses Vorhabens nicht gekommen.956 Schließlich stellt sich die Frage, welche Rolle und Funktion der Flüchtlingssoziologie im Protestantismus zugesprochen werden kann und ob die Präsenz flüchtlingssoziologischer Expertise im Protestantismus mit der von Lutz Raphael beobachteten „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ konvergierte.957 Unter Verwissenschaftlichung wird hier die „systematische Einbeziehung externen Sachverstandes in den politischen Entscheidungsprozess“ verstanden.958 Diese These wurde zwar im Hinblick auf Politik und Verwaltung formuliert, sie lässt sich aber auch auf die Kirchen und ihre Verbände übertragen, die in der Bewältigung sozialer Fragen ein substantielles Aufgabengebiet erblickten.959 Grundsätzlich ließe sich in diesem Zusammenhang auch an Benjamin Ziemanns These einer Versozialwissenschaftlichung denken. Allerdings rekurriert Ziemann eher auf den kircheninternen Bereich, die Entstehung einer Kirchen- und Christentumssoziologie und den Versuch von Kirchenleitungen, Glaubensleben und Frömmigkeit zu beschreiben und rational zugänglich zu machen, während hier der kirchliche Umgang mit einer sozialen und gesellschaftspolitischen Problemlage interessiert.960 Mit anderen

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Weisser Mitglied der Kammer für soziale Ordnung der EKD. Vgl. Ratsbeschluss vom 14. 1. 1967 (EZA Berlin 2/1508). Es wäre sicherlich wünschenswert, die Beziehungen zwischen Sozialem Protestantismus und Sozialforschungsstelle themenübergreifend und systematisch zu erforschen. Klingemann, Soziologie, 320 und 315 FN 573. Max Horkheimer machte in einem Memorandum für potentielle Spender darauf aufmerksam, dass das Institut für Aufgaben der Politikberatung in Flüchtlingsfragen geeignet sei. Raphael beschreibt mit diesem Begriff, ausgehend von der krisenhaft empfundenen sozialen Frage des 19. Jahrhunderts, den „Prozess einer zunehmenden Dominanz human- und sozialwissenschaftlicher Expertise in Politik und Verwaltung im 19. und 20. Jahrhundert“ in vier Phasen. Da die Vertriebenenproblematik ebenfalls als krisenhafte soziale Frage empfunden wurde, die die Nachfrage nach soziologischem Deutungswissen auch im Protestantismus ansteigen ließ, ist die Annahme plausibel, dass sich hier eine Konvergenz zum Prozess der Verwissenschaftlichung des Sozialen zeigt. Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung, 165–193, 166. Szçllçsi-Janze, Politisierung, 86. Kçnemann et al., Interessenvertretung, 79. Ausgehend von einer Krise des Religiösen stellt die Verankerung soziologischer Expertise in kirchlichen Strukturen den Versuch dar, religiöses Leben und Frömmigkeit zu beschreiben.

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Worten: Hier steht weniger das Selbstverständnis der Kirchen als religiöse Akteure, sondern ihr Selbstverständnis als soziale und gesellschaftspolitische Akteure im Fokus. Zunächst ist festzustellen, dass soziologische Wissensbestände, Argumentations- und Deutungsmuster in protestantischen Kommunikationszusammenhängen zumindest wahrgenommen wurden. Die soziologische Perspektive wurde für das Verständnis sozialer Fragen als relevant eingeschätzt; in den evangelischen Akademien und Gremien der kirchlichen Vertriebenenarbeit gab es eine Nachfrage nach soziologischem (Deutungs-)Wissen.961 Die Beschreibungsfiguren wie die dichotomische Gegenüberstellung von Gesellschaft und Gemeinschaft, ihre sozioökonomischen, sozialstatistisch grundierten Analysen oder ihre Moderneinterpretationen fanden Eingang in die protestantische Theologie und die kirchlichen Vertriebenengremien. Demnach lässt sich mit Nolte von einer „Soziologisierung der Flüchtlingsfrage“ sprechen, die sich auch in der protestantisch-theologischen Gesellschaftsdeutung niederschlug.962 In diesem Kontext stellt sich jedoch auch die Frage, inwieweit soziologische Argumente und Wissensbestände in integrationspolitischen Entscheidungsprozessen berücksichtigt wurden. Einige Flüchtlingssoziologen brachten sich in die innerkirchlichen Integrationsdebatten ein und beanspruchten somit Handlungsrelevanz.963 Trotzdem spielte die soziologische Expertise in den innerkirchlichen Entscheidungsprozessen allenfalls partiell eine Rolle. Hierbei handelte es sich in erster Linie um interessengeleitete Aushandlungsprozesse zwischen OKA und EKD, zwischen Hilfskomitees und Landeskirchen. Im innerkirchlichen Bereich wurde die Vertriebenenproblematik, so die Schlussfolgerung, primär als theologisches, kirchenrechtliches, ekklesiologisch-geistliches und moralisches Problem wahrgenommen, nicht jedoch als soziologisches. Die Soziologie stellte demnach in erster Linie Deutungswissen und Argumente bereit, Zur Versozialwissenschaftlichung nach Ziemann und zur Entstehung der Kirchensoziologie siehe oben 215–218; Ziemann, Suche; und ders., Kirche. 961 Der Begriff „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ zielt, im Gegensatz zu Noltes Begriff „Versachlichung“, auf die Akteure, Bedingungen und Reichweite der Wissensproduktion. „Experten“ können demnach keine höhere Wirklichkeitsadäquanz beanspruchen, sondern sie produzieren je eigene Gesellschaftsbilder, die seit den 1960er Jahren popularisiert wurden und ins allgemeine Deutungswissen einflossen. Sozioökonomische Analysen sind daher als spezifische Form der Gesellschaftsdeutung zu begreifen. Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung. Zum Konstruktions- und Imaginationscharakter der Sozialforschung siehe auch Reinecke/ Mergel, Soziale. 962 Siehe auch oben 151–171. In einem späteren Aufsatz nahm Spiegel-Schmidt zudem die sozialstatistischen Analysen der Flüchtlingssoziologie auf. Siehe hierzu unten 434–439. 963 Der Gestaltungsanspruch ist bei Seeberg besonders evident und zeigt sich auf kirchenpolitischer, sozialpolitischer und lokalpolitischer Ebene. Ihre Gutachten, die konfessionsbedingte Integrationsdefizite thematisierten, wurden bereits auf erwähnt. Vgl. unten 271–278 und v. a. Anm. 746. Pfeil lehnte eine „Eingliederung als Einschmelzung“ ab und benannte Aufgaben, die sich für die Kirche ergäben. So könne sie für das gegenseitige Verständnis werben und sich der „erzieherischen Aufgaben“ annehmen (Pfeil, Art. Vertriebenenprobleme. In: ESL 1954, 1086 f.).

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um die Gesellschaft und eine soziale Problemlage zu beschreiben und zu verstehen. Dabei fungierte sie nicht zuletzt als säkulare, d. h. nichtreligiöse Sinnstiftungsressource. Für den innerkirchlichen Entscheidungsprozess erwuchs ihr allenfalls punktuell Handlungsrelevanz.964

2.7 Zwischenfazit Akteure aus dem Umfeld der kirchlichen Vertriebenenarbeit griffen auf Topoi und Deutungsmuster der kultur- und modernekritischen Gesellschaftsdeutung zurück, die sich angesichts der Vertriebenenfrage zu aktualisieren und zu bestätigen schienen. Begriffe wie „Vermassung“, „Atomisierung“ oder „Vereinzelung“ brachten gesamtgesellschaftliche Desintegrationserscheinungen zum Ausdruck. Diese Deutungsfiguren fungierten als Abgrenzungs- und Negativfolie für das Integrationskonzept des OKAs einer „gliedhaften Eingliederung“, die auf eine Wiederherstellung heimatkirchlicher und landsmannschaftlicher Sozialgefüge zielte. Einerseits drückte das pejorativ gebrauchte Begriffspaar „Atomisierung und Vermassung“ große Vorbehalte gegenüber einer radikalen Individualisierung aus, in der das Individuum nicht mehr in Gemeinschaften eingebunden war. Andererseits drückten die Termini Kritik an einer Kollektivierung aus und betonten ex negativo die Würde und Persönlichkeit des Einzelnen.965 In diesem Sinn begriff der Flüchtlingsseelsorger Karl Ahme Vermassung explizit als negativen Gegenbegriff zum Begriff „Individuum“966. Insofern lässt sich dieser Argumentationszusammenhang im Sinne eines eingeschränkten Individualisierungsdiskurses beschreiben. Nach der totalitären Erfahrung des NS-Regimes, aber auch unter dem Eindruck einer Zwangskollektivierung der DDR-Regierung wurde das Individuum einerseits gegenüber Kollektivierungstendenzen in Schutz genommen, andererseits eine Einbindung in die Gemeinschaft für notwendig erachtet.967 964 Für die Stellungnahme der EKD zum Lastenausgleich spielte die Konsultation ökonomischer Expertise eine sehr viel größere Rolle, wie im Folgenden zu zeigen ist. Inwieweit eine Verwissenschaftlichung der sozialen Arbeit der diakonischen Einrichtungen beobachtet werden kann, stellt ein Forschungsdesiderat dar. 965 Vgl. v. a. die Debatten der evangelischen Akademie Hermannsburg. Hierzu Schildt, Abendland, 129–142. Von Thadden befürchtete in einem in Hermannsburg gehaltenen Vortrag unter dem Schlagwort „Vermassung“ den „Verlust der privaten Individualität“ und eine innerliche Angleichung der Menschen. Das alles zöge eine „Kollektivierung“ nach sich und führe zur „Entmenschlichung des Menschen“ (ebd., 130). Ähnlich auch Entschließung der Arbeitsgruppe I, 27. 8. 1950 (EZA Berlin 71/1186). Auf dem 1. DEK lassen sich dutzende weitere Beispiele für diese Lesart finden. 966 Ahme, Flüchtling, 4. 967 Ähnlich auch der Theologe Hendrik Meyer-Magister, der die Kriegsdienstverweigerungsdebatten als Individualisierungsdiskurs analysiert. Meyer-Magister spricht im Rekurs auf Ulrich Beck von einer „Reintegration“ des Individuums. Nach der Freisetzung des Individuums

Zwischenfazit

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Auch die Wahrnehmung eines neuen Klassendualismus und Klassenkampfes, verknüpft mit einem Bedauern über die „Aufspaltung des Volkes“, beschrieb letztlich einen Zustand gesamtgesellschaftlicher Desintegration und aktualisierte die Wahrnehmung des Bürger-Arbeiter-Dualismus, der nun auf den Dualismus von Vertriebenen und Einheimischen übertragen wurde. Angesichts der Klassenbildung schienen die sozialen Gliederungsprinzipien und Sozialkategorien ihre Bedeutung zu verlieren. Alle genannten Deutungsfiguren wurden sowohl sozialdiagnostisch als auch normativ gebraucht, indem sie einerseits die Wahrnehmung eines gesellschaftlichen Ist-Zustandes, andererseits auch eine Vorstellung davon zum Ausdruck brachten, wie die Gesellschaft nicht sei und wie sie sein solle. Gerade in der Klage über den Mangel an Solidarität schwingt zuweilen ein Bedauern über die zerbrochene Volksgemeinschaft mit, die als Idealvorstellung immer noch präsent war und als Schicksals- und Haftungsgemeinschaft reformuliert wurde. Gesellschaftliche Integration und Desintegration wurde, so das Ergebnis, vor allem anhand eines sozialharmonisch-holistischen, moralisch konnotierten, emphatisch postulierten Gemeinschaftsbegriffs artikuliert, der deutliche Anklänge an die Gesellschaftsdiskurse der 1920er und 30er Jahre aufweist.968 Die Integrationsvorstellungen des OKAs zielten auf den kirchlichen Bereich und die Auseinandersetzungen mit EKD und westdeutschen Landeskirchen. Auf der Basis eines unausgesprochenen volkskirchlichen Selbstverständnisses wurde den Kirchen jedoch eine zentrale Rolle im gesamtgesellschaftlichen Integrationsprozess zugewiesen. Dass die Kirche trotz der hohen, an sie gerichteten moralischen Ansprüche kein gemeinschaftsfähigerer Ort war, führten viele Akteure auf eine vielseitig konnotierte „Verbürgerlichung der Kirche“ zurück. In den Gremien der kirchlichen Vertriebenenarbeit fand eine Auseinandersetzung mit „Volk“ und „Volkstum“ statt. „Volkstum“ im Singular beschrieb das „Ganze der Lebensäußerungen des Volkes.“969 Diese Begrifflichkeiten waren integrations- und ordnungspolitisch konnotiert und wurden theologisch reflektiert, legitimiert und kritisiert. Der Begriff brachte die Gliederung oder die kulturelle und ethnische Differenzierung der Vertriebenen wie des gesamten deutschen Volkes zum Ausdruck und betonte die Zugehörigkeit der „ostdeutschen Stämme“ zum deutschen Volk, während zugleich ihre kulturelle Eigenständigkeit und Differenz artikuliert wurde. Zugleich wurden Volk und Volkstum mit dem emphatischen Gemeinschaftsbegriff identifiziert. Diese Begrifflichkeiten entsprachen dem Integrationskonzept der „gliedhaften Einfügung“ und brachten einen Identitätsentmüsse dieses in soziale Instanzen reintegriert werde. Hierzu Meyer-Magister, Individualisierung. 968 Nolte, Ordnung. 969 Brepohl, Art. Volk. In: ESL 41963, 1319. In den Texten Boehms begegnet der Begriff hin und wieder im Plural „Volkstümer“. Vermutlich handelt es sich hierbei um ein Synonym für „Stamm.“

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Die verlorene Gemeinschaft und die Entdeckung der Gesellschaft

wurf als ethnonationale „Kultur-, Sprach- und Abstammungsgemeinschaft“ zum Ausdruck, der auch im Bundesvertriebenengesetz festgeschrieben wurde. Es handelt sich hier also – trotz aller ideologischen Anklänge – um ein Integrations- und Identifikationsangebot. Akteure der kirchlichen Vertriebenenarbeit stimmten mit den Integrationsvorstellungen des Bundesvertriebenenministeriums grundsätzlich überein. Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer hatte zu einem späteren Zeitpunkt die von ihm vertretene Integrationspolitik in der Formel „Erst Gliederung, dann Eingliederung“ pointiert zusammengefasst und Deutschland als einen „Landsmannschaftsoder Stammesgarten“ beschrieben.970 Vor diesem Hintergrund ist sein Engagement für die Aufnahme eines Kulturparagraphen in das Bundesvertriebenengesetz zu verstehen, das ohne Zweifel auch eine revisionistische Stoßrichtung verfolgte, hier aber unter integrationspolitischen Gesichtspunkten von Interesse ist. Diese Kongruenzen zwischen Ministerium und OKA manifestierten sich in einer finanziellen Unterstützung der kirchlichen Vertriebenengremien, denen eine integrationspolitische, sozial pazifizierende Bedeutung zugesprochen wurde. So würdigte ein Bericht des Bundesvertriebenenbeirats, daß nur auf kirchlicher Ebene eine besonders enge Begegnung von Heimatvertriebenen und Einheimischen möglich sei. Dazu bewahre die Heranführung an die religiösen Güter und das kirchliche Brauchtum die Vertriebenen vor Nihilismus und radikalen Strömungen.971

Einige Jahre später kam es zu einer Erbediskussion und -förderung in der EKD, dessen Ausdruck das Ostkircheninstitut Münster war. In allen Fragen, die den kirchlich-religiösen Eigenbereich betrafen, d. h. in Bezug auf Liturgie, Kirchenordnung, Kirchenrecht oder Bekenntnis, setzten die Landeskirchen auf eine Assimilationsstrategie, die allerdings auch Kompromisse eingehen musste. Realiter war der Integrationsprozess ein komplizierter Aushandlungsprozess zwischen aufnehmenden und zugewanderten Gemeindegliedern, der auf beiden Seiten Anpassungsleistungen erforderte. Nur für den ostpreußischen Bruderrat unter der Leitung des Linksprotestanten Hans Joachim Iwand war der Volkstumsbegriff grundsätzlich deskreditiert. Ab Ende der 1960er Jahre ist in den kirchlichen Vertriebenengremien verstärkt die Tendenz erkennbar, Volk und Volkstum theologisch zu rehabilitieren und gegen den Gesellschaftsbegriff in Stellung zu bringen, wie ein bereits zitiertes Thesenpapier des Arbeitskreises „Ethik und Recht“ zeigt, das vermutlich Ende 970 Arbeitsbericht über die Sitzung des kulturellen Unterausschusses am 2./3. 11. 1953 (BArch Koblenz B 150/2334). Der Begriff „Landsmannschafts- und Stammesgarten“ nach Pohl, Integration, 336. 971 Arbeitsbericht über die Sitzung des kulturellen Unterausschusses am 2./3. 11. 1953 (BArch Koblenz B 150/2334). Außerdem Vermerk über die Kulturarbeit, 5. 11. 1954 (BArch Koblenz B 150/2329); und Dreijahresbericht des Vertriebenenministeriums, 10. 10. 1952 (BArch Koblenz B 150/2329). Konjunktiv im Original.

Zwischenfazit

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der 1960er und Anfang der 1970er Jahre entstand. Außerhalb vertriebenenspezifischer Kommunikationskontexte kam Volk und Volkstum eine geringe Bedeutung zu.972 Eine weitere Denkfigur der soziologischen und theologischen Gesellschaftsbeschreibung war die dichotomische Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft, die mit Ost und West identifiziert wurde. Diese gesellschaftsgeschichtliche Figur konnte sowohl eine affirmative als auch eine Verlustperspektive auf den Westen zum Ausdruck bringen. Somit ließ sich das Vertreibungsgeschehen als verdichtete Variante eines insgesamt gesellschaftsgeschichtlichen Prozesses interpretieren. Letztlich, so das zweite Ergebnis dieses Abschnittes, geriet das integrative Potential der westdeutschen, industrialisierten Gesellschaft in den Blick. Dabei sprachen von Oppen, Wurzbacher, Pfeil und Spiegel-Schmidt den großstädtischen und industrialisierten Lebensformen das größere Integrationspotential zu. Seeberg, Spiegel-Schmidt und Palmer betonten zudem den exkludierenden Charakter der verklärten Dorfgemeinschaft. Einige Soziologen wie Schelsky, von Oppen, Pfeil oder Wurzbacher bewerteten die Vertriebenen als Avantgarde oder Katalysatoren der gesellschaftlichen Transformation und sahen sich daher zu einer affirmativen Modernedeutung veranlasst. Indizien waren die Zunahme sozialer und geographischer Mobilität, der Bedeutungszuwachs von Leistungsprinzipien und der Relevanzverlust der sozialen Herkunft. Die Vertriebenen waren, so die Vorstellung, von diesen Tendenzen am stärksten betroffen und verstärkten diesen Wandel, der ein allgemeines „Volksschicksal“ sei. Kulturkritische Kategorien wie Vermassung oder Atomisierung wurden dabei als inadäquat abgelehnt.

972 Der Gesellschaftsbegriff erfuhr nach 1945 eine enorme Konjunktur und verdrängte den Volksbegriff als gesellschaftliche Selbstbeschreibungskategorie. Hierzu Nolte, Ordnung, 228 und 219; und Metzler, Konzeptionen, 37. Diese Überlegungen bedeuten nicht, dass der Volksbegriff überhaupt keine Rolle spielte. Als völkerrechtlicher, verfassungsrechtlicher, demokratietheoretischer oder auch als Suggestions- und Appellbegriff kommt „Volk“ nach wie vor eine sehr hohe Relevanz zu. In diesem Zusammenhang interessieren „Volk“ und „Volkstum“ jedoch als ethnonational bestimmte Figuren, die sowohl ordnungs- als auch integrationspolitisch relevant waren. In anderen Sprachen wird klar zwischen Demos und Ethnos unterschieden. Der Soziologe Emerich Francis gebraucht die Begriff ethnos und demos. Vgl. Francis, Ethnos.

3. Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung: Der Kriegslastenausgleich und weitere vertriebenenpolitische Initiativen Das folgende Kapitel analysiert die protestantische Auseinandersetzung mit dem Lastenausgleich. Dabei werden die in protestantischen Kommunikationszusammenhängen ausgetragenen Debatten und Positionierungen und die protestantische Mitwirkung am Gesetzgebungsprozess untersucht. Insgesamt werden erstens die sozialgeschichtliche Bewertung des Lastenausgleichs, zweitens die Aktualisierung sozialstaatskritischer Traditionen im Protestantismus sowie die Legitimation sozialpolitischen Engagements, drittens die protestantische Auseinandersetzung mit dem Lastenausgleich und seinen einzelnen wirtschafts- und sozialpolitischen Optionen, viertens die Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren1 und fünftens die protestantische Kritik am Lastenausgleich herausgearbeitet. Insgesamt stehen weniger die Ergebnisse des politischen Prozesses als vielmehr die Aushandlungs- und Kommunikationsprozesse selbst, die protestantischen Einflusswege und Wirkungspotentiale und die Beziehungen zwischen Staat bzw. Politik und Kirche im Fokus, die im Rekurs auf die jüngere politikwissenschaftliche Religionsforschung analysiert werden. Diese Bezugnahme ist allerdings deshalb nicht ganz unproblematisch, weil die politikwissenschaftliche Literatur ihre Aussagen häufig im Modus überzeitlicher Wahrheiten formuliert und historisch entkontextualisiert – und nicht zuletzt auf eine Quellenbasis ganz verzichtet.2 In dieser Arbeit wird dabei gerade eine quellenbasierte Analyse eines konkreten Falles angestrebt. Diese fallbezogene Analyse erlaubt es, dass ausgesprochen komplizierte Interaktionsverhältnis zwischen Politik und Kirche zu sondieren und mit der schematischen politikwissenschaftlichen Vorgehensweise in Be1 Methodisch ist es bedenklich, Erfolg und faktischen Einfluss des Protestantismus auf die Gesetzgebung inhaltlich zu erfassen. Auf eine Wirkungsanalyse soll daher verzichtet werden. Stattdessen werden die Kommunikationskanäle und strukturelle Einflusspotentiale in den Blick genommen. Zur Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, religiöse Einflüsse auf die Gesetzgebung zu fassen: Kçnemann et al., Interessenvertretung, 206. 2 So auch die Einwände Buchnas: Buchna, Jahrzehnt, 21 f. Konkret nennt Buchna Willems, der in der ersten Phase die katholische, in der zweiten Phase die evangelische Kirche heranziehe. Könemann et al., die die Zeit nach dem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ in den Blick nehmen, ist zudem nur bedingt auf die 1950er Jahre übertragbar. Andererseits scheint es unwahrscheinlich anzunehmen, dass Aussagen wie die über die hohe Repräsentanz von Kirche und Religion in den Medien nicht auch für die 1950er Jahre gelten.

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ziehung zu setzen. Anknüpfungspunkte dafür bietet vor allem die systematisierende und typologisierende Arbeit Könemanns et al.3 Hinsichtlich der politischen Mitwirkung geraten auch andere Teilaspekte der Vertriebenenpolitik in den Blick, anhand derer eine protestantische Mitwirkung zu verzeichnen ist. Insgesamt werden zwei Phasen unterschieden: Die erste Phase setzte kurz nach der Währungsreform im April 1948 ein und dauerte bis zum Jahresende 1949. Hier standen vor allem grundsätzliche Fragen im Zentrum. Nach der Gründung der Bundesrepublik und der Aufnahme der parlamentarischen Beratungen konkretisierte sich die Diskussion auf einzelne Teilaspekte; zudem traten hier zum Teil neue Akteure auf.4

3.1 Grundzüge des Lastenausgleichs und seine sozialgeschichtliche Bewertung Der Lastenausgleich war das zentrale sozialpolitische Projekt zur Integration der Vertriebenen. Nach dem verlorenen Weltkrieg, dem Verlust der Ostgebiete und der Zuwanderung von Millionen Vertriebenen galt es, Kriegsschäden und kriegsbedingte Verluste zwischen denjenigen, die alles verloren hatten, und denjenigen, die wenig oder gar nichts verloren hatten, zu verteilen. Dass ein Lastenausgleich kommen musste, war wohl unumstritten, strittig war jedoch die Frage, wie und in welchem Umfang er durchzuführen war.5 Neben Bombengeschädigten und anderen sog. „Kriegssachgeschädigten“ stellten die Vertriebenen die größte und zugleich die am stärksten betroffene Gruppe dar. Angesichts der immensen materiellen Interessenkonflikte zwischen Vertriebenen und Einheimischen, der „veritablen Opferkonkurrenzen“ zwischen den einzelnen Geschädigtengruppen wie Vertriebenen, SBZ-Flüchtlingen, Währungsgeschädigten oder Bombengeschädigten, bildete der Lastenausgleich den Anlass für eine der großen, hoch umstrittenen sozial- und verteilungspolitischen Debatten der jungen Bundesrepublik, die eine „Umverteilung größten Stils“ im Angesicht der „Gründungskrise der Bundesrepublik“ bewirken sollte.6 Bereits 1947 beschloss der neu eingerichtete bizonale Wirt3 Kçnemann et al., Interessenvertretung. 4 Die thematische Gliederung bringt es mit sich, dass einzelne Aspekte wie moralische Begründungsressourcen und sozialethische Leitvorstellungen beide Phasen tangieren. 5 Schwartz, Lastenausgleich, 173. So auch der zeitgenössische Kommentar: Mücke, Willibald: Die Debatte: Der gerechte Lastenausgleich. In: SZ, 14. 8. 1948, 3. 6 Schwartz, Lastenausgleich, 174; und Hockerts, Integration, 31. Für Hockerts war der Lastenausgleich eine von drei großen sozialen Konfliktlinien der jungen Bundesrepublik. Siehe ebd., 25–29. Zu den Opferkonkurrenzen siehe Schwartz, Umsiedlerpolitik, 21. Ein Beispiel für diese Opferkonkurrenzen stellt die Kritik des Verbands der Fliegergeschädigten dar, der sich in einem Wort der EKD zum Lastenausgleich nicht repräsentiert sah. Vgl. Schreiben des Bundes der Flieger- und Kriegsgeschädigten an die Redaktion des evangelischen Gemeindeblattes und Herrn

236 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung schaftsrat die Einrichtung einer „Sonderstelle Geld und Kredit“, die am 18. April 1948 den „Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Geldwesens“, den sogenannten Homburger Plan, vorlegte.7 Weitere Vorbereitungen fanden im sog. 15er-Ausschuss, einer vom Finanzausschuss des Länderrates eingesetzten Gutachterkommission, statt.8 Entgegen dem ursprünglichen Vorhaben, das Lastenausgleichsgesetz gemeinsam mit der Währungsreform zu verabschieden, wurde nur die Währungsreform und wegen der dringenden Notlage das Soforthilfegesetz verabschiedet, das bis zur endgültigen Regelung der Verteilungsfrage einen Beitrag zu Existenzsicherung leisten sollte.9 Mit der Trennung von Währungsreform und Lastenausgleich waren zwei wirtschaftspolitische Grundentscheidungen gefallen: Der Lastenausgleich würde sich auf die Westzonen beschränken und der Schwerpunkt auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau gelegt; er befand sich im „Sog der Wirtschaftspolitik“ und würde „allen Maßnahmen der Kapitalbildung nachgeordnet“ werden.10 Nach Gründung der Bundesrepublik wurde die Diskussion wieder aufgenommen. Diskussionsorgane waren der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, die jeweiligen Fachausschüsse und insbesondere der sogenannte Unkeler Kreis, ein aus Vertretern der Regierungsfraktionen zusammengesetzter Ausschuss, der die Grundkonzeption entwickelte. In den Debatten über den Lastenausgleich prallten viele verschiedene materielle Interessen und Motive aufeinander, die sich zum Teil mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen, parteipolitischen Lagern und wahltaktischen Erwägungen verbanden, die teilweise aber auch mit der parteipolitischen Lagerbildung divergierten. Während die Geschädigtenverbände eine Vergrößerung der Abgabe- und Verteilungsseite anstrebten, wollten diverse Wirtschafts- und einheimische Interessenverbände Befreiungen oder Vergünstigungen von der Lastenausgleichsabgabe durchsetzen.11 Die sozialgeschichtliche Literatur stellt auf der Verteilungsseite zwei Kon-

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Pfarrer Dieter Bezzel vom 11. 9. 1949 (EZA Berlin 2/2139). Kossert berichtet, dass sich einige Einheimische der Lastenausgleichsabgabe durch Steuerhinterziehung zu entziehen suchten. Hier nach Kossert, Heimat, 103. Wenzel, Verschiebung, 36 f. Zu Genese des Gesetzes: Goschler/R fner/Schwartz: Ausgleich. In: Sozialpolitik, Bd. 2, 1; und Goschler/R fner, Ausgleich. In: Sozialpolitik, Bd. 3. Ausführlicher Schillinger, Entscheidungsprozess. Aus volkswirtschaftlicher Perspektive: Wiegand, Lastenausgleich. Wenzel, Verschiebung, 45. Der Ausschuss setzte sich allerdings nicht nur aus Experten zusammen, wie die Bezeichnung „Gutachterkommission“ suggeriert, sondern ihm gehörten auch die Finanzminister der Länder, Abgeordnete des Wirtschafsrates und der gesetzlichen Körperschaften der französischen Zone an. Die Alliierten lehnten den Homburger Plan ab. Ebd., 38 f. Uffelmann, Gesellschaftspolitik, 10. Konrad Adenauer hatte den wirtschaftlichen Wiederaufbau klar priorisiert und eine „blühende Wirtschaft“ zur Voraussetzung für jede Sozialpolitik erklärt. Siehe Adenauer, Erklärung der Bundesregierung. 5. Sitzung des Deutschen Bundestages, 20. 9. 1949, In: Verhandlungen, 1. WP, 22–30, hier 22. Kritik daran bringt zum Ausdruck: Am falschen Tau gezogen. In: Die Zeit, 12. 7. 1951.

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zeptionen gegenüber. Einerseits wurde eine sogenannte soziale Konzeption vertreten: Demnach sollte sich der Kriegsschadenausgleich nicht am erlittenen Verlust, sondern an der Bedürftigkeit der Geschädigten orientieren und der Wiederbeschaffung einer selbständigen wirtschaftlichen Existenz dienen.12 Wer bereits über eine wirtschaftliche Existenz verfügte und einen Arbeitsplatz hatte, sollte keine Leistungen erhalten. Die quotale Konzeption sah hingegen eine Entschädigung nach Maßgabe der erlittenen Vermögensverluste der Geschädigten vor und beabsichtigte, vergangene, durch den Krieg zerstörte Vermögensverhältnisse dem Grundsatz nach wiederherzustellen – unabhängig von der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation der Betroffenen. In der Literatur wird die soziale Konzeption der SPD, die quotale der CDU zugeordnet.13 Diese beiden Konzeptionen tangierten schließlich auch die grundsätzliche Frage der Gesellschaftsordnung und der Sozialstruktur.14 Viele SPD-Politiker verknüpften unter dem Eindruck der „Tabula Rasa“ des verlorenen Krieges das soziale Ausgleichsmodell mit der Hoffnung, gleiche Startbedingungen für alle zu schaffen und damit das Fundament für die Überwindung der Klassengesellschaft und für die Schaffung einer neuen, sozial gerechten Gesellschaftsordnung zu legen.15 Das quotale Modell, das auf eine Wiederherstellung der Vermögensverhältnisse setzte, implizierte hingegen eine Bewahrung oder Restauration der Sozialstruktur. Diesem in der Literatur leitenden Unterscheidungsprinzip ist allerdings die Bemerkung hinzuzufügen, dass diese Unterscheidung nur auf die Verteilungsdimension, nicht jedoch auf die Abgabenseite des Lastenausgleichs rekurrierte. Neben diesem Streit um die Grundkonzeption wurden die Fragen diskutiert, ob Sachwert- und Geldbesitz gleichwertig zu behandeln waren, welche Gruppen und welche Schadensarten vom Lastenausgleich erfasst werden sollten und ob das Feststellungsgesetz als Bestandteil des Lastenausgleichs oder separat zu verabschieden war.16 Besonders relevant war die Frage, ob ein Primat der 12 Zur Gegenüberstellung vgl. Goschler/R fner, Ausgleich. In: Sozialpolitik, Bd. 3, 723–728. 13 Goschler/Rüfner, Ausgleich. In: Sozialpolitik, Bd. 3, 724 f. Die SPD hatte die „soziale Konzeption“ zur „Generallinie“ erhoben und sich gegen die Restauration der überkommenen Vermögensverhältnisse ausgesprochen (sozialdemokratische Grundsätze, o. D. In: Material zum Memorandum zur Vorbereitung der Gesetzgebung über den Lastenausgleich. Verwaltung der Finanzen des Vereinigten Wirtschaftsgebietes. Anhang I zum Memorandum zur Vorbereitung der Durchführung der Gesetzgebung über den Lastenausgleich – 2. Fassung, ADW Berlin CAW 232). Wie noch zu zeigen ist, war gerade die CDU in dieser Frage sehr gespalten. Vgl. unten 303–315. 14 Mehrere Akteure verknüpften den Lastenausgleich mit der Hoffnung auf eine soziale Neuordnung. Vgl. Entwurf für ein Wort des OKA zum Lastenausgleich, o. V., o. D. (ADW Berlin ZB 886); Vier Forderungen zum Lastenausgleich. In: ChrWelt, 17. 7. 1948; Keine Währungsreform ohne Sozialreform! Eine Erklärung der Wohlfahrtsverbände. In: EvWelt, 15. 5. 1948, Freyer, Hans: Die soziale Umschichtung. In: ChrWelt, 29. 12. 1949, 4. 15 Wie bereits dargelegt plädierten auch viele Wirtschaftspolitiker aus der CDU für ein soziales Modell, allerdings ohne dieses mit den Neuordnungsphantasien der SPD zu verknüpfen. 16 Schwartz, Lastenausgleich, 176. Strittig war, ob die Flüchtlinge aus SBZ bzw. DDR ebenfalls aus dem Lastenausgleich entschädigt werden sollten. Außerdem wurde darüber debattiert, ob Re-

238 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Entschädigung oder ein Primat der Wirtschaft gelte, ob sich der Lastenausgleich primär an der sozialen Gerechtigkeit oder an der Maxime der Wirtschaftsfreundlichkeit zu orientieren habe; oder ob der kapitalbedürftige wirtschaftliche Wiederaufbau oder die Interessen und Ansprüche der Vertriebenen Vorrang genießen sollten.17 1952 wurde der Lastenausgleich vom Bundestag verabschiedet, allerdings unterlag die komplizierte Materie bis in die 1970er Jahre hinein einem ständigen Novellierungsprozess, der zum Teil einige technische Aspekte, zum Teil auch Leistungsverbesserungen betraf, die angesichts der wirtschaftlichen Konjunktur möglich waren.18 Im Ergebnis entstand ein Kompromiss, der mit der Hauptentschädigung eine quotale, mit der Unterhaltshilfe und der Kriegsschadenrente soziale Komponenten enthielt, wobei der Schwerpunkt stärker auf die Eingliederung als auf die Entschädigung gelegt wurde.19 Die Hauptentschädigung war nach oben in 59 Stufen sozial gestaffelt. Während kleinere Vermögensverluste bis zu einer Summe von 5 000 RM vollständig entschädigt wurden, wurde mit wachsenden Vermögensverlusten nur noch ein bestimmter, nach und nach reduzierter Prozentsatz des verlorenen Vermögens ausgezahlt. Bei einem Vermögensverlust in Höhe von 2,4 Millionen Reichsmark betrug die Entschädigungsquote 2,4 %.20 Sparguthaben wurden mit 6,5 % des Vermögens entschädigt.21 Die Literatur misst den sozialen Komponenten eine größere Bedeutung zu als den quotalen Elementen. Die Finanzierung von Wohnraum und die Förderung des sozialen Wohnungsbaus sowie die Gewährung zinsfreier oder zinsgünstiger Darlehen für Existenzgründungen werden als besonders bedeutend hervorgehoben.22 Auf der Abgabenseite waren eine Hypothekengewinnabgabe, eine Obligationsgewinnabgabe, eine Vermögensabgabe und eine Hausratsabgabe vorgesehen.23 Die Bewertung des Lastenausgleichs ist umstritten. Von zeitgenössischen Beobachtern, aber auch von einigen Sozialhistorikern wurde das Gesetz als „beispielgebende Sozialleistung verklärt“.24 Mit einer Umverteilungssumme

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parationsschäden und Vermögensverluste im Zuge der Währungsreform, sogenannte Altsparerschäden, involviert werden sollten. Ähnlich auch Riedner, Kammer, 156. Goschler/R fner, Ausgleich. In: Sozialpolitik, Bd. 3, 745 und 750. Die 3., 4., 5., 7., 11., 14., 16., 19., 21., 23., 28. und 31. LAG-Novellen betrafen in erster Linie Leistungsverbesserungen. Daneben wurden auch punktuelle Leistungsverbesserungen und Sonderzulagen gewährt. Mit der 21. und 23. Novelle wurden Zonenschäden teilweise in die Hauptentschädigung, mit der 31. Novelle Aussiedler in den Lastenausgleich einbezogen. Die übrigen Novellen betrafen technische Aspekte oder Veränderungen oder Ausweitungen der Stichtagsregelung. Vgl. Wenzel, Verschiebung, 229–231. Schwartz, Lastenausgleich, 167–193. Goschler/R fner, Ausgleich. In: Sozialpolitik, Bd. 3, 749. Ebd., 753. Zum Überblick: Goschler/R fner, Ausgleich. In: Sozialpolitik, Bd. 3. Ebd. Schwartz, Lastenausgleich, 167. Diese optimistische Bewertung finden sich auch in der so-

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von 134 Milliarden DM und einer theoretisch fünfzigprozentigen Vermögensabgabe zugunsten von acht Millionen Vertriebenen war er in quantitativer Hinsicht eines der größten Umverteilungsprojekte und eines der größten sozialpolitischen Gesetzesvorhaben der deutschen Geschichte.25 Mit seiner Mischung aus Entschädigungsleistungen und dauerhaften sozialpolitischen Leistungen wie Rentenzahlungen war er einer der „Eckpfeiler des westdeutschen Sozialstaates“ und trug vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz zwischen DDR und BRD, die auch auf dem Feld der Sozialpolitik ausgetragen wurde und die Expansion der bundesdeutschen Sozialstaatlichkeit wesentlich begünstigte, zur Legitimität der Bundesrepublik bei.26 Vor diesem Hintergrund sei der Lastenausgleich als „Katalysator des deutschen Sozialstaates“ zu betrachten, der eine beträchtliche gesamtgesellschaftliche Integrationsleistung vollbracht und zum Ausbau des bundesdeutschen Sozialstaates beigetragen habe.27 Hans Günter Hockerts macht das Zusammenwirken von Lastenausgleich und Sozialpolitik für den Erfolg der jungen Bundesrepublik verantwortlich.28 Der Historiker Mathias Beer zweifelt zwar daran, dass der Lastenausgleich eine Umverteilung großen Stils bewirkt habe, hebt jedoch die integrationspolitische Leistung hervor: Der Lastenausgleich veränderte weder die Sozialstruktur der BRD noch die Vermögensverhältnisse, was manche gewünscht, andere befürchtet hatten, aber er förderte die Integration wirtschaftlich, sozial, psychologisch und war ein gesamtgesellschaftlich willkommenes Konjunkturprogramm.29

Andererseits wird in der sozialgeschichtlichen Literatur auch Kritik am Lastenausgleich formuliert, die sich sowohl auf die faktische Wirkung als auch auf die Art der Durchführung bezieht. Dabei werden die auf den ersten Blick beeindruckenden Zahlen mit dem Hinweis relativiert, dass die theoretisch fünfzigprozentige Vermögensabgabe in 25 Jahresbeiträgen zu je zwei oder einem Prozent getilgt werden konnte. Damit konnte sie aus den laufenden Einkünften erstritten werden und war keine „Vermögenssubstanzabgabe“.30 Zudem wird auf die großzügigen Ausnahmebestimmungen für die Industrie

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zialgeschichtlichen Literatur, so bei Wehler, der den Lastenausgleich als „imponierendste Leistung“ und als „einschneidende Vermögensumverteilung“ bezeichnet (Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, 259 f.). Ebd., 167. Schwartz verweist auf die Systemkonkurrenz als Motor der sozialstaatlichen Expansion: Schwartz, Lastenausgleich, 167; und ders., Vertriebene im doppelten Deutschland, 127. Für Schwartz gaben die Vertriebenen den Anstoß zum Ausbau des Sozialstaates. Nach Schwartz und Hockerts sei nach 1945 ein „wesentlicher Akzeptanzfortschritt zugunsten einer Sozialpolitik zu beobachten, die nicht mehr nur den Not- und Ausnahmefall, sondern weitgehend den Normalfall gesellschaftlicher Existenz zum Bezugspunkt ihres Handelns machte“ (Schwartz, Umsiedlerpolitik, 29). Vgl. auch Hockerts, Metamorphosen, 35 f. Hockerts, Integration, 23–41. Beer, Flucht, 119. Goschler/R fner, Ausgleich. In: Sozialpolitik, Bd. 3, 729 und 735.

240 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung verwiesen.31 Schließlich sei den Interessen der gut organisierten einheimischen Hausbesitzer ein höherer Stellenwert zugewiesen worden.32 Der Lastenausgleich war allenfalls eine moderate Vermögensumverteilung mit „äußerst bescheidenen Abgabesätzen.“.33 Der Historiker Andreas Kossert weist dem Wirtschaftswachstum ebenfalls eine größere Bedeutung zu.34 Die wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen des Lastenausgleichs sollten nicht überschätzt werden; dem Lastenausgleich komme daher vor allem psychologisch-symbolische Bedeutung zu.35

3.2 Zwischen Gestaltungsanspruch und Sozialstaatsskepsis: Protestantische Positionierungen zum Sozialstaat und zur Sozialpolitik angesichts des Lastenausgleichs 3.2.1 Caritas und Opfer statt Sozialstaat und Sozialpolitik? Die Reaktivierung sozialstaatsskeptischer Traditionen Angesichts des Lastenausgleichs wurden Argumente und Deutungsfiguren der traditionellen protestantischen Sozialstaatskritik aufgerufen. Die Aktualisierung sozialstaatskritischer Deutungsfiguren erklärt sich angesichts der Befürchtung, dass der Lastenausgleich nicht nur in Form einer einmaligen Umverteilung realisiert, sondern mit ihm zugleich ein dauerhaftes staatliches Fürsorgesystem errichtet werde. Eine individualethische Caritas und Nächstenliebe, die ihren Ort in der Gemeinde oder beim einzelnen Christen habe, sei gegenüber einer institutionalisierten und unpersönlichen staatlichen Sozialfürsorge zu bevorzugen. Anlässlich der Lastenausgleichsproblematik wurden Varianten dieser klassischen Denkfigur aktualisiert. Ein paradigmatisches Beispiel dafür ist der stark rezipierte lutherische Theologe und Sozialethiker Helmut Thielicke.36 In seiner „Theologischen Ethik“ lassen sich im Wesent31 Uffelmann, Gesellschaftspolitik, 11. 32 Schwartz, Lastenausgleich, 176. 33 Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 126; Kossert spricht vom bis heute kursierenden „Gerücht“, die Vertriebenen seien „großzügig entschädigt“ worden (Kossert, Heimat, 101). 34 Ebd., 109. 35 Kritik an der ökonomischen Bedeutung des Lastenausgleichs findet sich bei: Uffelmann, Gesellschaftspolitik, 11. Für Uffelmann habe der Lastenausgleich einen unverwechselbaren Beitrag zur Integration der Ostvertriebenen geleistet, solle aber nicht überschätzt werden. Ähnlich auch Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 127; Goschler/R fner, Ausgleich. In: Sozialpolitik, Bd. 3, 725; und Kossert, Heimat, 109. 36 Thielicke befasste sich im 2. Band seiner Theologischen Ethik mit dem Wohlfahrtsstaat. Vgl. Thielicke, Theologische Ethik, Bd. II/2, 357–398. Thielicke negierte den Sozialstaat, da Nächstenliebe nicht institutionalisierbar sei. Ähnlich auch Scheuner, Begriff, 79 und 87 f.

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lichen drei Argumentationsfiguren finden, darunter eine theologische, eine ökonomische und eine, die auf das Staat-Kirche-Verhältnis bezogen war. Für Thielicke konnte sich, erstens, der „Diakoniegedanke“ nicht in der „Darreichung des Materiellen“ erschöpfen, sondern musste von einer „sinngebenden Botschaft“ begleitet sein, die er in der Religion erblickte.37 Vor allem fürchtete der Theologe, der sichtlich innerhalb des Gemeinschaftsparadigmas argumentierte, dass mit einem rationalisierten Fürsorgesystem eine Ordnung entstünde, „die sich als institutionelle Isolierschicht zwischen alle unmittelbaren Ich-Du-Bezüge drängt, sie entpersönlicht und aus der Nächstenliebe die Wohlfahrtsapparatur macht.“38 Der moderne Wohlfahrtsstaat berge die Gefahr einer staatlichen Monopolbildung und untergrabe die Würde des Einzelnen, was bei der Verwirklichung der für Thielicke qualitativ höherwertigen, persönlichen Nächstenliebe, die auf Ich-Du-Beziehungen basierte, nicht der Fall sei.39 Neben diesem Motiv der Entpersonalisierung nannte Thielicke ein zweites wirtschaftlich motiviertes Argument: Er befürchtete, dass ein staatliches Fürsorgesystem die Eigeninitiative der Einzelnen unterdrücke und zudem eine wirksame „Prophylaxe“ verhindere, die für Thielicke in der Schaffung wirtschaftlicher Unabhängigkeit bestand.40 Wirtschaftliche Selbständigkeit und Eigeninitiative wirkten sich positiv auf die wirtschaftliche Produktivität der Volkswirtschaft aus.41 In diesem Zusammenhang verwies Thielicke auf die Vertriebenenproblematik und würdigte insbesondere die Selbsthilfekonzeption des Hilfswerks, die ein Modell „echter Partnerschaft“ sei.42 Demnach war der Umgang des Hilfswerks der evangelischen Kirche mit den Vertriebenen ein Modell für den Umgang mit sozialen Problemen im Allgemeinen: Ein klassischer Modellfall für diese Richtung des Handelns ist innerhalb der Massen- und Flüchtlingsarmut in Deutschland der Nachkriegszeit die vom Staate und von helfenden Organisationen gewährte Flüchtlings-Starthilfe. Deren Aufgabe ist es, die aller Habe und erst recht allen Betriebskapitals entblößten Flüchtlinge nicht zu passiven Fürsorgeempfänger werden zu lassen, sondern ihr Leistungspotential (ihr handwerkliches oder sonstiges Können) dadurch zu aktivieren, daß ihnen die Mittel zur Gründung einer selbständigen Existenz zur Verfügung gestellt werden. Das ist dann nicht eigentlich eine Wohlfahrtshandlung, die den Flüchtling als Objekt behandelt, sondern das ist die Begründung echter Partnerschaft, es ist sozusagen eine geschäftliche Abmachung, bei deren Realisierung auch der Staat wieder verdient, weil er sich einen produktiven Bürger

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Thielicke, Theologische Ethik, Bd. II/2, 362. Ebd., 360. Ähnlich auch Landsberg, die Vertriebenen in der gesellschaftlichen Ordnung, 14. Thielicke, Theologische Ethik, Bd. II/2, 376. Ebd., 379. Ebd. Ebd., 379 f.

242 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung schafft. Ebenso war das gigantische Hilfswerk, das Eugen Gerstenmaier nach dem zweiten Weltkrieg aufbaute, […] nach diesem Prinzip konstruiert.43

Schließlich und drittens befürchtete der Theologe eine Konkurrenzsituation zwischen Staat und Kirche in sozialen Angelegenheiten, der zu einem „Selbstbehauptungskampf der Liebe“ führen könne.44 Allerdings wollte der Theologe den Wohlfahrtsstaat nicht grundsätzlich abschaffen, sondern so weit wie möglich begrenzen: Anstelle eines „totalen Wohlfahrtstaates“ müsse ein „relativer Wohlfahrtstaat“ geschaffen, sozialfürsorgerische Aufgaben an Dritte delegiert werden, damit ein „Primat der direkten Mitmenschlichkeit“ statt „indirekter Fürsorgeapparate“ gewahrt bleibe.45 Diese dichotomische Denkfigur – individualethisch verstandene Nächstenliebe von Angesicht zu Angesicht versus entpersonalisierter Sozialstaat – war ein weit verbreiteter Topos in der protestantischen Theologie und lässt sich bis in die 1960er Jahre nachvollziehen. So fand in den 1960er Jahren eine Kontroverse über Ort und Gestalt der Diakonie zwischen dem Sozialethiker Heinz Dietrich Wendland und dem Generalsekretär des Hilfswerks, Herbert Krimm, statt, die diese Dichotomie letztlich fortschrieben. Während sich Krimm für eine Diakonie der Gemeinde aussprach und die Diakonie in der Gemeinde verwirklicht wissen wollte, sprach sich Wendland unter dem Stichwort „gesellschaftliche Diakonie“ für eine Mitwirkung der Kirche an der Verbesserung der gesellschaftlichen Strukturen, Ordnungen und Institutionen aus, was ein sozialpolitisches Engagement mit einschloss.46 Die von Thielicke hier stellvertretend genannten Motive lassen sich in Variationen auch in der protestantischen Auseinandersetzung mit der Lastenausgleichsfrage finden. An dieser Stelle werden zusammenfassend einige typische Motive und Argumentationsfiguren genannt, in denen die protestantische Sozialstaatsskepsis begründet und aktualisiert wurde. So wurde befürchtet, dass eine staatlich organisierte Sozialfürsorge an die Stelle der Verwirklichung christlicher Nächstenliebe trete und die Nächstenliebe der Gemeinden wie der einzelnen Christen nicht mehr zur Verwirklichung gelange. In diesem Sinne betonte der Landesbischof der hannoverschen Landeskirche einerseits die Notwendigkeit des Lastenausgleichs und staatlicher Maßnahmen, andererseits die „Grenzen der staatlichen Hilfsmöglichkeiten“ und deren „merkwürdig bescheidene [sic!] Ergebnisse“.47 Hierbei handelt es sich vermutlich nicht um eine Kritik an der quantitativen Dimension der 43 Ebd., 379. 44 Ebd., 362. Tatsächlich kann von einer Konkurrenzsituation zwischen Staat und Kirche keine Rede sein. Vielmehr waren Caritas und Diakonie privilegierte Partner des Sozialstaates. Vgl. Nolte, Religion, 133–154. 45 Thielicke, Theologische Ethik, Bd. II/2, 383, 381 und 398. 46 Hierzu Hermann, Diakonie; und Dahm, Konzept. Vgl. auch unten 245–253. 47 Lilje, Hanns: Die exemplarische Bedeutung des Flüchtlingsschicksals für die Christenheit. Vortrag am 25. 10. 1947 auf der Hermannsburger Flüchtlingstagung vom 25. 10. 1947–27. 10. 1947 (LKA Hannover L 3 III Nr. 302).

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Sozialmaßnahmen, sondern um eine grundsätzliche Einschätzung der Grenzen staatlichen Handelns, denn staatliche Maßnahmen konnten nach Lilje prinzipiell nur eine begrenzte Wirksamkeit entfalten. Lilje sprach in diesem Zusammenhang von der „redliche[n] Erkenntnis von den Grenzen der Organisierbarkeit. […] Was nur das Opfer und die richtige Charitas [sic] leisten kann, kann durch keine andere Maßnahme ersetzt werden.“48 Ebenso erkannte der Theologe Herbert Girgensohn auf einer Tagung der landeskirchlichen Flüchtlingsreferenten im Jahr 1957 zwar angesichts des massenhaften Elends die Leistungen des Staates an, kritisierte jedoch, dass „die Konzentration der entscheidenden Hilfeleistungen in den Institutionen, vor allem dem Staate, […] die Gemeindeglieder von der Verpflichtung zur tätigen Übung der Liebe“ dispensiere.49 Der Berliner Flüchtlingsseelsorger Karl Ahme ging noch weiter und führte die Überweisung sozialer und karitativer Aufgaben an den Staat in einem 1958 gehaltenen Vortrag auf die Gottesferne der Menschen zurück.50 Stattdessen wurde die Idee einer christlichen Nächstenliebe in Stellung gebracht, die sich in der Gemeinde, der Familie und kleinräumigen Nachbarschaftsbeziehungen, von Angesicht zu Angesicht verwirkliche.51 Andere Stimmen bevorzugten ein „echtes Opfer“ vor staatlichen Steuern. Teilweise verbanden sich diese Vorstellungen mit einem totalitarismuskritischen Moment: So wurde befürchtet, dass der Staat mit der Expansion sozialfürsorgerischer Leistungen ein Machtmonopol bilde und sich zum „totalen sozialen Verwaltungsstaat“ entwickle.52 Der Sozialpolitiker Johannes Kunze, der letztlich praktisch an der sozialstaatlichen Expansion beteiligt war, gebrauchte weniger drastische Worte, wies jedoch ebenfalls der freien Wohlfahrt die größere Wirksamkeit vor der staatlichen Fürsorge zu. Die Innere Mission verbinde Caritas und Seelsorge, zudem seien hier Menschen am Werk, die „aus innerer Verpflichtung“ und aus „dem Impuls des Herzens“ heraus 48 Ebd. Zu Liljes Referat insgesamt auch Teuchert, Anspruch, 177 f. 49 Girgensohn, Herbert: Flüchtlinge, Vertriebene und Spätaussiedler in der Anfechtung ihres Schicksals als Hörer des Wortes Gottes. Vortrag auf der Tagung der landeskirchlichen Flüchtlingsreferenten am 17. 12. 1957 (EZA Berlin 17/630). 50 Ahme, Karl: Die Verantwortung der Heimatvertriebenen für die Aussiedler und Flüchtlinge. Vortrag auf dem OKK in Königsfeld, 27.–30. 10. 1958 (EZA Berlin 17/717). 51 Gemeinschaft, die von unten wächst. In: Sonntagsblatt, 7. 9. 1951, 9 und 12–15. 52 Zitat nach Entwurf. An den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, Betreff: Lastenausgleich, 11. 11. 1950. Leitsätze des OKAs zum Lastenausgleich. Anhang zum Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt vom 16. 1. 1951 (BArch Koblenz B 126/5683 Bd. 2). Vgl. auch Schreiben der evangelischen Akademie der Hamburgischen Landeskirche an Ranke, 26. 4. 1950 (EZA Berlin 2/2139). Der Sozialstaat wurde unter Totalitarismusverdacht gestellt, v. a. im vom Hanns Lilje herausgegebenen „Sonntagsblatt“ und auf den Tagungen der Hermannsburger Forschungsstelle: Die stille Revolution. In: Sonntagsblatt, 3. 9. 1950, 10 f.; Auch der Sozialstaat ist gefährdet! In: Sonntagsblatt, 10. 8. 1952, 17; Kein Wohlfahrtsstaat! Die Sicherung der Existenz muss Freiheit bleiben! In: Sonntagsblatt 9. 11. 1952, 1; Fried, Ferdinand: Das Anwachsen des Wohlfahrtsstaates. In: Sonntagsblatt, 23. 8. 1953, 30; Gablentz, Art. Masse. In: ESL 1954; Scheliha, Durchdringung. In: Seeberg, Immer noch Aufgaben, IV–XX; und Bartels, Flüchtlingsarbeit. In: Ebd., 35–55.

244 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung handelten.53 Die staatliche Wohlfahrt sei hingegen anonymisiert, bürokratisiert und könne politisch instrumentalisiert werden.54 Daher solle der Staat die finanziellen Mittel zur Verfügung stellen und die Durchführung den freien Verbänden überlassen.55 Kritik am Fürsorgesystem äußerte auch SpiegelSchmidt, der an die Stelle eines unvermeidlichen Fürsorgesystems die Idee der Selbsthilfe und die „Selbständigkeit der Gesellschaft“ setzte: Darum ist aber jeder Versuch, die Not nur durch ein System von Unterstützern zu beheben, mehr als fragwürdig. Freilich kann ein Staatsgesetz nicht mehr tun. Aber es kann und darf auch nicht die Selbständigkeit der Gesellschaft aufheben.56

Anhand der spezifischen Situation des Lastenausgleichs stellte sich jedoch die Frage, ob der Lastenausgleich tatsächlich als Ausdruck institutionalisierter und auf Dauer gestellter Sozialstaatlichkeit zu verstehen war oder ob es sich nicht vielmehr um einen einmaligen Ausgleich erlittener Verluste handelte, der angesichts der einmaligen Ausnahmesituation des verlorenen Krieges zu erbringen war. Gerade die Verfechter einer quotalen Lastenausgleichskonzeption legitimierten und profilierten ihre Vorstellungen eines „echten Lastenausgleiches“ mit dem Argument, dass ein „echter Lastenausgleich“ gerade keine Fürsorge, sondern eine einmalig zu erbringende Entschädigung erlittener Vermögensverluste sei. So wurde auf einer der Hermannsburger Flüchtlingstagungen der „echte Lastenausgleich“ von bloßen „Wohlfahrtsmaßnahmen“ abgegrenzt, die man im gegenwärtigen Lastenausgleichsentwurf zu entdecken glaubte.57 Die Gegenüberstellung von sozialpolitischem Engagement und traditioneller Sozialstaatsskepsis lässt sich anhand der Lastenausgleichsfrage nicht mit der Frage „pro“ oder „kontra“ Lastenausgleich übersetzen. Der Lastenausgleich konnte, musste jedoch nicht zwangsläufig als Manifestation des Sozialstaates interpretiert werden. Anders formuliert: Protestantische Akteure konnten einerseits eine Opfergabe fordern und an die Opferbereitschaft der Christen im Rahmen des Lastenausgleichs appellieren, andererseits vor den Gefahren eines „falsch verstandenen“, d. h. auf Fürsorgemaßnahmen reduzierten Lastenausgleichs warnen, der die Vertriebenen zu Almosenempfängern und Objekten der Fürsorge degradiere und der zudem die Gefahr des anonymen Bürokratismus berge.58 Reste dieser 53 Kunze, Johannes: Die Wohlfahrtspflege der deutschen Bundesrepublik. In: EvWelt, 1. 9. 1949, 500. 54 Ebd. 55 Ebd. 56 Spiegel-Schmidt, Lastenausgleich, 14. 57 Z. B. Spiegel-Schmidt, Fragen, 3. 58 Lilje, Hanns: Die exemplarische Bedeutung des Flüchtlingsschicksals für die Christenheit. Vortrag auf der Hermannsburger Flüchtlingstagung vom 25. 10. 1947–27. 10. 1947 (LKA Hannover L 3 III Nr. 302); Spiegel-Schmidt, Fragen, 3; Eingabe der Arbeitstagung für Flüchtlingsfragen an Landesbischof Lilje, 20. 1. 1951. Anhang zu 20. Sitzung des Rates der EKD in Hannover am 6. 3. 1951. In: Pçpping (Bearb.), Protokolle, Bd. 5, 132; und Girgensohn, Herbert:

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protestantischen Sozialstaatsskepsis lassen sich fast zehn Jahre später in den Beiträgen Hans Achingers finden.59 In der „ZEE“ reflektierte Achinger über den Ausbau des Sozialstaates aus sozialethischer Sicht. Hier diagnostizierte er a) eine „Ablösung der gegenseitigen Verpflichtung von Mensch zu Mensch“ durch „staatliche Apparaturen“, was eine Neutralisierung des Ethischen bewirke, und b) eine „Verrechtlichung des Hilfsaktes“ und die Etablierung des Entschädigungsdenkens in der Sozialversicherung, wofür der Lastenausgleich verantwortlich sei.60 Angesichts dieser Entwicklung müsse die „sittliche Natur der öffentlichen Körperschaft“ deutlicher formuliert werden. Die Notwendigkeit sozialstaatlicher Expansion bzw. sozialpolitischen Engagements einerseits und Sozialstaatsskepsis andererseits müssen also, wie die Beispiele Kunze und Achinger zeigen, nicht als Widersprüche gedacht, sondern können komplementär verstanden werden. Beide sorgten sich angesichts der sozialstaatlichen Expansion um die Wahrung der Humanität und Personalität, ohne damit den Lastenausgleich an sich infrage zu stellen. 3.2.2 Legitimationsfiguren der protestantischen Sozialpolitik Der diakonische Auftrag der Kirche erfuhr im Protestantismus der Nachkriegszeit eine konzeptionelle Erweiterung und Neuinterpretation. Es entspreche, so lassen sich diese Stimmen zusammenfassen, der gesellschaftlichen Verantwortung der Kirche, an der Verbesserung der gesellschaftlichen Ordnung mitzuwirken, mit anderen Worten: Nicht nur sozialfürsorgerisch, sondern auch sozial- und gesellschaftspolitisch tätig zu werden.61 Bereits seit 1942, vor allem aber in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre formierten sich verschiedene Gesprächskreise, die über die Neugestaltung der Sozial- und Wirtschaftsordnung und die Rolle der Kirche hierbei reflektierten.62 In diesem

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Entwurf für ein Wort der EKD an die Mitglieder des Bundestags und Bundesrates, 3. 3. 1951. In: Ebd., 132 f. Achinger war selbst politikberatend tätig. Er war Mitglied des Arbeitsausschusses für Grundsatzfragen des Beirates für die Neuordnung der sozialen Leistungen und Mitverfasser der Denkschrift „Zur Neuordnung der sozialen Hilfe: Konzept für einen deutschen Sozialplan“ (Achinger/Neundçrfer, Neuordnung). Achinger, Materialien, 65 f. und 70–72. Solche Konzepte finden sich vor allem beim Sozialethiker Heinz Dietrich Wendland. Vgl. Hermann, Diakonie; und Dahm, Konzept. Eine parallel laufende Entwicklung vollzog sich offenbar auch im Sozialstaatsverständnis. So jedenfalls Schwartz, Umsiedlerpolitik, 29; und Hockerts, Metamorphosen, 35 f. Verschiedene protestantische Gesprächskreise setzten sich z. T. seit 1942 mit der sozialen Neuordnung auseinander. Die ordoliberalen Vorstellungen des seit 1942 tagenden, überwiegend aus Ökonomen zusammengesetzten Freiburger Kreises, der über die Gestaltung der Nachkriegssozialordnung reflektierte, lassen sich dabei als geistige Wurzel der sozialen Marktwirtschaft fassen. Die protestantischen Ökonomen Constantin von Dietze, Gerhard Ritter, Franz Böhm und Walter Eucken suchten nach einem „Ordnungsmodell jenseits der abgelehnten

246 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Zusammenhang formulierten Sozialethiker und Ökonomen normative sozialethische Leit- und Gestaltungsprinzipien, an denen sich die soziale Ordnung und das sozialpolitische Engagement orientieren solle. Wichtige konzeptionelle Leitbegriffe waren „verantwortliche Gesellschaft“ und „gesellschaftliche und politische Diakonie.“ Die erste Vollversammlung des Ökumenischen Weltkirchenrats, die 1948 in Amsterdam stattfand, verschrieb sich dem Leitbild einer „verantwortlichen Gesellschaft“, das auf den britischen Sozialethiker Joseph Oldham zurückging und schließlich Eingang in die deutsche protestantische Sozialethik fand.63 Während der Begriff der Verantwortlichen Gesellschaft eine Systemalternative zu Kommunismus und Kapitalismus zum Ausdruck bringen sollte, rekurrierte der Begriff der „politischen oder gesellschaftlichen Diakonie“64 auf den Mitgestaltungsanspruch der Kirche im sozialen und politischen Bereich und fungierte somit als Legitimationsressource für den kirchlichen Mitgestaltungsanspruch, der unter dem Eindruck der flächendeckenden Nachkriegsnot und einer großen sozialen Ungleichheit formuliert wurde. Auch wenn diese sozialethischen und sozialpolitischen Tendenzen ein relativ junges Phänomen waren und sich u. a. dem Eindruck der Vertriebenenproblematik verdankten, konnten die Akteure an die DisKonzeptionen des Laissez-Faire-Kapitalismus und des totalitären Kollektivismus.“ Eine Ergänzung der Wirtschaftsordnung um soziale Sicherheitssysteme und eine partizipative Betriebsverfassung wurden daher als wünschenswert angesehen (J hnichen, Sozialethik, 1034 und 1038 f.). Der Ökonom Müller-Armack wirkte an einem Berliner Arbeitskreis unter Otto Dibelius mit. Müller-Armack zählt zu den geistigen Vätern der sozialen Marktwirtschaft und wurde später Staatssekretär unter Ludwig Erhard. Siehe ebd., 1039. Christiane Kuller plädiert dafür, den deutschen Sozialstaat nicht nur als „Kompromiss zwischen katholischer Soziallehre und wirtschaftlichem Ordoliberalismus, sondern auch und vor allem als Kompromiss zwischen katholischer Soziallehre und protestantischer Soziallehre zu deuten.“ Der protestantische Anteil komme v. a. in jenem Ordoliberalismus zum Ausdruck (Kuller, Protestantismus, 57). 63 Die Ökumene definierte „verantwortliche Gesellschaft“ als eine solche, „in der Freiheit die Freiheit von Menschen ist, die sich für Gerechtigkeit und öffentliche Ordnung verantwortlich wissen“ (Unordnung. In: Amsterdamer Dokumente, 50). Parallel zu den Dokumenten, die die Resolutionen enthielten, erschienenen Studienbände mit Aufsätzen und vorbereitendem Material. Siehe Menn, Ordnung; Studienkommission, Kirche; und dies, Kirche und die Auflösung. Insbesondere im Sozialethischen Ausschuss der rheinischen Landeskirche spielte dieses Konzept eine Rolle. Vgl. Kaminsky, Kirche, 108 f. Vgl. auch J hnichen, Sozialethik, 1041–1048; Wendland, Verantwortliche Gesellschaft, 40; und Weisser, Postulat. In Amsterdam berichteten die protestantischen deutschen Delegierten über die Vertriebenenproblematik: Luther, Vertriebene; Trotha, Auflösung; und Gablentz, Auflösung, 122. 64 Zum Konzept der gesellschaftlichen Diakonie siehe J hnichen/Friedrich, Geschichte, 1045–1049. Der Sozialethiker Heinz Dietrich Wendland setzte sich mit dem Konzept der gesellschaftlichen Diakonie auseinander. Die gesellschaftliche Diakonie habe es „primär mit den Institutionen zu tun; sie fragt nach dem Verhältnis des Menschen zu dem durch Sachstrukturen vermittelten sozialen Beziehungen unter dem Gesichtspunkt der Befindlichkeit, des Wohlergehens und der Wohlfahrt des Menschen innerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen Institution. Es kommt darauf an, diese Institutionen ständig den neuen Erfordernissen der wechselnden geschichtlichen Situation anzupassen.“ Demnach müsse Sozialethik von den sozialen Realitäten ausgehen (Dahm, Konzept, 307).

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kussionen in der internationalen Ökumene und der Sozialreformbewegung anknüpfen.65 Einige protestantische Akteure brachten den gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruch mit konkreten sozialen Problemlagen wie der Vertriebenenproblematik in Verbindung. Das Hilfswerk der evangelischen Kirche unter Eugen Gerstenmaier entwickelte weitgehende gesellschaftspolitische Vorstellungen. Gerstenmaier setzte, letztlich auch von einem dichotomischen Welt-Kirche-Verhältnis ausgehend, die Prämisse der Gleichzeitigkeit einer „Distanz von der Welt“ und einer „Solidarität mit der Welt“, die die Kirche zum politischen Handeln berechtige.66 Der Politiker und Theologe gebrauchte dabei den Leitbegriff „politische Diakonie“ und „Diakonat der Kirche“, die er beide als zusammengehörig begriff.67 In dieser Begrifflichkeit verdichteten sich verschiedene Komponenten, darunter a) ein ekklesiologisches Verständnis von Kirche und ihren Aufgaben, b) praktische integrationspolitische Vorstellungen und c) ein sozialpolitischer Gestaltungsanspruch. In Abgrenzung zur in freien Verbänden organisierten Inneren Mission propagierte Gerstenmaier a) ein „Diakonisches Amt der Kirche“ oder ein „Diakonat der Kirche“ – ein Begriff, der nach schwierigen Verhandlungen schließlich Eingang in die Grundordnung der EKD fand.68 Der Begriff „Diakonisches Amt“ der Kirche implizierte eine enge Anbindung des Hilfswerks an die Amtskirche und die Verankerung des diakonischen Gedankens im Selbstverständnis der Kirche.69 Dies entsprach nicht nur ekklesiologischen, sondern auch pragmatischen Überlegungen, denn das Hilfswerk konnte so auf die materiellen, institutionellen und personellen Ressourcen der Landeskirchen und Kirchengemeinden zurückgreifen. Ein Baustein der Integrationspolitik war aber auch 65 Die Wurzeln dieses Diskussionszusammenhangs liegen in der Weimarer Republik. Diskussionsorte waren die internationale Ökumene und die Sozialreformbewegung, v. a. der Verein für Socialpolitik. Protestantische Akteure wie Friedrich Karrenberg, Ludwig Heyde und Wilhelm Menn waren hier aktiv. Hierzu Hoppe, Netzwerke, 208–216. Raphael verortet den Verein für Socialpolitik in die erste Phase der Verwissenschaftlichung des Sozialen. Siehe Raphael, Verwissenschaftlichung, 166. Der von Hofprediger Adolf Stoecker, dem Theologen Adolf Harnack und dem Ökonomen Adolph Wagner gegründeten „Evangelisch-Soziale Kongreß“, der sich „für eine theologisch geleitete du sozialwissenschaftlich verankerte Sozialreform […] einsetzte“, wäre hier als Beispiel für die Kontinuität des sozialwissenschaftlich-theologischen Dialogs der 1920er bis 50er Jahre zu nennen (Bruch, Wilhelminismus, 15 f.). 66 Gerstenmaier, Eugen: Die Kirche vor den sozialen Aufgaben unserer Zeit. In: ChrWelt, 15. 6. 1950, 8. 67 Gerstenmaier, Wichern II. 68 Zum Begriff des Diakonischen Amtes der Kirche bzw. des Diakonats der Kirche siehe Gerstenmaier, Eugen: Bleibende Aufgaben und neue Wege in der Arbeit des Hilfswerkes. Vortrag am 30. 8. 1949 (ADW Berlin ZB 934). Später bekräftigte er diesen Anspruch vor der Synode der EKD: Ders., Bericht. In: Kirchenkanzlei, Berlin-Weissensee, 180. Zur Aufnahme der umstrittenen Formel „Diakonat der Kirche“ in die Grundordnung siehe Wischnath, Aktion, 208. 69 Durchgestaltung der Heimatlosen- und Vertriebenenhilfe. Anhang zum Protokoll der Sitzung des Wiederaufbau-Ausschusses vom 21. 10. 1947 (ADW Berlin ZB 934). Der Sozialethiker Jähnichen spricht von einer „Verkirchlichung der Diakonie“ (J hnichen, Sozialethik, 1046).

248 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung die Integration der Vertriebenen in die Gemeinden.70 Konstitutiv für die vom Hilfswerk vertretene Integrationspolitik war b) der Selbsthilfegedanke.71 Dieser zielte auf den Wiederaufbau einer selbständigen wirtschaftlichen Existenz. In diesem Kontext sei der Aufbau von Gewerbebetrieben mit dem Wohnungsbau zu verbinden, wie dies in der Flüchtlingsstadt verwirklicht worden sei.72 Durchaus selbstbewusst erklärte Gerstenmaier das Modell Espelkamp zur Grundlage der Sozialgesetzgebung: Wir haben die Freude gehabt, daß es vor einigen Wochen gelungen ist, das Modell der gewerblichen Siedlung Espelkamp insofern zur Grundlage der Gesetzgebung in einem wesentlichen Bereich des deutschen Soziallebens im Westen zu machen, als diese gewerbliche Siedlung Espelkamp die Grundlage abgegeben hat für die Ansiedlung und die Übertragung dieses Gebietes in erster Linie an die Heimatlosen und Flüchtlinge. Der Leitgedanke, den wir dabei vertreten, ist erstens die Verbindung von Arbeit und Heimstatt, zweitens aber die Verbindung von Sippe und Familie, so daß eine kirchliche Gemeindebildung auch soziologisch gefördert wird.73

Ob Espelkamp und die hier verwirklichten Grundsätze das unmittelbare Vorbild für die Gesetzgebung waren, wie Gerstenmaier hier behauptete, darf allerdings in dieser Absolutheit bezweifelt werden. Bereits in seiner ersten Regierungserklärung ein Jahr zuvor hatte Bundeskanzler Adenauer ähnliche Gesichtspunkte formuliert.74 Aber zumindest ist die Parallelität zwischen Wohnungsbaugesetz und dem Modell Espelkamp, das zudem überregional bekannt war, offensichtlich.75 Das Wohnungsbaugesetz entsprach auch den 70 Der Generalsekretär des Hilfswerks, Christian Berg, bezeichnete die Gemeinde als „Hauptkampflinie“ und definierte als Ziel die „Eingemeindung“, d. h. die „Eingliederung der Flüchtlinge in die glaubende, betende, hoffende Gemeinde“ (Berg, Auftrag, 78). 71 Vgl. oben 143–150. 72 Vgl. ebd. Theologisch war umstritten, inwieweit diese wirtschaftliche Aktivität legitim sei. Kontrovers wurde darüber auf der Synode diskutiert. Hierzu Rudolph, Kirche Bd. I, 120 und 125. Einen Überblick über die in diesem Zusammenhang gegründeten Wirtschaftsunternehmen des Hilfswerks gibt: Gniss, Politiker, 191, Anm. 10. 73 Gerstenmaier, Bericht über das Hilfswerk. In: Kirchenkanzlei, Berlin-Weissensee, 171. „Christ und Welt“, das das Konzept „Diakonat der Kirche“ rechtfertigte, berichtete über die Synode: Die soziale Kirche. In: ChrWelt, 12. 4. 1951, 1. Zu Espelkamp auch Pfeil, Neugründungen, 508–511, 515 f. Das Hilfswerk unterstützte das Gesetz zum sozialen Wohnungsbau. Siehe Entschließung des Hilfswerks zum sozialen Wohnungsbau (EZA Berlin 71/1186). 74 Adenauer hatte einen Primat der Wirtschaft, der Arbeitsbeschaffung und des Wohnungsbaus vertreten. Für den sozialen Wohnungsbau wolle die Bundesregierung Mittel bereitstellen, den Wohnungsbau aber privaten Trägern überlassen. Vgl. Adenauer, Erklärung der Bundesregierung. 5. Sitzung des Deutschen Bundestages, 20. 9. 1949, In: Verhandlungen, 1. WP, 22–26. Vgl. auch Regierungsprogramm: So sozial wie möglich. In: Welt, 21. 9. 1949, 1. 75 Wichtige Punkte des Gesetzes waren die Vorrangigkeit des sozialen Wohnungsbaus „unter der Berücksichtigung von Arbeitsmöglichkeiten“ und die Bevorzugung von Vertriebenen bei der Wohnraumvergabe (Gerstenmaier, Bericht über das Hilfswerk. In: Kirchenkanzlei, BerlinWeissensee, 171). Zur Wahrnehmung der Modellstadt Espelkamp in der überregionalen Presse: Schçnfeldt, Charlotte: Neue Stadt aus dem Boden gestampft. In: Die Zeit, 1. 12. 1949, 2; Eine

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eigenen Intentionen, weil es den Staat zwar zum Financier des Wohnungsbaus machte, die Trägerschaft jedoch den freien Wohlfahrtsverbänden überließ.76 Aufgrund dieser gesetzlichen Voraussetzungen plädierte Gerstenmaier vor der Synode für die Gründung von Trägergesellschaften, um den Wohnungsund Siedlungsbau im kirchlichen Raum zu forcieren.77 Offenbar war diese Initiative jedoch nur begrenzt erfolgreich: Unter der Trägergesellschaft des Hilfswerks wurden 23 0000 Wohnungen errichtet. Gemessen an der Gesamtzahl der öffentlich geförderten Wohnungen macht dies den geringen Prozentsatz von weniger als 3 % aus.78 Schließlich und c) rückte nach der Beseitigung der größten Nachkriegsnot die große Diskrepanz der Lebensbedingungen und Besitzverhältnisse zwischen Vertriebenen und Einheimischen und damit sozialpolitische Fragen ins Zentrum.79 Die kirchliche Vertriebenenarbeit sollte aus dem Raum der Kirche heraustreten und an der Therapierung der als „krank“ und „brüchig“ beschriebenen Gesellschaftsordnung mitwirken.80 Diese Überlegungen fasste Gerstenmaier im Begriff „Wichern zwei“ zusammen. Damit wollte er die konzeptionelle Weiterentwicklung der traditionellen, sozialfürsorgerischen Anstaltsdiakonie zum Ausdruck bringen, die vom protestantischen Sozialreformer Johann Wichern im 19. Jahrhundert geprägt und gegründet worden war.81 Die Kirche könne sich nach Gerstenmaier, der in den „Massen das soziologische Kernproblem Deutschlands“ erblickte, in der gegenwärtigen Problematik nicht darauf beschränken, das „Lazarett- und Sanitätspersonal ihrer Anstalten zu rufen.“82 Die Gesellschaftsordnung bedürfe „einer grundlegenden Erneuerung und eines neuen Verständnisses für den sozialen Cha-

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Munitionsanstalt wurde Flüchtlingssiedlung. In: FAZ, 20. 2. 1959, 6; Wie eine Flüchtlingssiedlung wächst. In: ChrWelt, 7. 9. 1950, 4; und Flüchtlingssiedlung – wer soll sie bauen? In: ChrWelt, 30. 8. 1951, 5 f. Gerstenmaier: Bericht über das Hilfswerk. In: Kirchenkanzlei, Berlin-Weissensee, 171. Auch auf diesen Gesichtspunkt hatte sich das Bundeskabinett geeinigt. Vgl. Regierungsprogramm: So sozial wie möglich. In: Die Welt, 21. 9. 1949, 1. Gerstenmaier: Bericht über das Hilfswerk. In: Kirchenkanzlei, Berlin-Weissensee, 171. Im Anschluss wurde die „Gemeinnützige Siedlungsgesellschaft des Hilfswerks der Evangelischen Kirche in Deutschland“ weiter ausgebaut. Rudolph, Kirche Bd. I, 28 f. Für Rudolph war das Siedlungsprogramm dennoch erfolgreich, da 80 % der Wohnungen in Eigentumswohnungen überführt werden konnten. Bei manchen säkularen Trägern sei das Verhältnis umgekehrt gewesen. Ebd., 163 f. Gerstenmaier, Heimatlose. In: Ders, Reden, 81. Der sozialtherapeutische Ansatz geht hervor aus: Schreiben des Hilfswerks der evangelischen Landeskirche an die Prälaten und Dekane, 25. 8. 1949 (ADW Berlin ZB 934). Zur konzeptionellen Ausgestaltung dieses Selbstverständnisses ließ Gerstenmaier eine „Arbeitsgemeinschaft Wichern-Denkschrift Teil II“ bilden, die eine entsprechende Denkschrift ausarbeiten und die Arbeit des Hilfswerks unter das Paradigma einer politischen Diakonie stellen sollte. Vgl. Gerstenmaier, Wichern II; auch Rudolph, Kirche Bd. I, 171–175. Gerstenmaier, Eugen: Die Kirche vor den sozialen Aufgaben unserer Zeit. In: ChrWelt, 15. 6. 1950, 8.

250 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung rakter unseres privaten, unseres Gemeinschaftslebens und jeglichen Eigentums.“83 Auf einer Kundgebung des Hilfswerks 1947 übertrug Gerstenmaier diese Überlegungen auf den Lastenausgleich. Angesichts des Sachverhalts, dass ganz Deutschland und nicht nur Schlesier und Ostpreußen den Krieg verloren hätten, sei eine „Neuordnung der Besitzverhältnisse“ unumgänglich: Wir werden für eine gerechte Lastenverteilung zwischen heimatlos Gewordenen und Besitzenden mit allem, was wir vermögen, eintreten müssen. […] Die Kirche schuldet den besitz- und heimatlos Gewordenen nicht nur Trost und Tat, sondern das ungeteilte Eintreten für ihr Recht. […]. Wir werden zu einer Neuordnung der Besitzverhältnisse kommen müssen, die der Lage […] angemessen ist und die Ausdruck der Solidarität eines Volkes sein soll, das unter schwerem Leiden das Recht und die Gerechtigkeit liebt.84

Dieser Aufgabe war das gesamte Hilfswerk gewidmet, wie er selbstbewusst erklärte: Das Hilfswerk ist kein Wohlfahrtsverband im alten Sinne. Von innen her ist es ein dienender Arm der Kirche und ein wahrhaft männliches Werk der Diakonie. Von außen ist es mehr Sozialwerk als Wohlfahrtseinrichtung und ,der‘ soziale Arm des Protestantismus. Was von innen her Dienst der Liebe ist, erscheint von außen sozialpolitisch als Kampf um Recht, um die Durchsetzung der Lebensordnung, die vom Recht getragen ist.85

Nachdem Gerstenmaiers Versuch, eine „Zentralstelle der Flüchtlingsarbeit“ mit „einheitlicher Repräsentanz gegenüber den säkularen Flüchtlingsorganisationen“ einzurichten, gescheitert war, entwickelte der Theologe vermehrt politische Ambitionen und wurde schließlich in den Bundestag gewählt.86 Zu Beginn der politischen Laufbahn bildete die Vertriebenenthematik einen Schwerpunkt seiner politischen Arbeit; dabei strebte Gerstenmaier, der über gute Kontakte in die internationale Ökumene verfügte, auf Wunsch Adenauers eine „Internationalisierung des Flüchtlingsproblems“ an.87 Allerdings verlor 83 Schreiben des Hilfswerks der evangelischen Landeskirche an die Prälaten und Dekane, 25. 8. 1949 (ADW Berlin ZB 934). 84 Gerstenmaier, Heimatlose. In: Ders, Reden, 81. 85 Die Flüchtlingsfrage im Spiegel der Gegenwart. Zur Hilfswerkstagung auf der Karlshöhe bei Ludwigsburg, 23. 8. 1948 (ADW Berlin ZB 946). Ähnlich auch Stichwortmäßige Wiedergabe der Eröffnungsrede des Herrn Dr. Gerstenmaier auf der Karlshöhe am 16. 8. 1948 (ADW Berlin ZB 946; Archiv des IfZ M nchen, ED 94/338). 86 Zum Scheitern dieser Pläne siehe Gerstenmaier, Bericht über das Hilfswerk. In: Kirchenkanzlei, Berlin-Weissensee, 169. Zustimmend Spiegel-Schmidt, ebd., 200 f. Vgl. auch Die Kandidatur Gerstenmaier. In: ChrWelt, 21. 7. 1949, 2. Kurzfristig wurde Gerstenmaier für das Amt des Bundesvertriebenenministers vorgeschlagen, was er allerdings ablehnte. Hierzu Gniss, Politiker, 226. 87 Siehe hierzu unten 315–321. Gerstenmaier, Eugen: Bleibende Aufgaben und neue Wege in der Arbeit des Hilfswerkes. Vortrag auf der Konferenz der Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks am 30. 8. 1949 (ADW Berlin ZB 934). In seiner Kritik des Potsdamer Abkommens machte Gers-

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das Hilfswerk im Laufe der Zeit seine anfänglich überragende Bedeutung in der Vertriebenenarbeit, zumal sich zwischen 1948 und 1949 eigene Interessenorganisationen der Vertriebenen herausbildeten.88 Folglich wurde auch der sozialpolitische Gestaltungsanspruch etwas relativiert. In einem umfassenden Grundsatzaufsatz stellte Gerstenmaier fest, dass Wichern zwei „bis jetzt im Bereich des deutschen Protestantismus ein Fragment […] in theoretischer und praktischer Hinsicht geblieben ist.“89 Allerdings blieb der Begriff der „politischen“ oder auch „gesellschaftlichen Diakonie“ ein zentraler Reflexionsbegriff der protestantischen Sozialethik, um eine politische und gesellschaftliche Mitgestaltung theologisch zu legitimieren und das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft zu modellieren.90 Der Politiker Johannes Kunze, der als der protestantische Sozialpolitiker gilt und als Vorsitzender des Bundestagsausschusses für den Lastenausgleich an der vertriebenenbezogenen Sozialpolitik entscheidend beteiligt war, griff ebenfalls auf die Figur der politischen Diakonie zurück, verlieh dem Begriff jedoch eine eigene Bedeutung.91 Das Konzept der „politischen Diakonie“ war bei Kunze mit zwei Grundgedanken verknüpft. Erstens bedeutete es die Anerkennung eines Primats der christlichen Ethik im politischen Raum und die daraus abgeleitete Forderung einer „verantwortlichen Mitarbeit der Kirche an allen […] Ordnungen der Welt.“92 „Politische Diakonie“ war damit ein Korrektiv zur bestehenden, am römischen Recht orientierten Eigentumsordnung, der ein starrer, formaljuristischer und „nächstenliebearmer“ Eigentumsbegriff zugrunde liege. Dieser sei ungeeignet, das „gestörte Sozialgefüge wieder in ein richtiges Gleichgewicht“ zu bringen.93 Der Politiker stellte demnach das Prinzip der „Politischen Diakonie“ über das geltende Recht, das er als „for-

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tenmaier allein dieses für die Vertriebenenproblematik verantwortlich: Ders.: Rede vor der Assembl e des Europarates am 19. 8. 1950 (EZA Berlin 87/134). In diesem Zusammenhang konferierte Gerstenmaier mit dem amerikanischen Präsidenten Harry Truman, referierte vor dem Europarat über die Vertriebenenproblematik und setzte sich gegen die Diskriminierung der deutschen Flüchtlinge ein. Vgl. Stichwortmäßige Wiedergabe der Eröffnungsrede des Herrn Dr. Gerstenmaier auf der Karlshöhe am 16. 8. 1948 (ADW Berlin ZB 946); ders.: Rede vor der Assembl e des Europarates am 19. 8. 1950 (EZA Berlin 87/134); und ders.: Flüchtlingshilfe im Weltmaßstab. Vortrag auf der Arbeitstagung über Fragen der Heimatvertriebenen vom 17.–21. 2. 1951 in Bad Boll (EZA Berlin 2/2140). Kossert, Heimat, 139–164. Gerstenmaier, Wichern zwei, 469 f. Wendland begründete eine kirchliche Verantwortung für die Gesellschaft mit dem Begriff „Gesellschaftsdiakonie“, den er von traditionellen theologischen Begründungsfiguren wie ZweiReiche-Lehre, Königsherrschaft Christi oder Ordnungstheologie abgrenzte. Hierzu Huber, Kirche, 465–470, Zitat 465 f. Auch Dahm, Konzept. Zur Begriffsgeschichte der gesellschaftlichen und politischen Diakonie: Meyer, Diakonie; und Laube, Theologie, 20. Kaiser, Gerstenmaier, 90. Zu Kunzes Wirken siehe unten 303–315. Siehe auch Kunze, Diakonie. Das „Sonntagsblatt“ bezeichnete Kunze daher als „Vater des Lastenausgleichs“ (Wie steht der Kampf um den Lastenausgleich? In: Sonntagsblatt, 14. 12. 1952, 18). Kunze, Diakonie. 76. Ebd., 82, 84–86.

252 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung maljuristisch“ diskreditierte. Indiz für die Unzulänglichkeit des römischen Rechts war, dass sich sowohl die Geschädigten als auch die Nicht-Geschädigten formaljuristisch auf die Eigentumsordnung des römischen Rechts stützen könnten.94 Zweitens verstand Kunze unter politischer Diakonie ein vermittelndes Prinzip zwischen den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit und den volkswirtschaftlichen Interessen, wobei die wirtschaftlichen Interessen für Kunze identisch waren mit den „Interessen des Ganzen.“95 Im Zweifels- oder Konfliktfall priorisierte der Sozialpolitiker allerdings die wirtschaftlichen Interessen gegenüber der sozialen Gerechtigkeit: Es darf nicht sein, dass einer ungestörten Rechtsordnung zuliebe volkswirtschaftlich notwendige und nützliche Substanz aus Spiel gesetzt wird, nur um der Gerechtigkeit willen. […] Er [der Gesetzgeber, FT] muss auch dort regelnd eingreifen, wo ein offenbares Missverhältnis zwischen volkswirtschaftlicher Notwendigkeit und berechtigten Privatansprüchen das soziale Gefüge durch ungerechte Verteilung der Lasten bedroht. Hier muss er eben dann seine ganze Erfahrung und sein Wissen um die gesamten sozialen und volkswirtschaftlichen Zusammenhänge anwenden, um jedes offenbare Unrecht dort gutzumachen, wo es ihm nur irgend möglich ist, aber auch dort zur Not ein letztlich doch nur formal-juristisches ,Unrecht‘ in Kauf zu nehmen, wo es für den Leistungspflichtigen im Interesse des Ganzen unvermeidbar bleibt. Mit einem Wort: er muss eine politische Diakonie in seinen Gesetzen walten lassen, ungeachtet des Grundsatzes der Beachtung jedes formaljuristischen Rechtsbegriffes.96

„Politische Diakonie“ erschöpfte sich für Kunze nicht in einem einzelnen Gesetzeswerk oder in konkreten sozialpolitischen Forderungen, sondern markierte, nachdem die „alten Grundsätze“ fragwürdig geworden waren, die „Einführung eines revolutionären Rechtsbegriffes“ und „das Fundament einer Neuordnung“, was die „Umerziehung und Umformung der Denkweise des ganzen Volkes“ erforderlich mache.97 Aus diesen Überlegungen folgten für den Diplomkaufmann konkrete integrationspolitische Überlegungen, die sich durchaus mit dem Selbsthilfegedanken deckten, wie beispielsweise die Priorisierung des Existenzaufbaus.98 Hinter Kunzes gesellschaftspolitischer und sozialethischer Konzeption verbarg eine kaum verschleierte Parteinahme für die soziale Ausgleichskonzeption.99 94 Ebd., 85. 95 Ebd., 87. 96 Ebd. Während der vorbereitenden Beratungen hatte er noch keine individuelle Entschädigungslösung vorgesehen, die die Vertriebenenverbände schließlich durchsetzten. Vgl. unten 315. 97 Ebd., 88 f. 98 Ebd., 96. 99 Ebd., 96 f. Dafür spricht, dass Kunze Arbeitsplatzdarlehen für die wichtigste Komponente hielt. Kunze hoffte, dass sich diese Konzeption auf die wirtschaftliche Produktivität auswirke. Zudem wies er individuellen Entschädigungsansprüchen eine niedrigere Priorität zu. Ausführlicher hierzu siehe unten 303–315.

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3.3 Die protestantische Diskussion nach der Währungsreform 3.3.1 Lastenausgleich als Gesellschaftsreform: Die Konzepte des Hilfswerks und des 15er-Ausschusses Der erste Entwurf für einen Lastenausgleich, der sogenannte „Homburger Plan“ der „Sonderstelle Geld und Kredit“, wurde im April 1948 von den Alliierten abgelehnt; die Währungsreform folglich ohne Lastenausgleich verabschiedet.100 Die von den Länderfinanzverwaltungen eingesetzte Gutachterkommission, der sog. 15er-Ausschuss, setzte dennoch die Beratungen fort. Zwei Monate nach der Ablehnung lud das Hilfswerk der evangelischen Kirche im Juli 1948 zu einer Tagung in Kirchheim/Teck.101 Das Ergebnis der Tagung wurde in Form von „zwölf Thesen zum Lastenausgleich und zur Neuordnung des Besitzes“ festgehalten, das drei Gedanken enthielt: Erstens wurde der Gedanke einer Entschädigung wegen der „krass blossgelegte[n] [sic] Not und Verarmung Deutschlands“ und wegen der „unübersehbaren Veränderungen der Erwerbs-, Berufs- und Besitzverhältnisse“ als unmöglich verworfen.102 Zweitens sollte der Lastenausgleich anstelle der Entschädigung ganz der Eingliederung ins Berufsleben dienen, denn „Beruf ist wichtiger als Besitz.“103 Drittens sollte der Lastenausgleich Bestandteil einer umfassenden Gesellschaftsreform sein. So wurde im Zusammenhang mit dem Lastenausgleich eine Sozialisierung der Betriebe und eine Mitbestimmung der Arbeiter im Betrieb gefordert, um „dem Arbeiter einen festen Stand in der Gesellschaft und damit auch Sinn und Befriedigung für seine Arbeit zu geben.“104 Eine zweite Tagung zum Lastenausgleich fand vom 13. bis zum 15. August 1948 auf der Karlshöhe bei Ludwigsburg statt. An dieser überkonfessionell und überparteilich konzipierten Tagung, zu der der Publizist und Mitarbeiter des Hilfswerks Paul Mehnert eingeladen hatte, nahmen auch die vom Wirtschaftsrat der Bizone eingesetzten Sachverständigen teil, die zu dieser Zeit an der Konzeptualisierung des Lastenausgleichs maßgebend beteiligt waren.105 100 Wenzel, Verschiebung, 38 f. 101 So jedenfalls Riedner, Kammer, 156. 102 Thesen zum Lastenausgleich und zur Neuordnung des Besitzes, o. D., o. V. (ADW Berlin ZB 847; Archiv des IfZ, ED 94/338). Eine Zusammenfassung dieser Thesen findet sich auch in Lastenausgleich – und wie verteilen? In: ChrWelt, 22. 9. 1949, 5. 103 Thesen zum Lastenausgleich und zur Neuordnung des Besitzes, o. D., o. V. (ADW Berlin ZB 847). 104 Ebd. 105 Mehnert, Rande, 143. Die Aussage ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, da Mehnert möglicherweise seine Rolle überschätzte. Zur Tagung siehe Bericht über die Tagung auf der Karlshöhe, 13.–15. 8. 1948, Bad Homburg, 18. 8. 1948 (BArch Koblenz B 126/5680 Bd. 1); Pressebericht über die Tagung auf der Karlshöhe bei Ludwigsburg über Lastenausgleich. In: Lastenausgleichsgesetze Bd. I/1, 56 f. Kurz darauf intensivierte sich die Lastenausgleichsdiskussion in der überregionalen Presse. Erstmals erschienen nun längere Kommentare. Vgl. z. B.

254 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Teilnehmer waren Staatssekretär a.D. Paul Binder in seiner Funktion als Vorsitzender des Finanzausschusses des Parlamentarischen Rates, der Leiter des Hilfswerks Eugen Gerstenmaier, Staatssekretär a.D. Dr. Alfred Hartmann, der unter Finanzminister Fritz Schäffer wieder Staatssekretär im Bundesfinanzministerium werden sollte, Kirchenpräsident Franz Hamm, der Generalsekretär der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Flüchtlingsverwaltungen und spätere Abteilungsleiter im Bundesvertriebenenministerium Werner Middelmann, der spätere Flüchtlings- und Sozialminister von Niedersachsen Heinrich Albertz sowie der Generalsekretär des Zonenbeirates und Ökonomieprofessor Gerhard Weisser.106 Eines der Hauptreferate hielt der Kirchenjurist Ulrich Scheuner, der Mitglied im Beirat des Hilfswerks war und die sogenannte Assenheimer Außenstelle leitete.107 Das Thesenpapier, das während der Kirchheimer Tagung im Juli 1948 erarbeitet worden war, fungierte offenbar als Diskussionsgrundlage für die Tagung in Karlshöhe.108 Die Referenten und Tagungsteilnehmer waren sich darin einig, dass das Ziel des Lastenausgleichs in der wirtschaftlichen und sozialen Integration der Vertriebenen ins westdeutsche Wirtschaftsleben bestehen müsse.109 Der Lastenausgleich habe sich demnach am Primat des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und der wirtschaftlichen Existenzbeschaffung zu orientieren. Der

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Der Lastenausgleich. In: Die Zeit 5. 8. 1948, 1; Inventur der Habenichtse. Ohne Rücksicht auf Verluste. In: Der Spiegel, 14. 8. 1948, 20 f.; und M cke, Willibald: Der gerechte Lastenausgleich. In: SZ, 14. 8. 1948, 3. Pressebericht über die Tagung in Karlshöhe über den Lastenausgleich, 13.–15. 8. 1948 (BArch Koblenz B 126/5680 Bd. 1). Weitere Tagungsteilnehmer waren Hans Achinger, der spätere Ministerialdirigent Manfred Fauser, der Schriftleiter von „Christ und Welt“ Paul Gerhardt, Christian Berg, Hermann Maurer und Paul Collmer, Eugen Gerstenmaier, Paul Binder, Gerhard Fürst, Franz Hamm, Günter Harcort, Herfried Hartmann, Staatssekretär Walter Jänicke, Werner Middelmann, Karl Mommer und Gerhard Weißer. Siehe Mehnert, Rande, 142. Scheuner, Ulrich: Probleme des Lastenausgleichs. Referat am 13. 8. 1948 auf der Karlshöhe (ADW Berlin ZB 847). Abgesehen von Ulrich Scheuner lassen sich die anderen Referate keinem Referenten zuordnen. Die Assenheimer Außenstelle hatte die Aufgabe, Materialien zu drängenden Problemen auszuwerten und Denkschriften „auf wissenschaftlicher Grundlage“ zu verfassen (Foss, Diakonie, 114). Aus dem Tagungsprotokoll geht hervor, dass auch Gerhard Weisser und Paul Binder Hauptreferate hielten. Siehe Bericht über die Tagung auf der Karlshöhe, 13.–15. 8. 1948, (BArch Koblenz B 126/5680 Bd. 1). Weisser unterhielt sowohl zu Karrenberg als auch zu Gerstenmaier freundschaftliche Kontakte. Hierzu Gniss, Politiker, 234. Zu Karrenberg auch Anm. 955. So jedenfalls Mehnert, Rande, 131–146, 134–143. Davon zeugen folgende Referate: Scheuner, Ulrich: Probleme des Lastenausgleichs. Referat am 13. 8. 1948 (ADW Berlin ZB 847); Soll die Hilfe an der Vergangenheit oder an der Zukunft der Geschädigten orientiert werden? Bemerkungen zum Thema Lastenausgleich, o. D., o. V. (ADW Berlin ZB 847); Bericht über die Tagung auf der Karlshöhe, Bad Homburg, 18. 8. 1948 (BArch Koblenz B 126/5680 Bd. 1); und Zur Neuordnung der Eigentumsverhältnisse, o. D., o. V. (ADW Berlin ZB 847). Ein Vortrag stellte die Frage, was die Vertriebenen erwarteten. Zu diesem frühen Zeitpunkt brachte er den Gedanken vor, dass die Vertriebenen eine wirtschaftliche Bereicherung darstellten. Siehe Was erwarten die Flüchtlinge vom Lastenausgleich?, o. V., o. D. (ADW Berlin ZB 946).

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Grundsatz einer wirtschaftsfreundlichen Gestaltung war allerdings nicht zwangsläufig mit einer bestimmten Lastenausgleichskonzeption identifizierbar. Paul Binder sah – als einziger Referent – in der Konzeption des quotalen Lastenausgleiches das Postulat einer wirtschaftsfördernden Ausgestaltung erfüllt, da eine an früheren Vermögensverhältnissen orientierte Eigentumsbildung produktives Vermögen schaffe, das wiederum volkswirtschaftlich höher zu bewerten sei als das konsumtive Vermögen.110 Der Ökonom und SPD-Politiker Weisser erblickte in der sozialen Konzeption hingegen gerade die Bedingung für eine wirtschaftsfreundliche Ausgestaltung: Denn das Ziel des Lastenausgleichs müsse in der Wiederherstellung einer selbständigen wirtschaftlichen und produktiven Existenz, nicht in der Wiederherstellung von Eigentum bestehen.111 Zudem dürften die Vertriebenen nicht in die Rolle passiver Almosen- und Fürsorgeempfänger gedrängt werden, was sich sowohl volkswirtschaftlich als auch psychologisch nachteilig auswirke.112 Einigkeit bestand in der Forderung, den Lastenausgleich um flankierende wirtschafts-, arbeitsmarktpolitische und sozialpolitische Maßnahmen wie die Bevorzugung der Vertriebenen bei Stellenbesetzungen, Erleichterungen bei der Kreditvergabe und ein umfassendes soziales Wohnungsbauprogramm zu ergänzen. Zwei Fragen hingegen waren strittig. So wurde die Frage gestellt, inwieweit bei grundsätzlicher Bevorzugung einer bedarfsorientierten sozialen Konzeption der Lastenausgleich um ein Entschädigungsmodell ergänzt werden sollte. Ulrich Scheuner forderte die Ergänzung des sozialen um ein quotales Modell, das der sozialen Komponente nachgeordnet sein müsse.113 Eine „umfassende Neuordnung des Besitzes“ sei, wie der Referent Scheuner ausführte, „nicht durchführbar.“114 Gerstenmaier und Weisser bevorzugten grundsätzlich eine Lastenausgleichskonzeption, die der Wiedergewinnung einer wirtschaftlichen Existenz diente, empfahlen aber aus „psychologischen Gründen“ die Anerkennung eines Rechtsanspruches auf Vermögensentschädigung, um das widerfahrene Unrecht anzuerkennen.115 Ein anderer, namentlich nicht genannter Referent plädierte dafür, überhaupt keinen Lastenausgleich im eigentlichen Sinne durchzuführen, sondern die Erwerbsunfähigen über die bereits bestehenden sozialen Sicherungssysteme zu versor110 Bericht über die Tagung auf der Karlshöhe, 13.–15. 8. 1948 (BArch Koblenz B 126/5680 Bd. 1). 111 Ebd. Weisser war zudem Vorsitzender des Selbständigen Ausschusses für Selbsthilfe, dem Dachverband der in der Flüchtlingsarbeit tätigen Verbände. Das geht hervor aus: Ständiger Ausschuss für Selbsthilfe. Stellungnahme zum Lastenausgleich, versendet an Ministerialdirektor Wolff mit Schreiben vom 24. 2. 1951 (BArch Koblenz 126/5683 Bd. 2). Insgesamt auch Gniss, Politiker, 234. 112 Was erwarten die Flüchtlinge vom Lastenausgleich?, o. V., o. D. (ADW Berlin ZB 946). 113 Scheuner, Ulrich: Probleme des Lastenausgleichs. Referat am 13. 8. 1948 (ADW Berlin ZB 847). 114 Ebd. 115 So die Wortbeiträge von Eugen Gerstenmaier und Gerhard Weisser. Bericht über die Tagung auf der Karlshöhe, 13.–15. 8. 1948, Bad Homburg, 18. 8. 1948 (BArch Koblenz B 126/5680 Bd. 1).

256 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung gen.116 Daneben war die Frage strittig, inwieweit der Lastenausgleich mit einer übergreifenden Reform der gesamten Sozial- und Wirtschaftsordnung verknüpft werden sollte.117 Für einen namentlich nicht genannten Referenten sollte der Lastenausgleich mit einer grundsätzlichen Neuordnung der Gesellschaftsstruktur einhergehen, die nicht nur die Vertriebenenproblematik, sondern auch den Klassendualismus überwinden und die soziale Ungleichheit des 19. Jahrhunderts korrigieren sollte.118 Diese Gesellschaftsstruktur sei nichts weniger als eine dritte Alternative zu den beiden konkurrierenden Gesellschaftssystemen Kommunismus, der als „totalitäre Planwirtschaft“ keine Alternative sei, und Kapitalismus, der für den Klassendualismus und die soziale Ungleichheit verantwortlich sei.119 Der Referent plädierte daher für eine soziale Konzeption, deren Ziel eine wirtschaftlich selbstständige Existenz bei grundsätzlich gleichen Startbedingungen war.120 Für den Zweck einer umfassenden Gesellschaftsreform war der Lastenausgleich um weitere Wirtschafts- und Sozialreformen wie die betriebliche Mitbestimmung oder die Sozialisierung von Großbetrieben zu ergänzen, um Besitzlosen und sozial Benachteiligten Miteigentum zu verschaffen.121 Die Tagungsteilnehmer konnten sich auf eine gemeinsame Position einigen, die sie in fünf Grundsätzen festhielten: Der Ausgleich müsse erstens mit einem Rechtsanspruch einhergehen. Zweitens müsse der „Neuaufbau einer menschenwürdigen Existenz“ gewährleistet und in diesem Zusammenhang die „Würdigung der Berufs- und Lebensverhältnisse“ anerkannt werden.122 Angesichts der begrenzten Mittel wurde drittens dafür plädiert, zunächst den Schwerpunkt auf 116 So führte er aus: „Das Wort Lastenausgleich sollte so schnell wie möglich durch ein besseres ersetzt werden, etwa: Nothilfe für Geschädigte“ (Soll die Hilfe an der Vergangenheit oder an der Zukunft der Geschädigten orientiert werden? Bemerkungen zum Thema Lastenausgleich, o. D., o. V., ADW Berlin ZB 847). 117 Referat: Zur Neuordnung der Eigentumsverhältnisse, o. D., o. V. (ADW Berlin ZB 847). 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Ebd. 121 Ebd. Der Vorschlag, den Lastenausgleich mit einer umfassenden Gesellschaftsreform zu verknüpfen, begegnet zuweilen im deutschen Protestantismus. Der Ökonom Herbert Giersch hatte auf einem Referat vor dem Sozialethischen Ausschuss der rheinischen Landeskirche dafür plädiert, produktives Eigentum und Miteigentum zu schaffen, beispielsweise durch eine „Neuverteilung des Aktienbesitzes“, eine „organische Sozialisierung“ und eine „betriebliche Mitbestimmung“. Auch Giersch verwies dabei auf die lange Tradition sozialer Ungleichheit, die behoben werden müsse (Referat von Herbert Giersch zum Lastenausgleich. Bericht über die 3. Sitzung des Ausschusses der Rheinischen Provinzialsynode für sozialethische Fragen am 11., 12. und 13. 5. 1948, LKA D sseldorf 6 HA 006 35). Zu Giersch auch H bner, Kirche. Für die Übersendung des unveröffentlichten Manuskripts sei ihm herzlich gedankt. Scheuner und Weisser lehnten jedoch die Verknüpfung des Lastenausgleichs mit weitergehenden Sozialreformen ab, da dies zu einer Ideologisierung des Lastenausgleichs führe. Das geht hervor aus: Bericht über die Tagung auf der Karlshöhe, 13.–15. 8. 1948 (BArch Koblenz B 126/5680 Bd. 1). 122 Resolution der Tagung vom 13.–15. 8. 1948 auf der Karlshöhe (BArch Koblenz B 126/5682 Bd. 1; ADW Berlin ZB 946). Eine pointierte Zusammenfassung findet sich in Lastenausgleich – und wie verteilen? Auszug aus „Christ und Welt“, 22. 9. 1949 (EZA Berlin 2/2139).

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die Auszahlung von Renten, die Schaffung von Arbeitsplätzen, Wohnungsbau und soziale Investitionen zu legen, während der Ausgleich von Vermögensverlusten nachgeordnet sei. Viertens greife die Gewährung der Leistungen „Rechtsansprüchen auf zurückgelassenen Besitz nicht vor.“123 Mit Blick auf die zu erwartende Dauer der Maßnahmen wurden fünftens Sofortmaßnahmen und eine Mahnung an das Gewissen aller Deutschen zur Förderung der Opferbereitschaft gefordert.124 Insgesamt ist festzustellen, dass in dieser ersten Phase der Lastenausgleichsberatungen die soziale Lastenausgleichskonzeption klar dominierte: „Von den ,Quotalisten‘, wie Weisser abfällig die Vertreter des quotalen Lastenausgleichs nannte, war zu diesem Zeitpunkt – im Sommer 1948 – nur wenig zu hören.“125 Die Vertreter einer quotalen Konzeption meldeten sich erst allmählich zu Wort. Der OKA publizierte wenig später eine Stellungnahme, die im Wesentlichen eine Zusammenfassung der Karlshöher Tagungsergebnisse enthielt.126 Zwar bejahte der OKA grundsätzlich die Notwendigkeit zum Existenzaufbau, hob jedoch den mit einem Rechtsanspruch ausgestatteten Ausgleichsgedanken und das Postulat einer „echten Besitz-Neuordnung“ hervor.127 Für den Wirtschaftshistoriker Rüdiger Wenzel ist diese Tagung, an der das Hilfswerk beteiligt war, die „Klimax in dieser Phase der Lastenausgleichsdiskussion.“128 Mit den verabschiedeten Grundsätzen einigten sich die Tagungsteilnehmer auf ein Grundkonzept.129 Klaus Mehnert, Mitarbeiter des Hilfswerks und späterer Chefredakteur bei „Christ und Welt“, behauptete, dass die verabschiedeten Grundsätze in die zweite Fassung des Memorandums der Finanzverwaltungen eingeflossen seien und von ihr ein unmittelbarer Impuls auf den Gesetzgebungs- und Konzeptualisierungsprozess ausgegangen sei.130 Grundsätzlich besteht bei solchen Selbstaussagen die Gefahr der 123 Resolution der Tagung vom 13.–15. 8. 1948 in Karlshöhe (BArch Koblenz B 126/5682 Bd. 1). 124 Ebd. Die Zeitschrift „Christ und Welt“ hielt im Rekurs auf die Thesen des Hilfswerks vom Juli 1948 an der sozialen Konzeption fest, betonte die Priorität der Existenzbildung, die Notwendigkeit von Sozialinvestitionen und den Primat der Zukunft vor der Vergangenheit. Siehe Lastenausgleich – und wie verteilen? In: ChrWelt, 22. 9. 1949, 5. Ein Jahr später sprach sich „Christ und Welt“ gegen eine Restauration überkommener Vermögensverhältnisse aus. Vgl. Lastenausgleich vor der Entscheidung. In: ChrWelt, 27. 7. 1950, 5. 125 Wenzel, Verschiebung, 39. 126 Wort des OKAs zum Lastenausgleich (ADW Berlin ZB 886). Siehe auch Flüchtlingstagung des Hilfswerks auf der Karlshöhe bei Ludwigsburg (ADW Berlin ZB 946). Einige Monate zuvor, im April 1948, hatte sich der Vorsitzende des OKAs noch grundsätzlich skeptisch gegenüber dem Lastenausgleich geäußert und eine Verschärfung der Konfliktsituation befürchtet. Vgl. Girgensohn, Flüchtlinge, 27. 127 Wort des OKAs zum Lastenausgleich (ADW Berlin ZB 886). 128 Wenzel, Verschiebung, 40. 129 Resolution der Tagung vom 13.–15. 8. 1948 (BArch Koblenz B 126/5682 Bd. 1); und Pressebericht über die Tagung auf der Karlshöhe bei Ludwigsburg über Lastenausgleich. In: Lastenausgleichsgesetze, Bd. I/1, 56. 130 Mehnert, Rande, 143.

258 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Selbstüberschätzung. Andererseits weisen die verschiedenen Memoranden der Gutachterkommission bzw. des Finanzausschusses der Länderverwaltungen tatsächlich einige markante Unterschiede auf. In einem ersten Memorandum gingen die Finanzverwaltungen und die Gutachterkommission noch davon aus, „daß die Wirtschaftskraft Westdeutschlands nur für einen sozialen Ausgleich“ ausreiche; darüber hinaus seien die „Vertreibungsschäden technisch kaum feststellbar, deshalb kommt der quotale Ausgleich kaum in Betracht.“131 Das Memorandum sah daher lediglich ein „Rahmengesetz mit einem im Vordergrund stehenden Sofortprogramm“ vor.132 Nach anfänglichen Bedenken wurde in einer auf den 17. 9. 1948 datierten zweiten Fassung auch ein Rechtsanspruch auf Entschädigung anerkannt, der auch Eingang in einen Gesetzesentwurf des 15er-Ausschusses fand.133 Ausschlaggebend war das „psychologische“ Motiv, „daß der Unterhaltshilfe der Almosencharakter unter allen Umständen genommen werden müsse.“134 Das Memorandum schloss eine Ergänzung der grundsätzlich bevorzugten sozialen Lastenausgleichskonzeption um eine pauschalisierte Entschädigungskomponente auf der Grundlage der früheren Vermögensverhältnisse nicht mehr grundsätzlich aus, allerdings wurde dem Aufbau einer wirtschaftlichen Existenz und dem Schutz der Erwerbsunfähigen nach wie vor die höhere Priorität zugewiesen.135 Der sogenannte 15er-Ausschuss hatte zumindest grundsätzlich seine Position zugunsten quotaler Elemente geöffnet und einen Rechtsanspruch auf einen Vermögensausgleich anerkannt, wobei beide Aspekte erstmals auf der Tagung auf der Karlshöhe im August 1948 zum Ausdruck gebracht wurden. Insgesamt spricht vieles dafür, dass während der Karlshöher Tagung eine konzeptionelle Grundverständigung zwischen den verschiedenen beteiligten Akteuren erfolgte, die bereits die grundlegende Richtung andeutete. Im Grunde zeigt sich anhand der überregionalen evangelischen Publizistik ein ähnliches Bild. Die Zeitschrift „Christ und Welt“ plädierte wiederholt für den an der „Zukunft“ orientierten sozialen Ausgleich, lehnte eine Restauration früherer Vermögensverhältnisse ab und priorisierte den Existenzaufbau sowie soziale Investitionen in Form von Arbeitsplatzbeschaffungs- und Wohnungsbauprogrammen.136 Das „Sonntagsblatt“ rekurrierte auf die Aufbringungsseite, hielt eine Vermögenssubstanzabgabe für unmöglich und warnte vor einer Belastung von Betrieben, die sich wirtschaftlich nachteilig auswirke.137 131 Zitiert nach Lastenausgleichsgesetze, Bd. I/1, 38 f. 132 Ebd., 39. 133 Begründung zu dem Entwurf eines ersten Gesetzes zum Ausgleich der Kriegs- und Kriegsfolgeschäden (Erstes Lastenausgleichsgesetz). In: Lastenausgleichsgesetze, Bd. I/1, 92–106, hier 95. Zur Genese: Ebd., 39. 134 Ebd. 135 Memorandum der Verwaltungen für Finanzen. In: Lastenausgleichsgesetze, Bd. I/1, 78–91, 85 f. 136 Lastenausgleich – und wie verteilen? In: ChrWelt, 22. 9. 1949, 5. 137 Wirtschaftspolitische Umschau. Die Soforthilfe im Lastenausgleich. In: Sonntagsblatt, 21. 11. 1948, 10.

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Nur wenige Monate später, kurz vor Ende des Jahres 1949, nahmen das Plenum des Wirtschaftsrates und der Finanzausschuss des Länderrates einen reduzierten, da auf die Sofort-hilfe beschränkten, ansonsten nur geringfügig überarbeiteten Gesetzesentwurf des 15er-Ausschusses an, obwohl es trotz grundsätzlicher, parteiübergreifender Zustimmung immer noch umstrittene Punkte gab und der Wirtschaftsrat diverse kritische Eingaben aus der Industrie, von einheimischen Interessen- und Geschädigtenverbänden erhielt.138 Jedoch wurde auch dieser zweite Entwurf von den Alliierten abgelehnt mit dem Argument, dass der Lastenausgleich der Entscheidung des künftigen Bundestages überlassen werden müsse.139 Auf den Tagungen des Hilfswerks und des 15er-Ausschusses dominierte klar die soziale Lastenausgleichskonzeption. Das diskursbeherrschende Argument war das der „Wirtschaftsorientierung“. Dies war auch darauf zurückzuführen, dass sich die Geschädigtenverbände und insbesondere die Vertriebenenorganisationen gerade erst formierten und in der Diskussion nicht sehr präsent waren. Ab 1949 begannen sie sich verstärkt einzubringen und die Diskussion zu dominieren.140 Über das Doppelengagement einiger Vertriebenenfunktionäre in den Parteien floss die Forderung nach einer sozialen Konzeption auch in die Parteien, vor allem in die CDU ein.141 Insofern ist die Auffassung Rudolphs, der Entwurf für ein Lastenausgleichsgesetz sei von den Alliierten deshalb abgelehnt worden, weil sie einer sozialen Konzeption den Vorzug gegeben, während die deutschen Stellen eine Restitutionslösung bevorzugt hätten, nicht zutreffend und anhand der Quellen nicht nachvollziehbar.142 Aus den Quellen ergibt sich, dass auch die deutschen Stellen überwiegend eine soziale Konzeption bevorzugten. 138 Kunze, Johannes: Einige Tatsachen über das Vertriebenenproblem in Deutschland, 16. 10. 1952 (ADW Berlin CAW 682; ADW Berlin JK 55; ADW Berlin CAW 230). Zur Kritik durch die Verbände siehe Wenzel, Verschiebung, 49–59. Dieses Dokument fand sich auch in den vorbereitenden Materialien des Bundestagsausschusses für den Lastenausgleich (BT PA Berlin I 422 B Nr. 23). 139 Wenzel, Verschiebung, 59. Im Vorfeld spielte wohl auch eine Rolle, dass in den Lastenausgleichsplänen die Belastung des ausländischen, in Deutschland befindlichen Vermögens vorgesehen war. So jedenfalls ebd., 56–59. 140 Lastenausgleichsgesetze, Bd. I/1, 58–60. Vgl. z. B. Brief des 3. Vorsitzenden der CDU in der britischen Zone Dr. Kather an die CDU-Fraktion im Wirtschaftsrat, August 1948. In: Ebd., 58; Grundsätzliche Forderungen der Flüchtlinge, Flüchtlingsorganisationen und Flüchtlingsverwaltungen. In: Ebd., 71 f.; und 10-Punkte-Programm der Fliegergeschädigten und Heimatvertriebenen. In: Ebd., 75–77. 141 1948 forderte die CDU die Berücksichtigung quotaler Elemente. Vgl. Stellungnahme des Ausschusses für den Lastenausgleich in der Arbeitsgemeinschaft CDU/CSU, 28. 8. 1948. In: Lastenausgleichsgesetze, Bd. I/1, 57 f. 142 Rudolph, Kirche Bd. I, 451. Gegen Rudolphs Auffassung sprechen bereits die Genese des Gesetzes und die hier analysierten Beiträge. Rudolph, der keine staatlichen Akten gesichtet hat, setzt auch die Formel „Neuordnung der Besitzverhältnisse“ mit dem Ausgleichsgedanken gleich. Dabei ging mit dem Plädoyer für eine „Neuordnung der Vermögensverhältnisse“ nicht zwangsläufig ein Plädoyer für eine quotale Ausgleichskonzeption einher, wie die Ausführungen Gerstenmaiers beweisen, der diese Formel gebrauchte und sich für einen Primat der Existenzgründung und damit für das soziale Ausgleichsmodell ausgesprochen hatte.

260 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung 3.3.2 Die theologische Reflexion des Eigentums In dieser frühen Phase beschäftigte sich auch der Sozialethische Ausschuss der Rheinischen Landeskirche mit der Lastenausgleichsfrage. Dieser kritisierte eine individualethisch verstandene Nächstenliebe und erhob den Anspruch, die gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen durch sozialpolitisches Engagement zu verbessern.143 Bereits im Dezember 1947 und im Mai 1948 hatte sich der Ausschuss mit den Themen Eigentum und Lastenausgleich aus theologischer und ökonomischer Perspektive befasst.144 Im Hinblick auf die Frage, ob ein Eingriff in das Eigentum aus christlicher Sicht im Rahmen des anstehenden Lastenausgleichsgesetzes gerechtfertigt sei, wurde einerseits auf das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ verwiesen, andererseits entspreche der nach dem Krieg eingetretene Zustand nicht der „gottgewollte[n] Ordnung.“145 Daher war „ein gesetzlicher Ausgleich unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit […] unabdingbar.“146 Der Ökonom Herbert Giersch verknüpfte in seinem Referat den Lastenausgleich mit einer übergreifenden Gesellschaftsreform, die zugleich die im 19. Jahrhundert entstandene soziale Ungleichheit korrigieren sollte.147 1950 ging auch der OKA in einer Stellungnahme auf das Eigentumsverständnis ein. Von der Kirche wurde eine christliche Klärung des Eigentumsbegriffs erwartet. Dabei müsse immer von dem in den zehn Geboten geschützten Eigentumsbegriff anstelle des „absoluten Eigentumsbegriffs des römischen Rechts“ ausgegangen werden.148 Eine Stellungnahme der evangelischen Studiengemeinschaft an der Kirchlichen Hochschule Berlin postulierte die grundsätzliche Möglichkeit, in das Eigen-

143 Kaminsky, Kirche, 108. Zur Problematik des Begriffs Sozialer Protestantismus siehe Anm. 751. 144 Bericht über die 3. Sitzung des Ausschusses der Rheinischen Provinzialsynode für sozialethische Fragen am 11., 12. und 13. 5. 1948 (LKA D sseldorf 6 HA 006 35). Die Referate hielten Pfarrer Eichholz und Herbert Giersch. Eichholz bewertete das Eigentum aus einer theologischen Perspektive und setzte es mit der „Securitas“ gleich, während Giersch eine ökonomische und gesellschaftspolitische Perspektive einführte. Anschließend wurde ein Band zur Eigentumsfrage erarbeitet: Sozialethischer Ausschuss der EKiR, Eigentum. 145 Bericht über die 3. Sitzung des Ausschusses der Rheinischen Provinzialsynode für sozialethische Fragen am 11., 12. und 13. 5. 1948 (LKA D sseldorf 6 HA 006 35). 146 Ebd. 147 Referat von Giersch, ebd. Karrenberg empfahl Giersch später erfolglos als Referent für die Beratungen der Kammer für soziale Ordnung. Siehe Schreiben von Friedrich Karrenberg an Hansjörg Ranke, 16. 8. 1949 (EZA Berlin 2/2139); Schreiben von Hansjörg Ranke an Reimer Mager, 13. 9. 1949 (EZA Berlin 2/1501). Giersch war wissenschaftlicher Mitarbeiter der Dortmunder Sozialforschungsstelle und verfasste eine Studie zum Lastenausgleich. Vgl. Giersch, Ausgleich. 148 Entwurf. An den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 11. 11. 1950 (EZA Berlin 2/ 2140).

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tum einzugreifen. Begründet wurde dies mit den „Interessen der Allgemeinheit.“149 Auch die Kammer für soziale Ordnung, ein grundsätzlich überparteilich ausgerichtetes Beratungsorgan der EKD, war mit dem Thema „evangelische Eigentumsordnung“ vor dem Hintergrund des Lastenausgleichs befasst.150 Die Kammer verfolgte das Anliegen, sich „im Zusammenhang der anlaufenden Beratungen über einen endgültigen Kriegslastenausgleich […] mit der Eigentumsfrage [zu] befassen.“151 Die erste Sitzung der Sozialkammer vom 30. September bis 1. Oktober 1949 befasste sich mit der Frage, ob der Christ in die Eigentumsrechte der anderen eingreifen dürfe.152 Die Diskussionsbeiträge der Kammermitglieder Prof. Weber, Pfarrer Ammler und Pfarrer Herz lassen sich derart zusammenfassen, dass sie die Institution des Privateigentums zwar anerkannten, dieses aber als Leihgabe Gottes interpretierten und daraus eine Sozialpflichtigkeit des Eigentums ableiteten.153 Ein freies Verfügungsrecht des Einzelnen über das Eigentum gebe es nicht, sondern Eigentum stehe unter der „christlichen Verpflichtung“ zu „Liebe und Dienst.“154 Zudem verstanden sie ihr Eigentumsverständnis als christliche Alternative gegenüber den Eigentumsauffassungen des Kapitalismus, der den „dämonischen Charakter des uneingeschränkten Privateigentums“ habe deutlich werden lassen, und ge-

149 Entschließung der juristischen Klasse der evangelischen Studiengemeinschaft an der Kirchlichen Hochschule Berlin, 19. und 20. 4. 1950 (EZA Berlin 2/2139). 150 Die 1. Sitzung am 11.–12. 7. 1949 und die zweite Sitzung am 30.9.–1. 10. 1949 befassten sich mit dem Thema „Eigentumsproblematik angesichts des Lastenausgleichs“, die 3. Sitzung am 1. 8. 1950 mit der Mitbestimmungsfrage, die 4. Sitzung am 16. 5. 1951 wiederum mit der Lastenausgleichsproblematik. Vgl. Niederschrift über die Tagung für soziale Ordnung am 11. und 12. 7. 1949; Entwurf. Niederschrift der Tagung der Kammer für soziale Ordnung, 30.9.–1. 10. 1949 (EZA Berlin 2/1501); und Niederschrift über die Sitzung zum Mitbestimmungsrecht am 1. 8. 1950; Niederschrift über die Sitzung der Kammer für soziale Ordnung am 16. 5. 1951 (EZA Berlin 2/1503). Ziel dieser Sitzungen war eine weitere EKD-Stellungnahme der EKD zum Lastenausgleich. Vgl. Schreiben von Hansjörg Ranke an Ammler, Iwand, Herz und Karrenberg vom 4. 2. 1950; Schreiben von Hansjörg Ranke an Hans Joachim Iwand, 4. 2. 1950 (EZA Berlin 2/1502). Nach Ranke war die Stellungnahme zur „Beschränktheit des Eigentums“ besonders gegen die FDP-Abgeordneten gerichtet. Insgesamt auch Riedner, Kammer. Zur Vorbereitung der Beratungen wurde eine von Friedrich Karrenberg herausgegebene Schrift herangezogen. Siehe Sozialethischer Ausschuss, Eigentum. Ranke würdigte diesen Band: Schreiben von Hansjörg Ranke an Mager, 17. 3. 1950 (EZA Berlin 2/1502). Auch Giersch, Ausgleich. 151 Niederschrift über die Tagung für soziale Ordnung am 11. und 12. 7. 1949 (EZA Berlin 2/ 1501). 152 Entwurf. Niederschrift der Tagung der Kammer für soziale Ordnung, 30.9.–1. 10. 1949 (EZA Berlin 2/1501). Referenten waren die Prof. H.E. Weber, der zum Thema „Das Eigentum im Neuen Testament“ referierte, und Hans Joachim Iwand. Außerdem lagen Thesenpapiere der Pfarrer Ammler und Herz vor. 153 Pfarrer Herz: Gedenken zur Eigentumsfrage (EZA Berlin 2/1501); Pfarrer Ammler: Thesen zur Eigentumsfrage vom 15. 3. 1950 (EZA Berlin 2/1502). Ammler erblickte im Eigentum eine Voraussetzung von Freiheit. 154 Ebd.

262 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung genüber der Negation des Privateigentums durch den Sozialismus.155 Auf dem zweiten Sitzungstag der Sozialkammer referierte der bekannte Theologe Hans Joachim Iwand.156 Iwand wollte den Eigentumsbegriff sowohl im Kontext der von der Kirche vernachlässigten „sozialen Frage“ als auch im Kontext der OstWest-Auseinandersetzung und der jeweiligen Gesellschaftssysteme verstanden wissen, wobei der Westen seine „christliche Orientierung“ noch nicht gefunden habe.157 Außerdem war die Frage des Eigentums auch eine Frage nach der Stellung des Menschen in der Gesellschaft und berührte demnach das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft.158 Im Gegensatz zu den Vorrednern verstand Iwand Eigentum nicht als göttliche Gabe, sondern als Ergebnis eines Gesellschaftsvertrages mit der negativen Konsequenz, dass das Eigentum das Liebesverhältnis von Ich und Du korrumpiere.159 Mit seiner Kritik an einem auf Rechtsbeziehungen veräußerlichten Eigentumsbegriff ging zugleich eine umfassende Gesellschaftsdeutung und Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft einher, weil das „Eigentum der bürgerlichen Welt“ den „Eigennutz des Menschen“ konkretisiere.160 Auch die marxistische Gesellschaftsordnung war für Iwand defizitär, da der Marxismus eine „Entscheidung für das System“, „nicht für den Glauben“ sei und in der Aufhebung der Freiheit münde.161 Allein daraus resultierte für Iwand die Verpflichtung der Kirche, sich für das Privateigentum einzusetzen, das nicht mit der Eigentumsordnung der bürgerlichen Gesellschaft gleichzusetzen sei.162 Die gegenwärtig existierende Eigentumsidee sei daher um ein „Regulativ“ zu ergänzen, die das Gute berücksichtige und das Allgemeine mit dem Partikularen vermittle.163 Während der Aussprache plädierte der Theologe für eine nicht näher konkretisierte umfassende Sozialreform, die er gegen die Wiederbewaffnungspolitik der Adenauerregierung in Stellung brachte: Die Bundesregierung habe die „Rüstungsfrage“ über die „Lösung der sozialen Frage“ gestellt. Es wäre gut gewesen, „die Regierung hätte angesichts der Flüchtlingsnot […] zu erkennen 155 Ebd. Pfarrer Ammler argumentierte zudem mit dem Terminus der „sozialen Gerechtigkeit: Siehe Pfarrer Ammler: Thesen zur Eigentumsfrage vom 15. 3. 1950 (EZA Berlin 2/1502). 156 Das Referat selbst liegt nicht bei, jedoch enthält die Niederschrift der Tagung eine allerdings nicht autorisierte Fassung des Referats. Vgl. Entwurf. Niederschrift der Tagung der Kammer für soziale Ordnung, 30.9.–1. 10. 1949 (EZA Berlin 2/1501). Iwand wurde von Hansjörg Ranke, dem Geschäftsführer der Sozialkammer, mehrfach um Zusendung des Referats und Genehmigung des Protokolls gebeten, jedoch kam Iwand der Bitte offenbar nicht nach. Siehe Schreiben von Hansjörg Ranke an Hans Joachim Iwand, o. D., und Schreiben von Hansjörg Ranke an Reimer Mager, 20. 5. 1950; Schreiben von Hansjörg Ranke an Ammler, Iwand, Herz und Friedrich Karrenberg, 4. 2. 1950 (EZA Berlin 2/1502). 157 Entwurf. Niederschrift der Tagung der Kammer für soziale Ordnung, 30.9.–1. 10. 1949 (EZA Berlin 2/1501). 158 Ebd. 159 Ebd. 160 Ebd. 161 Ebd. 162 Ebd. 163 Ebd.

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gegeben, dass keiner der Vertriebenen am Boden liegen bleiben soll.“164 In der Aussprache wurde der Lastenausgleich mit Fragen der Neuordnung des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens wie der Mitbestimmungsfrage und der Frage einer Sozialisierung der Wirtschaft, d. h. der Überführung von Schlüsselindustrien in öffentliches Eigentum, verknüpft.165 Insgesamt fällt jedoch auf, dass die Kammer die theologische Klärung des Eigentumsbegriffs zwar im Kontext des Kriegslastenausgleichs verstanden wissen wollte, in der Auseinandersetzung jedoch kaum auf die konkreten sozialpolitischen Fragen des Lastenausgleichs Bezug genommen wurde. Eher drehten sich die Debatten darum, ein christliches Eigentumsverständnis, verstanden als Alternative zum kommunistischen und kapitalistischen Eigentumsverständnis, theologisch zu begründen und Eingriffe in das Eigentum angesichts des Lastenausgleichs zu legitimieren. 3.3.3 Soziale Gerechtigkeit versus Primat der Wirtschaft? Normative Begründungsmuster und grundlegende Gestaltungsprinzipien Viele protestantische Akteure setzten sich mit der normativ-moralischen Dimension des Lastenausgleichs auseinander und griffen dabei auf national und religiös-christlich konnotierte Begründungsfiguren zurück, beispielsweise, indem der „moralische oder sittliche Geist“, die Opferbereitschaft, der Wille zur Gemeinschaft oder die „innere Haltung“ beschworen wurden. Der Lastenausgleich wurde auf diese Weise als moralische Verpflichtung präsentiert. Ein namentlich nicht genannter Kommentator der Zeitschrift „Evangelische Welt“ fasste verschiedene Stellungnahmen kirchlicher Würdenträger zusammen und begründete das Mitspracherecht der Kirche. Die Kirche bringe nicht nur „passive Kritik“ zum Ausdruck, sondern setze „aktive Zeichen durch Anrufung der Gemeinden zur Verwirklichung des Apostelworts und durch kirchliche Werke.“166 Der Kommentator wollte den Lastenausgleich, den er als „hohe Probe sittlich-christlicher Bewährung der Kirche“ und als eine in „christlicher Solidarität“ zu lösende „Volksaufgabe“ bezeichnete, vom „Grundsatz der Opferbereitschaft“ bestimmt sehen.167 Wichtiger noch als das „Recht der Geschädigten“ war für ihn die „Pflicht der Besitzenden“.168 Dabei leitete ihn die Befürchtung, dass „der Lastenausgleich vom Gebot der Nächstenliebe in einem formalen Verfahren versandet.“169 Konkret warnte der Autor vor einer fortschreitenden „Demoralisierung“, „Bürokratisierung“ und 164 Ebd. 165 Ebd. Beides wurde unter dem Stichwort „Wirtschaftsdemokratie“ verknüpft. 166 Einer trage des anderen Last. Die Stimme der Kirche zum Lastenausgleich. In: EvWelt, 01. 8. 1948, 421 f. 167 Ebd. 168 Ebd. 169 Ebd.

264 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung einer „lähmenden Rentenpsychose“.170 Zudem dürften die Vertriebenen nicht als „Almosenempfänger“ behandelt werden.171 Die Synode der EKD appellierte in ihrem „Wort zur Flüchtlingsfrage“ an die Nächstenliebe der aufnehmenden Gemeinden und forderte die Verwirklichung der vollen „Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen.“172 Anlässlich der Verabschiedung des Soforthilfegesetzes veröffentlichte der Rat der EKD am 6. 8. 1949 ein Wort zum Lastenausgleich, das an die evangelischen Gemeinden adressiert war und an diese verteilt wurde. Dieses Dokument brachte eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Lastenausgleich zum Ausdruck, da er die Einheimischen belaste und den Vertriebenen nur begrenzte Hilfe gewähren könne.173 Der Ratsvorsitzende Otto Dibelius verzichtete auf konkrete sozialpolitische Optionen, formulierte jedoch die an die Alliierten gerichtete Bitte, wirtschaftliche Beschränkungen abzubauen.174 Zudem appellierte er an die Opferwilligkeit und die innere Bereitschaft: Echter Ausgleich und wirkliche Befriedigung kann nur von innen her erwachsen. Wo die Liebe Augen und Herzen für die Not des anderen öffnet und darum freudig Opfer bringt und wo gleichzeitig die Not in der Gewißheit getragen wird, daß sie aus Gottes Händen kommt und daß darum die Kraft eines Segens in ihr verborgen liegt, nur da wird auf beiden Seiten die Bitterkeit […] überwunden, […] kann auch inmitten aller Verschiedenheit der Lebensführung echte Gemeinschaft erwachsen. […] Wir wollen als Christen den Beauftragten des Staates helfen, dass alles recht und ordentlich zugehe und soweit es in Menschenkraft steht, auch gerecht verteilt wird. In das gesetzliche Handeln des Staates aber wollen wir den Geist der herzlichen Liebe hineinlegen, ohne den die Hilfe unfruchtbar bleiben muss.175

Hier kommt ein spezifisches Selbstverständnis kirchlichen Handelns zum Ausdruck. Dieses bestand offenbar darin, an die innere Haltung, den rechten Geist zu appellieren und die moralischen Grundlagen des Lastenausgleichs in Erinnerung zu rufen, ohne sich zu den verschiedenen sozial- und wirtschaftsethischen Konzepten zu positionieren. Dibelius erklärte im Namen der

170 Ebd. 171 Ebd. 172 Er ruft und rettet. Ein Sendschreiben des Bruderrats zur Flüchtlingsnot. In: EvWelt, 1. 2. 1949, 50 f. 173 Wort des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Lastenausgleich vom 6. 8. 1949. In: Fix (Bearb.), Protokolle, Bd. 3, 65–67. Vermutlich verfasste Ranke den Vorentwurf. Vgl. 1. Sitzung des Rates der EKD am 17. und 18. 2. 1949. In: Ebd., 56. Abgedruckt in KJ 76 (1949), 48 f.; Merzyn, Kundgebungen, 71 f. Bereits 1947 wurde auf enger Ratssitzung der Vorschlag unterbreitet, ein Wort des Lastenausgleichs zu verabschieden. Vgl. 15. Sitzung des Rates der EKD am 18. 11. 1947. In: Nicolaisen/Schulze (Bearb.), Protokolle, Bd. 2, 291. 174 Wort des Rates der EKD zum Lastenausgleich vom 6. 8. 1949. In: Fix (Bearb.), Protokolle, Bd. 3, 66. 175 Ebd., 67. In der Akte EZA Berlin 2/2139 sind dutzende Stellungnahmen von Verbänden überliefert.

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Christen die Bereitschaft, zur rechten Gesetzeserfüllung beizutragen.176 Auch einzelne politische und staatliche Akteure richteten ähnlich lautende Rollenerwartungen an die Kirche und riefen spezifisch christlich konnotierte Begründungsfiguren in Erinnerung. So appellierte der Bundesvertriebenenminister Hans Lukaschek auf einer Tagung der evangelischen Akademie Hermannsburg im November 1949 an die normativen Grundlagen des Christentums und forderte, dass alle Maßnahmen der Gesetzgebung vom sittlichen und „christlichen Willen zur Gemeinschaft von Einheimischen und Flüchtlingen“ getragen sein müssen.177 Das Besitz- und das Anspruchsdenken könne nur „vom Christlichen her überwunden“ werden.178 Seeberg erblickte im Vortrag des Ministers einen Handlungsappell an die Kirche und wähnte sich mit dem Politiker darin einig, daß nur die Kirchen beider Konfessionen imstande sind, uns fähig zu machen, die Lasten der kommenden Zeiten zu tragen. […] Die Enttäuschung des einzelnen Vertriebenen wird weniger groß sein, wenn er sich als Glied einer Gemeinschaft fühlen kann, die seine Enttäuschung mit ihm trägt. Darum ist die Seelsorge durch die Pastoren und Laien heute notwendiger denn je. Gerade die christliche Gemeinschaft kann jene irrationalen Kräfte schaffen und unterstützen, die auch dort noch zu helfen vermögen, wo die Macht der Ratio zu Ende ist.179

Etwas anders positionierte sich der OKA im November 1950. Die Kirche habe den Lastenausgleich demnach grundsätzlich zu bejahen.180 Der Lastenausgleich bedürfe des „Unterbaus der Liebe“, dürfe aber nicht ausschließlich als „Akt der Nächstenliebe“, sondern müsse ebenso als „Maßnahme der Gerechtigkeit“ gewertet werden; denn „wer seinen Bruder wirklich liebt, der wird vor allem das Recht dieses Bruders anerkennen, auch wenn es zum eigenen Nachteil ist.“181 Die Kirche solle dabei weniger sozialpolitisch als vielmehr in den Gemeinden unterstützend tätig werden, „dass sich eine rechte biblische Einstellung zu sozialer Verpflichtung und Besitz einstellt.“ Sie solle den „Geschädigten helfen, dass sie von Verbitterung und unerfüllbaren radikalen 176 Ähnlich auch Spiegel-Schmidt, der die „besondere Verantwortung der christlichen Gemeinde“ in der „rechten Sinnerfüllung des Gesetzes“ erblickte (Spiegel-Schmidt, Lastenausgleich, 14). 177 Lukaschek, Probleme, 9. Hanns Lilje und Stella Seeberg begrüßten diese „christliche Grundierung“ (Seeberg, Einleitung, 16). 178 Lukaschek, Probleme, Probleme, 8. 179 Zitiert nach ebd. Lukaschek erhoffte sich von der christlichen Ethik die Überwindung des Anspruchs- und des Besitzdenkens und postulierte einen „christlichen Willen zur Gemeinschaft“ (ebd., 9). 180 Entwurf. An den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 11. 11. 1950 (EZA Berlin 2/ 2140). Dieser Entwurf wurde nicht nur dem Rat der EKD vorgelegt, sondern auch an das Bundesfinanzministerium gesandt. Vgl. Leitsätze des OKAs zum Lastenausgleich (BArch Koblenz B 126/5683 Bd. 2). 181 Entwurf. An den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 11. 11. 1950 (EZA Berlin 2/ 2140).

266 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Forderungen frei werden.“182 Neben christlich-religiösen wurden häufig national konnotierte Begründungsressourcen in Form appellativer Solidaritätsrhetoriken aufgerufen und der Lastenausgleich zur nationalen Pflicht erklärt. Der OKA rief in Erinnerung, dass Vertriebene und Einheimische ein gemeinsames Volk bildeten, dem in seiner Gesamtheit die Folgen des Krieges auferlegt worden seien.183 Die Klage über den Mangel an Solidarität des deutschen Volkes mit dem besonders geschädigten Teil des Volkes war vielfach zu hören.184 Auch Helmut Thielicke, der die sozialstaatliche Expansion theologisch für bedenklich hielt, zweifelte nicht an der Notwendigkeit des Lastenausgleichs, der eine Wiederherstellung des Rechts war: Daß wir ihnen den auf uns entfallenden Anteil zurückerstatten, ist nicht mehr als ihr elementarstes Recht. Sollte die Kirche nicht darin vorangehen, die Einlösung dieser Schuld unnachgiebig zu fordern? Und sieht es nicht ähnlich aus mit dem Besitzausgleich zu Gunsten so vieler Ausgebombter und der Hilfe für die, die unter dem Hunger am schwersten zu leiden haben? Wie wollen wir es den Fremden vorwerfen, dass sie sich nach all den Verlusten, die sie durch uns erlitten haben, an uns schadlos halten?185

Mit den jeweiligen normativen Begründungsressourcen wie Gerechtigkeit, christliche Nächstenliebe, Wille zur Gemeinschaft oder nationale Solidarität ging selbstredend noch keine Option für eines der diskutierten Lastenausgleichsmodelle einher. Stattdessen kam diesen die Funktion zu, das Verständnis der aufnehmenden Gesellschaft für die Lastenausgleichsabgabe zu erwecken, eine Abgabebereitschaft zu mobilisieren oder einen weitergehenden Lastenausgleich zu fordern. Das Postulat, dass Eigentum verpflichte und die Verfügungsrechte des Christen für das von Gott verliehene Eigentum begrenzt seien, war lagerübergreifend zustimmungsfähig. Strittiger war die Frage, inwieweit sich der Lastenausgleich an wirtschaftlichen Prinzipien oder an den Interessen der Geschädigten zu orientieren habe und wie genau dieses Mischungsverhältnis auszutarieren war. Für Pfarrer Ernst zur Nieden, Studienleiter der Evangelischen Akademie Hessen-Nassau in Arnoldshain, der den Lastenausgleich als Problem der Gerechtigkeit, nicht der Barmherzigkeit verstanden wissen wollte, war der Lastenausgleich eine Konfliktlinie zwischen 182 Ebd. Spiegel-Schmidt nannte auch die Grenzen, auf die moralische Appelle in den Gemeinden stießen. So lehnte er moralistische und politische Predigten mit dem Argument ab, dass diese von den Gemeinden nicht angenommen werden: „Dann heißt es: Der Pfarrer redet immer für die Flüchtlinge!“ (Spiegel-Schmidt, Lastenausgleich, 11). 183 Entwurf. An den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 11. 11. 1950 (EZA Berlin 2/ 2140). 184 Zu den Solidaritätssemantiken und den nationalen Selbstbeschreibungen als „Schicksals- und Haftungsgemeinschaft“ vgl. oben 99–121. 185 Reden oder Schweigen? Über das Nationale in der Predigt. In: EvWelt, 1/2 (1948), 3–5, 5. In diesem Zusammenhang sprach er von „Reparationen“, die die Vertriebenen für das gesamte deutsche Volk bezahlt hätten.

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„Gottes Gebot“ und praktischen „Erwägungen der Durchführbarkeit“, mit anderen Worten: zwischen normativem Anspruch und wirtschaftlichem Gestaltungsspielraum: Die Schwierigkeit des Problems kommt daher, dass auf der einen Seite die Kirche eine in Gottes Gebot begründete Forderung für den Menschen zu vertreten hat, auf der anderen Seite die praktischen Erwägungen der Durchführbarkeit gleich ein wesentliches Stück davon wegnehmen Die Bemühung, die Durchführbarkeit zu prüfen, stand im Vordergrund bei unserem Studienkreis. Mir – und ich glaube der Kirche – liegt die andere Seite noch mehr am Herzen.186

Gegenüber Eberhard Müller, dem Gründungsdirektor der Evangelischen Akademie Bad Boll, kritisierte der Theologe den wirtschaftsfreundlichen Kurs der Akademie in Arnoldshain, was er auf die überproportional starke Präsenz von Wirtschaftsvertretern zurückführte.187 Eberhard Müller argumentierte hingegen, dass „der LAG nicht die Wirtschaft ruinieren dürfe.“188 Daher lehnte Müller eine Ausweitung des Lastenausgleichs wie eine Erfassung von Haushaltsgegenständen als „Übertreibung des Lastenausgleichs“ ab.189 Der Theologe teilte zwar grundsätzlich die theologische Auffassung, dass mit dem Eigentum eine „Verpflichtung zum Dienst“ einherginge, hielt jedoch die Vorstellung des deutschen Volkes als „Risikogemeinschaft“ für theologisch bedenklich.190 Theologisch könne aus dem „christlichen Gedanken der Gerechtigkeit“ nicht die Forderung abgeleitet werden, dass Geschädigte und Nichtgeschädigte „am Ende gleich viel besitzen.“191 Müller plädierte schließlich für die soziale Ausgleichskonzeption, denn mehr als Fürsorge könne der Lastenausgleich nicht leisten.192 Die Evangelische Akademie Hamburg unter der Leitung des Juristen Hans Möller zeigte sich in ihrer Entschließung „Zur Frage des endgültigen Lastenausgleiches“ noch skeptischer.193 Der „Studien186 Schreiben von Pfarrer Ernst Nieden an Eberhard Müller vom 27. 8. 1948 (EABBM Bad Boll Az. 2H/513). 187 Ebd. Nieden nahm kritisch auf eine Resolution Bezug. Siehe Wort der evangelischen Akademie in Hessen-Nassau zum Lastenausgleich (EABBM Bad Boll Az. 2H/513). 188 Schreiben von Eberhard Müller an Ernst Nieden vom 30. 8. 1948 (EABBM Bad Boll Az. 2H/ 513). 189 Ebd. 190 Ebd. 191 Ebd. 192 Ebd. Mit dieser Aussage entsprach Müller letztlich auch der Linie der SPD, die ebenfalls eine soziale Konzeption bevorzugt hatte. Um sich dennoch von der SPD abzugrenzen, kritisierte er die „Verstaatlichung der Wirtschaft“, die die SPD angeblich anstrebe und der widersprochen werden müsse. 193 Schreiben der evangelischen Akademie der Hamburgischen Landeskirche an Ranke, 26. 4. 1950 (EZA Berlin 2/2139); „Zur Frage des endgültigen Lastenausgleiches“. Anhang zum Schreiben der evangelischen Akademie der Hamburgischen Landeskirche an Ranke vom 26. 4. 1950 (EZA Berlin 2/2139). Möller ließ die Resolution neben der Kirchenkanzlei auch dem Bundesvertriebenenministerium zukommen. Vgl. Stellungnahme der evangelischen Akademie Hamburg, 26. 4. 1950 (BArch Koblenz B 126/5682 Bd. 1).

268 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung kreis Lastenausgleich“ der Hamburger Akademie sprach sich für einen Primat der Wirtschaft aus, forderte dabei, den Begriff Lastenausgleich sogar ganz fallen zu lassen und durch die Formulierung „Minderung der Kriegsfolgen“ zu ersetzen.194 Ein Eingriff in die Vermögenssubstanz wurde als wirtschaftslähmend abgelehnt; anstelle einer Steuer, die der Unmoral und Korruption Vorschub leiste, sollte der Lastenausgleich über „freiwillige Opfergaben“ zustande kommen.195 Bei der Stellungnahme der Hamburgischen Akademie handelte es sich zwar um ein besonders profiliertes Beispiel, aber die Forderung eines Primats der Wirtschaft war weit verbreitet und wurde zuweilen von Vertriebenen selbst erhoben. Der selbst vertriebene Spiegel-Schmidt priorisierte die „entwicklungsfähige Volkswirtschaft“ gegenüber der „Solidarhaftung“, die nicht unbeschränkt sein könne.196 Die Gegenposition nahm die evangelische Studiengemeinschaft der Kirchlichen Hochschule Berlin ein, die sich sogar für einen Enteignungsparagraphen aussprach.197 Letztlich deutet sich in der Gegenüberstellung dieser Gestaltungsprinzipien und normativen Postulate eine der zentralen Konfliktlinien an, hinter denen sich spezifische Interessengeflechte verbargen. Schließlich zeigt sich, dass klassische christlich-normative Begründungsressourcen wie Nächstenliebe oder Barmherzigkeit als unzureichend empfunden wurden und einer normativen Erweiterung bedurften. Ausdrücklich wurde der Lastenausgleich dabei als Frage der sozialen Gerechtigkeit gedacht. Anlässlich des Lastenausgleichs wurden die eigenen normativen Grundsätze einer Reflexion und Revision unterzogen. 3.3.4 Die Lastenausgleichsdiskussion in der evangelischen Presse In der zweiten Hälfte des Jahres 1948 intensivierte sich die Diskussion in der überregionalen säkularen wie protestantischen Presse, die ebenfalls die 194 Ebd. 195 Schreiben der evangelischen Akademie der Hamburgischen Landeskirche an Ranke vom 26. 4. 1950 (EZA Berlin 2/2139). Offenbar kam diesen Stellungnahmen in den weiteren Beratungen innerhalb der Kammer für soziale Ordnung keine nennenswerte Rolle zu. Allerdings fand die Hamburgische Entschließung Eingang in ein ausführliches Memorandum der Verwaltungen der Finanzen. Vgl. Verwaltung der Finanzen des Vereinigten Wirtschaftsgebietes: Memorandum zur Vorbereitung der Durchführung der Gesetzgebung über den Lastenausgleich – 2. Fassung. Anhang I: Material zum Memorandum zur Vorbereitung der Gesetzgebung über den Lastenausgleich (ADW Berlin CAW 232). Möller ergriff in einem an Lukaschek adressierten Schreiben direkt Partei für die Einheimischen: Es sei klar geworden, dass „die Aufbringung der erforderlichen Mittel zu großen Härten für die Abgabepflichtigen führen kann. Es darf nicht dadurch, dass Not gelindert wird, neue Not geschaffen werden“ (Schreiben von Hans Möller an Bundesminister Lukaschek, 15. 12. 1950, BArch Koblenz B 150/4820). Zur Antwort: Schreiben von Hans Lukaschek an die evangelische Akademie Hamburg, 14. 8. 1950 (BArch Koblenz B 150/4820). 196 Spiegel-Schmidt, Lastenausgleich, 12. 197 Entschließung der juristischen Klasse der evangelischen Studiengemeinschaft an der Kirchlichen Hochschule Berlin, 19. und 20. 4. 1951 (EZA Berlin 2/2139).

Die protestantische Diskussion nach der Währungsreform

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grundlegenden Gestaltungsprinzipien sozial vs. quotal diskutierte.198 In der evangelischen Presse dominierten, ähnlich wie auf den Tagungen des Hilfswerks im Juli und August 1948, solche Stimmen, die sich für einen sozialen Lastenausgleich aussprachen und dabei den Fokus auf die Existenzsicherung legten. Im Anschluss an die Tagung des Hilfswerks in Kirchheim im Juli 1948 widmete sich die Zeitschrift „Evangelische Welt“ der Lastenausgleichsfrage, druckte dabei die Thesen des Hilfswerks und die Resolution des OKAs ab und befasste sich in erster Linie mit den normativen Grundlagen des Lastenausgleichs. Diesen wollte der Kommentator vom „Grundsatz der Opferbereitschaft“ her verstanden wissen.199 Das von Landesbischof Hanns Lilje herausgegebene „Sonntagsblatt“ setzte sich mit den wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen auseinander. Das „Sonntagsblatt“ erklärte im November 1948 eine Entschädigung „aus der Substanz“ für unmöglich, plädierte für die Einrichtung einer Unterhaltshilfe, die lediglich für diejenigen bestimmt sein sollte, „die der öffentlichen Wohlfahrt zur Last“ fielen, und sprach sich schließlich gegen eine Besteuerung des Betriebsvermögens aus.200 Ein halbes Jahr später bekräftigte das „Sonntagsblatt“ sein Plädoyer für einen sozialen Lastenausgleich und legte das Ziel fest, den Einzelnen zu einer selbständigen wirtschaftlichen Existenz zu verhelfen und die „Neubildung von Eigentum“ zu ermöglichen.201 Dahinter lag eine Gesellschaftsdiagnose, die das Privateigentum als Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung erachtete: Denn gerade die Besitzlosigkeit, von der 50 % aller deutschen Menschen betroffen seien, führe zur Vermassung und liefere die Vertriebenen der Gefahr aus, „willenloses Werkzeug in der Hand des Staates zu werden.“202 Zugleich sprach sich das „Sonntagsblatt“ für einen „grundlegenden Wandel der Sozialstruktur“ aus.203 Während der Artikel vom November 1948 die Vermögenssubstanzabgabe für unmöglich erachtete und letztlich lediglich eine Unterhaltshilfe für die Erwerbsunfähigen vorsah, stellte das „Sonntagsblatt“ in einem im Mai 1949 198 Vgl. 235–240. 199 Die Thesen des Hilfswerks und des OKAs wurden wörtlich abgedruckt, wobei der OKA die Notwendigkeit des Existenzaufbaus betonte und zugleich darauf hinwies, dass der Lastenausgleich nicht als „Wohlfahrtsangelegenheit, sondern als grundsätzlicher Rechtsanspruch“ zu behandeln sei (Der Ruf nach neuer Sozialordnung. In: EvWelt, 1. 9. 1948, 494). Vgl. Die Thesen des evangelischen Hilfswerks. In: EvWelt, 1. 8. 1948, 423. 200 Wirtschaftspolitische Umschau. Die Soforthilfe im Lastenausgleich. In: Sonntagsblatt, 21. 11. 1948, 10. Ein weiterer Artikel machte Steuerhinterziehung, Gesetzesbetrug, Hortungen und Kapitalflucht für die schwierige wirtschaftliche Situation verantwortlich und hoffte darauf, dass der Lastenausgleich den „hohen Preisspiegel“ senke und dadurch die wirtschaftliche Situation entschärfe (Wende unserer Wirtschaftspolitik – durch Lastenausgleich und Kreditbeschränkung. In: Sonntagsblatt, 28. 11. 1948, 15). Für einen Primat der Wirtschaft hatten sich auch einige Vertriebene ausgesprochen, wie ein Beitrag von Spiegel-Schmidt verrät (SpiegelSchmidt, Lastenausgleich, 12). 201 50 Prozent sind besitzlos. Neue Vorschläge zum Lastenausgleich. In: Sonntagsblatt, 8. 5. 1949, 1. 202 Ebd. 203 Ebd.

270 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung erschienenen Artikel die Eigentumsbildung mit dem Ziel der wirtschaftlichen Selbständigkeit und der Förderung der Produktivität ins Zentrum. Die Gewährung von Renten für Hilfsbedürftige wurde dabei als ungenügend empfunden.204 Letztlich vertrat das „Sonntagsblatt“ einen Primat der Wirtschaft. Die wirtschaftliche „Selbständigkeit des Einzelnen“ war auch deshalb zu fördern, weil sie zugleich der „Leistung der Volksgemeinschaft“ zugutekomme.205 Im Vergleich dieser beiden Artikel zeigt sich, welche unterschiedlichen Vorstellungen mit dem sozialen Ausgleichsmodell verbunden wurden: Einerseits konnte „sozial“ in Abgrenzung zum quotalen Modell bedeuten, dass der Lastenausgleich in erster Linie die Erwerbsunfähigen zu unterstützen habe, andererseits konnte das Attribut „sozial“ den Fokus auf die Schaffung produktiver wirtschaftlicher Existenzen legen – in Abgrenzung zu einem als unproduktiv empfundenen reinen Rentenprogramm. Noch deutlicher sprach sich, korrespondierend mit der Selbsthilfekonzeption des Hilfswerks, die von Gerstenmaier initiierte Zeitschrift „Christ und Welt“ für den sozialen Ausgleich aus. Obwohl die Vertriebenen selbst, wie der namentlich nicht genannte Autor feststellte, das quotale Ausgleichsmodell bevorzugten, müsse der Lastenausgleich unabhängig vom erlittenen Vermögensverlust in erster Linie die Berufs- und Existenzsicherung zum Ziel haben.206 Dies begründete der Kommentator einerseits mit der Unmöglichkeit der Schadensfeststellung, andererseits mit Gerechtigkeitserwägungen, denn Angestellte und Arbeiter mit geringem Vermögen hätten im quotalen Ausgleichsmodell nur geringe oder keine Entschädigungsleistungen zu erwarten.207 Zudem sei das quotale Ausgleichsmodell am „Maßstab der Vergangenheit“ orientiert, während sich der Lastenausgleich an der Zukunft orientieren solle.208 Schließlich diskutierte der Artikel die Möglichkeit, wie den Vertriebenen angesichts der „mangelnden Geldflüssigkeit“ zu Eigentum verholfen werden könne.209 Da die Möglichkeit einer „Substanzteilung“, beispielsweise in Form von Gutscheinverfahren oder Teilhaberschaften an Betrieben, nicht oder nur in geringem Umfang möglich sei, stünden nur die „Erträge aus der Volkswirtschaft“ zur Verfügung.210 Im Gegensatz zu manchen sozialdemokratischen Vorstellungen, die im sozialen Ausgleichsmodell die Chance zur Überwindung überkommener Sozialhierarchien erblickten, hielt der Kommentator von „Christ und Welt“ die „Wiederherstellung“ einer „sozialen Schichtung“ allerdings für 204 Ebd. Scharfe Kritik am Rentenprogramm und an der Vernachlässigung einer produktiven Komponente äußerte auch Rittershausen: Sieh nicht hinter dich! In: Sonntagsblatt, 29. 5. 1949, 16; und Soforthilfe, Lastenausgleich, Steuerrecht. In: Sonntagsblatt, 12. 6. 1949, 2. 205 50 Prozent sind besitzlos. Neue Vorschläge zum Lastenausgleich. In: Sonntagsblatt, 8. 5. 1949, 1. 206 Lastenausgleich – und wie verteilen? In: ChrWelt, 22. 9. 1949, 5. 207 Ebd. 208 Ebd. 209 Ebd. 210 Ebd.

Die Konkretisierung der Lastenausgleichsdiskussion in den 1950er Jahren 271

notwendig.211 Im Grunde genommen vertrat der Kommentator mit seinem starken Plädoyer für ein soziales Ausgleichsmodell dennoch eine SPD-nahe Position, wenn auch aus anderen Gründen und mit anderen dahinterliegenden Gesellschaftsvorstellungen. Der Autor fasste seine Position in Form von vier Thesen zusammen, die deutliche Anklänge an die Thesen der Karlshöher Tagung aufweisen: Der Lastenausgleich müsse sich an der Zukunft statt der Vergangenheit orientieren, Währungsschäden müssten nachrangig behandelt, die Förderung der Eingliederung, des Existenzaufbaus und des wirtschaftlichen Wiederaufbaus priorisiert werden und primär produktiven statt konsumtiven Zwecken dienen.212 Während sich in der politischen Auseinandersetzung allmählich ein Kompromiss aus sozialen und quotalen Elementen herauskristallisierte, hielt „Christ und Welt“ an der sozialen Ausgleichskonzeption fest und diskreditierte den Kompromiss als „Zwitter.“213

3.4 Die Konkretisierung der Lastenausgleichsdiskussion in den 1950er Jahren 3.4.1 Initiativen für ein zweites Wort der EKD zum Lastenausgleich Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland setzten sich die Beratungen über den Lastenausgleich fort. Mit dem Beginn der parlamentarischen Beratungen im Bundestag bzw. im sog. Unkeler Kreis, in welchem sich die Regierungsparteien auf eine Konzeption verständigten, griffen verschiedene protestantische Akteure die Lastenausgleichsproblematik auf. Auf EKDEbene avancierten die Kammer für soziale Ordnung und der Geschäftsführer der Kammer, OKR Hansjörg Ranke, zu einem Knotenpunkt der protestantischen Lastenausgleichsdiskussion. Die ersten Sitzungen der Kammer waren, wie gezeigt, durch ein hohes Abstraktionsniveau, eine Dominanz der theologischen Perspektive sowie durch tagespolitische und ökonomische Abstinenz charakterisiert.214 Allerdings brachten sich protestantische Ökonomen nun verstärkt in die Lastenausgleichsdiskussionen der Kammer ein. In einem an Hansjörg Ranke adressierten Schreiben empfahl der Volkswirt Friedrich Karrenberg den Ökonomen Herbert Giersch als Referenten für die Beratungen der Sozialkammer und machte sich dabei für die wirtschaftliche Dimension des Lastenausgleichs stark. Der Lastenausgleich war für ihn „nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern ein eminent wirtschaftliches An-

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Ebd. Ebd. Lastenausgleich vor der Entscheidung. In: ChrWelt, 27. 7. 1950, 5. Vgl. oben 260–263 und Riedner, Kammer, 158.

272 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung liegen.“215 Karrenberg priorisierte den Existenzaufbau, die Kapital- und Eigentumsbildung der Besitzlosen und die Beendigung der wirtschaftlichen Unselbständigkeit; zudem warnte er vor einer Kapitalakkumulation.216 Im Januar und Februar 1951 meldeten sich die Ökonomen Siegfried Wendt und Martin Donath zu Wort, die eine dichotomische Gegenüberstellung von Wirtschaftsorientierung und sozialer Gerechtigkeit infrage stellten.217 Im Vorfeld einer geplanten Stellungnahme der EKD wandte sich Wendt gegen das Argument, dass der Lastenausgleich der Wirtschaft schade. Dieses Argument sei aus der Perspektive der Vermögenden gedacht.218 Der Volkswirt wollte den Lastenausgleich nicht als Eingriff in das Privateigentum verstanden wissen, sondern als Wiederherstellung der Eigentumsordnung, die sich auch wirtschaftsfördernd auswirke: Ich würde es für notwendig halten, in diese Leitsätze einen Absatz einzufügen, in dem davon gesprochen wird, dass der Lastenausgleich so gestaltet werden muss, dass er der Weckung produktiver Kräfte dient. Im Allgemeinen sieht man […] die Probleme des Lastenausgleiches immer vom Standpunkt derjenigen, die jetzt über die Produktionsmittel verfügen und meinen, dass die Wirtschaft unter ihrer Entfaltungsmöglichkeit bleiben würde, wenn der Lastenausgleich eine andere Verteilung der Kapitalansprüche zur Folge hat. Man muss aber das Problem auch einmal vom Standpunkt derjenigen sehen, die noch zu produktiver Betätigung drängen. Grade diese Menschen wünschen, dass der Lastenausgleich nicht im Sinne einer Rentenzahlung geregelt wird, sondern so, dass sie wieder Zugang zu produktiver Betätigung bekommen. […] Es könnte auch zum Ausdruck gebracht werden, dass der Lastenausgleich […] grade um des Privateigentums willen gefordert werden muss. […] Außerdem bedeutet es eine grundsätzliche Gefährdung einer auf der Anerkennung des Privateigentums beruhenden Sozialordnung, 215 Vgl. Schreiben von Friedrich Karrenberg an Hansjörg Ranke, 16. 8. 1949 (EZA Berlin 2/2139); auch Schreiben von Hansjörg Ranke an Präsident Reimer Mager, 13. 9. 1949 (EZA Berlin 2/ 1501). Rankes Empfehlung wurde allerdings nicht entsprochen. Zu Giersch, der vor dem Sozialethischen Ausschuss zum Lastenausgleich referiert hatte, siehe oben 260–263. 216 Schreiben von Friedrich Karrenberg an Friedrich Ranke, 16. 8. 1949 (EZA Berlin 2/2139). Karrenberg hatte zudem ein nicht überliefertes Referat mit dem Titel „Zum Kriegslastenausgleich“ gehalten. Vgl. Niederschrift über die Tagung für soziale Ordnung am 11. und 12. 7. 1949 (EZA Berlin 2/1501). Seine Überlegungen publizierte Karrenberg in der Zeitschrift „Stimme der Gemeinde“: Karrenberg, Recht, 13 f.; ders., Beitrag, 11–13. 217 Siegfried Wendt war Mitarbeiter der evangelischen Sozialakademie Friedewald und hatte an der gemeinsamen Lastenausgleichsausschusssitzung am 13. 3. 1951 teilgenommen. Das geht hervor aus: Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses für den Lastenausgleich, 13. 3. 1951 (EZA Berlin 2/2140). Der Ökonom Martin Donath stand mit dem sog. sozialen Protestantismus rheinischer Spielart in Verbindung. Er arbeitete in der Arbeitsgruppe IV „Wirtschaft“ des DEK mit und war Studienleiter der evangelischen Akademie Bad Boll. Hierzu Hoppe, Netzwerke, 221 f. 218 Schreiben von Siegfried Ranke an Hansjörg Ranke, 12. 1. 1951. Ranke hatte Wendt um eine Stellungnahme „von der volkswirtschaftlichen und theologischen Seite“ gebeten (Schreiben von Hansjörg Ranke an Siegfried Wendt, 12. 1. 1951, EZA Berlin 2/2140).

Die Konkretisierung der Lastenausgleichsdiskussion in den 1950er Jahren 273 wenn ein Unglück, das das Volk als Ganzes betroffen hat, nicht von allen gemeinsam getragen wird.219

Der protestantische Ökonom Martin Donath wandte ein, dass sich der Lastenausgleich an aus seiner Sicht willkürlich festgesetzten Einheitswerten und nicht am aktuellen Sozialprodukt orientiere, womit das seit dem Währungsstichtag hinzugewonnene Vermögen unberücksichtigt bleibe.220 Der Vorschlag einer Kopplung des Lastenausgleichs an das Sozialprodukt schien OKR Ranke zumindest bedenkenswert, denn er leitete zentrale Passagen dieses Briefes an Friedrich Karrenberg und Johannes Kunze weiter mit der Bitte, „sich diesen Gedanken durch den Kopf gehen zu lassen.“221 Sowohl Wendt als auch Donath rückten schließlich einen Gesichtspunkt in den Fokus, der auf den Tagungen des Hilfswerks dominierte und zwischenzeitlich in den Hintergrund geraten war, nämlich die Vorstellung, dass „durch ihn [den Lastenausgleich, FT] eine neue Ordnung des Zusammenlebens der Menschen begründet werden soll, die dem gegenwärtigen Stand der produktiven Kräfte entspricht.“222 Mit dem Lastenausgleich gehe, so Martin Donath, eine „Umstrukturierung unseres gesamten Sozialgefüges“ einher.223 Fast gleichzeitig erarbeitete der OKA einen Entwurf zum Lastenausgleich, den Spiegel-Schmidt Hansjörg Ranke zukommen ließ und der die Grundlage für ein Wort der EKD sein sollte.224 Ranke dämpfte jedoch die Initiative Spiegel-Schmidts. Er hielt die Kammer für soziale Ordnung für das zuständige Organ und wollte den Lastenausgleich in einem kleinen Kreis „unter Hinzuziehung von Referenten im Finanzministerium“ beraten.225 Insgesamt hielt der Geschäftsführer der Kammer ein „Wort an die kirchliche Öffentlichkeit“ jedoch für möglich und versprach, den Entwurf des OKAs der Kammer für 219 Schreiben von Siegfried Ranke an Hansjörg Ranke, 26. 1. 1951 und vom 29. 1. 1951 (EZA Berlin 2/2140). 220 Donath war in einem Gespräch mit Hans Achinger auf die Idee gekommen, den Lastenausgleich, analog zur Rentenreform 1957, an das Wirtschaftswachstum zu koppeln und auf diese Weise zu dynamisieren. Achinger hatte gemeinsam mit Ludwig Neundörfer Vorschläge zur Sozialreform ausgearbeitet und war zudem politikberatend tätig. Siehe Schreiben von Martin Donath an Hansjörg Ranke vom 23. 2. 1951 (EZA Berlin 2/2140). Vgl. auch die von Achinger und Neundörfer verfasste Denkschrift: Achinger/Hçffner/Neundçrfer, Neuordnung. 221 Schreiben von Hansjörg Ranke an Friedrich Karrenberg und Johannes Kunze, 26. 2. 1951 (EZA Berlin 2/2140). Donath hatte für diesen Zweck diverse Steuern vorgeschlagen. Zudem wies Donath hier auf den „entscheidenden Anteil der Heimatvertriebenen“ und ihrer „Lammesgeduld“ für das „Wiederaufblühen“ der Wirtschaft hin. Ranke kündigte an, Donaths Überlegungen in der Sozialkammer zu beraten. 222 Schreiben von Siegfried Ranke an Hansjörg Ranke, 29. 1. 1951 (EZA Berlin 2/2140). 223 Schreiben von Martin Donath an Hansjörg Ranke, 8. 1. 1951 (EZA Berlin 2/2140). 224 Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an Hansjörg Ranke und Johannes Kunze, 11. 11. 1950 (EZA Berlin 2/2140). 225 Schreiben von Hansjörg Ranke an Friedrich Spiegel-Schmidt, 13. 11. 1950; Schreiben von Hansjörg Ranke an Friedrich Karrenberg und Johannes Kunze, 26. 2. 1951. Am 24. 1. 1951 fand eine gemeinsame Tagung mit den Vertriebenenverbänden und dem Finanzministerium statt. Siehe Schreiben von Hansjörg Ranke an Wendt, 27. 1. 1951 (EZA Berlin 2/2140).

274 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung soziale Ordnung vorzulegen.226 Ungeachtet dieses „Dämpfers“ setzte der OKA die Lastenausgleichsfrage in der ersten Hälfte des Jahres 1951 auf die Tagesordnung und gab eine eigene „Handreichung zum Lastenausgleich“ in Form einer Broschüre heraus.227 Im Januar und Mai 1951 fanden zudem zwei gemeinsame Tagungen des OKAs und der Hermannsburger Forschungsstelle für Vertriebenenfragen statt.228 Im Anschluss an die Januartagung veröffentlichte der OKA eine Resolution. Hier erklärte er die gerade verabschiedete Soforthilfe für unzureichend und warnte vor einer Aushöhlung des Lastenausgleichs.229 Zugleich bat Stella Seeberg den Landesbischof der hannoverschen Landeskirche Hans Lilje darum, den Rat der EKD zu einer Stellungnahme zum Lastenausgleich zu veranlassen und die Entscheidungsträger „auf ihre Verantwortung hinzuweisen.“230 Neben dieser Bitte Seebergs verfassten die Tagungsteilnehmer eine Eingabe, in welcher der Rat der EKD anlässlich der beginnenden Bundestagsberatungen gebeten wurde, „dass die Kirche jetzt […] die Mitglieder des Bundestages und Bundesrates auf den Ernst und die Verantwortung dieser Verhandlungen hinweist.“231 Die Politiker sollten von der aufnehmenden Bevölkerung „fühlbare Opfer“ fordern.232 Die Eingabe ging in ihrem Anspruch weiter als Ranke, der lediglich eine an die kirchliche Öf226 Schreiben von Hansjörg Ranke an Friedrich Spiegel-Schmidt, 13. 11. 1950 (EZA Berlin 2/ 2140). 227 Ostkirchenausschuss, Handreichung. Die Handreichung enthielt Diskussionsbeiträge von Spiegel-Schmidt und Edo Osterloh. Die ursprünglich angefragten Theologen Gollwitzer und Wendland hatten abgesagt. Siehe Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses für den Lastenausgleich, 13. 3. 1951 (EZA Berlin 2/4681). Später bezeichnete Spiegel-Schmidt die Handreichung als „wegweisend“, „damit möglichen Spannungen in den Kirchengemeinden begegnet“ werden könne und die „Willigkeit der Christen zu diesem Sozialwerk gefördert“ werde (ders., Wandlungen, 68). 228 An der ersten Tagung im Januar 1951 nahmen Vertreter des OKAs und des ZvD teil. Vgl. Schreiben von Stella Seeberg an Hanns Lilje vom 20. 1. 1951 (LKA Hannover N 14 Nr. 19). An der zweiten Tagung im Mai nahmen die für den Lastenausgleich relevanten Akteure Johannes Kunze und Martin Donath teil. Hierzu Treidel, Akademien, 2001, 157. Allerdings sind die Protokolle dieser Tagungen nicht überliefert. Das geht hervor aus ebd., Anm. 755. 229 Aushöhlung des Lastenausgleichs? In: EvWelt, 1. 2. 1949, 10. 230 Schreiben vom Seeberg an Lilje vom 20. 1. 1951 (LKA Hannover N 14 Nr. 19). Seeberg bat darum, „die Parlamentarier auf ihre besondere Verantwortung hinzuweisen.“ Zudem bat sie „um einen persönlichen Brief an die Kirchenvorstände“, um „ihnen eine konkrete Handreichung in die Hand zu geben“ (Schreiben von Plog an Stella Seeberg, 21. 1. 1951, LKA Hannover L 3 III Nr. 1120). Vgl. auch Schreiben von Stella Seeberg an Hanns Lilje, 7. 3. 1951 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1120). 231 Die Eingabe wurde am 3. 3. 1951 dem Rat übermittelt, gemeinsam mit einem Entwurf für ein Wort der Kirche zum Lastenausgleich von Herbert Girgensohn. Siehe Eingabe der Arbeitstagung für Flüchtlingsfragen an Landesbischof Lilje. 20. 1. 1951. Anhang zur 20. Sitzung des Rates der EKD. In: Pçpping (Bearb.), Protokolle, Bd. 5, 132 f.; außerdem; Schreiben von Friedrich Merzyn an Hansjörg Ranke, 13. 3. 1951. In: Ebd., 132 (Auch EZA Berlin 2/2140). 232 Girgensohn, Herbert: Entwurf für ein Wort der EKD an die Mitglieder des Bundestags und Bundesrates vom 3. 3. 1951. Anhang zur 20. Sitzung des Rates der EKD. In: Pçpping (Bearb.), Protokolle, Bd. 5, 133.

Die Konkretisierung der Lastenausgleichsdiskussion in den 1950er Jahren 275

fentlichkeit gerichtete Stellungnahme vorgeschlagen hatte.233 Offenbar waren diese beiden Initiativen – das Schreiben Seebergs und die Eingabe einschließlich eines Entwurfes aus der Feder Girgensohns – erfolgreich: Hanns Lilje kündigte an, sich „in dem von Seeberg vorgeschlagenen Sinne“ zu äußern.234 Auf der Ratssitzung am 6. März 1951 wurde OKR Hansjörg Ranke aufgrund der Initiative der Flüchtlingstagung im Januar 1951 schließlich damit beauftragt, einen entsprechenden Entwurf für ein Wort der Kirche zum Lastenausgleich auszuarbeiten,235 obwohl Otto Dibelius in einem an Herbert Girgensohn adressierten Schreiben eine erneute Stellungnahme des Rats der EKD abgelehnt hatte und stattdessen lediglich das Wort von 1949 in Erinnerung rufen wollte.236 Offenbar verstand Dibelius die Lastenausgleichsfrage weniger als einen sozialpolitischen „Kampf für Recht und Gerechtigkeit“ als vielmehr als Angelegenheit traditioneller Fürsorge und individueller Caritas. Auf einer Kundgebung auf dem Tag der Inneren Mission, die von 35 000 Teilnehmern besucht wurde, appellierte Dibelius „an die evangelischen Christen […], unser Opfer freudigen Herzens und ohne Murren zu bringen.“237 Hier richtete er an diejenigen, die bereits wieder über ein „erträgliches Auskommen“ verfügten, die Erwartung, auf ihre Ansprüche zu verzichten.238 Neben der Initiative Seebergs motivierte wohl auch die Konkurrenzsituation der beiden Großkonfessionen, zumindest laut Selbstauskunft, die verstärkten Anstrengungen. Ranke bewertete eine in der „Vertriebenenkorrespondenz“ vom 24. Februar 1951 veröffentlichte Stellungnahme des päpstlichen Beauftragten für die Flüchtlingsseelsorge, des Prälaten Franz Hartz, als Ansporn, „noch etwas Besseres hervor[zu]bringen.“239 In diesem Schreiben plausibilisierte Hartz den Lastenausgleich gegenüber den Einheimischen. Weitere Initiativen für eine Stellungnahme der katholischen Kirche zum Lastenausgleich wurden allerdings ausgebremst.240 233 Schreiben von Hansjörg Ranke an Friedrich Spiegel-Schmidt vom 13. 11. 1950 (EZA Berlin 2/ 2140). 234 Schreiben von Hanns Lilje an Stella Seeberg, 7. 3. 1951 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1120). Vgl. auch Schreiben von Friedrich Bartels an Stella Seeberg vom 7. 3. 1951 (LKA Hannover N 14 Nr. 19). Bartels zweifelte jedoch am Erfolg. 235 Das geht hervor aus: Schreiben von Friedrich Merzyn an Hansjörg Ranke, 13. 3. 1951 (EZA Berlin 2/2140). 236 Schreiben von Otto Dibelius an Herbert Girgensohn vom 10. 3. 1951 (EZA Berlin 2/5812). 237 Dibelius: Echter Lastenausgleich. In: FAZ, 4. 9. 1951, 3. 238 Ebd. 239 Schreiben von Hansjörg Ranke an Friedrich Spiegel-Schmidt, 20. 3. 1951 (EZA Berlin 2/2140). Vgl. auch Vertriebenenseelsorger zum Lastenausgleich. In: Vertriebenen-Korrespondenz, 24. 2. 1951. Diese Stellungnahme ließ Regierungsdirektor Manfred Fauser OKR Ranke zukommen. Siehe Schreiben von Regierungsdirektor Dr. Manfred Fauser an Ranke, 15. 3. 1951 (EZA Berlin 2/2140). 240 Der katholische Vertriebenenseelsorger Paulus Sladek hatte mehrfach um eine solche Stellungnahme gebeten. Das geht hervor aus Bendel, Aufbruch, 577. In der katholischen Kirche formierte sich zudem ein Gesprächskreis zum Lastenausgleich. Hieran nahmen Moraltheologen und katholische Vertreter aus Politik und Wirtschaft, darunter Hans Lukaschek, teil.

276 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Hansjörg Ranke, der in der Kirchenkanzlei qua Amt mit dem Lastenausgleich befasst war, avancierte in der Lastenausgleichsfrage zur koordinierenden Instanz innerhalb der EKD. Bereits vor der Beauftragung durch den Rat hatte Ranke entsprechende Kommunikationsstrukturen geschaffen, die auch für die Beratungen genutzt wurden.241 Der OKR initiierte einen Arbeitsund Gesprächskreis, in welchem die Kirchenkanzlei der EKD, der OKA, der Zentralverband der vertriebenen Deutschen (ZvD) und Mitarbeiter des Bundesfinanzministeriums vertreten waren.242 Ebenso hielt er die Verbindung zu protestantischen Politikern aufrecht und stimmte sich mit Politikern und leitenden Beamten ab.243 Bereits am 24. Januar 1951 war ein „Treffen von Kirche, Vertriebenenverbänden und Vertretern des Finanzministeriums“ geplant, allerdings kamen die Teilnehmer zu dem Ergebnis, dass ein Wort des Rats der EKD „jetzt nicht statthaft“ sei.244 Auf der gemeinsamen Sitzung im März 1951 in Bonn hätten die Mitarbeiter des Bundesfinanzministeriums ein Wort des Rats der EKD jedoch für erwünscht gehalten, wobei der Entwurf des OKAs bei den Mitarbeitern des Finanzministeriums auf Ablehnung gestoßen

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Prälat Franz Hartz und Kardinal Joseph Frings verhinderten die Initiativen des Kreises für eine kirchliche Stellungnahme. Angeblich spielten, so zumindest die zeitgenössische Spekulation, die guten Kontakte zwischen Frings und Adenauer hier eine Rolle. Vgl. Voßkamp, Kirche, 168–187. Hansjörg Ranke war Leiter der Bonner Außenstelle der Kirchenkanzlei und arbeitete mit Hermann Kunst, dem Bevollmächtigten der EKD bei der Bundesregierung, zusammen. Rankes Aufgabengebiet umfasste u. a. die „öffentliche Verantwortung der Kirchen“ und „Flüchtlingsfragen im allgemeinen“. Außerdem war er für „Detailfragen der Gesetzgebung“ zuständig (Geschäftsordnung für Probst Kunst und OKR Ranke, 8. 3. 1950, EZA Berlin 2/2423). Zudem war Ranke Geschäftsführer der Kammer für soziale Ordnung. Siehe Riedner, Ordnung, 155–170. Hermann Kunst spielte in der Lastenausgleichsfrage kaum eine Rolle. Die gesamte Kommunikation mit Entscheidungsträgern wurde über Ranke abgewickelt. Inwieweit Kunst darüber hinaus Interessen über informelle Wege kommunizierte, ist nicht ermittelbar. Auf die Bedeutung informeller Kanäle weist hin Buchna, Jahrzehnt, 34. Niederschrift über eine Besprechung von Vertretern der Kirche und der Vertriebenenorganisationen in der Kirchenkanzlei in Bonn, 14. 12. 1950. Mitglieder des Ausschusses für den Lastenausgleich waren Donath, Spiegel-Schmidt, Gerhard Gehlhoff, Manfred Fauser, der spätere Präsident des Bundesausgleichsamtes Walter Kühne, Hansjörg Ranke und Siegfried Wendt. Siehe Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses für den Lastenausgleich am 13. 3. 1951. Außerdem fanden Arbeitstreffen zwischen OKA und Vertriebenenorganisationen statt. Vgl. Bericht. Arbeitsgemeinschaft der Vertriebenenorganisationen und des OKAs in Bonn, 26. 6. 1951 (EZA Berlin 2/2140). Ranke tauschte sich mit Kunze über den Gang der Gesetzgebung aus: Schreiben von Hansjörg Ranke an Johannes Kunze, 17. 12. 1948 (ADW Berlin CAW 231); Schreiben von Hansjörg Ranke an Johannes Kunze, 19. 1. 1950; Schreiben von Johannes Kunze an Hansjörg Ranke, 26. 1. 1950 (EZA Berlin 2/2139); und Schreiben von Hansjörg Ranke an Friedrich Karrenberg und Johannes Kunze, 26. 2. 1951 (EZA Berlin 2/2140). Das geht hervor aus: Schreiben von Hansjörg Ranke an Siegfried Wendt, 27. 1. 1951 (EZA Berlin 2/2140). Dennoch sollte am 13. 3. 1951 eine Ausschusssitzung stattfinden. Siehe 20. Sitzung des Rates der EKD in Hannover am 6. 3. 1951. Anhang zur 20. Sitzung des Rates der EKD. In: Pçpping (Bearb.), Protokolle, Bd. 5, 114.

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sei.245 Eine allgemein gehaltene Stellungnahme wie das Wort von Dibelius von 1949 wurde explizit als unzureichend empfunden. Stattdessen müsse eine fundierte, konkretere Positionierung zum Lastenausgleich erfolgen, die in der Kammer für soziale Ordnung beraten werden solle.246 Für diesen Zweck initiierte Ranke Beratungen mit Beamten des Finanzministeriums, den Vertriebenenverbänden und dem Ökonomen Martin Donath, der innerhalb des Protestantismus zum Lastenausgleichsexperten avancierte. Die Ausführungen des neuen Kammermitglieds hätten „Gewicht“, zudem sei Donath dazu besonders qualifiziert, weil er gerade eine umfassende Tagung zum Lastenausgleich durchgeführt habe und die Probleme aus der gestrigen Besprechung mit der evangelischen Sozialakademie Friedewald und dem Bundesfinanzministerium am besten übersehe.247 Das Repräsentationsorgan der evangelischen Kirche, der OKA, wurde nicht mit der Ausarbeitung beauftragt, blieb jedoch involviert. So wurde der Geschäftsführer des OKAs, Friedrich Spiegel-Schmidt, darum gebeten, neben Martin Donath auf der Kammersitzung das zweite Hauptreferat zu halten.248 Das Engagement Rankes, der die Berücksichtigung ökonomischen Sachverstandes eingefordert hatte, sowie die informellen Treffen mit OKA, Finanzministerium, ZvD und einzelnen Politikern lassen das Bedürfnis erkennen, über moralisch-moralisierende Appelle hinauszugehen und eine wirtschaftlich fundierte, sachlich informierte Stellungnahme vorzulegen, die der OKA als kirchliches Vertretungsorgan der evangelischen Vertriebenen aus Rankes Perspektive nicht hatte liefern können. Auch innerhalb der Kammer für soziale Ordnung strebte Ranke einen Umbau zu einem Sachverständigengremium an, da die Kammer der Aufgabe nicht gerecht werde und aufgrund ihrer mangelnden Sachkenntnis überfordert sei.249 Personelle Veränderungen gingen damit einher; Iwand schied wegen andauernder Überbelastung aus.250 245 Schreiben von Hansjörg Ranke an Otto Dibelius, 15. 3. 1951 (EZA Berlin 2/5812). 246 Ranke sprach sich mit Karrenberg ab. Vgl. Schreiben von Hansjörg Ranke an Otto Dibelius, 15. 3. 1951 (EZA Berlin 2/5812). Zudem wollte der OKA eine Publikation zum Thema „Lastenausgleich und christliche Gemeinde“ erarbeiten. Hieran sollten Johannes Kunze, Edo Osterloh, Heinz-Dietrich Wendland, Herbert Girgensohn, Eduard Steinwand und Helmut Gollwitzer mitwirken. Siehe Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses für den Lastenausgleich am 13. 3. 1951 (EZA Berlin 2/2140; EZA Berlin 2/4681). 247 Schreiben von Hansjörg Ranke an Friedrich Karrenberg und Johannes Kunze, 26. 2. 1951 (EZA Berlin 2/2140). Vgl. auch Schreiben von Hansjörg Ranke an Otto Dibelius, 15. 3. 1951 (EZA Berlin 2/5812). Siehe auch Arbeitstagung über Fragen der Heimatvertriebenen vom 17.–21. 2. 1951 in Bad Boll (EZA Berlin 2/2140). Donath hatte hier zum Thema „Unsere Sorge um Deutschland und Europa“ referiert. An der Tagung nahmen neben Donath und Gerstenmaier u. a. auch Kunze, Albertz und Ranke teil. Siehe Schreiben von Martin Donath an Hansjörg Ranke vom 8. 1. 1951 (EZA Berlin 2/2140). 248 Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses für den Lastenausgleich am 13. 3. 1951 (EZA Berlin 2/2140). 249 Schreiben von Hansjörg Ranke an Reimer Mager, 17. 3. 1950 (EZA Berlin 2/1502). 250 Stattdessen schlug Ranke als neue Kammermitglieder Martin Donath, Claus von Bismarck, Ludwig von Heyde und Cord Cordes vor. Siehe Schreiben von Hansjörg Ranke an die Mit-

278 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Ranke schlug vor, den festen Personalstamm zu verkleinern und stattdessen vermehrt externe Experten und Berater für die Erörterung von Sachthemen hinzuzuziehen.251 Auf der vierten Sitzung, die sich erneut mit dem Lastenausgleich befasste, wurde diese Neubildung schließlich umgesetzt und externe Referenten als Sachverständige in die Kammer eingeladen.252 3.4.2 Von der Theologie zur Ökonomie. Die Beratungen der Kammer für soziale Ordnung und die zweite Stellungnahme der EKD zum Lastenausgleich Die Kammer für soziale Ordnung beschäftigte sich nach intensiven Vorverhandlungen mit dem Finanzministerium, dem OKA und den säkularen Vertriebenenverbänden am 16. Mai 1952 mit der Lastenausgleichsproblematik, um ein Votum für den Ratsvorsitzenden zu erstellen.253 Der Geschäftsführer des OKAs Friedrich Spiegel-Schmidt und der Volkswirt Martin Donath hielten die Hauptvorträge. Donaths später publiziertes Referat setzte sich in einem ersten Schritt mit den normativen Grundlagen auseinander und erörterte zweitens Möglichkeiten der Kriegsfolgenfinanzierung, wobei er auch die Regierungsentwürfe kritisierte.254 Seinen Ausführungen lagen, erstens, zwei normative Begründungsmuster zugrunde, nämlich die „Gerechtigkeit“, die er als „Fundament des Staates“ und als „unverrückbare These der Christenheit zu allen Zeiten und Völkern“ bezeichnete und die er explizit von traditionellen Vorstellungen wie Caritas oder Sozialfürsorge abgrenzte.255 Daneben postulierte er eine nationale Verpflichtung zur Solidarität, die für ihn geradezu eine Existenzbedingung des Volkes war.256 Volk war für Donath nicht nur eine

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glieder des Rates der EKD vom 27. 11. 1950 (EZA Berlin 2/1502); und Schreiben von Hansjörg Ranke an die Mitglieder des Rates der EKD, 17. 3. 1951 (EZA Berlin 2/1503). Schreiben von Hansjörg Ranke an Heinz Brunotte, 4. 3. 1950 (EZA Berlin 2/1502) Ranke meinte, die Kammer für öffentliche Verantwortung möchte oder könne die umfangreichen Sozialprobleme nicht in Angriff nehmen. Siehe Schreiben von Hansjörg Ranke an Reimer Mager, 17. 3. 1950 (EZA Berlin 2/1502). Als Gastreferenten traten Friedrich Spiegel-Schmidt und Martin Donath auf; als ordentliche Mitarbeiter wurden Klaus von Bismarck, Cord Cordes, Martin Donath und Ludwig Heyde; als Stellvertreter u. a. Helmut Gollwitzer, Eberhard Müller und Alfred Müller-Armack berufen, während Constantin von Dietze, Hans Joachim Iwand, Siegmund Schultze und Joachim Tiburtius ausschieden. Vgl. Niederschrift über die Sitzung der Kammer für soziale Ordnung der EKD in Königswinter am 16. 5. 1951. Anhang zur 22. Sitzung des Rates der EKD, 24. 5. 1951. In: Pçpping (Bearb.), Protokolle, Bd. 5, 227. Ebd., 228. Donath, Martin: Christliche Besinnung zum Lastenausgleich. Vortrag von Martin Donath auf der Sitzung der Kammer für soziale Ordnung am 16. 5. 1951 in Königswinter (EZA Berlin 2/ 2141; EZA Berlin 2/5812). Dieses Referat wurde später in der „Jungen Kirche“ publiziert. Vgl. Donath, Besinnung. Im Folgenden wird die etwas ausführlichere Fassung aus dem evangelischen Zentralarchiv zitiert. Ebd. Ebd.

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Summe von Einzelnen, sondern Volk konstituierte sich durch ein Allgemeinwohl oder ein Allgemeininteresse. Daher seien Kriege und ihre Folgen und folglich auch der Lastenausgleich als Angelegenheiten des gesamten Volkes, d. h. als „Res publica und Volksschicksal“, zu begreifen: „Alle sind vom Krieg betroffen, alle führen ihn, gewinnen, verlieren ihn – und zahlen ihn.“257 Der Lastenausgleich sei demnach nicht anders zu bewerten als die an den Staat delegierte und über Steuern finanzierte Risikoprävention und -bekämpfung; daher müsse er sich an den Grundsätzen der „finanzwirtschaftlichen Gerechtigkeit“ und der „Gleichheit“ orientieren und über Steuern, Zölle und Anleihen finanziert werden.258 Während viele Ökonomen das Argument eines Primats der Wirtschaft dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit überordneten.259 priorisierte der Volkswirt Donath Gerechtigkeit und Solidarität vor der Wirtschaft: Gerechtigkeit in der öffentlichen Finanzwirtschaft ist erst sehr sekundär eine Frage der wirtschaftlichen Möglichkeiten. Sie ist grundlegend und primär eine Frage des sittlichen Willens und der Haltung.260

Der Lastenausgleich war zudem kein Eingriff in die Eigentumsordnung, sondern diente ihrer Wiederherstellung.261 In einem zweiten Schritt brachte Donath ökonomische Vorschläge zur Gestaltung des Lastenausgleichs ein. Zunächst kam der Ökonom auf den Unterschied zwischen quotalem und sozialem Modell zu sprechen. Das von Hans Lukaschek vorgebrachte Argument, dass eine produktive Vermögensbildung gegenüber einer konsumtiven Vermögensbildung zu bevorzugen und daher eine Wiederherstellung der früheren Vermögensverhältnisse anstelle der Gewährung von Renten anzustreben sei, ließ Donath nicht gelten, „denn gerade Vertriebene und kleine Leute könnten ja ebenfalls Realkapital bilden.“262 So solle sich die Höhe des Lastenausgleichs an der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und der volkswirtschaftlichen Produktivität orientieren.263 Die Berücksichtigung des „Produktionsfaktors Arbeit“ und die 257 Ebd. 258 Ebd. Als Vorbild nannte Donath England, wo der Krieg über Steuern finanziert worden sei. 259 Ebd. So vor allem auf den Tagungen des Hilfswerks von 1948. Vgl. oben 253–260. In diesem Zusammenhang grenzte sich Donath von einem Gutachten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft von 1948 ab. 260 Ebd. 261 Ebd. Lukaschek votierte in Hermannsburg für eine Wiederherstellung der früheren Vermögensverhältnisse und damit für das quotale Ausgleichsmodell, da auf diese Weise volkwirtschaftlich wertvolleres produktives Vermögen gebildet werde. Vgl. Lukaschek, Probleme, 9; vgl. auch oben 263–268. 262 Donath, Martin: Christliche Besinnung zum Lastenausgleich. Vortrag von Martin Donath auf der Sitzung der Kammer für soziale Ordnung am 16. 5. 1951 in Königswinter (EZA Berlin 2/ 2141). 263 Laut eigener Auskunft hatte sich Donath mit Achinger über dessen Reformpläne für eine Sozialreform ausgetauscht. Siehe Schreiben von Martin Donath an Hansjörg Ranke vom 23. 2.

280 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Orientierung an der Produktivität und am Wirtschaftswachstum verhinderten, dass die Lastenausgleichsabgabe und damit der Wert der Auszahlungsbeträge durch Inflation entwertet werde.264 Im Anschluss an Donaths Vortrag referierte der Geschäftsführer des OKAs der die gegenwärtige Situation mit der Klassenbildung des 19. Jahrhunderts verglich. Er forderte eine umfassende Sozialpolitik und griff dabei auf klassische marxistische Prämissen zurück, wenn er in der „Konzentration von Eigentum an Produktionsmitteln“ eine Ursache der sozialen Ungleichheit identifizierte.265 Dieser müsse mit einer Verbreiterung der Eigentumsbasis sowie der „biblischen Verbindung von Eigentum und sozialer Verantwortung“ begegnet werden.266 Der Lastenausgleich müsse daher zu einer „echten Vermögensbildung“, zum Aufbau einer selbständigen wirtschaftlichen Existenz und zu einer Beteiligung der sozial Benachteiligten am „Eigentum von Produktionsmitteln“ führen.267 Darüber hinaus nannte Spiegel-Schmidt konkrete Kritikpunkte am aktuellen Gesetzesentwurf: Während die Entschädigungsseite sozial gestaffelt sei, werde auf der Aufbringungsseite alles einheitlich mit 50 % belastet.268 Zudem kritisierte er die Trennung des Lastenausgleichs vom Staatshaushalt und die große Diskrepanz zwischen Abgabeseite und Verteilungsseite.269 Spiegel-Schmidt erkannte zwar die beiden Grundsätze soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Prosperität an, votierte jedoch dafür, die Relation stärker zugunsten der sozialen Gerechtigkeit zu verschieben.270 Als externer Berater nahm der Ökonom Alfred Müller-Armack, der als Staatssekretär unter Ludwig Erhard für die Konzeptualisierung und Implementierung der sozialen Marktwirtschaft mit verantwortlich war, an den Beratungen teil.271 Auch während der Kammersitzung stellte der Ökonom den Zusammenhang von Lastenausgleich und sozialer Marktwirtschaft her, die er als Voraussetzung für die Lösung der sozialen Problematik erachtete. Die

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1951 (EZA Berlin 2/2140); Auch Anm. 220. Mit der Rentenreform von 1957 wurde dieser Gedanke in der Rentenpolitik schließlich umgesetzt. Der Lastenausgleich wurde allerdings erst während der 1970er Jahre an die Lohnentwicklung gekoppelt. Donath, Martin: Christliche Besinnung zum Lastenausgleich. Vortrag von Martin Donath auf der Sitzung der Kammer für soziale Ordnung am 16. 5. 1951 in Königswinter (EZA Berlin 2/ 2141). Spiegel-Schmidt, Friedrich: Was soll die Kirche zum Lastenausgleich sagen? Referat vor der Sozialkammer der ev. Kirche in Deutschland am 16. 5. 1951 (EZA Berlin 2/2140). SpiegelSchmidt publizierte das Referat später in der Zeitschrift „Stimme der Gemeinde.“ Siehe Spiegel-Schmidt, Lastenausgleich, 9–11. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Niederschrift über die Sitzung der Kammer für soziale Ordnung der EKD in Königswinter am 16. 5. 1951. Anhang zur 22. Sitzung des Rates der EKD, Hannover am 24. 5. 1951. In: Pçpping (Bearb.), Protokolle, Bd. 5, 228 (auch EZA Berlin 2/1503). Neben Müller-Armack nahm Karrenberg an den Beratungen teil. Müller-Armack hatte mit Abstand den größten Redeanteil.

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gegenwärtige Wirtschaftsordnung müsse daher zuerst „zu einer sozialen Marktwirtschaft gewandelt werden.“272 Müller-Armack verwies in seinem Beitrag auf die faktischen Grenzen des Staates, verteidigte den Regierungsentwurf, der sich in „gesunden Grenzen“ bewege, und ließ Donaths Kritik am mangelnden sozialen Willen mit dem Verweis auf die „in der Geschichte unerhörte Ausweitung der sozialen Lasten“ nicht gelten.273 Er plädierte für einen Primat der Wirtschaft, lehnte eine „echte Vermögensabgabe“ als wirtschaftlich unmöglich ab, schlug stattdessen eine soziale Ausgleichskonzeption vor, ordnete das Gesetz allen Maßnahmen der Kapitalbildung unter und votierte dafür, die Wirtschaft in der Zukunft zu belasten.274 Zugleich stimmte MüllerArmack dem Referenten jedoch partiell zu und sprach sich neben der Berücksichtigung von Sachwerten auch für eine Berücksichtigung von Vermögen und Einkommen aus.275 Ebenfalls wie Donath wollte Müller-Armack die Lastenausgleichsabgabe an die Wirtschaftskraft koppeln.276 Schließlich nannten die Teilnehmer weitere Aspekte, etwa die Einbeziehung von „Hortungsgewinnen“, die Eindämmung des Schwarzmarktes, die Hebung der Steuermoral, die Erhöhung der Hausratsentschädigung, die „Ausweitung des Aufkommens für den Lastenausgleich“, eine „durchgehende Wohnraumhilfe“ und Möglichkeiten zur Förderung der Kapitalbildung.277 Ranke verteidigte die von Donath kritisierten Einheitswerte auf der Basis eines Währungsstichtages. Einheitswerte auf der Basis von Verkehrswerten seien zu kompliziert, außerdem liege der Verkehrswert unter den festgelegten Einheitswerten.278 Im Anschluss an die Sitzung erarbeitete ein Redaktionsausschuss ein „Ratsames Gutachten“, das allen Kammermitgliedern mit der Bitte um Stellungnahme zugeleitet wurde.279 Der Sozialpolitiker Johannes Kunze, der an der Kammersitzung verhindert war und nun schriftlich um sein Einverständnis gebeten wurde, war zwar vom Erfolg des Schreibens nicht überzeugt, erhoffte sich aber wenigstens eine publizistische Wirkung.280 Kunze riet in seinen Änderungsvorschlägen dazu, „die Worte Volkseinkommen einschließlich des Altwohnungsbesitzes“ zu streichen; stattdessen empfahl er eine „Neuordnung der mit den heutigen Verhältnissen in keiner Weise mehr übereinstimmenden

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Ebd., 234. Ebd., 228 f. Ebd., 230. Ebd., 231. Ebd., 233. Ebd. Ebd., 229–231. Der Redaktionsausschuss bestand aus Hansjörg Ranke, Friedrich Spiegel-Schmidt, Martin Donath und Otto Suppert. Vgl. ebd., 234. Siehe auch Schreiben von Hansjörg Ranke an Hanns Lilje und Martin Niemöller, 12. 6. 1951. Niemöller erklärte sich einverstanden: Schreiben von Martin Niemöller an Hansjörg Ranke, 18. 6. 1951 (EZA Berlin 2/2140); Schreiben von Hansjörg Ranke an Otto Dibelius, 30. 6. 1951 (EZA Berlin 2/2141). 280 Schreiben von Hansjörg Ranke an Erich Ruppel, 15. 6. 1951 (EZA Berlin 2/2140).

282 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Altbaumieten.“281 Offenbar wollte er auch auf die Forderung einer „Vermögensumschichtung“ verzichten.282 Diese beiden Vorschläge flossen nicht in das Wort der EKD ein.283 Schließlich schlug Kunze einen Passus vor, die „Lastenausgleichsempfänger gegenüber etwaigen Kaufkraftminderungen“ zu schützen und Steigerungen des „allgemeinen Lebenshaltungsniveaus“ nicht auf die Lastenausgleichsempfänger „abzuwälzen“, sondern aus den „Mitteln des allgemeinen Haushalts“, nicht aus der „Vermögensabgabe, die nur zum Wiederexistenzaufbau benutzt werden sollte“, zu nehmen.284 Diese von Kunze vorgeschlagene Fassung floss schließlich fast wörtlich in den Entwurf ein.285 Auch Alfred Müller-Armack brachte Ergänzungsvorschläge ein, die schließlich fast wörtlich übernommen wurden: Erstens gab er „im Sinne der sozialen Gerechtigkeit“ zu bedenken, dass auch einheimische Gruppen wie beispielsweise Althausbesitzer zu stark belastet seien, zweitens votierte er für die Berücksichtigung des wachsenden Volkseinkommens auf der Abgabeseite und drittens schlug er Anreize zur Schaffung von Wohneigentum vor.286 Nicht übernommen wurde jedoch Müller-Armacks Kritik an der Formulierung „Vermögensumschichtung“, die der Ökonom für unmöglich gehalten hatte.287 Nach geringfügigen redaktionellen Änderungen und der erneuten Vorlage vor einem ratseigenen Ausschuss, bestehend aus Martin Niemöller, Hanns Lilje und Kammerpräsident Reimer Mager, wurde das an Bundesregierung und Bundestag adressierte, fast wörtlich auf dem Ratsamen Gutachten der Sozialkammer basierende Schreiben am 5. Juli 1951 abgesendet.288 Das Schreiben der EKD bzw. der Sozialkammer stellte ein Gerechtigkeitsdefizit fest, rief die normativen Prämissen der Gerechtigkeit und der nationalen Solidarität in Erinnerung und unterbreitete einige Gestaltungsvorschläge und -prinzipiAbschrift. Schreiben von Johannes Kunze an Hansjörg Ranke, 3. 6. 1951 (EZA Berlin 2/2141). Ebd. Schreiben des Rates der EKD an Schäffer, 5. 7. 1951 (BArch Koblenz B 126, 5683). Abschrift. Schreiben von Johannes Kunze an Hansjörg Ranke, 3. 6. 1951 (EZA Berlin 2/2141). Schreiben des Rates der EKD an Schäffer, 5. 7. 1951 (BArch Koblenz B 126, 5683). Das Ratsame Gutachten hatte nur die Bitte enthalten, die Vertriebenen vor „Kaufkraftminderungen“ zu schützen, nicht jedoch die Empfehlung, aus der Vermögensabgabe nur den Existenzaufbau, alles andere aus dem allgemeinen Haushalt zu finanzieren (Schreiben von Johannes Kunze an Hansjörg Ranke, 3. 6. 1951, EZA Berlin 2/2141). Vgl. auch Ratsames Gutachten der Kammer für soziale Ordnung vom 16. 5. 1951. Anhang zur 22. Sitzung des Rates der EKD, abgedruckt in Pçpping (Bearb.): Protokolle, Bd. 5, 237; und Entwurf für ein Schreiben des Ratsvorsitzenden an den Bundeskanzler. In: Ebd., 235 f. 286 Abschrift. Schreiben von Alfred Müller-Armack an Hansjörg Ranke vom 17. 5. 1951 (EZA Berlin 2/2141). 287 Ebd. 288 Auszug aus der Niederschrift über die 22. Sitzung des Rates der evangelischen Kirche in Deutschland am 24. 5. 1951 (EZA Berlin 2/2140). Vgl. auch Entwurf für ein Schreiben des Ratsvorsitzenden an den Bundeskanzler. Anhang zur 22. Sitzung des Rates der EKD, Hannover am 24. 5. 1951. In: Pçpping (Bearb.), Protokolle Bd. 5, 235 f. Siehe auch Schreiben des Rates der EKD an Finanzminister Fritz Schäffer, 5. 7. 1951 (BArch Koblenz B 126, 5683). Das Schreiben ist abgedruckt in Merzyn, Kundgebungen, 120 f.

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en.289 Dabei bat das Schreiben zu prüfen, inwieweit auf wirtschaftlich praktikable Weise die Abgaben für den Lastenausgleich erweitert werden könnten. Der vorliegende Regierungsentwurf erfülle diese normativen Prämissen der Solidarität und der Gerechtigkeit nicht, da er keine „weitgreifende Vermögensumschichtung“ vorsehe.290 Auf diese normativen Prämissen folgten konkrete Vorschläge. Es votierte für eine stärkere Belastung der verschont gebliebenen Bevölkerungsteile, nahm aber auch Müller-Armacks Vorschlag auf, neben der Verteilungsseite die Abgabeseite sozial zu staffeln.291 Dabei solle geprüft werden, inwieweit „bei einigen Bereichen, zum Beispiel beim privaten Althausbesitz, eine soziale Überbelastung eintreten wird.“292 Auch Martin Donaths Vorschläge einer Berücksichtigung des gegenwärtig wachsenden Volksvermögens und des wachsenden Volkseinkommens fanden Eingang in das Wort der Kirche.293 Allerdings spielte die 1948 noch häufiger artikulierte Hoffnung auf eine umfassende Gesellschaftsreform, die neben der Vertriebenenproblematik zugleich die Soziale Frage des 19. Jahrhunderts lösen sollte und den Lastenausgleich mit weiteren Reformen verknüpfte, hier keine Rolle mehr. Zusammenfassend lassen sich drei Beobachtungen festhalten: Erstens konzentrierte sich die Stellungnahme auf die Frage, wie die Abgabeseite für den Lastenausgleich ausgeweitet werden könne. Über die Verteilungsseite und die Frage, ob eine soziale oder quotale Lastenausgleichskonzeption zu bevorzugen sei, äußerten sich Kammer und Rat nicht. Damit entsprach der Rat dem Vorschlag Rankes, sich auf die Aufbringungsseite des Lastenausgleichs zu beschränken, da „auf kirchlicher Seite […] keine originellen Gedanken zur Entschädigungsseite“ vorgebracht worden seien.294 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich ohnehin bereits ein überparteilicher Konsens herausgebildet, dass sich der Lastenausgleich sowohl aus sozialen als auch aus quotalen Komponenten zusammensetzte.295 Umstritten war dabei lediglich das Mischungsverhältnis. Zweitens wichen Charakter und Inhalt des Worts der EKD von 1951 grundsätzlich von der Stellungnahme von 1949 ab: An die Stelle einer individual289 Ähnlich Riedner, Kammer, 169. 290 Entwurf für ein Schreiben des Ratsvorsitzenden an den Bundeskanzler, o. O., o. D. Anhang zur 22. Sitzung des Rates der EKD, Hannover am 24. 5. 1951. In: Pçpping (Bearb.), Protokolle, Bd. 5, 235 f. 291 Ebd. Alfred Müller-Armack und Friedrich Spiegel-Schmidt hatten ebenfalls darauf aufmerksam gemacht. Siehe Abschrift. Schreiben von Alfred Müller-Armack an Hansjörg Ranke, 17. 5. 1951 (EZA Berlin 2/2141); und Spiegel-Schmidt, Friedrich: Was soll die Kirche zum Lastenausgleich sagen? Referat vor der Sozialkammer der ev. Kirche in Deutschland, 16. 5. 1951 (EZA Berlin 2/2140). 292 Entwurf für ein Schreiben des Ratsvorsitzenden an den Bundeskanzler, o. O., o. D. Anhang zur 22. Sitzung des Rates der EKD, Hannover am 24. 5. 1951. In: Pçpping (Bearb.), Protokolle, Bd. 5, 235 f. 293 Ebd. 294 Niederschrift über die Sitzung der Kammer für soziale Ordnung der EKD. In: Ebd., 231. 295 Siehe oben 253–260 und unten 303–315.

284 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung moralischen Argumentationsstruktur des ersten Wortes der EKD,296 traten nun religiös-soziale Argumente. Statt „Liebe“ und „Opferwilligkeit“ bildeten „Gerechtigkeit“ und „Solidarität“ den normativen Kern. Die theologischen Überlegungen zum Eigentumsbegriff, die im Zentrum der ersten Kammersitzungen standen, spielten 1951 ebenfalls keine Rolle mehr.297 Mit der Forderung einer Vermögensumschichtung, die entgegen dem Ratschlag von Kunze und Müller-Armack in der Stellungnahme der EKD beibehalten wurde, wurde zudem eine soziostrukturelle Ebene angesprochen, die vor allem auf das Problem der sozialen Benachteiligung und die gesamtgesellschaftliche Verteilungsdimension rekurrierte. Insgesamt deuten die Argumentationsmuster auf ein gesellschaftspolitisch-advokatorisches Selbstverständnis, während vergangene Stellungnahmen im Wesentlichen auf moralische Appelle beschränkt blieben. Adressiert an die politischen Entscheidungsträger in Bundestag und Bundesregierung, lässt der Brief zudem einen gesellschaftspolitischen Mitgestaltungsanspruch erkennen, während das Wort von 1949 lediglich an die Gemeinden adressiert war.298 Für den Theologen Günter Riedner liegt die Bedeutung dieser Stellungnahme darin, dass der Rat der EKD eine „weitgreifende Vermögensumschichtung unter der Maxime der Gerechtigkeit“ gefordert habe.299 Relevanter als diese von Gerstenmaier und anderen Akteuren häufig artikulierte Forderung scheint jedoch das Anliegen, gemäß der Rollenerwartung als „Normlieferantin“300 die normativen und sozialethischen Gestaltungsprinzipien in Erinnerung zu rufen und diese mit verhältnismäßig konkreten wirtschafts- und sozialpolitischen Optionen wie dem Vorschlag einer sozialen Staffelung der Abgabeseite zu verbinden. Das zweite Wort zum Lastenausgleich brachte in sehr viel stärkerem Umfang gesellschaftspolitische Argumente und Vorschläge vor und rekurrierte dabei eher auf die soziostrukturelle Dimension als die innere Haltung der Einzelnen. Dazu wurde im Vorfeld ökonomische Expertise eingeholt, wobei die meisten Änderungsvorschläge des Ökonomen Müller-Armack aufgenommen wurden. Möglicherweise lässt sich das, was das interdisziplinäre, überwiegend poli296 Dieses hatte primär an die innere Bereitschaft zum Lastenausgleich appelliert. Hierzu oben 263–268. 297 Entwurf für ein Schreiben des Ratsvorsitzenden an den Bundeskanzler, o. O., o. D. Anhang zur 22. Sitzung des Rates der EKD, Hannover am 24. 5. 1951. In: Pçpping (Bearb.), Protokolle, Bd. 5, 235 f. Vgl. auch Riedner, Kammer, 169. Nach Riedner werde die Lastenausgleichsabgabe in den „theologischen Rang eines Opfers gehoben“. Unstrittig ist, dass der Begriff Opfer dem religiösen Sprachhaushalt entstammt. Dennoch ist in diesem Zusammenhang ein originär theologisch-religiöser Bezug nicht erkennbar; eine weitere theologische Reflexion des Begriffs Opfer fand während der Kammersitzungen gar nicht statt. Der Begriff dürfte auch in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeflossen sein, so dass sein Gebrauch allein nicht zwingend eine religiöse Semantik implizierte. 298 Jedenfalls war eine Versendung an die Gliedkirchen vorgesehen. Vgl. 1. Sitzung des Rates der EKD am 17. und 18. 2. 1949. In: Fix (Bearb.): Protokolle, Bd. 3, 56. 299 Riedner, Kammer, 169. 300 So jedenfalls Kçnemann et al., Interessenvertretung, 164.

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tikwissenschaftliche Autorenkollektiv Könemann et al. für die Gegenwart formuliert, mit Einschränkungen auch auf diese Positionierung der EKD übertragen. Nach Könemann et al. beanspruchten die Kirchen einerseits, sich „mit sachlichen Argumenten in den Diskurs“ zu beteiligen, andererseits erhoben sie den Anspruch, „ethische Normen und Werte“ in den Diskurs einzubringen.301 Allerdings ist eine Übertragbarkeit dieses Befundes auch nur bedingt möglich. Einerseits ist zwar die Berücksichtigung einer ökonomischen Perspektive und der Gebrauch gesellschaftspolitisch-struktureller Argumente feststellbar, die über den moralisierenden Duktus des ersten Wortes hinausging. Andererseits verzichtete das Wort auf eine ausführliche Analyse und Argumentation, wie sie beispielsweise in den Denkschriften zum Vorschein kamen, die die EKD ab den 1960er Jahren veröffentlichte. Das neue Kommunikationsmittel der Denkschrift übertraf das Wort zum Lastenausgleich deutlich, was die Ausführlichkeit und damit auch das argumentative Potential betrifft. Allerdings ließe sich auch überlegen, ob nicht einzelne Merkmale, die dem Kommunikationsmittel „Denkschrift“ zugeschrieben werden, nicht bereits für dieses Wort beobachtet werden können.302 Drittens nahm das Schreiben der EKD der Tendenz nach einen überparteilichen, gesellschaftlich moderierenden Standpunkt ein. Rat und Kammer waren einerseits nicht bereit, ausschließlich die Interessen der Vertriebenen wahrzunehmen, andererseits konnte das Wort mit seiner Kritik am Regierungsentwurf, der der sozialen Gerechtigkeit und nationalen Solidarität nicht entspreche, als Parteinahme für die Vertriebenen gelesen werden. Bereits die Genese des Wortes, an der Spiegel-Schmidt als Repräsentant des OKAs, Ökonomen und Theologen beteiligt waren, spiegelt dieses Konsensprinzip wider. Dabei vertrat Donath am deutlichsten die Interessen der Vertriebenen, Müller-Armack hingegen die Interessen der einheimischen Wirtschaft. Angesichts der großen Heterogenität der Standpunkte und angesichts des Sachverhalts, dass der Interessenkonflikt zwischen Vertriebenen und Einheimischen mitten durch den Protestantismus hindurchging, musste die Stellungnahme auch einen innerprotestantischen Konsens finden. Damit präsentierte sich der Rat der EKD als normsetzende wie als gesamtgesellschaftliche Integrationsinstanz, die für eine benachteiligte soziale Gruppe Partei nahm, aber auch die sozialen Interessen der aufnehmenden Bevölkerung berücksichtigte und damit eine völlige Identifikation mit den Interessen der Vertriebenen verweigerte. Im Kontext dieser zweiten Positionierung wurde im Wesentlichen das Repertoire an Argumenten aufgerufen, das später

301 Ebd., 138. Auch wenn Könemanns Befund im Hinblick auf dieses Beispiels intuitiv einleuchtet, scheint eine Generalisierung jedoch problematisch. Letztlich handelt es sich hierbei nicht um einen linearen Prozess, sondern um ein Mischungsverhältnis, das immer wieder neu austariert wurde. 302 Zu den Merkmalen der Denkschrift siehe Lepp, Wort, 85; Schrçer, Art. Denkschriften, 494.

286 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung in der Eigentumsdenkschrift der EKD von 1962, der ersten EKD-Denkschrift, eine Rolle spielte.303 3.4.3 Das Wort der EKD zum Lastenausgleich in Politik und Medien Verschiedene politische Akteure reagierten auf das Wort der EKD, was allerdings noch nichts über den Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess verrät. Die „Vertriebenenkorrespondenz“, das Presseorgan des Bunds der Vertriebenen (BdV), äußerte sich zustimmend und bezeichnete die Stellungnahme als „präzise und sachlich“; sie „packe den Stier bei den Hörnern“, während die katholische Stellungnahme allgemeiner gehalten sei.304 Auch der Bundesvertriebenenminister teilte die von der EKD angesprochenen Bedenken und zeigte sich dankbar darüber, „dass die Autorität der Kirche diese Bestrebungen unterstützt.“305 Der Vertriebenenminister sah sich anlässlich der Erklärung dazu veranlasst, „mahnend an das christliche Gewissen [zu] erinnern.“306 Lukaschek ließ die EKD-Erklärung als eigene Pressemeldung veröffentlichen und begrüßte „das Eintreten des Rats der EKD […] für die Vertriebenen und das große Verständnis für die Bedeutung des Problems.“307 Zu diesem Zeitpunkt befand sich Lukaschek insgesamt in einer schwierigen politischen Situation, die ihn letzten Endes das Amt kostete.308 Einerseits sah sich Lukaschek, ohnehin mit einem schwachen Ressort ausgestattet, einem Finanzminister gegenüber, der mit dem Argument der Wirtschaftsfreundlichkeit und der finanzwirtschaftlichen Stabilität die Interessen der einheimischen Wirtschaft und der Steuerzahler vertrat und dazu Rückendeckung durch den Bundeskanzler erhielt.309 Der Vertriebenenminister hatte sich, so seine 303 Treidel, Akademien, 151–153. Vgl. Rat der EKD: Eigentumsbildung. Zur Denkschrift auch Karrenberg, Art. Eigentum. In: ESL 1963, 388–316. 304 Gleichzeitig wurde kritisiert, dass der Lastenausgleich, das „Kernthema der Vertriebenen“, auf dem Kirchentag nicht thematisiert worden sei (Brüder in der Tat. Ein Nachwort zum evangelischen Kirchentag. In: Vertriebenenkorrespondenz, 21. 7. 1951, BArch Koblenz B 126/5683 Bd. 2). Der Bundesratspräsident versicherte, dass sich die Verhandlungen im Bundesrat im Sinne der EKD bewegten. Siehe Schreiben des Bundesratspräsidenten an den Ratsvorsitzenden vom 2. 8. 1951 (BArch Koblenz B 126/5683 Bd. 2). 305 Schreiben von Hans Lukaschek an Otto Dibelius, 16. 7. 1951 (EZA Berlin 4/1236); Auch Schreiben von Hansjörg Ranke an Otto Dibelius, 30. 7. 1951 (EZA Berlin 2/2141). 306 Lukaschek sah im Schreiben einen Appell an das „christliche Gewissen“, obwohl es nicht in christlichen Kategorien argumentiert hatte. Vgl. Schreiben des Rates der EKD an Fritz Schäffer, 5. 7. 1951 (BArch Koblenz B 126/5683). 307 Presseerklärung des Bundesvertriebenenministeriums anlässlich des Worts des Rates der EKD, Nr. 594/51 o. D. (BArch Koblenz B 126/5683). 308 1953 trat der Minister zurück, nachdem er von den Vertriebenenverbänden für sein „geringes Durchsetzungsvermögen in der Lastenausgleichsfrage“ scharf kritisiert worden war (Beer, symbolische Politik, 310 f.). Zur politischen Interessenkonstellation und zum politischen Aushandlungsprozess vgl. unten 303–315. 309 Friedrich, Kunze, 77 und 81. Adenauer vertrat einen Primat der Wirtschaft. Das geht hervor

Die Konkretisierung der Lastenausgleichsdiskussion in den 1950er Jahren 287

Selbstwahrnehmung, in der Regierungskoalition gegenüber solchen Stimmen zu behaupten, die die „maßvollen Forderungen“ der Vertriebenen für „volkswirtschaftlich unmöglich“ und überhaupt den „ganzen Lastenausgleich“ für eine „Unmöglichkeit“ hielten.310 Der Entwurf habe zu einer beträchtlichen Erregung unter den Vertriebenen geführt, da es sich hierbei um eine neue Soforthilfe, nicht jedoch um einen echten Lastenausgleich handelte.311 Andererseits übten die Vertriebenenorganisationen und ihre Presseorgane, die den Minister als „schlapp“ bezeichneten und der „Lauheit“ bezichtigten, Druck auf ihn aus.312 Insbesondere Parteifreund Linus Kather, Gründungsvorsitzender des ZvD, konfrontierte den Minister mit weitergehenden Forderungen und machte sich die Stimmung gegen Lukaschek zunutze, um dessen Sturz zu forcieren.313 Insofern leistete die Stellungnahme der EKD aus der Perspektive des Vertriebenenministers indirekt Schützenhilfe, indem sie eine vermittelnde Position einnahm. Auf der Suche nach Kooperationspartnern würdigte der Minister Johannes Kunze dafür, dass der dieselben Bedenken wie die Kirche und das Ministerium hege und „von sich aus bemüht ist, den drängenden Forderungen gerecht zu werden.“314 Der Bundeskanzler hielt eine eigene Reaktion auf das Wort der EKD offenbar nicht für notwendig und leitete das Schreiben an den Finanzminister weiter mit der „Bitte um Kenntnisnahme und weitere Veranlassung.“315 Staatssekretär Hartmann aus dem Finanzministerium versicherte in seinem Antwortschreiben zu prüfen, „in welcher Weise eine Überbelastung einzelner weniger leistungsfähiger Gruppen von Abgabepflichtigen vermieden und

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aus: Adenauer, Erklärung der Bundesregierung. 5. Sitzung des Deutschen Bundestages, 20. 9. 1949, In: Verhandlungen, 1. WP, 22–30, hier 22. Schreiben von Hans Lukaschek an das Zentralkomitee des deutschen Katholikentages, 25. 8. 1950 (BArch Koblenz B 150/4820). In diesem Schreiben äußerte sich der Minister auch kritisch gegenüber den Experten: „Geld und Besitz hatten bisher immer noch die Sachverständigen mit den gewichtigsten Titeln und Namen.“ Bericht über die Vorgänge um den Entwurf eines Lastenausgleichsgesetzes, 30. 6. 1950 (BArch Koblenz B 150/3293). Lukaschek fühlte sich übergangen und beklagte sich zudem über Indiskretionen. Siehe Vermerk vom Wilpert, 5. 7. 1950 (BArch Koblenz B 150/3293); Schreiben von Hans Lukaschek an Konrad Adenauer, 30. 6. 1950 (BArch Koblenz B 126/51552). Aus der Perspektive des Finanzministers habe es Lukaschek an Kooperationsbereitschaft mangeln lassen. Lukaschek gebe auf Pressekonferenzen „grundsätzlich abweichende Vorschläge“ bekannt, die über die Unkeler Vorschläge hinaus gingen und die „ich volkswirtschaftlich für unmöglich halte“ (Schreiben von Fritz Schäffer an Konrad Adenauer, 20. 9. 1950; Schreiben von Fritz Schäffer an Konrad Adenauer, 29. 6. 1950, BArch Koblenz B 126/51552). Aktenvermerk von Wilpert für Lukaschek, 23. 2. 1951 (BArch Koblenz B 150/3293). Ebd. Kather hegte selbst Ambitionen auf das Vertriebenenressort. Hierzu Wenzel, Verschiebung, 136. Schreiben von Hans Lukaschek an Otto Dibelius, 16. 7. 1951 (EZA Berlin 2/2141). Schreiben des Staatssekretärs im Bundeskanzleramt an den Finanzminister, 11. 7. 1951 (BArch Koblenz B 126/5683 Bd. 2).

288 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung gleichwohl ein hohes Aufkommen gesichert werden kann.“316 Hartmann bekräftigte, dass der derzeitige Entwurf das wachsende Volkseinkommen in Form einer Vermögenssteuer berücksichtige.317 Die Verantwortung für mögliche Kürzungen oder konzeptionelle Änderungen verwies er jedoch an den Bundestag und Bundesrat. Der Staatssekretär teilte zwar die Auffassung des Ratsvorsitzenden, dass das Aufkommen aus dem Lastenausgleich möglichst dem Existenzaufbau zugeführt werden solle, kritisierte jedoch angesichts der „bekannten schwierigen und angespannten Lage der öffentlichen Haushalte“ den Vorschlag, „Ihrer Anregung entsprechend Teuerungszulagen der Unterhaltsempfänger auf den allgemeinen Haushalt“ zu übernehmen.318 Er kritisierte also einzelne Punkte des Schreibens als undurchführbar, erklärte darüber hinaus die grundsätzliche Übereinstimmung mit dem Rat der EKD und bekräftigte, dass die vom Rat kritisierten oder vorgeschlagenen Aspekte bereits im Entwurf vorhanden seien. Letztlich widerlegte er die Argumente der EKD nicht und verfasste auch keine Gegenposition, sondern wies lediglich darauf hin, dass die genannten Kritikpunkte und Vorschläge bereits enthalten seien. Überraschend ist allerdings, dass das Schreiben in den Auseinandersetzungen des Bundestagsausschusses für den Lastenausgleich unter dem Vorsitz von Johannes Kunze keine Rolle spielte.319 Dabei hatte Kunze den Geschäfts316 Schreiben von Staatssekretär Alfred Hartmann an Otto Dibelius, 10. 8. 1951 (EZA Berlin 2/ 2141). Das Schreiben ist von Staatssekretär Hartmann unterschrieben, nicht von Finanzminister Schäffer. Der Inhalt war mit dem Finanzminister abgesprochen. Siehe Schreiben von Finanzminister Fritz Schäffer an den Rat der EKD (Entwurf) vom 10. 8. 1951 (BArch Koblenz B 126/5683 Bd. 2). 317 Ebd. 318 Ebd. 319 Die Überlieferung des Bundestagsausschusses für den Lastenausgleich ist nach Gattungen sortiert und enthält a) Kurzprotokolle der Ausschusssitzungen, b) Materialien, die die Genese des Gesetzes dokumentieren, und c) ergänzende Materialien und Zuschriften, die beim Ausschuss eingegangen waren, aber nicht unmittelbar in die Genese des Gesetzes einflossen. In den Ausschusssitzungen des Jahres 1951 lässt sich keine Bezugnahme auf die Stellungnahme der EKD erkennen. Siehe Kurzprotokoll der 57. Sitzung des Ausschusses für den Lastenausgleich gemeinsam mit der 37. Sitzung des Ausschusses für Heimatvertriebene, 4. 7. 1951 (BT PA Berlin [ohne Signatur]); und Kurzprotokoll der 58. Sitzung des Ausschusses für den Lastenausgleich am 11. 9. 1951 (BT PA Berlin [ohne Signatur]). Gegenstand der Beratung waren die §§ 12, 13, 14. In den Akten der Kirchenkanzlei war, abgesehen von einer kurzen Eingangsbestätigung, kein Antwortschreiben enthalten. Das Wort der EKD ist auch im systematisch durchgesehenen Begleitband, in welchem sich die Stellungnahmen diverser Interessenorganisationen befinden, nicht enthalten, während andere kirchliche Stellungnahmen durchaus zu finden sind (BT PA Berlin I 332 B 1–B 9). Vgl. auch Schreiben der evangelischen Akademie Hamburg an Johannes Kunze, 20. 4. 1950 (BT PA Berlin I 332 B 7); Aufruf der Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung der Heimatvertriebenen auf dem Lande, 8. 4. 1949; Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung der Heimatvertriebenen auf dem Lande, Entschließung, 21. 6. 1951; und Aufruf der Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung der Heimatvertriebenen auf dem Lande (BT PA Berlin I 422 B 2). Ausführlich dokumentiert sind kirchliche Stellungnahmen, die die Befreiung kirchlicher Besitzstände zum Gegenstand hatten. Siehe

Die Konkretisierung der Lastenausgleichsdiskussion in den 1950er Jahren 289

führer der Sozialkammer, Hansjörg Ranke, darum gebeten, ihm selbst die Stellungnahme in seiner Funktion als Ausschussvorsitzender zukommen zu lassen, um es „zum Gegenstand der Beratung“ machen zu können.320 Dass Kunze das Schreiben erhielt, lässt sich anhand der Akten nachweisen. Er hatte den Vorentwurf kommentiert und redigiert und auch den Eingang des Schreibens bestätigt, nachdem er es in seiner Funktion als Ausschussvorsitzender auch offiziell erhalten hatte.321 In seinem Antwortschreiben an den Ratsvorsitzenden der EKD bat Kunze darum, überzeugt zu sein, dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages darum bemüht sind, das Gesetz über den Lastenausgleich so schnell wie möglich zu verabschieden. Der Unterzeichnete wird mit seinem Mitarbeiterstab auch dieses Jahr während der Parlamentsferien in pausenloser Arbeit versuchen, das Gesetz für die zweite Lesung fertigzustellen.322

Über die Gründe dafür, dass das Schreiben der EKD im Parlamentsausschuss keine Wirkung entfaltete, lässt sich letztlich nur spekulieren. Möglicherweise ist dies auf die unterschiedlichen Funktionslogiken von Kirche und Politik zurückzuführen. Der Vergleich der Argumentationsmuster und Semantiken lässt eine große Diskrepanz zwischen dem Wort der Kirche und den Ausschussberatungen erkennen. Die EKD berücksichtigte ökonomische Expertise und argumentierte, im Vergleich zum ersten, rein moralisch argumentierenden Wort von 1949, in ökonomischen und gesellschaftspolitischen Begründungszusammenhängen und formulierte relativ konkrete Vorschläge wie die soziale Staffelung der Abgabeseite oder die Forderung einer Erweiterung des Aufkommens. Jedoch korrespondierten diese Argumente und Vorschläge nicht mit den Auseinandersetzungen im Ausschuss, der sich mit äußerst spezifischen Details, einzelnen Formulierungen, Paragraphen und diversen Ausnahmeregelungen befasste und über einzelne Prozentwerte diskutiere. Hier zeigt sich das Vermittlungs- und Übersetzungsproblem zwischen religiösen Stellungnahmen, die eher allgemeine, sozialethisch motivierte Gestaltungsprinzipien einbrachten, und der auf Verhandlung ausgerichteten Maschinerie des Gesetzgebungsprozesses. Hermann Kunst, der Bevollmächtigte der EKD bei der Bundesregierung, brachte es schließlich auf den Punkt:

hierzu auch unten 292–321. Auch dies erhärtet den Verdacht, dass das Schreiben der EKD im Kommunikationsprozess verschwunden ist. 320 Schreiben von Hansjörg Ranke an Erich Ruppel, 15. 6. 1951 (EZA Berlin 2/2140). Kunze war auf der Sitzung der Kammer für soziale Ordnung verhindert, wurde jedoch informiert. Siehe Schreiben von Johannes Kunze an Ranke, 3. 6. 1951 (EZA Berlin 2/2141). 321 Zu seinen Änderungsvorschlägen siehe Abschrift. Schreiben von Johannes Kunze an Hansjörg Ranke, 3. 6. 1951. Seine offizielle Antwort: Schreiben von Johannes Kunze an den Rat der EKD, 7. 7. 1951 (EZA Berlin 2/2141). 322 Schreiben von Johannes Kunze an den Rat der EKD, 7. 7. 1951 (EZA Berlin 2/2141).

290 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Die Anregungen der Kirche auf sozialpolitischem Gebiet müssen sich im allgemeinen und grundsätzlichen Rahmen halten, d. h., bei aller notwendigen Konkretheit die Regelung der technischen Einzelheiten dem Gesetzgeber überlassen. Dies kann sie freilich nicht daran hindern, sich für besonders notleidende Bevölkerungsschichten im Einzelfalle einzusetzen.323

Dem ist hinzuzufügen, dass einige der vom Wort der EKD erhobenen Forderungen zumindest in Ansätzen bereits diskutiert wurden. Johannes Kunze erwähnte die kleinen Hausbesitzer und berichtete während der ersten Lesung des Gesetzesentwurfes am 31. Januar 1951, dass zwar nicht die Abgabe als solche, jedoch die Verzinsung der Abgabe sowie die Freigrenzen sozial gestaffelt würden mit dem Grundsatz: Selbst erarbeitetes kleineres Vermögen soll jetzt nicht durch den Lastenausgleich wiederum vernichtet oder in seiner Erhaltungsmöglichkeit ernsthaft gefährdet werden. Das bedingt selbstverständlich […] auch, daß wir auf der andern Seite bei den kleineren Vermögen der Geschädigten den gleichen Grundsatz anwenden.324

Dem Schreiben der EKD kam hierbei keine direkte Wirkung zu, aber es verstärkte bereits diskutierte Argumente oder rief diese in Erinnerung, die ohnehin im politischen Prozess vertreten waren.325 Letztlich ging es demnach nicht um die Frage, ob eine soziale Staffelung der Abgabeseite vorgenommen werde, sondern lediglich darum, welchen Umfang diese einnehmen sollte. Die geringe Resonanz entspricht auch einer spezifischen Rollenerwartung, die an die Kirchen herangetragen wurde: Dass die Kirche sozialethische Postulate und normative Gesichtspunkte in die Debatte einbrachte, war nicht überraschend und entsprach einer der Kirche zugeschriebenen Rollenerwartung als „Normlieferantin“ in einer Zeit, in der „von einer relativen Selbstverständlichkeit christlicher Überzeugungen in den Mustern normativer Ordnungen in Öffentlichkeit und Politik auszugehen“ war.326 Allgemeine normative Leitvorstellungen verfügten als solche nicht unbedingt über ein kontroverses oder handlungsrelevantes Potential und ließen sich kaum mit den Debatten des Ausschusses in Übereinstimmung bringen. Eine weitere mögliche Erklärung ist sehr viel banalerer Natur: Das Schreiben der EKD wurde am 5. Juli 1951 verschickt. Der Ausschuss für den Lastenausgleich traf sich am 4. Juli 323 Schreiben von Hermann Kunst an Rechtsanwalt Hans Wittmack, 4. 10. 1952 (EZA Berlin 87/ 48). 324 Johannes Kunze während der ersten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über einen Allgemeinen Lastenausgleich. 115. Sitzung des Deutschen Bundestages am 31. 1. 1951. In: Verhandlungen, 1. WP, 4345. Später bestätigte der Berichterstatter die Aufnahme einer sozialen Staffelung. Siehe Berichterstatter Atzenroth. 207. Sitzung des Deutschen Bundestages am 6. 5. 1952. In: Verhandlungen, 1. WP, 8990. 325 Nach Schwartz waren die „einheimischen Besitzeliten“ besser organisiert. Siehe Schwartz, Lastenausgleich, 176. 326 Kçnemann et al., Interessenvertretung, 78. Solche Globalaussagen bleiben den empirischen Beweis meist schuldig.

Die Konkretisierung der Lastenausgleichsdiskussion in den 1950er Jahren 291

1951 letztmalig vor den Parlamentsferien. Möglicherweise ist es in der langen Tagungspause schlicht untergegangen.327 Im Ergebnis ist festzuhalten: Auf den konkreten Gesetzgebungsprozess hatte das Wort der EKD vermutlich keinen identifizierbaren Einfluss, wobei die Identifikation eines solchen auch einige methodische Probleme mit sich brächte. Dass die von der EKD erhobene Forderung einer Ausweitung der Lastenausgleichsabgabe tatsächlich durchgesetzt wurde, war wiederum auf Linus Kather zurückzuführen, der kurz vor der Verabschiedung des Gesetzes eine über Anleihen finanzierte Aufstockung um 850 Millionen DM gefordert und durchgesetzt hatte.328 Die Bedeutung des Wortes lag eher auf symbolischem Gebiet und ist demnach empirisch nicht greif- oder messbar. Die sozialethischen Prämissen wie soziale Gerechtigkeit waren mit den konkreten, detailreichen Beratungen nicht kompatibel und mit einzelnen Formulierungen und Prozentwerten nicht identifizierbar; der Aushandlungsprozess über diese Detailfragen blieb den beteiligten Konfliktparteien überlassen. Sowohl Hans Lukaschek als auch die Vertriebenenorganisationen sahen im Wort der EKD jedoch eine Unterstützung ihrer Position. In der überregionalen Presse wurde das Wort der EKD in Form kleinerer Nachrichten immerhin kurz erwähnt. Allerdings beschränkte sich die Mehrheit der Artikel auf eine kurze Wiedergabe, ohne die Stellungnahme näher zu kommentierten. Erwähnt wurde dabei die Forderung, das Ausgleichsaufkommen zu erweitern, das wachsende Volkseinkommen mit heranzuziehen und sowohl auf der Verteilungs- als auch auf der Aufbringungsseite eine soziale Staffelung einzuführen.329

327 Dagegen spricht zwar der Sachverhalt, dass Kunze das Schreiben nachweislich erhielt und auch beantwortete, andererseits ist erklärungsbedürftig, dass das Schreiben nicht einmal in den Begleitbänden des Ausschusses enthalten ist, in denen sich die Stellungnahmen befinden. (BT PA Berlin I 332 B 1–B 9). Vgl. außerdem Anm. 320. 328 Das geht hervor aus: Lastenausgleich: Ein gutes Herz. In: Der Spiegel, 21. 5. 1952, 7. 329 Zwei Kurznachrichten erschienen in der SZ und der FAZ. Beide Nachrichten waren fast wortgleich: Dibelius fordert Vermögensumschichtung. In: SZ, 16. 7. 1951, 2; und Vermögensumschichtung. Die Evangelische Kirche zum Lastenausgleich. In: FAZ, 14. 7. 1951, 3. Eine weitere in der „FAZ“ erschienene Nachricht bezog sich auf eine Ansprache, die Dibelius auf dem Tag der Inneren Mission gehalten hatte. Hier argumentierte Dibelius in christlich-moralischen Kategorien und appellierte an die freudige. Siehe Dibelius: Echter Lastenausgleich. In: FAZ, 4. 9. 1951, 3.

292 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung

3.5 Zwischen Sozialpolitik und Interessenpolitik: Die protestantische Mitgestaltung an der Vertriebenenpolitik, Kommunikationskanäle und Wirkungspotentiale330 3.5.1 Formalisierte Beziehungen: Der Beirat im Bundesvertriebenenministerium Bevor die protestantische Mitwirkung am Lastenausgleich analysiert und einzelne vertriebenenspezifische Initiativen rekonstruiert werden, stellt sich die Frage, welche Kommunikationskanäle zwischen Kirche und Politik existierten, die als Bedingung einer politischen Kommunikation und Interessenvertretung in den Blick geraten. Grundsätzlich lässt sich zwischen formalisierten bzw. institutionalisierten und weniger formalisierten personenzentrierten Netzwerken unterscheiden, wobei in der Praxis hybride Mischformen entstanden.331 Im Bereich des expandierenden Sozialstaates weisen die formalisierten Netzwerke eine lange Tradition auf.332 Nach 1945 erhielten beide Großkirchen und ihre Verbände einen privilegierten Platz in der sozialstaatlichen Expansion der frühen Bundesrepublik, was eine „hohe Wirksamkeit der Kirchen in gesellschaftlichen, sozialen und karitativen Teilbereichen“ zur Folge hatte.333 Ausdruck dieser formalisierten Beziehungen ist die unhinterfragte, völlig selbstverständliche Mitgliedschaft von Kirchenvertretern in den Beiräten der Ministerien. Diese Vertretungsstrukturen resultierten aus der privilegierten rechtlichen Stellung der Kirchen.334 In dieses Bild fügt sich der Sachverhalt ein, dass Vertreter der evangelischen Kirche, der katholischen Kirche, der Caritas und des evangelischen Hilfswerks in den

330 Die folgenden Ausführungen beziehen sich überwiegend auf das Lastenausgleichsgesetz. Daneben werden aber auch vertriebenenpolitische Initiativen genannt, die nicht im direkten Zusammenhang mit dem Lastenausgleich standen. Zur Unterscheidung von gesellschaftspolitischen Vorstellungen und kirchliche Interessenpolitik siehe Könemann et al., die zwischen materiellen Partikularinteressen der Kirchen und dem Anspruch, Allgemeinwohlinteressen zu vertreten, unterscheidet. Siehe Kçnemann et al., Interessenvertretung, 61 f. und 112; auch Willems, Kirchen, 321. 331 Ein Beispiel für eine solche hybride Mischform könnte das von Hermann Kunst ausgeübte Amt des Bevollmächtigten der EKD bei der Bundesregierung sein. Dieses Amt stellte einerseits eine institutionalisierte Beziehung zwischen Politik und Kirche dar, gleichzeitig vermochte Kunst als „Diplomat im Lutherrock“ persönliche und freundschaftliche Netzwerke in die Politik zu knüpfen (zit. nach Fuchs, Einflusswege, 132). Kunst prägte das Amt in hohem Maße durch seine persönliche Amtsführung, beispielsweise durch sein diplomatisches Geschick und informelle Treffen „bei einem Glas Wein.“ Zu Kunst insgesamt Buchna, Jahrzehnt. Wie bereits erwähnt, spielte Kunst in der Lastenausgleichsfrage keine Rolle. Vgl. v. a. Anm. 241. 332 Kçnemann et al., Interessenvertretung, 112. 333 Ebd., 206. Vgl. auch Nolte, Religion. 334 Willems, Kirchen, 320; Buchna, Jahrzehnt, 228.

Zwischen Sozialpolitik und Interessenpolitik

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Beirat des Bundesvertriebenenministeriums berufen wurden.335 Daneben fanden gelegentlich offizielle Arbeitstreffen zwischen dem Bundesvertriebenenministerium und der Spitze der EKD statt.336 Jedoch lassen potentiell einflussreiche und privilegierte Positionen keine Schlussfolgerungen über den faktischen Einfluss zu.337 Daher stellt sich die Frage, wie und unter welchen Umständen die Berufung in den Beirat zustande kam und ob und wie Kirchenvertreter im Beirat beim Bundesvertriebenenministerium interagierten. Anhand der Interaktionen zeigen sich zumindest die Einflusspotentiale und Kommunikationskanäle. Das Bundesvertriebenenministerium berief im Vorfeld des anstehenden Bundesvertriebenengesetzes 1951 einen Sachverständigenausschuss ein.338 Vertreten waren in diesem Gremium die Wohlfahrtsverbände, die Körperschaften öffentlichen Rechts, die Landesflüchtlingsbeiräte, der ZvD und mit Elisabeth Pfeil und Eugen Lemberg zwei einzelne Flüchtlingssoziologen.339 Der Sachverständigenausschuss schlug die Einrichtung dauerhafter Beiräte vor, die als Bindeglied zwischen Vertriebenenorganisationen und Ministerium fungieren und vor Verwaltungsmaßnahmen „gutachterlich“ gehört werden sollten.340 In der Abstimmung über die zu berufenden Mitglieder fand jedoch der Antrag, den Kirchen einen Sitz einzuräumen, keine Mehrheit.341 Dieses „Herausdrängen der Kirche“ aus dem Beirat war, wie das Hilfswerk vermutete, auf den ZvD zurückzuführen, der ein Vertretungsmonopol beanspruchte und die Einrichtung von Beiräten sogar ganz ablehnte.342 Trotz dieser Widerstände und der Stimmenmehrheit wurden schließlich Paul Collmer und Friedrich Spiegel-Schmidt als Kirchenvertreter in den Beirat berufen.343 Insgesamt ist 335 Auf regionaler und lokaler Ebene, beispielsweise in den Länder- oder Kreisbeiräten, lassen sich vermutlich entsprechende Vertretungsstrukturen zeigen, die für die Bewältigung lokaler Integrationsaufgaben von Relevanz waren. 336 Z. B. Niederschrift über das Gespräch „Die Verantwortung der evangelischen Kirche für die Vertriebenen“ am 18./19. 3. 1957 in der evangelischen Akademie in Loccum (EZA Berlin 87/ 130); und Gutachten aufgrund des Gesprächs über die Verantwortung der Kirche für Vertriebene, Loccum am 18. und 19. 3. 1957 (EZA Berlin 87/130). 337 Kçnemann et al., Interessenvertretung, 60. 338 Die Verhandlungen des Sachverständigenausschusses des Bundesvertriebenengesetzes für Fragen des Bundesvertriebenengesetzes, Bonn 1951 (BArch Koblenz B 150/000777). 339 Ebd. 340 Ebd. 341 Ebd. 342 Abschrift. Schreiben des Hilfswerks der evangelischen Kirche vom 18. 10. 1951 (BArch Koblenz B 150/000778, BT PA Berlin I 442 B 2). Das Verhältnis zwischen Kirchen und Vertriebenenorganisationen war ohnehin nicht frei von Spannungen. Hierzu im Kontext der Debatten über ein Recht auf Heimat siehe unten 371–376. 343 Abschrift. Schreiben des Hilfswerks der evangelischen Kirche vom 18. 10. 1951 (BArch Koblenz B 150/000778). Vgl. auch Schreiben des Vertriebenenministeriums an die Kirchenkanzlei, 28. 7. 1953 (EZA Berlin 87/131); und Schreiben von Otto Dibelius an Hans Lukaschek, 4. 8. 1953. OKR Ranke hatte der Kirchenkanzlei vorgeschlagen, dass ein Mitglied des OKAs diese Aufgabe wahrnehme. Siehe Schreiben von Hermann Kunst an Kirchenpräsident Heinz

294 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung ein geringes Engagement der Kirchenvertreter zu verzeichnen: Während der Beiratsberatungen ist zwischen 1954 und 1969 kaum eine Wortmeldung der Vertreter von Kirche und Hilfswerk festzustellen und damit nicht einmal der Versuch erkennbar, den Beirat für die Durchsetzung der eigenen Interessen und Vorstellungen zu nutzen.344 Damit korrespondierend erachteten die im Beirat anwesenden Kirchenvertreter den Beirat für wirkungslos. Zumindest eine Initiative von Pastor Schmidt aus Hamburg, der als Vertreter des dortigen Landesflüchtlingsbeirats in den Bundesvertriebenenbeirat entsandt worden war, deutet auf einen solchen Zusammenhang hin. Schmidt regte eine Debatte über das Selbstverständnis und die Kompetenzen des Beirats an.345 Demnach solle der Beirat nicht nur eine „beratende“ Funktion wahrnehmen, sondern auch eine „entscheidende Rolle“ spielen.346 Dieser Anregung war eine scharfe Kritik vorausgegangen, die auch ihren Weg in die Presse fand. So wurde Minister Oberländer vorgeworfen, den Beirat zu übergehen und eine „Ministerialdiktatur“ zu etablieren.347 Der Minister wies dagegen auf die beratende Funktion des Beirats hin, kritisierte den Beirat für seine Initiativlosigkeit und stellte die Auffassung Pastor Schmidts als nicht repräsentative Einzelmeinung dar.348 Allerdings ist auch darauf hinzuweisen, dass es sich bei Schmidts Aussage zunächst um eine Wahrnehmung eines beteiligten Akteurs handelte, die nicht mit einer Tatsachenbeschreibung verwechselt werden darf. Gegen Schmidts Auffassung spricht der Sachverhalt, dass die Vertriebenenorganisationen eine rege Aktivität an den Tag legten und dem Minister mehrfach mit einem Entzug des Rückhalts drohten, sollte er die Empfehlungen des Beirats nicht in Politik umsetzen.349 Am Beispiel des Landesvertriebenenbeirats in

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Brunotte, 17. 6. 1953 (EZA Berlin 87/130). Wie genau diese Entscheidung zustande kam, war den Akten nicht zu entnehmen. Einige wenige Begebenheiten lassen sich nachweisen, so beispielsweise eine kleinere Kontroverse über das Recht auf Heimat zwischen Spiegel-Schmidt und Staatssekretär Nahm. Siehe hierzu unten 371–376 und Anm. 209. Niederschrift über die Sitzung des Beirates für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen, 18. 3. 1958 (BArch Koblenz B 150/4352, Bd. 1). Ebd. Sprechzettel des Ministers für die Sitzung des Beirats am 26. 11. 1957; auch Schreiben von Schmidt an Minister Theodor Oberländer, 25. 4. 1957 (BArch Koblenz B 150/004345). Sprechzettel des Ministers für die Sitzung des Beirats am 26. 11. 1957 (BArch Koblenz B 150/ 004345). Als im Novellierungsprozess des Lastenausgleichs kein befriedigender Fortgang erzielt wurde, drohten die Vertreter der Vertriebenenorganisationen mit dem Entzug des Vertrauens. Vgl. Niederschrift der Sitzung des Arbeitsausschusses im Beirat für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen beim Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegssachgeschädigte, 17. 12. 1958 (EZA Berlin 2/4250). Der erste Vertriebenenminister Lukaschek hatte nicht zuletzt infolge des Drucks der Vertriebenenorganisationen sein Amt verloren, nachdem sich diese mit dem Ergebnis des Lastenausgleichs unzufrieden zeigten und Lukaschek dafür verantwortlich machten. Möglicherweise waren die im Durchschnitt erstaunlich kurzen Amtszeiten der Vertriebenenminister auf den Einfluss der Vertriebenenorganisationen zurückzuführen. Vgl. Beer, symbolische Politik, 321.

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Nordrhein-Westfalen ist das Problem der Dominanz der Vertriebenenorganisationen ebenfalls zu beobachten.350 Demnach war der Beirat nicht per se wirkungslos, wie Schmidt suggerierte. Vielmehr wurde er von den Vertretern der Vertriebenenorganisationen dominiert, die den Beirat für ihre eigenen Interessen nutzten. Die Dominanz der Vertriebenenverbände zog wiederum geringere Wirkungsmöglichkeiten anderer Repräsentanten nach sich. Möglicherweise erklärt sich dieser Befund auch vor dem Hintergrund des unterschiedlichen Druckpotentials, über das die Vertriebenenorganisationen einerseits und die Kirchen andererseits verfügten. Im Gegensatz zu den Kirchen konnte der ZvD auch unmittelbaren politischen Druck aufbauen, indem er mit dem Entzug des Wählerpotentials seiner Mitglieder drohte.351 Eine solche politische Einflussressource blieb den Kirchen verwehrt, die nur geringen Einfluss auf ihre politisch heterogenen Mitglieder ausüben konnten und nur über eine begrenzte politische Mobilisierungskraft verfügten.352 Umgekehrt ist auch darauf hinzuweisen, dass die Kirchenvertreter gar nicht auf das Instrument des Beirats angewiesen waren, weil sie, wie noch zu zeigen ist, über andere Kommunikationskanäle verfügten.353 Im Gegensatz zu Könemanns et al. These zeigt dieses Beispiel auch, dass die kirchliche Repräsentanz im Kampf um Einfluss und Deutungshoheit keineswegs von allen beteiligten zivilgesellschaftlichen Akteuren vorbehaltlos geteilt wurde – jedenfalls, wenn eine kirchliche Repräsentanz die Verbandsinteressen zu bedrohen schien.354 Durchsetzungsfähig war diese Position des ZvD allerdings nicht.

350 Ludwig Landsberg kritisierte, dass sich „einzelne Beiratsmitglieder als Exponenten von Organisationen vorstellen und sich nicht als Vertreter der Vertriebenen herausstellen“ (Vermerk vom 1. 7. 1957, gez. Franz Hamm, BArch Koblenz B 150/004345, Bd. 1/2). 351 Kossert, Heimat, 153. 352 Könemann et al. grenzen Religionen und klassische Verbände voneinander ab. Vgl. Kçnemann et al., Interessenvertretung, 111. Der katholischen Kirche werden etwas größere Einflussmöglichkeiten auf die Wahlentscheidung der Mitglieder zugesprochen. Buchna, Jahrzehnt, 528. Die Aussage über die Mobilisierungskraft bezieht sich auf die politische Interessendurchsetzung. Der DEK weist z. B. eine sehr hohe Mobilisierungskraft auf. 353 Dieser Aspekt ist Gegenstand des folgenden Abschnitts. Vgl. unten 295–303. 354 Kçnemann et al., Interessenvertretung, 60. Zur Akzeptanz durch andere Lobbygruppen siehe ebd., 169. Buchna weist auf große Vorbehalte gegenüber einer möglichen „Klerikalisierung“ der Politik hin, die keineswegs nur bei SPD und FDP, den traditionell kirchenkritischen Parteien, zu finden seien. Hierzu Buchna, Jahrzehnt, 212. Selbst Adenauer klagte über „klerikalen Hochmut“ und zeigte sich „empört“ über kirchliche Einmischungsversuche (ebd., 18). Möglicherweise wurde die kirchliche Mitwirkung auf anderen Feldern wie beispielsweise in der Bildungs- oder Familienpolitik, die zu den klassischen Betätigungsfeldern kirchlicher Einflussnahme zählen, eher und mit größerer Selbstverständlichkeit akzeptiert. Eine politikfeldbezogene vergleichende und systematisierende Studie zur religiösen Interessenvertretung wäre wünschenswert. Dies andeutend: Grossbçlting, Himmel, 34–37.

296 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung 3.5.2 Nicht-formalisierte personenzentrierte Netzwerke zwischen Staat und Kirche und das Engagement von Johannes Kunze Von der Diakonie zur Politik: Biografische Aspekte Neben den institutionalisierten und formalisierten Beziehungen sind die weniger formalisierten personenzentrierten Netzwerke und das individuelle Engagement einzelner Akteure zu analysieren, die ebenfalls Aufschluss über Wirkungspotentiale geben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die kirchliche Interessenvertretung auch „hinter geschlossenen Türen“ stattfand und sich informeller Kanäle bediente.355 In der Lastenausgleichsfrage gerät dabei der Sozialpolitiker Johannes Kunze in den Blick.356 Der 1892 in Wuppertal geborene Diplomkaufmann und Volkswirt nahm im Jahr 1924 seinen Dienst in der Verwaltung der Westfälischen Diakonissenanstalt Sarepta auf.357 Dabei hatte er gezielt nach einer Tätigkeit im diakonischen Bereich Ausschau gehalten und in diesem Zusammenhang wiederholt auf seine persönliche Frömmigkeit aufmerksam gemacht.358 Innerhalb der Inneren Mission wurde Kunzes wirtschaftlicher Sachverstand trotz gelegentlicher Konflikte geschätzt und auch außerhalb der Diakonissenanstalt nachgefragt.359 Nach 1945 war Kunze an der Neukonstitution des Centralausschusses der Inneren Mission und am Wiederaufbau der Anstalten beteiligt, wechselte jedoch bald in die Politik. Er trieb die Gründung der westfälischen CDU voran, wurde 1946/47 Mitglied des Landtages Nordrhein-Westfalen und wechselte in die Bundespolitik, wo er Mitglied des Fraktionsvorstandes wurde.360 Sein politisches Engagement verstand Kunze, wie der Theologe Norbert Friedrich feststellt, als Ausdruck seines christlichen Glaubens; der konfessionelle Aspekt sei ihm „stets wichtig“ gewesen.361 Seine Politik wollte er „unbedingt“ als an „Gott angebunden“ verstanden wissen, zudem forderte er eine „Verchristlichung der Politik“ und eine „fruchtbare Beziehung“ zwischen CDU und evangelischer Kirche.362 355 So heißt es über Hermann Kunst, den Bevollmächtigten der Rat der EKD: „Das Entscheidende geschah unter vier Augen“ (Buchna, Jahrzehnt, 34). 356 Kaiser, Gerstenmaier, 90. Kunze lässt sich als „Mehrfachengagierter“ bezeichnen (Kçnemann et al., Interessenvertretung, 172–189). In der Forschung erfuhr Kunze kaum Aufmerksamkeit (Friedrich, Kunze). 357 Die folgende biografische Darstellung der Biografie folgt: Friedrich, Kunze, 59. 358 Ebd., 60. 359 Ebd., 62. Für Friedrich zeigt sich hieran ein Konflikt zwischen Theologie und Ökonomie. 360 Ebd., 71. Kunze war kein Spitzenpolitiker, aber immer wieder für höhere Ämter im Gespräch. Gegen seine Konkurrenten Hermann Ehlers und Gerhard Schröder konnte er sich hingegen nicht durchsetzen. 361 Friedrich spricht sogar von einem „spezifisch protestantischen Argumentationsgefälle“ (ebd., 73). 362 Ebd. Kunze, Mitglied des evangelischen Arbeitskreises der CDU, hatte mehrere Gespräche zwischen CDU und EKD initiiert und drängte darauf, dass die EKD das Gespräch mit der CDU

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Kunze war als Schatzmeister der Inneren Mission bereits früh mit der Lastenausgleichsthematik betraut.363 Sein ihm zugeschriebener ökonomischer Sachverstand und sein Engagement spielten vermutlich eine Rolle dabei, dass Kunze zum Vorsitzenden des Unkeler Kreises gewählt wurde.364 Dieser auf Anregung von Adenauer gebildete Ausschuss war nach Wenzel eine Art „Vorkabinett“, das eine Lastenausgleichskonzeption entwickeln und die Einigung der Regierungsfraktionen herbeiführen sollte.365 Schließlich wurde Johannes Kunze zum Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für den Lastenausgleich gewählt, obwohl er „nicht zur Gruppe der Vertriebenen gehörte, die das Gesetz maßgeblich propagierten, förderten und in ihrem Sinne beeinflussen.“366 Entscheidend für die Wahl war seine Tätigkeit für die Innere Mission und das daraus abgeleitete Attribut der Überparteilichkeit. Ein Gutachten aus dem Finanzministerium bewertete die christliche Rückbindung Kunzes explizit positiv. Es begründete seine einstimmige Wahl zum Vorsitzenden des Lastenausgleichsausschusses des Bundestages damit, dass er als Wirtschaftsleiter der Bodelschwingh’schen Anstalten […] und als Schatzmeister der Inneren Mission der Deutschen Evangelischen Kirche ein Garant für die Wahrung der sozialen Interessen ist und zugleich als ein Kenner der Wirtschaft und Landwirtschaft von dem Vertrauen dieser Organisationen getragen wird. Vor allem war aber maßgebend, daß er an keinem Punkt irgendwelche Interessen vertritt, sondern infolge seines Berufes die Gewähr dafür bietet, jenseits aller Parteiinteressen dafür zu sorgen, daß bei der Behandlung dieser schwierigen Fragen allein die Sache und die Rücksicht auf den lebendigen Menschen entscheidet.367

Insgesamt umfasst sein politisches Wirken drei Ebenen: Erstens vertrat er die materiellen Eigeninteressen von Innerer Mission und Kirche, zweitens war er in seiner Funktion als CDU-Politiker, Parlamentarier und Vorsitzender des Lastenausgleichsausschusses maßgeblich an der Konzeption des Lastenausgleichsgesetzes beteiligt, und drittens war Kunze an der Ausarbeitung von Stellungnahmen der EKD beteiligt, die wiederum an die Entscheidungsträger in der Politik adressiert waren. Der Ökonom fungierte, wie im Folgenden zu

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suche. Siehe 6. Sitzung des Rates der EKD am 1. 7. 1949. In: Protokolle, Bd. 3, 231; Schreiben der CDU an den Rat, 16. 1. 1949. In: Ebd., Bd. 2, 461–466. Ebd., 69. Hierzu siehe die folgenden Seiten 239 f. Wenzel, Verschiebung, 79. Ebd. Friedrich und Schillinger sprechen von „Vorparlament.“ Zitiert nach Friedrich, Kunze, 78. Zum Unkeler Kreis siehe auch Goschler/R fner, Ausgleich. In: Sozialpolitik, Bd. 3, 725; und Fischer, Heimat-Politiker, 180. Die Bezeichnung „Vorkabinett“ scheint angemessener gegenüber der Bezeichnung „Vorparlament“, da im Unkeler Kreis ausschließlich die Regierungsfraktionen vertreten waren. Fischer, Heimat-Politiker, 176; Friedrich, Kunze, 76. Gutachten des Unterausschusses III Steuerpolitik und Kapitalbildung des finanzpolitischen Beirates zur Soforthilfe und Lastenausgleich (BArch Koblenz, B 126/5681, Bd. 1).

298 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung zeigen ist, als Bindeglied zwischen Kirche und Politik und als Scharnierstelle im kirchlichen Interessenvertretungsprozess. Lobbyist in kirchlichen Diensten? Johannes Kunzes Engagement für die Innere Mission Bereits 1948, kurz vor der Währungsreform, war Johannes Kunze im Auftrag der Inneren Mission mit der Lastenausgleichsproblematik befasst. In einem Memorandum kritisierte er die von den Alliierten beschlossene Trennung von Währungsreform und Lastenausgleich und beklagte sich darüber, dass die vom Centralausschuss der Inneren Mission vorgebrachten sozialen Anregungen nicht berücksichtigt worden seien.368 Die Entwertung der Geldvermögen habe negative Konsequenzen für die Arbeit der Wohlfahrtsverbände, die nun in „schwerste Bedrängnis“ und eine „Finanzkrise erster Ordnung“ gebracht worden seien, die zugleich die „Allgemeinheit“ und damit die „Volksgemeinschaft“ insgesamt belaste.369 Für den Wiederaufbau der Wohlfahrtsverbände forderte er nun staatliche Zuschüsse, denn es sei nicht ausreichend, „wenn lediglich erreicht werde, dass sie aus dem Lastenausgleich gebend und nehmend herausgelassen würde.“370 Zudem unterbreitete Kunze konkrete Vorschläge, wie sämtlichen Körperschaften der freien Wohlfahrtspflege geholfen werden könne.371 Das Memorandum ließ er Ludwig Erhard, dem Präsidenten des Zonenbeirates, und Otto Dibelius zukommen, der es ausdrücklich begrüßte und es sich „voll zu eigen“ machte.372 Der Rat der EKD positionierte sich kurz darauf in ähnlicher Weise in Form einer Denkschrift, die in enger Absprache mit Johannes Kunze und dem Centralausschuss der 368 Kunze, Johannes: Memorandum zu Währungsreform und Lastenausgleich, 18. 9. 1948 (ADW Berlin CAW 196). Ähnlich Schreiben von Johannes Kunze an die Vorsitzenden des Finanzrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, 2. 11. 1948 (ADW Berlin CAW 231); und ders.: Entwurf für ein Memorandum, 15. 9. 1948 (ADW Berlin CAW 231). In einem anderen Schreiben sprach sich Kunze für die steuerliche Absetzbarkeit von Spenden aus, die das Dritte Reich abgeschafft habe: Schreiben von Johannes Kunze vom 12. 4. 1948 (ADW Berlin CAW 196; BA B 126/5680 Bd. 2). 369 Kunze, Johannes: Memorandum zu Währungsreform und Lastenausgleich, 18. 9. 1948 (ADW Berlin CAW 196). 370 Ebd. Den Verlust der gesamten Wohlfahrt bezifferte er auf 500 000 000 DM. 371 So plädierte er für eine Befreiung aller Einrichtungen aus dem Lastenausgleichsgesetz, empfahl die Anhebung der Pflegesätze und forderte „Sondermittel für einen internen Kriegsschadensausgleich im Rahmen der Wohlfahrtspflege“, zu welchen ein Zuschlag von 4 % für 15 Jahre gewährt werden solle (ebd.). 372 Schreiben von Johannes Kunze an die Vorsitzenden des Finanzrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, Dir. Hartmann, 2. 11. 1948; Schreiben von Johannes Kunze an Ludwig Erhard, 18. 9. 1948; und Schreiben von Johannes Kunze an den Vorsitzenden des Finanzrats des vereinigten Wirtschaftsgebietes, 14. 10. 1948. Der Verein für öffentliche Fürsorge begrüßte Kunzes Vorgehen: Schreiben des deutschen Vereins für öffentliche Fürsorge an Kunze, 11. 12. 1948 (ADW Berlin CAW 231).

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Inneren Mission erstellt wurde.373 Hierin erklärte der Ratsvorsitzende Otto Dibelius die Bereitschaft der Kirche, sich dafür einzusetzen, „dass ihre Glieder die aus dem ihnen verbliebenen Eigentum erwachsene soziale Verpflichtung erkennen und danach handeln.“374 Dibelius richtete an die Alliierten den Appell, „die allzu großen Lasten, die auf dem deutschen Volk ruhen, zu verhindern“, und plädierte für eine Befreiung der Kirchen und der karitativen Einrichtungen von der Vermögenssteuer und der Lastenausgleichsabgabe.375 Die Zeitschrift „Evangelische Welt“ wusste davon zu berichten, dass „alle Anstalten der freien Wohlfahrtspflege von der Vorauszahlung des Lastenausgleichs befreit wurden“, was dem „nachdrücklichen Werben des CA der Inneren Mission“ zu verdanken sei.376 Auch konnte die Befreiung solcher Besitztümer erreicht werden, die „unmittelbaren kirchlichen, religiösen, mildtätigen Zwecken“ dienten.377 Zudem könne die Kirche Leistungen erhalten, die sie in den Stand setzten, „den nach dem Gesetz Berechtigten Zahlungen in Höhe der Unterhaltshilfe zu gewähren.“378 Der weitergehende Wunsch nach einer „uneingeschränkten Freistellung der Geschäfts- und Wirtschaftsbetriebe“ der Wohlfahrtsverbände wurde allerdings nicht erfüllt.379 Nach Norbert Friedrich habe Kunze für die Wohlfahrtsverbände und Kirchen zahlreiche Erleichterungen und Steuerbefreiungen erfolgreich durchgesetzt und sich als erfolgreicher „Lobbyist der Kirche“ betätigt.380 Allerdings übernahmen die Wohlfahrtsverbände, darunter die Innere Mission, das Hilfswerk und auf katholischer Seite die Caritas, in der Nachkriegszeit wohlfahrtsstaatliche Funktionen und leisteten einen nicht unbedeutenden Beitrag zur sozialen und karitativen Erstversorgung. Insofern hatten Akteure aus Staat und Politik auch ein Interesse an der Funktionsfähigkeit der Wohlfahrtsverbände.381 In den folgenden Ausführungen ist daher auch kritisch zu diskutieren, inwieweit der Lobbyismusbegriff eine angemessene Kategorie zur Beschreibung von Kunzes Engagement darstellt.

373 Denkschrift des Vorsitzenden des Rates der EKD zum Lastenausgleich, 22. 10. 1948; und Schreiben von Hansjörg Ranke an die Ratsmitglieder der EKD und die evangelischen Kirchenleitungen; 28. 10. 1948 (ADW Berlin CAW 231). 374 Denkschrift des Vorsitzenden des Rates der EKD zum Lastenausgleich, 22. 10. 1948 (ADW Berlin CAW 231). 375 Ebd. 376 Was brachte der Lastenausgleich? In: EvWelt, 15. 1. 1949, 34. 377 Die Kirche im Lastenausgleich. In: EvWelt, 1. 2. 1949, 60. 378 Was brachte der Lastenausgleich? In: EvWelt, 15. 1. 1949, 34. 379 Ebd. 380 Friedrich, Kunze, 69. 381 Für die unmittelbare Nachkriegszeit gilt dieser Befund sogar für die Politik der sowjetischen Militäradministration, die die Mitwirkung der Kirchen bei der materiellen Versorgung in der unmittelbaren Nachkriegszeit für unverzichtbar hielt. Erst mit der Stabilisierung der SEDHerrschaft schlug die SED einen kirchenfeindlichen Kurs ein. Hierzu Wustmann, Vertrieben, 169 f.

300 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Johannes Kunze als Scharnierstelle zwischen Politik und Kirche Kunzes Einsatz für die Interessen der karitativen Einrichtungen sowie der EKD setzte sich fort, als er bereits in die Politik gewechselt war und sich nicht mehr in einem arbeitsrechtlichen Abhängigkeitsverhältnis zu protestantischen Organisationen befand. Neben der Inneren Mission hatte auch die EKD ein großes Eigeninteresse an der Gestaltung des Lastenausgleichsgesetzes und arbeitete mit Kunze in dieser Frage eng zusammen. Der für die Gesetzgebung zuständige OKR und Leiter der Bonner Außenstelle der Kirchenkanzlei, der Jurist Hansjörg Ranke, stand in ständigem Austausch mit dem Abgeordneten. Kunze ließ dem OKR kursierende Gesetzesentwürfe, darunter auch als „geheim“ oder „vertraulich“ klassifizierte Entwürfe, zukommen oder gestattete ihm Einsichtnahme.382 Ranke machte wiederum „den Abgeordneten Kunze darauf aufmerksam […], dass wir uns nachdrücklich für die Freiheit des kirchlichen Grundbesitzes einsetzen müssen.“383 Die Diakonie sei mit Kunze „aufs Beste“ vertreten; der augenblicklich im Umlauf befindliche Gesetzesentwurf sehe für die Kirche die „bestmögliche Lösung“ vor.384 Kunze band die Kirchenkanzlei vorteilhaft in den politischen Prozess ein, wovon die EKD profitierte. Politikwissenschaftlich gesprochen ermöglichte dieses Netzwerk der Kirche eine vorteilhafte Stellung hinsichtlich der Informationsaggregation, die eine Voraussetzung für eine wirksame Interessenartikulation ist.385 Da das Finanzministerium nach Ranke geschlossen tage und daher nur schwer auf die kursierenden Gesetzesentwürfe Einfluss genommen werden könne, stehe die Kirchenkanzlei über Johannes Kunze in „enger Tuchfühlung mit den parlamentarischen Verhandlungen.“386 Kunze habe zugesichert, dort 382 Schreiben von Hansjörg Ranke an Johannes Kunze, 19. 1. 1950; Schreiben von Johannes Kunze an Hansjörg Ranke, 26. 1. 1950; und Schreiben von Hansjörg Ranke an Heinz Brunotte, 22. 5. 1950 (EZA Berlin 2/2139). 383 Ebd. Vgl. auch Schreiben von Hansjörg Ranke an Heinz Brunotte, 6. 7. 1950 (EZA Berlin 2/ 2139). 384 Schreiben von Hansjörg Ranke an Friedrich Spiegel-Schmidt; 14. 2. 1951 (EZA Berlin 2/2140). Anfragen von Privatpersonen und kirchlichen Einrichtungen bezüglich des Lastenausgleichs, die bei der Kirchenkanzlei der EKD eintrafen, wurden zur Beantwortung direkt an Johannes Kunze weitergeleitet. Die Stellungnahmen finden sich in den Akten EZA Berlin 2/2139; EZA Berlin 87/48 und EZA Berlin 87/132. Zugleich unterhielt Ranke Kontakte ins Finanzministerium, v. a. zum Ministerialdirigenten Manfred Fauser. Auch diesen „hervorragenden Mann“ wies Ranke darauf hin, wie wichtig es sei, dass kirchlicher Grundbesitz vom Lastenausgleich befreit werde (Schreiben von Hansjörg Ranke an den Präsidenten der Kirchenkanzlei, 6. 7. 1950, EZA Berlin 2/2139). Fauser nahm auch an Tagungen der evangelischen Kirche zur Vertriebenenfrage teil. Siehe Schreiben von Hansjörg Ranke an Friedrich SpiegelSchmidt; 14. 11. 1950 (EZA Berlin 87/134). 385 Fuchs, Einflusswege, 132 f. In Bezug auf das Amt des Bevollmächtigten der EKD bei der Bundesrepublik auch Buchna, Jahrzehnt, 314. 386 Schreiben von Hansjörg Ranke an die Kirchenkanzlei der badischen Landeskirche; 5. 7. 1950 (EZA Berlin 2/5812).

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im kirchlichen Interesse zu handeln.387 Allerdings hatten sich die materiellen Ansprüche der Kirche gegenüber Kunzes Forderungen aus seiner Zeit als Schatzmeister der Inneren Mission etwas verändert: Statt einer Bezuschussung der Wohlfahrtsverbände strebte er nun lediglich eine Herausnahme der Kirchen aus dem Lastenausgleich an.388 Allerdings sicherte der Präsident des Bundesamtes für Soforthilfe, Georg Manteuffel-Szoege, gleichzeitig zu, dass die Kirchen Mittel aus dem Soforthilfefonds erhielten.389 Offenbar verfügte das Bundessoforthilfe- bzw. Ausgleichsamt jenseits der parlamentarischen Entscheidungsprozesse über Spielräume, was die Verteilung der Mittel betraf. Darüber hinaus trat Kunze auch zwischen Kirchenkanzlei und Behörden vermittelnd auf.390 Insgesamt lassen die Verhandlungen des Bundestagsausschusses für den Lastenausgleich erkennen, dass die Befreiung des kirchlichen Besitzes ohne Diskussion beschlossen wurde – und vermutlich als selbstverständlich, auch vom anwesenden SPD-Abgeordneten Walter Seuffert, akzeptiert wurde.391 Neben diesem interessenpolitischen Engagement wurde Kunzes Expertise auch auf einer inhaltlichen Ebene nachgefragt. Der Geschäftsführer der Sozialkammer Hansjörg Ranke bezog Kunze in die Vorbereitungen des

387 Ebd. Dies bestätigend: Schreiben von Otto Dibelius an Baron von Manteuffel; 10. 7. 1951 (EZA Berlin 2/2140). 388 Stattdessen sollte die Kirche einen eigenen, internen Lastenausgleich durchführen. Vgl. Schreiben von Hansjörg Ranke an die badische Landeskirche, 5. 7. 1950 (EZA Berlin 2/5812). Auf die Schwierigkeit, weitergehende Ansprüche durchzusetzen, verweist auch Schreiben von Hansjörg Ranke an Johannes Kunze, 26. 9. 1951 (P BT PA Berlin I 332 B 7). 389 Schreiben von Hansjörg Ranke an Otto Dibelius; 10. 7. 1951 (EZA Berlin 2/2140). Das Bundesvertriebenengesetz sah einen Paragraphen vor, der explizit die Befreiung des kirchlichen Grundbesitzes beinhaltete. Vgl. Entwurf eines Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge. Synoptische Darstellung unter Berücksichtigung der Regierungsvorlage; 24. 8. 1951, der Stellungnahme des Bundesrates vom 2. 10. 1951 und der Stellungnahme der Bundesregierung; 16. 11. 1951 zu den Vorschlägen des Bundesrates, o. D. (BT PA Berlin I 422 A 2); Kurzprotokoll der 9. Sitzung des Unterausschusses Befreiungen am 27. 6. 1951; Kurzprotokoll der 13. Sitzung des Unterausschusses Befreiungen am 13. 7. 1951 (BT PA Berlin I 332 A 2). 390 Bezüglich der Gewährung von Mitteln aus dem LAG müssten die Landeskirchen Verhandlungen mit den jeweiligen Landessofortämtern führen. Siehe Schreiben von Hansjörg Ranke an alle Leitungen der deutschen evangelischen Landeskirchen, 17. 9. 1949 (EZA Berlin 2/2139). Einige Jahre später konnte Kunze den Präsidenten des Bundesausgleichsamtes dazu bewegen, dem Centralausschuss für Innere Mission 10 Millionen DM aus dem Lastenausgleichsfonds zukommen zu lassen. Siehe Schreiben von Münchmeyer an Johannes Kunze; 29. 2. 1956; Schreiben von Walter Kühne an Johannes Kunze, 28. 2. 1956 (ADW Berlin JK 55). Weitere Beispiele: Schreiben von Bruckhaus an Johannes Kunze (EZA Berlin 2/2141). 391 Die einzige Wortmeldung ging auf den SPD-Politiker Walter Suffert zurück. Dieser hatte jedoch andere Einwände und sprach sich nicht gegen eine Befreiung der Kirchen aus. Vgl. Kurzprotokoll der 59. Sitzung des 17. Ausschusses am 12. 9. 1951 (BT PA Berlin [ohne Signatur]). Hermann Kunst musste sich sogar einmal gegen den Vorwurf verteidigen, dass Kirchen und Gewerkschaften „ihr beiderseitiges Korporationsvermögen aus dem Lastenausgleich herausnehmen.“ (Schreiben von Hermann Kunst an Hans Wittmack; 4. 10. 1952, EZA Berlin 87/48).

302 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung zweiten Wortes der EKD zum Lastenausgleich mit ein.392 Der Ausschussvorsitzende hielt zwar eine Stellungnahme des Rates für wenig Erfolg versprechend, hoffte jedoch auf eine publizistische Wirkung und bat um eine zügige Zusendung des von ihm mitgestalteten Wortes, um das Schreiben „zum Gegenstand der Beratung“ machen zu können.393 Der Politiker referierte zudem auf einigen Vertriebenentagungen der Kirchenkanzlei zur Lastenausgleichsproblematik, so vor allem auf der Tagung in Königswinter 1951, aber auch in Bad Boll und in Hermannsburg.394 Ranke empfahl Heinz Brunotte, dem Präsidenten der Kirchenkanzlei, in jeden Fall eine „Abstimmung mit dem Abgeordneten Kunze“ in der Lastenausgleichsfrage.395 Neben Ranke stimmte auch der OKA Entwürfe für Stellungnahmen zum Lastenausgleich mit Johannes Kunze ab.396 Der CDU-Politiker und Vorsitzende des Lastenausgleichsausschusses stand folglich auf vielfältige Weise mit der Amtskirche, insbesondere mit OKR Ranke, in Kontakt. Dieser fragte Kunzes Expertise und Unterstützung im Interessenvertretungsprozess nach. Umgekehrt brachte auch der Abgeordnete klare Vorstellungen hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Kirche zum Ausdruck. Der Kirche sprach Kunze eine seelsorgerliche sowie eine mahnende Rolle zu, jedoch stellte er ein kirchliches Mitspracherecht in materiellen Fragen in Abrede: Es ist nicht Aufgabe der Kirche, auf dem gesetzgeberischen Gebiet sich mit der materiellen Seite des Problems und seinen technischen Einzelheiten zu befassen. Ihr Dienst ist Mahnung, Warnung und Wegweisung ihrer in der politischen Verantwortung stehenden Glieder. Wohl aber soll die Kirche darüber hinaus in Predigt und Seelsorge jedem Einzelnen das Gewissen schärfen. Sie soll dem Abgabepflichtigen, wo sie ihn ansprechen kann, die Verantwortung, die er trägt, zeigen, und sie soll dem Vertriebenen sagen, daß er auch an den Abgabepflichtigen denken muß. Sie soll bei beiden die Opferbereitschaft und den Dienst der Nächstenliebe wecken. Bei den Organisationen beider Teile macht sich das Negative als Gefahr bemerkbar. Die Menschen innerlich lösen von dem Verhetzt392 Das geht hervor aus: Schreiben von Hansjörg Ranke an Friedrich Spiegel-Schmidt; 13. 11. 1950; Schreiben von Hansjörg Ranke an Friedrich Spiegel-Schmidt; 14. 2. 1951; Auszug aus der Niederschrift über die 22. Sitzung des Rates der evangelischen Kirche in Deutschland am 24. 5. 1951 in Hannover; Schreiben von Hansjörg Ranke an Friedrich Spiegel-Schmidt, 14. 11. 1950; Schreiben von Hansjörg Ranke an Friedrich Karrenberg und Johannes Kunze, 26. 2. 1951; und Vermerk über eine Besprechung mit den Vereinigten Landsmannschaften und Baron von Manteuffel, 14. 6. 1951 (EZA Berlin 2/2140). 393 Das geht hervor aus: Schreiben von Hansjörg Ranke an Erich Ruppel; 15. 6. 1951 (EZA Berlin 2/2140). 394 Schreiben von Martin Donath an Hansjörg Ranke; 8. 1. 1951 (EZA Berlin 2/2140). Kunze war für das Referat auf der Bad Boller Tagung vom 17. bis 21. 2. 1951 vorgesehen, hatte jedoch abgesagt. Siehe Arbeitstagung über Fragen der Heimatvertriebenen vom 17.–21. 2. 1951 in Bad Boll (EZA Berlin 2/2140). 395 Schreiben von Hansjörg Ranke an Heinz Brunotte; 21. 3. 1951 (EZA Berlin 2/5812). 396 Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an Hansjörg Ranke und Johannes Kunze, 11. 11. 1950 (EZA Berlin 2/4140).

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werden, das kann kein Gesetzgeber, sondern nur der Mensch, der aus seiner letzten Gebundenheit an Gott bereit ist, die Nächstenliebe zu predigen und im Opfer voranzugehen.397

Kunze wies der seelsorgerlichen Arbeit der Kirchen demnach eine unterstützende und gesamtgesellschaftlich befriedende und damit integrative Funktion zu. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch Kunzes interessenpolitisches Engagement, das auf eine materielle Absicherung der kirchlichen Arbeit zielte, die für ihn eine Problemlösungskomponente war. Daher greift es zu kurz, Kunze ausschließlich als Lobbyisten wahrzunehmen.398 3.5.3 Politik des Kompromisses? Der protestantische Sozialpolitiker Johannes Kunze im Gesetzgebungsprozess Wie agierte ein protestantischer Politiker im Gesetzgebungsprozess, was charakterisiert sein politisches Selbstverständnis und sein politisches Handeln? Inwieweit lässt sich ein religiöses Moment in Kunzes politischem Handeln eruieren und welche Rolle spielte dieses in seiner politischen Selbstkonzeption? Lässt sich anhand von Kunzes Engagement ein, wie Friedrich behauptet, „evangelischer Standpunkt“ eruieren, der über die materielle kirchliche Interessenvertretung hinausging?399 Nach der ersten Bundestagswahl 1949 nahmen die Vertreter der Regierungsfraktionen die Beratungen im sog. Unkeler Kreis auf, dessen Sprecher Kunze war.400 Kunze habe, wie der „Spiegel“ im April 1950 berichtete, einen „Wegweiser gezimmert“ und damit eine Grundkonzeption formuliert, die folgende Punkte enthielt: Soziale Befriedigung durch gleiche Beteiligung aller an den Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegseinbußen in Geld und Sachwerten, Erhaltung der Wirtschaftskraft und gleichbleibendes Steueraufkommen.401 397 Kunze, Johannes: Lastenausgleich als christliche Verpflichtung. Niederschrift der von der Kanzlei der EKD vom 19.–21. 9. 1950 nach Königswinter einberufenen Konferenz über die Fragen der kirchlichen Flüchtlingsarbeit (ADW Berlin CAW 682). Eine gekürzte Fassung wurde in der EvWelt publiziert: Ders., Lastenausgleich als christliche Verpflichtung. In: EvWelt, 1. 10. 1950, 577–579. In einem 1949 entstandenen Aufsatz priorisierte Kunze die freie gegenüber der staatlichen Wohlfahrt, da die staatliche auf eine seelsorgerliche Arbeit verzichte. Siehe Ders., Die Wohlfahrtspflege der deutschen Bundesrepublik. In: EvWelt, 1. 9. 1949, 500. 398 Buchna bevorzugt den Begriff Interessenvertretung anstelle von „Lobbyismus“. Vgl. Buchna, Jahrzehnt, 20. 399 So Friedrich, Kunze, 73 und 75. 400 Ausführlicher Wenzel, Verschiebung, 78–82. Noch vor dem Beginn der Beratungen des Unkeler Kreises affirmierte das „Sonntagsblatt“ Adenauers Sozialpolitik, priorisierte jedoch das soziale Ausgleichsmodell( Adenauers Sozialpolitik läuft an. Die Regierung bemüht sich, den richtigen Weg zu finden. In: Sonntagsblatt, 22. 1. 1950, 1). 401 Lastenausgleich: Wenn es soweit kommen sollte. In: Der Spiegel, 15. 4. 1950, 6–8. Bezugspunkt der Diskussion waren Konzepte des 15er-Ausschusses von 1948. Kunzes Memoranden und die

304 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Diese von der Industrie kritisierten Grundsätze ließ der Politiker vom Bundeskabinett als „gesetzgeberische Prinzipienunterlage“ annehmen.402 Auf der Tagung vom 13. bis 15. Mai 1950 einigte sich der Unkeler Kreis auf Grundsätze, die die CDU-Fraktion anschließend übernahm und die fortan den Bezugspunkt der Diskussion bildeten.403 Die Unkeler Grundsätze sahen eine Kombination von sozialen und quotalen Elementen vor und erkannten einen Entschädigungsanspruch als individuellen Rechtsanspruch grundsätzlich an, allerdings war die Möglichkeit einer Priorisierung oder Zurückstellung von Entschädigungsansprüchen nach sozialen oder volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten vorgesehen.404 Daneben waren progressiv zu gestaltende Renten für „Alte und Erwerbsunfähige“ geplant, die „von der Gewährung der Fürsorgeleistungen getrennt zu regeln seien.“405 „Ostzonenvertriebene“ und Währungsgeschädigte sollten hingegen nicht berücksichtigt werden.406 Die Aufnahme quotaler Elemente und die Anerkennung eines Rechtsanspruches entsprach einer der zentralen Forderungen, die die Vertriebenenpolitiker und -funktionäre erhoben und die nun noch einmal bekräftigt wurden.407 Kunzes vorbereitendes, Anfang 1950 entstandenes Memorandum hatte zwar noch keine individuelle Entschädigungslösung enthalten, jedoch nahm der Politiker diese von den Vertriebenen geforderte Komponente in die Unkeler Grundsätze vom Mai 1950 bei grundsätzlicher Priorisierung des sozialen Modells auf.408 Bundesfinanzminister Fritz Schäffer, der eine quotale Konzeption und die Feststellung der Vermögensverluste „mit Entschiedenheit“ ablehnte, legte im März 1950 ebenfalls einen eigenen, von seinen Referenten ausgearbeiteten Gesetzesentwurf, den sog. Referentenentwurf, vor.409 Der Entwurf, der im April 1950 in Unkel diskutiert und einhellig abgelehnt wurde, enthielt zwar eine allgemeine Vermögensabgabe in Höhe von 50 % der Vermögensbestände,

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Beratungen in Unkel nahmen bereits die Richtung vorweg (Goschler/R fner, Ausgleich. In: Sozialpolitik, Bd. 3, 725). Ebd. Beratungsergebnisse zum Thema LAG in Unkeln am 13.–15. 5. 1950 (BArch Koblenz B 126/ 51552); und Grundsätze der CDU, 1. 6. 1950. Unterzeichnet von Johannes Kunze als Sprecher der CDU-Fraktion (BArch Koblenz B 150/3293). Vgl. auch Schreiben des Bundeskanzlers an Schäffer, 4.12.150 (BArch Koblenz B 126/51552). Die zweite Beratung des Unkeler Kreises im Mai 1950 basierte auf einem Memorandum von Johannes Kunze, 12. 5. 1951. In diesem hatte er die Forderung einer individuellen Entschädigung noch nicht berücksichtigt. Vgl. Wenzel, Verschiebung, 82. „Christ und Welt“ kritisierte die beschlossene Aufnahme quotaler Elemente. Siehe Lastenausgleich vor der Entscheidung. In: ChrWelt, 27. 7. 1950, 5. Beratungsergebnisse zum Thema LAG in Unkeln am 13.–15. 5. 1950 (BArch Koblenz B 126/ 51552). Ebd. Ebd. Verschiedene weitere Details sollten allerdings noch geprüft werden. So jedenfalls Wenzel, Verschiebung, 81. Zur Kritik in „Christ und Welt“ siehe Lastenausgleich vor der Entscheidung. In: ChrWelt, 27. 7. 1950, 5. Das geht hervor aus: Lastenausgleich: Wenn es soweit kommen sollte. In: Der Spiegel, 15. 4. 1950, 6–8. Wenzel, Verschiebung, 80.

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eine laufende Vermögenssteuer und eine Sonderabgabe auf Schuldnergewinne, jedoch „keine Hauptentschädigung nach Maßgabe des erlittenen Vermögensverlustes.“410 Vom Gedanken einer „Substanzbesteuerung“ nahm der Minister ebenfalls Abstand, stattdessen sollte die Abgabepflicht verrentet und auf einen Zeitraum von 25 Jahren ausgedehnt werden.411 Trotz der deutlichen Kritik des Unkeler Kreises legte Schäffer den Referentenentwurf im Mai 1950 ohne Rücksprache mit dem Unkeler Kreis dem Bundeskabinett vor und veröffentlichte darüber hinaus eine Presseerklärung.412 Die Vertriebenenorganisationen, aber auch die allgemeine säkulare Presse und die protestantische Zeitschrift „Christ und Welt“ bedachten den Referentenentwurf mit Kritik.413 Für „Christ und Welt“ habe der Finanzminister die „Durchführbarkeit des Lastenausgleichs öffentlich in Zweifel“ gezogen.414 Der Sprecher des Unkeler Kreises legte Einspruch gegen die Pressemeldung des Finanzministeriums ein, obwohl dieser sich explizit als Verteidiger des Regierungshandelns verstand.415 Er protestierte gegen die Mitteilung, dass der Lastenausgleich aus dem Vermögensertrag erstellt werden solle und die Wirtschaftsabgabe für den Lastenausgleich lediglich 1,5 Mrd. DM betrage, was nicht den Unkeler Beschlüssen entspreche und der Radikalisierung weiteren Vorschub leisten werde.416 In diesem Zusammenhang wiederholte er einige der bereits eingebrachten Vorschläge zur Erweiterung der Lastenausgleichsabgabe, so die „Verzinsung der Abgaben“, „Prämienreserven für zukünftige Pensionsansprüche“, die „Frage der Heranziehung des öffentlichen Vermögens“ und die Erarbeitung eines Feststellungsgesetzes.417 Das an den Finanzminister adressierte Schreiben zeitigte jedoch nicht den gewünschten Erfolg. Schäffer vermochte in seiner Presseerklärung keine 410 Geschichte der Sozialpolitik, Bd. 3, 729. 411 Ebd. 412 Wenzel, Verschiebung, 80 f. Siehe auch 1. Bericht des Bundesfinanzministers über die Grundzüge des endgültigen Lastenausgleichs. 68. Kabinettssitzung, 23. 5. 1950. In: Booms, Kabinettsprotokolle, Bd. 2: 1950. Zitiert nach Kabinettsprotokolle der Bundesregierung online, Stand 22.8.16. Zur Kritik an der Denkschrift zum Lastenausgleich aus dem Bundesfinanzministerium: Lastenausgleich-Denkschrift enttäuscht. In: Die Zeit, 23. 2. 1950, 6. „Christ und Welt“ bekräftigte die soziale Ausgleichskonzeption und kritisierte „jeden Versuch, die alten Besitzverhältnisse zu rekonstruieren“ (Lastenausgleich vor der Entscheidung. In: ChrWelt, 27. 7. 1950, 5). Der Bundesvertriebenenminister fühlte sich vor dem Kopf gestoßen, siehe Bericht über die Vorgänge um den Entwurf eines Lastenausgleichsgesetzes, 30. 6. 1950 (BArch Koblenz B 150/3293). 413 Lastenausgleich-Denkschrift enttäuscht. In: Die Zeit, 23. 2. 1950, 6; Lastenausgleich – neuester Stand. Eine sittliche und politische Pflicht. In: ChrWelt, 23. 3. 1950, 6; und Ohne den Wirt. In: Der Spiegel, 10. 8. 1950, 9–12. 414 Lastenausgleich – neuester Stand. Eine sittliche und politische Pflicht. In: ChrWelt, 23. 3. 1950, 6. 415 Schreiben von Johannes Kunze an Friedrich Schäffer, 24. 5. 1950 (BArch Koblenz B 150/3293, BArch Koblenz 126/51552). 416 Ebd. 417 Ebd.

306 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Abweichung von den Unkeler Grundsätzen zu erkennen.418 Daraufhin wandte sich Kunze an Adenauer und veröffentlichte eine eigene Presseerklärung mit der Drohung, dass die Koalition „eisern und stur geschlossen gegen den Entwurf angehen“ würde.419 In dieser Situation zeichnete sich neben der Gegnerschaft zwischen Kunze und Schäffer ein zweiter Konflikt mit dem Vertriebenenpolitiker Linus Kather ab, der das „Ruder an sich [zu] reißen“ drohte.420 In persönlichen Gesprächen konnte schließlich eine Einigung zwischen Kunze und Schäffer erzielt werden, die den Finanzminister „sehr gefreut“ habe.421 Schäffer hoffte nun, gemäß dem „Auftrag seines Hauses“, ein Gesetz „unter Berücksichtigung der Anregungen des Ausschusses auszuarbeiten.“422 Trotz offener Punkte wurden ein gewisser Konsens und damit die Grundlage für die Fortführung der Beratungen gelegt.423 Schlussendlich zeigte sich der Finanzminister, der selbst unter Druck stand, erleichtert über die Einigung, weil er wegen der „ständigen Angriffe von Kather und Kollegen nervös“ war und daher die „Schützenhilfe der Fraktion“ erbat.424 Später stellte sich auch Adenauer auf die von den Regierungsfraktionen getragenen Unkeler Grundsätze und richtete an den Finanzminister die Bitte, „diesem Umstand Rechnung zu tragen“, denn es habe keinen Sinn, einen Entwurf einzubringen, „der von den Fraktionen nicht getragen wird.“425 Der Vertriebenenfunktionär, CDU-Politiker und Vorsitzende des Bundestagsausschusses für die Heimatvertriebenen, Linus Kather, avancierte bald zum schärfsten Gegner Schäffers und Kunzes und gab sich auch mit dem neuen Entwurf, den Schäffer im November und Dezember 1950 ausarbeiten 418 Schreiben von Fritz Schäffer an Johannes Kunze, 25. 5. 1950 (BArch Koblenz B 126/51552). 419 Vermerk, DPA-Meldung, 6. 7. 1950. Ähnlich Schreiben von Johannes Kunze an Konrad Adenauer, 6. 7. 1950 (BArch Koblenz B 126/51552). 420 Schreiben von Johannes Kunze an Bundeskanzler Kanzler Adenauer, 6. 7. 1950 (BArch Koblenz B 126/51552). 421 Diese Einigung wollte er Finanzminister schriftlich fixieren. Siehe Schreiben von Fritz Schäffer an Johannes Kunze, 29. 7. 1950 (BArch Koblenz B 126/51552). Zuvor hatte Schäffer Kunze jedoch einen Vertrauensbruch vorgeworfen. Siehe Schreiben von Fritz Schäffer an Johannes Kunze, 11. 7. 1950 (BArch Koblenz B 126/51552). 422 Strittig blieb allerdings die „Staffelung mit der Verschiedenartigkeit der Zeitdauer der Belastungen“ (Schreiben von Fritz Schäffer an Johannes Kunze, 29. 7. 1950, BArch Koblenz B 126/ 51552). Einen weiteren Entwurf legte der Minister im August 1950 vor. Vgl. Lastenausgleich: Ohne den Wirt. In: Der Spiegel, 10. 8. 1950, 9–12. 423 Kunze kündigte ein neues Expos an, das in Unkeln beraten werden solle. Vgl. Schreiben von Fritz Schäffer an Johannes Kunze, 17. 8. 1950 (BArch Koblenz B 126/51552). Der neue Entwurf sah zwar eine quotale Komponente vor, sprach der Kriegsschadenrente jedoch die größte Bedeutung zu. Siehe Lastenausgleich: Ohne den Wirt. In: Der Spiegel, 10. 8. 1950, 9–12, hier 10. 424 Schreiben von Fritz Schäffer an Johannes Kunze, 29. 7. 1950 (BArch Koblenz B 126/51552). Der „Spiegel“ wusste zu berichten, dass „an jedem Versammlungswochenende aus irgendeiner Ecke des Bundes Rücktrittsforderungen zu hören“ waren (Lastenausgleich: Ohne den Wirt. In: Der Spiegel, 10. 8. 1950, 5). Das Verhältnis zwischen Schäffer und Lukaschek blieb angespannt. Das geht hervor aus: Schreiben von Fritz Schäffer an Adenauer, 20. 9. 1950 (BArch Koblenz B 126/51552). 425 Schreiben von Konrad Adenauer an Fritz Schäffer, 4. 12. 1950 (BArch Koblenz B 126/51552).

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ließ, nicht zufrieden.426 Kather bevorzugte grundsätzlich eine quotale Entschädigungslösung und kritisierte an der vorliegenden Konzeption, dass die Abgabe für den Lastenausgleich aus den laufenden Erträgen erstritten werden könne, die Leistungen über Jahrzehnte erbracht werden könnten und auf eine Substanzbesteuerung verzichtet worden sei. Stattdessen erwartete er eine „sofortige Leistung aus der Vermögenssubstanz“.427 Während sich Kunze und Schäffer für eine dreißigjährige Streckung der Abgabe aussprachen und letztlich dafür plädierten, dass die Lastenausgleichsabgabe aus den Vermögenserträgen bezahlt werden könne, forderte Kather, dass die Lastenausgleichsabgabe, die eine „echte Vermögenssubstanzabgabe“ sein solle, sofort aufgebracht werden müsse: „Das Gesetz muß die theoretische Fälligkeit der fünfzigprozentigen Vermögensabgabe unmittelbar nach Inkrafttreten vorsehen.“428 Damit verstieß Kather gegen die wirtschaftspolitischen Grundsätze seiner Partei, die den Fokus auf Wirtschaftsförderung legte.429 Zur Durchsetzung seiner Ziele trieb Kather die Gründung des einheitlichen, überregionalen ZvD voran430 und drohte mit der Gründung einer eigenen, parteiübergreifenden Flüchtlingsfraktion im Bundestag, was der CDU eine beträchtliche potentielle Wählerschaft hätte entziehen oder die Machtbasis hätte verschieben können.431 Auch die Masse der Vertriebenen setzte er als Drohkulisse ein.432 So fand zur Empörung der Bundesregierung ein halbes 426 Friedrich spricht von einer Kunze- und einer Katherkonzeption. Siehe Friedrich, Kunze, 79. Der „Spiegel“ sprach von einer „Urfehde“ zwischen Kather und Kunze (Lastenausgleich: Ein Denkmal gesetzt. In: Der Spiegel, 25. 6. 1952, 8–10). Inhaltlich ging es um die Frage, ob der Lastenausgleich in Form einer sofortigen Vermögensabgabe verwirklicht oder Abgabe und Auszahlung über mehrere Jahrzehnte gestreckt werden sollten. Vgl. auch Lastenausgleich: Was den Leuten sagen? In: Der Spiegel, 22. 11. 1950, 5. 427 Zitiert nach Lastenausgleich. Was den Leuten sagen? In: Der Spiegel, 22. 11. 1950, 5. Vgl. auch Grundzüge des endgültigen Lastenausgleichs nach dem Plan des Bundesfinanzministeriums. Stellungnahmen von Heinrich Albertz und Linus Kather o. D. (AdSD Bonn 1/HAAA 000 187). Kather forderte eine Einbeziehung des Betriebsvermögens und kritisierte die Streckung der Ausgleichsabgabe auf 30 Jahre. Siehe Kather während der ersten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über einen Allgemeinen Lastenausgleich. 115. Sitzung des Deutschen Bundestages am 31. 1. 1951. In: Verhandlungen, 1. WP, 4354–4357. 428 Lastenausgleich: Was den Leuten sagen? In: Der Spiegel, 22. 11. 1950, 5. Kunzes Entwurf sah eine zweiprozentige Tilgungsrate und eine Verzinsung der Abgabe in Höhe von vier Prozent vor. 429 Ebd. 430 Zur Gründung des ZvD siehe Ahonen, Expulsion, 29. Zur Großdemo in Bonn: Wenzel, Verschiebung, 131 f.; und Stickler, Ostdeutsch, 191. Die Akte B 126/5683 Bd. 3 im BArch Koblenz enthält eine Fülle an Forderungen. Die Vertriebenenverbände brachten sich zudem mit eigenen Gesetzesentwürfen und Memoranden ein. Vgl. z. B. Niederschrift über die Gesamtvorstandssitzung des Zentralverbandes der vertriebenen Deutschen, 20. 2. 1950; Memorandum zum Regierungsentwurf für den Lastenausgleich, 6. 11. 1950 (BT PA Berlin I 332 B 8). 431 Wenzel, Verschiebung, 137. Hierzu auch Die Unzufriedenheit marschierte auf. In: Sonntagsblatt, 4. 3. 1951, 17. 432 Die Güter dieser Welt. In: Der Spiegel, 21. 3. 1951, 26 f.; Die Unzufriedenheit marschierte auf. In: Sonntagsblatt, 4. 3. 1951, 17. Das „Sonntagsblatt“ sah in den Protestmärschen der Vertriebe-

308 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Jahr später, am 18. Februar 1951, eine von 60 000 Vertriebenen besuchte Großkundgebung in Bonn statt.433 Mit der Forderung einer sofortigen Abgabe konnte sich Kather zwar nicht durchsetzen, allerdings erreichte er eine Aufstockung des Lastenausgleichsfonds um 850 Millionen DM.434 Die SPD präferierte zunächst ein soziales Modell und kritisierte den Regierungsentwurf für die Aufnahme quotaler Elemente. Für Heinrich Albertz hatte der Entwurf „nur in der Überschrift etwas mit dem Lastenausgleich zu tun.“435 Angesichts der von Kather forcierten Oppositionsbildung innerhalb der Regierungsfraktion kam es in der Lastenausgleichsfrage allerdings zu Annäherungen zwischen einzelnen Strömungen der CDU und der SPD.436 Tatsächlich verlief die Frontlinie nicht parallel zu den parteipolitischen Fronten, sondern innerhalb der CDU eher zwischen vertriebenen und nichtvertriebenen Politikern. Wirtschaftsfreundliche CDU-Politiker und SPD-Politiker vertraten durchaus ähnliche Konzeptionen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. In einem Rundfunkinterview für den WDR, an welchem Kunze und der SPD-Abgeordnete Walter Seuffert teilnahmen, stellte Kunze eher die Gemeinsamkeiten zwischen SPD und CDU heraus. Zwar hatte Seuffert die quotale Konzeption abgelehnt, da sich diese nicht an der Bedürftigkeit, sondern den früheren Vermögensverhältnissen orientiere, zugleich bekannte sich der SPD-Politiker jedoch zu einem Mittelweg zwischen beiden Systemen, den auch der Regierungsentwurf gehe und den er ausdrücklich anerkannte.437 Umgekehrt priorisierte auch der CDU-Politiker Kunze die aus seiner Sicht der sozialen Gerechtigkeit entsprechende soziale Konzeption und zeigte sich befriedigt darüber, dass die SPD ähnliche Gedanken verfolge.438 Als Reaktion auf die Großdemonstration des ZvD im Februar 1951 solidarisierten sich einzelne SPD-Politiker mit der Bundesregierung. Der Oppositionspolitiker und SPD-Bundestagsabgeordnete Paul Stech, der in der schleswig-holsteinischen Flüchtlingsverwaltung an leitender Stelle aktiv war, stellte sich öffentlich auf die Seite des Bundesfinanzministers und sprach sich gegen die laut gewordenen Rücktrittsforderungen aus.439 Da die

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nenorganisationen ein Anzeichen dafür, dass die von den Vertriebenen ausgehende „politische Sprengkraft“ noch nicht entschärft sei. Auf eine solche Wendung“ habe der Kommunismus spekuliert.“ Wenzel, Verschiebung, 131 f. Adenauer ließ verlauten: „Mir war schon verwunderlich, daß Kat(h)er neuerdings bellen“ (Lastenausgleich: Die Güter dieser Welt. In: Der Spiegel, 21. 3. 1951, 26 f.). Lastenausgleich: Ein gutes Herz. In: Der Spiegel, 21. 5. 1952, 7. Grundzüge des endgültigen Lastenausgleichs nach dem Plan des Bundesfinanzministeriums (AdSD Bonn 1/HAAA 000 187). Zu Albertz, Position: Lastenausgleichsgesetze, Bd. I/1, 152. Wenzel, Verschiebung, 125. Gespräch über den Lastenausgleichsgesetzesentwurf vom 24. 1. 1951 im WDR mit Kunze und Seuffert (SPD) (BArch Koblenz B 150/3293). Kunze stimmte dem Kritikpunkt zu. Ebd. Umstritten war, ob der Lastenausgleich gemeinsam mit einem Feststellungsgesetz verabschiedet werden solle. Seuffert hatte dies abgelehnt, Kunze befürwortet. Lastenausgleich: Die Güter dieser Welt. In: Der Spiegel, 21. 3. 1951, 26 f. Über diese Großde-

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Vertriebenenorganisationen das quotale Modell eindeutig bevorzugten, suchte die SPD mit Blick auf das große Wählerpotential der Vertriebenen die Annäherung an den ZvD und einigte sich mit diesem im sogenannten „Albertz-Kompromiß“ auf Grundsätze, in welchem die SPD quotale Elemente dem Grundsatz nach anerkannte.440 Grundsätzlich sprach sich der Vorsitzende des Lastenausgleichsausschusses für eine Kombination aus, die sich sowohl aus quotalen als auch aus sozialen Elementen zusammensetzte.441 Diese Linie hatte er nicht nur in Unkel, sondern auch auf der Flüchtlingstagung der EKD in Königswinter 1950 bekräftigt, wo er sich gegen eine „alleinige Vermögensentschädigung“, die nur wenige begünstige, und für die Förderung des Existenzaufbaus aussprach, die er als Voraussetzung für eine „Vermögensumschichtung“ bewertete.442 Die Grenze markierte die Belastungsfähigkeit der Wirtschaft.443 Zugleich votierte er für einen Rechtsanspruch auf „mögliche Vermögensentschädigung.“444 Diese Kompromisslinie vertrat er auch im Deutschen Bundestag. Mit Blick auf die vermeintlich widersprüchlichen Prinzipien einer sozialen und quotalen Konzeption kritisierte er das Denken in sich gegenseitig ausschließenden Prinzipien: Wir wollen einen Weg, der weder rein quotal noch rein sozial ist, sondern wir wollen einen gesunden Weg, der weg von der Phrase, die diese Worte enthalten, zu der wirklichen Lösung durchdringt.445

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monstration berichtete auch das „Sonntagsblatt“: Die Unzufriedenheit marschierte auf. In: Sonntagsblatt, 4. 3. 1951, 17. Protokoll der 1. Besprechung zwischen Vertretern der SPD und des ZvD am 15. 3. 1951 in Bonn. In: Lastenausgleichsgesetze, Bd. I/1, 249. Anschließend mussten einige Streitpunkte zwischen Bundestag und Bundesrat ausgeräumt werden. Vgl. Zwölf Forderungen des Bundesrates. In: FAZ, 7. 6. 1952, 15; Lastenausgleich: Bis ans Lebensende. In: Der Spiegel, 31. 1. 1951, 18 f.; Lastenausgleich: Ein Denkmal gesetzt. In: Der Spiegel, 25. 6. 1952; und Lastenausgleich vor der Entscheidung. In: ChrWelt, 27. 7. 1950, 5. Z. B. Beratungsergebnisse zum Thema LAG in Unkeln am 13.–15. 5. 1950 (BArch Koblenz B 126/51552); und Gespräch über den Lastenausgleichsgesetzesentwurf vom 24. 1. 1951 im WDR mit Kunze und Seuffert (SPD) (BArch Koblenz B 150/3293); Stellungnahme von Johannes Kunze, 4. 4. 1950 (BArch Koblenz B 126/5682 Bd. 2). Der „Spiegel“ kritisierte hingegen Kunzes „Rentenprogramm“ als „ökonomischen Widersinn“ (Lastenausgleich: Ein Denkmal gesetzt. In: Der Spiegel, 25. 6. 1951, 8–10). Gegenüber dem Kompromiss war die Zeitschrift „Christ und Welt“ grundsätzlich skeptisch. Vgl. Lastenausgleich vor der Entscheidung. In: ChrWelt, 27. 7. 1950, 5. Kunze, Johannes: Lastenausgleich als christliche Verpflichtung. In: EvWelt, 1. 10. 1950, 577–579. Ebd. Ebd. Kursiv der Verfasser. Johannes Kunze während der ersten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über einen Allgemeinen Lastenausgleich. 115. Sitzung des Deutschen Bundestages am 31. 1. 1951. In: Verhandlungen, 1. WP, 4344.

310 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Zur Rechtfertigung der sozialen Komponente argumentierte er fast schon sozialdemokratisch, indem er auf die lange, auch vor dem Krieg bemerkbare soziale Ungleichheit aufmerksam machte, die eine rein quotale Lösung ausschlösse. Aber auch einer rein sozialen Lösung erteilte er eine Absage: Würden wir rein sozial im Sinne der Gedankengänge, die von extremen Seiten ausgehen, diesen Grundsatz zur Anwendung bringen, so würden wir in logischer Folge den Grundsatz der Anerkennung des Privateigentums aufgeben. […] Wollten wir aber nach dem Grundsatz der Anerkennung des Privateigentums jetzt mit eben der gleichen Fehlkonstruktion des überspitzt Quotalen handeln, dann würden wir […] völlig vergessen, wie denn die wirkliche Lage des deutschen Volkes ist […]. Mehr als 70 % des deutschen Volkes in der Vergangenheit und Gegenwart haben überhaupt kein Vermögen besessen […]. Diese 70 und mehr Prozent haben von dem gelebt und leben heute noch von dem, was sie mit ihrer Hände Arbeit […] schaffen können. Ich würde also von vornherein bei einem rein quotalen Denken dann nur echte Vermögensverluste, die in Sachwerten, in Grund und Boden, in Häusern, in landwirtschaftlichen oder sonstigen Vermögen bestünden, heranziehen, um zwischen den Besitzenden und den Geschädigten einen Ausgleich herbeizuführen. Dann würde ich die 70 % übergehen, dann würde ich den sozialen Gedanken totschlagen.446

Schließlich empfahl er, zu einer gesunden mittleren Lösung zu kommen und eine Verständigung zwischen den Auffassungen beider Teile dieses Hauses herbeizuführen, weil ja die Auffassungen zu diesem Punkte nicht etwa parteipolitisch festgelegt sind […].447

Kunze nahm eine Mittlerrolle in dieser politischen Konstellation ein und sprach sich für einen Kompromiss aus beiden Konzeptionen aus. Diese Linie vertrat er bereits während der ersten Beratungen in Unkel im Frühjahr 1950 und während der Bundestagsverhandlungen in den Jahren 1950 und 1951, wobei sich die Mischungsverhältnisse zwischen den Konzeptionen im Laufe der Zeit zugunsten der quotalen Konzeption deutlich verschoben. Einerseits verteidigte er die am Primat der Wirtschaft orientierte und die eine soziale Konzeption bevorzugende Regierungspolitik im Bundestag und vor allem gegenüber Kather, andererseits befand er sich in der Situation, gegenüber dem 446 Daneben bekräftigte er bereits bekannte Gesichtspunkte wie den Primat des Existenzaufbaus, die Belastung der bestehenden Vermögen bis zur Grenze der wirtschaftlichen Tragfähigkeit, die Orientierung an Einheitswerten und die soziale Staffelung auf der Abgabenseite. Strittig blieben die Bemessung der Einheitswerte, die Hypothekengewinnabgabe, die Obligationsgewinnabgabe, die Währungsgewinnabgabe, die Frage der Berücksichtigung von Währungs- und Hortungsgewinne die Kriegsschadenrenten und die Hausratsentschädigung. Siehe Johannes Kunze während der ersten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über einen Allgemeinen Lastenausgleich. 115. Sitzung des Deutschen Bundestages am 31. 1. 1951. In: Verhandlungen, 1. WP, 4344–4346. 447 Ebd., 4346.

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Finanzminister die Aufnahme quotaler Elemente verteidigen zu müssen, der auf eine Entschädigungskomponente gänzlich verzichten wollte, vor einer zu hohen Belastung der Volkswirtschaft warnte und primär wirtschaftliche Interessen vertrat. Für Norbert Friedrich war es auch der Verdienst des Ausschussvorsitzenden, dass überhaupt ein Kompromiss in der Lastenausgleichsfrage gelang.448 Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass die Vertriebenenverbände und insbesondere Linus Kather eine quotale Konzeption bevorzugten, so dass an der Aufnahme quotaler Elemente kein Weg vorbeiführte. Rückblickend reflektierte Kunze den Lastenausgleich in einem 1953 erschienenen Aufsatz „Politische Diakonie“, der sich als intellektuelle Verarbeitung oder als nachträgliche Legitimation des Vermittlungsgedankens interpretieren lässt. Indem er dies als „politische Diakonie“ bezeichnete, vollzog Kunze explizit den Anschluss an protestantische sozialethische Traditionsbestände und Argumentationsfiguren, die er allerdings frei interpretierte, an den spezifischen Kontext der Lastenausgleichsthematik und sein politisches Handeln anpasste. Unter „politischer Diakonie“ hatte Kunze ja die Vermittlung von wirtschaftlichen Erfordernissen und sozialer Gerechtigkeit verstanden.449 Daher ist auch Friedrichs These, Kunze habe stets im Interesse der Bundesregierung gehandelt und sich die Regierungsposition eines wirtschaftsfreundlichen Lastenausgleichs zu Eigen gemacht, zu hinterfragen.450 Zwar verstand sich Kunze, wie dargelegt, tatsächlich als Verteidiger des Regierungshandelns und priorisierte die Wirtschaft vor der sozialen Gerechtigkeit, d. h. auch gegenüber den Ansprüchen der Geschädigten, allerdings konnte auch gezeigt werden, dass Kunze als eigenständiger Akteur in Erscheinung trat, der den Konflikt mit einem wirtschaftsfreundlichen Finanzminister nicht scheute und auf Einhaltung eines bereits errungenen, von ihm

448 Friedrich, Kunze, 76. Für Friedrich entsprach der Kompromiss auch einem „Charakterzug“ Kunzes (ebd., 57). Auch die sozialgeschichtliche Literatur hebt Kunzes Vermittlungstätigkeit hervor und führt den Kompromiss auf Kunze zurück. Siehe Goschler/R fner, Ausgleich. In: Sozialpolitik, Bd. 3, 752. Dafür spricht, dass Kunzes erstes Memorandum noch keine quotale Komponente enthalten hatte, während er später den errungenen Kompromiss verteidigte. In der zeitgenössischen Presse ist eine andere Einschätzung zu finden. Nach dem „Spiegel“ gedachte Kunze, seinen Entwurf „unter Niederkämpfung aller Änderungsanträge aus Regierungsparteien und Opposition durch den Bundestag zu peitschen“ (Lastenausgleich: Ein Denkmal gesetzt. In: Der Spiegel, 25. 6. 1951, 8–10). 449 Die Interpretation Friedrichs, Kunze habe politische Diakonie mit sozialer Gerechtigkeit identifiziert, lässt sich anhand von Kunzes Aufsätzen nicht bestätigen. „Politische Diakonie“ war für Kunze ja keine einseitige Entscheidung zugunsten der sozialen Gerechtigkeit, sondern zielte gerade auf die Vermittlung von sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Interessen. Vgl. Friedrich, Kunze, 76; und Kunze, Diakonie. Richtig ist jedoch, dass Kunze mehrfach das Postulat erhob, dass sich der Lastenausgleich am „Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit“ orientieren müsse (Johannes Kunze auf der ersten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über einen Allgemeinen Lastenausgleich. 115. Sitzung des Deutschen Bundestages am 31. 1. 1951. In: Verhandlungen, 1. WP, 4344–4347). 450 Friedrich, Kunze, 78.

312 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung vermittelten Kompromisses bestand.451 Von einem einheitlichen Regierungshandeln kann zudem keine Rede sein, weil der Konflikt mitten durch die Regierungskoalition hindurchging und die Mitglieder der Bundesregierung und der Regierungsfraktion ihre eigenen politischen Agenden verfolgten. Nach Friedrich sei es Kunze nicht um die großen politischen Konzepte, sondern um die „Kärrnerarbeit“ des politischen Tagesgeschäftes gegangen.452 Dieser Befund mag zwar richtig sein, sollte jedoch in den spezifischen Kontext der Lastenausgleichsproblematik eingeordnet werden: Es versteht sich von selbst, dass ein solches Kompromisswerk, das vielfältige Interessen zu berücksichtigen hatte und zudem ökonomisch, juristisch und technisch ausgesprochen kompliziert war, trotz der gesellschaftspolitischen Emphase, der sozialreformerischen Ansprüche und Neuordnungssemantiken in die mühselige und kleinteilige Arbeit des Gesetzgebungsprozesses übersetzt werden musste. Dies vermag auch zu erklären, warum die aufgeladene Semantik derjenigen, die eine „Neuordnung des gesamten Sozialgefüges“ postulierten oder diagnostizierten, allmählich zugunsten technischer und politischer Kleinarbeit und zugunsten konkreter Detailfragen verschwand. In einem anderen Punkt ist Friedrichs Interpretation jedoch zuzustimmen. So ist der Zweifel berechtigt, ob der Lastenausgleich Ausdruck einer „politischen Mission des Kompromisses“ war.453 Angesichts der schwierigen Interessenlage, auch innerhalb der CDU, war wohl eine andere Entscheidungsfindung als die des pragmatischen Kompromisses gar nicht möglich. Vermutlich umschrieb der Begriff der „politischen Diakonie“ weniger einen politischen Gestaltungsauftrag, den es deduktiv umzusetzen galt, sondern präsentierte sich vielmehr als Begründungs- und Reflexionsressource, mit der sich das politische Handeln nachträglich legitimieren oder theoretisieren ließ. Dazu rezipierte er den in der theologischen Literatur verbreiteten Begriff „politische Diakonie“ verkürzt, stattete ihn mit einer spezifischen Bedeutung aus und passte ihn an die Lastenausgleichsthematik an. Damit korrespondiert eine zweite Beobachtung: Kunze griff lediglich innerhalb protestantischer Kommunikationszusammenhänge auf christlich oder religiös konnotierte Formulierungen zurück; außerhalb – z. B. in seinen Bundestagsreden oder in der Presse454 – sind christlich-religiöse Argumente kaum zu finden, obwohl er sich 451 Grundsätzlich hatte auch Adenauer einen Primat der Wirtschaft vertreten. Das geht hervor aus: Adenauer, Erklärung der Bundesregierung. 5. Sitzung des Deutschen Bundestages, 20. 9. 1949, In: Verhandlungen, 1. WP, 22–30, hier 22. 452 Friedrich, Kunze, 82. 453 Ebd., 81. 454 In der allgemeinen Presse äußerte sich Kunze gelegentlich. In den meisten Artikeln argumentierte er ebenfalls gesellschaftspolitisch-säkular. Mit Positionierungen hielt er sich zurück. Stattdessen berichtete er über den derzeitigen Stand der Gesetzgebung und die einzelnen Komponenten des Gesetzes. Vgl. z. B. Kunze, Johannes: Der Lastenausgleich. Eine Aufgabe für 30 Jahre. In: Rheinischer Merkur, 19. 10. 1951; ders.: Der Lastenausgleich wird endlich akut. In: Die Zeit, 13. 3. 1952, 6; und ders., Lastenausgleich. Sein Aufsatz „Politische Diakonie“, in welchem er explizit mit protestantischen Denkfiguren argumentierte, erschien in einem

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für eine „Verchristlichung der Politik“ ausgesprochen hatte. Der Gebrauch bestimmter Argumentationszusammenhänge war folglich vom Kommunikationskontext abhängig und passte sich den jeweiligen kontextbedingten Argumentations- und Handlungslogiken an.455 Die Formel der politischen Diakonie schien geeignet, Sozialpolitik innerhalb protestantischer Kommunikationszusammenhänge christlich rückzukoppeln, zu reflektieren oder zu legitimieren, während ihr in nicht-protestantischen oder nicht-christlichen Kommunikationszusammenhängen keine legitimationsstiftende Kraft zukam. Dieses charakteristische Verhalten hatte letztlich eine, wenn auch nicht intendierte, „Selbstsäkularisierung“ und damit einen christlich-protestantischen Profilverlust zufolge, ermöglichte andererseits die Anschlussfähigkeit an politische Handlungslogiken und den gesellschaftlichen Diskurs.456 Schließlich stellt sich die Frage, ob sich in Kunzes politischem Handeln etwas spezifisch Protestantisches fassen lässt. Zunächst ist feststellbar, dass Kunze in protestantischen Kommunikationszusammenhängen auftrat, an religiös-protestantischen Debatten partizipierte, dabei auf Denkfiguren der protestantischen Sozialethik zurückgriff und eine Scharnierstelle und Vermittlungsinstanz im protestantischen Interessenvertretungsprozess war. In seinem Aufsatz „politische Diakonie“ entfaltete er zudem eine umfassende „Rechristianisierungsvision“, jedenfalls forderte er die „Anerkennung der christlichen Ethik“ in allen Lebensbereichen. Die von Friedrich vertretene Auffassung, dass Kunze „den evangelischen Standpunkt offensiv“ vertreten habe, lässt sich in Bezug auf den politischen Prozess allerdings nur schwer bestätigen, zumal Friedrich nicht deutlich macht, worin das „Evangelische“ jenseits institutioneller kirchlicher Eigeninteressen bestünde.457 Die Identifizierbarkeit protestantischer Motive setzt eine inhaltliche, deduktive Bestimmung von „Protestantismus“ voraus, die hier gerade nicht geleistet werden soll und kann. Ähnlich verhält es sich mit der performativen Ebene. Auch hier scheint es problematisch, seine praktische Politik des Kompromisses im Bundestagsausschuss monokausal protestantisch rückzubinden. Angesichts der schwierigen Interessenkonstellation entsprach diese „Politik des Kompromisses“ auch Sachnotwendigkeiten, die er nachträglich zu einer „politischen Mission“ stilisierte.458 Zugleich war die Idee des Kompromisses in der protestantischen politischen Ethik und als handlungsleitendes Konzept im Nachkriegsprotestantismus durchaus verbreitet, wie die Evangelischen Akademien oder die

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Sammelband mit dem Titel „Deutschlands Aufgabe. Stimmen evangelischer Politiker“, wo ausschließlich protestantische Politiker publizierten. Dieser Befund korrespondiert mit: Kçnemann et al., Interessenvertretung, 199. So die Beobachtung Kçnemanns et al. zum religiösen Akteur. Siehe ebd., 236. Friedrich, Kunze, 73 und 75. Kunze, Diakonie.

314 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Ethiken der Theologen Eberhard Müller, Helmut Thielicke und Wolfgang Trillhaas verdeutlichen.459 Demnach lässt sich Kunzes Politik des Kompromisses nicht auf protestantische Motive, Denktraditionen oder Selbstverständnisse engführen, aber es lassen sich Konvergenzen zwischen Kunzes politischem Handeln und einzelnen protestantischen Politikkonzepten beobachten. Dies bedeutet nicht, dass Kunze als protestantischer Akteur ausscheidet, denn sein Engagement in protestantischen Kommunikationsstrukturen und für kirchliche Interessen lässt auf ein hohes Interesse und eine Verbundenheit mit der evangelischen Kirche schließen. In seinen Aufsätzen propagierte Kunze mit großem Pathos eine Rechristianisierung der Gesellschaft und stellte die christliche Ethik über die Rechtsordnung. Zudem argumentierte er innerhalb protestantischer Kommunikationskontexte explizit mit protestantischen Begründungs-, Reflexions- und Legitimationsfiguren, wie seine grundsätzlichen Überlegungen zum Begriff der „politischen Diakonie“ zeigen. In nicht protestantischen Kommunikationsräumen verzichtete er allerdings auf deren Gebrauch. Insgesamt lassen sich also zwei abschließende Befunde festhalten: Erstens nahmen gesamtchristliche Begründungsfiguren in der politischen Selbstkonzeption Kunzes einen größeren Stellenwert ein als konfessionalistischprotestantische, auch wenn er in der operativen Tagespolitik und der materiellen Ressourcensicherung eine große Loyalität gegenüber der evangelischen Kirche bewies. Zweitens zeigt sich, dass religiös-soziale Motive und Gesinnungen als „implizites Wertefundament“460 sicherlich vorhanden, aber im politischen Prozess jenseits der materiellen und institutionellen Interessenvertretung explizit und implizit kaum erkennbar waren, was aber auch der ökonomischen, juristischen, interessenpolitischen und technischen Komplexität der Lastenausgleichsdiskussion geschuldet ist. Dies lässt sich nicht zuletzt als Anpassung an die Funktions- und Argumentationslogiken politischsäkularer Kommunikationskontexte deuten.461 Einzelne normative Grundüberzeugungen sind nicht mit einzelnen Interessen und Positionen identifizierbar, im komplexen Aushandlungs- und Gesetzgebungsprozess kaum erkennbar und somit empirisch kaum greifbar. Die Konstruktion einer linearen 459 Konsens und Kompromiss waren der programmatische Kern der evangelischen Akademien. Der Gründungsdirektor der evangelischen Akademie Bad Boll, Eberhard Müller, wollte seine Akademiearbeit am Leitbegriff des Kompromisses ausgerichtet verstanden wissen. Im ESL deutete er den Kompromiss theologisch. Vgl. M ller, Art. Kompromiss. In: ESL 1954, 606 f. Dabei konnte Müller an verschiedene theologische Entwürfe anknüpfen. Thielicke widmete sich in seiner theologischen Ethik der Notwendigkeit des Kompromisses. Während Thielicke diese als Folge des Sündenfalls interpretierte, da Gott mit der gefallenen Welt einen Kompromiss geschlossen habe, diskutierte Wolfgang Trillhaas diesen unter der Voraussetzung einer „Ethik der Demokratie.“ Vgl. Thielicke, Theologische Ethik, Bd. II/1, 56–196. Später auch Trillhaas, Problem; und ders., Ethik, 407–410. Siehe hierzu auch den Beitrag der praktischen Theologin Sabrina Hoppe: Hoppe, Konsenskultur. 460 Kçnemann et al., Interessenvertretung, 180. 461 So auch Ebd., 226, 173 und 273.

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Verbindung zwischen den individuellen Motiven und Prägungen religiöspolitischer Akteure einerseits und einzelnen politischen Entscheidungen andererseits würde der Komplexität der „religiösen Interessenvertretung“ und der Mehrdimensionalität individueller Akteure nicht gerecht. Deren Entscheidungen waren und sind immer das Ergebnis eines vielschichtigen Geflechts aus situativen Faktoren, Kommunikationsstrukturen, parteitaktischen Interessen, politisch-wirtschaftlichen Überzeugungen, strukturellen Zwängen und unhinterfragten, nicht explizierten normativen Vorannahmen. Angesichts dieser Überlegungen ist zu fragen, ob der von Könemann et al. gebrauchte Begriff des religiösen Akteurs den Fokus nicht eindimensional auf die religiösen Motive verengt, während strukturelle, politische, wirtschaftliche, kommunikative und situative Aspekte ausgeklammert werden, die das Handeln eines Akteurs gleichermaßen konstituierten. 3.5.4 Kirchliche Unterstützung für staatliche Initiativen Politik und Verwaltung waren nicht nur Objekte kirchlicher Einflussnahme, sondern staatliche und politische Akteure zeigten sich an einer Abstimmung mit kirchlichen Akteuren interessiert und baten kirchliche Akteure um Unterstützung für ihre politischen Ziele, aber auch für persönliche Ambitionen, wie an drei Beispielen exemplarisch gezeigt wird. 1951 bat, so das erste Beispiel, der Vertriebenenminister Hans Lukaschek den bayerischen Landesbischof Hans Meiser um eine Initiative beim Europarat mit dem Ziel, eine Lastenausgleichsanleihe der Weltbank auszugeben.462 Dieses Anliegen wollte das bayerische Landeskirchenamt gerne unterstützen: „Wir haben uns damals auf die Bitte des Herrn Flüchtlingsministers hin mit großer Freudigkeit und höchster Beschleunigung für die Sache eingesetzt.“463 Ein von Bischof Meiser ausgearbeiteter Entwurf wurde Eugen Gerstenmaier zur Begutachtung weitergeleitet,464 der über gute Kontakte in die internationale Ökumene verfügte, mit internationalen Akteuren und Organisationen in Kontakt stand und auf Bitten Adenauers und mit der Unterstützung des Hohen Kommissars McCloy 462 Schreiben von Heinrich Riedel an Hansjörg Ranke, 27. 11. 1952 (EZA Berlin 87/126). Im Vorfeld hatte eine Aussprache zwischen Lukaschek, Landesbischof Hans Meiser und Staatssekretär Schreiber stattgefunden, in der Lukaschek Meiser um eine kirchliche Initiative gebeten hatte. Hierzu Vermerk über die Besprechung zwischen Landesbischof Hanns Meiser, Minister Hans Lukaschek und Staatssekretär Ottomar Schreiber am 26. 11. 1951 (EZA Berlin 87/136). 463 Schreiben von Heinrich Riedel an Hansjörg Ranke, 27. 11. 1952. Riedel erklärte: „Uns lag daran, dass überhaupt etwas Entscheidendes geschieht und bald etwas geschieht“ (Schreiben von Heinrich Riedel an Hansjörg Ranke, 3. 12. 1952, EZA Berlin 87/126). 464 Lukaschek hatte darum gebeten, den Entwurf Gerstenmaier zur Begutachtung vorzulegen. Schreiben von OKR Heinrich Riedel an Landesbischof Hans Meiser, 29. 11. 1951 (EZA Berlin 87/126).

316 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung die „Internationalisierung der Flüchtlingsfrage“ vorantrieb.465 In diesem Kontext hatte Gerstenmaier bereits 1948 mit dem Präsidenten der USA Harry Truman konferiert und 1950 vor dem Europarat referiert. Vor dem Europarat kritisierte er den Ausschluss deutscher Flüchtlinge aus der Betreuung durch die UN-Flüchtlingsabteilung; außerdem plädierte er für die Erweiterung der Kompetenzen des Hohen UN-Kommissars für Flüchtlingsfragen „auf finanzielle, materielle, soziale und technische Hilfsmaßahmen“ und die Einrichtung eines internationalen Büros, das die Flüchtlingsbetreuung besser koordinieren könne und beim Europarat angesiedelt sein soll.466 Schließlich baute Gerstenmaier ein „Sekretariat für Flüchtlingshilfe“ auf, das vom Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages mit 30 000 DM unterstützt wurde und das der besseren, internationalen Koordination dienen sollte.467 Mehrmals warb Gerstenmaier im Ausland um Kredite zur Vorfinanzierung des Lastenausgleichs.468 Die Eingabe Lukascheks hielt er jedoch für unzweckmäßig, denn die Einrichtung einer Zweigniederlassung der Weltbank ginge am Problem vorbei und sei auf ein „fehlerhaftes Petitum“ des Flüchtlingsministers zurückzuführen.469 Entscheidend sei, „in welcher Weise ein internationaler Kredit zur Vorfinanzierung des Lastenausgleichs aufgebracht werden kann.“470 465 Dies geht hervor aus: McCloy unterstützt Gerstenmaier. In: FAZ, 23. 11. 1949, 1. 466 Gerstenmaier, Eugen: Rede vor der Assembl e des Europarates am 19. 8. 1950 (EZA Berlin 87/ 134). Zu seinem internationalen Engagement auch ders.: Bleibende Aufgaben und neue Wege in der Arbeit des Hilfswerkes. Vortrag auf der Konferenz der Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks am 30. 8. 1949 (ADW Berlin ZB 934); ders.: Stichwortmäßige Wiedergabe der Eröffnungsrede des Herrn Dr. Gerstenmaier auf der Karlshöhe am 16. 8. 1948 (ADW Berlin ZB 946); und ders.: Flüchtlingshilfe im Weltmaßstab. Vortrag auf der Arbeitstagung über Fragen der Heimatvertriebenen vom 17.–21. 2. 1951 in Bad Boll (EZA Berlin 2/2140). Insgesamt auch Gniss, Politiker, 221–237. Es ist nicht auszuschließen, dass Gerstenmaier dem Gespräch mit Truman in seinen später gehaltenen Reden eine größere Bedeutung zusprach, als diesen tatsächlich zukam. Tatsächlich war dieses Gespräch von kurzer Dauer. 467 Gniss, Politiker, 232. Seine Initiativen vor dem Europarat waren letztlich erfolglos, da dieses Gremium nur mit begrenzten Kompetenzen ausgestattet war (ebd., 283). Immerhin war das von ihm ins Leben gerufene, vom Bundestag finanzierte und von Adenauer unterstützte „Sekretariat für Flüchtlingshilfe“ ein wirkungsvolles Koordinationsinstrument (ebd., 235–237). Eine Wohnungsbauinitiative, für die Gerstenmaier bei der UN und auf europäischer Ebene geworben hatte, konnte in einem zweiten Anlauf realisiert werden (ebd., 234 f.). 468 Ders.: Flüchtlingshilfe im Weltmaßstab. Vortrag auf der Arbeitstagung über Fragen der Heimatvertriebenen vom 17.–21. 2. 1951 in Bad Boll (EZA Berlin 2/2140). Inwieweit diese Initiative erfolgreich war, wegen der Gerstenmaier mehrmals nach Washington reiste, konnte nicht ermittelt werden. Auch die Biografie von Daniela Gniss gibt hierüber keinen Aufschluss. Vgl. Gniss, Politiker, 234 f. 469 Schreiben von Eugen Gerstenmaier an Hans Meiser, 20. 12. 1951 (EZA Berlin 87/126). Lukaschek hatte allerdings keine Zweigstelle der Weltbank, sondern die Gründung einer Vertriebenenbank gefordert. Siehe Vermerk über die Besprechung zwischen Hans Meiser, Hans Lukaschek und Schreiber am 26. 11. 1951 (EZA Berlin 87/136). 470 Schreiben von Gerstenmaier an Landesbischof Hans Meiser, 20. 12. 1951 (EZA Berlin 87/126). Gerstenmaier wies darauf hin, dass er sich bereits für einen solchen Kredit eingesetzt habe.

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Auch in der Umsiedlungsfrage, so das zweite Beispiel, erbat das Bundesvertriebenenministerium die Unterstützung der Kirche. Das Gros der Vertriebenen war auf die Hauptaufnahmeländer Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein verteilt. Die ländlichen Regionen dieser Länder boten zwar Wohnraum, jedoch keine Arbeitsplätze. Die Länder Bayern und SchleswigHolstein hatten unter einer besonders hohen Arbeitslosigkeit zu leiden.471 Aus diesem Grund wurde die Forderung nach sogenannten Sekundär- oder Binnenumsiedlungen erhoben, um die Vertriebenen in die industriestarken Regionen des Ruhrgebietes umzusiedeln, in denen Arbeitsplätze, jedoch zu wenig Wohnraum vorhanden waren. 1949 wurde daher ein Umsiedlungsprogramm beschlossen.472 Die Länder konnten sich jedoch nicht auf eine Aufnahmequote einigen; es wurden lediglich punktuelle Umsiedlungen mit begrenzten Umsiedlungskontingenten beschlossen. Statt der vereinbarten 300 000 Vertriebenen wurden im Jahr 1951 lediglich 21 000 Vertriebene umgesiedelt.473 Die Aktivität und Hilfswilligkeit der Länder lasse „zu wünschen übrig“, stellte Hans Lukaschek ernüchtert fest.474 Aufgrund der föderalen Struktur hatte das Bundesvertriebenenministerium nur begrenzte Einflussmöglichkeiten und konnte die Mithilfe der Länder erbitten, jedoch nicht erzwingen. Daher regte Staatssekretär Schreiber ein Wort der Kirche an und nannte zwei Gesichtspunkte, die in diesem Schreiben Erwähnung finden sollten: Für eine öffentliche Erklärung des Rats der EKD nannte Herr Staatssekretär Schreiber die beiden folgenden Gesichtspunkte: 1. Der Bund möge gebeten werden, den Mitteln für den Wohnungsbau für Vertriebene Vorrang zu geben. 2. Die Länder seien daraufhin anzusprechen, dass das Problem der Umsiedlung nicht nur den Bund angehe, sondern in ebendemselben Maße die Länder und jeden einzelnen Deutschen.475

In der Folge wurde ein Schreiben des Ratsvorsitzenden Otto Dibelius zur Umsiedlungsfrage aufgesetzt, das vor der Absendung dem Staatssekretär zur Begutachtung vorgelegt wurde. Schreiber erklärte hierzu seine volle Zustim471 Schreiben von Hansjörg Ranke an Otto Dibelius, 18. 12. 1951 (EZA Berlin 87/136). 472 Parisius, Aufnahme, 26. Im Laufe der 1950er Jahre wurden die Wanderungsbeschränkungen aufgehoben. Vermutlich ist den freiwilligen Wanderungen die größere Bedeutung als den staatlichen Umsiedlungsprogrammen zuzusprechen. Bis 1960 wechselten 10 Millionen Vertriebene ihren Wohnort. Siehe ebd. 473 Schreiben von Heinz Brunotte an die westdeutschen Kirchenleitungen vom 9. 1. 1952 (EZA Berlin 87/136). 474 Vermerk über die Besprechung zwischen Landesbischof Meiser, Minister Lukaschek und Staatssekretär Schreiber am 26. 11. 1951 (EZA Berlin 87/136). Aus diesem Grund hatte sich auch der Flüchtlings- und Sozialminister Albertz für eine Zentralisierung der Kompetenzen und eine Entmachtung der Landesminister ausgesprochen. So z. B. Schreiben von Heinrich Albertz an Chefredakteur Axel de Vries, 26. 1. 1951 (AdSD Bonn 1/HAAA 000 141). 475 Vermerk über die Besprechung zwischen Landesbischof Meiser, Minister Lukaschek und Staatssekretär Schreiber am 26. 11. 1951 (EZA Berlin 87/136).

318 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung mung.476 Inhaltlich wurde das langsame Tempo der Umsiedlung kritisiert, vor einem Vertrauensverlust der Vertriebenen in Regierungsstellen sowie vor der „Bereitschaft zu radikalen Maßnahmen“ gewarnt.477 Zudem wurde an die Länder appelliert, „größere Kraftanstrengungen“ für die Umsiedlungen zu leisten.478 Fast gleichzeitig befassten sich auch das Hilfswerk der evangelischen Kirche und einzelne betroffene Landeskirchen mit dem Problem der Umsiedlung. Auslöser waren zwei Sachverhalte: Die Vertriebenen übten selbst Druck aus, indem sie sich organisierten, um notfalls die Umsiedlung zu erzwingen. Es entstand eine sogenannte Flüchtlings-Treckbewegung, die mit der eigenständigen Umsiedlung drohte, sollte die Umsiedlung nicht vorangetrieben werden.479 Daneben war vermehrt zu beobachten, dass Länderkommissionen aus den weniger stark belasteten, industrialisierten Gebieten aus dem Westen Deutschlands die besonders qualifizierten und arbeitsfähigen Vertriebenen nach arbeitsmarktpolitischen Kriterien auswählten. Dabei sei es wie auf dem „Sklavenmarkt“ zugegangen, wie der Bischof von Schleswig, Reinhard Wester, bemerkte: Wir möchten in diesem Zusammenhang nicht daran erinnern, wie abstossend [sic] einige Länderkommissionen gewirkt haben, die bei uns erschienen sind, um die für die Industrie ihrer Länder erforderlichen Arbeitskräfte anzuwerben. Es ging dabei nicht selten zu wie auf einem Sklavenmarkt. Jedenfalls hat es unsere Flüchtlingskreise bitter berührt, wie man selbst die Wenigen, die im Laufe der Jahre umgesiedelt wurden, lediglich nach Aussehen, Gesundheit und Arbeitskraft auswählte und es kaltherzig ablehnte, das sogenannte ,soziale Gepäck‘, d. h. Alte und Kranke, zusammen mit ihren Angehörigen in die neue Heimat zu nehmen.480

In einem Schreiben an die Landeskirchen und die Hauptbüros des Hilfswerks in den einzelnen Landeskirchen leitete Paul Collmer diese Kritikpunkte an der bisherigen Umsiedlungspraxis weiter, und erhob die Forderung, dass das Hilfswerk in den Umsiedlerausschüssen vertreten sein müsse.481 Insgesamt 476 Schreiben von Otto Dibelius an Hansjörg Ranke, 28. 12. 1951; und Schreiben von Hansjörg Ranke an Otto Dibelius, 3. 1. 1952 (EZA Berlin 87/136). 477 Schreiben von Otto Dibelius an die Bundesregierung, 8. 1. 1952; Schreiben von Heinz Brunotte an die westdeutschen Kirchenleitungen, 9. 1. 1952 (EZA Berlin 87/136). Abgedruckt in Merzyn, Kundgebungen, 127. 478 Schreiben von Otto Dibelius an die Bundesregierung zur Umsiedlung, 8. 1. 1952 (EZA Berlin 87/136). 479 Schreiben von Bischof Reinhard Wester an das Zentralbüro des Hilfswerks, 10. 4. 1952 (ADW Berlin CAW 682). Zur Entstehung der Trekkbewegung: Linck, Anfänge, 249–251. Zu den Sekundärwanderungen: Parisius, Aufnahme. 480 Schreiben von Reinhard Wester an das Zentralbüro des Hilfswerks, 10. 4. 1952 (ADW Berlin CAW 682). 481 Schreiben von Paul Collmer an die Bevollmächtigten und Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks und die evangelischen Landeskirchen vom 27. 3. 1952 (ADW Berlin CAW 682); auch Protokoll über eine Besprechung mit den Hauptbüros über die Umsiedlung der Vertriebenen, 6. 3. 1952 (ADW Berlin CAW 682).

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sollten die Kirchengemeinden zur „Überwindung des Egoismus“ aufgerufen und der Staat auf seine „Pflicht“ hingewiesen werden.482 Zugleich wurden kirchliche Umsiedlungsstellen zur Vermittlung von Arbeit und Wohnung gegründet. Nach Rudolph habe diese Initiative „zahlreiche Aktivitäten zur Wohnraum- und Arbeitsbeschaffung in den Gemeinden der Aufnahmekirchen“ ausgelöst.483 Zudem wurde eine Umsiedlungs- und Arbeitsvermittlungsinitiative des Generaldirektors der Deutschen Kohlenbergbauleitung, Heinrich Kost, unterstützt.484 Gerade dieses Vorhaben, das durch die Vermittlung von Hermann Kunst an die EKD herangetragen wurde, wurde allerdings auch dafür kritisiert, dass sie mit einem „kirchlichen Gesicht“ erscheine, obwohl sie „ausgesprochen kapitalistische Züge“ trage.485 Die Positionierung des Hilfswerks zielte nicht nur, wie das vom Bundesvertriebenenministerium initiierte Schreiben, auf die Beschleunigung und Intensivierung der Umsiedlung, sondern lenkte den Blick auf die sozial Benachteiligten, das sogenannte „soziale Gepäck.“ Daneben bot das Hilfswerk mit Blick auf den Wohnungsmangel die flächendeckende Struktur aus Gemeinden und Hilfswerkbüros an.486 Ein drittes Beispiel illustriert die enge, interessenpolitische Kooperation und gegenseitige Beeinflussung von staatlichen und kirchlichen Akteuren, wenn es um persönliche Ambitionen ging. Der Präsident des Bundesamtes für Soforthilfe, Baron von Manteuffel-Szoege, verfolgte die Ambitionen, nach der Verabschiedung des Lastenausgleichsgesetzes und der Umwandlung des Hauptamtes für Soforthilfe in ein Lastenausgleichsamt Präsident der neu zu schaffenden Bundesbehörde zu werden. Daher wünschte er sich eine starke und vom Finanzministerium unabhängige Stellung des Präsidenten des Las-

482 Schreiben von Paul Collmer an die Bevollmächtigten und Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks und die evangelischen Landeskirchen, 27. 3. 1952 (ADW Berlin CAW 682). 483 Rudolph, Kirche Bd. I, 471. Rudolph nennt keine konkreten Zahlen. 484 Diese Initiative wurde auch als Kost-Plan bezeichnet und ging davon aus, „daß von den rund 51 000 Arbeitslosen unter den etwa 300 000 Lagerinsassen nach den Erfahrungen der Arbeitsämter 75 % der Männer und 25 % der Frauen ein konkretes Arbeitsangebot annehmen würden, die Zahl der unterzubringenden Erwerbspersonen damit etwa 30 000 betragen würde […]. Bei etwa 15 Millionen Arbeitnehmern hätte dies – statistisch gesehen – bedeutet, daß ein Betrieb mit 1 000 Beschäftigten nur zwei zusätzliche Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen und für diese zwei samt ihren Familien Wohnungen zu bauen hätte. Da die Belastungen für diesen Wohnungsbau über den Lastenausgleich verrechnet werden konnten, würde sich so mit relativ geringem finanziellen Aufwand des einzelnen Unternehmens aufs Ganze gesehen ein großer Effekt zur Lösung des Umsiedlungsproblems erzielen lassen“ (Ebd., 472). Die Korrespondenz dazu ist überliefert in EZA Berlin 632/2 und EZA Berlin 87/137. 485 Schreiben von Verbandsdirektor Baader an Hermann Maurer, 2. 2. 1953 (EZA Berlin 632/2). 486 So auch ein gemeinsames Arbeitstreffen zwischen Vertriebenenminister Oberländer und den westdeutschen Kirchenleitungen. Vgl. Niederschrift über das Gespräch „Die Verantwortung der evangelischen Kirche für die Vertriebenen“ am 18./19. 3. 1957 in der evang. Akademie in Loccum (EZA Berlin 87/130); und Gutachten aufgrund des Gesprächs über die Verantwortung der Kirche für Vertriebene, Loccum, 18./19. 3. 1957 (EZA Berlin 87/130).

320 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung tenausgleichsamtes und bat die evangelische Kirche um Unterstützung für dieses Anliegen. So fragte er bei Bischof Dibelius an, ob es nicht der evangelischen Kirche möglich sei, zugunsten einer möglichst selbständigen Stellung des Präsidenten des Hauptamtes für Soforthilfe nach Inkrafttreten des kommenden Gesetzes einzutreten. Er begründete seine Bitte damit, dass einem vom Finanzministerium abhängigen Präsidenten […] es in Zukunft bei einem etwaigen Regierungswechsel nicht mehr wie bisher möglich sein werde, der Kirche Mittel aus dem Lastenausgleich in dem bisherigen Umfang zuzuleiten.487

Dieses strategisch begründete Anliegen wurde dem Vorsitzenden des Lastenausgleichsausschusses, Johannes Kunze, übermittelt, der, wie Dibelius mitteilte, versichert habe, sich nachdrücklich dafür einzusetzen, dass dem Präsidenten des Bundesausgleichsamtes die notwendige Freiheit gewährleistet werde, damit er in Zukunft in der Lage sein werde, Anliegen der evangelischen Kirche zur sozialen Hilfe für die Vertriebenen im weitest möglichen Maße zu unterstützen.488

Hintergrund war einerseits die „großzügige finanzielle Unterstützung“, die Manteuffel-Szoege der Kirche habe zuteilwerden lassen, aber auch die Befürchtung bzw. die latente Drohung Manteuffel-Szoeges, dass ein schwacher Präsident nach einem Regierungswechsel die Anliegen der Kirche nicht mehr unterstützen könnte, womit er auf die Möglichkeit einer Regierungsbildung anspielte, an der die tendenziell kirchenkritischen Parteien SPD oder FDP beteiligt seien.489 Unabhängig vom Erfolg oder Nicht-Erfolg dieser Initiativen erhellen diese Beispiele das Verhältnis aus Politik bzw. Staat und Kirche. Dieses ist nicht eindimensional in dem Sinne zu verstehen, dass die Kirche gesellschaftspolitische Ansprüche zu verwirklichen trachtete, sondern Akteure aus Politik und Verwaltung nutzten die evangelische Kirche zur Vergrößerung ihres Gestaltungsspielraumes. Vermutlich sollte das den Kirchen zugeschriebene und eingesetzte „moralische“ oder „symbolische Kapital“ die „Wirkung“ der jeweiligen Anliegen unterstützen, wobei ein „Effekt“ morali487 Schreiben von Hansjörg Ranke an Otto Dibelius, 10. 7. 1951 (EZA Berlin 2/2140). 488 Schreiben von Otto Dibelius an Dr. Baron von Manteuffel, 10. 7. 1951. Vgl. auch Schreiben von Hansjörg Ranke an Otto Dibelius, 10. 7. 1951. Kunze habe laut Dibelius bekräftigt, sich „mit Nachdruck dafür einzusetzen, dass auch in Zukunft aus den Mitteln des Lastenausgleiches die sozialpolitischen Anliegen der EKD zugunsten der Flüchtlinge die notwendigen Zuschüsse erhielten“ (Vermerk über eine Besprechung mit den Vereinigten Landsmannschaften und Baron von Manteuffel vom 14. 6. 1951, EZA Berlin 2/2140). 489 Mit der Wendung „kirchenfeindliche Regierung“ spielte er vermutlich auf die Möglichkeit einer SPD-geführten Bundesregierung an. Zitiert nach Schreiben von Otto Dibelius an Dr. Baron von Manteuffel vom 10. 7. 1951; und Vermerk über eine Besprechung mit den Vereinigten Landsmannschaften und Baron von Manteuffel vom 14. 6. 1951 (EZA Berlin 2/2140). Erster Präsident des neuen Bundesausgleichsamtes wurde allerdings Walter Kühne. Siehe Wenzel, Verschiebung, 200 f.

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scher Kapitalien empirisch kaum messbar ist. Dazu griffen Kirchenfunktionäre auf zwei Kommunikationskanäle zurück, nämlich auf kirchenamtliche Verlautbarungen und informelle Netzwerkbeziehungen. Insgesamt zeigt sich anhand dieser Aktionen ein wechselseitiges Interessen- und Netzwerkgeflecht zwischen Politik, Ministerialbürokratie und Kirche.

3.6 Bedingungen einer protestantischen Mitwirkung und die Erkennbarkeit des Protestantismus im politischen Prozess Im Rekurs auf die neuere politikwissenschaftliche Religionsforschung lassen sich die Kommunikationskanäle und Interaktionsverhältnisse zwischen Politik bzw. Staat und Protestantismus systematisierend und typologisierend beschreiben.490 Dabei stehen nicht der faktische Einfluss des Protestantismus auf die Gesetzgebung und konkrete Wirkungen, sondern seine Kommunikationskanäle, Netzwerke und Einflusspotentiale auf bundespolitischer Ebene im Fokus, die sich anhand politischer Kommunikations- und Austauschprozesse in und mit den politischen Institutionen herauskristallisieren lassen.491 Bedingung für die Ausübung von Einfluss ist, so kann im Rekurs auf die politikwissenschaftliche Literatur festgehalten werden, die Fähigkeit der Informationsaggregation und die Fähigkeit zur Artikulation von Interessen.492 Daneben stellt sich die Frage, wie sich eine protestantische Mitgestaltung bestimmen lässt. Was zeichnet den Protestantismus in einer politischen Debatte und einem Gesetzgebungsprozess aus? Welche Konvergenzen und Divergenzen zwischen Politik und Religion bzw. Staat und Kirche lassen sich ermitteln? Zunächst wurde zwischen formalisierten und weniger formalisierten Netzwerken unterschieden. Am Beispiel der Vertriebenenproblematik konnte gezeigt werden, dass die Vertreter von Kirche und Hilfswerk das Instrument des Beirats im Bundesvertriebenenministerium nur in geringem Umfang nutzten oder nutzen konnten. Neben den formalisierten Beziehungen interessieren die weniger formalisierten personenzentrierten Netzwerke, die in der 490 Vgl. die neuere interdisziplinäre Studie mit starkem politikwissenschaftlichem Einschlag, die sich mit religiöser Kommunikation in medialen Systemen und religiösen Akteuren in der Politik befasst. Dazu greifen die Autoren auf den Begriff der „religiösen Interessenvertretung“ zurück. Einige ihrer Befunde können für diesen Untersuchungszusammenhang fruchtbar gemacht werden. Siehe Kçnemann et al., Interessenvertretung. Daneben wird in der politikwissenschaftlichen Literatur die Frage diskutiert, inwieweit sich Kirchen und Religionen als klassische Verbände und Lobbyorganisationen beschreiben lassen. Hierzu Willems, Kirchen. 491 Im Sinne einer Kulturgeschichte der Politik stellen politische Institutionen gewissermaßen die Verstetigung der politischen Kommunikation dar. So jedenfalls Mergel, Kulturgeschichte; und ders., Überlegungen, v. a. 596–598. 492 Fuchs, Einflusswege, 133.

322 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Analyse allerdings schwieriger zu fassen sind – nicht zuletzt, weil sich viel hinter verschlossenen Türen abspielte und demnach keinen Niederschlag in der Aktenüberlieferung fand.493 Netzwerke und Kommunikationskanäle manifestieren und reproduzieren sich in der Interaktion individueller Akteure, die Beziehungen zwischen politisch-administrativem System und Kirche in der Praxis herstellten, Kommunikationsprozesse ermöglichten und einer Einflussnahme bzw. einer Interessenvertretung im politisch-administrativen System erst zur Wirksamkeit verhalfen. Schließlich wäre zudem eine semiformelle Ebene zu nennen, die ihren Ausdruck in unregelmäßigen Arbeitstreffen zwischen Ministerialbürokratien, Kirchenkanzlei, Politikern, OKA und Vertriebenenorganisationen fand. Diese semiformellen Treffen wurden von den staatlichen und politischen Akteuren explizit geschätzt, weil sie eine Atmosphäre des Austausches ermöglichten, die im direkten Gespräch mit den Verbänden nicht möglich sei.494 In Analogie zur Unterscheidung von informellen und formellen Beziehungen werden zwei Interaktionstypen unterschieden, nämlich erstens eine status- oder funktionsbedingte Interaktion und zweitens der Typus der motivationslogischen Interaktion, die beide zusammengenommen das Kooperationsverhältnis zwischen politisch-administrativem System und Kirche bedingten und konstituierten. Zwischen den Bundesvertriebenenministern und der Kirchenspitze in Person von Bischof Otto Dibelius fanden, erstens, offizielle Arbeitstreffen statt, um sich gegenseitig auszutauschen oder ein gemeinsames Vorgehen von Staat und Kirche abzusprechen.495 Zudem wurden die Minister aufgrund ihrer Funktion und ihres Status auf die Hermannsburger Flüchtlingstagungen oder die Tagungen des OKKs eingeladen. Die Kooperations- und Interaktionsverhältnisse auf dieser 493 Von den vielen Treffen und Zusammenkünften mit Ministerialbeamten, Politikern und Vertretern der Vertriebenenorganisationen existieren nur in Ausnahmefällen Mitschriften oder Protokolle. Dass solche informellen oder semioffiziellen Treffen stattfanden, geht aus den Korrespondenzen hervor. Diese Treffen dienten auch dem Zweck, einen Gesprächsrahmen für den gemeinsamen Austausch zu schaffen. Wenn Könemann et al. von nicht formalisierten personenzentrierten Netzwerken sprechen, so denken sie in erster Linie an kirchliche Feiern, die eine „Vertrauensbasis durch gemeinsame Wertorientierungen“ nonverbal sichtbar machten und sogenannte „kleine Dienstwege“ eröffneten. Gerade diese Ebene entzieht sich allerdings der Analyse. Hierzu Kçnemann et al., Interessenvertretung 115 f. und 118. Dass wesentliche Übereinkünfte, an denen politische und kirchliche Akteure beteiligt waren, „unter vier Augen“ und ohne Niederschlag in den Akten getroffen wurden, bestätigt auch Buchna, Jahrzehnt, 34 f. 494 So bezeichnete Manfred Fauser eines dieser Gespräche als „sehr erfreulich“, da „unter Ihrer Schirmherrschaft sich eine recht erfreuliche Atmosphäre ergeben [hat], die wir bei den offiziellen Erörterungen mit den Verbänden über derartige Fragen leider vermissen müssen“ (Schreiben von Regierungsdirektor Dr. Manfred Fauser an Hansjörg Ranke, 15. 3. 1951, EZA Berlin 2/2140). 495 Z. B. Niederschrift über das Gespräch „Die Verantwortung der evangelischen Kirche für die Vertriebenen“ am 18./19. 3. 1957 in der evangelischen Akademie in Loccum; und Gutachten aufgrund des Gesprächs über die Verantwortung der Kirche für Vertriebene, Loccum am 18. und 19. 3. 1957 (EZA Berlin 87/130).

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Ebene kamen aufgrund des Status und der Funktion der beteiligten Akteure zustande und sind deshalb als status- und funktionsbedingte Interaktionen zwischen den offiziellen Repräsentanten von Kirche und Politik zu bezeichnen. Neben dieser offiziellen Austauschebene lassen sich zweitens motivationslogische Interaktionen beobachten,496 die von solchen politischen Akteuren getragen waren, die aufgrund ihrer tatsächlichen oder ihrer zugeschriebenen Loyalität zur Kirche mit den Repräsentanten der Amtskirche interagierten.497 Die Kirchenkanzlei in Person von Hansjörg Ranke kommunizierte in der Regel mit solchen Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung, die überzeugt evangelisch waren oder die er für überzeugt evangelisch hielt. Politiker und Spitzenbeamte der Ministerialbürokratie, die wie Johannes Kunze498, Manfred Fauser499, Franz Hamm500, Werner Middelmann501, Siegfried Palmer502 oder Ottomar Schreiber503 in der evangelischen 496 Der Begriff „motivationslogisch“ geht auf Könemann et al. zurück, die diesen Begriff etwas anders gebrauchen. So sprechen sie von „motivationslogischen Markern.“ Siehe Kçnemann et al., Interessenvertretung, 234. 497 Dieser Typus kann mit Könemann als „Mehrfachengagierter“ bezeichnet werden, der in politischen und in religiösen zivilgesellschaftlichen Organisationen engagiert ist. Siehe Kçnemann et al., Interessenvertretung, 172–189. Auf Johannes Kunze lässt sich dieser Begriff übertragen. Vgl. oben 296–315. 498 Auf Kunze wurde bereits ausführlich eingegangen. Vgl. oben 292–321. 499 Fauser war der Kontaktmann von OKR Ranke im Bundesfinanzministerium, war an der zweiten Stellungnahme der EKD zum Lastenausgleich beteiligt und referierte in protestantischen Kontexten. Das geht hervor aus: Schreiben von Hansjörg Ranke an Friedrich SpiegelSchmidt, 14. 11. 1950 (EZA Berlin 87/134); Schreiben von Hansjörg Ranke an Manfred Fauser, 15. 5. 1950 (EZA Berlin 2/2139); Schreiben von Hansjörg Ranke an Manfred Fauser, 7. 7. 1950 (EZA Berlin 2/5812); und Schreiben von Manfred Fauser an Hansjörg Ranke, 15. 3. 1951 (BArch Koblenz B 126/5683 Bd. 2). Ranke bezeichnete Fauser als „hervorragenden Verbindungsmann im Finanzministerium“ (Schreiben von Hansjörg Ranke an Präsident Heinz Brunotte, 6. 7. 1950, EZA Berlin 2/2139). 500 Hamm war Ministerialmitarbeiter, weltlicher Kirchenpräsident und Mitglied des OKAs. Siehe Rudolph, Kirche Bd. I, 566 f. 501 Ministerialdirigent Werner Middelmann referierte auf mehreren Flüchtlingstagungen: Einladung zu einer Tagung der evang. Akademie Loccum, 7.–11. 3. 1957 (ADW Berlin ZB 882); Stichwortmäßige Wiedergabe der Eröffnungsrede von Gerstenmaier auf der Karlshöhe, 16. 8. 1948, (ADW Berlin 946); und Hamburger Bericht, 16–20. 502 Siegfried Palmer wirkte an den Tagungen der Hermannsburger Forschungsstelle und an der Arbeitsgruppe Dorf des DEK mit. Siehe Palmer, Notwendigkeit, 22 f.; und ders., Dorf. Außerdem war er Vorstandsmitglied der evangelischen Aktionsgemeinschaft zur Eingliederung der Heimatvertriebenen auf dem Lande. Siehe Unterlagen für den Jahresbericht 1956, Referat Dr. Hermann Maurer, o. D. Dokument 2: Evangelische Aktionsgemeinschaft zur Eingliederung vertriebener Landwirte (ADW Berlin ZB 886). 503 Schreiber war Mitglied des OKAs und referierte auf verschiedenen protestantischen Tagungen: Schreiber, Ottomar: Stand der Politisierung der Flüchtlingsfrage im Blick auf den Dienst der Kirche. Niederschrift der von der Kanzlei der EKD vom 19.–21. 9. 1950 nach Königswinter einberufenen Konferenz über die Fragen der kirchlichen Flüchtlingsarbeit (ADW Berlin CAW 682); Wie soll die Vertriebenenarbeit weitergehen? Aus der Sicht des Staates. Niederschrift der Tagung des Konvents der zerstreuten Ostkirchen in Königswinter vom 18.–20. 5. 1952 (EZA

324 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Kirche engagiert waren und als „kirchenfreundlich“ galten, stellten informelle Verbindungen zwischen der Kirchenkanzlei der EKD, Bundesvertriebenenministerium und Lastenausgleichsausschuss im Deutschen Bundestag her und eröffneten damit neben den etablierten institutionalisierten Vertretungsstrukturen inoffizielle Kommunikations- und Austauschkanäle, die einen regelmäßigen Informationsfluss gewährleisteten. Ein besonders reger Austausch fand mit den Referenten statt, die für die Informationsbeschaffung strategische Schlüsselstellen innehatten: Denn diese erstellten die Vorentwürfe der Gesetze und koordinierten die Kommunikationsprozesse im Vorfeld.504 Gerade wenn es um taktische und materielle Fragen wie den Zugang zu Ministerialbürokratien oder die Zuwendung von Finanzmitteln ging, ist festzustellen, dass sich Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche gegenseitig aufmerksam beobachteten und darauf achteten, dass sie nicht gegenüber der jeweils anderen Konfession benachteiligt würden. So beschwerten sich Vertreter des Hilfswerks über den angeblich schlechteren Zugang zur Referentenebene des Bundesvertriebenenministeriums, was darauf zurückgeführt wurde, dass die Mehrheit der Referenten katholisch sei.505 Dies korrespondiert mit den Befunden Kristian Buchnas, der Konfessionalität als handlungsleitendes politisches Prinzip in der frühen Bundesrepublik identifiziert, gerade wenn es um die Besetzung von Posten in Politik, Ministerialbürokratien oder Bundesbehörden ging.506 Erklärtermaßen war konfessionelle Parität ein entscheidendes Kriterium in der Adenauerschen Personalpolitik, und dementsprechend wurde bei Ämterbesetzungen auf konfessionelle Aspekte Rücksicht genommen.507 Die angestrebte konfessio-

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Berlin B 512/149); und ders., Verantwortung. Zu seiner Mitgliedschaft siehe Rudolph, Kirche Bd. I, 594. So auch Buchna, Jahrzehnt, 440. Buchna weist auf die indirekte Einflussnahme hin, so auf personalpolitische Entscheidungen (ebd., 473–479). Die mündliche Kommunikation lässt sich leider nicht rekonstruieren. Schreiben von Hansjörg Ranke an Johannes Kunst, 8. 12. 1952 (EZA Berlin 87/136). In einem anderen Schreiben wurde beklagt, dass die Lagerleitungen überwiegend katholisch seien. So jedenfalls Übersicht über die Personalbesetzung in Bundesbehörden, o. D. (EZA Berlin 87/ 787). Mehrere Schreiben beklagten zudem die angeblich höheren Mittel für katholische Stellen. Ob dies der Wahrheit entspricht oder nicht, ist nicht überprüfbar, aber dies war ein beliebter Anlass, um eine Aufstockung der erhaltenen Mittel zu erbitten. Buchna, Jahrzehnt, 467–473. So war Adenauer bei der Besetzung von Staatsämtern und Parteiposten um konfessionelle Parität bemüht, um dem Verdacht entgegenzuwirken, die katholisch dominierte CDU sei eine Fortführung der alten katholischen Zentrumspartei „unter anderem Namen“ – so der Vorwurf von evangelischer Seite. Während die CDU katholisch dominiert war, bestand in Militär und höherer Beamtenschaft ein eindeutiges konfessionelles Missverhältnis zugunsten der Protestanten. Hierzu ebd., 467. Die Berücksichtigung konfessioneller Aspekte bei Ämterbesetzungen und die damit einhergehende „Konfessionalisierung der Personalpolitik“ wurde allerdings in der Presse und von der Opposition scharf kritisiert (ebd., 471 f.). Das Kriterium der konfessionellen Parität bewirkte oder verstärkte gerade die Konfessionalisierung der Personalpolitik. Ebd., 473–483.

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nelle Parität hatte zur Folge, dass ranghohe Kirchenvertreter aktiv Einfluss auf die Personalpolitik nehmen konnten bzw. Kirchenfunktionäre um personalpolitische Empfehlungen gebeten wurden – nicht zuletzt aus wahlkampftaktischen Gründen.508 Hermann Ehlers postulierte beispielsweise die „Notwendigkeit einer starken Einflußnahme von evangelischer Seite.“509 Auf bundespolitischer Ebene befanden sich die Konfessionen in einem ständigen Konkurrenzverhältnis. Erst ab Ende der 1950er Jahre kam es zu punktuellen Kooperationen zwischen dem Bevollmächtigten der EKD bei der Bundesregierung und dem katholischen Büro Bonn.510 Die Bezeichnung der Interaktionsverhältnisse zwischen Kirchenkanzlei und protestantischen Akteuren in der Politik als motivationslogisch ist deshalb angemessen, da diese Akteure, wie oben gezeigt, aus eigenen Motivationen heraus politisch handelten und bereitwillig Interessen und Anliegen der Kirchenkanzlei in den politischen Prozess hinein kommunizierten. Motivationslogische, auf individuellen Netzwerken basierende Interaktionen verhalfen der kirchlichen Interessenpolitik erst zur Wirksamkeit. Möglicherweise ist zumindest in diesem Themenfeld den informellen oder semiformellen Beziehungen sogar eine größere Bedeutung zuzusprechen als den institutionalisierten und formalisierten. Eine weitere Bedingung für eine erfolgreiche Interessenvertretung war, dass die kirchlichen Forderungen im politisch-administrativen System auf prinzipielle Offenheit stießen.511 Anhand der Interaktionen zwischen politisch-administrativen Entscheidungsträgern und protestantischen Akteuren zeigt sich, dass das Verhältnis von politischen bzw. staatlichen und protestantischen Akteuren grundsätzlich durch wechselseitige Kooperativität gekennzeichnet war, die der privilegierten Stellung der Kirchen im politisch-administrativen System entsprach. Die gegenseitige Kooperativität zeigt sich daran, dass kirchliche Eigeninteressen wie die Befreiung kirchlichen Besitzes von der Lastenausgleichsabgabe oder vom Pachtzwang des Bundesvertriebenengesetzes problemlos, d. h. ohne größere Widerstände und Diskussionen umgesetzt werden konnten. Auf Initiative des mit geringer Machtfülle ausgestatteten Bundesvertriebenenministeriums setzten sich die Kirchenkanzlei der EKD, das Hilfswerk, Gerstenmaier und der bayerische Landesbischof für die Umsiedlung und eine Lastenausgleichsanleihe der Weltbank ein. Politiker nahmen die Kirche für ihr eigenes Themensetting und ihre eigenen Interessen in Anspruch und erhielten 508 Ebd., 467–470. 509 Ebd., 470. Nach Buchna gab es auf der „evangelischen Seite“ die „chronische Verlegenheit“, keinen geeigneten Bewerber benennen zu können. Vgl. ebd., 475. 510 Hier ging es um die Verbesserung der Situation der DDR-Flüchtlinge. Siehe Schreiben von Hermann Kunst und Weihbischof Tenhumberg an den Bundeskanzler mit Abschrift an Bundestagspräsident, Bundesratspräsident und die Bundestagsfraktionsvorsitzenden, 8. 1. 1968 (EZA Berlin 87/573). Zur wachsenden Kooperationsbereitschaft ab den späten 1950er Jahren vgl. die Akte EZA Berlin 87/575. Vgl. auch Buchna, Jahrzehnt. Vgl. auch Anm. 334. 511 Vgl. oben 296–303 und v. a. Anm. 389. Allgemein auch Buchna, Jahrzehnt, 436.

326 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung dafür kirchliche Unterstützung in Form von öffentlichen kirchenamtlichen Stellungnahmen. Nicht zuletzt ist die finanzielle Unterstützung der karitativen Einrichtungen, aber auch des OKAs, des OKKs oder der Zeitschrift „der Remter“ zu nennen.512 Staatliche Akteure wie der Vertriebenenminister Theodor Oberländer, Johannes Kunze oder einzelne Ministerialdirigenten schlugen dabei eine Aufgabenteilung zwischen Kirche und Staat vor und rechtfertigten die finanziellen Zuwendungen mit der letztlich integrativen, systemstabilisierenden Rolle der Kirchen in Form von Seelsorge und Diakonie.513 Hinter dieser Kooperativität lassen sich grundsätzliche Interessenkonvergenzen zwischen Staat und Kirche vermuten. Neben der Analyse und Bestimmung der Kommunikationskanäle und Interaktionen stellt sich die Frage, ob und wie sich die Mitwirkung politischer Akteure an der Lastenausgleichsfrage charakterisieren und ob sich eine bestimmte Stoßrichtung des protestantischen Engagements erkennen lässt. Natürlich verfügten auch die Kirchen, d. h. die Organisationsformen der Religion, über konkrete und klar identifizierbare materielle und institutionelle Interessen. Diese kommunizierten sie an die sogenannten „Mehrfachengagierten“, die, wie empirisch gezeigt werden konnte und wie die politikwissenschaftliche Theorie bestätigt, „Ansprechpartner für konkrete Interessen im politischen Raum“ waren.514 Lässt sich das politische Engagement protestantischer Akteure im politischen Raum darüber hinaus inhaltlich bestimmen? Im Gegensatz zu klassischen Verbänden kann ein religiöses und damit auch ein protestantisches Engagement jenseits materieller Interessen nicht mit spezifischen politischen Forderungen in einen direkten Zusammenhang gebracht werden, was die inhaltliche Bestimmung des protestantischen Engagements abgesehen von institutionellen Eigeninteressen und Zugehörigkeiten erschwert.515 Die „aus religiösen Werten gezogene Handlungsanweisungen“ werden in der Selbstwahrnehmung der Akteure nicht explizit formuliert, sondern begegnen als „Interpretationsergebnis eines impliziten Wertefundaments.“516 Vor diesem Hintergrund sollte auch Kunzes

512 Die mit der finanziellen Unterstützung verbundenen Abhängigkeitsverhältnisse wurden zuweilen als problematisch empfunden. So befürchtete der OKA, dass die finanzielle Unterstützung durch das Ministerium die Freiheit der Kirche und ihrer Publikationsorgane gefährden könnte. Das geht hervor aus: Vertraulicher Aktenvermerk über meinen Vortrag auf der Sitzung des Rates der EKD am 4. 2. 1960 in Hannover (EZA Berlin 631/4). 513 Z. B. Arbeitsbericht über die Sitzung des kulturellen Unterausschusses am 2./3. 11. 1953 (BArch Koblenz B 150/2334). Ein späterer Bericht der Bundesregierung übernahm diese Formulierung wörtlich. Vgl. Vermerk über die Kulturarbeit, 5. 11. 1954 (BArch Koblenz B 150/2329). Ähnlich auch Dreijahresbericht des Vertriebenenministeriums, 10. 10. 1952 (BArch Koblenz B 150/ 2329). 514 Kçnemann et al., Interessenvertretung, 177. 515 Ebd., 173. Themenfelder wie Familienpolitik oder sexualethische Themen mögen hier ein anderes Bild ergeben. 516 Ebd., 180. Am ehesten führen politische Akteure ihren Weg in die Politik auf „christliche

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Engagement nicht monokausal an protestantische Motive oder Sozialisationen rückgebunden werden. Selbstredend stellt Religion nicht nur eine Motivationsressource dar, sondern sie konnte ebenso als Legitimationsressource oder als kultureller Code eingesetzt werden, der strategisch oder instrumentell eingesetzt werden konnte, um soziale oder institutionelle Zugehörigkeiten zu markieren. Statt der Analyse religiöser Motivationen, die immer mit der Gefahr kausaler Kurzschlüsse einhergeht, ist es analytisch fruchtbarer, religiöse Argumentationsmuster und Semantiken sowie ihre jeweiligen Funktionen und Verwendungszusammenhänge in den Blick zu nehmen.517 Kunze argumentierte in nicht-protestantischen Kommunikationszusammenhängen vor allem mit säkularen gesellschaftspolitischen Argumenten wie „soziale Gerechtigkeit“, „Allgemeinwohl“, „Ausgleich“ und „wirtschaftliche Vernunft“. Allerdings stellte Kunze diese sozialethisch anschlussfähigen Argumentationsfiguren in einen religiösen bzw. protestantischen Begründungszusammenhang, indem er die Vermittlung von sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Vernunft als „politische Diakonie“ bezeichnete.518 Damit griff er, zumindest innerhalb protestantischer Kommunikationskontexte, auf einen Begriff zurück, der dem Bezugs- und Deutungsrahmen der protestantischen Sozialethik entstammte.519 Ähnliches gilt auch für die zweite, an die Bundesregierung adressierte Stellungnahme der EKD, deren gesellschaftspolitische Argumente sozialethisch anschlussfähig, aber nicht im eigentlichen Sinne religiöser oder theologischer Natur waren, während der Lastenausgleich gegenüber der eigenen Klientel als „christliche Verpflichtung“ präsentiert wurde.520 Protestantische Akteure differenzierten demnach ihren Sprachgebrauch je nach kommunikativem Kontext und den jeweiligen Handlungs- und Argumentationslogiken, die in den Teilsystemen Politik und Religion galten.521 Für Könemann et al. handelt es sich hierbei um ein klassisches Dilemma religiöser Akteure: Einerseits müssen erhebliche Anpassungsleistungen an den politisch-gesellschaftlichen Diskurs vollbracht werden, um diskursfähig zu bleiben und von anderen Debattenteilnehmern anerkannt zu werden, andererseits muss das christliche Profil geschärft werden, um erkennbar zu bleiben.522

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Einstellungen“ zurück, was noch nichts über ihre Motive in politischen Entscheidungen verrät (ebd., 173). Insgesamt identifizieren Könemann et al. drei Arten der religiösen Rückbindung. Diese begegnen demnach als „Quelle für persönliche Kraft“, als „Quelle für die Gestaltung des Allgemeinwohls“ und als handlungsleitendes und prägendes Moment „für die politische Selbstkonzeption“ (ebd., 180). Kunze, Diakonie, 87. Zu Kunzes Verständnis von „politischer Diakonie“ siehe oben 245–253. Ebd., und oben 245–253. Ders.: Lastenausgleich als christliche Verpflichtung. In: EvWelt, 1. 10. 1950, 577–579. So jedenfalls Kçnemann et al., Interessenvertretung, 226; 173 und 273. Ebd., 236. Könemann et al. bezeichnen dies als „Selbstsäkularisierung“. Allerdings sind diese Beobachtungen insofern zu relativieren, als dass die Autoren von der Zeit nach dem Struk-

328 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Um die spezifische Charakteristik einer protestantischen Interessenvertretung und Einflussnahme zu bestimmen, bietet es sich zudem an, religiösprotestantische Einflussnahme von klassischen Interessenverbänden abzugrenzen.523 Eine protestantische Einflussnahme und Interessenpolitik unterscheidet sich von klassischen Verbänden erstens hinsichtlich der zur Verfügung stehenden materiellen wie immateriellen Ressourcen. Könemann et al. unterscheiden drei verschiedene Typen von Ressourcen religiöser Akteure, nämlich materiell-organisatorische Ressourcen wie Finanzmittel und eine flächendeckende Infrastruktur, daneben moralische und schließlich individuelle Ressourcen in Form ihrer individuellen Mitglieder.524 Die Ressourcen lassen allerdings nur wenige Rückschlüsse auf tatsächlichen Einfluss zu, zumal die Ressourcen religiöser Akteure starken Einschränkungen unterliegen.525 Zweitens stellt sich die Frage, ob eine religiöse Interessenvertretung inhaltlich von klassischen Verbänden abgegrenzt werden kann. Einerseits kann kein Zweifel daran bestehen, dass auch Kirchen Partikularinteressen, d. h. institutionelle und materielle Eigeninteressen verfolgten und verfolgen und an der Sicherung ihres Bestandes und ihrer Stellung interessiert waren und sind.526 Dennoch greift es zu kurz, die Kirchen lediglich als klassischen Interessenverband im Sinne der politikwissenschaftlichen Lobbyismus-Forschung zu beschreiben. So erhoben sie zumindest den Anspruch, „Allgemeinwohlinteressen [zu] vertreten“, auch wenn die Kirchen und ihre Akteure darauf kein Alleinstellungsmerkmal beanspruchen konnten und können.527 Dieses „Allgemeinwohlinteresse“ konnte wiederum mit materiellen Partikularinteressen zusammenfallen oder fungierte als Begründungsressource für

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turwandel ausgehen. Möglicherweise ist dieser grundsätzlich plausible Befund nur mit Einschränkungen auf die 1950er Jahre übertragbar. Dabei wird das Mischungsverhältnis zwischen Anpassung und christlicher Profilierung je individuell austariert. Hierbei handelt es sich jedoch um einen graduellen, nicht um einen qualitativen Unterschied, der zudem themenspezifisch variierte. Die Politikwissenschaft diskutiert seit einiger Zeit die Frage, inwieweit Kirchen als klassische Verbände zu beschreiben sind. Vgl. z. B. Willems, Kirchen. Anknüpfungspunkte bietet: Kçnemann et al., Interessenvertretung. Ebd., 109. Ebd., 111. Im Gegensatz zu Verbänden wie Gewerkschaften könnten die Kirchen der Gesellschaft keine „systemrelevanten Leistungen“ entziehen. Die innere, auch parteipolitische Heterogenität steht einer wirkmächtigen Interessenvertretung entgegen. Letztlich existiere eine „Spannung von Einflusslogik in der Öffentlichkeit“, die möglichst große Geschlossenheit und Homogenität voraussetze, und der „Mitgliederlogik ihrer Vielstimmigkeit.“ Vermutlich kann der katholischen Kirche aufgrund der Geschlossenheit der Milieus eine etwas größere Wirksamkeit zugesprochen werden. Hierzu Buchna, Jahrzehnt, 528. Das gilt auch für Wahlen. Siehe Willems, Kirchen, 328. Kçnemann et al., Interessenvertretung, 61. Die den eigenen Bestand absichernde, von Mehrfachengagierten unterstützte Interessenpolitik der EKD kann an diesem Beispiel leicht nachvollzogen werden. Ebd. Könemann et al. nennen beispielswiese die Gewerkschaften, die ebenfalls den Anspruch erheben, für übergreifende gesellschaftliche Ziele wie eine „gerechte Gesellschaft“ zu kämpfen.

Die protestantische Kritik am Lastenausgleich nach seiner Verabschiedung 329

die Kommunikation materieller Forderungen.528 Die angebotenen Leistungen in Form von Caritas und Seelsorge wurden zumindest von einigen staatlichen und politischen Akteuren explizit gewürdigt und nachgefragt. Da klassische kirchliche Betätigungsfelder wie Seelsorge oder Verkündigung letztlich integrativ und systemstabilisierend wirken sollten und vermutlich auch wirkten, bestanden zwischen Kirche und Politik Interessenkongruenzen. Je nach Anspruch und Anliegen variierten schließlich die Kommunikationskanäle. Interessenpolitische Forderungen wurden direkt an Entscheidungsträger und protestantische Akteure im politischen Raum kommuniziert, während übergreifende gesellschaftspolitische Vorstellungen und normative Postulate Eingang in offizielle „Worte der Kirche“ fanden, die teils an die Verantwortungsträger, teils an die eigenen Gemeinden adressiert waren und in der kirchlichen Publizistik abgedruckt wurden. Die Kirche als Institution erfüllte damit die an sie gerichtete Rollenerwartung einer „Normlieferantin“,529 die der Gesellschaft die normativen Grundlagen in Erinnerung rief, auf die Situation benachteiligter Bevölkerungsgruppen aufmerksam machte und allgemeine sozialethische Gestaltungsprinzipen und Vorschläge formulierte. Politiker wie Kunze oder Lukaschek erwarteten von der Kirche solche moralisierenden Worte und Appelle an die christliche Verantwortung in einer Gesellschaft, die sich insgesamt als christlich verstand.530 Insgesamt deuten die in der Lastenausgleichsfrage gebrauchten Diskursstrategien auf ein vermittelndes Rollenverständnis, auch wenn die zweite Stellungnahme zum Lastenausgleich die Position des Vertriebenenministers der Tendenz nach unterstützte.

3.7 Die protestantische Kritik am Lastenausgleich nach seiner Verabschiedung Die Verabschiedung des Lastenausgleichsgesetzes 1952 stellte auch für die protestantische Positionierung zum Lastenausgleich und die protestantische 528 Kunze, Johannes: Memorandum zu Währungsreform und Lastenausgleich, 18. 9. 1948 (ADW Berlin CAW 196). Ähnlich auch Schreiben von Johannes Kunze an die Vorsitzenden des Finanzrates der Vereinigten Wirtschaftsgebietes, 2. 11. 1948 (ADW Berlin CAW 231); und ders.: Entwurf für ein Memorandum, 15. 9. 1948 (ADW Berlin CAW 231). 529 Ebd., 164. Könemann et al. sprechen von einer „Orientierungsfunktion in ethischen Konflikten.“ Ebd., 241. 530 Hierbei spielte auch das eigene christliche Selbstverständnis Kunzes und Lukascheks eine Rolle: Kunze, Johannes: Lastenausgleich als christliche Verpflichtung. Vortrag auf der Tagung am 19.–21. 9. 1950. Niederschrift der von der Kanzlei der EKD vom 19.–21. 9. 1950 nach Königswinter einberufenen Konferenz über die Fragen der kirchlichen Flüchtlingsarbeit (ADW Berlin CAW 682); ders.: Lastenausgleich als christliche Verpflichtung. In: EvWelt, 1. 10. 1950, 577–579; und Lukaschek, Probleme, 8.

330 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Mitwirkung an der Gesetzgebung eine Zäsur dar. Den einen ging das Gesetz zu weit, den anderen nicht weit genug. Die dem Hilfswerk nahestehende Zeitschrift „Christ und Welt“, die sich in erster Linie für eine soziale Konzeption einsetzte, d. h. die Gründung wirtschaftlicher Existenzen priorisierte, kritisierte nun, dass auf eine „Umschichtung des Besitzes“ verzichtet worden und das Gesetz über eine „Milderung sozialer Notstände“ nicht hinausgegangen sei.531 Es handle sich im Wesentlichen um eine „erweiterte Soforthilfe“, die zugleich eine „negative Prämierung von Lebenstüchtigkeit und Arbeitsfähigkeit“ bewirke.532 Offenbar wurden das Postulat einer „Vermögensumschichtung“ und die Priorisierung der sozialen Konzeption nicht als widersprüchlich gedacht. In den zahlreichen Novellierungen, von denen viele auf die Anregungen der Vertriebenenorganisationen zurückgingen, verschob sich der Fokus auf Einzelmaßnahmen und technische Aspekte sowie konkrete Leistungsanhebungen.533 Allerdings fand in protestantischen Kommunikationszusammenhängen keine Diskussion hierüber statt. Die starke Position der Selbstvertretungsorganisationen der Vertriebenen führte dazu, dass ein sozialpolitisches, advokatorisches Engagement nicht für notwendig erachtet wurde. So stellte der Bevollmächtigte der EKD bei der Bundesregierung fest: „Das kann man, weiß Gott, sagen, daß die Vertriebenen auch heute in Bonn eine außerordentliche Macht darstellen und Einfluß ausüben.“534 Darüber hinaus setzten sich einzelne protestantische Akteure nach der Verabschiedung des Gesetzes kritisch mit dem Lastenausgleich auseinander, ohne dass eine Beteiligung am politischen Entscheidungsprozess nachweisbar wäre. Unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes wurde die Lastenausgleichsproblematik auf einer Tagung des OKAs und auf einer Hermannsburger Flüchtlingstagung thematisiert.535 Der Nachfolger Girgensohns als Vorsitzender des OKAs, Gerhard Gülzow, verlieh seinem Bedauern darüber Ausdruck, dass der Lastenausgleich nicht zum erhofften „Beginn einer soziolo-

531 Lastenausgleich: Heißt es, ist es aber nicht. In: ChrWelt, 20. 5. 1952. 532 Ebd. 533 Einen Überblick über den Novellierungsprozess gibt: Wenzel, Verschiebung, 229–231. Vor allem die 3. Novelle vom 13. 11. 1954, die 5. vom 21. 2. 1956, die 7., 11. 5. 1956, die 11. vom 29. 7. 1959, die 14., 26. 6. 1961, die 17. vom 4. 8. 1964, die 19., 3. 5. 1967 und die 28. Novelle vom 27. 1. 1975 enthielten Leistungsverbesserungen. Dabei handelte es sich um einmalige Sonderzahlungen, befristete Leistungsverbesserungen oder dauerhafte Anhebungen der Unterhaltshilfe, der Kriegsschadenrente und später auch der Hauptentschädigung. Johannes Kunze blieb bis zu seinem Tod 1959 Vorsitzender des Bundestagsausschusses. Der Protestantismus spielte darüber hinaus keine wesentliche Rolle. Zur Lobbymacht der Vertriebenen siehe Kossert, Heimat, 153 f. 534 Vertraulicher Aktenvermerk über die Sitzung des Rates der EKD am 4. 2. 1960 in Hannover (EZA Berlin 631/4). Eine Ausnahme waren die Flüchtlinge aus SBZ und DDR. Hier ist wieder ein Engagement protestantischer Akteure zu verzeichnen. Vgl. hierzu unten 448–457 und v. a. Anm. 683. 535 Seeberg, Aufgaben.

Die protestantische Kritik am Lastenausgleich nach seiner Verabschiedung 331

gischen Änderung in ganz Westdeutschland“ geworden sei.536 Oberregierungsrat Scheliha setzte sich 1953 mit dem Sozial- oder Wohlfahrtsstaat auseinander und kritisierte den Sozialstaat als Beginn der „Entwicklung zum sozialen Verwaltungsstaat“ und „zum Totalitären.“537 Grundsätzlich sprach er in der Tradition der protestantischen Sozialstaatskritik dem Staat die Fähigkeit ab, soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen: „Allein in der ethisch-religiösen Grundhaltung jedes einzelnen ist die Möglichkeit zur Schaffung einer neuen sozialen Ordnung gegeben.“538 Sehr viel konkreter nahm Pfefferkorn auf den Lastenausgleich Bezug, der als Leiter des Lastenausgleichsamtes mit „alltäglichen Fragen und ihrer Durchführung beschäftigt“ war.539 Pfefferkorn verteidigte das Gesetz, das den verschiedenen Ansprüchen, die an den Lastenausgleich gerichtet würden, gerecht geworden sei durch einen „Kompromiss zwischen Vermögensausgleich und sozialer Eingliederung.“540 Kritisch bemerkte er, dass die Vermögensabgabe de facto weniger als 50 % betrage.541 Der Volkswirt Willi Albers kritisierte die Lastenausgleichskonzeption aus wirtschaftlicher Perspektive, unterbreitete aber zugleich wirtschaftliche Gestaltungsvorschläge. Albers hielt die bekannte Debatte „sozial vs. quotal“ für falsch, denn sie verdecke das eigentliche Problem: „Primär geht es um die wirtschaftliche und soziale Eingliederung der Vertriebenen, der schwerste Verlust ist der Verlust der Existenz.“542 Der Ausgleichsgedanke war für den Volkswirt dem Ziel des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nachgeordnet.543 Daher müssten schwerpunktmäßig konjunkturpolitische Maßnahmen erfolgen und eine „expansive Wirtschaft“ aufgebaut, die Versorgung von Erwerbsunfähigen hingegen dem allgemeinen Staatshaushalt überlassen werden.544 Einer der schärfsten Kritiker des Lastenausgleichs aus dem protestantischen Lager war der Ökonom Martin Donath, der den Lastenausgleich aus der Perspektive der Geschädigten bewertete. Der Entwurf habe seine hohe Bestimmung nicht erreicht; es könne keine Rede davon sein, „dass mit dem Gesetz die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit und die volkswirtschaftlichen Möglichkeiten genügend berücksichtigt werden.“545 Donath forderte, dass sich die Aufbringungsseite am Sozialprodukt, nicht jedoch am verbliebenen „Rumpfvermögen“ zur Zeit des Währungsschnitts orientieren solle.546 536 Wortbeitrag Gerhard Gülzow. In: Niederschrift über die Tagung des Konvents der zerstreuten Gliedkirchen in Königswinter vom 18.–20. 5. 1952 (EZA Berlin 17/699). 537 Seeberg, Aufgaben, XVI. 538 End., XX. 539 Pfefferkorn, Lastenausgleich, 11. 540 Ebd., 13. 541 Ebd., 16. 542 Ebd., 32. 543 Ebd., 32 f. 544 Ebd., 33. 545 Wortbeitrag Martin Donaths während der Aussprache. In: Seeberg, Aufgaben, 41. 546 Ebd.

332 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung An dieser Stelle brachte Donath zudem einen Gedanken ein, der zu diesem Zeitpunkt selten zu finden war, nämlich den, dass die Vertriebenen und ihre Integration nicht nur eine Belastung für die Wirtschaft waren, sondern das Wirtschaftswachstum auch maßgeblich auf die Vertriebenen zurückzuführen sei: Der elementare Fehler des verabschiedeten Lastenausgleichsgesetzes besteht darin, dass er die Dynamik und positive Entwicklung der heutigen Wirtschaft, die vorzugsweise durch die ungeheure Vorleistung der Vertriebenen […] erst ermöglicht wird, nicht in einer direkten Koppelung mit dem Schicksal dieser Gruppen wirksam werden lässt.547

Donath nutzte das ESL, um seine Kritik am Lastenausgleich vorzubringen und die normativen Grundlagen in Erinnerung zu rufen.548 Implizit setzte er dabei die Existenz einer deutschen Volksgemeinschaft voraus, deren verbindendes und verpflichtendes Element das gemeinsame erlittene Schicksal sei. Die Verpflichtung zum Lastenausgleich ergab sich für Donath daraus, dass das deutsche Volk eine „Schicksals- und Risikogemeinschaft des Volkes und der Staatsbürger“ sei.549 Im Anschluss an diese Besinnung auf die normativ-moralischen Grundlagen brachte Donath drei konkrete Kritikpunkte vor: Er forderte erstens auch den Einbezug der Währungsgeschädigten, die zwar nicht Opfer höherer Gewalt waren, jedoch aufgrund eines vermeidbaren, geplanten „Hoheitsaktes der Staatsführung“ geschädigt worden seien und daher rechtlich legitime Forderungen stellten.550 Es sei als Akt staatlicher Willkür zu betrachten, dass das Geldeigentum im Gegensatz zum Sacheigentum entwertet worden sei.551 Zweitens brachte er das sogenannte Abwälzungsargument vor: Er kritisierte am gegenwärtigen Lastenausgleich, dass die Vermögensabgabe aus laufenden Erträgen bestritten, damit auf die Preise umgelegt und auf die Verbraucher abgewälzt werden könne.552 Drittens flössen Leistungen aus dem Lastenausgleichsfonds „an finanzkräftige Altbürger und öffentliche Wohnungsbauunternehmen“ zurück, die Wohnraum bereitstellten und daran mitverdienten.553 Dies „sei keine gute Erfüllung des Zweckes des LAGs, umso mehr, als die größte Teilsumme des jährlichen LAGs in Gestalt 547 Ebd. Vgl. auch Miehe, Flüchtlinge, 258 f.; Nahm, Wille, 153. 548 Donath hatte in mehreren Ausgaben des ESL die Artikel zum Lastenausgleich publiziert. Vgl. Donath, Art. Lastenausgleich und Eigentum. In: ESL 1954; und ders., Art. Lastenausgleich. In: ESL 41963. 549 Donath, Martin: Art. Lastenausgleich und Eigentum. In: ESL 1954, 650 f. Donath unterschied zwischen den Normen der gesellschaftlichen Ordnung und der christlichen Individualethik. Den Lastenausgleich wollte er gerade nicht als Gegenstandsbereich und Ausdruck der christlichen Ethik verstanden wissen, die er offenbar als auf das Individuum bezogen verstand. Kursiv der Verfasser. 550 Ebd., 650. 551 Ebd., 649 552 Ebd., 650. 553 Ebd., 650 f.

Die protestantische Kritik am Lastenausgleich nach seiner Verabschiedung 333

von Renten […] in den Verzehr fließt.“554 In der Ausgabe des ESL von 1967, als die Verabschiedung des Gesetzes bereits 15 Jahre zurücklag, äußerte sich Donath wesentlich ausführlicher und differenzierter.555 In seinem 1967 erschienenen Artikel waren der darstellende und der kommentierende Teil im Gegensatz zu seinen früheren Artikeln klar voneinander getrennt und sprachlich markiert.556 Dabei erkannte er im Gegensatz zu seinem Artikel von 1954 auch die Leistungen des Lastenausgleiches an: Er habe bei vielen eine „seelische Ermutigung“ bewirkt, „konkrete Hilfe“ geleistet und die Lage der Betroffenen in vielen Punkten verbessert.557 Das Gesetz sei im Laufe der Zeit verbessert und differenziert worden.558 Zudem sei durch „Leistungen aus dem Steuervermögen“ erreicht worden, dass nicht nur die geretteten Rumpfvermögen mit ihren Werten vom 21. Juni 1948 belastet worden seien, sondern in geringem Umfang die „Arbeitsleistung und die steigende Produktivität der Nation“ einflösse.559 Daneben wiederholte Donath die bereits bekannten Kritikpunkte, die er aber detaillierter ausführte und differenzierte.560 Darüber hinaus kritisierte er die Privilegien auf der Aufbringungsseite, die „psychologisch unmögliche Dauer des Lastenausgleichs“ und den „Schwund der realen Ausgleichseffekte durch eine schleichende Inflation.“561 Während der 1960er Jahre äußerte sich der Jurist und Ministerialdirigent Ludwig Landsberg, dessen Beiträge klare Vorbehalte gegen die soziale Konzeption erkennen lassen. Entgegen der nach Landsberg verbreiteten Auffassung, dass der Lastenausgleich besonders vorbildlich sei, sei das Gesetz aus der Perspektive der Geschädigten als große Ungerechtigkeit zu bewerten.562 Die geforderte Solidarität des ganzen Volkes im „Ja zum Gericht Gottes“ finde in der Lastenausgleichsgesetzgebung keinen wirtschaftlichen Ausdruck und verletze das Gerechtigkeitsgefühl der Vertriebenen.563 An anderer Stelle kritisierte Landsberg, dass der Lastenausgleich der „sozialen Gerechtigkeit“ und dem Ausgleichsgedanken widerspreche und stattdessen „Verpflichtungen der 554 Ebd., 651. 555 Ders., Art. Lastenausgleich. In: ESL 1963. 556 Donath erläuterte dabei sowohl die einzelnen Bestandteile der komplizierten Materie als auch die Genese des Gesetzes. 557 Ebd., 776. 558 Ebd., 774. 559 Ebd., 772. 560 Zur Kritik siehe ebd., 774–777. 561 Ebd., 774. Der Vorschlag, den Lastenausgleich an die dynamische Rente anzupassen, wurde auch auf den Sitzungen des Bundesvertriebenenbeirats wiederholt vorgebracht, allerdings erst 1975 mit der 25. Novelle umgesetzt. Vgl. z. B.: Niederschrift über die Sitzung des Beirates für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen vom 11. 10. 1962 (BArch Koblenz B 150/4353); Niederschrift über die Sitzung des Beirates für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen am 23. 6. 1964 (BArch Koblenz B 150/027419); und Niederschrift über die Sitzung des Beirats für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen am 21. 3. 1967 (BArch Koblenz B 106/055777 Bd. 2). 562 Schreiben von Ludwig Landsberg an Erwin Wilkens, 8. 6. 1965 (LAV NRW D sseldorf RW 305–6). 563 Ebd.

334 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung

öffentlichen Hand abgelöst“ habe.564 Am deutlichsten zeige sich dies bei der Unterhaltshilfe, die die Sozialhilfe ersetze, aber auch bei Arbeitsplatzdarlehen und anderen Leistungen. Insgesamt seien nur 20 % der Lastenausgleichssumme als Entschädigungsleistungen ausgezahlt worden.565 Trotz dieser Kritik bewertete er den in der Bundesrepublik beschrittenen wirtschafts- und sozialpolitischen Weg, den der Lastenausgleich symbolisiere, im Vergleich zur Sozial- und Integrationspolitik der DDR positiv. Auch im Jahr 1962 verknüpfte Landsberg die Lastenausgleichsfrage mit Bemerkungen zur Sozialordnung in Abgrenzung zum ostdeutschen sozialistischen Gesellschaftsentwurf. Im Vergleich mit dem eingeschrittenen, sozial nivellierenden Weg der DDR, der einen insgesamt niedrigen Lebensstandard zur Folge habe, würdigte er den erfolgreichen, freiheitlichen und auf der Leistungsfähigkeit des Einzelnen basierenden Weg der Bundesrepublik, auch wenn die Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit dem Leistungsprinzip nachgeordnet worden seien.566 Insgesamt war der gesellschaftspolitische Weg für Landsberg auch nicht abgeschlossen: Er forderte eine umfassende „Suche nach einer neuen sozialen Ordnung, die uns heute so gerecht erscheint wie unsren Vätern oder Großvätern die feudale oder bürgerliche Ordnung gerecht erschien.“567 Neben dem Lastenausgleich zwischen Vertriebenen und Einheimischen waren für Landsberg auch Fragen der Einkommensverteilung, des Wohlstandes, der Vermögensbildung, der sozialen Sicherheit, des Arbeitsfriedens und der inneren Stabilität betroffen.568 In eine ganz andere Richtung wies die Kritik von Heinrich Otto von der Gablentz, der sich 1967 aus einer rückblickend-bilanzierenden Perspektive mit dem Lastenausgleich befasste und gerade die quotale, auf Vermögens- und Statusrestauration und damit auf eine gesellschaftliche Restauration zielende Konzeption scharf kritisierte. Unter dem Titel „Die versäumte Reform“ setzte sich der Volkswirt kritisch mit der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft auseinander und nannte den Lastenausgleich als Beispiel für eine versäumte Reform, obwohl die Integration der Vertriebenen erfolgreich verlaufen sei: Wir haben den Lastenausgleich alleine machen müssen. Und wir haben ihn alleine falsch gemacht. Man konnte ausgehen vom Bedürfnis: den Jungen eine Ausbildung, den Alten einen gesicherten Lebensabend, den Leistungsfähigen eine großzügige Starthilfe, den nicht Bedürftigen nichts. Stattdessen hat man die einzelnen Schäden ausgerechnet, als ob es sich um die paar Auslandsdeutschen handelte. […] Man hat alle Schicht- und Klassenunterschiede von früher wieder 564 Landsberg, Ludwig: Zur Lage der Vertriebenen heute, o. D. (LAV NRW Duisburg RW 305–11). 565 Ebd. 566 Landsberg, Ludwig: Referat auf der Sitzung des Kulturausschusses des Landesvertriebenenbeirats, Königswinter, 25. 6. 1962 (LAV NRW Duisburg RW 305–9). 567 Ebd. 568 Ebd.

Zwischenfazit

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hergestellt. Und man hat auch wieder das Volk um den Segen der Schuld und der Verluste betrogen: Man hat den Eindruck erweckt, als wäre das eine Gerechtigkeit, wenn man den kleinen Prozentsatz des ersetzbaren Schadens erst richtig verteilt, während doch die ganz große Last des eigentlichen Schadens überhaupt nicht mehr auszugleichen war. Über die Ausrechnerei ist die Solidarität der Schuld und die Solidarität der Hilfe verloren gegangen.569

Dieses Plädoyer für einen bedarfsorientierten Lastenausgleich war eine Positionierung zugunsten der sozialen Lastenausgleichskonzeption, auch wenn von der Gablentz auf die Begrifflichkeiten sozial vs. quotal nicht zurückgriff. Der Wirtschaftspolitiker sah im Lastenausgleich weniger ein integrationspolitisches Projekt. Vielmehr bildete er den Anlass für eine grundlegende Kritik an der westdeutschen Gesellschaft, der es nicht gelungen sei, „die Klassenspaltung unseres Volkes zu überwinden.“570 Mit diesem Verweis auf den Klassendualismus griff der Soziologe und Wirtschaftspolitiker auf Gesellschaftsdiagnosen zurück, die – zumindest im Kontext der Lastenausgleichsfrage – ab Anfang der 1950er Jahre an Bedeutung verloren hatten.

3.8 Zwischenfazit Der Protestantismus war an den Lastenausgleichsdiskussionen, aber auch an seiner materiellen Verwirklichung substantiell beteiligt. Zum einen stellte er offizielle und informelle Kommunikationskanäle und Gesprächsforen bereit. Zum anderen entwickelten protestantische Akteure einen politischen Mitgestaltungsanspruch und wirkten an der Gesetzgebung unmittelbar mit. Neben der offiziellen Positionierung der EKD ist Johannes Kunze zu nennen, der als Vorsitzender des Lastenausgleichsausschusses im Deutschen Bundestag maßgeblich an Konzeption und Verhandlung des Gesetzes beteiligt war. Er reflektierte den in einem schwierigen Aushandlungsprozess zustande gekommenen Kompromiss rückblickend in protestantischen Publikationsorganen unter dem Leitbegriff „politische Diakonie“. Die Bandbreite der vertretenen Vorstellungen und Positionen spiegelt sich auch innerhalb des Protestantismus wider, der mit keinem der zur Diskussion gestellten Konzepte wie sozialer oder quotaler Lastenausgleich identifiziert werden kann, auch wenn die soziale Konzeption dominanter war. Mit dem Hilfswerk hatte sich ein sehr starker Player die soziale Konzeption zu eigen gemacht. Die protestantischen Beiträge lassen sich in ihrem programmatischen Kern auf folgenden kleinsten gemeinsamen Nenner bringen: Sie forderten die Vermittlung von wirtschaftlicher Vernunft und sozialer Gerechtigkeit. Hierbei handelte es sich allerdings um eine semantisch offene Leerformel, die vielseitig inter569 Gablentz, Reform, 18. Zur erfolgreichen Integration der Vertriebenen siehe ebd., 16. 570 Ebd., 18.

336 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung pretierbar und anschlussfähig war. Im Verlauf eines schwierigen Aushandlungsprozesses, der in einem mühsam zustande gekommenen Kompromiss mündete, mussten solche Globalformeln in die kleinteilige, detailreiche und langwierige Arbeit der Gesetzgebung übersetzt werden. Hier zeigt sich das Übersetzungsproblem zwischen säkular-politischem und religiösem Diskurs. Die schwere Identifizierbarkeit bedeutet freilich nicht, dass religiöse Akteure bedeutungslos waren. Vielmehr spielte die institutionelle und strukturelle Verankerung des Protestantismus in der Gesellschaft, das normativ-religiöse Deutungsreservoire und die religiös-protestantische Rückbindung protestantischer Akteure eine Rolle, auch wenn der Effekt nicht direkt messbar ist. Die protestantische Auseinandersetzung mit dem Thema lässt das Bedürfnis erkennen, einen sachlich adäquaten und informierten Beitrag zu leisten und sich moderierend in eine polarisierende gesellschaftliche Debatte einzubringen. Auf politischer Ebene zeigt sich ein kooperatives, auf Interessenkongruenzen basierendes Staat-Kirche-Verhältnis. Protestantische Akteure fungierten nicht zuletzt als Scharnierstelle im kirchlichen Interessenvertretungsprozess.

4. Die protestantische Bilanzierung des Integrationsprozesses und die Auseinandersetzung mit „Heimat“ Im letzten großen Kapitel steht die protestantische Bilanzierung des Integrationsprozesses und die Auseinandersetzung mit der Situation der Vertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft im Mittelpunkt. Dies geschieht in zwei Schritten: Zunächst wird die protestantische Auseinandersetzung mit „Heimat“ analysiert. Dabei stehen die integrationspolitischen Implikationen von „Heimat“ und die Bezüge zwischen Heimatdebatte und Integrationsdebatte im Mittelpunkt des Interesses. In einem zweiten Schritt wird die explizite Thematisierung von Integrationsdefiziten im Vorfeld der Vertriebenen- und Ostdenkschrift der EKD von 1965 herausgearbeitet. Schließlich werden die Genese der Denkschrift, die Denkschrift selbst und die Rezeption der Denkschrift einer Analyse unterzogen und dabei nach Stellenwert und Funktion der integrations- und gesellschaftspolitischen Probleme gefragt. Abschließend folgen generalisierende und erklärende Thesen und Beobachtungen.

4.1 Rückkehr in den Osten und Integration im Westen: Integrationspolitische Implikationen der protestantischen Auseinandersetzung mit „Heimat“ Die Frage, ob die Vertriebenen ein Recht auf Heimat beanspruchen könnten, war eines der zentralen Themenkomplexe, das nach der Überwindung der größten Nachkriegsnot bereits ab Anfang der 1950er Jahre innerhalb und außerhalb des Protestantismus thematisiert wurde.1 Die Debatten dynami1 Zeugnisse für eine prominente Thematisierung sind beispielsweise die Regierungserklärung von Konrad Adenauer vom 21. 9. 1949: Adenauer, Erklärung der Bundesregierung. 5. Sitzung des Deutschen Bundestages, 20. 9. 1949, In: Verhandlungen, 1. WP, 22–30, hier 26. Insgesamt bestehen Zweifel daran, ob es Adenauer mit dem Heimatrecht so ernst war. Siehe hierzu Frohn, Adenauer, 524 f. Ein stark rezipiertes Beispiel stellt auch die Charta der Heimatvertriebenen von 1950 dar, in der die Vertreter der Vertriebenenverbände das Recht auf Heimat bekräftigten, aber auch auf Rache und Vergeltung verzichteten. Die Charta ist abgedruckt in Lemberg/Edding, Vertriebenen, Bd. III, 662 f. Die Debatte um das Heimatrecht ist sicherlich hinreichend aufgearbeitet, wobei der Schwerpunkt auf den völkerrechtlichen, theologischen, außen- und ostpolitischen Fragen liegt. Vgl. v. a. die einschlägigen Monographien: Huber, Kirche, v. a. 380–419; Rudolph, Kirche Bd. II; Heck, EKD; Hanke, Deutschlandpolitik.

338

Die protestantische Bilanzierung des Integrationsprozesses

sierten sich vor allem in den 1960er Jahren und erreichten einen Höhepunkt mit der Denkschrift der EKD „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis zu den östlichen Nachbarn“ sowie im Kontext der Neuen Deutschen Ostpolitik der sozialliberalen Regierungskoalition. Die politischen Repräsentanten der Vertriebenen setzten dieses Thema immer wieder auf die Agenda und forderten ein Recht auf Heimat. In diesem Anliegen erhielten die Vertriebenenverbände zumindest rhetorische Unterstützung von Bundestag, Bundesregierung und allen Parteien. Der Deutsche Bundestag verabschiedete 1950 eine Resolution, die eine antikommunistische Grundhaltung mit dem Anspruch auf die Gebiete östlich von Oder und Neiße verband: Das deutsche Volk sieht in der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, in der Verteidigung der unmenschlichen Behandlung deutscher Kriegsgefangener und Verschleppter, in der Mißachtung des Schicksals und des Heimatrechts der Vertriebenen Verbrechen an Deutschland und gegen die Menschlichkeit. Der Deutsche Bundestag spricht allen, die für diese Verbrechen verantwortlich sind und die Einverleibung Deutschlands in das Fremdherrschaftssystem betreiben, das Recht ab, im Namen des deutschen Volkes zu handeln. Das kommunistische System bedeutet Vernichtung der Menschenrechte, Versklavung der arbeitenden Menschen, Verewigung von Hunger, Elend und Ausbeutung. Die kommunistischen Machthaber sind die wahren Kriegshetzer gegen das eigene Volk. Das deutsche Volk will den Frieden in der Freiheit nach innen und außen, den Frieden in der Gemeinschaft freier Völker.2

Das „Recht auf Heimat“ verfügt über verschiedene Implikationen. Erstens rekurrierte es auf die konkreten Rückkehrwünsche und Forderungen der politisch relevanten Gruppe der Vertriebenen. Der Umgang mit den verlorenen Gebieten betraf zweitens das nationale Selbstverständnis der jungen Bundesrepublik, das auf die alten Reichsgrenzen von 1937 bezogen blieb und den geographischen Ort des „deutschen Ostens“ als integralen Bestandteil Deutschlands verstand. In den 1950er Jahren waren das „Recht auf Heimat“ und die territoriale Integrität der Gebiete östlich von Oder und Neiße offizieller Rechtsstandpunkt der Bundesregierung. Gerade die Repräsentanten des 1957 gegründeten BdV machten sich zu lautstarken Anwälten des Heimatrechts und der nationalen Ansprüche auf den „deutschen Osten“.3 Die von den Vertriebenenverbänden gebrauchten Parolen wie „Verzicht ist Verbrechen an Deutschland“ oder „Verzicht ist Verrat“ machen jedenfalls deutlich, dass die Heimatrechts- und Grenzfrage national aufgeladen und Bestandteil des na-

2 85. Sitzung des Deutschen Bundestages am 14. 9. 1950. In: Verhandlungen, 1. WP, 3187 f. 3 Z. B. Hirsch, Erinnerung, 20. Grundlage für diese Forderung war die Charta der Heimatvertriebenen. Hirsch attestiert ihr eine Mischung aus Radikalität und Mäßigung. Ahonen beschreibt die politischen Vertriebenenorganisationen als „pressure groups“. Siehe Ahonen, Heimat, 107–128.

Rückkehr in den Osten und Integration im Westen

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tionalen Selbstverständnisses der Vertriebenenorganisationen war.4 Drittens betraf die Heimatrechtsfrage auch das Verhältnis zu den östlichen Nachbarn und die Frage der Legitimität der europäischen Nachkriegsordnung, die von den Vertriebenenverbänden angezweifelt wurde. Die Debatten um Heimat und Heimatrecht waren demnach in die außen- und sicherheitspolitischen Orientierungs- und Selbstverständigungsdebatten der jungen Bundesrepublik eingebettet. Vor diesem Hintergrund präsentiert sich der Heimatdiskurs und die Forderung eines Rechts auf Heimat als Begründungsfigur, die auf eine Revision der Grenze und der Nachkriegsordnung zielte.5 In diesem Zusammenhang interessieren allerdings nicht so sehr die revisionistischen Implikationen, sondern die Auseinandersetzung mit Heimat soll hier auf ihre integrationspolitischen Implikationen befragt und die argumentativen Bezüge zwischen Heimatrechts- und Integrationsdebatten analysiert werden. Zwischen Integrationspostulat und Rückkehrpostulat bestand ein grundsätzliches, sich gegenseitig relativierendes Spannungsverhältnis, das argumentativ bewältigt werden musste, wenn nicht die eine Option zur Auflösung der anderen führen sollte.6 Um die integrationspolitischen Implikationen und die Kritik am Heimatrecht kontextualisieren und verstehen zu können, sind auch solche Stimmen zu rekonstruieren, die das Recht auf Heimat vertraten und legitimierten. Die Kommunikationsbedingungen der Auseinandersetzungen der 1960er Jahre im Zusammenhang mit der EKD-Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ von 1965 wurden im Wesentlichen in den 1950er Jahren geschaffen.7

4 Solche Parolen waren auf Kundgebungen der Verbände immer wieder zu lesen. Vgl. Kossert, Heimat, 139–192. 5 Ein besonders deutliches Beispiel für die revisionistische Lesart ist die Untersuchung von Thomas Heck, der die Debatten um Heimat und Heimatrecht vor dem Hintergrund des Entspannungspostulats und der Neuausrichtung der Ostpolitik interpretiert. Hier ist zuweilen ein normativer Unterton zu bemerken. Zwangsläufig erscheint das Heimatrecht hier als revisionistische Begründungsressource und die Vertriebenen als „Bremser“ in dieser Entspannungspolitik, was ja auch nicht falsch, aber differenzierungsbedürftig ist. Vgl. Heck, EKD, v. a. 113–206. 6 Dieses Spannungsverhältnis diagnostizieren: Beer, Flucht, 21; Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 104; Tolksdorf, Phasen, 117; Ackermann, Integration, 21; und Ahonen, Heimat, 119. 7 Dazu wird die protestantische Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff analysiert und herausgearbeitet, was jeweils unter Heimat verstanden wurde und welche integrationspolitischen Implikationen mit den jeweiligen Heimatverständnissen einhergingen. Neben der protestantischen Kritik am Recht auf Heimat ist auch auf die jeweiligen Legitimierungsstrategien einzugehen, ohne die der protestantische Heimatdiskurs unvollständig wäre – und ohne die die protestantische Infragestellung des Rechts auf Heimat nicht angemessen kontextualisiert werden kann.

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Die protestantische Bilanzierung des Integrationsprozesses

4.1.1 Zwischen Eingliederungserfolg und Rückkehrhoffnung Die argumentativen Zusammenhänge zwischen Integrationspolitik und Heimatdebatte zeigen sich bereits in der frühen Nachkriegszeit, so auf dem DEK und auf der ökumenischen Flüchtlingstagung 1949. Der Theologe, SPD-Politiker und niedersächsische Flüchtlingsminister Heinrich Albertz bekräftigte zwar den Anspruch auf die deutschen Ostgebiete und stellte alle integrationspolitischen Maßnahmen unter den Vorbehalt der Grenzkorrektur, „den ich als Deutscher […] in aller Deutlichkeit anzumelden habe.“8 Denn Deutschland war für den bruderrätlich orientierten Pfarrer ein „verstümmelter westdeutscher Raum“, der nicht in der Lage sei, „aus eigenen Kräften die Folgen der sinnlosen Amputation im deutschen Osten zu überwinden.“9 Zugleich kritisierte Albertz Rückkehrhoffnungen und -forderungen als Illusion: Statt der Suche nach einer nüchternen Lösung versucht man sich in die Illusion zu retten, die Rückkehr in den deutschen Osten stünde kurz bevor, als ob man eine außenpolitische Forderung an einer innenpolitischen Entscheidung vorbeidrücken könne.10

Dagegen warnte er: „Wer hinter dem Rücken von einer baldigen Rückkehr in den Osten flüstert und dadurch die Initiative der Entwurzelten endgültig erlahmt, begeht Verbrechen am Menschen.“11 Den Bundesarbeitsminister Anton Storch kritisierte Albertz dafür, dass dieser der Gewissheit Ausdruck verliehen habe, dass „wir jetzt die von den Polen verwalteten Gebiete in einigen Jahren wiedersehen würden.“12 Nach Albertz untergrüben solche Reden den Integrationswillen.13 Er selbst führe seit Jahren einen unpopulären Kampf darum, daß zwar die Forderung auf eine Revision im deutschen Osten niemals aufgegeben werden darf, daß wir aber hier im Westen so reden und handeln müssen, als ob kein einziger vertriebener Deutscher wieder nach Hause käme.14

8 Albertz, Heinrich: Die soziale Lage der Flüchtlinge. In: Hamburger Bericht, 15. 9 Ebd. 10 Albertz, Heinrich: Krise und Heilung des Gemeinschaftslebens. In: Evangelischer Pressdienst, Nr. 80/49, Sonderausgabe (EZA Berlin 71/3972). Noch deutlicher äußerte sich: Schabert, Arnold: Das Flüchtlingsschicksal als Infragestellung der menschlichen Existenz. Anhang zum Schreiben von Stella Seeberg an Hermann Ehlers, 11. 5. 1950 (EZA Berlin 71/1186). Unklar ist, ob dieses Referat gehalten wurde. 11 Albertz, Heinrich: Krise und Heilung des Gemeinschaftslebens. In: Evangelischer Pressdienst, Nr. 80/49, Sonderausgabe (EZA Berlin 71/3972). 12 Schreiben von Heinrich Albertz an Bundesarbeitsminister Anton Storch mit Abschrift an Bundesvertriebenenminister Hans Lukaschek, 16. 1. 1950 (BArch Koblenz B 150 1150, Bd. 1). 13 Ebd. 14 Ebd.

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Die Illusion der Rückkehr schwäche obendrein den „Willen zur Arbeit“ und bestätige das Bild des „faulen Flüchtlings.“15 Für Albertz war es kein Widerspruch, einerseits am Anspruch auf die Ostgebiete festzuhalten, andererseits illusorische Rückkehrforderungen zu kritisieren und vor „nationalistischer Agitation“ zu warnen. Für diese nüchterne Warnung vor Rückkehrhoffnungen wurde Albertz scharf kritisiert, obwohl er das Recht auf Heimat gar nicht bezweifelt hatte. Der „Heimatabend der Schlesier“ sprach dem Minister die Legitimität ab, „als Flüchtlingsminister Auffassungen zu vertreten, die die Vertriebenen gar nicht vertreten“ und erwartete, dass der Minister in entscheidenden Fragen mit der „Ganzheit der Flüchtlinge“ übereinstimmen müsse,16 Die DDR als negativer Referenzhorizont kam dabei deutlich zum Ausdruck, wenn die Verfasser des Schreibens behaupteten: Albertz ordne sich mit seinen Thesen „in die Front der Herren Pieck, Grotewohl und Genossen“ ein, weshalb er den „Kampf gegen Illusionen nicht mehr länger führen“ dürfe.17 Ähnlich wie Albertz warnte auch der CDU-Politiker und Theologe Eugen Gerstenmaier „lebhaft vor übertriebenen Erwartungen oder Illusionen bezüglich der Auswanderung und der Möglichkeiten der Rückkehr“, der die Oder-Neiße-Grenze explizit nicht anerkannte.18 Die rhetorische Affirmation der Integrität des „deutschen Ostens“ war wohl in dieser frühen Zeit – im Gegensatz zu den Auseinandersetzungen der 1960er Jahre – weniger eine Frage des politischen Bekenntnisses und weniger ein Indikator der politischen Lagerbildung, sondern Bestandteil des unhinterfragten Meinungswissens und selbstverständlicher, überparteilicher Bezugspunkt nationaler Identität. Eine Ausnahme war der Theologe Iwand, der das Heimatrecht vollends ablehnte.19 Auf dem Kirchentag in Essen von 1950 wurde die Vertriebenenproblematik erstmals „auf einer nicht von diesen [den Vertriebenen, FT] selbst einberufenen Massenversammlung solchen Ausmaßes gründlich erörtert und in eine breite Öffentlichkeit getragen.“20 Der Theologieprofessor Hans Joachim Iwand, der eine eigens eingerichtete Kirchentagsarbeitsgruppe „Heimat“ lei15 Ebd. 16 Schreiben des Heimatabends der Schlesier an Albertz vom 26. 6. 1948 (AdSD Bonn 1/HAAA 000 151). 17 Ebd. 18 Gerstenmaier auf der Flüchtlingstagung des Hilfswerks auf der Karlshöhe bei Ludwigsburg (ADW Berlin ZB 946). Den Rückkehranspruch bekräftigte Gerstenmaier vor der Synode. Siehe Gerstenmaier: Bericht über das Hilfswerk. In: Kirchenkanzlei, Berlin-Weissensee, 176. Vgl. auch Gegen die Grenze des Unfriedens. In: FAZ, 27. 4. 1950, 4. Auf dem DEK in Essen 1950 war Gerstenmaier der Kontrahent von Albertz. Hierzu Palm, Brüder, 72. 19 Vgl. unten 340-279 und 345-362. Die bestätigt sich auch durch den Sachverhalt, dass es gerade linksprotestantische und bruderrätliche Akteure wie Martin Niemöller und Gustav Heinemann waren, die, ähnlich wie die SPD, die Integrität des „Deutschen Ostens“ vehement betonten. Dabei spielte auch die Befürchtung eine Rolle, dass der Katholik Adenauer am „protestantischen deutschen Osten“ nicht interessiert sei und mit seiner Westintegrationspolitik eine Preisgabe der Ostgebiete bewirke (Greschat, Protestantismus im Kalten Krieg, 76–78). 20 Rudolph, Kirche Bd. II, 12.

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tete, bewertete in einem Entwurf für eine Resolution das Heimatrechtspostulat als politisches Ablenkungsmanöver von notwendigen Sozialreformen: Die von vielen noch aufrechterhaltene Hoffnung [auf eine Rückkehr, FT] [wird] von politischen Hasardeuren bestärkt und von Verwaltungen unterstützt, die notwendigen sozialen Reformen zu verzögern oder zu unterlassen.21

Die Kritik am Heimatrecht ergab sich für Iwand auch angesichts der nationalsozialistischen Vergangenheit, die er in ungewohnter Deutlichkeit thematisierte.22 Dagegen setzte der Theologe die Hoffnung, dass in einer „sozial gerechten und menschlich mitfühlenden Lösung des Flüchtlingsproblems der entscheidende Schritt zur Gesundung unseres Volkes liegt.“23 Die Resolution der Arbeitsgruppe „Heimat“ auf dem Essener Kirchentag schwächte Iwands Entwurf allerdings ab und sprach nur eine allgemein formulierte Mahnung an die Vertriebenen und Einheimischen aus: Ihr Vertriebenen, verzichtet auf Rache und Vergeltung, wie die Charta der deutschen Heimatvertriebenen es tut. Ihr Eingesessenen, sperrt euch nicht gegen den Lastenausgleich, sonst werden wir zu unserem Eigentum kein gutes Gewissen haben.24

Die Kirchentagsresolution reagierte damit auf die nur kurz zuvor proklamierte Charta der Heimatvertriebenen, in welcher führende Vertriebenenpolitiker das Recht auf Heimat bekräftigt, die Vertriebenen als die „am schwersten Betroffenen“ bezeichnet und zugleich einen Verzicht auf Rache und Gewalt ausgesprochen hatten.25 Die Verfasser der Kirchentagsresolution 21 Iwand, Hans Joachim: Entwurf für eine Entschließung (EZA Berlin 71/1187). In der veröffentlichten Version wurde die Entschließung abgeschwächt und die Forderung einer Sozialreform fallen gelassen. Vgl. Memorandum der Arbeitsgruppe II „Rettet die Heimat“, 26. 8. 1950. In: Deutscher Evangelischer Kirchentag, Kreuz, 64 f. Die Arbeitsgruppe V „Heimat“ war offenbar ein Spezifikum des Kirchentags, der 1950 in Essen stattfand. 22 So führte er aus: „Wir in Deutschland wissen uns vor allem schuldig an dem Verbrechen der aus unserer angestammten Heimat vertriebenen und ermordeten Juden, sowie an dem Leiden und Sterben der zu Millionen verschleppten Fremdarbeiter während des letzten Krieges“ (Ebd.). 23 Iwand, Hans Joachim: Entwurf für eine Entschließung (EZA Berlin 71/1187). 24 Die Entschließung ist abgedruckt in Rettet die Heimat! In: Deutscher Evangelischer Kirchentag, Kreuz, 65 f. Vgl. auch KJ 77 (1950), 19. 25 Abgedruckt ist die Charta der Heimatvertriebenen in ChrWelt, 10. 8. 1950, 1. Fortan nutzten die Vertriebenenverbände die Charta als aggressives „Quasi-Vetorecht“ gegen jede Verzichttendenz. Andererseits ist ihr auch eine domestizierende Funktion zuzusprechen. Vgl. Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 148. Kirchliche Akteure wie die EKD hatten bereits vor der Charta zum Verzicht auf Rache aufgerufen, was die Charta beeinflusst habe. Hierzu ebd., 147. Hanke behauptet eine direkte Kontinuität zwischen kirchlichen Positionierungen und Charta, was er auf die Bindung der Verbände an die Ostkirchen zurückführt. Vgl. Hanke, Deutschlandpolitik, 101 f. Die Auffassung von Merz, dass die Charta der Heimatvertriebenen eine „Frucht des Hilfswerks“ war, scheint allerdings übertrieben. Siehe Merz, Flüchtlingshilfe, 138 f. Heck betont neben dem Verzicht auf Rache auch den radikalisierenden, wenig kompro-

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setzten den Akzent gegenüber der Charta, die das Recht auf Heimat als „eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit“ definiert hatte, allerdings deutlich anders, ohne ein Heimatrecht expressis verbis infrage zu stellen oder zu bestätigen: Zwar wurde hier der „Raub der Heimat“ als „Sünde“ bezeichnet, jedoch fand die Forderung eines Rechts auf Heimat keinen expliziten Eingang in die Entschließung.26 Stattdessen wurde die Beheimatung der Vertriebenen im Westen in kirchlicher wie in gesellschaftspolitischer Hinsicht ins Zentrum gerückt.27 Das in der Resolution bekräftigte Integrationspostulat lässt sich durchaus als behutsame Relativierung des Heimatrechtsanspruches lesen, auch wenn sich Iwands deutlicherer Entwurf nicht durchsetzte. Die Annahme eines Konkurrenzverhältnisses zwischen Sozialpolitik bzw. Aufbauwillen und Heimatpolitik konnte auch genau anders herum gewendet werden. Die Akteure der Vertriebenenpolitik befürchteten, dass eine Integration in den Westen, die auch die Vertriebenenverbände unterstützten und forderten, eine Rückkehr in den Osten infrage stellte. Bereits die Charta der Heimatvertriebenen von 1950 bekräftigte sowohl das Integrationspostulat als auch das Recht auf Heimat und den Rückkehrwillen.28 Im Zusammenhang mit dem Lastenausgleich legte der OKA Wert auf die Feststellung, dass der Lastenausgleich Besitzansprüche in den deutschen Ostgebieten nicht tangiere.29 Dieser Aspekt wurde auch von säkularen Vertriebenenpolitikern und -verbänden vertreten und fand schließlich Eingang in den Gesetzestext des Lastenausgleichs.30 Ludwig Landsberg brachte es auf den Punkt: Die Vertriebenenorganisationen seien nicht bereit, „für das Linsengericht des Lastenausgleichs ihr Recht auf die Heimat zu verkaufen […].“31 Auch in der Mitte der 1950er Jahre spielte dieses Spannungsverhältnis zwischen Rückkehr und Eingliederung eine Rolle, wenn auch nicht mehr im Zusammenhang mit dem

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missbereiten Charakter der Positionen der Vertriebenenverbände. Siehe Heck, EKD, 115. Nach Zurek hätten katholische Akteure in sehr viel stärkerem Maße auf naturrechtlich-theonome Begründungsmuster zurückgegriffen, während die protestantischen Akteure tendenziell zurückhaltend waren. Inwieweit sich in der Charta der Heimatvertriebenen, die das Recht auf Heimat als „von Gott geschenktes Grundrecht“ bezeichnete, ein katholischer Einfluss zeigt, ist eine weiterführende, noch offene Frage. Siehe Zurek, Nationalismus, 198 f. Die Entschließung ist abgedruckt in Rettet die Heimat! In: Deutscher Evangelischer Kirchentag, Kreuz, 65 f. Der Bericht der Arbeitsgruppe ebd., 64 f. Während die Kirchentagsresolution eher reserviert gegenüber dem Heimatrecht war, brachte die Zeitschrift „Christ und Welt“ ihre Zustimmung deutlicher zum Ausdruck. Hier wurde die Charta als „erhabenes Dokument gesitteten Menschentums“ und als Ausdruck des „Bekenntnis[ses] zu Gottes heiligen Geboten und ewiger Ordnung“ bezeichnet (Das Recht auf Heimat. In: ChrWelt, 10. 8. 1950, 1). Rudolph, Kirche Bd. II, 14; Rettet die Heimat! In: Deutscher Evangelischer Kirchentag Kreuz, 65 f. Charta der Heimatvertriebenen. In: Lemberg/Edding, Vertriebenen, Bd. III, 662 f. Wort des OKA zum Lastenausgleich, o. V., o. D. (ADW Berlin ZB 886). Kossert, Heimat, 105. Landsberg, Situation, 9.

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Lastenausgleich, sondern im Kontext einer allgemein fortschreitenden sozialen und wirtschaftlichen Integration und Konsolidierung. Das Bundesvertriebenenministerium plante ab Mitte der 1950er Jahre eine Dokumentation über die Eingliederung der Vertriebenen in die Bundesrepublik, die unter dem Vorsitz von Eugen Lemberg von einer interdisziplinär zusammengesetzten Forschergruppe vorbereitet und konzipiert wurde.32 Angesichts der Tatsache, dass Mitte der 1950er Jahre auch Integrationserfolge auf wirtschaftlicher Ebene zu verzeichnen waren, befürchtete Max Hildebert Boehm, dass die Konzeption des dreibändigen Sammelwerks zu stark auf eine positive Integrationsbilanz ausgerichtet sei, was vor allem für die Bewertung des Heimatrechts im Ausland Konsequenzen habe: So wird es jedenfalls aus manchen ausländischen Stimmen ersichtlich. Prof. Boehm hat die Sorge scharf formuliert: Wenn die Probleme in Fluß geraten sind, die Leistungen auf verschiedenen Gebieten vollbracht wurden (deutsches Wirtschaftswunder infolge der Vertreibung), dann könnte man folgern, die Vertreibung war gar nicht so schlecht, es hat keinen Sinn, sich für die Herstellung des Rechtes, um die Wiedergewinnung der Heimat einzusetzen.33

Die Akteure der Vertriebenenpolitik versuchten, das Spannungsverhältnis von Integration und Rückkehr argumentativ zu bewältigen, indem sie die Integration als temporär notwendig oder das Verhältnis von Rückkehr und Integration als ein komplementäres dachten. Die Vertriebenen seien, wie Landsberg in der Zeitschrift „Remter“ feststellte, nicht bereit, „irgendeine wirtschaftliche Eingliederungsmaßnahme anders als unter dem Gesichtspunkt der Vorläufigkeit und der Rückkehr zu sehen.“34 Der Flüchtlingssoziologe Eugen Lemberg dachte die Integration im Westen in seinen frühen Beiträgen als Voraussetzung für die Rückkehr, allerdings äußerte sich Lemberg in seinen späteren Beiträgen zurückhaltender gegenüber dem Recht auf Heimat.35 Im Rekurs auf Lemberg führte Girgensohn aus: Die Vertriebenen mussten in der jetzigen Umgebung ihre Heimatfähigkeit unter Beweis stellen und müssen dies auch weiterhin. […] Insofern ist die Einwurzelung

32 Das geht hervor aus: Bericht über die „Forschungsgruppe Eingliederung“, Kurzreferat von Oberregierungsrat Graebe am 28. 10. 1954. Anhang zur Niederschrift der 2. Sitzung des Beirats beim Bundesvertriebenenministerium am 28. 10. 1954 ,(BArch Koblenz B 150/004342). 33 Andererseits verstanden die Herausgeber die Dokumentation als einen „Rechenschaftsbericht“, der Integrationserfolge und Integrationsdefizite gleichermaßen benennt. Siehe Bericht über die „Forschungsgruppe Eingliederung“, Kurzreferat von Oberregierungsrat Graebe am 28. 10. 1954. Anhang zur Niederschrift der 2. Sitzung des Beirats beim Bundesvertriebenenministerium am 28. 10. 1954 (BArch Koblenz B 150/004342). 34 Landsberg, Situation, 9. 35 Den Begriff der Heimatfähigkeit behielt er bei. Siehe Lemberg, Geschichte, 218 f. Zur Komplementarität insgesamt siehe Ahonen, Heimat, 118 f. Später äußerte sich Lemberg gegenüber einer Rückkehr deutlich skeptischer.

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in der jetzigen Umgebung geradezu Vorbedingung für eine Rückkehr, für die Fähigkeit, in der Zukunft in der alten Heimat Heimat zu schaffen.36

In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Integration und Rückkehr kam es dabei auch zu Diskrepanzen zwischen Wissenschaft und Politik, wie die dreibändige Dokumentation verdeutlicht. Hier hatten die beteiligten Wissenschaftler tatsächlich eher die Integrationserfolge herausgestellt, was die heimatpolitische Zielsetzung Theodor Oberländers konterkarierte: Im Vorwort erklärte Oberländer: Die Herausgeber hatten selbstverständlich die wissenschaftlichen Überzeugungen der Autoren zu respektieren. […] Es bedarf mithin kaum der Betonung, daß […] sich mein Ministerium mit den hierin gegebenen Auffassungen nicht in allen Einzelheiten identifizieren kann.37

4.1.2 Zwischen theologischer Legitimation und Kritik: Das Recht auf Heimat als moralisches, rechtliches und theologisches Problem Recht auf Heimat und Sendung im Osten: Die Tagungen des Ostkirchenkonvents 1952/1953 Die theologische Klärung des Heimatbegriffs und die theologische Auseinandersetzung mit dem Recht auf Heimat, das von den Vertriebenenorganisationen mit großer Vehemenz gefordert wurde, zählten zu den zentralen Anliegen der evangelischen Vertriebenenseelsorge. Die protestantische Auseinandersetzung war dabei ausgesprochen vielgestaltig und umfasste sowohl kritische, behutsam relativierende als auch affirmative und legitimierende Positionen. Die Heimatfrage stand auf drei Tagungen des OKKs im Mittelpunkt, so auf der Tagung „Heimat und Volkstum“ 1952 in Travemünde,38 auf der Tagung „Europäische Sendung – evangelischer Auftrag“ 1953 in Bad Reichenau39 und auf der Tagung „Heimatrecht und Selbstbestimmungsrecht“ 1959 in Königswinter.40 Zu Beginn der 1950er Jahre wurden die Rückkehransprüche im Kontext einer übergreifenden, allerdings auch umstrittenen Abendlandidee diskutiert, während Ende des Jahrzehnts neue Legitimationsressourcen bemüht wurden. Pikant an diesem Interpretationszusam36 Girgensohn, Recht auf Heimat als Menschenrecht, 2. Analoge Argumentationsfiguren finden sich in den Debatten über die Kulturpolitik und über die Integration der vertriebenen Landwirte. Vgl. oben 137–141. 37 Oberl nder, Geleit. Vgl. auch unten 429–434. 38 Entwurf. Niederschrift der Tagung des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen, 12.–14. 10. 1952 (EZA Berlin 17/701). 39 Rundschreiben von Gerhard Gülzows an die Mitglieder des OKAs, o. D. (EZA Berlin 17/720). 40 Tagungsprogramm der Tagung Heimatrecht und Selbstbestimmungsrecht, Königswinter, 22.–24. 9. 1959 (EZA Berlin 17/720).

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menhang ist der Sachverhalt, dass manche Akteure bereits vor 1945 aktiv an der nationalsozialistischen Eroberungspolitik an leitender Stelle mitgewirkt oder diese mit vorbereitet hatten und sich nun auf den Tagungen des OKKs für eine Rückkehr in den Osten aussprachen.41 Auf der ersten Tagung des Konvents der zerstreuten Ostkirchen zum Thema „Heimat und Volkstum“ wurde die Frage, ob es ein Recht auf Heimat gebe und was unter Heimat zu verstehen sei, unterschiedlich beantwortet.42 Der evangelische Christ und Staatssekretär im Bundesvertriebenenministerium Ottomar Schreiber hatte zwar einerseits darauf hingewiesen, dass Heimat nicht das „Territorium, sondern das Geflecht [ist], das den Menschen umgibt und schützt.“43 In demselben Referat hob er allerdings auch die „große Bedeutung Ostdeutschlands für den Protestantismus“ hervor, sah eine Rückkehr in die Heimat in Form einer „Kolonisation und Mission“ als gerechtfertigt an und postulierte die Pflicht, die „verletzte Rechtsordnung“ wieder herzustellen.44 Protestantismus und Ostdeutschland gehörten für Schreiber zusammen, denn die „Zusammenballung der evangelischen Kräfte liegt in Ostdeutschland.“45 Landesflüchtlingspfarrer Gerhard Gehlhoff adressierte an solche Theologen, die auf die irdische Heimatlosigkeit des Christen verwiesen, eine deutliche Warnung: „Wer so predigt, wird von den Landsmannschaften abgelehnt.“46 Angesichts der positionellen Heterogenität diagnostizierten die Akteure der kirchlichen Vertriebenengremien die Ungeklärtheit des Heimatbegriffs, forderten seine Klärung ein und vermieden eine eindeutige Festlegung, auch weil sich der Konvent in einer „bipolaren Stellung“ befinde.47 Um eine solche zu erarbeiten, wurde die Gründung einer Zeitschrift angeregt, die hauptsächlich der Klärung solcher Fragen und Probleme gewidmet war. Im Ergebnis entstand schließlich die vom Bundesvertriebenenministerium mitfinanzierte Zeitschrift „Der Remter. Schriften für ostdeutsche Besinnung“, die 1954 erstmals erschien.48 Die Abendlandidee war, wie sich anhand der Tagungen des OKKs zeigt, eine gebräuchliche Abgrenzungsfigur gegenüber dem östlichen Kommunismus. 41 So z. B. der Volkskundler und Bevölkerungspolitiker Peter-Heinz Seraphim. Hierzu Petersen, Art. Seraphim, 639–642. Vgl. v. a. Anm. 51. 42 Entwurf. Niederschrift der Tagung des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen, 12.–14. 10. 1952 (EZA Berlin 17/701). Ausführlicher hierzu v. a. oben 321–329. 43 Wortbeitrag Ottomar Schreiber. In: Ebd. Ähnlich äußerte sich der Direktor des Kirchendienstes Ost, Richard Kammel. Beide dachten primär an die deutsche Kultur- und Aufbauleistung im Osten. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd. Siehe außerdem Wortbeitrag von Joachim Konrad. In: Niederschrift über die Tagung des Konvents der zerstreuten Gliedkirchen in Königswinter, 18.–20. 5. 1952 (EZA Berlin 17/699). 48 Niederschrift der Tagung des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen, 12.–14. 10. 1952 (EZA Berlin 17/701). Zwei Jahre später wurde diese Zeitschrift schließlich gegründet. Hierzu G lzow, Geleit, 3 f.

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Demnach wurde zwischen einem antichristlichen, kommunistischen Osten und einem christlich-europäischen Abendland unterschieden. Auf der Tagung „Europäische Sendung – evangelischer Auftrag“49 gebrauchten einige Referenten und Teilnehmer die Vorstellung eines Abendlandes, um „den Unterschied zum Osten deutlich“ hervorzuheben. Iwands Versöhnungspostulat wurde in diesem Zusammenhang als idealistisch und gegenüber dem Kommunismus als nicht anwendbar kritisiert, da der Kommunismus einen aggressiven Expansionskurs verfolge.50 Teilweise ist auch die Tendenz erkennbar, den Ost-West-Gegensatz religiös zu überhöhen und eine Kampfsituation zu konstruieren. Es gehe, wie der NS-belastete deutschbaltische Volkskundler Peter-Heinz Seraphim ausführte, nicht nur um die Machtposition des Kommunismus, sondern um die „Antireligion“, und hierbei „um die echte christliche Aufgabe, diesem Anti das Abendland in seiner Prägung entgegenzustellen.“51 Allerdings äußerten sich der Vorsitzende des OKAs, Herbert Girgensohn, und der Geschäftsführer Friedrich Spiegel-Schmidt in Iwands Sinne, indem sie eine Befreiung des Heimatverständnisses von der Ideologie postulierten.52 Girgensohn und Spiegel-Schmidt waren offenbar bemüht, den Konsens des kirchenpolitisch und theologisch heterogenen OKAs herzustellen und Iwands Unterstützung zu gewinnen; jedenfalls zeigten sie sich erleichtert darüber, dass Iwand mit seinem „wertvollen Beitrag“53 eine „Aufgabe gegenüber dem Osten“ bejaht und ein „Abrutschen des Ostkirchenausschusses“ in ein „großes Anti“ verhindert habe.54 Iwand zeigte sich im Anschluss „ganz beglückt […] von der freundlichen Aufnahme, die mein improvisiertes Referat im Kreis der ,zerstreuten evangelischen Ostkirchen‘ gefunden hat.“55 Die 49 Rundschreiben von Gerhard Gülzow an die Mitglieder des OKAs, o. D. (EZA Berlin 17/720). 50 Wortbeiträge von Gerhard Gülzow und Sanders. In: Niederschrift über die Tagung des Konvents der zerstreuten Ostkirchen in Reichenau, 5.–7. 10. 1953 (EZA Berlin 17/704). 51 Wortbeitrag Seraphim. In: ebd. Pikant an Seraphim ist, dass er nun eine Kampfsituation konstruierte, die direkt an seine Arbeit der 1930er und 40er Jahre anknüpfte. Er hatte während der NS-Zeit den Überfall auf die Sowjetunion mit vorbereitet und die „Endlösung der Judenfrage“ gerechtfertigt. Weitere strukturanaloge Beispiele ließen sich nennen. Carl Brummack hatte auf einer ostkundlichen Arbeitstagung eine Identität von Missionierung und Kolonisierung behauptet und dabei auf die „Geisteskräfte des Christentums und des Volkstums […]“ verwiesen (Brummack, Carl: Vortrag auf der Ostkundlichen Arbeitstagung des Ministeriums für Arbeit, Soziales und Vertriebene vom 15.–19. 5. 1956, BArch Koblenz B 150/2331). Zu Seraphim siehe Petersen, Art. Seraphim, 639–642; ders., Bevölkerungsökonomie. 52 Gerade die Kritik an der Ideologie war bei Iwand immer wieder zu finden. Vgl. Seim, Iwand, 433. 53 So Girgensohn über Iwands Referat. In: Niederschrift über die Tagung des Konvents der zerstreuten Ostkirchen in Reichenau, 5.–7. 10. 1953 (EZA Berlin 17/704). 54 Niederschrift über die Sitzung des Konvents der zerstreuten evang. Ostkirchen, 10. 10. 1953 (EZA Berlin 632/2). Ob Iwand damit eine Missionsaufgabe meinte, scheint zumindest fraglich. 1950 hatte Iwand eine „Bekehrung des Ostens“ zu einem „westlichen Glauben“ und einer „westlichen Gerechtigkeit“ explizit abgelehnt. Wortbeitrag Iwand. In: Kirchenkanzlei, Berlin-Weissensee, 123. 55 Schreiben von Hans Joachim Iwand an Friedrich Spiegel-Schmidt, 21. 11. 1953; Schreiben von Helmut Gollwitzer an Friedrich Spiegel-Schmidt, 9. 11. 1953 (EZA Berlin 17/704).

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vielseitig interpretierbare Formulierung „Aufgabe gegenüber dem Osten“ schien zunächst den Konsens zwischen den divergierenden politischen und theologischen Lagern zu ermöglichen. Der erkennbare Versuch, Iwand einzubinden, korrespondiert mit dem Bemühen, von Karl Barth beeinflusste oder bruderrätliche Theologen wie Helmut Gollwitzer, Ernst Wolf oder Karl Barth auf die Tagungen des OKKs und der Hermannsburger Forschungsstelle einzuladen, die allerdings allesamt absagten.56 Die Reichenauer Tagung war letztlich an einer Verhältnisbestimmung von Ost und West interessiert. Eine solche hatte nicht zuletzt Konsequenzen für das Recht auf Heimat und die Rückkehrmöglichkeiten. Die Vorstellung feindlich gegenüberstehender Blöcke ließ sich zugleich auf die Frage eines Heimatrechts beziehen: Besitz- und Rechtsansprüche auf ein verlorenes Territorium ließen sich im Modus einer übergreifenden, religiös legitimierten Mission oder Sendung artikulieren. Der Kampf für ein Recht auf Heimat erschien nicht nur als Kampf für eigene Ansprüche, sondern war die Konsequenz einer „christlichen Sendung und Aufgabe“ für den Osten und die osteuropäischen Völker, die vom Kommunismus unterdrückt waren. Zudem stellte dieser Deutungsrahmen ein Interpretations- und Sinnstiftungsangebot für den Verlust der Heimat bereit: Dieser wurde aus dem Ursachenzusammenhang „Nationalsozialistische Vernichtungspolitik – Vertreibungsgeschehen“ herausgelöst und erschien als Ergebnis eines übergreifenden, religiös überhöhten, noch anhaltenden Kampfes zwischen „Christentum und Bolschewismus.“ Verantwortlich für den Heimatverlust war demnach die als unrechtmäßig, aggressiv, expansiv und antichristlich bezeichnete Politik der sowjetischen Regierung.57 Die Abendlandidee, die die christlichen Wurzeln Europas behauptete und damit zugleich die Bedeutung der Kirchen unterstrich, ermöglichte es, an Besitz-, Kolonisations- und Missionsansprüchen festzuhalten und zugleich die Aus56 Spiegel-Schmidt erklärte gegenüber Stella Seeberg, dass man Wert darauf lege, „einen Vertreter der dialektischen Theologie“, darunter Helmut Gollwitzer und Karl Barth, auf die nächste Hermannsburger Flüchtlingstagung einzuladen. Hierzu Schreiben von Friedrich SpiegelSchmidt an Stella Seeberg, 2. 12. 1952 (EZA Berlin 17/566); Schreiben von Stella Seeberg an Spiegel-Schmidt, 29. 5. 1953; und Schreiben von Stella Seeberg an Spiegel-Schmidt, 29. 6. 1953 (EZA Berlin 17/624). Barth sagte ab; ebenso Ernst Wolf, während von Gollwitzer kein Antwortschreiben überliefert ist. Das geht hervor aus: Schreiben von Stella Seeberg an SpiegelSchmidt, 29. 5. 1953 (EZA Berlin 17/624). Wendland steht zwar zwischen den Lagern, grenzte sich aber klar vom konservativen Luthertum ab und kann ebenfalls als Beispiel für den lagerübergreifenden Anspruch genannt werden. Wendlands Vortragstätigkeit auf Tagungen des OKAs wurde oben auf 107 bereits erwähnt. Eine von Wendland vorgeschlagene Kooperation mit dem OKA wurde nicht realisiert. Siehe hierzu Schreiben von Wendland an SpiegelSchmidt, 5. 5. 1958; Schreiben von Gerhard Rauhut an Heinz Dietrich Wendland, 14. 5. 1958 (EZA Berlin 17/584). 57 Mehrfach wurde auf die Aggressivität der sowjetischen Herrschaft hingewiesen. Vgl. die Wortbeiträge von Gülzow, Sanders, Seraphim und Alberti. Niederschrift über die Tagung des Konvents der zerstreuten Ostkirchen in Reichenau, 5.–7. 10. 1953 (EZA Berlin 17/704). Die Gegenüberstellung christliches Abendland vs. kommunistischer Osten war eine traditionsreiche Denkfigur und begünstigte den Anschluss vieler Protestanten an den NS.

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einandersetzung mit der NS-Vergangenheit zu umgehen.58 Auch die aggressiven Expansionspläne von Vertretern der volksdeutschen Bewegung wie Seraphim, die ihre Expansionsbestrebungen vor 1945 antikommunistisch und völkisch begründet hatten, ließen sich nach 1945 problemlos in die nun christlich und antikommunistisch konnotierte Abendlandidee integrieren und semantisch transformieren. Gerade das gemeinsame Feindbild des Kommunismus und die Ideologie des Antikommunismus fungierten nicht nur als Deutungsrahmen für Besitzansprüche, sondern evozierten die Zustimmung von Vertriebenenakteuren zur antikommunistisch begründeten Westintegrations- und Wiederbewaffnungspolitik der Adenauerregierung und auch zur Bundesrepublik insgesamt. Der Antikommunismus war ein erheblicher Integrationsfaktor.59 Ab Mitte der 1950er Jahre ist eine Polarisierung des OKAs und des OKKs erkennbar. Anlass dafür waren nicht so sehr die Heimatrechtsfrage, sondern aktuelle politische Kontroversen wie die Wiederbewaffnungs- und Westintegrationsfrage, die innerhalb des Protestantismus mit großer Schärfe diskutiert wurden und die auch das Recht auf Heimat und den Rückkehranspruch tangierten.60 Allein die Situation der „Ostwestspannung“ wurde als seelsorgerliche Herausforderung empfunden.61 Der OKA hatte sich aufgrund von „Bitten vieler Heimatvertriebener“ veranlasst gesehen, „aus der Sicht der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge ein seelsorgerliches Wort […] zu den schwerwiegenden politischen Fragen, die unser Volk jetzt aufs Tiefste bewegen“, zu verfassen.62 Denn den jetzt vorliegenden Entscheidungen könne man sich nicht verschließen, da nun ein Weg beschritten würde, „der auch über die

58 Neben dem OKK war es v. a. die evangelische Akademie Hermannsburg-Loccum, die sich der Abendlandidee verpflichtet fühlte. In Hermannsburg-Loccum diente sie auch der Behauptung eines christlichen Europas, das nicht nur gegenüber dem Osten, sondern auch gegenüber der befürchteten Amerikanisierung abgegrenzt wurde. Zugleich ließ sich an die antikommunistische Politik und Rhetorik Adenauers anknüpfen. Die Bedeutung der Abendlandidee im Protestantismus ist noch nicht abschließend erforscht. Speziell zur Akademie HermannsburgLoccum siehe Schildt, Abendland; 120–149, v. a. 135–138; und die im August 2017 erscheinende Habilitationsschrift von Martina Steber: Steber, Hüter. 59 Rudolph, Ostpolitik, 470, 477 und 494–497; ders., Kirche Bd. II, 8; Ahonen, Heimat, 124–126. Stephan Linck erblickt im Antikommunismus einen zentralen Integrationsfaktor. Vgl. Linck, Anfänge, 318. Für Wolfrum ist er „eine für alle tragfähige Integrationsideologie“ (Wolfrum, Bundesrepublik, 94). Zum Antikommunismus im Protestantismus: Loos, Stimmen. 60 Rudolph, Kirche Bd. II, 33. Zu den protestantischen Debatten um Wiederbewaffnung und Westintegration auch Greschat, Protestantismus im Kalten Krieg, 102–116; ders., Protestantismus und Evangelische Kirche, 548. 61 Vertriebenengottesdienst in der Christuspredigt. Grundlinien der Predigt (EZA Berlin 17/ 638). 62 Die Initiative für dieses seelsorgerliche Wort ergriff der Vorsitzende der baltischen Landsmannschaft, Baron Manteuffel-Szoege, während eines Gesprächs zwischen kirchlichen Vertretern und Landsmannschaften am 28. 2. 1955 in Bonn. Siehe Rudolph, Kirche Bd. II, 33, FN 123.

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Zukunft unserer Heimat entscheidet.“63 Das seelsorgerliche Wort des OKAs lässt eine klare antikommunistische Stoßrichtung erkennen: Die evangelische Kirche sagt ein klares Nein zum Bolschewismus. Sie sagt es zu jeder Ideologie, die den Menschen total in Anspruch nehmen will. Als Christen sehen wir auch vor und vor allem hinter dem Eisernen Vorhang den Menschenbruder. Deshalb unterscheiden wir den Bolschewismus von den von ihm beherrschten Völkern.64

Die Verfasser beanspruchten hier, für die osteuropäischen, kommunistisch regierten Völker zu sprechen, legten aber auch ein Bekenntnis zur Versöhnung ab.65 Die „Liebe zum Menschen“ und der „Wille zum Helfen“ erfordere von den Vertriebenen, „daß sie auch dem gefährlichsten Gegner ins Auge sehen und den diplomatischen Kampf mit ihm aufnehmen.“66 Zugleich nahm das Wort auf die aktuelle Kontroverse der Kriegsdienstverweigerung Bezug. Im Hinblick auf diese Streitfrage, wegen der „viele von Euch in Gewissensnot geraten sind“, verwiesen die Verfasser auf die Loyalitätsverpflichtung des Christen gegenüber Staat und Gesetz.67 Zwar betonten die Verfasser, dass die Kirche die Haltung der Kriegsdienstverweigerer akzeptieren müsse, doch ließen sie keinen Zweifel daran, wie die Kriegsdienstverweigerung zu bewerten sei: Aber wir müssen bewusst sein, dass [sic] durch diese Haltung [die der Kriegsdienstverweigerung, FT] kein Krieg verhindert wird. Sie bleibt Haltung des Sektierers, dem es genügt, sich selbst gerecht aus den Händeln der Welt herauszuhalten und diese dem Teufel zu überlassen. Wir achten sie, weil wir die Glaubensfreiheit achten, aber wir evangelischen Christen sind der Welt einen besseren Dienst an der Erhaltung ihres Friedens schuldig. Weil es uns wirklich um den Frieden geht, können wir einen solchen Weg nicht gehen.68

Dieser Entwurf rief den Protest Iwands hervor, für den die Kriegsdienstverweigerung eine wünschenswerte Alternative, wenn nicht sogar friedensethische Verpflichtung war: Sie werden sich ja wohl nicht gerade wundern, dass [sic] ich zu dem, was Sie mir da als Entwurf eines Wortes an die Heimatvertriebenen zugesandt haben, nach Form und Inhalt, theologisch wie politisch einfach Nein sage. Sie können ja nicht gut erwarten, dass wir von Ihnen duldsam und christlich als irrende Brüder toleriert, dazu noch unsere Unterschrift geben. Sie können auch nicht erwarten, dass mein 63 Entwurf für die auf der nächsten Sitzung zu fassende Entschließung des OKAs und eines seelsorgerlichen Wortes an die Heimatvertriebenen, o. D. (EZA Berlin 17/573). 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Ebd.

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Verstand soweit geschwächt und mein Glaube so kraftlos geworden wäre, dass ich so etwas auch nur als Diskussionsgrundlage anzunehmen vermag. Wenn der Ostkirchenausschuss diese Linie weiter beschreitet, muss er damit rechnen, dass er aufgehört hat, weiterhin ein einheitliches Organ der Sammlung für uns alle zu sein.69

Neben der Haltung zur Kriegsdienstverweigerung war es auch der der Abendlandidee inhärente Antikommunismus, der den Unmut des Theologen erregte. Schon zuvor, nämlich auf der Synode in Berlin-Weißensee 1950, hatte Iwand der Besorgnis Ausdruck verliehen, dass der Antikommunismus die Legitimation für eine dem Osten gegenüber aggressive, den Frieden gefährdende Haltung darstelle, „daß man einen Raum schafft von Gottlosen, über den man dann ohne Gewissenbedenken Bomben wirft.“70 Den Einwand Spiegel-Schmidts, dass man „bewusst schonsam gegen Ihre Seite geschrieben“ habe und dass man „der Welt den Frieden vorexerzieren“ müsse, ließ Iwand unbeeindruckt, der sich nun offiziell vom OKA distanzierte.71 Die antikommunistische Haltung des OKAs verglich er mit der theologischen Haltung der Deutschen Christen während der NS-Zeit: „Es ist genau dieselbe Haltung an Theologen, die ich – auf der anderen Seite – 1933 erlebte. Sie haben nichts dazugelernt.“72 Spiegel-Schmidt warf Iwand wiederum Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen vor.73 Der Konflikt verlagerte sich vermehrt in die evangelische Presse. Vor allem die bruderrätlich orientierte Zeitschrift „Junge Kirche“ und die dem OKA nahestehende Zeitschrift „Der Remter“ waren hieran beteiligt.74 Den konkreten Anlass für die weitere Verschärfung bildeten die Pläne des OKAs für die Errichtung eines Ostkircheninstituts in Münster, das in Konkurrenz zu einem von Iwand geplanten ökumenischen Institut in Bonn geriet und das, in der Wahrnehmung von Spiegel-Schmidt, das geplante Ostkircheninstitut zu konterkarieren und zu verdrängen beabsichtigte.75 69 Schreiben von Hans Joachim Iwand an Friedrich Spiegel-Schmidt, 15. 3. 1955 (EZA Berlin 17/ 573). Der Vorsitzende des OKAs, Gerhard Gülzow, zeigte sich später nicht sehr erfreut über die Entfremdung zwischen Iwand und Spiegel-Schmidt. Vgl. Schreiben von Gerhard Gülzow an Carl Brummack, 1. 7. 1957; Schreiben von Gerhard Gülzow an Friedrich Spiegel-Schmidt, 3. 10. 1957 (EZA Berlin 632/3). 70 Wortbeitrag Iwand. In: Kirchenkanzlei, Berlin-Weissensee, 123. Im sog. „Darmstädter Wort“ zur Schuldfrage hatte Iwand den Antikommunismus als „Irrweg“ bezeichnet, der den Anschluss an den NS ermöglicht habe. Hierzu Lepp, Tabu, 70. 71 Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an Hans Joachim Iwand, 18. 3. 1955. Zu Iwands Distanzierung: Scheiben von Iwand an Spiegel-Schmidt, 21. 3. 1955 (EZA Berlin 17/573). 72 Schreiben von Hans Joachim Iwand an Friedrich Spiegel-Schmidt, 23. 3. 1955 (EZA Berlin 17/ 305). 73 Ebd. 74 V. a. Spiegel-Schmidt, Antwort, 21–23; Iwand, Entgegnung, 512–514. 75 Spiegel-Schmidt witterte hier eine Intrige Iwands beim Düsseldorfer Kultusministerium. Iwand habe in den Finanzierungsverhandlungen im Düsseldorfer Kultusministerium gezielt versucht, das geplante Ostkircheninstitut vom Markt zu verdrängen. Von Lilje erhoffte sich SpiegelSchmidt Unterstützung, da dieser die Pläne des OKAs bislang tatkräftig unterstützt habe. Das geht hervor aus: Scheiben von Spiegel-Schmidt an Landesbischof Hanns Lilje, 14. 12. 1956 (LKA

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Diese Kontroverse offenbart grundsätzliche theologische und politische Diskrepanzen, die insbesondere die Haltung zum Kommunismus und zur Kriegsdienstverweigerung betrafen.76 Heimatrecht als göttliches Recht: Theonome Begründungsfiguren auf der Tagung des Ostkirchenkonvents in Königswinter und die Königswinterer Thesen Im Verlauf der 1950er Jahre dynamisierten und polarisierten sich die Debatten über die Frage des Heimatrechts, was nicht ohne Wirkung auf den OKA blieb. Die politischen Vertriebenenorganisationen hatten sich zu Beginn der 1950er Jahre zu politischen „pressure groups“ entwickelt und erwarteten von der evangelischen Kirche und insbesondere von den evangelischen Vertriebenengremien Unterstützung, beispielsweise in Form einer theologischen Legitimierung des Heimatrechts.77 Diese Erwartungshaltungen beeinflussten auch die Auseinandersetzungen im OKK, zumal auch personelle Verbindungen zwischen weltlichen Landsmannschaften und kirchlichen Vertriebenengremien bestanden, einige Landsmannschaften aus den kirchlichen Hilfskomitees hervorgegangen waren und die Vertriebenenverbände die kirchlichen Vertriebenengremien mit ihren Anliegen immer stärker bedrängten.78 Bereits Hannover L 3 III/1268). Wenig später fand ein klärendes Gespräch zwischen den Vertretern des OKAs und der Jungen Kirche statt, „um die Fragen der seelsorgerlichen Verantwortung für die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge […]zu besprechen.“ Als Konsens wurde die „Notwendigkeit der Hilfe für die christlichen Brüder im Osten […] allgemein bejaht“ (Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an OKR Kloppenburg, 18. 2. 1958, EZA Berlin 17/580). 76 Wie noch zu zeigen ist, lagen Spiegel-Schmidt und Iwand in der Bewertung des Rechts auf Heimat nicht so weit auseinander. Die theologischen und kirchenpolitischen Konfliktlinien entsprachen demnach nicht einer starren Dichotomie von Bruderräten und Lutheranern, sondern folgten themen- und kontextbedingt ihrer eigenen diskursiven Dynamik. Vgl. unten 362–371; 362–377; 385–391; und 409–415. 77 Girgensohn, Recht auf Heimat als Menschenrecht, 21. Zur politischen Bedeutung der Vertriebenenorganisationen: Herbert, Ausländerpolitik, 197; und Stickler, Vertriebene, 177. Zur Funktion als außenpolitische Pressure Groups sowie zu den Erwartungshaltungen der Verbände gegenüber den evangelischen Vertriebenengremien auch Heck, EKD, 115–117. Nach Heck sei es den Vertriebenenverbänden sogar gelungen, aktiv Einfluss zu nehmen und eine anvisierte Gewaltverzichtserklärung der Bundesregierung zu verhindern. 78 Zudem bestanden auch personelle Verbindungen zwischen OKA und den Landsmannschaften bzw. dem ZvD. Der „Deutsche Ostdienst“ sprach explizit von „personellen und sachlichen Verbindungen zum Ostkirchenausschuss“ (DOD vom 13. 2. 1963: Berichte und Kommentare: Die Kirchen und das Recht auf Heimat, BArch Koblenz B 234/1429). Zur Bedrängung siehe Rudolph, Kirche Bd. II, 22 f. Ottomar Schreiber war Mitglied des OKAs und Sprecher des ostpreußischen Landsmannschaft; Franz Hamm Vorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Jugoslawien und zugleich Beauftragter des Hilfskomitees der Evangelischen Deutschen aus Jugoslawien; Gülzow Vorsitzender des OKAs und Mitglied der westpreußischen Landsmannschaft; Leonid von Cube Vorstandsvorsitzender des OKKs und Vorsitzender der Deutsch-Baltischen Landsmannschaft. Hierzu die Biogramme bei Rudolph, Kirche Bd. II,

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die Charta der Heimatvertriebenen deutete diesen Aspekt an, als sie das Recht auf Heimat „als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit“ bezeichnete.79 Immer wieder wurde das Recht auf Heimat als „göttliches Recht“ attribuiert. Der Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter sprach beispielsweise von der „Liebe zur Heimat“ als einem „menschlichem und göttlichem Recht.“80 Zeitgleich, und dies erklärt die Vehemenz, mit der die Vertriebenenorganisationen das Heimatrecht und seine Legitimation einforderten, geriet das Heimatrechtspostulat durch einzelne protestantische Akteure unter Druck, die sich während der 1950er und frühen 1960er Jahre aus außenpolitischen und friedensethischen Erwägungen heraus öffentlich für eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze aussprachen oder ein Recht auf Heimat infrage stellten. Zu denken wäre hier vor allem an Klaus von Bismarck, der 1954 auf dem DEK in Leipzig öffentlich auf seine pommerschen Güter verzichtete und erklärte, dass er „keinen Weg“ sehe, „dorthin zurückzugelangen ohne Krieg und neue große Schrecken. Ich will nicht zurück um diesen Preis.“81 Martin Niemöller erklärte 1957 im Anschluss an eine Reise nach Polen, dass er sich eine baldige Rückkehr nicht vorstellen könne.82 Zugleich verlieh er der Hoffnung Ausdruck, „dass die deutschen Menschen, die zurückkehren wollen, ohne Änderung der Staatszugehörigkeit das tun könnten.“83 Obwohl Niemöller das Recht auf Heimat an sich gar nicht infrage gestellt, sondern lediglich auf die Unwahrscheinlichkeit einer Rückkehr hingewiesen hatte, erntete er scharfe Reaktionen des BdV.84 Ebenso ging es dem berühmten reformierten Theologen Karl Barth, der 1960 Thesen zum Hei-

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336–372. Philipp von Bismarck war zwar kein formales Mitglied des OKAs, aber nahm regelmäßig an den Tagungen teil und war in protestantischen Kommunikationszusammenhängen engagiert. Charta der deutschen Heimatvertriebenen. In: ChrWelt, 10. 8. 1950, 1. Das unvergängliche Recht auf die Heimat. Ostvertriebene protestieren gegen die „Grenzen“ von Potsdam. In: Die Welt, 6. 8. 1951, 1. Thomas Heck erkennt in den Argumenten der Vertriebenenverbände naturrechtliche und ordnungstheologische Begründungsmuster. Vgl. Heck, EKD, 115. Später veröffentlicht in Bismarck, Freiheit. EPD-Meldung über Niemöllers Interputation in Arnoldshain. Material zur Vorbereitung der nächsten Tagung des OKAs. Anhang zum Schreiben an die Mitglieder des OKAs, 28. 3. 1957 (EZA Berlin 17/580). Schreiben von Martin Niemöllers an den Kreisvorsitzenden des BdV, 26. 2. 1957. Für den Präsidenten des BdV, Georg Manteuffel-Szoege, sei diese Erklärung „über das Mass [sic] der gewohnten Enttäuschungen“ hinausgegangen (Schreiben von Georg Manteuffel-Szoege an Otto Dibelius, o. D.) Zum weiteren Briefwechsel: Schreiben von Martin Niemöllers an den Kreisvorsitzenden des BdV vom 26. 2. 1957; und Schreiben von Georg Manteuffel-Szoege an Otto Dibelius, o. D. Dibelius weigerte sich in seinem Antwortschreiben, Niemöller öffentlich zu widersprechen, auch wenn er sich mit Niemöllers Ansichten nicht identifiziere. Siehe Schreiben von Otto Dibelius an Georg Manteuffel-Szoege (o. D.). Alle in ebd. Niemöllers Polenreise wurde auch im Beirat des Vertriebenenministeriums thematisiert. Spiegel-Schmidt sah sich zu einem Bekenntnis zum Heimatrecht veranlasst. Siehe Niederschrift über die Sitzung des Beirates für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen, 21. 3. 1957 (BArch Koblenz B 150/4352, Bd. 1).

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matrecht im „Remter“ veröffentlichte. Barth stellte die friedensethisch motivierte Frage, ob die Vertriebenen eine Rückkehr verantworten könnten, die in der gegenwärtigen Situation nur unter dem Einsatz von Waffengewalt und mit dem Risiko eines Atomkrieges zu erzielen sei.85 Alle drei Beiträge stellten nicht das Recht auf Heimat als Rechtsanspruch infrage, sondern hielten eine Rückkehr angesichts der außenpolitischen Konstellation des Kalten Krieges für unwahrscheinlich. Doch auch solche Beiträge riefen Empörungswellen hervor. Bemerkenswert daran ist, dass die linksprotestantischen Theologen, die Adenauers Westintegrations- und Wiederbewaffnungskurs in der Regel in moralisch-religiösen Semantiken und im Modus prophetischer Rede kritisiert hatten,86 hier auf religiöse Begründungszusammenhänge verzichteten – sieht man vom lagerübergreifend akzeptierten Theologumenon der „irdischen Heimatlosigkeit des Christen“ ab. In dieser Konstellation setzte sich der OKK im April 1959 in Königswinter mit dem Thema „Heimatrecht und Selbstbestimmungsrecht“ auseinander.87 Die Vehemenz, mit der die Vertriebenenorganisationen das Recht auf Heimat und seine Legitimierung forderten, zog die Frage nach sich, inwieweit ein Recht auf Heimat überhaupt theologisch begründungsfähig war. Während das Recht auf Heimat 1953 in Bad Reichenau eher indirekt und im Kontext einer Abendlandidee thematisiert wurde, ging es auf der Tagung in Königswinter darum, das Recht auf Heimat als Rechtsanspruch moralisch, theologisch und juristisch zu begründen und herzuleiten. Damit deutet die Tagung in Königswinter eine deutliche Kategorienverschiebung an.88 85 Daneben thematisierte Barth die Frage nach dem Anteil der Vertriebenen am NS und die Frage, ob die Vertriebenen mittlerweile eine neue Heimat gefunden hätten. Er teilte die Prämisse, dass es kein „absolutes Heimatrecht“ gebe und „Heimat“ dem Christen genommen werden oder diese verloren gehen könne (Barth, Sätze. In: Remter, 140). 86 Lepp, Einleitung, 15. 87 Der aus Schlesien stammende systematische Theologe Paul Wrzecionko referierte zum Thema „Das Problem der Heimat und des Rechts auf Heimat in evangelischer Sicht“; Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer zum Thema „Friedensvertrag und Selbstbestimmungsrecht“, der Jurist Kurt Rabl zum Thema „Recht auf die Heimat und Selbstbestimmungsrecht der Völker“ und Friedrich Spiegel-Schmidt zu „Heimatrecht und Selbstbestimmungsrecht im Lichte der evangelischen Ethik.“ Siehe Tagungsprogramm der Tagung Heimatrecht und Selbstbestimmungsrecht in Königswinter, 22.–24. 9. 1959 (EZA Berlin 17/720). Ursprünglich wurde der Sozialethiker Heinz Dietrich Wendland für das Referat „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ angefragt, jedoch sagte Wendland ab. Siehe Schreiben von Gerhard Rauhut an Heinz Dietrich Wendland, 14. 5. 1958; und Schreiben von Heinz Dietrich Wendland an Gerhard Rauhut, 19. 5. 1958; Schreiben von Heinz Dietrich Wendland an Friedrich Spiegel-Schmidt, 29. 9. 1958 (EZA Berlin 17/584). 88 Tagungsprogramm der Tagung Heimatrecht und Selbstbestimmungsrecht, Königswinter, 22.–24. 9. 1959 (EZA Berlin 17/720). Kurt Rabl, ein NS-belasteter Jurist, äußerte sich zum Thema Heimat und Heimatrecht mehrfach in protestantischen Kontexten, so in den Zeitschriften „Remter“ und der „ZEE“, außerdem referierte er auf der besagten Tagung des OKKs und auf Tagungen der evangelischen Akademie Arnoldshain, die sich seit Ende der 1950er Jahre mit dem Themenkomplex „Recht auf Heimat“ befasste. Zudem war er in scharfe Kontroversen mit den Initiatoren der Denkschrift und dem linksprotestantischen Theologen Wolfgang

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Während auf früheren Tagungen des OKKs eine theonome Begründung des Heimatrechts mit dem Verweis darauf, dass Gottes Wille zu akzeptieren und die Heimat des Christen im Himmel zu suchen sei, zur Enttäuschung der Landsmannschaften explizit abgelehnt worden war, ist auf der Tagung in Königswinter eine entgegengesetzte Tendenz nachweisbar. Insbesondere der aus Schlesien vertriebene Theologe und Universitätsprofessor Paul Wrzecionko strebte in seinem Referat eine theonome Begründung des Heimatrechts an. Auch Wrzecionko wies darauf hin, dass Heimat eine „Gabe Gottes“ sei, gegenüber dem grundsätzlich kein Rechtsanspruch bestünde, da Gott Heimat „im freien Walten verleihen und entziehen kann.“89 An einem theologisch relativierenden Vorbehalt kamen offenbar auch die Befürworter des Rechts auf Heimat nicht vorbei. Zugleich nannte der Theologe jedoch einen theonomen Aspekt: Heimat, konstituiert durch „Verwurzelung in Natur und Landschaft“, „Familie und Ahnen“, „Heimatliche Gesellschaft“, „Verwurzelung in Arbeit und Beruf“, „Geschichtliche und geistige Tradition“ und „Verwurzelung im Glauben“, war für den Theologen ein „Ordnungsgefüge“, das als „Erhaltungsordnung Gottes“ zu verstehen sei, in die „der Mensch von Gott eingestellt“ werde.90 Daraus resultierte eine Treue zur Heimat als „Teil der zehn Gebote.“91 Wrzecionko verstand eine solche ordnungs- und schöpfungstheologische Legitimation nicht als Widerspruch zur Prämisse einer göttlichen Willensfreiheit. Vielmehr bilde sich darin eine Hierarchie ab, die der Rangordnung zwischen eschatologischem Reich Gottes und irdischer Welt entspreche.92 In diesem theozentrischen und theonomen Moment erblickte Wrzecionko zugleich einen „Grund für die Möglichkeit einer juristischen Kodifikation.“93 Zuletzt verneinte Wrzecionko allerdings die Möglichkeit, aus theologischer Perspektive etwas zum politischen Status der Heimat zu sagen.94 Im Anschluss an diese Tagung legte der OKK Thesen zum Heimatrecht vor, die die Kategorienverschiebung des Heimatdiskurses verdeutlichen.95 Heimat wurde zu einem moralischen Recht und letztlich in den Rang eines Menschenrechts gehoben, das nun seine Verwirklichung im positiven Recht und in der Politik finden solle. Die Achtung vor der Heimat wurde dabei als Voraussetzung für die Achtung des Menschen gedacht: Von einer „Achtung vor

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Schweitzer verwickelt. Vgl. Rabl, Recht; ders., Diskussion, 212 f.; ders., Diskussionsbeitrag, 116–119; und ders., Diskussionsbeitrag, 245–262. Wrzecienko, Paul: Grundgedanken: Das Problem der Heimat und des Rechts auf Heimat. Referat auf der Tagung des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen, 22.–24. 9. 1959 o. D. (EZA Berlin 17/720). Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Thesen des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen zur Frage des Rechts auf Heimat, Sept. 1959 (EZA Berlin 17/720).

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dem Menschen“ könne nämlich, so die Thesen, nur die Rede sein, wenn auch seine Heimat geachtet werde; eine Nichtachtung der Heimat verstoße gegen „Gottes Willen.“96 Offenbar kommt in diesen Thesen neben den theologischen Implikationen auch der Versuch zum Ausdruck, die Heimatrechts- und Vertriebenenfrage an den Menschenrechtsdiskurs der 1960er Jahre anzubinden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts avancierte das universalistisch verstandene Menschenrecht zu einem Leitbegriff in der politischen Sprache und in der internationalen Politik, der seit den 1960er und 1970er Jahren zunehmend von nichtstaatlichen Akteuren und zivilgesellschaftlichen Organisationen gebraucht wurde.97 Die Reformulierung der Vertriebenen- und Heimatfrage als Menschenrechtsfrage sollte dem Anliegen, ein Recht auf Heimat zu begründen und zu fordern, insgesamt Legitimität und Diskursfähigkeit verleihen.98 Umgekehrt ermöglichte das Sprechen über universalistisch verstandene, moralisch aufgeladene Menschenrechte, die Vertriebenenproblematik in Erinnerung zu rufen und auf die Agenda zu setzen. Vor dem Hintergrund des universalistischen Menschenrechtsdiskurses99 wurde die Vertriebenenproblematik also als Verstoß gegen allgemein anerkannte und universell gültige Menschenrechte reformuliert. Die Klimax dieses spezifischen Diskurses bildete das von den UN ausgerufene Weltflüchtlingsjahr 1959, das an Vertreibungen weltweit erinnern sollte. Aus dem Verständnis des 96 Ebd. 97 Hoffmann, Einführung, 23–36, v. a. 26 und 29. 98 In mehreren, während der späten 1950er und frühen 1960er Jahre entstandenen Beiträgen lässt sich der Versuch wahrnehmen, die Vertriebenenproblematik als Menschenrechtsfrage zu reformulieren. Vgl. z. B. Girgensohn, Recht auf Heimat als Menschenrecht. Ähnlich auch der Präsident des BdV, Hans Krüger, in einem Beitrag für den Remter. Vgl. Kr ger, Stunde, 69; G lzow; Verantwortung; 329; und Entschließung des BdV-Präsidiums: Heimatrecht kein Kaufpreis. In: Nasarski, Stimmen, 51 f. Einzelne solche Versuche finden sich aber bereits in Beiträgen aus den frühen 1950er Jahren Vgl. Tank, K. L.: Jeder Mensch hat Recht auf Heimat. In: Sonntagsblatt, 22. 4. 1951, 10 f. 99 Von einer Universalisierung und Internationalisierung der Menschenrechte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts spricht Eike Wolgast: In diesem Kontext erlangten die Menschenrechte Verbindlichkeit für alle Staaten und jeden einzelnen Menschen. Ausdruck dafür ist die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen. Siehe Wolgast, Geschichte, 214–286. Dieser Diskurs setzte bereits 1945 ein, als das Argument der Menschenwürde ins Zentrum rückte und Eingang ins Grundgesetz fand. In den 1960er Jahren ist ein weiterer Universalisierungsschub zu beobachten, als viele afrikanische und asiatische Staaten der UN beitraten. Hierzu Sluga, Ren Cassin, 102. Parallel dazu traten viele afrikanische christliche Kirchen dem Ökumenischen Weltkirchenrat bei. Folglich verschob sich der Fokus auf die Probleme der sog. „Dritten Welt“, für die sich der Linksprotestantismus besonders interessierte. Dies schlug sich im Antirassismusprogramm des ÖRK nieder. Hierzu Greschat, Protestantismus im Kalten Krieg, 368–384.; ders., Protestantismus in den 1960ern, 576–579. Interessanterweise lässt sich gerade für die späten 1960er Jahre beobachten, dass die Vertreter der weltlichen Vertriebenenorganisationen eine zunehmende Konkurrenz zwischen dem auf die „Dritte Welt“ bezogenen Menschenrechtspostulat und ihren eigenen Anliegen wahrnahmen. So beschwerten sie sich über eine Kirche, die sich um die „Neger“ in Afrika kümmere, aber ihre eigenen Vertriebenen im Stich lasse („Deutsches Selbstmitleid“. In: EvKo 4 (1971), H. 7, 371).

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Heimatrechts als naturrechtlich begründetes, universalistisches und damit auch für die Vertriebenen gültiges Menschenrecht resultierten klare theologische Konsequenzen: Der Konvent argumentierte in seinen Thesen, dass „die Achtung vor dem Menschen“ das „Grundelement rechtlicher Ordnung“ sei.100 Das geforderte Eintreten der Kirche für das Heimatrecht war in diesem Sinne eine logische Folge des Wächteramtes der Kirche über das Politische, womit sich die Verfasser einer theologischen Denkfigur bedienten, die traditionell in bruderrätlichen und linksprotestantischen Kontexten begegnet.101 Zwar wurde auch hier die Freiheit des göttlichen Handelns anerkannt, weshalb der Christ nur demütig um Heimat bitten dürfe, gleichzeitig resultierte aus diesen Überlegungen die Verpflichtung des Christen, sich für die Wiederherstellung des „entzogenen Rechts“ einzusetzen, denn der Raub der Heimat wurde als Verstoß gegen das Recht und als Verstoß gegen den göttlichen Willen bewertet.102 Insgesamt näherte sich der OKA mit solchen Positionen an die Zielsetzung der weltlichen Vertriebenenverbände an.103 Der „Deutsche Ostdienst“, das Publikationsorgan des BdV, würdigte und paraphrasierte explizit die Königswinterer Thesen: „Der Ostkirchenausschuss“ habe damit eine „hervorragende geistig-theologische Pionierarbeit“ geleistet.104 Die „Achtung vor dem Menschen“ und die „Achtung der Geschichts- und Gemeinschaftsbeziehungen, d. h. die Heimat des Menschen“ seien besonders hervorgehoben worden. Der „Deutsche Ostdienst“ stimmte der These zu, dass die Zerstörung der Heimat „wider Gottes Willen“ sei.105 Hieraus wurde die Verpflichtung des Christen abgeleitet, sich für das Heimatrecht in aller Welt einzusetzen: „In ständiger Verantwortung vor Gott“ werde „jeder Christ […] in seinem politischen Handeln in der ihm aufgezwungenen Sorge für das Recht seines Nächsten nach dem konkreten Willen und Gebot Gottes“ gefragt.106 Ganz ähnlich, allerdings etwas abwägender argumentierte Gerhard Gülzow, der Nachfolger Girgensohns als Vorsitzender des OKAs. Auch Gülzow ging vom Gedanken des Menschenrechts aus.107 Durch die Hintertür führte Gülzow eine theonome Begründung des Heimatrechts an, indem er die Rechtsordnung mit 100 Ebd. 101 Ebd. Im Ergebnis plädierten die Thesen für ein arbeitsteiliges Vorgehen: Der Jurist habe „das Heimatrecht sachlich zu erläutern“, der Politiker nach „Wegen der Verwirklichung“ zu suchen und die Kirche zu einem „gewissengebundenen Handeln“ zu ermahnen (ebd.). Zur Geschichte der Wächteramtsfigur: Graf, Munus Propheticum. 102 Ebd. Ein weiteres Beispiel für eine schöpfungstheologische Legitimation des Heimatrechts findet sich bei Walter Künneth. Heimat sei nach Künneth als „creatio continua Gottes“ zu verstehen, ein Verzicht auf die Heimat sei als „Untreue gegen Gottes Vermächtnis“. Künneths Referat ist abgedruckt in Rabl, Recht, 25 f. 103 Rudolph, Kirche Bd. I, 58 f. 104 DOD vom 13. 2. 1963: Berichte und Kommentare: Die Kirchen und das Recht auf Heimat (BArch Koblenz B 234/1429). 105 Ebd. 106 Ebd. 107 G lzow, Verantwortung, 327.

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Gottes Willen identifizierte und die Vertreibung als Verstoß gegen die Rechtsordnung und damit als widergöttlich bewertete.108 Wiederum nahm Iwand, er sich 1955 vom OKA distanziert und an der Königswinterer Tagung schon gar nicht mehr teilgenommen hatte, die Thesen zum Anlass, den OKA scharf zu kritisieren: Wenn sich der Ostkirchenausschuß nicht klar und unmißverständlich von dieser Art von Propaganda und ihrem paganistischen Jargon absetzt, ist er um nichts besser als die DC in ihren politischen Reden und ihrem Denken. Das ist einfach die Theologie vom Glauben und Heimat unter der Isolierung des I. Artikels.109

Neben dieser theologischen Andeutung auf den ersten Artikel der zehn Gebote sah Iwand das Heimatrecht aus politischen und historischen Erwägungen heraus infrage gestellt. Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Besetzung Osteuropas war für Iwand ein jegliches Recht auf Heimat diskreditiert: „Wir haben das Recht auf Heimat in konkreto [sic] verspielt, als wir es den anderen nahmen.“110 Zudem kritisierte Iwand die Konformität zwischen Landsmannschaften und OKA, der sich „vor die paganistischen und nationalistischen Ziele der Vertriebenenverbände spannen“ lasse und „nichts anderes als eine christlich abgemilderte Mentalität desselben verbrauchten und unproduktiven Nationalismus“ vertrete.111 Für Iwand war die Propagierung eines Heimatrechts Ausweis eines überholten Nationalismus, der angesichts der NS-Vergangenheit seine Legitimität verspielt habe. Kritik an schöpfungs- und ordnungstheologischen Begründungsressourcen Die theologische Auseinandersetzung mit dem Heimatrecht lässt zugleich das Bedürfnis erkennen, sich kritisch mit den eigenen theologischen Traditionsbeständen auseinanderzusetzen und diese auf den Prüfstand zu stellen. Dies gilt insbesondere für die theonomen und schöpfungstheologischen Begründungsmuster, wobei die Erfahrung und Deutung der NS-Vergangenheit hier explizit oder implizit hineinspielte. Hierbei handelte es sich zwar primär um eine theologische Debatte, allerdings war diese auch integrationspolitisch relevant, weil sie das Recht auf Heimat relativierte und die Blickrichtung 108 Ebd., 328 f. In einem anderen Beitrag negierte er den göttlichen Charakter des Heimatrechts und warnte davor, von Illusionen auszugehen. Siehe „Heimatrecht kein göttliches Recht“. In: FAZ, 30. 9. 1960, 3. 109 Schreiben von Hans Joachim Iwand an Harald Kruska, 14. 9. 1959 (EZA Berlin 632/3). 110 Ebd. 111 Schreiben von Hans-Joachim Iwand an Harald Kruska, 20. 9. 1959 (EZA Berlin 632/3) Allerdings überhörte Iwand in seinem Votum die vorsichtiger argumentierenden, seelsorgerlich motivierten Beiträge, die ab Ende der 1950er Jahre allerdings weniger begegnen. Die Schärfe der Kritik war auch eine Reaktion auf „persönliche Kränkungen“. Iwand berichtete davon, dass er vom OKA als „Verräter gebrandmarkt“ worden sei.

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folglich auf die Integration im Westen lenkte. Der Theologe Heinz-Horst Schrey nutzte seinen Artikel „Heimat“ im ESL für eine Generalabrechnung mit der Schöpfungs- und Ordnungstheologie und warnte davor, dass die Heimatliebe zum „Götzendienst“ und der „landsmannschaftliche Heimatgedanke“ zur „gefährlichen Weltanschauung“ werde.112 Auf der Tagung des OKKs 1959 in Königswinter hatte Spiegel-Schmidt in seinem Referat grundsätzlich eine Legitimationsfunktion der Theologie negiert.113 Die Theologie hatte für Spiegel-Schmidt keine positiv-legitimierende, sondern eine negativ-begrenzende Funktion.114 Die Vertriebenenverbände konfrontierte er dabei mit scharfer Kritik: Für die Menschen, die ihr Heimatrecht fordern, gilt, dass [sic] es ihnen absolut ernst sein muss, und sie nicht leichtfertig politisch äußerst folgenschwere Komplikationen heraufbeschwören, ohne wirklich in ihre Heimat zurückkehren zu wollen. Daraus folgt für die Organisationen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Heimatrecht zu vertreten, dass sie nicht Funktionäre toter Ideen werden, sondern Mandatsträger wirklicher menschlicher Not. Sie dürfen nicht Menschen, die Heimat gefunden haben und die im Begriffe sind, ihr Schicksal anzunehmen, künstlich in einem aufgeputschten Zustand halten, damit eine Idee verwirklicht werde.115

Als der lutherische Theologe Walter Künneth auf einer Tagung der evangelischen Akademie Arnoldshain eine theonome Begründung des Heimatrechts gefordert hatte, sah sich Spiegel-Schmidt aufgrund der „Missbräuchlichkeit von Künneths Aussagen“ zur Kritik veranlasst.116 In einer abschließenden Erklärung verbannte er die Heimatrechtsfrage aus der Theologie und überwies sie an die Politik: Wir können theologisch ein Recht auf die Heimat im Sinne eines bestimmten Raumes in keiner Weise begründen oder fordern. Diese ganze Frage ist eine Frage der politischen Möglichkeit und des Ermessens.117 112 Schrey, Art. Heimat. In: ESL, 562 f. 113 Spiegel-Schmidt, Friedrich: Heimatrecht und Selbstbestimmungsrecht im Lichte der christlichen Ethik. Vortrag auf der Tagung des Ostkirchenkonvents am 22.–24. 9. 1959 (EZA Berlin 17/722). Zur publizierten Fassung siehe Spiegel-Schmidt, Selbstbestimmungsrecht, 225. Zum Postulat des Selbstbestimmungsrechts bemerkte Spiegel-Schmidt, dass dieses juristisch nicht kodifizierbar sei (ebd., 219). Hier wird die publizierte Fassung zitiert. 114 Spiegel-Schmidt, Selbstbestimmungsrecht, 225. Die Theologie hatte demnach die Aufgabe, Grenzen zu markieren, die keinesfalls überschritten werden dürfen. 115 Ebd., 226. 116 Rudolph, Kirche Bd. II, 62, FN 11. Künneth hatte zum Thema Macht und Recht referiert. Siehe Protokoll der Tagung vom 3.–6. 10. 1962 in der evangelischen Akademie Loccum zum Thema „Grenze und internationales Recht“ (EZA Berlin 17/634). Der Tagung in Arnoldshain war im Frühjahr 1961 eine Aussprache in der bayerischen Landeskirche vorangegangen, an der Spiegel-Schmidt, Künneth, Arnold Schabert, Adalbert Hudak und OKR Riedel teilnahmen. Hierzu Heck, EKD, 127. 117 O. V., Klärung, 170.

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In einem später entstandenen Aufsatz setzte sich der Theologe mit der Schöpfungs- und Ordnungstheologie auseinander. Dabei wies er auf die Wirkmächtigkeit der Schöpfungstheologie hin, was es schwierig mache, die lange propagierten Werte Heimat und Volkstum einfach über Bord zu werfen.118 Während ein Großteil der hier erwähnten Theologen ein schöpfungsund ordnungstheologisches Heimatrecht aus theologischen Erwägungen heraus bzw. vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit ablehnte,119 ohne dabei nach der Relevanz des Rechts auf Heimat für die Vertriebenen zu fragen, setzte sich Spiegel-Schmidt etwas differenzierter mit diesem Problem auseinander und setzte dabei Schöpfungstheologie, Ideologisierung von Volk, Heimat und Vaterland, Heimatliebe und die Situation der Vertriebenen in Beziehung. Der Geschäftsführer wollte den Umstand anerkannt wissen, dass sowohl das Recht auf Heimat als auch Schöpfungs- und Ordnungstheologien für viele Vertriebene eine relevante Bezugsgröße waren. Zunächst bezeichnete er den Heimatverlust als „Verlust der realen Gottesgabe Heimat.“ Dieser Verlust traf auf Menschen, „die stark vom Zeitgeist geprägt waren, der ohne die Ideologisierung verletzter Werte nicht auskommen konnte.“120 Demnach habe die Ideologisierung von Heimat während der Weimarer und der NS-Zeit, die wiederum die Bewertung von Heimat und Volkstum geprägt habe, auch die Verletzung nach dem Verlust dieser Werte beschleunigt.121 Die „Ordnungslehre“ habe „nicht nur nichts dagegen getan, sondern diesen Prozeß beflügelt“, ihr sei also eine Mitverantwortung für die Ideologisierung und damit auch für die Verletzung zuzusprechen.122 Andererseits sollte die nun laut gewordene Kritik an der „Ideologisierung“ auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um den tatsächlichen Verlust einer „Gottesgabe“ handelte. So stellte der Theologe die Frage, ob man nicht der wirklichen Not der Heimatlosen oft darum so hilflos gegenüberstand, weil man über der Freude am Zerbrechen der Ideologie übersah, was sie wirklich verloren hatten.123

Der Jurist Landsberg formulierte die deutlichste Kritik am Heimatrechtspostulat der Vertriebenenorganisationen, ohne allerdings ein Recht auf Heimat als Rechtsanspruch aufzugeben.124 Das oben skizzierte, vom konkreten 118 Spiegel-Schmidt, Vertriebenen in der Gesellschaft, 145. 119 Z. B. Schrey, Art. Heimat. In: ESL, 562 f. Nach 1945 hatten Volk und Volkstum in der protestantischen Theologie keine besondere Bedeutung mehr. Vgl. auch Honecker, Art. Volk. In: TRE, 191–209, v. a. 191 und 205. 120 Spiegel-Schmidt, Vertriebenen in der Gesellschaft, 145. 121 Ebd. 122 Ebd. 123 Ebd., 146. 124 Ludwig Landsberg vor dem Kulturausschuss des Landesvertriebenenbeirats am 25. 6. 1962 in Königswinter (LAV NRW Duisburg RW 305–9); ders.: Drei Diskussionsgrundlagen über Kulturarbeit, XII 1959 (LAV NRW Duisburg RW 305–8); und ders.: Rede auf der Herbsttagung des Steinbacher Kreises, o. D. (LAV NRW Duisburg RW 305–8).

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Ort gelöste, zum Teil theologisch aufgeladene Verständnis von Heimat implizierte bereits eine Distanz gegenüber den rechtspositivistischen, naturrechtlichen bzw. schöpfungstheologischen und moralischen Heimatrechtsvorstellungen der Vertriebenenverbände. Allein die Existenz der Vertriebenenverbände war für Landsberg eine Art Trotzreaktion auf die Feindseligkeit der Einheimischen: „Die Vertriebenenbewegung lebt daher weitgehend von der Verständnislosigkeit, dem Widerspruch und der Feindseligkeit bestimmter einheimischer Kreise.“125 Zwar erkannte er die Legitimität der Liebe zur Heimat an, verlieh aber zugleich dem Gedanken Ausdruck, dass die „Liebe zur eigenen Heimat“ die „Achtung vor der Heimat des anderen“ einschließen müsse.126 Die Vertriebenenverbände betrieben dagegen eine „Propaganda für das Recht der Deutschen auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie“ und ließen es an Gesprächsbereitschaft mangeln.127 Zugleich war es ihm ein besonderes Anliegen, den Verdacht des Revisionismus, mit dem die Vertriebenen bedacht wurden, zu entkräften.128 In einem späteren Vortrag, den er 1962 vor dem nordrheinwestfälischen Landesvertriebenenbeirat hielt, verband Landsberg seine Kritik am Heimatrechtsdenken der Vertriebenenorganisationen mit einer übergeordneten Vision einer grenzüberwindenden supranationalen europäischen Ordnung: Es gibt keinen Weg in unsere Heimat zurück als den Weg über die supranationalen Lösungen, d. h. es gibt keinen Weg zurück als den über ein vereintes Europa und über jenen transatlantischen Pakt.129

Ein „Eintreten für die Heimat“ bedeutete ein „Eintreten für Osteuropa“ sowie ein „Eintreten für Europa und die freiheitliche Welt.“130 Für diese supranationale Umdeutung des Heimatrechts sei ihm selbst „immer wieder Heimatverzicht“ und ein „Verzicht auf die Wiedervereinigung“ vorgeworfen worden.131 Seine Vision ziele langfristig auf eine „Beseitigung der Grenzen“, auch wenn das Grenzproblem nicht so schnell gelöst werden könne.132 Ein Hindernis dafür war aus seiner Sicht der Kommunismus.133

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Landsberg, Gemeinde, 198. Ders., Situation, 11. Der Begriff Propaganda ebd. So sprach er von einer „Verketzerung“ der Vertriebenen. Siehe Ders.: Die Vertriebenen und Flüchtlinge in der westdeutschen Gesellschaft, o. D. (LAV NRW Duisburg RW 305–11). Ders.: Referat auf der Sitzung des Kulturausschusses des Landesvertriebenenbeirats, Königswinter, 25. 6. 1962 (LAV NRW Duisburg RW 305–9). Ebd. Ebd. Zugleich forderte er eine Lösung von Volk, Volkstum und Vaterland. Die Vertriebenen seien „unzeitgemäß damit beschäftigt, gewisse Begriffe aufzuwerten.“ Zur Auseinandersetzung mit „Volkstum“ siehe oben 102–111. Ebd. In diesem Kontext unterstützte er Adenauers Westintegrationspolitik. Antikommunistische Passagen sind in seinen Beiträgen immer wieder zu finden.

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4.1.3 Heimat und Heimatrecht als Thema der protestantischen Seelsorge „Denn wir haben hier keine bleibende Statt“: Topoi der theologischen Heimatdeutung und die Theologisierung der Heimatfrage Die Frage der Heimat und des Rechts auf Heimat war eines der zentralen Themen der protestantischen Vertriebenenseelsorge. Dabei sollte, so die These des folgenden Kapitels, dem auf die Ostgebiete bezogenen, moralisch und juristisch verstandenen Recht auf Heimat gerade ein seelsorgerliches Verständnis von Heimat und Heimatrecht entgegengesetzt werden, das zugleich eine kritische oder relativierende Perspektive auf das Heimatrecht der Vertriebenenverbände andeutete oder explizierte. In diesem Zusammenhang wurden klassische theologische Topoi und Deutungsfiguren aufgerufen. Eine typische theologische Deutungsfigur, die vor allem in den 1940er Jahren begegnet und vermutlich einen Beitrag zur Sinnstiftung leisten sollte, war die Annahme, dass der Christ die Heimat nicht auf Erden, sondern im Himmel habe. Nach Markus Wustmann handelte es sich hierbei um eine stereotype, immer wieder bemühte theologische Deutungsfigur, die in diversen Sonntagsblättern und Kirchenzeitungen zu finden war und den Einheimischen die Essenz des Christentums in Erinnerung rufen sollte.134 Dies implizierte eine Kritik gegenüber einem Heimatanspruch auf ein konkretes Territorium, auch wenn diese Konsequenz nicht immer ausgesprochen wurde. Auf dem Essener Kirchentag 1950 hatte Pfarrer Schabert in seinem Referat ein Heimatverständnis gefordert, das er explizit von einem geographischen Ort löste: „Die Heimat wird entschränkt, sie hat ihren geographischen Charakter restlos verloren“; zudem müsse der Christ wieder „Fremdling werden in der Welt.“135 Auch die Protagonisten der kirchlichen Vertriebenenarbeit griffen auf diesen Topos zurück: „Unser Wandel ist im Himmel“, bemerkte Herbert Girgensohn auf einer Ostkirchentagung 1947.136 Die „Heimatlosigkeit der Welt“ war bei Girgensohn geradezu eine Voraussetzung für das „Heimischwerden im Reich Gottes.“137 Auf der ersten Hermannsburger Flüchtlingstagung 1947 wurde die „Erinnerung der Vertriebenen daran, dass alle Gäste und Fremdlinge sind“, zum Ziel der Vertriebenenseelsorge erklärt.138 Die Seelsorge solle das „Los der Flüchtlinge gläubig bejahen und die Einheimischen aus ihrem Sekuritätsbe-

134 Wustmann, Vertrieben, 39. Vgl. Anm. 114. 135 Schabert, Arnold: „Das Flüchtlingsschicksal als Infragestellung der menschlichen Existenz“, o. D., versendet von Seeberg an Ehlers mit Schreiben vom 11. 5. 1950 (EZA Berlin 71/1186). 136 Girgensohn, Herbert: Diaspora als Lebensform der Kirche. Referat, o. D. (ADW Berlin ZB 886). 137 Ebd. 138 Anhang 1: Bericht des Ausschusses für die gemeindliche Eingliederung der Flüchtlingsarbeit, 12. 11. 1947 (LKA Hannover L 3 III, Nr. 302).

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dürfnis herausreißen.“139 Landesbischof Hanns Lilje hatte die Kritik an der Sekurität und die symbolische Erinnerung der Vertriebenen an den „Pilgrimstand des Christen“ ins Zentrum seines stark beachteten, 1947 gehaltenen Referats gerückt.140 Der Geschäftsführer des OKAs, Friedrich Spiegel-Schmidt, thematisierte das Problem der Heimat in einem Aufsatz für die Zeitschrift „Evangelische Theologie“141. Hier ging es ihm darum, das Verhältnis der Christen zur Heimat theologisch zu bestimmen. Der Theologe erkannte die „echte Not“ der Heimatlosigkeit an, die ernst genommen werden müsse, warnte jedoch vor dem „ideologischen Ballast“ des Heimatbegriffs und lehnte jede ideologische Indienstnahme von Heimat ab, von der nur „nüchtern“ gesprochen werden könne.142 Unter Heimat verstand Spiegel-Schmidt etwas Doppeltes: „Heimisch werden“ war einerseits eine ortsunabhängige „Offenheit für Gott“, die sich darin zeige, dass der Christ zugleich „Fremdling für seine nächste Umgebung“ werde. Gleichzeitig sei Heimat „dennoch nicht gleichgültig, sondern eine Gabe Gottes.“143 Ein christliches Verständnis von Heimat bewegte sich für SpiegelSchmidt in der Ambivalenz einer „Entsagung von irdischen Gütern“ und einer „Annahme der Heimat als Gabe Gottes.“144 Liebe zum Heimatlosen hieße daher nicht, die „Gnade der Heimatlosigkeit zu preisen“, sondern „den Heimatlosen Heimat zu geben.“145 Das Heimatverständnis oder die Heimatpolitik der Landsmannschaften gingen für den Theologen am Wesentlichen vorbei, denn diese rückten Elemente „von der Peripherie ins Zentrum […], die nicht einmal in der Urgemeinschaft Bedeutung hatten wie Mundart, Tracht und Volksmund.“146 Dieser „erfolglose Versuch“, die „zerbrochene Gemeinschaft zu heilen“, bewirke eine „Verkitschung“ der Heimat zur „Feierabendgemütlichkeit.“147 Indem Spiegel-Schmidt zudem die individuelle Dimension des christlichen Glaubens hervorhob – die „Erlösungsdimension des Christen139 Ebd. 140 Lilje, Hanns: Die exemplarische Bedeutung des Flüchtlingsschicksals für die Christenheit. Vortrag auf der Hermannsburger Flüchtlingstagung vom 25. 10. 1947–27. 10. 1947 (LKA Hannover L 3 III Nr. 302). Ähnlich auch Spiegel-Schmidt: Wie kann Kirche Heimat sein? Versendet an das Büro des DEK mit Schreiben vom 5. 10. 1951 (EZA Berlin 17/566). 141 Spiegel-Schmidt, Christ. Der Aufsatz basierte auf einem Vortrag, den er 1953 auf einer Tagung des OKKs gehalten hatte. Vgl. Ders.: Der evangelische Christ und seine Heimat. Vortrag auf dem Ostkirchentag in Konstanz am 7. und 8. 10. 1953 (EZA Berlin 17/585). Außerdem: Ders.: Thesen zum Referat „Der evangelische Christ und seine Heimat“. Vortrag auf dem Ostpfarrertag am 7. 10. 1953 (EZA Berlin 772/123). 142 Spiegel-Schmidt, Christ, 105, 107 und 109. 143 Ebd., 112. 144 Ebd. 145 Ebd., 118. 146 Ebd., 114. Spiegel-Schmidt rekurrierte hierbei auf den Theologen Gogarten und die von ihm behauptete Gleichzeitigkeit einer „Solidarität der Kirche mit der Welt“ und einer „Distanz der Kirche von der Welt“ (ebd., 106). 147 Ebd., 114. Ähnlich auch Entwurf. Niederschrift der Tagung des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen, 12.–14. 10. 1952 (EZA Berlin 17/701).

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tums“ rekurriere nur auf den Einzelnen, nicht auf ein Kollektiv – und eine Verhältnisbestimmung des einzelnen Christen zur Heimat postulierte,148 relativierte er die Vorstellung eines kollektiv verstandenen Heimatrechts eines ganzen Volkes oder Volksteiles auf ein bestimmtes, zusammenhängendes Territorium. Die Wiederherstellung von Heimat erfolgte für den Theologen, „indem er seinem Hause und seiner Nachbarschaft in seiner Gemeinde und seinem Volk Gott gehorsam ist. Das ist sein Zeugnis auch in den Landsmannschaften und Heimatbünden.“149 Die Aufgabe bestehe darin, einen „europäischen Weg [zu] finden zwischen Ost und West“, der von Vertriebenen wie Einheimischen gleichermaßen wahrgenommen werden müsse.150 Während viele Theologen aus dem Theologumenon, dass der Christ „keine bleibende Statt“ habe, keine Konsequenzen zogen, sprach Spiegel-Schmidt in einem 1959 in der „ZEE“ erschienenen Aufsatz die politischen Konsequenzen deutlich aus und explizierte damit das kritisch-politische Potential dieses verbreiteten Topos.151 Die Auffassung, dass die Heimat „die letzte Ordnung und damit die letzte Gewissheit“ sei, bezeichnete Spiegel-Schmidt als „für Christen […] unannehmbar“. Vielmehr sei die „irdische Heimatlosigkeit“ als „Charakteristikum des Christseins“ anzusehen.152 Gerade weil der Raub der Heimat so „unwiederbringlich“ sei „wie Mord“, bleibe die Wiederherstellung der Heimat Gott vorbehalten.153 Außerdem müsse das Heimatrecht der jetzt in den Gebieten östlich von Oder- und Neiße lebenden Menschen berücksichtigt werden.154 Daraus zog der Theologe eine klare Konsequenz: „Der Christ muss bereit bleiben zum Verzicht. Gott kann ihn zum Verzicht auf das Heimatrecht aufrufen. Seine ethische Norm heißt weder Verzicht noch Forderung, sondern Bereitschaft.“155 Auch Herbert Girgensohn, der seinen 1955 erschienenen Aufsatz explizit als „seelsorgerlichen Beitrag“ begriff, erkannte ein Recht auf Heimat als Menschenrecht an, weil der „Raub der Heimat“ „Sünde“ und „Unrecht“ sei.156 Der Theologe verstand Heimat als soziales Ordnungsgefüge, das zugleich an einen konkreten Ort gebunden sei: Heimat war „ein Lebensgefüge, in dem der Mensch selbstverständlich drin steht“ und das dann „konkret“ werde, „wenn

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Spiegel-Schmidt, Christ, 115. Ebd. Spiegel-Schmidt, Weg, 29. Ders., Frage der Heimat. Spiegel-Schmidt rezipierte hier Brepohls Heimattheorie. Vgl. ebd., 174. Ebd., 176. Daraus zog er die Konsequenz: „Der Weltflüchtling ist am tiefsten an Gott gebunden.“ Spiegel-Schmidt, Frage der Heimat, 178. Ebd., 179. Ebd. War Spiegel-Schmidt mit Iwand in eine scharfe Kontroverse über Antikommunismus und Wehrdienstverweigerung geraten, positionierte er sich in der Heimatrechtsfrage ähnlich wie Iwand. Girgensohn, Recht auf Heimat als Menschenrecht, 21.

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es verwurzelt ist in einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Zeit.“157 Dem fügte Girgensohn einen theologischen Aspekt hinzu. Denn trotz der „Verwurzelung in Ort und Zeit“ interpretierte er Heimat als eine von diesem einen konkreten Ort unabhängige Größe: Nimmt man Gottes Gebot der Nächstenliebe ernst, so ist Heimat überall dort zu finden, wo diese Liebe den Menschen […] trägt und schützt. Dem Nächsten die Geborgenheit des Lebens zu geben, ihm die Heimat zu schaffen. […] Jede Gemeinschaft, die sich in diesem Sinne betätigt, […] wird dem Menschen zu Beheimatung. Das Land allein, der Ort, verliert seinen Heimatcharakter in dem Moment, wo diese Gemeinschaft verschwindet oder sich in ihr Gegenteil verkehrt. […] Heimat ist da, wo das Gebot aus dem Geiste Jesu Christi erfüllt wird, d. h. in der Gemeinde. […] Heimat ist immer der Ort, wo in diesem Sinne Verantwortung füreinander getragen wird. […] Das Recht auf Heimat ist also mit dieser letzten Forderung Gottes an uns verbunden, die gemeinschaftsbildenden Kräfte der Liebe wirksam werden zu lassen. Das gilt unabhängig davon, wo wir uns befinden, und das allein macht uns heimatfähig.158

Auch Nicht-Theologen griffen auf das Arsenal theologischer Deutungsfiguren zurück.159 Landsberg entfaltete ein spezifisch christlich-theologisches Verständnis von Heimat und griff in diesem Zusammenhang auf Deutungsfiguren zurück, die als Standardargument der theologischen Heimatdeutung bezeichnet werden können. Der Christ müsse in seiner Klärung des Heimatbegriffes vom Wort Gottes ausgehen, welches hinsichtlich der Heimatfrage vor allem im Hebräerbrief niedergelegt sei: Der Mensch habe „hier keine bleibende Statt.“160 Die irdische Heimat sei als „Gottes Gnadengabe“ zu verstehen, auf die kein „klagbarer Anspruch“ bestünde.161 „Heimat“ war zugleich emotional konnotiert. Sie basierte auf der „Kraft der Liebe“; der Verlust der Heimat war mit einem „Verlust an Geborgenheit“ gleichzusetzen.162 Diese Geborgenheit war angesichts der Mobilisierung der modernen Gesellschaft verloren gegangen, denn es sei ein „Kennzeichen des Menschen unserer Zeit, dass er nach Geborgenheit sucht.“163 Heimat war aber nicht nur emotional konnotiert, sondern Landsberg theologisierte den Heimatbegriff: „Heimat ist Wissen und Gefühl der Geborgenheit in dem Lebendigen Gott.“164 In diesem letztgenannten Sinn seien „Heimatlosigkeit und Gottlosigkeit […] weithin iden157 Ebd., 22. 158 Ebd., 22 f. 159 Landsberg hatte sich mit „Heimat“ im Kontext der modernen, mobilisierten Gesellschaft auseinandergesetzt. Vgl. oben 166–171. 160 Landsberg, Ludwig: Vortrag auf der Pressetagung der evangelischen Flüchtlingsseelsorge, 30.5.–1. 6. 1965 (LAV NRW Duisburg RW 305–7). 161 Ebd. 162 Ebd. 163 Ebd. 164 Ebd.

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tisch.“165 Diesem theologischen Heimatverständnis, mit dem Landsberg eine „Antwort auf die Sehnsucht der Menschen unserer Zeit“ zu geben beanspruchte, wies er wiederum eine integrationspolitische Funktion zu, denn das „Gefühl und Bewusstsein der Geborgenheit“ war eine „Voraussetzung der Eingliederung.“166 Heimat war für Landsberg daher eine „Gabe Gottes“, auf die kein Rechtsanspruch bestehe.167 Spiegel-Schmidt, Girgensohn und Landsberg theologisierten die Heimatfrage und stellten letztlich ein Kontingenzbewältigungsangebot bereit, das integrationspolitisch relevant war. Demnach war die Heimatlosigkeit als göttlicher Wille zu akzeptieren und die Zukunft im Westen zu suchen. Inwieweit ein solches seelsorgerliches Angebot, das immerhin auch von solchen Theologen formuliert wurde, die selbst vertrieben wurden, von den Vertriebenen tatsächlich angenommen wurde, ob ein solches Deutungsmuster dabei helfen konnte, den traumatischen Heimatverlust zu verarbeiten und die Zukunft im Westen zu suchen, muss weiteren Forschungen überlassen werden. Ubi bene, ibi patria? Die Spannung von Integration und Heimatrecht als Thema der theologischen und seelsorgerlichen Reflexion vor dem Hintergrund des westdeutschen Wirtschaftswunders Die protestantische Theologie und Seelsorge, aber auch andere Akteure reflektierten „Heimat“ vor dem Hintergrund des fortschreitenden Integrationsprozesses und des „Wirtschaftswunders.“ Auf einer Tagung im Jahr 1954 in Loccum stellte Klaus von Bismarck die Rückkehr vor dem Hintergrund der fortschreitenden Integration infrage. Den mit dem Heimatverlust erlittenen Verlust an Besitz, Geborgenheit und Selbstvertrauen würden viele Vertriebene durch ein „Übermaß an Leistung“ kompensieren.168 Diejenigen Vertriebenen, die für eine neue Existenz gekämpft hätten, seien nicht zur Rückkehr bereit, während der „Mangel an befriedigenden Existenzmöglichkeiten im Westen“ mindestens ebenso zum „Schmerz der Vertriebenen“ beigetragen habe wie die „Austreibung.“169 Schließlich hielt Bismarck eine Rückkehr auch deshalb für unrealistisch, weil in der Regel die Konservativen und Traditionsgebundenen eine Rückkehr forderten, eine Rückkehr aber gerade „Pioniergeist“ erfordere.170 Auf der bereits erwähnten Tagung des OKKs 1959 in Königswinter stellte Spiegel-Schmidt Rückkehranspruch und Heimatrecht vor dem Hintergrund des Wirtschaftswunders infrage. Spiegel-Schmidt führte das Wirtschaftswunder auf Gottes Geschichtshandeln zurück, denn das „Wirtschaftswunder“ 165 166 167 168 169 170

Ebd. Ebd. Ebd. Bismarck, Heimat, 73. Ebd. Ebd.

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habe „Gott für uns getan.“171 Vor diesem Hintergrund richtete er an die Vertriebenenorganisationen die Frage: Seid ihr Mandatsträger echter Not […], oder seid Ihr Funktionäre einer nicht sterben könnenden Organisation? […] Geht das eigentlich, daß man sagt, ich will beides, den radikalen Heimatanspruch und die volle Beheimatung und Wohlstand ohne jeden Mangel hier im Westen? […] Können wir denn, wenn wir diesen Weg der Beheimatung hier in einem deutschen Wirtschaftswunder gegangen sind und einmal beschritten haben, können wir den Weg einfach wieder verlassen, wie wir immer so tun, als ob das, was wir alles hier aufgebaut hätten, nur so wie ein Provisorium liegen gelassen werden kann, wenn einmal die Türen sich auf tun? Könnten wir überhaupt die Abwanderung von 10 Millionen Menschen gegenüber dem gesamten deutschen Volk verantworten?172

Auf der ersten Tagung des neu gegründeten Arbeitsausschusses „zur Klärung der Heimatfrage“, dem späteren „Arbeitsausschuss für Ethik und Recht“,173 äußerte sich Herbert Girgensohn erneut zum Thema „Das Recht auf Heimat als seelsorgerliches Problem der Gegenwart.“174 Allein der Titel macht deutlich, dass Girgensohn zwar grundsätzlich von einem auch von ihm anerkannten Recht auf Heimat ausging, dieses aber ausdrücklich nicht als juristisches, sondern als seelsorgerliches Problem verstanden wissen wollte.175 Angesichts der seelischen Belastungen bestand die Bewältigung des Heimatproblems gerade nicht in einer Rückkehr in die Ostgebiete, zumal sich die alte 171 Schlussteil des Referats von Spiegel-Schmidt. Anhang zum Schreiben an die Mitglieder des Präsidiums des BdV, 17. 11. 1959. Diese Fassung befindet sich in den Akten des BdV. Dabei handelte es sich um eine Mitschrift des in Königswinter gehaltenen Referats, das offenbar die Aufmerksamkeit des BdV erregte und als Diskussionsgrundlage im BdV fungierte. Siehe Schreiben an die Mitglieder des Präsidiums des BdV, 17. 11. 1959 (BArch Koblenz 31 B 234/ 1388); auch Spiegel-Schmidt, Friedrich: Heimatrecht und Selbstbestimmungsrecht im Lichte der christlichen Ethik. Vortrag auf der Tagung des Ostkirchenkonvents am 22.–24. 9. 1959 (EZA Berlin 17/722). 172 Schlussteil des Referats von Spiegel-Schmidt. Anhang zum Schreiben an die Mitglieder des Präsidiums des Bundes der Vertriebenen vom 17. 11. 1959 (BArch Koblenz 31 B 234/1388). 173 Zur Umbenennung des Arbeitsausschusses, der sich der vertieften Durchdringung der Heimatfrage widmen wollte, siehe Niederschrift über die Sitzung des OKAs und des Vorstandes des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen am 16. und 18. 10. 1961 (EZA Berlin 512/150). 174 Girgensohn, Herbert: Das Recht auf Heimat als seelsorgerliches Problem der Gegenwart. Vortrag auf der ersten Sitzung des Arbeitsausschusses „zur Klärung der Heimatfrage“ am 22. und 23. 5. 1959 (EZA Berlin 17/585). Eine weitere, nur geringfügig abweichende Fassung findet sich: Ders.: Das Recht auf Heimat und der kommende Friedensvertrag im Verständnis der vertriebenen evangelischen Kirchen aus dem Osten. Vorlage für die erste Sitzung des Arbeitskreises „Ethik und Recht“ am 22. und 23. 5. 1959 in Münster (EZA Berlin B 512/149). Das Referat wurde schließlich im Remter publiziert: Ders., Recht auf Heimat als seelsorgerliches Problem. 175 Um diesem Anliegen einer seelsorgerlich motivierten Durchdringung des Heimatproblems gerecht zu werden, griff Girgensohn explizit auf die „Phänomenologie des Begriffs Heimat“ von Wilhelm Brepohl zurück.

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Heimat im Osten, wie Girgensohn bereits 1955 festgestellt hatte, mittlerweile „radikal verändert“ habe und „anderen zur Heimat geworden“ sei.176 In diesem Zusammenhang soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass Girgensohn in bemerkenswerter Deutlichkeit auf die nationalsozialistische Vernichtungspolitik verwies und ein Schuldbekenntnis forderte, auch wenn er diese Aussagen durch das Postulat einer „Schuldverstrickung aller Völker“ später wieder relativierte: Es darf vor allem nicht übersehen werden, dass Deutschland den Krieg begonnen hat und in diesem Krieg von deutscher Seite Grausamkeiten begangen wurden, die zur Vernichtung ganzer Völker und Volksgruppen führten.177

Auch ein solches Schuldbekenntnis würde einen bedingungslosen Anspruch auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete infrage stellen. Im Mittelpunkt der Beiträge Girgensohns stand die Frage, wie ein Recht auf Heimat seelsorgerlich zu fassen war. Girgensohn stellte zwar in seinem Grundsatzreferat von 1959 nicht in Abrede, dass es ein Heimatrecht im völkerrechtlichen Sinne gebe, maßte sich jedoch kein Urteil über die Existenz eines solchen Heimatrechts im juristischen Sinne an. Daher schlug er für die Bearbeitung eine Arbeitsteilung zwischen Theologie und Jurisprudenz vor: Die Aufgabe der Seelsorge sei die „Bewältigung des Heimatverlustes, der ernst genommen werden muss“, während die Aufgabe des Völkerrechts darin bestehe, das Heimatrecht juristisch zu fassen.178 Wenn er auch die Möglichkeit eines völkerrechtlich begründeten Rechts auf Heimat theoretisch in Betracht zog, wird doch klar, dass es ihm als Seelsorger und Theologen um etwas anderes ging als die Begründung eines positiven Rechts. Letztlich würde auch eine Rückkehr die seelischen Verletzungen der Vertriebenen, die aus dem Heimatverlust resultierten, nicht einfach beseitigen. Daher bestand die Aufgabe der Theologie nicht in der theologischen Legitimierung, sondern in der seelsorgerlichen Bewältigung des Heimatverlustes. Er bewertete Heimat theologisch als Ausdruck der Liebe Gottes und den „Raub der Heimat“ als „Unrecht vor Gott.“179 Zugleich bestehe „vor Gott […] kein Rechtsanspruch auf die Heimat.“180 Nach Girgensohn empfänden die Vertriebenen die Rechtsverletzung und den Unrechtscharakter als gravierender als das Problem

176 Girgensohn, Recht auf Heimat als Menschenrecht, 25. 177 Ders.: Das Recht auf Heimat und der kommende Friedensvertrag im Verständnis der vertriebenen evangelischen Kirchen aus dem Osten. Vorlage für die erste Sitzung des Arbeitskreises „Ethik und Recht“ am 22. und 23. 5. 1959 in Münster (EZA Berlin B 512/149). 178 Ders.: Recht auf Heimat als seelsorgerliches Problem, 200 und 198. Diesem Punkt stimmte der BdVexplizit zu. Siehe Thesen des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen zur Frage des Rechts auf Heimat, Sept. 1959 (EZA Berlin 17/720); und DOD vom 13. 2. 1963: Berichte und Kommentare: Die Kirchen und das Recht auf Heimat (BArch Koblenz B 234/1429). 179 Girgensohn, Recht auf Heimat als seelsorgerliches Problem, 200. 180 Ebd., 199.

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des Heimatverlustes und der Heimatlosigkeit.181 Daraus resultierte für Girgensohn jedoch nicht die Revision der europäischen Nachkriegsordnung. Vielmehr war die nachträgliche „Anerkennung eines Rechts auf Heimat“, beispielsweise im Völkerrecht oder als Menschenrecht, das entscheidende Kriterium dafür, dass die Vertriebenen ernst genommen und in ihrem Leid anerkannt würden. Die Sanktionierung der Vertreibung und die Anerkennung eines Heimatrechts im Völkerrecht war folglich eine zentrale Voraussetzung für die seelische Bewältigung der Heimatlosigkeit und damit für die Beheimatung im Westen.182 Dabei hatte für den Theologen die Aufgabe Priorität, Heimatfähigkeit „in der jetzigen Umgebung […] unter Beweis zu stellen.“183 Die Hoffnung auf Heimat artikulierte er nicht im Modus eines territorialen Rechtsanspruches, sondern als Bitte an Gott, die gerade nicht auf ein Territorium bezogen war: „Recht auf Heimat bedeutet die Bitte an Gott, uns in seiner Güte die Gelegenheit zur Weiterführung der Geschichte zu geben.“184 Stärker noch als in den bereits analysierten Debattenbeiträgen Mitte der 1950er Jahre bezog Girgensohn Heimatrecht und Integrationsproblematik in der westdeutschen Gesellschaft nun in diesem 1959 erschienenen Aufsatz explizit aufeinander. Denn für Girgensohn herrschte in der Bundesrepublik eine „materialistische Lebensauffassung“ vor, die auch die Integration der Vertriebenen in die Gesellschaft auf das Prinzip „Ubi bene, ibi patria“ verkürze.185 Aus diesem Grund werde das Problem des Heimatverlustes nicht ernst genommen.186 Die aufnehmende Gesellschaft sei nicht imstande, das Heimatproblem der Vertriebenen zu verstehen. Dies führte er darauf zurück, dass sich die bundesrepublikanische Gesellschaft zu einem sekundären Gesellschaftssystem entwickelt habe.187 Dennoch sei es vielen Vertriebenen zweifellos gelungen, im Westen Wurzeln zu schlagen, auch wenn der Prozess der Beheimatung noch nicht abgeschlossen sei.188 Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre äußerten sich einzelne Landessynoden zur Heimatrechtsfrage, die in der Tendenz ähnlich argu181 Hier zitiert nach Ders.: Das Recht auf Heimat und der kommende Friedensvertrag im Verständnis der vertriebenen evangelischen Kirchen aus dem Osten. Vorlage für die erste Sitzung des Arbeitskreises „Ethik und Recht“ am 22. und 23. 5. 1959 in Münster (EZA Berlin B 512/ 149). 182 Ebd. 183 Girgensohn, Recht auf Heimat als Menschenrecht, 26. 184 Ders., Recht auf Heimat als seelsorgerliches Problem, 202. Girgensohn hatte auch auf die NSVergangenheit verwiesen. Hierzu ebd., 200–202. 185 Ebd. 186 Ebd. 187 Zu den Gesellschaftsdiagnosen Girgensohns vgl. oben 64–71. 188 Am Ende des Aufsatzes bemerkte Girgensohn, dass viele Vertriebenen Heimatfähigkeit im Westen bewiesen und wieder „Wurzel“ geschlagen hätten: „Nun ist Heimat immer was, das zugleich durch die Aktivität des Menschen gewonnen wird. Man hat in diesem Zusammenhang von Heimatfähigkeit gesprochen. Es lässt sich gar nicht leugnen, dass die Heimatvertriebenen im Westen Heimatfähigkeit bewiesen und Wurzel gefasst haben“ (ebd., 202).

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mentierten. 1961 entstand beispielsweise eine „Besprechungshilfe der rheinischen Landeskirche“,189 die von einem 1958 einberufenen „Arbeitskreis für Flüchtlings- und Vertriebenenfragen“ erarbeitet wurde, der sich explizit der Heimatfrage widmete.190 Die Verfasser verwiesen auf die Relativität von Heimat angesichts der modernen, mobilen Industriegesellschaft.191 Auch diese Besprechungshilfe relativierte die Forderung eines Heimatrechts mit dem Argument, dass viele Vertriebene mittlerweile Heimat im Westen gefunden hätten: Es gehört zu den grossen Wundern in einer Zeit […], dass Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen im Verlust der alten Heimat durch Gottes Güte doch wieder neue heimatliche Bezüge geschenkt worden sind.192

Die Frage, ob es ein positives Recht auf Heimat im Osten gebe, wurde gar nicht erwogen. Das einzige Zugeständnis an die Vertreter eines Heimatrechts war das Postulat, dass das „Recht auf Heimat als alle Staaten verpflichtendes Völkerrecht“ anerkannt werde.193 Die Besprechungshilfe, die keine größere Resonanz erfuhr, sah in der Lösung der Vertriebenenfrage eine Voraussetzung für die Änderung der Ostpolitik und stellte damit Ostfrage und Integrationsfrage in einen Zusammenhang.194 Auch Ludwig Landsberg behauptete, dass ein Großteil der Vertriebenen die Lösung der Vertriebenenproblematik nicht mehr in der Rückkehr erblickte, was wiederum ein Indiz für die fortgeschrittene Integration war.195 Daneben deutete er vorsichtig an, dass eine Rückkehr in die Ostgebiete unwahrscheinlich sei.196 Daraus ergab sich vielmehr die Aufgabe, „mit dem Schicksal der erzwungenen Flucht, der Armut, der sozialen Degradierung, der Einsamkeit fertig zu werden.“197 Obwohl viele

189 Vertraulicher Entwurf eines Wortes zur Frage des Rechtes auf Heimat, Okt. 1960 (BArch Koblenz B 150/2334, 2/2). Später publiziert in KJ 88 (1961), 84 f. Vgl. auch die in Anm. 265 genannten Beispiele. 190 Zur Besprechungshilfe auch Heck, EKD, 127. Veröffentlicht in KJ 88 (1961), 84 f. 191 Niederschrift über die 1. Sitzung des Arbeitskreises für Flüchtlings- Vertriebenenfragen am 27. 6. 1957 (LKA D sseldorf 1 OB 001 168). Die Einrichtung des Arbeitskreises ging auf eine Anregung der Kreissynode Oberhausen zurück, die die Heimatfrage für eine der „wichtigen Lebensfragen nicht nur der Heimatvertriebenen, sondern des ganzen deutschen Volkes“ (Rudolph, Kirche Bd. II, 62, Anm. 15). 192 Ebd. 193 Ebd. Ähnlich auch Girgensohn, Herbert: Das Recht auf Heimat und der kommende Friedensvertrag im Verständnis der vertriebenen evangelischen Kirchen aus dem Osten. Vorlage für die erste Sitzung des Arbeitskreises „Ethik und Recht“ am 22. und 23. 5. 1959 in Münster (EZA Berlin B 512/149). 194 So jedenfalls Heck, EKD, 127. 195 Landsberg, Situation, 9. 196 So hieß es: „Wahrscheinlich wird unsere Aufgabe nicht die Ostpolitik sein. Wir werden wahrscheinlich auch den Vertriebenen nicht die Rückkehr als Lösung anzubieten haben“ (ebd., 10). 197 Ebd., 12. Ähnlich auch die Beiträge von Iwand und Albertz. Vgl. oben 340–345.

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die „Einschmelzung“ abgelehnt hätten, handelte es sich bei der fortschreitenden Assimilation mittlerweile um eine Realität, die nicht aufzuhalten sei.198 4.1.4 Zwischen Annäherung und Distanz: Das Verhältnis von Ostkirchenausschuss und Vertriebenenverbänden Das Verhältnis zwischen OKA und Vertriebenenverbänden war von Ambivalenzen und Spannungen geprägt. Bereits die Formierung der säkularen Interessenorganisationen und Landsmannschaften, die zum Teil aus den Hilfskomitees hervorgingen,199 wurde ausgesprochen skeptisch beäugt, nicht zuletzt, weil Kirchenvertreter die nicht unberechtigte Befürchtung hegten, dass damit ein kirchlicher Einflussverlust einherginge.200 Einerseits konnten die Gremien der kirchlichen Vertriebenenarbeit an den Heimatrechtsforderungen der Vertriebenenverbände kaum vorbeigehen. Andererseits ist auch der Anspruch erkennbar, den Ausgleich und den Kompromiss zu suchen und notfalls als Korrektiv gegenüber der landsmannschaftlichen Revisionspolitik zu fungieren. Dabei wurden heimatpolitische Positionen der Landsmannschaften immer wieder relativiert oder ein vermittelnder Standpunkt eingenommen.201 In der Reaktion auf Niemöllers Aussagen im Anschluss an seine Polenreise202 wird dieses Selbstverständnis sichtbar. In der öffentlichen Stellungnahme dazu kritisierte der OKA sowohl Niemöller als auch seine Gegner: Niemöller für den „Mangel an Zurückhaltung […] gegenüber Lebensfragen seines Volkes“, die Art der Berichterstattung der Landsmannschaften als „bedenklich und irreführend.“203 Anstatt ein unmittelbares Bekenntnis zum Recht auf Heimat vorzulegen, verlieh der OKA der vorsichtig formulierten Hoffnung Ausdruck, eines Tages in den Osten zurückkehren zu können. Dabei mahnte er zur Besonnenheit und Mäßigung: 198 Landsberg, Situation, 9. Dagegen kritisierte Gülzow gerade solche Stimmen, die angesichts der fortschreitenden Integration die Rückkehr für illusorisch erachteten. Diese nähmen das Heimatproblem nicht ernst (G lzow, Verantwortung, 334). 199 Stickler, Ostdeutsch, 35. 200 Das ergibt sich aus Seebergs Kritik an den Vertriebenenorganisationen. Vgl. oben 137–141. Auch Gerstenmaier gestand sich das Scheitern seiner ambitionierten Pläne ein, was ebenfalls mit der Bildung von Interessenorganisationen zusammenhing. Vgl. oben 250 f. 201 Vgl. v. a. die Auseinandersetzungen im OKK in der ersten Hälfte der 1950er Jahre, die Beiträge Girgensohns und Spiegel-Schmidts und die Reaktion des OKAs auf Niemöller Polenreise. Vgl. oben 345–362 und 371–377. 202 Siehe hierzu oben 345–362. 203 Zitiert nach Rudolph, Kirche Bd. II, 43. Intern kritisierte der OKA Niemöllers Aussage als unüberlegt und unvorsichtig, verteidigte jedoch Niemöllers Einsatz für die Versöhnung. Zudem habe er sich um die dort lebenden evangelischen Deutschen verdient gemacht. Die Berichterstattung in der Vertriebenenpresse wurde als „unfruchtbar“ kritisiert (Material zur Vorbereitung der nächsten Tagung des OKAs. Versendet an die Mitglieder des OKAs durch Friedrich Spiegel-Schmidt mit Schreiben vom 28. 3. 1957, EZA Berlin 17/580).

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Wir leiden mit allen unseren Gemeindegliedern darunter, daß uns die Heimat genommen ist. Und wir scheuen uns auch nicht, die Vertreibung ein bitteres Unrecht zu nennen. Wir verstehen also diese große Not und hören nicht auf, mit allen unseren Gemeindegliedern darum zu beten, daß Gott uns im Osten noch einmal eine Tür öffnen möchte. Wir erinnern in diesem Augenblick, da die Leidenschaften allzu lebendig wachgeschürt sind, an die Charta der Heimatvertriebenen. Unsere Sorge und unser Gebet gilt jetzt besonders den Brüdern und Schwestern ostwärts der Oder und Neiße. Gott schenke ihnen, daß die allzu schnell hingeworfenen Aussagen Niemöllers ihnen ebensowenig schaden möchten wie die leidenschaftliche Fehde in der Vertriebenenpresse! Und um dieser unserer Sorge und unseres Gebets willen mahnen und beschwören wir: Laßt uns nicht unbesonnen werden, nicht dem Haß und der Bitterkeit Raum geben, sondern in der Liebe zusammenstehen und gehorsam gegenüber dem lebendigen Gott unser Amt dort und so tun, wo und wie er es von uns getan haben will.204

In verschiedenen Resolutionen wird das Anliegen deutlich, mäßigend auf die Vertriebenenorganisationen einzuwirken. Eine von Friedrich Spiegel-Schmidt mitverfasste Resolution der evangelischen Akademie Arnoldshain zum „Heimatproblem der Vertriebenen“ rief beispielsweise dazu auf, gemeinsam mit den „Ostvölkern […] die Gemeinschaft Europas zu bauen“, für die die „Überwindung des nationalstaatlichen Rechtsstandpunktes zugunsten einer europäischen Gemeinsamkeit“ notwendig sei.205 Zu Beginn der 1950er Jahre wusste Spiegel-Schmidt von einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit den Landsmannschaften zu berichten: Während der „Appell zur Vergebung“ der Synode von Berlin-Weißensee 1950 bei den Vertriebenenverbänden auf Bedenken gestoßen sei, hätten sich die Vertreter der Landsmannschaften auf einer späteren gemeinsamen Tagung, so Spiegel-Schmidts Selbstwahrnehmung, eine „allumfassende Botschaft der Vergebung“ sagen lassen.206 Die Zusammenarbeit mit den Landsmannschaften war schließlich auch dem Bestreben geschuldet, die landsmannschaftliche Politik in christliche Bahnen zu lenken und zu beeinflussen.207 Nicht zuletzt beanspruchte der OKA die 204 O. V., Erklärung, 6 f. 205 Über diese Tagung wurde in der überregionalen Presse berichtet, was zu scharfen Angriffen gegen die Autoren der Presseberichte, aber auch gegen die evangelische Akademie und die Resolution führte. Es war von „Nebelwerfern“ und „Kreml-Jüngern“ die Rede (Rudolph, Kirche Bd. II, 45). Den Polemiken in der Vertriebenenpresse waren Berichte in der „Welt“ und der „Frankfurter Rundschau“ vorausgegangen. 206 Tätigkeitsbericht. Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an Hanns Lilje, 26. 4. 1958 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1268). 207 Immer wieder fanden Treffen zwischen Vertretern der kirchlichen Vertriebenenarbeit und den Landsmannschaften statt. Das geht hervor aus: Rundschreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an die Mitglieder des OKAs, 16. 1. 1951 (BArch Koblenz B 126/5683 Bd. 2). Unter Tagesordnungspunkt 1, der den Beitrag der Seelsorge zur Lösung der Vertriebenenfrage erörterte, wurde auch die Bitte an die Landsmannschaften formuliert, „dass die Vertreter der Vertriebenenorganisationen […] ihre Erwartungen zum Ausdruck bringen.“

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„geistige Führung der Vertriebenen.“208 In diesem Sinne brachte er auch eine das Heimatrecht relativierende Perspektive in den Beirat des Bundesvertriebenenministeriums ein: Auch in der Seelsorge spielen diese Dinge eine Rolle. Heimatliebe ist immer verbunden mit etwas Engem. Diese gewisse Enge aufzulockern, ist unsere Aufgabe, die Bereitschaft zu wecken, Neues aufzunehmen. Der Vertriebene hat Hemmungen, da er in Unfreiheit gegenüber dem Geschehen in seiner neuen Welt steht. Am klarsten sieht er dies bei seinen Kindern.209

In der Selbstwahrnehmung der Akteure des OKAs konnten offenbar einige partikulare Erfolge erreicht werden: Gerhard Gülzow, Girgensohns Nachfolger als Vorsitzender des OKAs, berichtete, dass sich der OKA und Vertreter der Landsmannschaften auf einer Ostpfarrertagung 1955 darauf geeinigt hätten, dass der „Weg des Nationalismus und der Restauration“ abzulehnen seien.210 Nach Gülzow seien die Verbände trotz unterschiedlicher Ansätze grundsätzlich offen für das Christliche: Wenn wir auch im Einzelnen nicht alles, was in den Verbänden geschieht, bejahen können, so muss die Kirche ihnen doch den guten Willen anerkennen, dass sie nach einem wirklich christlichen Weg suchen. Es ist unsere Aufgabe zu helfen, dass das Christliche nicht zu einer Phrase wird, sondern tatsächlich zur wegweisenden Kraft.211

Letztlich bot sich in der Zusammenarbeit mit den Vertriebenenverbänden und Landsmannschaften zumindest die Chance, die Landsmannschaften zu beeinflussen, auch wenn sich der Anspruch, die „geistige Führung der Vertriebenen“ zu übernehmen, nicht verwirklichte.212 Das Gegenteil war vielmehr der Fall.213 In der rückblickenden Selbstwahrnehmung glaubte Spiegel-Schmidt eine Marginalisierung der Hilfskomitees auf den Treffen der Landsmannschaften zu entdecken: „Wohl fehlt das Wort der Kirche auf keinem lands208 Das geht hervor aus: Tätigkeitsbericht. Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an Landesbischof Hanns Lilje, 26. 4. 1958 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1268). 209 Wortmeldung von Friedrich Spiegel-Schmidt auf der Sitzung des Beirats am 9. 3. 1955. Nahm entgegnete daraufhin: „Heimat ist nicht romantische Erinnerung, sondern Opferbereitschaft (Niederschrift über die Sitzung des Beirats am 9. 3. 1955, BArch Koblenz B 150/4352, Bd. 1). 210 Verdrängte Ostkirchen und Völkerversöhnung. Bericht über die Ostpfarrertagung am 13. 10. 1955 (EZA Berlin 17/576). Gülzow berichtete in Gegenwart von Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer zum Thema „Aufgabe der Kirche in und an den Verbänden der Heimatvertriebenen.“ Der Bericht wurde sowohl an das Bundesvertriebenenministerium als auch an den Ost-West-Kurier mit Schreiben vom 17. 10. 1955 versendet. 211 Ebd. 212 Tätigkeitsbericht. Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an Hanns Lilje, 26. 4. 1958 (LKA Hannover L 3 III Nr. 1268). 213 Im Jahr 1950 sahen sowohl Spiegel-Schmidt als auch Eugen Gerstenmaier den Versuch, die säkularen Vertriebenenorganisationen zu beeinflussen und die Radikalisierung zu verhindern, als gescheitert an. Siehe Gerstenmaier, Bericht über das Hilfswerk. In: Kirchenkanzlei, Berlin-Weissensee, 169. Spiegel-Schmidt, ebd., 200 f.

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mannschaftlichen Treffen, aber es ist dort an den Rand gedrängt und auf einen verhältnismäßig kleinen Kreis der Getreuen beschränkt.“214 Im Verlauf der 1950er Jahre ist allerdings auch eine positionelle Annäherung des OKAs an die weltlichen Vertriebenenorganisationen zu beobachten, die ihrerseits den OKA mit ihren Forderungen und Anliegen bedrängten und eine theologische Legitimation des Heimatrechts erwarteten, beispielsweise, indem Kirche und Theologie ein „göttliches Heimatrecht“ vertraten.215 Mit dem Anliegen des Königswinterer Konvents, ein Heimatrecht zwar nicht als Anspruch gegenüber Gott, aber dennoch theonom zu begründen und somit als Rechtsanspruch grundsätzlich theologisch anzuerkennen, entsprachen die kirchlichen Vertriebenengremien im Wesentlichen der Linie, nach welcher die Sprecher der säkularen Vertriebenenverbände auf die Ost- und Deutschlandpolitik Einfluß auszuüben suchten.216

Dies wird anhand der Diskussion der 1960 im „Remter“ veröffentlichten, bereits erwähnten Thesen Karls Barths deutlich. Der Schriftleiter des „Remter“, Friedrich Spiegel-Schmidt, hatte sich in einem Kommentar hinter Barths Thesen gestellt, was wiederum eine Entfremdung zwischen Spiegel-Schmidt und dem OKA sichtbar machte.217 In seiner abschließenden Stellungnahme sah es der OKA als seine Pflicht an, die „Brüder und Schwestern“ [gemeint sind die Sprecher der Landsmannschaften und Vertriebenenorganisationen, FT], die im Namen der Vertriebenen das Heimatrecht und die Rückkehr forderten, zu unterstützen und zu begleiten.218 Im Gegensatz zu Niemöllers Polenreise 1957 sah sich der OKA nun nicht mehr zu einer vermittelnden Position bereit, sondern bekannte sich zu den Anliegen der Landsmannschaften. Die Erwartungshaltung, die der BdV an den OKA richtete, wird auch anhand des Tübinger Memorandums von 1963 deutlich, in welchem einzelne protestantische Intellektuelle eine realitätsgemäße Neuausrichtung der Ostpolitik forderten. Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Memorandums bat der Präsident 214 Spiegel-Schmidt, Wandlungen, 73. 215 So die Stellungnahme des Sprechers der Pommerschen Landsmannschaft. Siehe Eggert, Oskar: Unser Recht auf die Heimat ist göttlich. In: Information 30/14 des Verbandes der Landsmannschaften vom 9. 8. 1954. Rudolph weiß zudem eine Fülle an Zuschriften zu nennen, in denen diese Erwartungshaltung zum Ausdruck kommt. Vgl. Rudolph, Kirche Bd. II, 38. Darüber hinaus hatten auch nichtvertriebene Politiker in unterschiedlichen Kontexten von einem „göttlichen Heimatrecht“ gesprochen, wie eine Rede des Berliner Oberbürgermeisters Ernst Reuter zeigt. Reuter hatte Heimatliebe als „göttliches und menschliches Recht“ bezeichnet (Das unvergängliche Recht auf die Heimat. Ostvertriebene protestieren gegen die „Grenzen“ von Potsdam. In: Die Welt, 6. 8. 1951, 1). 216 Rudolph, Kirche Bd. II, 54. 217 Die Schlussbemerkung Spiegel-Schmidts zur Diskussion um das Heimatrecht nach der abschließenden Erklärung des OKAs habe ein „außerordentliches Ärgernis“ hervorgerufen. Die Kontroverse geht hervor aus: Schreiben von Gerhard Gülzow an Friedrich Spiegel-Schmidt, 17. 3. 1961 (EZA Berlin 631/4). 218 Thesen des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen zur Frage des Rechts auf Heimat, Sept. 1959 (EZA Berlin 17/720).

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des BdV, Hans Krüger, Carl Brummack per Telegramm, eine Gegenstellungnahme zu erarbeiten.219 Eine Voraussetzung für diese inhaltliche Annäherung an die Landsmannschaften ist wohl im Wandel der personellen Konstellation des OKAs seit Mitte und Ende der 1950er Jahre zu suchen. Mit dem Rückzug Iwands aus dem OKA fehlte bereits seit Mitte der 1950er Jahre ein bruderrätliches Gegengewicht. Ende der 1950er Jahre kamen weitere personelle Umbrüche hinzu: Friedrich Spiegel-Schmidt wurde im Jahr 1958 von der bayerischen Landeskirche, die den vertriebenen Ungarndeutschen für die Geschäftsführung des OKAs freigestellt hatte, zurückberufen.220 Zudem ging Spiegel-Schmidt, nach wie vor publizistisch tätig und mit der Schriftleitung des „Remter“ betraut, in der Heimatrechtsfrage auf Distanz zum OKA und stellte sich 1960 auf die Seite Karl Barths und gegen den OKA.221 Das Tübinger Memorandum von 1963 war der Anlass, den Bruch mit dem OKA zu vollziehen. Spiegel-Schmidt bekannte sich schließlich zum Tübinger Memorandum: „Es wird Sie ja nicht wundern, wenn ich mich in dieser Frage mit den Acht und nicht mit Ihnen identifiziere.“222 Er wähnte sich theologisch unverstanden und verließ den OKA in einem Gefühl der theologischen Isolation: „Ist denn meine Theologie, die sich immer so recht nach einer Mitte zwischen Barth und Luthertum bemühte, so unverständlich?“223 Auch Girgensohn hatte den Vorsitz des OKAs bereits 1951 aus gesundheitlichen Gründen abgegeben und war zudem ab Mitte der 1950er Jahre nur noch in geringerem Umfang im OKA präsent.224 Er, der mit Abstand

219 Heck, EKD, 142. 220 Bereits im Jahr 1954 sorgte sich die bayerische Landeskirche um eine mögliche Entfremdung Friedrich Spiegel-Schmidts von der bayerischen Landeskirche, wenn dieser längerfristig die Geschäftsführung des OKAs übernehme. Siehe Rundschreiben von Gerhard Gülzow an die Mitglieder des OKAs vom 19. 7. 1954 (EZA Berlin 632/2). 221 Spiegel-Schmidts eigenmächtiger Schlusskommentar zur Kontroverse über Barths Thesen habe den Eindruck erweckt, der „Remter“ sei „kein Organ des OKA, sondern eine Zeitschrift von Spiegel-Schmidt“ (Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an Gerhard Gülzow, 10. 3. 1961). Vgl. auch Schreiben von Gerhard Gülzow an Friedrich Spiegel-Schmidt, 17. 3. 1961 (EZA Berlin 631/4); und Schreiben von Gerhard Gülzow an Friedrich Spiegel-Schmidt, 3. 10. 1957 (EZA Berlin 632/3). Gegenseitige Kränkungen spielten ebenfalls eine Rolle. Vgl. z. B. Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an Carl Brummack, 16. 4. 1962 (EZA Berlin 632/5). 222 Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an Carl Brummack, 16. 4. 1962 (EZA Berlin 632/5). In der Kontroverse kamen konträre politische Auffassungen zum Vorschein. Spiegel-Schmidt berichtete, dass er als „Verzichtpolitiker“ angefeindet worden sei. Gülzow unterstellte SpiegelSchmidt wiederum Einseitigkeit (Schreiben von Gerhard Gülzow an Friedrich SpiegelSchmidt, 17. 3. 1961, EZA Berlin 631/4). Ähnliche Auseinandersetzungen gab es mit dem von Iwand gegründeten Beienroder Konvent. Ein Überblick über diese Auseinandersetzung aus der Perspektive des OKAs gibt: Protokoll der Sitzung der Mitglieder des OKAs am 17. 10. 1962 (EZA Berlin 632/5). 223 Schreiben von Friedrich Spiegel-Schmidt an Gerhard Gülzow, 23. 12. 1960 (Berlin EZA Berlin 631/4). 224 Girgensohn hatte den Vorsitz des OKAs bereits 1951 aus gesundheitlichen Gründen abgegeben. Siehe Niederschrift über die Sitzung des OKAs am 21. 5. 1951 (EZA Berlin 17/565).

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das älteste Mitglied des OKA war, verstarb im September 1963.225 Seine behutsam relativierende Bewertung des Heimatrechts tat seinem Renommee jedoch keinen Abbruch, als „geistlicher Vater der Heimatvertriebenen“ war er bei seinem Tod hochgeachtet und fungierte als zentrale Bezugsfigur der kirchlichen Vertriebenenarbeit.226 Möglicherweise trugen seine in der Heimatrechtsfrage abwägend-vorsichtigen, eher andeutenden Beiträge dazu bei, dass Girgensohn vielseitig und in beide Richtungen interpretiert werden konnte, nämlich als Kritiker des Heimatrechtspostulats ebenso wie als Unterstützer der Heimatrechtsforderungen der Vertriebenen, zumal sich Girgensohn für eine Anerkennung des Heimatrechts als Menschenrecht ausgesprochen hatte. Schließlich nahmen solche gegensätzlichen Beiträge wie die Königswinterer Thesen von 1959 und die Vertriebenen- und Ostdenkschrift der EKD von 1965 ausdrücklich und positiv auf Girgensohn Bezug.227 Auch wenn der Tod von Girgensohn und die Distanzierung Spiegel-Schmidts vom OKA sicherlich dazu beitrugen, dass der OKA theologisch und politisch einseitiger besetzt war und sich an die Vertriebenenverbände annäherte, so lässt sich dennoch nicht von einer völligen Konformität von Vertriebenenverbänden und kirchlichen Vertriebenengremien sprechen. Das Verhältnis zum BdV und zu den Landsmannschaften war nach wie vor von Spannungen geprägt und von Angriffen und Diffamierungen nicht frei.228 Sein moderierendes und relativierendes Rollenverständnis hatte der OKA zu diesem Zeitpunkt allerdings aufgegeben. 225 Von einem Generationenwechsel im OKA lässt sich m. E. nicht sprechen. Girgensohn, geboren 1887, war zwar deutlich älter als die anderen führenden Mitglieder des OKAs, jedoch hatte er den Vorsitz bereits zu Beginn der 1950er Jahre aufgrund seiner vielen Krankheiten abgegeben. Publizistisch war er zwar noch aktiv, kirchenpolitischen Einfluss übte er aber nur noch in geringem Umfang aus. Alle anderen Akteure entstammten in etwa einer Generation: Gerhard Gülzow wurde 1904, Spiegel-Schmidt 1912, sein Nachfolger Gerhard Rauhut 1908, Harald Kruska 1908, Ludwig Landsberg 19011 und Claus Harms 1906 geboren. Sie alle waren zum Beginn des Ersten Weltkrieges unter zehn Jahre alt und hatten den Weltkrieg in der frühen Kindheit miterlebt. Der jung verstorbene Iwand, Jahrgang 1899, war etwas älter, Carl Brummack, der 1920 geboren wurde, etwas jünger. Vgl. die Biogramme, die bei Rudolph zu finden sind: Rudolph, Kirche Bd. II, 336–372. Daraus ergibt sich, dass die veränderte personelle Konstellation Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre auf personalpolitische Entscheidungen und interne Polarisierungen, thematisch-positionelle Verschiebungen und Streitigkeiten zurückzuführen ist, die Iwand zum Austritt veranlasst hatten. Es war aber im Wesentlichen dieselbe Generation tonangebend. Die inhaltliche Ausrichtung des OKA hatte demnach einen Effekt auf die personelle Konstellation, die wiederum einen Rückwirkungseffekt auf die Positionierung des OKA hatte und die Annäherung des OKA an die Landsmannschaften begünstigte. Unter „Generation“ wird in der historischen Generationenforschung verstanden, dass Ereignisse, Entwicklungen und Erlebnisse den Erfahrungshorizont einer Altersgruppe geprägt haben. Siehe hierzu Herbert, Generationen, 97. 226 Jahresbericht des OKAs 1963 (EZA Berlin 512/65). Zur Würdigung auch G lzow, Girgensohn, 592. Eine zweizeilige Nachricht findet sich zudem in FAZ, 13. 9. 1963, 4. 227 Die Lage der Vertriebenen, 39–41; und Thesen des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen zur Frage des Rechts auf Heimat, Sept. 1959 (EZA Berlin 17/720). 228 Vgl. oben 371–376.

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4.2 Die Bilanzierung des Integrationsprozesses im Vorfeld der Vertriebenen- und Ostdenkschrift von 1965 Bereits in den frühen 1950er Jahren setzten sich die Gremien der kirchlichen Vertriebenenarbeit mit dem Stand der Integration auseinander und analysierten Integrationserfolge und -defizite. Herbert Girgensohn diagnostizierte auf einer Tagung des OKKs 1952 in Königswinter eine erfolgreiche wirtschaftliche Integration der Vertriebenen.229 Dagegen halte die „seelische Normalisierung“ nicht mit der des „äusseren [sic] Lebens Schritt.“230 Ursache dafür war für ihn neben dem nivellierenden „Substanzverlust“ die herkunftsbedingte Abwertung der Vertriebenen und das Ressentiment der Einheimischen. Der „Ostmensch“ gelte, wie Girgensohn feststellte, in Westdeutschland als „Typus des minderwertigen Menschen.“231 Immer wieder warnten die Vertreter des OKAs vor einer materialistischen Verkürzung der Integration und diagnostizierten dabei eine erfolgreich verlaufende materiellwirtschaftliche Integration, während die geistige und seelische Dimension unbefriedigend sei.232 Angesichts der unbewältigten seelisch-geistigen Aufgaben behalte, wie der OKA 1965 feststellte, die seelsorgerliche und diakonische Arbeit nach wie vor ihr Recht.233 Die von den Akteuren der kirchlichen Vertriebenenarbeit, aber auch von einigen Politikern gebrauchte Unterscheidung von materieller und geistiger Eingliederung hatte allerdings auch die 229 Girgensohn, Herbert: Wie soll die Vertriebenenarbeit weitergehen? Von der Sicht der Kirche (EZA Berlin 17/700). 230 Ebd. 231 Ebd. Elfan Rees formulierte es ähnlich: Rees, Elfan: Das Flüchtlingsproblem seit Amsterdam. Fortschritt – Stillstand – oder Ruf ? Gehalten auf der Tagung in Königswinter, 1965 (EZA Berlin 17/700). In einem vermutlich auf 1959 datierten Thesenpapier sprach der OKA davon, dass „der Mensch des Ostens […] nicht selten dem Menschen des Westens als der minderwertige“ erscheine (Das Recht auf Heimat und der kommende Friedensvertrag im Verständnis der vertriebenen evgl. Kirchen aus dem Osten, o. V., o. D., EZA Berlin B 512/149). 232 Hier können nur Beispiele genannt werden: Girgensohn, Herbert: Girgensohn, Herbert: Wie soll die Vertriebenenarbeit weitergehen? Von der Sicht der Kirche (EZA Berlin 17/700); Niederschrift über die Sitzung des OKAs und des Vorstandes des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen am 3. 1. 1963; An die evangelischen Vertriebenen zum zwanzigsten Jahr nach der Vertreibung, o. V., o. D. (EZA Berlin B 150/512); G lzow, Verantwortung, 335; und Jahresberichte des OKAs und des Konvents der erstreuten evangelischen Ostkirchen für 1965 (EZA Berlin 607/22; auch 512/65). Die Einrichtung eines Arbeitskreises für Flüchtlingsund Vertriebenenfragen der rheinischen Landeskirche wurde im Jahr 1958 mit der Unabgeschlossenheit der seelischen Beheimatung begründet. Siehe Niederschrift über die 1. Sitzung des Arbeitskreises für Flüchtlings- Vertriebenenfragen, 27. 6. 1958 (LKA D sseldorf 1 OB 001 168). Ähnlich auch Wort und Beschluss der westfälischen Landessynode, 19.–24. 10. 1958 in Bethel: Seelsorge in der Gemeinde, an den Vertriebenen und Flüchtlingen (EZA Berlin 17/ 700); und Wort an die Vertriebenen von Pastor Besch, 6. 3. 1970 (BArch Koblenz B 234/1151). 233 Arbeitsbericht des Ostkirchenausschusses und des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen 1965 (EZA Berlin 512/65).

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Konsequenz, dass der Topos des Integrationswunders zum Teil, nämlich in wirtschaftlicher Hinsicht, bestätigt wurde. Hinsichtlich des materiellen Integrationsverlaufes war explizit von „Wunder“ die Rede.234 Gelegentlich waren auch in den Gremien der kirchlichen Vertriebenenarbeit solche Stimmen zu vernehmen, die Integrationsdefizite auf materiellem Gebiet identifizierten. Auf der Flüchtlingstagung der EKD im September 1950 wies Staatssekretär Ottomar Schreiber auf die „statistisch nachgewiesenen Unterschiede“ im „Lebensniveau“ und in Bezug auf die „Arbeitslosigkeit“ zwischen Vertriebenen und Einheimischen hin.235 Die westfälische Landessynode veröffentlichte eine Erklärung mit dem Titel „Seelsorge in der Gemeinde, an den Vertriebenen und Flüchtlingen.“ Diese wies auf die Benachteiligung vertriebener Landwirte, die berufsfremde Beschäftigung der Vertriebenen, die unter Vertriebenen überproportional große Arbeitslosigkeit, die unbewältigt gebliebenen Glaubensanfechtungen hin und würdigte das mitgebrachte „Erbe.“236 Während des 1959 von den UN ausgerufenen Weltflüchtlingsjahrs, das die Akteure der weltlichen und kirchlichen Vertriebenen dazu nutzten, die Vertriebenenproblematik auf die Agenda zu setzen und das Heimatrechtspostulat mit Legitimität auszustatten, forderte der Ratsvorsitzende der EKD, Otto Dibelius, die Linderung der äußeren Not sowie die Intensivierung des Wohnungsbaus.237 Die Reflexion des Integrationsstandes blieb allerdings in erster Linie Einzelakteuren überlassen. Mit besonderer Intensität problematisierte Ludwig Landsberg die Situation der Vertriebenen in Gesellschaft, Wirtschaft und Kirche.238 Landsberg analysierte die sozioökonomische Situation der Vertriebenen anhand sozialstatistischer Daten 234 Dibelius, Weltflüchtlingsjahr, 195; Das Recht auf Heimat und der kommende Friedensvertrag im Verständnis der vertriebenen evgl. Kirchen aus dem Osten, o. V., o. D. (EZA Berlin B 512/ 149). 235 Ottomar Schreiber, Referat: Stand der Politisierung der Flüchtlingsfrage im Blick auf den Dienst der Kirche. In: Niederschrift der von der Kanzlei der EKD vom 19.–21. 9. 1950 nach Königswinter einberufenen Konferenz über die Fragen der kirchlichen Flüchtlingsarbeit (ADW Berlin CAW 682); auch ders.: Wie soll die Vertriebenenarbeit weitergehen? Aus der Sicht des Staates. Niederschrift der Tagung des Konvents der zerstreuten Ostkirchen in Königswinter vom 18.–20. 5. 1952 (EZA Berlin B 512/149). 236 Wort und Beschluss der westfälischen Landessynode, 19.–24. 10. 1958 in Bethel: Seelsorge in der Gemeinde, an den Vertriebenen und Flüchtlingen (EZA Berlin 17/700). 237 KJ 86 (1959), 136 f. Zugleich bezeichnete es der Ratsvorsitzende als ein „Wunder“, dass sich für Millionen Vertriebene Existenzmöglichkeiten aufgetan hätten (Dibelius, Weltflüchtlingsjahr, 195). 238 Hier sei nur ein Überblick über Landsbergs z. T. nicht datierte Vorträge und Aufsätze gegeben. Vgl. Landsberg, Ludwig: Aspekte der Vertriebenenarbeit aus staatlicher Sicht und Bericht über die augenblickliche Situation. Eine Kurzwiedergabe des Referats findet sich im Bericht über die Tagung „Die Kirche und das Vertriebenenproblem“ vom 25.–27. 11. 1958 (LKA D sseldorf 1 OB 001 251). Vgl. außerdem ders., Vertriebenen in der gesellschaftlichen Ordnung; ders., Gemeinde; ders.: Vortrag auf der Pressetagung der evangelischen Flüchtlingsseelsorge, 30.5.–1. 6. 1965 (LAV NRW Duisburg RW 305–7); ders., Vertriebenen in der gesellschaftlichen Ordnung; ders., Heimat und Heimatlosigkeit; ders., Situation; ders., Schlesien heute; ders., Spannungsfeld; und ders., Vertriebenen- und Flüchtlingsproblem.

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und vertrat darauf aufbauend die These, dass die erfolgte wirtschaftliche Eingliederung mit einem „erheblichen sozialen Abstieg erkauft“ worden sei.239 Diese Analysen verknüpfte der Jurist mit übergreifenden kritischen, z. T. sozialpsychologischen Gesellschaftsdiagnosen und einer umfassenden Kirchenkritik.240 Die von vielen Akteure der kirchlichen Vertriebenenarbeit, aber auch von einigen Politikern gebrauchte Unterscheidung zwischen materieller oder äußerer und innerer Eingliederung hielt Landsberg für problematisch. Denn das von ihm diagnostizierte „Unwohlsein“ war für Landsberg ein Indiz für die Defizite auf sozioökonomischer Ebene. So wertete er dieses „Unwohlsein“ als Ausdruck dafür, daß sich die Vertriebenen und Flüchtlinge hier nicht gleichberechtigt fühlen, dafür, daß die Vertriebenen und Flüchtlinge auch heute noch der Meinung sind, daß sie sehr viel schlechter gestellt sind als die übrige Bevölkerung.241

Landsberg betonte also gerade den Zusammenhang zwischen der sog. inneren und äußeren Integration, was in einer spezifischen Gesellschaftsdiagnose Landsbergs begründet lag. Denn in einer materialistischen Gesellschaft seien auch innere Befindlichkeiten durch äußerlich-materielle Faktoren bedingt.242 An anderer Stelle warnte Landsberg sogar vor dem freilich von ihm selbst gebrauchten Begriff der „inneren Eingliederung“, da diese Unterscheidung den Zusammenhang zwischen „äußerer“ und „innerer Eingliederung“ verwische und gerade darüber hinwegtäusche, dass handfeste soziale und wirtschaftliche Probleme nicht gelöst waren.243 Schließlich stellte Landsberg wiederholt den Revisionismusverdacht infrage, dem sich die Vertriebenen ab Ende der 1950er Jahre vermehrt ausgesetzt sahen, und betonte in diesem Zusammenhang die besondere Versöhnungsbereitschaft der Vertriebenen.244 239 Ders.: Vor welche Probleme stellen uns die Vertriebenen und Flüchtlinge heute?, o. D. (LAV NRW Duisburg, RW 305–11). 240 Ebd. Seine Kritik an der landeskirchlichen Integrationsstrategie und am innerkirchlichen Umgang findet sich in fast jedem seiner Referate und Aufsätze. Vgl. die in Anm. 238 genannten Titel. 241 Landsberg, Ludwig: Referat auf der Sitzung des Kulturausschusses des Landesvertriebenenbeirats, Königswinter, 25. 6. 1962 (LAV NRW Duisburg RW 305–9). Ähnlich auch ders.: Referat über die Durchführung des § 96. Anhang zur Niederschrift über die Sitzung des Beirates für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen am Freitag, 30. 10. 1963 (LAV NRW Duisburg BW 200, Nr. 234). 242 Ders.: Referat auf der Sitzung des Kulturausschusses des Landesvertriebenenbeirats, Königswinter, 25. 6. 1962 (LAV NRW Duisburg RW 305–9). 243 So führte er aus: „Die ‘äußere und innere, Eingliederung sind so ineinander verzahnt, daß es richtig an der ganzen Feststellung nur ist, daß eine misslungene äußere Eingliederung in den seltensten Fällen die ‘innere Eingliederung, ermöglicht, daß andererseits die ‘äußere Eingliederung, keineswegs die ‘innere, zur Folge hat“ (Ders.: Referat über die Durchführung des § 96. Anhang zur Niederschrift über die Sitzung des Beirates für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen am Freitag, 30. 10. 1963, LAV NRW Duisburg BW 200, Nr. 234). 244 Wortbeitrag Ludwig Landsberg. In: Forum 4 Politik: Vertriebene. In: Dokumente, 806. Die Behauptung der Versöhnungsbereitschaft der Vertriebenen war ein beliebtes Argument, um

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Anhand der Diskussionen der kirchlichen Vertriebenengremien zeigt sich ein spezifisches Narrativ, um Integrationsdefizite zu artikulieren. Demnach wurde zwischen materiell-wirtschaftlicher und menschlicher, seelischer oder geistiger Eingliederung unterschieden. Dabei wurde in der Regel die Unabgeschlossenheit der „inneren Eingliederung“ diagnostiziert, während die wirtschaftliche Eingliederung weit fortgeschritten, aber noch nicht vollständig abgeschlossen sei. Der Topos der „inneren Eingliederung“ implizierte, dass sich die Vertriebenen in der aufnehmenden Gesellschaft nicht heimisch fühlten, ihr Erbe nicht berücksichtigt würde, ihr seelisches Trauma der Heimatlosigkeit nicht verarbeitet worden sei oder sie als minderwertig erachtet würden. Einige Akteure, darunter insbesondere Ludwig Landsberg, stellten dieses Narrativ einer gelungenen wirtschaftlichen Integration infrage und setzten sich gerade mit der sozioökonomischen Situation der Vertriebenen auseinander.245 Um die Auseinandersetzungen der kirchlichen Vertriebenengremien angemessen zu kontextualisieren und das Spezifische dieser Debatten herausarbeiten zu können, seien an dieser Stelle kurz die Debatten im Beirat des Bundesvertriebenenministeriums skizziert. Der Beirat beriet in erster Linie die Novellierungen des Lastenausgleichs und thematisierte konkrete Aspekte des Integrationsprozesses wie das Problem der Wohnraumversorgung, die Benachteiligung der vertriebenen Landwirte, die Situation der selbständigen Vertriebenen, die Deklassierung der Vertriebenen, die ungenügende Wohnraumversorgung, die Situation der unter Kapitalmangel leidenden vertriebenen Betriebe oder die Situation der SBZ-Flüchtlinge.246 In der zweiten Hälfte den Vorwurf des Revisionismus zu widerlegen. Dabei ist nicht auszuschließen, dass es sich hierbei zuweilen um eine rhetorische Floskel handelte, aus der nicht unbedingt Konsequenzen gezogen wurden bzw. der die Funktion zukam, den verbreiteten Vorwurf des Revisionismus zu widerlegen oder sogar von der eigenen revisionistischen Zielsetzung abzulenken. Das Versöhnungspostulat relativiert sich auch vor dem Hintergrund des Antikommunismus, der bei den Vertriebenenverbänden durchweg zu finden ist. Mit dem Verweis auf die aggressiven kommunistischen Regime ließe sich gleichzeitig argumentieren, dass Versöhnung zur Zeit gar nicht möglich sei und die eigene Versöhnungsbereitschaft von anderen konterkariert werde. 245 Die Beiträge der Flüchtlingssoziologen wurden in diesem Diskussionszusammenhang offenbar nur in geringem Umfang zur Kenntnis genommen. Sowohl ein scharfer Antikommunismus als auch ein Bekenntnis zur Versöhnung findet sich z. B. in den kulturpolitischen Überlegungen Ludwig Landsbergs. Vgl. z. B. Drei Diskussionsgrundlagen über Kulturarbeit, XII 1959 (LAV NRW Duisburg RW 305 Nr. 8). 246 Die Akten des Beirates wurden systematisch ausgewertet (Vgl. die Bestände BArch Koblenz B 150/004342–04344, 004348, 027418, 004347, 004349, 004345, 004350, 004346, 027419, 027416, 027417, 055777, 055778, 055779, 004351, 027420, 055780–055782, 004352–004353, 027421–027424 und 05783. Einige der Niederschriften finden sich auch im EZA Berlin. Vgl. die Akten EZA Berlin 87/573, 87/574 und 87/575. Ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ließen das Bundesvertriebenenministerium und das Wirtschaftsministerium vermehrt Gutachten ausarbeiten, die die Situation der Vertriebenen oder einzelner vertriebener Gruppen thematisierten. Vgl. Zweijahresplan für die Eingliederung der Geschädigten für 1954 und 1955, datiert auf den 18. 1. 1956 (BArch Koblenz B 150/4342); Bericht des Wirtschaftsministeriums vom 8.

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der 1950er Jahre wurde die Kulturarbeit vermehrt Gegenstand der Beratungen.247 Ab 1955 erarbeitete eine „Forschungsgruppe Eingliederung“ eine dreibändige, vier Jahre später schließlich erschienene Sammeldokumentation, über die auch in der Presse berichtet wurde.248 An dieser Dokumentation, die den Integrationsverlauf und -stand umfassend nachzeichnete, waren Elisabeth Pfeil und Max Hildebert Boehm als ausgewiesene Kenner der Vertriebenenproblematik sowie Hermann Maurer und Friedrich Spiegel-Schmidt als Vertreter des Hilfswerks bzw. der evangelischen Kirche beteiligt.249 Dieses Sammelwerk vertrat den Anspruch, einen Rechenschaftsbericht darüber abzulegen, wo die Eingliederung erfolgt und wo sie nicht erfolgt sei.250 Dabei sollten Versäumnisse ehrlich benannt, die bereits vollbrachten „wertvollen Leistungen“ aber auch nicht verschleiert werden.251 Einige Autoren machten auf Integrationserfolge auf wirtschaftlichem Gebiet aufmerksam und glaubten dabei eine Assimilation der Vertriebenen zu erkennen.252 Nicht zuletzt entsprach die Thematisierung von Integrationsdefiziten im Beirat auch kommunikationsstrategischen Erfordernissen und sollte einerseits solche Stimmen entkräften, die vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Konsolidierung eine Auflösung des Ministeriums forderten,253 andererseits sollte die Benennung von Integrationsdefiziten den heimatpolitischen Zielsetzungen

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12. 1960. Anhang zur Niederschrift über die Sitzung des Beirates für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen am 8. 12. 1961 (EZA Berlin 2/4251); und Niederschrift über die Sitzung des Beirates für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen am 26. 2. 1959 (BArch Koblenz B 150/ 004347). Beer, Symbolische Politik, 318. Lemberg/Edding, Vertriebenen. Die Protokolle der Forschungsgruppe finden sich in EZA Berlin 17/516, 17/517, 17/518, 17/519, 17/520. Erste Pläne entstanden 1953. Siehe Kurzprotokoll über die Referentenbesprechung des Vorhabens der Forschungsgruppe Eingliederung am 19. 1. 1953 (BArch Koblenz 150/1911). Über das Ergebnis wurde schließlich in der „FAZ“ berichtet, die einerseits zu dem Ergebnis kam, dass die „Vertriebenen wirtschaftlich gut wieder Fuß gefaßt hätten“, andererseits gebe es einen „nicht unbeträchtlichen Teil“, der die Entwurzelung „seelisch“ nicht überstanden habe (Jeder vierte ist Vertriebener. In: FAZ, 13. 10. 1959). Pfeil, Sesshaftmachung; Pfeil, Neugründungen; Boehm, Gruppenbildung; Boehm, Verluste; Maurer, Hilfswerk; und Spiegel-Schmidt, Wandlungen. Protokoll der Sitzung der Forschungsgruppe Eingliederung am 21. 11. 1956 (EZA Berlin 17/ 518). Ebd. Vgl. auch Niederschrift über die Sitzung des Beirats für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen am 23. 2. 1956 (BArch Koblenz B 150/4352, Bd. 1). Das trifft für folgende Beiträge zu: Pfeil, Neugründungen; Rogge, Vertreibung, 224. Ähnliche Überlegungen finden sich sogar bei: Boehm, Gruppenbildung, 596 f.; Karasek-Langer, Volkstum, 686; und Lemberg, Wandel. Solche Stimmen waren bereits seit Mitte der 1950er Jahre zu hören. Während der Beratung des Zweijahresplanes warnten einige Beiratsmitglieder davor, den Eindruck zu vermitteln, „daß die im Zweijahresplan genannten Aufgaben größtenteils bereits gelöst wären“ (Niederschrift über Sitzung des Beirats für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen, 23. 2. 1956, BArch Koblenz B 150/4352, Bd. 1). 1965 wurde die Forderung erhoben, das Bundesvertriebenenministerium mit dem gesamtdeutschen Ministerium zusammenzulegen. Siehe Vertriebene gegen Zusammenlegung. In: Die Welt, 11. 10. 1965, 1.

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des Ministeriums Nachdruck verleihen.254 Insgesamt wurden Integrationsdefizite in den Gremien der kirchlichen und säkularen Vertriebenengremien zwar thematisiert, allerdings konnte diese Debatte kaum über die vertriebenenspezifischen Gremien hinausdringen. Vergleicht man die im Bundesvertriebenenministerium und im OKA vorherrschende Thematisierung der Situation der Vertriebenen, so zeigen sich zwei divergierende Problemwahrnehmungen: Während der Beirat im Bundesvertriebenenministerium Integrationsdefizite auf einer praktisch-materialen und sozioökonomischen Ebene identifizierte und konkrete Leistungsverbesserungen beriet, nahm der OKA in erster Linie die menschlichseelische, die sogenannte „innere“ Dimension der Integrationsproblematik wahr. Diese unterschiedlichen Problemwahrnehmungen lassen sich auf die unterschiedlichen Funktionslogiken, Interessen und Selbstverständnisse kirchlicher und staatlicher Akteure zurückführen. Die Akteure der kirchlichen Vertriebenenarbeit verstanden den OKA und OKK als das „geistige und geistliche Zentrum“ der Vertriebenenarbeit und beanspruchten die Zuständigkeit für die seelisch-geistige Dimension des Integrationsprozesses.255 Einige staatliche Akteure schienen dieses Selbstverständnis zu teilen, wobei sie der kirchlichen Vertriebenenarbeit nicht zuletzt eine systemstabilisierende Funktion zuwiesen. Paul Peter Nahm, Staatssekretär im Bundesvertriebenenministerium, sprach dem Flüchtlingsbeauftragten der EKD 1961 seinen besonderen Dank dafür aus, daß mein Bemühen, der Heilung der Schäden an Gemüt und Seele keinen nachstelligen Rang zu geben, gesehen worden ist. Gerade weil lediglich die materiellen Fragen im Blickpunkt der öffentlichen Interessen stehen, erscheint es mir so wichtig, in den Eingliederungsprozess auch die Seelen einzubeziehen. Denn allzu oft entsteht aus der Unbehaustheit der Seele eine unheilbare geistige Entwurzelung, die sich eines Tages im Radikalismus verschiedener Prägung äußern kann. Ich danke Ihnen, hochverehrter Herr Bischof, und den Herren Flüchtlingsbeauftragten der Landeskirchen für das stille und unentwegte Bemühen, das nicht nur dem einzelnen Menschen hilft, sondern auch die Aufgaben des Staates erleichtert und dem inneren Frieden des eigenen Volkes und der Welt dient.256

254 Protokoll der Sitzung der Forschungsgruppe Eingliederung am 21. 11. 1956 (EZA Berlin 17/ 518). Hierbei kam es, wie bereits erwähnt, zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Ministerium und den Wissenschaftler, die die 1959 erschienene Dokumentation des Ministeriums vorbereiteten. Siehe hierzu oben 377–382. 255 Z. B. Protokoll der Sitzung des OKAs am 17. 10. 1949 in Bethel (EZA Berlin 17/57). 256 Schreiben von Reinhard Wester an die Mitglieder des Flüchtlingsbeirates der EKD, 11. 12. 1961 (EZA Berlin 2/4297).

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4.3 Die Genese der Vertriebenen- und Ostdenkschrift von 1965 4.3.1 Entstehungsbedingungen und Debattenzäsuren Im bundesdeutschen Protestantismus hatte sich während der 1960er Jahre ein Wechsel der Stimmführerschaft vollzogen, in deren Folge der bruderrätliche Flügel, der die theologischen und politischen Debatten der 1950er Jahre stark prägte, in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre an Einfluss verlor.257 Dieser Wechsel der Stimmführerschaft dürfte mit einem Generationenwechsel in anderen Feldern wie Politik, Recht, Verwaltung oder Wissenschaften korrespondieren.258 Stattdessen gewannen vermehrt protestantische Intellektuelle im Umkreis der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg, einem interdisziplinär und kirchenpolitisch heterogen zusammengesetzten eigenständigen wissenschaftlichen Gremium, an Geltung.259 Damit korrespondierend entdeckte die EKD seit den 1960er Jahren das neue Kommunikationsmittel der Denkschrift, die als Ausdruck einer neuen „Art der Einflussnahme der Evangelischen Kirche auf den öffentlichen Meinungsbildungsprozess in einer zunehmend demokratischeren und pluralistischeren Gesellschaft“ verstanden werden kann.260 Im Gegensatz zu den vorhergehenden kirchlichen Worten, die „knapp gehalten“ waren und „Weisungscharakter“ trugen, „hatten die Denkschriften einen argumentativen, zur Diskussion anregenden Stil.“261 Parallel zum Wandel der Stimmführerschaft veränderte sich die personelle Konstellation innerhalb des OKAs, was eine zunehmende Konformität zwischen OKA und weltlichen Landsmannschaften bewirkte, kirchenintern jedoch auch eine Oppositionshaltung gegenüber der EKD zur Folge hatte.262 257 Greschat, Protestantismus und Evangelische Kirche, 547–552. 258 Ulrich Herbert spricht davon, dass die sogenannte „Kriegsjugendgeneration“, die ihre Jugendzeit während des Zweiten Weltkrieges erlebte, um 1960 in die Führungspositionen der westdeutschen Gesellschaft einrückte, während die Führungskräfte der 1950er Jahre allmählich ausschieden. Siehe Herbert, Generationen, 101. Dabei sei die „politisch-generationelle Prägung“ überformt worden von „kulturellen und politischen Neuorientierungen“, deren zunächst opportunistischer Charakter nicht selten in politische Konversion überging.“ 259 Zur theologisch und politisch heterogen zusammengesetzten Studiengemeinschaft siehe Greschat, Protestantismus und Evangelische Kirche, 547–552. 260 Lepp, Wort, 85; Hanke, Deutschlandpolitik, 205 und 207. 261 Die kirchenhistorische Forschung spricht von einem „Zeitalter der Denkschriften“, das 1962 mit der Denkschrift zur Eigentumsentwicklung seinen Anfang genommen habe. Siehe Schrçer, Art. Denkschriften, 494; Hauschild, Kirche, 82. Die Denkschriften waren ein neues Kommunikationsmittel angesichts der Pluralisierungs- und Liberalisierungsprozesse der Gesellschaft. Zu überlegen wäre, ob nicht manche Aspekte der Denkschrift auch für das zweite Wort der EKD zum Lastenausgleich zutreffend sind. Vgl. oben 285 f. Hanke sieht in der Denkschrift eine Kritik am „ethischen Doktrinarismus (Hanke, Deutschlandpolitik, 203). 262 Vgl. oben 371–377. Eine parallele Entwicklung vollzog sich auf gesellschaftspolitischer Ebene. Hier gerieten die Vertriebenenverbände, die sich selbst während der 1960er Jahre radikalisierten, zunehmend in eine Isolation und unter Revisionismusverdacht. Die Unterstützung

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Daneben wäre auf die Spezifik der ost- und deutschlandpolitischen Debatten hinzuweisen. Im Verlauf der 1950er Jahre schwächten die fortschreitende Integration und die Entschärfung der sozialen und wirtschaftlichen Lage den Rückkehrwillen der Vertriebenen. Auch im Bewusstsein der internationalen Öffentlichkeit setzte sich die Oder-Neiße-Grenze fest. Sichtbarster Ausdruck für die Stabilität und Akzeptanz des Status quo auf beiden Seiten war die Berliner Mauer, die eine Wiedervereinigung im Rahmen einer antikommunistischen Roll-Back-Strategie zunehmend illusionär erscheinen ließ.263 Die fortschreitende Integration und wirtschaftliche Konsolidierung untergrub die heimatpolitische Zielsetzung der Vertriebenenverbände und Vertriebenenpolitiker, an der sie schlussendlich selbst mitgewirkt hatten.264 Vor dem Hintergrund dieser Verschiebungen in der Oder-Neiße-Frage sind einige kirchenamtliche Stellungnahmen zu verstehen, die seit den 1960er Jahren auf die Frage der Oder-Neiße-Grenze vorsichtig Bezug nahmen und insgesamt auf eine „Friedensabsicherung unter Anerkennung des Status Quo“ zielten.265 Mehrere Intellektuelle wie Karl Jaspers oder Ralf Dahrendorf hatten die Bekräftigung des Anspruches auf die Gebiete jenseits von Oder und Neiße und die Vertriebenenpolitik als illusionär und das „Heimatrechtsdogma“ als unrechtmäßig kritisiert.266 Einen vorläufigen Höhepunkt bildete das sogenannte Tübinger Memorandum von 1961 und 1962. Acht protestantische Intellektuelle, darunter die Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker und Werner Heisenberg, der Jurist Ludwig Raiser, der Pädagoge und Philosoph Georg Picht und der Präses der rheinischen Landeskirche Joachim Beckmann, waren an der Ausarbeitung jenes Memorandums beteiligt und forderten unter dem Titel „Mehr Wahrheit in der Politik!“ eine illusionslose, realistische Politik, die sich an den realiter gegebenen Gestaltungsspielräumen orientieren und dem Wandel der politischen Konstellation Rechnung tragen solle.267 In diesem

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durch alle Parteien und die Bundesregierung war eher rhetorisch-symbolischer Natur. Siehe Kossert, Heimat, 166. Der gesamte vierte Punkt nach Rudolph, Fragen, 496. Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 130. Handreichung der EKD „Zur Friedensfrage“ von 1961/62. In: KJ 86 (1959), 77; Weg der Versöhnung. Besprechungshilfe der rheinischen Landeskirche. In: KJ 88 (1961), 84 f. und Remter 7 (1961), H. 4, 220 f.; und Wort des Arbeitskreises der Kirchlichen Bruderschaften in der EKD vom 29. 9. 1961. In: KJ 1961, 81. Insgesamt auch Lepp, Wort, 88; und Rudolph, Fragen, 510. Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 125 und 131. Dahrendorf kritisierte eine Konservierung des „Flüchtling[s] als Flüchtling“. Insgesamt auch Jolles, Soziologie, 347, 392 u. 394). Ein 1960 in der „FAZ“ erschienener Kommentar erkannte das Recht auf Heimat zwar an, billigte aber auch den Polen ein Recht auf Heimat zu. Siehe Benckiser, Nikolas: Der Rechnungsabschluß. In: FAZ, 21. 10. 1960, 1. Auch in der Bundesregierung wurde eine Rückkehr ab Mitte der 1950er für unwahrscheinlich gehalten, dies wurde aber nicht publiziert, um die Vertriebenenverbände nicht gegen sich aufzubringen. Das geht hervor aus: Ahonen, Expulsion, 77. Entsprechende Denkschriften aus dem Auswärtigen Amt wurden nicht an die Öffentlichkeit kommuniziert. Siehe Heck, EKD, 116. Abgedruckt ist das Memorandum in KJ 89 (1962), 75–78. Weitere Mitverfasser waren der Soziologe und Jurist Hellmut Becker, Theodor Eschenberg, Gerhard Heß, Adolf Butenandt und

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Zusammenhang forderten die Verfasser eine „aktive Außenpolitik“, die zu einer „Normalisierung der politischen Beziehungen zu den östlichen Nachbarn Deutschlands“ führen sollte – und die das von den Vertriebenenverbänden geltend gemachte Recht auf Heimat unmittelbar tangierte.268 Das Memorandum rief ein starkes Echo hervor und bewirkte eine Dynamisierung und Polarisierung der Debatten über die deutschen Ostgrenzen und damit auch die über das Heimatrecht.269 Insbesondere aus dem BdV, aber auch vom OKA und von einigen CDU-Abgeordneten kam scharfe Kritik.270 Es konfrontierte „schließlich die Kirche als ganze mit der Vertriebenen- und Ostfrage […] in einem Ausmaß, wie es seit den ersten Nachkriegsjahren nicht mehr zu beobachten gewesen war.“271 Das Tübinger Memorandum ließ den Wunsch nach einer „klärenden Stellungnahme der EKD“ deutlich werden.272 Diese hatte den innerkirchlichen wie gesamtgesellschaftlichen Dissens zwar wahrgenommen, konnte sich jedoch nicht zu einer klärenden Stellungnahme durchdringen und zog sich auf ein „innerkirchliches agree to disagree“ zurück.273 4.3.2 Streit um Zuständigkeit und Deutungskompetenz Zunächst musste innerhalb der EKD die Zuständigkeit für die Heimatrechtsfrage festgelegt werden. Der Streit um die institutionelle Zuständigkeit war zugleich ein Streit um eine einflussreiche und günstige Debattenposition, die eine wirkungsvolle Vermittlung des eigenen Standpunktes versprach und die Deutungshoheit über die Heimatrechtsfrage sicherte. Der OKA, der mit dem Arbeitskreis für Ethik und Recht seit 1959 über ein auf diese Fragen spezialisiertes Gremium verfügte, beanspruchte die Deutungshoheit.274 Da die

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Constantin von Dietze. Siehe Greschat, Protestantismus und Evangelische Kirche, 554; auch ders., Ostdenkschrift; und ders., Wahrheit. Für Greschat stellt das Memorandum einen Kristallisationspunkt der Integrationsdebatten dar. Allerdings hatte das Memorandum auf die Integration der Vertriebenen gar nicht Bezug genommen. Siehe Ders, Vertriebenen, 47–76, hier 61. Zitiert nach Lepp, Wort, 88. Huber, Kirche, 391. Vgl. auch Stellungnahme des OKAs zum Tübinger Memorandum vom 6. 11. 1961 (EZA Berlin 632/9). Die Stellungnahme ist fälschlicherweise auf den 6. 11. 1961 datiert. Mit dem Verhältnis von Politik und Kirche befasst sich auch Beckmann, Joachim: Die Bibel und das Vaterland. In: Der Spiegel, 1. 8. 1962, 32–40. So jedenfalls Huber, Kirche, 391. Insgesamt waren Zustimmung und Ablehnung nicht deckungsgleich mit der parteipolitischen Lagerbildung. Siehe Heck, EKD, 136–139. Rudolph, Kirche Bd. II, 72. Befürwortende Stellungnahmen: Schweitzer, Ideologisierung, 36–61; und Raiser, Recht, 384–390. Ablehnende Stellungnahmen: Petersmann, Memorandum?, 16–18; und Braun, Ostproblem, 234–245. Rudolph, Kirche Bd. II, 86. Heck, EKD, 148. Rudolph, Kirche Bd. II, 86.

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Diskussionen um Heimatrecht, Grenzfrage, Selbstbestimmungsrecht und Wiedervereinigung in den 1960er Jahren mit zunehmender Intensität geführt wurden, gewannen auch die damit zusammenhängenden seelsorgerlichen Fragen an Dringlichkeit. So stellte der OKA gegenüber dem Rat der EKD fest: „Das Trauma ist selbst bei den Arrivierten neu virulent geworden, seit die Frage nach dem Recht auf Heimat und dem Selbstbestimmungsrecht in den Mittelpunkt gestellt ist.“275 Auf der 16. Sitzung des Rats der EKD am 16. Januar 1963 wurde dem OKA schließlich Gelegenheit gegeben, seinen Standpunkt zur Heimatrechtsfrage vorzutragen.276 Der Vorsitzende des OKAs Gerhard Gülzow artikulierte auf der inhaltlichen Ebene die Erwartung an den Rat der EKD, „für das Recht einzustehen.“277 Gülzow bekräftigte das Selbstverständnis des OKAs als „Sprachorgan der zerstreuten deutschen evangelischen Ostkirchen“ und verwies dabei auf die lange Erfahrung, die das Vertretungsorgan der evangelischen Vertriebenen in der Heimatfrage erworben habe.278 Die Deutungskompetenz in der Heimatrechtsfrage versuchte der OKA zurückzugewinnen, indem er die Heimatrechtsfrage nicht als politisches, sondern als seelsorgerliches Problem kategorisierte. In diesem Sinne empfahl auch der Flüchtlingsbeauftragte der EKD, Reinhard Wester, eine Behandlung der Heimatrechtsfrage nach der „Art Girgensohns“ und bat um die Verabschiedung eines Wortes der EKD, welches den OKA „nicht im Stich lässt.“279 OKR Wilhelm Gundert und Gustav Heinemann, Mitglied des Rates der EKD, zweifelten jedoch die Kompetenz des OKAs an, sich als subordiniertes Organ der EKD öffentlich zu positionieren.280 Schließlich wurde der EKD-Flüchtlingsbeauftragte Bischof Reinhard Wester, der die Anliegen des OKAs grundsätzlich unterstützte, mit der Erarbeitung eines seelsorgerlichen Wortes gebeten, während der Kammer für öffentliche Verantwortung die Zuständigkeit entzogen wurde.281 In diesem Wort appellierte Wester an den Geist der Versöhnung, ohne auf ein Recht auf Heimat zu verzichten, das allerdings nur „in Demut“ gefordert werden könne.282 275 Vertraulicher Aktenvermerk über meinen Vortrag auf der Sitzung des Rates der EKD, 4. 2. 1960 (EZA Berlin 631/4). 276 Bericht des OKAs auf der 16. Ratssitzung am 17./18. 1. 1963 (EZA Berlin 17/635). 277 Vertrauliches Schreiben von Gerhard Gülzow an die Mitglieder des OKAs vom 19. 1. 1963 (EZA Berlin 632/6). 278 Ebd. Vgl. auch Bericht des OKAs auf der 16. Ratssitzung am 17./18. 1. 1963 (EZA Berlin 17/ 635). 279 Ebd. 280 Vertrauliches Schreiben von Gerhard Gülzow an die Mitglieder des OKAs, 19. 1. 1963 (EZA Berlin 632/6). 281 Auszug aus der Niederschrift der 16. Ratssitzung am 17./18. 1. 1963 (EZA Berlin 17/635). Eine Beschränkung auf die seelsorgerliche Dimension wurde auch von einigen Ratsmitgliedern eingefordert. Siehe Vertrauliches Schreiben von Gerhard Gülzow an die Mitglieder des OKAs, 19. 1. 1963 (EZA Berlin 632/6). 282 Wester, Reinhard: Recht auf Heimat? Ein Brief an die Heimatvertriebenen. Anlage des Schreibens von Gun-dert an die Mitglieder des Rates der EKD vom 18. 3. 1963 (EZA Berlin 2/ 4297).

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Fast zeitgleich nahm die Kammer für öffentliche Verantwortung, die den Rat der EKD in öffentlichen Fragen beriet und Stellungnahmen des Rats vorbereitete, die Beratungen auf und drängte den Rat der EKD, den Beschluss, die Kammer für öffentliche Verantwortung von der Verantwortung für die Heimatrechtsfrage zu entbinden, zu revidieren.283 Die Kammer leitete aus der Grundordnung der EKD ein Recht zur freien Initiative ab.284 Zudem warnte Hermann Kunst, der Bevollmächtigte der EKD bei der Bundesregierung, davor, ein gesamtgesellschaftlich relevantes Thema einer einzelnen Gruppe bzw. einem Gremium zu überlassen, das diese Problematik aus der Perspektive einer spezifischen und betroffenen Gruppe heraus bewertete. Eine „einseitige und polemische Stellungnahmen“ sollte gerade vermieden werden, stattdessen sollte dieses „schwierige Thema wissenschaftlich“ und „mit langfristiger und wissenschaftlicher Gründlichkeit“ bearbeitet werden.285 Die Kammer wurde von den Akteuren des OKAs zunehmend als Opponent und Konkurrent empfunden, da sie, wie der Vorsitzende des OKAs festzustellen glaubte, von vornherein von den Thesen des Memorandums ausgehe.286 Dieses Urteil war allerdings nicht ganz gerecht: Zwar bestanden personelle Überschneidungen zwischen dem Tübinger Autorenkollektiv und der Kammer für öffentliche Verantwortung, jedoch zeichnete sich die Kammer durch eine politisch, kirchenpolitisch und theologisch heterogene personelle Zusammensetzung aus.287 Auch Vertreter des BdV nahmen an den meisten Sitzungen teil und konnten ihren Standpunkt zumindest darlegen.288 Philipp von Bismarck, der Sprecher der Pommerschen Landsmannschaft, der selbst die Kammer zweimal um eine Ausarbeitung zur Heimatrechtsfrage gebeten hatte,289 berichtete im Rückblick davon, dass Hermann Kunst mehrfach vorbereitende Gespräche mit den Vertriebenenverbänden geführt habe.290 An283 Schreiben von OKR Gottfried Niemeier an Hermann Kunst und Ludwig Raiser vom 20. 11. 1962 (EZA Berlin 87/1110). Niemeier hatte eine gemeinsame Stellungnahme von Kammer und OKA vorgeschlagen. 284 Rudolph, Kirche Bd. II, 99. 285 Das geht hervor aus: Niederschrift über die Verhandlungen der Kammer für öffentliche Verantwortung anlässlich ihrer Sitzung am 16. 2. 1963 in Frankfurt (EZA Berlin 650/67); Ähnlich auch Schreiben von Gottfried Niemeier an Hermann Kunst und Ludwig Raiser, 20. 11. 1962 (EZA Berlin 87/1110). 286 Vertrauliches Schreiben von Gerhard Gülzow an die Mitglieder des OKAs, 19. 1. 1963 (EZA Berlin 632/6). Gemeint ist das Tübinger Memorandum. 287 Rudolph, Kirche Bd. II, 97. Ludwig Raiser war sowohl Mitverfasser des Tübinger Memorandums als auch Vorsitzender der Kammer für öffentliche Verantwortung. Dies bestätigend: Heck, EKD, 153. 288 Niederschrift über die Verhandlungen der Kammer für öffentliche Verantwortung anlässlich ihrer Sitzung am 21. und 22. 2. 1964 in Frankfurt (EZA Berlin 650/67). Dies bestätigend: Heck, EKD, 153 f. 289 Niederschrift über die Verhandlungen der Kammer für öffentliche Verantwortung anlässlich ihrer Sitzung am 16. 2. 1963 in Frankfurt (EZA Berlin 650/67). 290 Bismarck, Philipp von: Der Streit um die Denkschrift. Philipp von Bismarck setzt sich im Namen der Vertriebenen mit den Argumenten der EKD auseinander. In: Die Zeit, 12. 11. 1965.

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dererseits, und insofern war die Befürchtung einer Parteinahme im Sinne des Tübinger Memorandums auch nicht gänzlich unberechtigt, intendierte der Geschäftsführer der Kammer, Erwin Wilkens, für einen nüchternen Blick auf die völkerrechtliche und außenpolitische Situation in Osteuropa, die wohl eine Desillusionierung der Hoffnungen und Ansprüche der Vertriebenen nach sich zog oder zumindest eine Legitimierung des Heimatrechtspostulats verweigerte.291 Mit dem Ziel, eine einseitige und polemische Stellungnahme zu verhindern, bewirkte die Kammer die Rücknahme des Ratsbeschlusses vom 16. Januar 1963 und begann die Beratungen.292 Damit entzog der Rat dem OKA die Zuständigkeit für die Heimatrechtsfrage und stellte dessen Deutungskompetenz gegenüber dem Deutungsanspruch der Kammer für öffentliche Verantwortung zurück, die einen gesamtgesellschaftlichen, über Einzelinteressen hinausweisenden Argumentationszusammenhang für sich reklamierte. Auf der inhaltlichen Ebene empfand Raiser eine Beschränkung auf die politisch-völkerrechtlichen Fragen als unzureichend und forderte eine thematische Ausweitung des Themenkomplexes, der neben den völkerrechtlichen ausdrücklich auch die „seelsorgerlich-befriedende“ Dimension zu berücksichtigen habe.293 Sowohl der OKA als auch ein Arbeitskreis der rheinischen Bruderschaften unter dem Vorsitz des Theologen Wolfgang Schweitzer erhielten auf der Kammersitzung am 29. November 1963 Gelegenheit, ihre jeweiligen Standpunkte zu referieren.294 Schweitzer setzte in seinen sogenannten „Bielefelder Thesen“295 die beiden Postulate Versöhnung und Recht in ein Verhältnis. Er erkannte zwar die Notwendigkeit des Rechts an, kritisierte jedoch ein absolut verstandenes Recht und stellte dem Rechtsgedanken das Prinzip der Versöhnung und der Liebe gegenüber, die das Recht begrenzen können.296 In der besonders umstrittenen 17. These zog Schweitzer die Konsequenz aus diesen ethischen Prämissen: Die Preisgabe des deutschen Anspruches auf die verlorenen Ostgebiete sei um des guten Zusammenlebens willen mit den östli-

291 Schreiben von Erwin Wilkens an Ludwig Landsberg, 27. 10. 1964 (EZA Berlin 632/11). Anlässlich dieser außenpolitischen Ernüchterung forderte Wilkens eine Berücksichtigung der menschlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen Situation der Vertriebenen. Schreiben von Erwin Wilkens an Ludwig Landsberg, 27. 10. 1964 (EZA Berlin 632/11). 292 Hierzu Rudolph, Kirche Bd. II, 99 f. 293 Ebd., 103. Gülzow machte gegenüber der Kammer erneut die Kompetenz und seelsorgerliche Verantwortung des OKAs in dieser Frage geltend. Siehe Schreiben des OKA an die Kammer für öffentliche Verantwortung, 18. 2. 1963 (EZA Berlin 650/67). 294 Schreiben von OKR Otto von Harling an Gerhard Gülzow, 22. 10. 1963 (EZA Berlin 607/15). Klaus Harms referierte für den OKA; Wolfgang Schweitzer für den Arbeitskreis der rheinischen Bruderschaft. Siehe Thesen von Wolfgang Schweitzer: Referat vor dem Öffentlichkeitsausschuss der ev. Kirche in Deutschland, 29. 11. 1963 (EZA Berlin 650/67). 295 Überliefert sind diese Thesen in Schweitzer, Wolfgang: Die Versöhnung in Christus und die Fragen des deutschen Anspruches jenseits von Oder und Neiße (EZA Berlin 17/635). 296 Hier nach Huber, Kirche, 394.

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chen Nachbarn geboten.297 Auf die Thesen antwortete der OKA mit den „Lübecker Thesen“ unter dem Titel „Das Evangelium von Jesus Christus für die Heimatvertriebenen.“298 Der OKA warnte einerseits vor der „Überbetonung von Heimat, Volk und Vaterland“ und betonte andererseits die Gültigkeit des Rechts: Recht müsse Recht bleiben; daher fordere das Evangelium niemals eine „Preisgabe“ der Heimat.299 Daher kamen die Thesen zu dem später allerdings etwas abgeschwächten Ergebnis, „dass wir gegen eine Verzichterklärung warnend die Stimme erheben müssen.“300 Schließlich verwiesen die Vertreter des OKAs auf die Integrationsdefizite auf nicht-materiellem Gebiet, ohne daraus weitere Konsequenzen zu ziehen: Sie [die Kirche, FT] würde unglaubwürdig, wenn sie unberührt und unbetroffen an ihrer Not vorüberginge. Dann würde das Pauluswort auch von der Kirche gelten: Wenn sie alle ihre Habe den Armen gäbe und hätte der Liebe nicht, so wärs ihr nicht nütze. Fürsorge, wirtschaftliche Eingliederung, selbst wenn sie bis zur äußersten Perfektion durchgeführt werden könnten, wäre immer noch zu wenig. Die Kirche hat das Trostamt überkommen. Sie ist zur Seelsorge gerufen. Sie hat also auf den Menschen zu sehen und nicht nur auf seine äußeren Lebensverhältnisse. Liebe erschöpft sich nie in materiellen Leistungen. Die Kirche kann sich nicht durch Maßnahmen des Staates ablösen lassen. Die Gemeinde Jesu Christi wird darüber hinaus Verständnis zeigen für das menschliche Leid in ihrer Mitte und sich Mühe geben, es in Ehrfurcht mitzutragen.301

Nachdem die Positionen so heterogen waren, dass eine konsensuale Formulierung nicht gefunden werden konnte,302 änderte der Arbeitskreis der rheinländischen Bruderschaften schließlich seine Kommunikationsstrategie und veröffentlichte seine Bielefelder Thesen, worauf die Vertreter des OKAs 297 Ebd. Nach Huber werde dieses politische Urteil gerade nicht einlinig und deduktiv aus dem Evangelium abgeleitet, sondern der politischen Vernunft überlassen. Demnach hätten sich die Argumentationsmuster gegenüber den 1950er Jahre geradezu vertauscht. Lutherische Theologen, die während der Atomdebatten der 1950er Jahre eine Eigengesetzlichkeit des Politischen stark gemacht hätten, leiteten aus dem Evangelium Handlungsanweisungen für die Politik ab, während der Linksprotestant Schweitzer nun gerade eine Eigengesetzlichkeit des Politischen postulierte. Siehe Hanke, Deutschlandpolitik, 203. Inwieweit sich die Verteidiger des Heimatrechtspostulats, deren Argumente nicht zuletzt das Ergebnis einer spezifischen Interessenkonstellation waren, allerdings pauschal als „lutherisch“ bezeichnet werden können und inwieweit die kirchenpolitisch-theologische Lagerbildung überhaupt ein plausibles Erklärungsmodell darstellt, scheint mir allerdings zumindest diskussionsbedürftig. 298 Das Evangelium von Jesus Christus für die Heimatvertriebenen (EZA Berlin 17/636; EZA Berlin 650/67; EZA Berlin 512/150). 299 Huber, Kirche, 396 f. 300 Ebd. Die später publizierte Fassung wurde allerdings etwas abgeschwächt, Hier hieß es, dass vor einer „voreiligen Verzichterklärung“ gewarnt werden müsse (Rudolph, Kirche Bd. II, 113). Hervorhebung der Verfasser. 301 Thesenreihe von Brummack, Harms und Gülzow: Das Evangelium von Jesus Christus für die Heimatvertriebenen (EZA Berlin 650/67). 302 Heck, EKD, 155.

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wiederum mit der Veröffentlichung seiner Lübecker Thesen reagierte.303 Hierin erblickte Ludwig Raiser einen Verstoß gegen die Vertraulichkeit der Gespräche, eine „Störung der Arbeit der Kammer“ und beendete das Gespräch sowohl mit Schweitzer als auch mit dem OKA.304 Dem OKA wurde zudem eine selbständige öffentliche Stellungnahme ohne Rücksprache mit der Kirchenkanzlei verboten.305 Resigniert stellte Brummack fest: Bei dem Gespräch mit der Kammer werden wir weiter nichts erreichen können als ein verstärktes Bedenken bei unseren Gegnern und den anderen Kammermitgliedern gegen eine derartig einseitige Haltung wie die des Herrn Schw. Wir können nichts mehr erreichen, weil es sich auf der anderen Seite um eine bereits vollzogene Parteinahme handelt, von der abzugehen mehreren Kammermitgliedern nicht möglich sein wird.306

Angesichts dieser Verhältnisse reduzierten die Akteure des OKAs ihre Ansprüche: Hatte man auf der Ratssitzung am 17. und 18. Januar 1963 noch gehofft, die EKD zu einer das Heimatrecht bestärkenden Stellungnahme bewegen zu können, vertrat man nun das Ziel, eine Stellungnahme der EKD insgesamt zu verhindern. Gelegenheit für eine Intervention beim Rat der EKD ergab sich, als der Theologe Werner Danielsmeyer auf der Kammersitzung am 18. und 19. Dezember 1964 das theologische Referat zur Heimatrechtsfrage hielt und angesichts der Zerstrittenheit dafür plädierte, auf eine Stellungnahme ganz zu verzichten.307 Der Vorsitzende des OKAs schloss sich dieser 303 Schweitzer, Versöhnung, 718–725. Die Lübecker Thesen wurden zunächst für den Handgebrauch vervielfältigt, später in der Ostkirchlichen Information veröffentlicht: Ostkirchliche Information 1965/1. Nachdruck in Lutherische Monatshefte, 1965, 217 f. Hierzu auch Rudolph, Kirche Bd. II, 113 f., Anm. 154. 304 Schreiben von Ludwig Raiser an Gerhard Gülzow, 9. 3. 1965 (EZA Berlin 607/15). Der OKA sah sich daraufhin gezwungen, auf die Veröffentlichung in der Jungen Kirche mit der Publikation der Lübecker Thesen zu reagieren. Siehe Schreiben von Gerhard Gülzow an die Mitglieder des OKA 26. 2. 1965 (EZA Berlin 632/7). Streng genommen handelte es sich nicht um eine Veröffentlichung des OKAs, sondern um eine Stellungnahme der Privatpersonen Klaus Harms, Carl Brummack und Gerhard Gülzow. Allerdings wurde die Veröffentlichung, die immerhin von den führenden Repräsentanten des OKAs unterzeichnet war, als eine öffentliche Veröffentlichung wahrgenommen. Nicht zutreffend ist allerdings die Auffassung von Thomas Heck, dass sie tatsächlich offiziellen Charakters war. Siehe Heck, EKD, 158. 305 Schreiben von Gerhard Gülzow an die Mitglieder des OKAs, 13. 11. 1965 (EZA Berlin 632/8). In einem anderen Schreiben war sogar von Intrigen der Kammer gegen den OKA die Rede. Gülzow berichtete von Diffamierungen durch Schweitzer und versuchte zugleich, Hanns Lilje für die Sache des OKAs zu mobilisieren. Siehe Schreiben von Carl Brummack an Hanns Lilje, 3. 3. 1965 (EZA Berlin 632/7). Allerdings konnten die Vertreter des OKAs an den Beratungen der Kammer fast durchgängig teilnehmen. Hierzu Lepp, Wort, 91. 306 Schreiben von Carl Brummack an Klaus Harms, 24. 6. 1964. Ähnlich auch Schreiben von Gerhard Gülzow an Brummack vom 8. 6. 1964 (EZA Berlin 17/636) 307 Danielsmeyer, Werner: Zur Frage des Rechts auf Heimat und der deutschen Ostgrenzen. Eine theologische Thesenreihe; ders.: Theologische und ethische Erwägungen zum Recht auf Heimat und zur politischen Behandlung der deutschen Ostgrenzen. Referat auf der Sitzung der Kammer für öffentliche Verantwortung am 21./22. 2. 1964 (EZA Berlin 17/639; EZA Berlin

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Empfehlung an, konnte sich jedoch gegenüber der Kammer nicht durchsetzen.308 Die Kommunikationsprozesse lassen auf eine Entfremdung zwischen OKA und EKD schließen, die sowohl Inhalt und Gestalt der Denkschrift als auch die anschließenden Kommunikationsprozesse präfigurierten. Insgesamt scheint es jedoch problematisch, den Ausschluss des, wie Michael Schwartz schreibt, „intransigenten Ostkirchenausschusses“ als „kircheninterne Entmachtung der Vertriebenenlobby“ zu bezeichnen.309 Denn dieses Bild vernachlässigt zum einen die lange Zeit kirchenpolitisch und theologisch heterogene Zusammensetzung des OKAs und unterstellt letztlich eine Machtstellung und Einflussmöglichkeiten, die der OKA gar nicht hatte. Vielmehr waren alle Versuche, dem OKA Einflussmöglichkeiten zu verschaffen, ihn mit Kompetenzen auszustatten oder die Vertriebenenfrage auch nur auf die Agenda zu setzen, gescheitert.310 Zudem wird diese Bezeichnung dem primär seelsorgerlichen Anspruch dieses Gremiums, das zumindest in der Frühphase durchaus moderierend zu wirken beanspruchte, nicht gerecht. 4.3.3 Debatten im Vorfeld und die Situation der Vertriebenen in der Gesellschaft: Der DEK 1965 in Köln Im Vorfeld des DEK, der 1965 in Köln stattfand und der die Situation der Vertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft ausführlich thematisierte, lassen sich ganz ähnliche Kommunikationsprozesse nachweisen. Bereits während der späten 1950er und frühen 1960er Jahre waren mehrere Versuche des OKAs, die Vertriebenenproblematik auf dem DEK zu thematisieren, gescheitert.311 Im Gegensatz zum OKA war die Kammer für öffentliche Verant-

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650/69). Die Referate von Danielsmeyers und Landsberg bildeten die Grundlage der Kammersitzung am 21. und 22. 2. 1964. Das geht hervor aus: Schreiben vom Wilkens an die Mitglieder der Kammer für öffentliche Verantwortung, 23. 12. 1964 (EZA Berlin 632/7). Der Jurist Peter Schneider referierte auf der Sitzung am 13. 10. 1964 über den völkerrechtlichen Problemkontext und relativierte das Heimatrecht. Siehe Heck, EKD, 1 Am 10. 1. 1965 fand eine Sitzung des Vorstandes des OKKs statt. Gülzow bat hier den Ratsvorsitzenden Präses Scharf, die Arbeiten an der Kammer einzustellen. Das geht hervor aus: Schreiben von Gerhard Gülzow an die Mitglieder des OKAs, 13. 11. 1965 (EZA Berlin 632/8). Beide Zitate finden sich bei: Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 131. Zum erfolglosen Themensetting des OKAs siehe unten 448–457 und 391–396. Die mehrfach vorgetragenen Bitten des OKAs, die Vertriebenenproblematik auf dem Kirchentag zu thematisieren, wurden vom Kirchentagspräsidium abgelehnt. Vgl. Niederschrift über die Sitzung des Flüchtlingsbeirates der Evangelischen Kirche in Deutschland am 11. 8. 1959 (EZA Berlin 2/4293); Schreiben von Gerhard Gülzow an Reinhold von ThaddenTrieglaff, 15. 2. 1963 (EZA Berlin 17/635); und Schreiben von Reinhold von Thadden-Trieglaff an Gerhard Gülzow, 1. 3. 1963 (EZA Berlin 17/635). Der OKA selbst beobachtete eine „zunehmende Distanz im Verhältnis zwischen DEK und evangelischer Vertriebenenarbeit“ (Vermerk. Gespräch mit Generalsekretär Walz, 18. 12. 1964, EZA Berlin 17/636). Siehe auch Schreiben von Gerhard Gülzow an Heinrich Giesen, 15. 8. 1952 (EZA Berlin 17 623); Schreiben von Hans Hermann Walz an Gerhard Gülzow, 23. 2. 1965 (EZA Berlin 17/637); Schreiben

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wortung erfolgreich darin, die Vertriebenenproblematik auf die Agenda des Kirchentags zu setzen. Auch dies ist im Kontext der Denkschrift zu sehen, wobei die Akteure der Kammer für öffentliche Verantwortung das kommunikationsstrategische Ziel verfolgten, eine günstige Debattenposition und eine potentielle Deutungshoheit über die Vertriebenenproblematik zu erlangen und an eine breitere Öffentlichkeit zu kommunizieren – und damit den integrationspolitischen Teil dominant zu setzen.312 Explizit benannte Raiser das Ziel der Kammer, die Vertriebenenproblematik auf dem Kirchentag zu thematisieren, „ohne sich die Vorstellungen etwa des Ostkirchenausschusses zu eigen zu machen.“313 Der OKA machte umgehend „schwere Bedenken gegen eine thematisch einseitige und von der Kammer für öffentliche Verantwortung beeinflusste Podiumsdiskussion“ geltend.314 Der Generalsekretär des DEK, Hans Hermann Walz, versprach in einer gemeinsamen Aussprache, beide Seiten zu Wort kommen zu lassen; zudem stünde er in Verbindung mit Klaus Harms und Philipp von Bismarck.315 Angesichts der befürchteten Dominanz der Kammer für öffentliche Verantwortung empfahl Gerhard Rauhut, ab 1958 Nachfolger von Spiegel-Schmidt als Geschäftsführer des OKAs,316 eine ähnliche, defensive Kommunikationsstrategie wie gegenüber dem Rat der EKD im Vorfeld der Denkschrift. Auf eine Diskussion sollte verzichtet werden, stattdessen sollten lediglich Vertriebenengottesdienste stattfinden.317 Das Kirchentagspräsidium hielt allerdings am Podiumsgespräch fest und strich zugleich zur Enttäuschung des OKAs die ursprünglich anvisierten Treffen der Hilfskomitees.318 Allerdings bestätigte der Kirchentag einen Teil der vom OKA vorgeschlagenen Gesprächsleiter, so Philipp von Bismarck, Klaus Harms und Ludwig Landsberg.319 Daneben sollten ein „Ostwissenschaftler“, ein Soziologe

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von Gerhard Gülzow an Hans Hermann Walz, 26. 3. 1965 (EZA Berlin 17/637); und Schreiben von Gerhard Gülzow an Carl Friedrich von Weizsäcker, 1. 2. 1967 (EZA Berlin 607/24). Dabei wurde gefordert, die Vertriebenenproblematik auf dem Kirchentag im Zusammenhang mit der geplanten Denkschrift zu bearbeiten. Siehe Vermerk: Ferngespräch mit Landsberg am 18. 5. 1965 (EZA Berlin 71/2589). Vermerk über Gespräch mit Prof. Raiser, 7. 12. 1964 (EZA Berlin 71/2589). Vermerk. Gespräch mit Generalsekretär Walz, DEK, 18. 12. 1964 (EZA Berlin 17/636). So betonte der Verfasser des Vermerks, dass der DEK durchaus die Bereitschaft gezeigt hätte, „sich über die Position der Vertriebenenproblematik unterrichten zu lassen.“ Die Gesprächsatmosphäre wurde als konstruktiv wahrgenommen (Vermerk. Gespräch mit Generalsekretär Walz, 18. 12. 1964, EZA Berlin 17/636). Dieser Wechsel war personalpolitisch bedingt und nicht Ausdruck eines Generationenwechsels. Vgl. Anm. 225. Schreiben von Gerhard Rauhut an Gerhard Gülzow, 1. 2. 1965 (EZA Berlin 17/637). Schreiben von Walz an Gülzow, 23. 2. 1965; Schreiben von Gerhard Gülzow an Walz, 26. 3. 1965 (EZA Berlin 17/637). Schreiben von Generalsekretär Walz an Gerhard Gülzow, 28. 4. 1965 (EZA Berlin 607/125). Landsberg war zunächst gegen das ganze Unterfangen, ließ sich aber umstimmen. Hierzu Schreiben von Freiherr Werner von Braun an Walz, 13. 5. 1965 (EZA Berlin 71/2589). Vgl. auch Vermerk, 23. 3. 1965 (EZA Berlin 71/2589).

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und ein Sozialpsychologe eingeladen werden.320 Neben den genannten Referenten traten auch Erwin Wilkens und Kirchentagspräsident Richard von Weizsäcker auf, die der Kammer für öffentliche Verantwortung angehörten oder dieser nahestanden.321 Schließlich wurden auch externe Referenten eingeladen. Angedacht war zunächst die Flüchtlingssoziologin Elisabeth Pfeil, die aber eine aktive Teilnahme mit dem Argument absagte, dass sie seit zehn Jahren nicht mehr zur Vertriebenenproblematik geforscht habe.322 Stattdessen wurde auf Vorschlag Landsbergs die promovierte Soziologin Else Bohnsack als Hauptreferentin eingeladen.323 Insgesamt verfolgte, wie Generalsekretär Walz ausführte, der Kirchentag das Anliegen, den OKA darin zu unterstützen, „um das Schweigen oder vielmehr die Indifferenz vieler evangelischer Kreise zu brechen, wo es um Fragen und Nöte geht, von denen die früher Vertriebenen besonders bedrängt sind.“324 Die Formulierung „früher Vertriebene“, die das Vertreibungsgeschehen und damit die Eigenschaft „Vertrieben“ klar als abgeschlossenen Vorgang in der Vergangenheit beschrieb, sollte vermutlich einerseits zum Ausdruck bringen, dass die Vertriebenen bereits Westdeutsche geworden waren, die früher zwar vertrieben worden sind, gegenwärtig aber das Attribut „vertrieben“ gar nicht mehr in Anspruch nehmen konnten, andererseits musste eine Formulierung gefunden werden, um die Vertriebenen nach wie vor als eine eigene Gruppe mit eigenen Problemen und Nöten unterscheiden und sprachlich benennen zu können – denn sonst würde sich ja ein Kirchentag zum Thema „Vertriebenenprobleme“ erübrigen. Die Vorbereitungen für dieses Podiumsgespräch, die im April und Mai 1965 stattfanden, geben Aufschluss über die Konzeption. Explizit stand dabei die Situation der Vertriebenen in der Gesellschaft im Zentrum, während die primär außenpolitischen Fragen ausgeklammert werden sollten. Die Behandlung von politischen Sachverhalten sei demnach „keine Sache des Kirchentages“, wohl könne „der Kirchentag aber einen Betrag zur Entkrampfung leisten, aus der diese politischen Forderungen kommen.“325 Das Podiumsgespräch sollte die „Innere Frage der Eingliederung“ thematisieren, die „Empfindungen und ihre Ursachen“ verdeutlichen und auf die „menschlichen Beziehungen“ einwirken.326 Dabei war der Kirchentag auch vom aufklärerischen Schreiben von Generalsekretär Walz an Gerhard Gülzow, 28. 4. 1965 (EZA Berlin 607/125). Ebd. Vermerk: Ferngespräch mit Landsberg am 16. 5. 1965 (EZA Berlin 71/2589). Ebd. Schreiben von Generalsekretär Hans Hermann Walz an Gerhard Gülzow, 28. 4. 1965; auch Schreiben von Generalsekretär Walz an den Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft der Hilfskomitees der EKD, 10. 5. 1965 (EZA Berlin 607/125). 325 Vermerk, 23. 3. 1965 (EZA Berlin 71/2589). 326 Forum über Fragen der Vertriebenen, 30. 4. 1965 (EZA Berlin 71/2589). Eine gewisse Rolle sollte zudem die Schuldfrage spielen. Vgl. Vermerk, 23. 3. 1965 (EZA Berlin 71/2589). Kirchentagspräsident Richard von Weizsäcker strebte zudem eine Bestandsaufnahme an. Siehe Wortbeitrag von Weizsäcker. In: Vermerk, Betreff: Forum 4/Vorfragen der Politik I, 16. 6. 1965 (EZA Berlin 607/125).

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Impetus geleitet, die aufnehmende Gesellschaft über die Situation der Vertriebenen in der Gesellschaft aufzuklären, zur „Lösung der innerkirchlichen Verfestigung“ beizutragen und die allgemein verbreitete These zu hinterfragen, dass die Vertriebenen bereits eingegliedert seien.327 Insgesamt sollte sich der Kirchentag an vier Teilaspekten orientieren: er sollte den sozioökonomischen Stand der Eingliederung auf sozialempirischer Basis, d. h. die soziostrukturelle Situation der Vertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft analysieren, die Haltung der Vertriebenen herausarbeiten und den Fragen nachgehen, welche „Eingliederungshilfen“ unterlassen worden seien und welche Aufgaben den Organisationen der Vertriebenen übertragen werden könnten.328 In einem gemeinsamen vorbereitenden Gespräch, an dem Ludwig Landsberg, Richard von Weizsäcker, Erwin Wilkens, Else Bohnsack, Philipp von Bismarck, Eberhard Schwarz und Prof. Schramm teilnahmen, wurden die Planungen für das Podiumsgespräch inhaltlich konkretisiert.329 In diesem Zusammenhang sollte auch die Frage gestellt werden, was eigentlich unter Eingliederung verstanden werden könne und was die Vertriebenen selbst unter Eingliederung verstünden.330 Wilkens bewertete den Begriff der Eingliederung auch deshalb als problematisch, weil er die unzutreffende „Vorstellung eines für die Vertriebenen passiven Geschehens“ erwecke.331 Bohnsack schlug sozialwissenschaftliche Integrationsindikatoren „zur Beurteilung von gesellschaftlicher Eingliederung“ vor, die wohl aber unterschiedlich operationalisierbar und sowohl auf einer sozioökonomischen als auch auf einer zwischenmenschlichen Ebene angesiedelt waren: Darunter nannte sie die Kriterien „Beziehungslosigkeit“, die Existenz von „Habenichtsen“, die „Ablehnung durch die Einheimischen“, „Teilnahme am öffentlichen Leben“, „Ehrenämter“, „Heimischwerden der Ehefrauen“ und „geselligen Umgang.“332 Gegen das verbreitete Narrativ, dass vor allem die geistig-kulturelle oder seelische Eingliederung im Gegensatz zur materiellen Seite unabgeschlossen sei, wandten Landsberg und Bohnsack ein, dass gerade die materielle Seite der Integrationsproblematik nicht abgeschlossen sei.333 Dabei differenzierte Landsberg die Situation der einzelnen sozial konstituierten Vertriebenengruppen: Während einige Vertriebenengruppen wie die städtischen Arbeiter einen sozialen Aufstieg erfahren hätten, seien die mittelständischen Bürger und Bauern von Deklassierungserscheinungen betroffen.334 Schließlich ei327 Wortbeiträge von Erwin Wilkens und Ludwig Landsberg. Vermerk, Betreff: Forum 4/Vorfragen der Politik I, 16. 6. 1965 (EZA Berlin 607/125). 328 Forum über Fragen der Vertriebenen, 30. 4. 1965 (EZA Berlin 71/2589). 329 Vermerk: Ferngespräch mit Landsberg, 16. 5. 1965 (EZA Berlin 607/125). 330 Wortbeitrag von Erwin Wilkens. In: Vermerk, Betreff: Forum 4/Vorfragen der Politik I (Fragen der Heimatvertriebenen), 16.6. 1965 (EZA Berlin 607/125). 331 Wortbeitrag von Wilkens. In: Ebd. 332 Wortbeitrag von Bohnsack. In: Ebd. 333 Wortbeitrag von Bohnsack und Ludwig Landsberg. In: Ebd. 334 Wortbeitrag von Ludwig Landsberg. In: Ebd. Landsberg interpretierte die Deklassierung der

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nigten sich die Gesprächsteilnehmer auf folgende Themen: den „sozialen Status“, „die Zerstreuung, z. B. der Landsmannschaften“, „Mentalitätsunterschiede“, „gesellschaftliche Beziehungslosigkeit“, „Teilnahme am öffentlichen Leben“, das bei den Vertriebenen angeschlagene „Prestigebedürfnis des Menschen“ und „Spannungen innerhalb der Familie.“335 Es handelte sich hierbei um Kriterien, an denen Desintegrationserscheinungen sichtbar wurden. Zudem sei die bisherige Integrationspolitik zu kritisieren, die im Wesentlichen auf die Alternativen „Anpassung“ oder „Opposition“ hinauslaufe.336 Die Diskutanten verknüpften die Vertriebenenfrage nun mit einer übergreifenden Gesellschaftsdiagnose, so mit der Selbstbeschreibung als pluralistische Gesellschaft, die in den 1950er Jahren zumindest in diesem Kontext kaum begegnet – sieht man jedenfalls von solchen Volksvorstellungen ab, die das deutsche Volk als „bunten Stammesgarten“ imaginierten. Ein solcher Selbstentwurf setzte ebenfalls Pluralität auf der Makroebene voraus, auch wenn der Begriff „plural“ explizit nicht gebraucht wurde. Interessanterweise wurde die pluralistische Gesellschaft pejorativ beschrieben, weil diese die Identität der Gesellschaft gefährde und zu einem höheren Anpassungsdruck führe: Ein ungelöstes Problem im Bereich der Gesellschaft hängt mit dem Zustand unserer sogenannten pluralistischen Gesellschaft selbst zusammen. Es betrifft insofern alle, auch die Einheimischen. Aber für die Vertriebenen und Flüchtlinge ist bisher kein Ansatzpunkt zur Lösung dieses Problems sichtbar, während für Einheimische sehr wohl Ansatzpunkte gegeben sind. […] Gemeint ist folgendes: Die pluralistische Gesellschaft ist in Wahrheit eine sich erst bildende neue Gesellschaft. Für die Einheimischen ist es wahrscheinlich, daß sie aus ihren bisherigen Gegebenheiten in diese neue Gesellschaft starten, die Vertriebenen neigen dazu oder werden dazu gedrängt, ihre bisherigen Gegebenheiten zugunsten der pluralistischen Gesellschaft aufzugeben oder zu verdrängen (Anpassung).337

Die Akteure griffen dabei auf bereits bekannte Denkschemata zurück: Sie führten die Integrationsdefizite und die Schwierigkeiten, denen sich die Vertriebenen ausgesetzt sahen, auf die vermeintlichen Unterschiede zwischen der westlichen Industriegesellschaft und den weniger industrialisierten Gesellschaften im Osten zurück. Daher begegnen sich in Gestalt der Vertriebenen und Einheimischen auch unterschiedliche Gesellschaftsauffassungen. Vertriebene Arbeiter waren von diesem Problem daher weniger betroffen: vertriebenen Bauern auch vor dem Hintergrund eines allgemeinen Strukturwandels der westdeutschen Landwirtschaft. 335 Wortbeitrag Ludwig Landsberg. In: Ebd. 336 Ebd. Dieser Befund gelte nach Landsberg auch für die Kirchen. In einem späteren Gespräch wurde die gewählte Thematik im Wesentlichen bestätigt, eine Gliederung und der Titel festgelegt. Dieser lautete nun: „Vertriebene – gelöste und ungelöste Fragen“. Forumsveranstaltung Vertriebene – gelöste und ungelöste Fragen, grobe Disposition, o. D. (EZA Berlin 71/2589). 337 Ebd.

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Die Vertriebenen kommen im allgemeinen aus einer Gesellschaft mit einer anderen Struktur als im Westen. Mit dem Einschleusen in die industrielle Gesellschaft gehen die Bindungen verloren, in denen die Menschen vorher gelebt haben. Dieses Problem spielt in der Arbeiterschaft kaum eine Rolle (dort ist bereits eine neue Gesellschaft aus Einheimischen und Vertriebenen entstanden).338

Während des von 1200 Zuhörern besuchten Podiumsgesprächs339 wurden die in den vorbereitenden Gesprächen genannten Aspekte und Befunde im Wesentlichen wiederholt, manches allerdings auch stärker differenziert und präzisiert. Defizite und integrationshemmende Faktoren wurden auf kulturellerer, mentaler, zwischenmenschlicher, kirchlicher und sozioökonomischer Ebene verortet.340 Die Soziologin Else Bohnsack etwa forderte, dass der Lastenausgleich aus seiner sozialen Phase heraustreten solle und die vermögenswirksamen Leistungen zur Geltung kommen müssten.341 Landsberg forderte eine Berücksichtigung des Erbes der Vertriebenen und betonte in diesem Zusammenhang die „Fähigkeit der Heimatvertriebenen, die Brücken zu diesen Völkern [des Ostens, FT] zu schlagen.“342 Dieses Argument war auch gegen den Revisionismus gerichtet, dem sich die Vertriebenen, teilweise unberechtigt, ausgesetzt sahen.343 4.3.4 Das „Schmerzenskind der Denkschrift“: Der Stellenwert der Integrationsproblematik während der Genese der Denkschrift Die Kammer für öffentliche Verantwortung nahm die Vorarbeiten unter dem Arbeitstitel „Recht auf Heimat“ auf.344 Bald stellte sich heraus, dass die geplante Materialsammlung zur Heimatrechtsfrage auch die Situation der Vertriebenen in Kirche und Gesellschaft berücksichtigen sollte und der Fokus zu eng gefasst war. Daher wurde Ludwig Landsberg um ein Referat zur gesellschaftlichen und sozialpolitischen Situation gebeten, das einen „Extrakt aus

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Ebd. Lepp, Wort, 92. Forum 4 Politik: Vertriebene. In: Dokumente, 786–810. Ebd., 798. Zudem müssten innerhalb des Lastenausgleichs Regelungen für die SBZ-Flüchtlinge und Maßnahmen für ältere Vertriebene ergriffen werden, die von den sozialen Sicherungssystemen benachteiligt seien. 342 Ebd., 806. 343 Ebd., 800–802. An dieser Stelle interessieren Stellenwert und Rolle der integrationspolitischen Argumente. Ausführlich zur Genese der Denkschrift und den vorbereitenden Diskussionen: Rudolph, Kirche Bd. II, v. a. 69–150. Für diese Arbeit bietet Rudolph nützliche Anknüpfungspunkte. Vgl. auch Heck, EKD, 149–160. 344 Davon zeugt das Memorandum, das Erwin Wilkens im Anschluss an die ersten Beratungen erstellen ließ. Siehe Wilkens, Erwin: Das Recht auf Heimat, o. D. (EZA Berlin 17/639). Auch Niederschrift über die Verhandlungen der Kammer für öffentliche Verantwortung anlässlich ihrer Sitzung am 16. 2. 1963 (EZA Berlin 650/67).

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Erfahrungen, Erkenntnissen und speziellerem Material“ darstellen sollte.345 Landsberg war als Ministerialdirigent im Düsseldorfer Sozialministerium bereits hauptberuflich mit der Integration der Vertriebenen auf sozial- und wirtschaftspolitischem Gebiet befasst. Darüber hinaus war er in der rheinischen Kirchenleitung und im Vorstand der Diakonie Rheinland engagiert und publizierte und referierte regelmäßig in den evangelischen Vertriebenengremien, den entsprechenden Publikationsorganen und auf Akademietagungen, wobei die Situation der Vertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft und Kirche einen besonderen Fokus seiner Vortragstätigkeit bildete. Vermutlich deshalb hatte er in protestantischen Kommunikationszusammenhängen und insbesondere in vertriebenenspezifischen Kommunikationskontexten wie OKK und Remter eine gewisse kircheninterne Bekanntheit erlangt. So führte Wilkens den von ihm diagnostizierten Mangel an statistischen Untersuchungen außerhalb Nordrhein-Westfalens darauf zurück, dass „es dort keinen Landsberg gibt.“346 Die wirtschaftliche und soziale Integration der Vertriebenen wurde erstmals auf der Sitzung der Kammer am 21. und 22. Februar 1964, an der auch Vertreter der weltlichen Vertriebenenorganisationen teilnahmen, thematisiert.347 Der Jurist vertrat hier die These, dass die Vertriebenen im Sozial- und Wirtschaftsleben strukturell benachteiligt seien und einen sozialen Abstieg erfahren hätten.348 Dies führte er auf die geringe Aufnahmebereitschaft der aufnehmenden Gesellschaft, den integrationshemmenden „zivilisatorischen Hochmut des Westens“, den Assimilationszwang und den daraus resultierenden Verlust des kulturellen Erbes zurück.349 Ent345 Die Einladung Landsbergs erfolgte mit Schreiben von Hansjörg Ranke an Ludwig Landsberg, 27. 10. 1964 (EZA Berlin 632/11). Vgl. auch Schreiben vom Wilkens an die Mitglieder und Gäste der Kammer für öffentliche Verantwortung, 23. 12. 1964 (EZA Berlin 632/7). 346 Schreiben von Erwin Wilkens an Ludwig Landsberg, 4. 3. 1965 (EZA Berlin 632/11). Landsberg hatte einen Mangel an statistischen Untersuchungen zum Vertriebenenproblem festgestellt und erblickte darin einen Ausdruck für die Interesselosigkeit der aufnehmenden Gesellschaft. Siehe Landsberg, Ludwig: Die Vertriebenen und Flüchtlinge in der westdeutschen Gesellschaft, o. D. (LAV NRW Duisburg RW 305–11). Diese Einschätzung überrascht allerdings etwas. So nennt Krallert-Sattler in ihrer 1988 erschienen kommentierten Bibliographie einschließlich der Landesstatistik und der amtlichen Statistik der Bundesrepublik ca. 500 statistische Titel, von denen ein Großteil in den 1950er und 1960er Jahren erschienen war. Die Berichte der Ministerien und des Bundesausgleichsamtes sind dabei noch nicht berücksichtigt. In der Kategorie Volk und Gesellschaft werden über 200 Titel genannt, von denen die meisten ebenfalls in den 1950er und 1960er Jahren entstanden. Vgl. Krallert-Sattler, Bibliographie, 121–181; 407–439. In der Rubrik „Wirtschaft“ nimmt allein die Nennung der Titel einen Raum von 135 Seiten ein. Siehe ebd., 270–405. 347 Niederschrift über die Verhandlungen der Kammer für öffentliche Verantwortung anlässlich ihrer Sitzung am 21./22. 2. 1964 in Frankfurt (EZA Berlin 650/67). Landsberg referierte hier zur sozialpolitischen Situation, der Theologe Werner Danielsmeyer erörterte theologische und ethische Fragen der Heimatrechtsproblematik. 348 Landsberg, Ludwig: Die soziale Lage der Heimatvertriebenen. Niederschrift über die Verhandlungen der Kammer für öffentliche Verantwortung, Sitzung am 21./22. 2. 1964 in Frankfurt (EZA Berlin 650/67). 349 Ebd. Im Anschluss an das Referat bat Wilkens darum, ein Memorandum über die soziologi-

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scheidendes Anliegen war, „gerade in diesem Kapitel auch die Mängel und Versäumnisse auszusprechen und entsprechende Fragen und Forderungen an Kirche, Staat und Gesellschaft zu richten.“350 Offenbar war sich Wilkens dessen bewusst, dass die intendierte außenpolitische Ernüchterung mit Zumutungen für die Vertriebenen verbunden war. Jedenfalls wurde dem integrationspolitischen Teil wohl auch eine kompensatorische Funktion zugesprochen: Gerade wenn wir in der Heimatfrage selbst und ihrer völkerrechtlich-politischen Seite zur Nüchternheit rufen wollen, müssen wir natürlich unser besonderes Augenmerk auf die menschliche, soziale und kirchliche Seite des Vertriebenenproblems richten.351

Dabei bewertete Wilkens die Vehemenz, mit der das Heimatrechtspostulat vertreten wurde, als Ausdruck einer nicht gelungenen Integration: Die politische Unruhe unter den Vertriebenen, die Mängel in der kirchlichen und gesellschaftlichen Eingliederung und das mangelnde Verständnis des gesamten Volkes für die Solidarität einer einzigen großen Schuld- und Haftungsgemeinschaft legen den Rückschluss nahe, daß spezifische Aufgaben in Verkündigung und Seelsorge aber noch unerledigt geblieben sind. […] Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß sich hinter der Diskussion über das ,Recht auf Heimat‘ weithin ein Aufbegehren gegen Mängel der Eingliederung und gegen eine gesellschaftliche und kulturelle Deklassierung verbirgt. An die nicht vertriebene Bevölkerung ist die Frage zu richten, wieweit sie dem berechtigten Anliegen der Vertriebenen Rechnung getragen hat, nicht allein als Schuldige der jüngeren deutschen Geschichte dazustehen.352

Daneben wird deutlich, dass die Wilkens offenbar einen nationalen Identitätsentwurf profilierte, wenn er von einer „Schuld- und Haftungsgemeinschaft“ sprach. Ludwig Landsberg selbst zeigte sich von diesem Vorgehen allerdings wenig überzeugt und plädierte dafür, das Heimatrecht und die sozialpolitische Problematik separat zu behandeln: Ich würde es für gut halten, wenn man die ganze Arbeit auf einen anderen Standpunkt stellen könnte, indem man sich von dem ebenso zweideutigen wie verfänglichen Titel ,Das Recht auf die Heimat‘ trennte und zur Lage der Vertriebenen und Flüchtlinge in der Bundesrepublik und zur Frage der deutschen Grenzen im Osten getrennt Stellung nimmt. […].353

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schen und sozialpolitischen Fragen beizusteuern. Siehe Schreiben von Erwin Wilkens an Ludwig Landsberg, 27. 10. 1964 (EZA Berlin 632/11). Ebd. Ebd. Landsberg sicherte dies zu. Vgl. Schreiben von Ludwig Landsberg an Erwin Wilkens, 29. 10. 1964 (EZA Berlin 632/11). Wilkens, Erwin: Das Recht auf Heimat, o. D. (EZA Berlin 17/639). Schreiben von Ludwig Landsberg an Erwin Wilkens, 29. 10. 1964 (EZA Berlin 632/11).

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Landsbergs Einwand blieb jedoch ungehört. Auf der Grundlage der Diskussionen der Kammer sowie der Referate ermächtigte die Kammer Erwin Wilkens zur Erarbeitung eines vorläufigen Memorandums mit dem Titel „Recht auf Heimat.“354 Dieser Entwurf, der grundlegende Gedanken zum Aufbau sowie einen ausgearbeiteten Teil mit völkerrechtlichen, ethischen und theologischen Erwägungen enthielt, entsprach hinsichtlich des Aufbaus und der Argumentationsstruktur im Wesentlichen der späteren Denkschrift.355 Landsberg steuerte eine erweiterte Ausarbeitung seines im Februar 1964 gehaltenen Referats bei. Hier ergänzte er seine Befunde um neue Aspekte.356 Auf der Kammersitzung im April 1965 wurde der ursprüngliche Titel „Das Recht auf Heimat“ abgelegt und durch den neuen Titel „Die Lage der Vertriebenen und die deutschen Ostgrenzen“ ersetzt.357 Damit entsprach die Kammer Landsbergs Anliegen, die Situation der Vertriebenen in Kirche und Gesellschaft stärker zu akzentuieren.358 Die Beratungen der soziologischen und sozialen Fragen auf der Basis eines Entwurfs von Landsberg rief keine größeren Diskussionen hervor, was der Kirchenhistoriker Hartmut Rudolph auf die „profunde Sachkenntnis“ des Ministerialdirigenten zurückführt.359 Die internen Korrespondenzen lassen gegenüber dieser Wahrnehmung allerdings ein etwas anderes Bild erkennen. So habe sich die Zusammenarbeit mit Landsberg als schwierig gestaltet und sein Beitrag nicht das „helle Entzücken“ des Geschäftsführers hervorgerufen, auch wenn Wilkens den Ausführungen im Wesentlichen zustimmte.360 Der Kammervorsitzende Ludwig Raiser bezeichnete den integrationspolitischen Teil als „Schmerzenskind“ der Denkschrift, der sich schwierig integrieren ließ.361 Daneben zweifelte er an den Vorwürfen gegenüber Staat und Gesellschaft:

354 Wilkens, Erwin: Das Recht auf Heimat, o. D. (EZA Berlin 17/639). 355 Ebd. 356 Zur Analyse der Denkschrift siehe die folgenden Ausführungen 401–409. Ein Vergleich der verschiedenen Textentwürfe lässt keine wesentlichen Unterschiede inhaltlicher Natur zutage treten. 357 Entwurf. Die Lage der Vertriebenen und die deutschen Ostgrenzen, 3. 4. 1965 (EZA Berlin 650/ 69). Landsberg hatte den Titel „Recht auf Heimat“ bereits im Vorfeld kritisiert und sich für eine Beschränkung auf die gesellschaftspolitischen oder soziologischen Fragen ausgesprochen. Siehe Schreiben von Ludwig Landsberg an Erwin Wilkens, 29. 10. 1964 (EZA Berlin 632/11). 358 Schreiben von Ludwig Landsberg an Erwin Wilkens, 29. 10. 1964 (EZA Berlin 632/11). 359 Rudolph, Kirche Bd. II, 143. Landsberg wurde daraufhin gebeten, seinen Entwurf zu überarbeiten. Dieser Bitte konnte Landsberg nicht gleich entsprechen. Im Juni 1965 traf Landsbergs Entwurf ein. Siehe Schreiben von Ludwig Landsberg an Erwin Wilkens vom 8. 6. 1965 (LAV NRW Duisburg RW 305). Offenbar rief der Redaktionsprozess noch Schwierigkeiten hervor, so dass der Text mehrfach umgearbeitet und schließlich ein Neuentwurf erarbeitet wurde. Rudolph bezeichnet den integrationspolitischen Teil als „Stiefkind der Denkschrift“ (Rudolph, Kirche Bd. II, 143). 360 Schreiben von Erwin Wilkens an Ludwig Raiser, 14. 6. 1965 (EZA Berlin 87/1110). 361 Rudolph, Kirche Bd. II, 145.

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Wir erheben sowohl gegenüber Staat und Gesellschaft, wie gegenüber der Kirche ziemlich allgemein gehaltene Vorwürfe, sagen aber nicht deutlich genug, was eigentlich anders hätte gemacht werden können und was jetzt zu geschehen hätte. Wir haben das in der Kammer auch nicht diskutiert, weil wir ja eigentlich nur einen Situationsbericht geben wollten.362

Raiser stellte Landsbergs Darstellung der gesellschaftspolitischen Situation den außenpolitischen und völkerrechtlichen Erwägungen als Ausgangspunkt voran. Von einem „Mißbehagen der Vertriebenen“ ausgehend, müsse die Kernaussage der Denkschrift darin gipfeln, den „inneren Verschmelzungsprozess“ zu intensivieren: Wir müßten vielleicht noch kräftiger unterstreichen, daß das deutsche Volk hier eine politische Aufgabe der inneren Integration zu erfüllen hat, die weit über das Vertriebenenproblem hinausgeht und die von allen politisch Verantwortlichen sehr viel Einsicht und sehr viel Phantasie erfordert.363

Zwei Bedenken kamen schließlich vom Rat der EKD: Die ostdeutschen Ratsmitglieder hatten dafür plädiert, den in der Bundesrepublik gebräuchlichen Vertriebenenbegriff durch den in der DDR gebräuchlichen, euphemistischen Umsiedlerbegriff zu ersetzen.364 Dies wäre allerdings ein Zugeständnis gegenüber der Tabuisierungs- und Verharmlosungspolitik der DDR gewesen, dem die westdeutschen Initiatoren der Denkschrift nicht entsprechen wollten. Einige Ratsmitglieder empfanden die Kritik an der Kirche als überzogen und wiesen auf die „positiven Ansätze“ der kirchlichen Vertriebenenarbeit hin.365 Hermann Kunst warnte vor einer zu starken Betonung der kirchlichen Selbstkritik mit dem Argument, dass die Denkschrift „Aufsehen“ erregen werde und ohnehin „eingehende Auseinandersetzungen“ bevorstünden.366 Im Ergebnis wurden die kirchenkritischen Ausführungen deutlich entschärft, bevor die Denkschrift im Oktober 1965 veröffentlicht wurde.367 Insgesamt lässt sich festhalten, dass die ostpolitischen Fragen, die virulent gewordene 362 Ebd., 144. 363 Ebd., 144 f. 364 Hermann Kunst hatte sich gegen den Umsiedlerbegriff ausgesprochen. Die Kontroverse zwischen ost- und westdeutschen Ratsmitgliedern geht hervor aus: Schreiben von Erwin Wilkens an Ludwig Raiser und Hermann Kunst, 13. 09. 1965 (EZA Berlin 87/1110). Hierzu auch Lepp, Tabu, 521 f. 365 Rudolph, Kirche Bd. II, 146. 366 Ebd., 144. Hinterher behauptete Raiser allerdings, dass er die Heftigkeit des Streits nicht vorhergesehen habe: Raiser, Ludwig: Blick nach Osten. Realismus als Gebot deutscher Politik. In: Die Zeit, 18. 3. 1966. 367 Das geht aus den verschiedenen Fassungen hervor. Vgl. Landsberg, Ludwig: Die soziale Lage der Heimatvertriebenen. Referat auf der Sitzung der Kammer für öffentliche Verantwortung. In: Niederschrift über die Verhandlungen der Kammer für öffentliche Verantwortung. Sitzung am 21./22. 2. 1964 (EZA Berlin 650/67); ders.: Recht auf Heimat. Anhang zum Schreiben von Ludwig Landsberg an OKR Erwin Wilkens vom 14. 12. 1964 (LAV NRW Duisburg RW 305–6). Eine ausführliche Analyse der Denkschrift findet sich im folgenden Abschnitt 401–409.

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Grenzfrage und insbesondere das Tübinger Memorandum den Anlass für die Denkschrift bildeten. Allerdings kam den integrationspolitischen Fragen und der Situation der Vertriebenen in der Gesellschaft im Verlauf der Vorbereitungen ein wachsender Stellenwert zu.

4.4 Die Ost- und Vertriebenendenkschrift als integrationspolitisches Dokument Die Denkschrift der EKD mit dem Titel „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ von 1965 war neben dem kirchenamtlich vollzogenen Tabubruch in der Frage der OderNeiße-Grenze auch deshalb bemerkenswert, weil sie die Situation der Vertriebenen in der Bundesrepublik und, deutlich abgeschwächt, in den westdeutschen evangelischen Kirchen öffentlichkeitswirksam problematisierte.368 Da sich die kirchengeschichtliche und theologische Fachliteratur den theologisch-ethischen Überlegungen widmet, sollen in diesem Abschnitt die theologischen Reflexionen nur kurz skizziert und der integrationspolitische Teil einer ausführlicheren Analyse unterzogen werden. Die Denkschrift setzte sich aus sechs Teilen zusammen: In einem ersten Teil schilderte sie „Umfang und Zusammenhang der Probleme“, im zweiten Teil die Lage der Vertriebenen in Kirche und Gesellschaft und im dritten die gegenwärtige Situation in den Gebieten östlich von Oder und Neiße. Sie erörterte im vierten Teil die völkerrechtlichen Fragen, reflektierte im fünften die theologisch-ethische Dimension und im sechsten Kapitel die politischen Konsequenzen.369 Ausgangspunkt der Denkschrift war die Überlegung, dass die tieferliegenden Problemzusammenhänge mit der fortschreitenden äußerlichen Integration deutlicher zum Vorschein kämen, weshalb die „politische Unruhe“ als Ausdruck der „menschlichen Wunden“ zu bewerten sei.370 Erklärtes Ziel der Denkschrift war es, den Blick für die politischen Möglichkeiten zu öffnen, den Handlungsspielraum der Politik zu erweitern, einen Beitrag zu „Versachli368 So schreibt Kossert: „Keine andere große Institution hat auf die sozialen Ungerechtigkeiten und die mangelhafte Integration der Vertriebenen so deutlich hingewiesen und zugleich so umfassend die Missstände aufgezählt wie die Evangelische Kirche“ (Kossert, Heimat, 107). 369 Z. B. Rudolph, Ostpolitik; ders., Kirche Bd. II; und Huber, Kirche und Öffentlichkeit, v. a. 370–418. Aus zeithistorischer Sicht: Lepp, Wort. Die Denkschrift ist auch abgedruckt in Odin, Denkschriften, Bd. I/l, 77–126. Im Folgenden wird der 1965 beim Verlag des Amtsblattes der Evangelischen Kirche in Deutschland erschienene Einzeldruck zitiert. Siehe Die Lage der Vertriebenen. Die Verfasser traten nicht als Einzelautoren in Erscheinung. Hanke erwähnt den integrationspolitischen Teil, legt den Schwerpunkt in seiner Untersuchung aber ebenfalls auf die völkerrechtlichen Argumente sowie den Versöhnungsgedanken. So jedenfalls Hanke, Deutschlandpolitik, 201–203. 370 Ebd., 8.

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chung der Diskussion und Urteilsbildung“ zu leisten und die „sittlichen und menschlichen Bedingungen für eine den Menschen und der Erhaltung des Friedens dienende Politik“ zu erläutern.371 Zu diesem Zweck nahm sie eine Mittelposition zwischen den Bielefelder und Lübecker Thesen ein. Zunächst wurde die Auffassung der Lübecker Thesen bestätigt, dass das Evangelium keinen Verzicht auf das Recht gebiete, sondern den Beistand mit dem Rechtlosen anmahne.372 Dabei sanktionierte die Denkschrift die Vertreibung als völkerrechtswidriges Unrecht, ohne ein Recht auf Heimat im Sinne eines positiven Rechtsanspruches anzuerkennen.373 Allerdings stehe in der heutigen Situation „Recht gegen Recht“ bzw. „Unrecht gegen Unrecht.“374 Daher müssten auch die „Lebensinteressen des polnischen Volkes“ und das „Recht auf Heimat der anderen“ berücksichtigt werden. Eine neue Friedensordnung sei daher „nicht ohne Opfer zu haben.“375 Aus diesem Grund schlugen die Verfasser neben der Anerkennung des Rechtsprinzips die Anerkennung des Versöhnungspostulats als zweites Gestaltungsprinzip einer künftigen Friedensordnung vor.376 Neben der Formulierung grundlegender normativer Gestaltungsprinzipien reflektierten die Verfasser die Leistungsfähigkeit der Theologie im politischen Raum, die „weniger die Oberschicht der konkreten politischen Entscheidung, als vielmehr die Tiefenschicht der inneren Voraussetzungen, des realistischen Urteils und der wirklichen Bereitschaft zur Versöhnung“ betreffe.377 Die konkrete Sachentscheidung über die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze wurde hingegen der Politik überlassen.378 Ziel der Denkschrift sei es, eine „Atmosphäre zu schaffen, in denen einzelne Schritte der Versöhnung möglich werden“ und bei beiden „Völkern der Wille zur Versöhnung […] erweckt“ werde.379 Im zweiten, maßgeblich von Landsberg verfassten Teil wurden explizit die Situation der Vertriebenen in der Bundesrepublik und in diesem Zusammenhang Integrationsdefizite thematisiert.380 Insgesamt identifizierte die Denkschrift Integrationsdefizite auf vier verschiedenen Ebenen, die im Fol371 Ebd., 38, 44, 5 f. und 42. 372 Ebd., 35. Für Christian Hanke ist die Denkschrift weder eine „theologisch begründete Aufgabe von Rechtsansprüchen“, noch „eine theologische Herleitung von Rechtsansprüchen“ (Hanke, Deutschlandpolitik, 203). Allerdings ist dieses Urteil partiell zu differenzieren. Vgl. hierzu unten 401–448, 457–462 und v. a. Anm. 694. 373 Ebd., 25–29. Ein positiver Rechtsanspruch auf ein Recht auf Heimat wurde allerdings negiert, auch wenn die Vertreibung selbst ein Verstoß gegen das Völkerrecht gewesen sei. 374 Ebd., 29. 375 Ebd., 37 f. Der Begriff Lebensinteresse ebd., 23. 376 Ebd., 38. Hanke stellt den Versöhnungsgedanken ins Zentrum. Ihm zufolge ginge die Denkschrift über die Formulierung christlich-moralischer, i. d. R. individualethisch begründete Postulate hinaus und formuliere eine Ethik für die Politik und die internationalen Beziehungen. Siehe Hanke, Deutschlandpolitik, 200–217, v. a. 204 f. und 208. 377 Die Lage der Vertriebenen, 38. 378 Ebd. 379 Ebd., 44. 380 Die Autoren traten nicht als Einzelautoren in Erscheinung.

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genden herausgearbeitet werden: Erstens auf einer sozioökonomisch-strukturellen, zweitens auf einer sozialen und kulturellen Ebene und drittens im kirchlichen Raum. Viertens bewertete die Denkschrift die Heimatrechtsfrage unter seelsorgerlichen Aspekten und erhob damit den Anspruch, einen Beitrag zur inneren Bewältigung der Vertriebenenproblematik zu leisten. Erstens bilanzierte die Denkschrift anhand der von Ludwig Landsberg zusammengetragenen Sozialdaten und Argumente die wirtschaftliche Situation der Vertriebenen in der Gesellschaft. Dabei analysierte sie die sozioökonomische Benachteiligung der Vertriebenen und kam insgesamt zu differenzierten Ergebnissen.381 „Nackte Not“ sei unter den Vertriebenen die Ausnahme, auch die Wohnungsnot sei gelöst und eine strukturelle Arbeitslosigkeit gebe es nicht mehr.382 Dennoch waren Vertriebene und Einheimische deutlich unterschiedlich von Existenzsorgen betroffen. Demnach erhielten 1,4 % der Einheimischen Sozialhilfe, jedoch 5,8 % der Vertriebenen die äquivalente Unterhaltshilfe.383 Zudem seien nur halb so viele Vertriebene Eigentümer von Wohnungen wie Nichtvertriebene.384 Die Denkschrift würdigte die finanziell aufwändigen sozialpolitischen Maßnahmen, darunter das Fremdrentengesetz, die Novelle zum Auslandsrentengesetz, die Übernahme der Rentenleistungen an alle Kriegsgeschädigten sowie die 131er-Regelung des Grundgesetzes.385 Mit diesen Gesetzen seien vertriebene Angestellte und Beamte in den sozialen Sicherungssystemen den Einheimischen gleichgestellt worden.386 Benachteiligt waren jedoch nach wie vor die Selbstständigen in der Altersversorgung. Dabei handelte es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem, das die Vertriebenen allerdings in besonderem Maße betreffe: Aber es bleibt ein großer Kreis derer, die unzureichend oder gar nicht versorgt sind, weil sie niemals oder erst verhältnismäßig spät ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis aufgenommen haben. Man kann auch hier von einem allgemeinen Problem sprechen, aber dieses Problem betrifft zahlenmäßig die Vertriebenen besonders hart. So ist die Altersversorgung der früher Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen ein spezielles Vertriebenenproblem.387

Auch der Lastenausgleich wurde differenziert bewertet. Einerseits würdigte die Denkschrift die „hervorragende Wirkung auf die soziale und wirtschaft381 Im Wesentlichen lassen sich in diesen Passagen nur geringe Unterschiede zwischen Landsbergs Memorandum und der Denkschrift nachweisen. Zum Teil formulierte die Denkschrift etwas stärker, aber die Aussagen sind im Wesentlichen identisch. Vgl. Landsberg, Ludwig: Anlage zum Schreiben von Ludwig Landsberg an OKR Erwin Wilkens vom 8. 6. 1965 (LAV NRW RW 305); und Die Lage der Vertriebenen, 11 f. 382 Ebd., 11. 383 Ebd. 384 Ebd. 385 Ebd., 12. 386 Ebd. 387 Ebd.

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liche Eingliederung der Vertriebenen“, andererseits habe ein „voller Ausgleich“ nicht stattgefunden.388 Der Lastenausgleich erfülle das Postulat einer „Solidarität mit der Gesamtheit des deutschen Volkes“ nicht.389 Angesichts des Befundes, dass die Verriebenen zwar einen annähernd gleichen Lebensstandard erreicht hätten, jedoch in der Vermögensbildung benachteiligt seien, riefen die Autoren die gesellschaftspolitischen Zielsetzungen der Bundesrepublik in Erinnerung: „Da die Eigentums- und Vermögensbildung erklärte Ziele unserer Gesellschaftspolitik sind, empfiehlt die Kirche um der Gerechtigkeit willen, hier bessere Lösungen zu finden.“390 Auch den Topos einer Deklassierung nahm die Denkschrift auf: So gehörten 62,9 % der Vertriebenen, aber nur 47,9 % der Einheimischen der Arbeiterschicht an.391 Obwohl die Betroffenen ihren Lebensstandard und ihr Einkommen häufig hätten steigern können, bewerteten die Autoren den überproportionalen Anteil der Vertriebenen an der Arbeiterschicht insgesamt als sozialen Abstieg, was allerdings auf sozialpsychologische Gründe, nämlich das „angeschlagene gesellschaftliche Selbstbewusstsein“ der Vertriebenen, zurückgeführt wurde.392 Die sozioökonomischen und sozialpolitischen Analysen verband die Denkschrift, zweitens, mit einer übergreifenden Gesellschaftsdiagnose und Gesellschaftskritik, die nicht sozialstatistisch fundiert war, sondern auf allgemeinen Erfahrungen, Eindrücken und Wahrnehmungen sozialpsychologischer Art basierte. Die Autoren glaubten dabei eine mangelnde Aufnahmebereitschaft der westdeutschen Gesellschaft, einen Mangel an Anerkennung, „zurückgebliebene Traumata“, Unterschiede in Kultur und Mentalität und eine „Fremdenfeindlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft“ zu erkennen.393 Diese integrationshemmenden Faktoren lägen auch dort vor, „wo wirtschaftliche Nöte nicht vorliegen und kein sozialer Abstieg zu verzeichnen ist.“394 Insgesamt kam sie zu dem Ergebnis, dass die integrationshemmenden Momente und Schwierigkeiten nicht so sehr vom „Staat mit seinen Maßnahmen der Daseinsvorsorge“ als vielmehr von der „westdeutschen Gesellschaft“ ausgegangen seien, „die den Vertriebenen offenbar Vieles und Wesentliches schuldig geblieben ist.“395 Damit verband die Denkschrift Kritik an einzelnen Maßnahmen mit einer grundsätzlichen Gesellschaftskritik. Vor dem Hintergrund einer unzureichend verlaufenden Integration reflektierten die 388 389 390 391 392 393

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 13. Ebd. Ebd. Auch Schreiben von Ludwig Landsberg an OKR Erwin Wilkens, 8. 6. 1965 (LAV NRW Duisburg RW 305–6). In einem nicht datierten Vortrag „vor den Ungarndeutschen“ hatte Landsberg diese Aussage allerdings deutlich relativiert und „Fremdenhaß“ zum Einzelfall erklärt, der nicht flächendeckend auftrete (Landsberg, Ludwig: Vortrag vor Ungarndeutschen, o. D., LAV NRW Duisburg RW 305–10). 394 Die Lage der Vertriebenen, 13. 395 Ebd., 14.

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Verfasser zudem den Eingliederungsbegriff kritisch, weil diesem die unzutreffende Vorstellung einer „intakt gebliebenen Gesellschaft“ zugrunde liege.396 Dabei habe das Zerstörungswerk des Nationalsozialismus, der Zusammenbruch des Reiches im Jahr 1945 und die über die deutschen Ostgebiete hereingebrochene Katastrophe das ganze deutsche Volk in seinen geistigen und sittlichen Grundlagen erschüttert.397

Auf ein emphatisches Gemeinschaftspostulat rekurrierend, postulierten die Verfasser die bleibende „Aufgabe, zu einer neuen Gemeinschaft aus Einheimischen und Vertriebenen zusammenzuwachsen“, die sich der „gemeinsamen geistigen und sittlichen Werte bewußt“ sei und in der das von den Vertriebenen eingebrachte „besondere kulturelle Erbe sicher aufgehoben“ werden müsse.398 Im Ergebnis postulierte die Denkschrift eine neue Phase der Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik.399 Drittens reflektierte die Denkschrift den Umgang der Kirchen mit den Vertriebenen, wobei sie drei kirchliche Betätigungsfelder identifizierte: Der Dienst der Seelsorge und Verkündigung, die Eingliederung in die Gemeinden und Hilfe bei der Eingliederung der Vertriebenen in die Gesellschaft.400 Während sich Landsberg bereits mehrfach als scharfer Kirchenkritiker profiliert hatte,401 formulierte die Ostdenkschrift nun sehr viel behutsamer. Der Umgang mit der binnenprotestantischen konfessionellen Differenz wurde sogar eher positiv dargestellt: Wo konfessionelle Gegensätze oder Verschiedenheiten der liturgischen Tradition aufeinanderstießen, wurde ein Ausgleich gesucht. Auch der weitergehende diakonische Auftrag ist gesehen und wahrgenommen worden. Schließlich haben sich Landeskirchen und Gemeinden durch Jahre hindurch darum bemüht, den Ver396 397 398 399 400

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 14 f. Dabei nannte sie drei Aufgaben und Betätigungsfelder der evangelischen Kirche, nämlich den individuellen Dienst der Seelsorge und der Verkündigung, die Aufgabe der Eingliederung der Vertriebenen in das Leben der Gemeinden und die Hilfe bei der Eingliederung der Vertriebenen in die Gesellschaft. 401 Im Gegensatz zur politisch-säkularen Sphäre hätten sich im kirchlichen Bereich keine dem Wesen der Kirche widersprechenden Exilkirchen oder andere oppositionellen Organisationen herausgebildet. So jedenfalls ebd., 17. Landsberg hatte seine Kirchenkritik auch in die Beratungen der Kammer eingebracht, jedoch in der schriftlichen Ausarbeitung deutlich abgeschwächt. Vgl. Landsberg, Ludwig: Referat: Die soziale Lage der Heimatvertriebenen. In: Niederschrift über die Verhandlungen der Kammer für öffentliche Verantwortung anlässlich ihrer Sitzung am 21./22. 2. 1964 in Frankfurt (EZA Berlin 650/67); ders.: Anlage zum Schreiben von Ludwig Landsberg an OKR Erwin Wilkens vom 8. 6. 1965 (LAV NRW Duisburg RW 305–6); und ders.: Recht auf Heimat. Anhang zum Schreiben von Ludwig Landsberg an OKR Erwin Wilkens vom 14. 12. 1964 (LAV NRW Duisburg RW 305–6).

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triebenen die Mitarbeit in den Gemeinden anzubieten und ihnen auch einen Anteil an den leitenden kirchlichen Organen und Ämtern zu geben, um sie auf diese Weise an dem Prozess des Zusammenwachsens selbst mitarbeiten zu lassen. Trotzdem wird man heute feststellen müssen, daß dieser Prozess nicht in dem gewünschten Maße gelungen ist.402

Die Mehrheit der Vertriebenen habe sich angepasst oder isoliert, nur einige befänden sich in einer Opposition zur Kirche.403 Der kirchlichen Seelsorge wurde zudem ein klares Ziel zugewiesen. Dieses bestehe darin, den „gewaltsame[n] Verlust der Heimat zum Geschichtshandeln Gottes in Beziehung“ zu setzen und somit zu einer „Bewältigung im Glauben“ beizutragen, ohne die Vertriebenen besonders verantwortlich zu machen.404 Erst dieses „Ja zum Gericht Gottes“, das „in der Solidarität einer einzigen großen Schuld- und Haftungsgemeinschaft“ gesprochen werden müsse, befreie die Menschen vom „Hader mit Gott und den Menschen“ und befähige sie für „neue Aufgaben.“405 Hinsichtlich der innerkirchlichen Integration vertrat die Denkschrift die Auffassung, „daß dieser Prozeß nicht in dem gewünschten Maße gelungen ist.“406 Ursächlich dafür war vor allem die Übertragung gesellschaftlicher Verhaltensweisen und Strukturen auf den kirchlichen Bereich: Offenbar sind auch kirchliche Arbeit und geistliches Leben so sehr in allgemeine gesellschaftliche Strukturen und gruppenbedingte Verhaltensweisen eingeordnet, daß durch die eigentlichen kirchlichen Aufgaben ernsthafte Schädigungen entstehen können. […] Im Ergebnis gleicht das Bild von der kirchlichen Lage der Vertriebenen […] dem von ihrer Lage in Staat und Gesellschaft.407

Dem stellte die Denkschrift die positiv bewerteten Aktivitäten der kirchlichen Vertriebenenarbeit, d. h. das Engagement des Hilfswerks, der einzelnen Gemeinden und Pfarrer gegenüber, auch wenn manches Stückwerk geblieben sei.408 Wenn von einem „nicht in erwünschten Maße“ gelungenen „Prozeß“ die Rede ist und zugleich die positiven Ansätze gewürdigt werden, so vermittelt diese Aussage den Eindruck, als handelte es sich hierbei um einen allgemeinen Prozess, der sich der Steuerungsfähigkeit entzöge, während nicht darüber reflektiert wurde, inwieweit sich die kirchlichen Integrationsstrategien und 402 403 404 405

Die Lage der Vertriebenen, 16. Ebd., 17. Ebd., 15 und 17. Ebd., 17. Landsberg hatte während der Vorbereitungen die Auffassung vertreten, dass der kirchliche Auftrag zur Seelsorge nicht wahrgenommen worden sei. Siehe Landsberg, Ludwig: Anlage zum Schreiben von Ludwig Landsberg an OKR Erwin Wilkens vom 8. 6. 1965 (LAV NRW Duisburg RW 305). Die Denkschrift übernahm dieses Argument jedoch nicht, sondern würdigte ausdrücklich die geleistete seelsorgerliche Arbeit. Siehe Die Lage der Vertriebenen, 15 f. 406 Ebd., 16. 407 Ebd., 16 f. 408 Ebd., 15–17.

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-politiken, d. h. die integrationspolitischen Entscheidungen der Kirchenleitungen, selbst integrationshemmend ausgewirkt haben könnten. Schließlich und viertens beanspruchte die Denkschrift, das Problem der Heimatlosigkeit als seelsorgerliches Problem ernst zu nehmen, das die Autoren als tiefgreifende „Lebenskrise“ und als „Erschütterung der bisherigen Lebensbasis“ bezeichneten.409 Die Grunderfahrung des gewaltsamen Heimatverlustes habe eine „Unsicherheit der Umweltbeziehungen“ und ein „Misstrauen gegenüber der Zukunft“ bewirkt; viele Vertriebene „werden sich bis ans Lebensende heimatlos fühlen.“410 Die Selbstberuhigung der öffentlichen Meinung durch die „pauschal getroffene Feststellung dieses [äußeren] Erfolges“ entspreche zwar „den Maßstäben unserer Zeit […], die den materiellen Lebensstandard und die soziale Sicherheit zu hoch bewertet.“411 Insgesamt sei dieses Urteil jedoch insgesamt unzutreffend und unzureichend.412 Daher genüge es auch nicht, die Darstellung „auf die Frage [zu] beschränken, wie weit die wirtschaftliche Eingliederung der Vertriebenen im Sinne einer Sicherung ihrer äußeren Lebensbedingungen gelungen ist.“413 Die Verarbeitung des Heimatverlustes und die Bejahung des Gottesgerichtes wurden, so legen es diese Passagen nahe, als wesentlich für die innere Eingliederung empfunden und mussten in den Problemhorizont einbezogen werden. Verständnis für das Problem der Heimatlosigkeit und eine seelsorgerliche Verarbeitung der Heimatlosigkeit hieß für die Verfasser jedoch gerade nicht, das Recht auf Heimat als positiven Rechts- und Besitzanspruch anzuerkennen. In ihrem Bestreben, den Denkhorizont für eine Friedensordnung in „Partnerschaft“ zu weiten, zog sie zumindest die Möglichkeit einer Aufgabe einseitiger Rechtsansprüche explizit in Betracht.414 Zudem warnten die Autoren vor einer „Überhöhung des Heimatverständnisses“, das „in der mobilen Gesellschaft von heute weithin nicht mehr der Lebenswirklichkeit“ entspreche.415 Dieser Modernedeutung fügten sie den theologischen Topos hinzu, wonach der Christ die Heimat als Gabe Gottes annehmen könne, aber auch in grundsätzlicher Distanz zu allen irdischen Gütern, auch zur Heimat, stehe.416 Allerdings erkannten die Verfasser den Unrechtscharakter der Vertreibung, die „gegen elementares sittliches Gebot“ und das Völkerrecht verstoßen habe, ausdrücklich an.417 Dabei erkannten sie zumindest die Legitimität der Frage an, „wie weit künftig durch eine völkerrechtliche und politische Verwirklichung eines neu zu formulierenden Menschenrechtes derartige Massenkatas409 410 411 412 413 414 415 416 417

Ebd., 10. Ebd. Ebd., 11. Ebd. Ebd. Ebd., 40 und 44. Ebd., 33. Ebd., 34. Ebd., 39 f.

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trophen verhindert werden können.“418 Diese Überlegung folgte der Annahme, dass das verletzte Rechtsgefühl und der „Stachel des Unrechts“ das „größte seelische Trauma“ darstellten.419 Referenzen für diese Interpretation waren die Beiträge des mittlerweile verstorbenen Vertriebenenseelsorgers Herbert Girgensohn.420 Girgensohn hatte die Heimatrechtsfrage als Problem der Seelsorge beschrieben und auf die psychologische Bedeutung des verletzten Rechtsgefühls und das mangelnde Verständnis der aufnehmenden Gesellschaft für die Heimatlosigkeit hingewiesen. Er wurde mit den Worten zitiert: Das seelische Trauma der deutschen Vertriebenen besteht vielleicht weniger in dem Verlust ihrer Heimatgebiete als in dem Stachel eines erlittenen Unrechts, das weder als solches anerkannt noch überhaupt berücksichtigt worden wäre. Es ist die Meinung der kirchlichen Vertriebenenvertreter, daß die Anerkennung des Rechtes auf Heimat, das heißt die Feststellung des Unrechts von Vertreibung überhaupt eine unentbehrliche Voraussetzung für die Herstellung zwischenmenschlicher und zwischenvölkischer Beziehungen ist.421

Diese Auffassung lässt sich als semantische Entrechtlichung der Heimatrechtsfrage interpretieren, die für die Vertriebenenorganisationen, aber auch für die Bundesregierung eine Rechtsforderung war und die hier semantisch als Problem und Anliegen der Seelsorge kategorisiert und diskutiert wurde. Die Anerkennung des Unrechts der Vertreibung erfülle, so die These, sowohl außenpolitisch-friedensethische als auch integrationspolitisch-seelsorgerliche Funktionen: Sie sollte dem seelisch belastenden verletzten Rechtsgefühl der Vertriebenen Genüge tun und als Verzicht auf künftige Massenvertreibungen einen Beitrag zur Neuordnung der zwischenstaatlichen, zwischenvölkischen und zwischenmenschlichen Verhältnisse leisten. Dabei wurde auch an die polnische Seite die klare Erwartung gerichtet, die eigene Schuld einzugestehen und den Unrechtscharakter der Vertreibung anzuerkennen, damit ein „Neubeginn in einer echten Partnerschaft“ und eine auf Recht und Versöhnung basierende Friedensordnung möglich sei.422

418 Ebd., 8. Girgensohn hatte sich für eine völkerrechtliche Kodifizierung des Heimatrechts ausgesprochen. Siehe Informationsblatt für die Gemeinden in den niederdeutschen lutherischen Landeskirchen, 12. 5. 1960. 419 Die Verfasser zitierten die Passagen Girgensohns wörtlich. Siehe Die Lage der Vertriebenen, 39 f. 420 Ebd., 38 f.; 39 f.; 41. Vgl. die entsprechenden Parallelstellen: Girgensohn, Herbert: Die Vertriebenen und die kirchliche Seelsorge. In: Fesseln; und Girgensohn, Herbert: Das Recht auf Heimat. In: Informationsblatt für die Gemeinden in den niederdeutschen lutherischen Landeskirchen, 12. 5. 1960. 421 Die Lage der Vertriebenen, 39 f. 422 Ebd., 41.

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4.5 Die Rezeption, Diskussion und Kommunikation der Denkschrift 4.5.1 Überblick über die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Kaum eine Denkschrift der EKD rief in der außer- wie innerprotestantischen Medienlandschaft eine so große Resonanz hervor wie die Vertriebenen- und Ostdenkschrift von 1965. Die Denkschrift war, wie Peter Bender vermutet, eine „einschneidende Zäsur“ und markierte einen „Wertewandel“ in der Meinungsbildung hinsichtlich der ost- und deutschlandpolitischen Fragen.423 Sie bereitete die vorsichtige Neuausrichtung der Außen- und Ostpolitik der großen Koalition sowie die entschlossene Neuausrichtung unter der sozialliberalen Bundesregierung mit vor und fungierte als Impulsgeber und Katalysator in den Debatten über die Frage der Ostgrenze.424 Christian Hanke betont nicht nur die Bedeutung der Denkschrift für den Wandel des politischen Diskurses, sondern glaubt sogar eine unmittelbare politische Wirkung zu erkennen.425 Thomas Heck relativiert diese unmittelbare Kausalität etwas und weist darauf hin, dass gerade in der SPD schon seit längerer Zeit umfangreiche Überlegungen zur Neuausrichtung der Außen- und Ostpolitik im Gange waren.426 Die Denkschrift war demnach zwar nicht der unmittelbare Auslöser und Impulsgeber, jedoch eine willkommene Unterstützung. Dabei fand auch eine direkte Kommunikation zwischen führenden SPD-Politikern und Mit423 Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 132; und Bender, Ostpolitik, 124. Lepp rekonstruiert anhand demoskopischen Materials die wachsende Zustimmung: Lepp, Wort, 104. Die Daten entnimmt sie: Glaubt, Deutschlandpolitik, 242–244. Schwartz nennt etwas abweichende Daten: Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 132. Auch wenn ein Zusammenhang zwischen Denkschrift und Wandel der Stimmung intuitiv einleuchtet, sollte diese Tendenz vor dem Hintergrund der Liberalisierungs- und Pluralisierungsprozesse der Bundesrepublik bewertet werden. Demnach ist die Denkschrift weniger Ursache, sondern vielmehr Symptom oder Indikator des Wandels. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass sich das argumentative Spektrum, das sich in den Diskussionen über die Denkschrift zeigt, bereits in den 1950er Jahren zu finden ist. Siehe hierzu oben 337–377. 424 Vgl. Anm. 423. Zur Bedeutung der Denkschrift auch Huber, Kirche, 402; und Honecker, Grundriß, 652. Christian Hanke identifiziert in der Kubakrise ein externes Moment, das den Druck auf die Bundesregierung erhöht habe, einen Kurs der Entspannung zu verfolgen, was sich begünstigend auswirkte. Siehe Hanke, Deutschlandpolitik, 205. Die Neue Deutsche Ostpolitik und die Defacto-Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze markierten zudem einen Paradigmenwechsel der parteipolitischen Zuordnungen. Sie bewirkte eine Entfremdung zwischen Vertriebenenorganisationen und SPD und eine Annäherung zwischen den Verbänden und der CDU. Siehe Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 125. Die nationalkonservative Kritik an der Ostpolitik avancierte zudem zu einem zentralen Bezugspunkt des konservativen Selbstverständnisses. Das geht hervor aus: Schildt, Kräfte, 455–459. 425 So sei die Friedensnote der Bundesregierung vom 25. 3. 1966 erst nach der Synodalerklärung möglich geworden. So jedenfalls Hanke, Deutschlandpolitik, 216. 426 Heck, EKD, 186.

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gliedern des Rats der EKD statt. Kurt Scharf gab in einem Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Thomas Heck zu Protokoll, dass Willy Brandt die Kirche dazu gedrängt habe, mit einer solchen Stellungnahme an die Öffentlichkeit zu gehen.427 Wenn die SPD als Partei das tue, werde sie Wähler verlieren, daher solle die Kirche hier einen „stellvertretenden Dienst für alle Parteien“ leisten.428 Angesichts der Tatsache, dass die Vertriebenenpolitiker in der SPD ebenfalls stark verankert waren und innerparteilich integriert werden mussten, war dies ein politischer Spagat.429 Spätestens auf dem Dortmunder Parteitag 1966 sei die Denkschrift jedoch offiziell in die außen- und deutschlandpolitische Konzeption der SPD eingeflossen, die mit Blick auf die innerparteilichen Differenzen dennoch rhetorisch zurückhaltend war und nach der rhetorischen Strategie des „sowohl als auch“ verfuhr.430 Die Bundesregierung bekräftigte zwar ihre Haltung, dass die Grenzen Deutschlands „nur in einem Friedensvertrag festgelegt werden könnten“, allerdings setzten sich einzelne Minister, darunter der gesamtdeutsche Minister Erich Mende und der Vertriebenenminister Johann Baptist Gradl mit ihr auseinander und begrüßten einzelne Aspekte.431 Insgesamt hielten sich Bundesregierung und Parteien bedeckt. Auch die politischen Parteien standen nicht geschlossen für oder gegen die Denkschrift, sondern sahen sich mit erheblichen innerparteilichen Divergenzen konfrontiert.432 Zugleich rief sie scharfe Reaktionen, insbesondere seitens der Vertriebenenverbände, hervor. In einigen Zuschriften sahen sich die Verfasser und Mitglieder des Rats der EKD persönlichen Diffamierungen und sogar Morddrohungen ausgesetzt.433 Der Flüchtlingsbe427 Ebd. Heck interviewte auch Egon Bahr. Bahr hatte zwar hierüber keine Kenntnis, es schien ihm aber laut eigener Auskunft plausibel. Zudem wäre auf die personellen Verflechtungen zwischen EKD und SPD hinzuweisen, insbesondere zwischen Willy Brandt und der Berlin-Brandenburgischen Kirche (West), Herbert Wehner und Präses Scharf und zwischen Scharf und Brandt. 428 Ebd. 429 Ebd. 430 Heck, EKD, 191. 431 5. Kabinettssitzung am 24. 11. 1965. In: Weber, Kabinettsprotokolle, Bd. 18: 1965. Zitiert nach Kabinettsprotokolle der Bundesregierung online, Stand 22.8.16. Die Bundesregierung gab keine offizielle Stellungnahme ab. Siehe 13. Sitzung des Deutschen Bundestages am 12. 1. 1966. In: Verhandlungen, 5. WP, 49. Vgl. auch Keine Stellungnahme zur Denkschrift. In: FAZ, 4. 12. 1965, 3; und Stehle, Hansjakob: Ketzereien aus Kanzleien. Die Referenten-Studie aus Mendes Ministerium zur EKD-Denkschrift. In: Die Zeit, 4. 3. 1966. Auch Vertriebenenminister Gradl zeigte sich in manchen Punkten durchaus offen, auch wenn er sich qua Amt distanzieren musste. Siehe Noch Karten auf einen Grand mit Vieren? Spiegel-Gespräch mit Bundesvertriebenenminister Johann Baptist Gradl über die Oder-Neiße-Grenze und Wiedervereinigung. In: Der Spiegel 17. 1. 1966, 22–27. 432 Zur Haltung der Parteien: Heck, EKD, 175–182. Diese parteiübergreifenden Divergenzen begannen sich mit der Regierungsübernahme der sozialliberalen Koalition parteipolitisch zu verfestigen. Hierzu Schildt, Kräfte, 455–459. 433 So berichtete: Raiser, Ludwig: Das sagt man doch als guter Deutscher nicht. In: Der Spiegel, 17. 11. 1965, 71–73, 71. Der Synodalpräsident berichtet von einem „Anschlag“, der verübt worden sei. Siehe Berlin-Spandau, 227.

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auftragte der EKD Bischof Reinhard Wester erklärte seinen Rücktritt mit dem Argument, dass er von den Vorbereitungen ausgeschlossen worden sei.434 Angesichts der scharfen Auseinandersetzungen setzte die Synode der EKD die Denkschrift zweimal auf die Tagesordnung. Die Frankfurter Synode von 1965 erklärte ihre grundsätzliche Zustimmung zum Versöhnungspostulat, sprach der Kammer Dank für die Arbeit aus, verzichtete aber auf eine detaillierte inhaltliche Auseinandersetzung und Positionierung.435 Die Spandauer Synode, die im März 1966 tagte, setzte eine ausführlichere Aussprache zum Thema „Vertreibung und Versöhnung“ an, lud externe Referenten ein und veröffentlichte anschließend eine Erklärung.436 Auf der Synode der EKD überwog die Zustimmung zur kontrovers diskutierten Denkschrift über traditionelle theologische und kirchenpolitische Lager hinweg. Sowohl von Karl Barth beeinflusste Theologen als auch lutherische Theologen stimmten der Denkschrift zu und fanden sich in einer „ungewohnten“ Allianz zusammen.437 Der überwiegenden und lagerübergreifenden Affirmation durch die Synode, die zudem mit einer überwiegend wohlwollenden oder zumindest das Anliegen der Denkschrift würdigenden überregionalen Berichterstattung konvergierte,438 stand allerdings eine heterogene Rezeption in den Gemeinden und Landeskirchen gegenüber. Aus Schleswig-Holstein, dem „Flüchtlingsland Nr. 1“, kam die schärfste Opposition.439 Demgegenüber äußerte sich die westfälische Landessynode ausnahmslos zustimmend, während sich die meisten kirchenamtlichen Stellungnahmen in der Mitte zwischen diesen beiden Polen bewegten.440 Dieser von Rudolph herausgearbeitete Befund legt zunächst nahe, dass das Rezeptionsverhalten vom Anteil der evangelischen Vertriebenen in den jeweiligen Landeskirchen mitbestimmt war. Andererseits verlief die Frontlinie zwischen Befürwortern und Ablehnenden nicht zwischen Vertriebenen und Einheimischen, sondern ging mitten durch die Gruppe der Vertriebenen hindurch.441 Dieses Erklärungsmuster relativiert sich zudem vor dem Hintergrund der Sekundärwanderungen. Zwar war Schleswig-Holstein 434 435 436 437 438 439 440 441

Schreiben von Reinhard Wester an den Rat der EKD vom 9. 10. 1965 (EZA Berlin 2/4297). Kirchenkanzlei, Arbeitstagung Frankfurt, 117. Kirchenkanzlei, Berlin und Potsdam. Zit. nach Rudolph, Kirche Bd. II, 163 und 190. Daneben verfassten Gerstenmaier, Raiser, Lilje, Thielicke, Schweitzer und Pannenberg zustimmende Essays. Vgl. unten 422–434. So zumindest: Erwin Wilkens: Erst lesen, dann schmähen! In: Sonntagsblatt, 31. 10. 1965, 1. Dies bestätigend: Heck, EKD, 173. Die Rezeption in den Landeskirchen folgt der Darstellung von: Rudolph, Kirche Bd. II, 196. Ebd., 198 f. Christian Hanke kritisiert die Unterscheidung in befürwortende und ablehnende Stellungnahmen und plädiert dafür, zwischen „Vertretern des freien Denkens“ und Vertretern des „tabuisierten Denkens“ zu unterscheiden. Vermutlich versucht Hanke mit dieser Unterscheidung, der impliziten Normativität, die der Unterscheidung von Befürwortern und Gegnern der Denkschrift zugrunde liegt, zu entkommen. Allerdings scheint mir das von Hanke vorgeschlagene Unterscheidungskriterium ebenfalls analytisch unscharf, zumal eine ohne Zweifel inhärente normative Dimension durch eine andere normative Dimension ersetzt würde. Vgl. Hanke, Deutschlandpolitik, 210.

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eines der Hauptaufnahmeländer mit einem überproportional hohen Vertriebenenanteil, im Zuge der Sekundärwanderungen wurde jedoch NordrheinWestfalen, das über ein großes Arbeitsplatzpotential verfügte, eines der Bundesländer mit den meisten Vertriebenen.442 Möglicherweise hing das Rezeptionsverhalten demnach auch von der jeweiligen integrationspolitischen Situation ab, die in Nordrhein-Westfalen besser war als in Schleswig-Holstein. Die Diskrepanz zwischen EKD-Synode und Gemeinden legt aber auch nahe, dass die überwiegende Zustimmung durch EKD-Synode und die westdeutschen Kirchenleitungen einen Elitendiskurs widerspiegelt, der das Stimmungsbild im Kirchenvolk nur bedingt repräsentiert. Trotz der Austrittsdrohungen des BdV zog die Denkschrift allerdings keine Austrittswelle nach sich, was Hartmut Rudolph auf die Loyalität vieler Vertriebener zu ihren jeweiligen Landeskirchen zurückführt.443 Die Entfremdungserscheinungen betrafen demnach vor allem das Verhältnis der Vertriebenen zur EKD und weniger zu den Kirchengemeinden oder Landeskirchen.444 Zudem bestimmten die Polarisierungen der 1960er Jahre und vor allem zwischen konservativevangelikalen Protestantismen und liberalprotestantischen Strömungen das Rezeptionsverhalten.445 Auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich einige Kreise der Vertriebenen von der Radikalisierung im konservativen Lager im Zuge einer zunehmenden Polarisierung besonders angesprochen fühlten, handelte es sich hierbei doch um eine Frontbildung, die keineswegs deckungsgleich war mit dem Gegensatz von Vertriebenen und Einheimischen, auch wenn konservative Kräfte die Grenzfrage zunehmend zwecks Identifikation und Abgrenzung entdeckten und sich dabei an den BdV annäherten.446 Ausdruck für diese Radikalisierung und Polarisierung ist im Protestantismus die 1966 unter Beifall der NPD gegründete oppositionelle Bewegung „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher.“447 Diese und die etwas erfolgreichere Bekenntnisgemeinschaft „Kein anderes Evangelium!“ richteten sich gegen 442 In absoluten Zahlen lebten in Nordrhein-Westfalen Mitte der 1960er Jahre die meisten Vertriebenen. In relativen Zahlen entsprach der Vertriebenenanteil des Landes dem Bundesdurchschnitt. Hierzu Rudolph, Kirche Bd. I, 18. 443 Rudolph, Kirche Bd. II, 210. Dass der Präsident des BdV mit Austrittswellen drohte, geht hervor aus: Kirchenkanzlei, Berlin und Potsdam, 198 und 226. 444 Rudolph, Kirche Bd. II, 210. 445 Claudia Lepp weist auf die Problematik des Begriffs „Nationalprotestantismus“ für die Zeit nach 1945 hin, da es sich hierbei um eine polemische Zuschreibung handelte. Gebraucht man den Begriff „nationalprotestantisch“ allerdings als analytischen Begriff zur Bezeichnung einer im Protestantismus vorhandenen Position, die eine Identität von Kirche und Volk, Volkstum oder Nation behauptete und affirmierte, so scheint diese Bezeichnung durchaus angemessen, um eine Denktradition zu bezeichnen, die auch nach 1945 existierte. Gerade diese Unterscheidung spielte in der Debatte über die Denkschrift durchaus eine Rolle. Siehe Lepp, Tabu, 67 f. FN 204; und oben 409–448. 446 Schildt, Kräfte, 455–459. 447 Gründungsmitglied der Notgemeinschaft war der Dortmunder Pfarrer Alexander Evertz, der 1964 das Buch „Der Abfall der evangelischen Kirche vom Vaterland“ veröffentlicht und eine „Rehabilitation des nationalen Gedankens in der Kirche“ gefordert hatte (Lepp, Tabu, 550).

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eine vermeintliche Politisierung der Kirche, wie sie in der Vertriebenen- und Ostdenkschrift zum Ausdruck komme, sowie gegen die Traditionsabbrüche im deutschen Protestantismus insgesamt.448 Neben der geballten Kritik aus den weltlichen Vertriebenenverbänden fiel die Beurteilung in den kirchlichen Vertriebenengremien heterogener aus, auch wenn insgesamt die Kritik überwog. Die Gemeinschaft der evangelischen Schlesier war so gespalten, dass sie sich nicht zu einer Stellungnahme in der Lage sah.449 Der im Beienroder Konvent versammelte ostpreußische Bruderrat, der ehemalige Geschäftsführer des OKAs oder der selbst vertriebene prominente Theologieprofessor Wolfhart Pannenberg stellten sich hinter die Denkschrift.450 Der in der Vertriebenenseelsorge tätige Pfarrer Richard Hoppe ging davon aus, dass das Gros der Vertriebenen hinter der Denkschrift stehe, und startete zur Beweisführung eine Privatumfrage, deren Ergebnis allerdings das Gegenteil zutage förderte: Von den 100 erhaltenen Antworten äußerten sich nur sechs Vertriebene befürwortend, wofür Hoppe die „aufputschenden Proteste [der Vertriebenenverbände, FT]“ verantwortlich machte.451 Gerade die seelsorgerliche Intention erfuhr neben der Bejahung der ethisch-theologischen Prämissen und der politischen Aussagen ausdrücklich die Zustimmung einzelner Vertriebenenseelsorger. Einzelne Pastoren erblickten in der Denkschrift eine hilfreiche Handreichung für die seelsorgerliche Arbeit.452 Zustimmung oder Ablehnung hingen auch vom jeweiligen Seelsorgeverständnis ab.453 Die zustimmenden Stellungnahmen waren nicht repräsentativ für die Gesamtheit der Vertriebenen. Aber umgekehrt ist auch das von den Vertriebenenverbänden vermittelte Bild unzutreffend,454 die Vertriebenen 448 Lepp, Wort, 105; Hermle, Evangelikalen, 325–351; Greschat, Protestantismus und Evangelische Kirche, 569; und ders., Protestantismus im Kalten Krieg, 88. Zudem richteten sich die Gruppen gegen die von Bultmann geforderte „Entmythologisierung des Neuen Testaments“. Siehe ebd., 321–328. Korrespondierend zur innerprotestantischen Oppositionsbewegung kam es zur Rechtsradikalisierung einer nicht unbeträchtlichen Minderheit, die sich von beiden Volksparteien verraten fühlte. Einige Vertriebenenfunktionäre wie Linus Kather wechselten in die rechtsextreme NPD, die bei den württembergischen Landtagswahlen 1968 mit einem „aggressiven ostpolitischen Programm“ 9,8 % der Stimmen erzielte (Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 133). Zwischen Notgemeinschaft und NPD existierten zudem personelle Verflechtungen. 449 Rudolph, Kirche Bd. II, 208. 450 Ebd., 157 und 172–174. Die Stellungnahme Spiegel-Schmidts ist abgedruckt in EPD B, 21. 10. 1965. Vgl. auch Pannenberg, Versöhnung, 172–174. 451 Ebd., 209. 452 So z. B. der Konvent der evangelischen Gemeinden in Pommern, eine gemeinsame Erklärung ostpreußischer und schlesischer Pfarrer und der Beienroder Konvent. Siehe Rudolph, Kirche Bd. II, 172–174. 453 Ebd., 173 f. 454 Landsberg hatte in seinem Referat darauf hingewiesen, dass sich die Auffassung der Vertriebenen nicht an der Vertriebenenpresse ablesen lasse. Siehe Landsberg, Ludwig: Soziale und gesellschaftliche Fragen zum Recht auf Heimat (EZA Berlin 650/67). Kritisch auch Goldschmidt, Friedrich: Der Streit um die Denkschrift. Friedrich Goldschmidt antwortet Philipp von Bismarck. In: Die Zeit, 19. 11. 1965.

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stünden geschlossen und homogen gegen die Denkschrift, zumal nur ein Teil der Vertriebenen in den Vertriebenenverbänden organisiert war und die Organisationen gar nicht beanspruchen konnten, für alle Vertriebenen zu sprechen. Die Organisationsquote der Vertriebenenorganisationen wirft jedenfalls einen kritischen Blick auf den Repräsentationsanspruch des BdV: Kamen die beiden konkurrierenden Verbände „Vereinigte Ostdeutsche Landsmannschaften“ (VOL) und der ZvD zu Beginn der 1950er Jahre noch auf drei bis vier Millionen Mitglieder, sank die Mitgliederzahl bis 1955 auf 942 000 Mitglieder und bis 1958 auf 841 000 Mitglieder. Die Organisationsquote der Vertriebenen fiel folglich auf 8,8 % ab, während beispielsweise die Gewerkschaften laut Stickler auf eine Organisationsquote von über 25 % kamen.455 Stickler macht zudem darauf aufmerksam, dass der BdV seine Mitgliederzahl seit den 1960er Jahren sehr hoch angesetzt und später bewusst verfälscht habe, „um den eigenen Bedeutungsverlust zu verschleiern.“456 Insgesamt lassen sich in der überwiegend kritischen Diskussion der kirchlichen und weltlichen Vertriebenengremien vier Themenkomplexe und Diskussionszusammenhänge identifizieren: Zunächst und erstens waren die ostpolitischen Aussagen, die Preisgabe vermeintlicher Rechtsansprüche, die von manchen beobachtete Vernachlässigung der kommunistischen Gefahr oder die Kritik an einer vermeintlich ausgesprochenen nachträglichen Sanktionierung eines begangenen Unrechts Stein des Anstoßes.457 Da sich die Vertriebenenverbände als Anwälte nationaler Interessen stilisierten, prallten in den Auseinandersetzungen zwischen Vertriebenenverbänden und Initiatoren der Denkschrift zudem zwei divergierende nationale Identitätsentwürfe aufeinander.458 Zweitens waren die theologisch-ethischen Prämissen der Denkschrift, die Schulderklärung und die „Gerichts- und Geschichtstheologie“ Gegenstand der Diskussion.459 Drittens wurden auch die sogenannte Le455 Stickler, Ostdeutsch, 138 und 142–147. Allerdings ist unklar, inwieweit Doppelmitgliedschaften in ZvD und VOL berücksichtigt worden sind, die mit der Fusion der beiden Organisationen wegfielen. Stickler spricht lediglich von „diffusen Mitgliedschaftsverhältnissen“ (Stickler, Ostdeutsch, 141). In die Phase des zweiten Rückgangs von 1955 bis 1958 fällt der Zusammenschluss der beiden Organisationen, so dass der Rückgang auch auf den Wegfall von Doppelmitgliedschaften zurückgeführt werden kann. Zumindest der Rückgang im ersten Vergleichszeitraum ist signifikant. Auch zeitgenössisch wurde der Repräsentationsanspruch infrage gestellt. Siehe Goldschmidt, Friedrich: Der Streit um die Denkschrift. Friedrich Goldschmidt antwortet Philipp von Bismarck. In: Die Zeit, 19. 11. 1965. 456 Stickler, Ostdeutsch, 140 f. Genaue und überprüfbare Zahlen legte der BdV nicht vor. 457 Z. B. Bismarck, Philipp von: Der Streit um die Denkschrift. In: Die Zeit, 12. 11. 1965. Wehner, Herbert: Missverständlich und wenig überzeugend. In: Nasarski, Stimmen, 24 f.; Rehs, Reinhold, MdB: Das unteilbare Recht. In: Ebd., 12; Hertel, Hans: Es geht nicht um Theologie, sondern um Aussenpolitik. In: Ebd., 68 f.; Helmut Fechner: Überbetonung der Selbstzerknirschung führt zu Verdacht. In: Ebd., 18 f.; und Vermischung religiöser, juristischer und politischer Argumente. In: Ebd., 44–46. 458 Vgl. unten 448–457. 459 Hier werden nur einige wenige Beispiele genannt. Vgl. Jaksch, Wenzel: Fehldiagnosen und Begriffsverwirrung. In: Nasarski, Stimmen, 21 f.; Handtke, Egon: Göttliche Gerechtigkeit –

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gitimitätsfrage und die Verhältnisbestimmung von Politik und Kirche diskutiert und dabei eine unrechtmäßige Vermischung von Politik, Theologie und Evangelium kritisiert.460 Viertens wurde der seelsorgerliche Anspruch diskutiert.461 Dabei gerieten auch Verfahrensfragen, insbesondere die Umgehung der Vertriebenen und ihrer Repräsentationsorgane, in die Kritik.462 Teilweise wurde die Denkschrift auch auf eine angebliche linksprotestantische Dominanz in der EKD zurückgeführt.463 In der folgenden Analyse des Rezeptionsprozesses stehen die Bezugnahme auf den integrationspolitischen Teil sowie die Reflexion des seelsorgerlichen Anspruches und des integrationspolitischen Selbstverständnisses im Fokus. Dabei wird auch herausgearbeitet, inwieweit anlässlich der Denkschrift die Integrationsfähigkeit der Kirche und das Verhältnis von Kirche und Vertriebenen diskutiert und problematisiert wurden. Die Diskussion des seelsorgerlichen Auftrages ist, so die Vorüberlegung, als Auseinandersetzung mit dem integrativen Selbstverständnis der Denkschrift wie der Kirche zu lesen, die nicht nur einen beobachtenden, sondern auch einen mitgestaltenden Anspruch erkennen lässt. In diesem Sinne wollte sie von Illusionen befreien und den Blick auf die fortschreitende Integration und Zukunft im Westen lenken. 4.5.2 Rechtfertigung und Diskussion der Denkschrift auf der Synode der EKD Auf der ersten Arbeitstagung der EKD-Synode im November 1965 wurde den Initiatoren der Denkschrift Gelegenheit gegeben, auf die an der Denkschrift vorgebrachte Kritik zu reagieren.464 Vor der Synode, die 1965 in Frankfurt tagte, erläuterten Ludwig Raiser und Erwin Wilkens ihre Motive. OKR Wilkens bekräftigte, dass die Situation der Vertriebenen in der Bundesrepublik den

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nur für Polen? In: Ebd., 34 f.; Entschließung des BdV-Präsidiums: Heimatrecht kein Kaufpreis. In: Ebd., 51; Gerstenmaier, Eugen: Kein Gottesurteil. Interview mit dem Bundestagspräsidenten in der Berliner Morgenpost vom 25./26. 12. 1965. In: Ebd., 28; Petersmann, Werner: Schuld- und Versöhnungsschwarmgeister. In: Ebd., 29; Freiherr von Fricks, Otto/Krause, Gerhard: Im Widerspruch zu den theologischen Grundlagen. In: Ebd., 31; Zillich, Heinrich: Theologisches Kannengießen ersetzt religiöse Substanz. In: Ebd., 40 f.; und Notgemeinschaft evangelischer Deutscher: Im evangelischen Kirchenvolk Deutschlands geht die Sorge um. In: ebd., 103–105. Vgl. z. B. Vermischung religiöser, juristischer und politischer Argumente. In: Ebd., 44–46; Rohde, Gotthold: Polens Lebensraum-Argumentation ein Trugschluss. Auszüge aus einem Brief an Landesbischof D Dr. J. Lilje. In: Ebd., 54–56. Nach Gülzow entstünde der Eindruck, dass der Rat der EKD „politisch aktiv“ sei (Schreiben von Gerhard Gülzow an Präses Kurt Scharf, 25. 9. 1965, EZA Berlin 632/7). Rudolph, Kirche Bd. II, 167 und vor allem 188. Darauf wird noch ausführlicher eingegangen. Vgl. unten 422–434. Salm, Karl: Die Kirche als Anwalt der Stärkeren. In: Nasarski, Stimmen, 37–39. Kirchenkanzlei, Berlin und Potsdam.

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Ausgangspunkt bildete.465 Die seelsorgerlichen Bemühungen stellte er ins Zentrum, denn die Darstellung sei getragen von der Sorge um die menschliche, soziale und gesellschaftliche Lage der Vertriebenen. Das seelsorgerlich-menschliche Motiv der Denkschrift muss stark unterstrichen werden. Man kann nicht übersehen, dass sich an diesem Punkt die Verfasser der Denkschrift ihre Aufgabe nicht leicht gemacht haben.466

Ludwig Raiser, der Vorsitzende der Kammer, setzte sich vor der Synode ebenfalls mit den einzelnen Kritikpunkten auseinander.467 Viele Kritikpunkte wie den, dass der Kirche keine Legitimation in politischen Fragen zukomme, ließ Raiser, der sich selbst theologisch als Lutheraner bezeichnete, nicht gelten.468 Drei Sorgen berechtigten für Raiser die Kirche zu einer politischen Stellungnahme, so die „Sorge um das menschliche Schicksal der Vertriebenen“, die „Sorge um das sittliche Selbstverständnis des deutschen Volkes“ und die „Sorge um die Erhaltung des Friedens in der Welt.“469 Auch Raiser stellte die seelsorgerlichen Intentionen ins Zentrum. Dabei hätte der „Vorwurf der Lieblosigkeit“ ihn und die Mitverfasser am stärksten getroffen.470 Der zweite Teil, der die Situation der Vertriebenen zum Gegenstand hatte, galt ihm als Beleg für die Unangemessenheit dieses Vorwurfs. Raiser sah den Vorwurf der Lieblosigkeit gerade dadurch entkräftet, dass die Denkschrift die Warnung vor außenpolitischen Illusionen mit der kritischen Darstellung der Situation der Vertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft verknüpfte: Dieser Vorwurf der Lieblosigkeit ist nach meinem Empfinden der schwerste, der uns treffen konnte. Aber mit seiner Abwehr geraten wir auch an den Angelpunkt der Denkschrift: Das Verständnis des Ganzen hängt daran, daß Sie die notwendige Verknüpfung von Vordersatz und Nachsatz verstehen. Lieblos hätte die Kirche vielleicht gehandelt, wenn sie nur den Nachsatz ausgesprochen, also nur vor außenpolitischen Illusionen gewarnt hätte, ohne zugleich nach der Lage der Vertriebenen im Inneren zu fragen. Andererseits kann recht verstandene Liebe denen, die unter dem Verlust ihrer Heimat Leid tragen, nach unserer Überzeugung nicht darin bestehen, sie mit politischen, juristischen und theologischen Argumenten immer weiter in der Vorstellung bestärken, es sei nur kommunistisches Teufelswerk, was sie am Rückgewinn der Heimat hindere. Es mag sein, daß christliche 465 Bericht von Wilkens vor der Synode, 8.–10. 11. 1965 (EZA Berlin 650/85); und Kirchenkanzlei, Arbeitstagung Frankfurt, 90–97. 466 Ebd. Auf einer späteren Tagung bekräftigte er diesen Zusammenhang und sprach von „gewissen Wechselwirkungen“ (Versçhnung, 8). 467 Raisers setzte auf säkulare massenmediale Kommunikation und publizierte seine Rede im „Spiegel“. Siehe Raiser, Ludwig: Das sagt man doch als guter Deutscher nicht. In: Der Spiegel, 17. 11. 1965, 71–73. 468 Bericht von Raiser über die Denkschrift vor der Synode, 8.–10. 11. 1965 (EZA Berlin 650/85), 2. Vgl. auch Kirchenkanzlei, Arbeitstagung Frankfurt, 81–90. 469 Bericht von Raiser über die Denkschrift vor der Synode, 8.–10. 11. 1965 (EZA Berlin 650/85). 470 Ebd.

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Barmherzigkeit fordert, einem Sterbenden zu verschweigen, daß die Ärzte ihn aufgegeben haben. Das deutsche Volk aber will und soll leben, und es soll nicht im Wunschdenken und in der Selbstgerechtigkeit, sondern in der Wahrheit leben! Nur so kann auch die notwendige und heilende Verschmelzung gelingen, während alles Reden über unverzichtbare Rechtansprüche die Wunden immer neu aufreißt.471

Schließlich war die seelsorgerlich motivierte, außenpolitische Ernüchterung für Raiser eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration. Aus diesem Grund sei die Denkschrift als „opus proprium der Kirche“, als ein „Stück Gruppenseelsorge“, zu verstehen.472 In diesem Zusammenhang kritisierte Raiser die Vertriebenenverbände scharf: Diese betrieben eine Politik der „gefährlichen Isolierung“; zudem seien sie in ihrem Verbandsdenken so erstarrt, daß sie auch das [gemeint ist die Denkschrift, FT] als Einmischung betrachten, oder sie sind so auf ihre politische Zielsetzung fixiert, daß sie Gefahr laufen, darüber die Menschen, um die es geht, aus den Augen zu verlieren.473

Für Raiser war es auffällig, aber wohl nicht zufällig, daß der Teil der Denkschrift, der sich mit der Lage der Vertriebenen in Kirche und Gesellschaft befaßt, von den Kritikern im Lager der Vertriebenenverbände kaum eines Wortes gewürdigt worden ist.474

Dabei bestehe ein unaufhebbarer Zusammenhang zwischen den Teilen „Die Lage der Vertriebenen“ und dem „Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn.“475 Eine Generalaussprache fand allerdings auf dieser Sitzung nicht statt und wurde auf eine zweite Arbeitstagung im Frühjahr 1966 verschoben. Trotz der unbestreitbaren politischen Implikationen fand gerade die seelsorgerliche Intention der Denkschrift die allgemeine Zustimmung der Synodalen.476 Die Situation der Vertriebenen in der Gesellschaft spielte in den Referaten und in 471 Ebd. Ähnlich argumentiert auch Thomas Heck, der, seine eigene Position kaum verhüllend, im integrationspolitischen Teil einen Beleg für die „Ernsthaftigkeit“ und „Sensibilität“ der Denkschrift entdeckt. Vgl. Heck, EKD, 164. 472 Bericht von Raiser über die Denkschrift vor der Synode, 8.–10. 11. 1965 (EZA Berlin 650/85). 473 Ebd. 474 Ebd. 475 Ebd. Diesen Zusammenhang kurz andeutend: Hanke, Deutschlandpolitik, 205. 476 Vor der Generaldebatte wurden folgende externe Referenten gehört: Krumwiede, HansWalter: Theologisch-ethische Fragen. In: Kirchenkanzlei, Berlin und Potsdam, 102–108; Erdmann, Karl Christian: Deutschland und der Osten – zur historischen Einschätzung der gegenwärtigen Lage. In: Ebd., 109–121; Metzger, Ludwig: Völkerrechtliche Fragen. In: Ebd., 122–129; Sucker, Wolfgang: Das Vertriebenenschicksal. In: Ebd., 130–140. Vgl. auch Sucker, Wolfgang: Vertreibung und Versöhnung. Die Lage der Vertriebenen in Gesellschaft und Kirche. Referat auf der 4. Tagung der 3. Synode der EKD in Berlin und Potsdam 1966 (EZA Berlin 650/ 80).

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der Aussprache allerdings kaum eine Rolle. Lediglich der hessen-nassauische Kirchenpräsident Wolfgang Friedrich Sucker ging auf das Erbe der Vertriebenen ein und bedauerte das „Ende des deutschen Protestantismus im deutschen Osten“ als Ende „einst blühender evangelischer Kirchen mit ihren langen Segensgeschichten.“477 Die bleibende Aufgabe bestehe in der „Vergegenwärtigung des reichen Erbes“, zu dem „die ganze, vom christlichen Glauben geprägte geistige Gestalt ihrer Heimat“ zähle, die „ein nicht wegzudenkender Bestandteil des gesamtdeutschen geistigen Lebens ist.“478 Während der Generaldebatte nahmen einige wenige Diskutanten auf den seelsorgerlichen Anspruch der Denkschrift Bezug. Freiherr von Schlotheim etwa beobachtete, dass die Denkschrift zwei Problemkreise, nämlich die Heimatrechtsfrage und die Situation der Vertriebenen in der Gesellschaft, miteinander verknüpfe.479 Der Holsteinische Bischof Friedrich Hübner profilierte sich als einer der deutlichsten Kritiker und vertrat die Auffassung, dass die Denkschrift ihre seelsorgerliche Intention verfehlt habe, da „die selbstverständliche Mitverantwortung des Ostkirchenausschusses ausdrücklich […] zurückgewiesen“ worden sei.480 Damit mache sich die Kirche in ihrem Postulat einer vollen Eingliederung unglaubwürdig, weil sie die Vertriebenen nicht aktiv und verantwortlich beteilige.481 Einige Synodale wie Friedrich Karrenberg oder Joachim Beckmann führten die Zustimmung und Ablehnung der Denkschrift auf die jeweiligen Auffassungen von „Heimat, Boden, Volkstum, Vaterland und Geschichte“ zurück.482 Demnach hätten viele Kritiker eine Solidarisierung der Kirche mit der Sache des Volkes erwartet und wunderten sich nun, „was aus dieser evangelischen Kirche geworden sei.“483 Die Diskussion der Denkschrift war demnach auch eine Auseinandersetzung mit der nationalprotestantischen Tradition und dem Verhältnis von evangelischer Kirche und Volkstum. In den Ausschussberatungen spielten die integrationspolitischen Aussagen und die Reflexion des seelsorgerlich-integrativen Anspruchs hingegen eine größere Rolle. Einer der drei gebildeten Unterausschüsse unter der Leitung von Eberhard Müller befasste sich explizit mit der „sozialen, gesellschaftli-

477 Ebd., 3. In diesem Zusammenhang setzte sich Sucker zudem kritisch mit dem „Volkstum“ auseinander: „Es ist doch wohl so, daß Protestantismus und deutsches Volkstum eine so lange Bindung miteinander eingegangen waren, daß der Blick auf ökumenische Verantwortung weithin fehlte.“ 478 Ebd., 4. Von Thadden, Lilje und von Dietze würdigten das Referat explizit und machten auf den geistlichen Reichtum der Kirchen des Ostens aufmerksam. Siehe Wortbeitrag von Thadden während der Generalaussprache. In: Kirchenkanzlei, Berlin und Potsdam, 208 f.; Wortbeitrag Hanns Lilje. In: Ebd., 189 f.; und Wortbeitrag Dietze. In: ebd., 252. 479 Wortbeitrag Frh. von Schlotheim. In: Ebd., 1966, 212. 480 Wortbeitrag Hübner. In: Ebd., 1966, 190. 481 Ebd. 482 Wortbeitrag Karrenberg. In: Ebd., 219. 483 Wortbeitrag Beckmann. In: Ebd., 222.

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chen und kirchlichen Eingliederung.“484 Der Unterausschuss stellte in seinem Bericht drei Gesichtspunkte besonders heraus: Erstens sprach er eine ausdrückliche Würdigung des Erbes der Vertriebenen aus und verlieh der Verpflichtung zur Pflege des Erbes Ausdruck, wobei dieses weniger als ein kulturelles als ein geistliches Erbe vorgestellt wurde.485 Zweitens thematisierte Müller die Frage der Repräsentation der Vertriebenen in den kirchenleitenden Einrichtungen. Zwar sei bereits „einiges geschehen“, „aber es wurde gesagt, daß da wohl noch in manchen Gegenden einiges zu tun ist.“486 Drittens ging der Bericht auf die Situation der Vertriebenen „innerhalb unserer Gesellschaft“ ein.487 Hier machte der Bericht auf die Generationenfrage und die Benachteiligung der vertriebenen Selbständigen aufmerksam. Während sich die mittlere und jüngere Generation „[…] ihren Platz in der Gesellschaft in vollem Umfang erkämpft“ habe, konnte dies der älteren Generation „naturgemäß […] nicht im selben Umfang“ gelingen.488 Besorgt zeigte sich der Ausschussbericht auch über die Altersversorgung derjenigen, die keine „Altersrente als Beamte oder als Angestellte oder als Arbeiter“ erhielten.489 Dabei handelte es sich jedoch um ein partielles, nicht jedoch um ein flächendeckendes Problem: Im allgemeinen wurde freilich festgestellt, daß es sich dort, wo besondere Not unter den Vertriebenen ist, um kleinere Gruppen handelt, die durch ihre besondere Art nicht in vollem Umfang von der allgemeinen Gesetzgebung erreicht sind. Es wurde deswegen gebeten, daß der Rat die entsprechenden Organe der Kirche bitten möge, nachzuprüfen, welche Gruppen das sind und ob Vorschläge gemacht werden könnten, ihnen mehr als bisher zu helfen.490

In den Ausschüssen wurde eine Synodalerklärung zur Denkschrift vorbereitet, die schließlich bei einer Stimmenthaltung angenommen wurde.491 Diese bestätigte im Wesentlichen die Aussagen der Denkschrift, nahm aber zugleich einige Relativierungen vor. Die Denkschrift sei nicht als „Glaubenswahrheit“, sondern als „redliches Angebot zum Nachdenken“ zu verstehen.492 Zudem gab Bericht von Eberhard Müller. In: Ebd., 249–251. Ebd., 249. Ebd. Ebd., 249 f. Ebd., 250. Ebd. Ebd. Daneben wurde die Situation einzelner Vertriebenengruppen wie die der alleinstehenden Frauen und der vertriebenen Bauern genannt. 491 Ebd., ,256. 492 Erklärung der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema „Vertreibung und Versöhnung“. In: Ebd., 471–473. Die Erklärung bekräftigte das Versöhnungspostulat, die Notwendigkeit einer „Bereitschaft zum Opfer“ und das Lebensrecht der östlichen Nachbarn, relativierte jedoch die Schuldfrage, erwartete von beiden, also auch der polnischen Seite, Einsicht in das begangene Unrecht und erteilte einem „einseitigen Verzicht als politischer Vorleistung“ explizit eine Absage.

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die Erklärung vor, „den Widerspruch“ ernst zu nehmen, „der gegen die Denkschrift auch von vielen treuen Gemeindegliedern, namentlich von solchen geäußert worden ist, die aus ihrer angestammten Heimat vertrieben worden sind.“493 Die Vertreibung wurde explizit als Unrecht bezeichnet.494 Die Erklärung relativierte aber auch solche Stimmen, die die scharfe Ablehnung der Denkschrift auf eine andere Auffassung von Vaterland, Volk und Volkstum zurückgeführt hatten: Aber auch die Leugnung einer Bindung an das eigene Volk können wir nicht gutheißen. Solche Bindung ernst zu nehmen ist dem Christen erlaubt, ja geboten, sofern sie nicht zu einer Vergötzung führt und die offene Zuwendung zu Menschen anderer Völker hindert.495

Demnach wurde den Kategorien zur Beschreibung der sozialen Entität, die in den Gremien der kirchlichen Vertriebenenarbeit eine gewisse Rolle spielten, eine begrenzte Legitimität zugesprochen und die Identität von Kirche und Volk und damit das integrative Selbstverständnis der Kirche stärker betont. Auf die Situation der Vertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft nahm die Synodalerklärung in diesem Zusammenhang auf mehreren Ebenen Bezug. Die Vertreibung sei eine Angelegenheit des ganzen Volkes, zudem wurde die Legitimität der Heimatliebe anerkannt und die Bedeutung des mitgebrachten Erbes für das gesamte deutsche Volk hervorgehoben: Wurde den Vertriebenen auferlegt, sich in fremder Umgebung einzuleben, so muß von den Nichtvertriebenen die Liebe der Ostdeutschen zu ihrer Heimat und der Schmerz um ihren Verlust besser als bisher verstanden und mitgetragen werden. […] Die reiche Geschichte Ostdeutschlands ist ein wesentliches Stück deutscher Geschichte. Vielgestaltig und fruchtbar ist der Beitrag der Ostdeutschen zu unserem politischen, kulturellen und kirchlichen Leben. Der Verlust ihrer Heimat bedeutet für unser ganzes Volk eine Schädigung, deren Schwere uns […] nicht immer genügend gegenwärtig war.496

Neu gegenüber der Vertriebenen- und Ostdenkschrift war zudem die deutlichere Würdigung der Arbeit des OKAs. In diesem Gremium und in den Hilfskomitees

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Ebd., 471. Ebd., 472 f. Ebd., 471. Ebd., 471 f. Ähnlich hob auch Gotthold Starke an der Spandauer Synodalerklärung hervor, dass diese die „reiche Geschichte Ostdeutschlands und seiner evangelischen Kirche“ ausdrücklich anerkenne (Starke, Gotthold: Nach der Berliner Synode: Denkschrift steht weiter im Raum. Aus einer Sendung des Westdeutschen Rundfunks vom 26. 3. 1966. In: Nasarski, Stimmen, 74–77).

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wurde viel Dankenswertes geleistet, um der Verwurzelung der Vertriebenen in ihrer neuen Heimat zu dienen und zugleich das Erbe unserer zerstörten evangelischen Gemeinden und Landeskirchen zu bewahren.497

Im Unterschied zur Denkschrift wurde nun nicht nur die Mithilfe der Vertriebenen beim Wiederaufbau,498 sondern auch der Verzicht auf Vergeltung und die Mitwirkung der Vertriebenen an der Versöhnung gewürdigt.499 Damit versuchte die Erklärung, den Kritikern und insbesondere den Vertriebenen entgegenzukommen, die Denkschrift partiell zu relativieren, ohne die Kernthesen der Denkschrift zurückzunehmen. Hatte die Vertriebenen- und Ostdenkschrift eine stark gesellschaftskritische Position eingenommen, rückte die Synodalerklärung die Identität von Kirche und Volk sowie die integrative Funktion der Kirche ins Zentrum, indem sie der Leugnung der Bindung von Kirche und Volk eine Absage erteilte. Damit unterbreitete die Synode nicht zuletzt ein Integrationsangebot an die Kritiker und solche Vertriebenen, die sich durch die Denkschrift vor den Kopf gestoßen sahen. Zumindest innerhalb der kirchlichen Vertriebenengremien schien die Synodalerklärung, für die im Vorfeld die Expertise des OKAs eingeholt wurde, tatsächlich eine größere Zustimmungsfähigkeit zu mobilisieren als die EKDDenkschrift. Der Ethiker und systematische Theologe Wolfgang Huber bezeichnet sie daher als „einzigartiges Dokument“ des „innerkirchlichen Lernprozesses.“500 Gerade mit ihrer Kombination aus Kritik und Bestätigung war es zumindest den moderaten Kritikern und Befürwortern gleichermaßen möglich, die jeweils präferierten Gesichtspunkte dominant zu setzen und in der Erklärung eine Bestätigung des je eigenen Standpunktes zu erblicken. Der kleine OKK erklärte ausdrücklich seine Zustimmung; er sah nun das Leid der Vertriebenen anerkannt, „die Geschichte Ostdeutschlands [als] ein wesentlicher Teil der gesamtdeutschen Geschichte“ gewürdigt sowie die seitens des OKAs vorgebrachten Bedenken ernst genommen.501 Dabei wurde die gesamtdeutsche Verpflichtung für das ostdeutsche Erbe und die Zugehörigkeit der ostdeutschen Geschichte zur gesamtdeutschen Geschichte hervorgehoben.502 Der OKK, der die Denkschrift als „lieblos“ und „zu weit gehend“ kri-

497 Kirchenkanzlei, Berlin und Potsdam, 471 f. Die Vertriebenen- und Ostdenkschrift formulierte sehr viel knapper, dass Hilfskomitees und OKA wichtige Arbeit geleistet hätten. Vgl. Die Lage der Vertriebenen, 13. 498 Kirchenkanzlei, Berlin und Potsdam, 471 f. Ähnlich auch die Denkschrift: Die Lage der Vertriebenen, 14. 499 Kirchenkanzlei, Berlin und Potsdam, 472. 500 Huber, Kirche, 411. 501 Niederschrift über die Sitzung des Kleinen Konvents am 21. 4. 1966 (EZA Berlin 512/151). Explizit zustimmungsfähig waren demnach die hier ausgesprochene Kritik an einseitigen Verzichterklärungen, die Kritik am Begriff der Kollektivschuld und die Würdigung der Charta der Heimtatvertriebenen. 502 Niederschrift über die Sitzung des Kleinen Konvents am 21. 4. 1966 (EZA Berlin 512/151).

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tisiert hatte,503 würdigte – ebenfalls ein Novum im Vergleich zur Denkschrift – nun ausdrücklich die integrationspolitischen Aussagen der Denkschrift und stellte Landsbergs Verdienste besonders heraus: Bei der Untersuchung der Lage der Vertriebenen in Gesellschaft und Kirche hat sich die Denkschrift eines hervorragenden Sachkenners bedient, so daß ihr die Darlegung des Sachverhalts im Wesentlichen gelungen ist.504

In der langfristigen Perspektive rückten die Integrationsdefizite in materieller und wirtschaftlicher Hinsicht allerdings in den Hintergrund. Einige Jahre später, anlässlich der Unterzeichnung der Warschauer Verträge, bilanzierte der 1966 ernannte Beauftragte der EKD für Umsiedler- und Vertriebenenfragen, Günther Besch, den Stand der Integration. Hier griff Besch wieder auf den klassischen Topos zurück, dass die materielle Dimension der Vertriebenenproblematik gelöst, die menschliche hingegen nicht gelöst sei: Die materielle Seite des ganzen Problems ist in der Tat weitgehend gelöst, trotz mancher Mängel und Härten, die sicher noch da sind. Aber das Vertriebenenproblem ist nicht nur und nicht einmal in erster Linie eine materielle Frage. Es ist ein menschliches Problem, das die Älteren besonders deutlich empfinden, die noch bewusst in der alten Heimat verwurzelt waren. […] Sind wir menschlich eingegliedert? Wir lieben das Wort Eingliederung nicht mehr. Wir wollten ja nicht einfach eingegliedert, d. h. assimiliert und vereinnahmt werden. Wir wollten ein Erbe einbringen, das uns geprägt hat und dem wir uns verpflichtet wissen. Wir wollen nicht nur die Nehmenden, sondern auch die Gebenden sein.505

4.5.3 Die Diskussion der Denkschrift in den kirchlichen und säkularen Vertriebenengremien und -medien Kurz vor Veröffentlichung der Denkschrift wurde dem OKA ein Entwurf der Denkschrift mit der Bitte um Stellungnahme zugeleitet.506 In einem gemeinsamen Gespräch mit dem OKA glaubte der Rat zu erkennen, dass der OKA die Denkschrift nicht grundsätzlich ablehne, sondern einzelne Formulierungen kritisierte und „Bedenken gegen die Ausführungen in bestimmten Fragenkreisen“ trage.507 Anhand der Stellungnahme, die Gerhard Gülzow, der Vor503 Außerordentliche Mitgliederversammlung des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen am 10. 1. 1966 (EZA Berlin 512/151). Vgl. auch Thesen des Konvents der zerstreuten Ostkirchen zur Ostdenkschrift vom 10. 1. 1966. Anhang zur Niederschrift der außerordentlichen Mitgliederversammlung des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen am 10. 1. 1966 (EZA Berlin 512/151). 504 Wort zur Synodalerklärung von 1966, o. D., o. V. (EZA Berlin 512/151). 505 Besch, Günther: Wort an die Vertriebenen vom 6. 3. 1970 (BArch Koblenz B 234/1151). 506 Schreiben von Gerhard Gülzow an Kurt Scharf, 25. 9. 1965 (EZA Berlin 632/7). 507 Rudolph, Kirche Bd. II, 175.

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sitzende des OKAs, noch vor der Publikation verfasst hatte,508 lassen sich jedoch durchaus tiefgehende Kritikpunkte herauskristallisieren, die wiederum auf die integrationspolitische Implikation und Funktion der Denkschrift zielten. Ein gravierendes Defizit war für Gülzow die mangelnde Involvierung des OKAs: „Unsere ausdrückliche Bitte, an der Redaktion der Denkschrift beteiligt zu werden, ist mit Entschiedenheit abgelehnt worden.“509 Auch die Leistungen der kirchlichen Vertriebenenarbeit, die „Bolschewismus und Radikalismus“ verhindert habe, sah Gülzow vernachlässigt. Der Danziger Pfarrer verlieh seinem Wunsch Ausdruck, daß die Denkschrift über die Feststellung hinausgegangen wäre, daß alle diese Einrichtungen eine wichtige Arbeit geleistet haben. Sicher haben wir Fehlentwicklungen nicht verhindern können. Auch die Durchbrechung der Isolierung unserer Arbeit ist uns vielfach nicht gelungen. Dennoch wäre es richtig, in diesem Zusammenhang einmal festzustellen […], daß die schlimmste mögliche Fehlentwicklung im Chaos zum Bolschewismus und Radikalismus hin wahrscheinlich in erster Linie durch die Kirchen, und zwar vornehmlich die Pfarrer und Helfer der zerstreuten Kirchen aus dem Ostraum, die sich ihrer Landsleute und Glaubensbrüder annahmen, verhindert worden ist.510

Viele Kommentatoren teilten die Einschätzung Gülzows, dass die Denkschrift ihrer seelsorgerlichen Intention nicht gerecht werde.511 Allerdings waren es unterschiedliche Argumente und Indizien, mit denen die Nicht-Verwirklichung des seelsorgerlichen Anspruches begründet wurde. In diesem Zusammenhang spielte auch das Argument eine Rolle, dass der OKA ausgeschlossen worden sei.512 Die Ackermanngemeinde, ein Zentrum der katholischen Ver508 Schreiben von Gerhard Gülzow an Kurt Scharf, 25. 9. 1965 (EZA Berlin 632/7). 509 Schreiben von Gerhard Gülzow an die Mitglieder des OKAs, 13. 11. 1965 (EZA Berlin 632/8). Dies war während der Aussprache der Synode kritisiert worden. Siehe Wortbeitrag Hübner. In: Kirchenkanzlei, Berlin und Potsdam, 227. 510 Schreiben von Gerhard Gülzow an Kurt Scharf, 25. 9. 1965 (EZA Berlin 632/7). Ähnlich auch Schreiben von Gerhard Gülzow an die Mitglieder des OKAs, 13. 11. 1965 (EZA Berlin 632/8); Wort von Günther Besch an die evangelischen Umsiedler, Flüchtlinge und Heimatvertriebene im Advent 1966 (EZA Berlin 650/80). 511 Anschließend erschien eine kaum überschaubare Zahl an Zeitungsartikeln, Aufsätzen und Leserbriefen. Eine kleinere, von Peter Nasarski herausgegebene Schrift enthält eine Auswahl dieser Kommentare, die größtenteils dem Umfeld kirchlicher und weltlicher Vertriebenenorganisationen entstammten. Diese Schrift enthält ausschließlich die ablehnenden Kommentare und nahm damit selbst eine klare politische Position ein. Der Herausgeber verbarg seine Haltung nicht, wenn er behauptete, die Denkschrift münze „Propagandapositionen“ in „Rechtspositionen“ um. Dennoch gibt die Schrift einen guten Überblick über die Kritik der Vertriebenenorganisationen. Siehe Nasarski, Stimmen. Die hier abgedruckten Stellungnahmen werden im Literaturverzeichnis nicht eigens nachgewiesen. 512 Auswirkungen der Denkschrift vor allem politisch. In: Ebd., 25 f.; Salm, Karl: Die Kirche als Anwalt der Stärkeren. In: Ebd., 37–39; Marienfeld, Werner: Versuch einer kirchlichen Autorisierung von Verzichtthesen. In: Ebd., 37 f.; und Wehrenfennig, Erich: Probleme der Heimatvertriebenen Kirchen des Südostens übergangen. In: Ebd., 57.

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triebenenarbeit, wandte ein, dass die Denkschrift zwar das Trauma der Vertriebenen zutreffend benenne, aber zugleich verstärkt habe.513 Die von der Gemeinschaft evangelischer Schlesier herausgegebene Zeitschrift „Schlesischer Gottesfreund“ bezeichnete den seelsorgerlichen Anspruch als „Verpackung“ für eigentlich politische Inhalte.514 Schließlich wurde der Denkschrift Lieb- oder Herzlosigkeit für die Situation der Vertriebenen und ihre Notsituation vorgeworfen oder der Kirche unterstellt, die Vertriebenen im Stich gelassen zu haben.515 Besonderes Interesse verdient der Kommentar des Juristen Kurt Rabl. Hatten einige der Vertriebenenseelsorger im Rekurs auf Wilhelm Brepohl angesichts der tiefgreifenden Mobilisierungs- und Modernisierungsprozesse gerade eine Überwindung der traditionellen Heimatbindung postuliert und beobachtet, diagnostizierte Rabl ein besonderes „Seßhaftigkeitsbedürfnis des modernen Menschen“, das von den Autoren der Denkschrift nicht anerkannt werde.516 Das Hilfskomitee der evangelisch-lutherischen Deutschen aus Polen machte auf die „lange Tradition guten Zusammenlebens“ zwischen Vertriebenen und Polen aufmerksam. Diese Zusammenarbeit ging allerdings mit einer gehörigen Portion Sendungsbewusstsein und der Behauptung deutscher Superiorität einher: So seien es die Deutschen gewesen, „die die Kultur und Wissenschaft nach Polen brachten und die Wirtschaft aufbauten.“517 Für manche Kommentatoren und Betroffene konnte die Denkschrift ihren seelsorgerlichen Auftrag allein aufgrund ihrer politischen Grundaussagen, die den Verzicht auf die Heimat nahelegten, nicht erfüllen. Der in der Vertriebenenseelsorge tätige, der Denkschrift positiv ge513 Rundschreiben der Ackermanngemeinde vom Dez. 1965. In: Nasarski, Stimmen, 19 f.; Freiherr von Fricks, Otto/Krause, Gerhard: Im Widerspruch zu den theologischen Grundlagen. In: Ebd.; und Hohenstein, Werner: Die Wiedervereinigung äußerst belastet. In: Ebd., 65 f. 514 Auswirkungen der Denkschrift sind vor allem politisch. In: Ebd., 25 f. 515 Von Lieblosigkeit und Verständnislosigkeit sprachen: Rogalla, Erwin: Wahrheit und politische Wirklichkeit sind zwei. In: Ebd., 61 f.; Blessing, Georg: Vertriebenencharta nicht erwähnt. In: Ebd., 70; und Rohde, Gotthold: Polens Lebensraum-Argumentation ein Trugschluss. Auszüge aus einem Brief an Landesbischof D Dr. J. Lilje. In: Ebd., 54–56. Der Vorwurf der „Lieblosigkeit“ brachte auch der OKK vor: Thesen des Konvents der zerstreuten Ostkirchen zur Ostdenkschrift vom 10.1.1966. Anhang zur Niederschrift der außerordentlichen Mitgliederversammlung des Konvents der zerstreuten evangelischen Ostkirchen am 10.1.1966 (EZA Berlin 512/151). Den Vorwurf der Lieblosigkeit erhebt auch Wendebourg, Kirche, 34 f. 516 Rabl, Kurt: Juristische Argumentation der Denkschrift unhaltbar. In: Nasarski: Stimmen, 42. Ein Indiz dafür, dass die Denkschrift ihrem seelsorgerlichen Anspruch nicht gerecht werde, war zudem die bei Gülzow und anderen Kommentatoren zu findende Vorstellung, dass die Denkschrift das Versöhnungspotential der Vertriebenen nicht zur Kenntnis genommen habe. Siehe Schreiben von Gerhard Gülzow an Kurt Scharf, 25. 9. 1965 (EZA Berlin 632/7). Andere Kommentatoren verwiesen auf die praktische Versöhnungsarbeit, die von den Vertriebenen geleistet werde. So zum Beispiel: Steffani, Johannes: Denkschrift unterschlägt langjährige evangelische Kontakte im Osten. In: Nasarski: Stimmen, 59 f.; und Marzian, Herbert: Ein Tabu der Ignoranten. In: Ebd., 72 f. 517 Stellungnahme des Hilfskomitees der evangelisch-lutherischen Deutschen aus Polen: Gutes Nachbarschaftliches Zusammenleben ist möglich. In: Ebd., 73.

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genüberstehende Pfarrer Richard Hoppe berichtete von einem Brief, den er von einem Heimatvertriebenen erhalten hatte: Durch die Denkschrift ist das Weh um die verlorene Heimat wieder neu aufgebrochen. Jetzt hat man die Heimat erst ganz verloren. Bis dahin fühlte man sich in der Kirche noch etwas zu Hause. Aber, Gott Lob, der Herr der Kirche bleibt uns treu, und die ewige Heimat kann uns niemand rauben. […]. Wir wollen gewiß keinen Krieg um die alte Heimat. Das wäre neue Schuld. Aber sie schon vorher, ehe überhaupt darüber verhandelt wird, freiwillig anzubieten, das schmerzt doch sehr.518

Ebenfalls von integrationspolitischer Relevanz ist die Diskussion der gesamtgesellschaftlichen Integrationsfunktion der Kirche, die für manche Kommentatoren anlässlich der Denkschrift infrage stand. Dies schlägt sich in zwei Argumenten nieder: Einerseits in der von vielen Kommentatoren beobachteten oder behaupteten Entfremdung zwischen Vertriebenen und Kirche, andererseits in der Aufkündigung der Solidarität von Kirche und deutschem Volk, die manche Kommentatoren beobachteten und zugleich auf eine angebliche „linksprotestantische Dominanz“ im EKD-Protestantismus zurückführten. Nach Gülzow habe die Denkschrift eine „Front […] aufgerissen bzw. bloßgelegt“, die sich „durch alle Gruppen und Parteien hindurch“ ziehe.519 Die Notgemeinschaft evangelischer Deutscher gewann den Eindruck, „daß das Verhältnis der Evangelischen Kirche zu Staat, Volk und Vaterland nicht mehr in Ordnung ist.“520 Einige glaubten zudem, dass auf das „Laster der Vaterlandsvergötzung“ nun das „Laster der Vaterlandsverleugnung“ gefolgt sei, für das die Denkschrift ebenfalls stehe.521 Diese Diskussion begegnet keineswegs nur im Zusammenhang mit der Denkschrift, sondern wurde auch darüber hinaus geführt. In den 1960er Jahren waren eine Reihe an Schriften erschienen, die „einen Riß zwischen der Tradition kirchlich-nationalen 518 So ein Brief, den Pfarrer Hoppe von einem Vertriebenen 1966 erhalten hatte. Hier nach Rudolph, Kirche Bd. II, 206. 519 G lzow, Gerhard: Den Boden der Wirklichkeit verlassen. In: Nasarski, Stimmen, 66 f. Andere Stimmen sprachen vom Samen der Spaltung, den die Denkschrift gelegt habe. Siehe Rumbaur, Waldemar: Das richtige Maß finden – eine eminent wichtige Aufgabe. In: Ebd., 15 f. 520 Notgemeinschaft evangelischer Deutscher: Im evangelischen Kirchenvolk Deutschlands geht die Sorge um! In: Ebd., 103–105. 521 Rumbaur, Waldemar: Das richtige Maß finden – eine eminent wichtige Aufgabe. In: Ebd., 15 f. Hierbei handelte es sich um ein Zitat aus dem Buch des Dortmunder Pfarrers Alexander Evertz mit dem Titel „Der Abfall der evangelischen Kirche vom Vaterland“, das Raumbauer zur Lektüre weiterempfahl. Evertz gehörte zu den Gründungsmitgliedern der „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher“ an. Pikant ist, dass ein an Evertz adressierter Brief von Bischof Dibelius an die NPD gelangte und von dieser als Werbung eingesetzt wurde. In diesem Brief äußerte sich der ehemalige Ratsvorsitzende zustimmend über Evertz’s Buch. Wahrscheinlich spielte Evertz diesen Brief der NPD selbst zu. Das geht hervor aus: Hirtenwort. In: Der Spiegel, 21. 2. 1966, 14. Zu Evertz Buch auch Lepp, Tabu, 550. Zu Evertz, Kritik an der Denkschrift: Evertz/Petersmann/Fechner: Revision.

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Denkens und der vermeintlichen Lösung der evangelischen Kirche aus jener Bindung abzielen,“ für die die Denkschrift symptomatisch stehe.522 Gegenüber den theologischen und ostpolitischen Aussagen kam den integrationspolitischen Thesen der Denkschrift eine geringe Bedeutung zu. Einige wenige Belege lassen sich dennoch finden, in denen Repräsentanten der weltlichen und kirchlichen Vertriebenenorganisationen auf diesen Teil eingingen. Für den Präsidenten des BdV, Wenzel Jaksch, war der zweite Teil der Denkschrift letztlich ein strategisches Ablenkungsmanöver. Die Denkschrift hinterlasse den fatale[n] Eindruck, daß die Bezugnahme auf die Lage der Vertriebenen in der bekannten EKD-Denkschrift nur ein Aufhänger war, um gegen das Heimatrecht der vertriebenen Deutschen argumentieren zu können.523

Unglaubwürdig waren die integrationspolitischen Aussagen für Jaksch auch deshalb, weil sich die Kirche nicht für eine Verbesserung der Situation eingesetzt habe. Beleg war ihm das fehlende Wort der Kirche zur 19. Lastenausgleichsnovelle: Wir lesen dort das Eingeständnis, daß der Prozeß der Eingliederung, nicht in dem gewünschten Maße gelungen ist. […] Das berechtigt uns zur Frage: Warum setzen sich jene kirchlichen Kreise, die den Vertriebenenverbänden hochmütige Belehrungen geben, nicht für eine Verbesserung des Lastenausgleichs ein? Warum schweigen die Herren Prof. Raiser, OKR Wilkens und auch Bischof Scharf zur Verschleppung der längst versprochenen 19. LAG-Novelle durch die Bundesregierung? Ich frage weiter: Liegt eine kirchenpolitische Frontstellung gegen Millionen seelisch verwundeter Menschen, liegen Pauschalverdächtigungen gegen die Berliner Heimatvertriebenen im Rahmen des religiösen Auftrages der Evangelischen Kirche vor? Wäre es nicht besser, den Weg der Versöhnung innerhalb des zerrissenen deutschen Volkes zu gehen, statt den Machthabern von Pankow oder Warschau nach dem Munde zu reden?524

Daher möge sich, „die EKD […] für eine rasche Durchführung des Lastenausgleichs einsetzen, damit die Vertriebenen und nicht erst ihre Erben den Lastenausgleich erhalten.“525 Darüber hinaus nahm kaum einer der Kommentatoren auf die von Ludwig Landsberg entfaltete sozioökonomische und 522 Hier zitiert nach Rudolph, Kirche Bd. II, 227 f., FN 68. Hierzu z. B. Gerstenmaier, Eugen: Gilt das Vaterland nichts mehr? In: Die Welt, 24./25. 12. 1965. 523 Hier zitiert nach Rudolph, Kirche Bd. I, 159 f. 524 Ebd., 460. 525 Aktenvermerk über den Besuch von Gundert und Besch beim Bundesvertriebenenminister und dem Präsidenten des BdV, 5. 10. 1966 (EZA Berlin 2/4298). Zur Verbesserung des Verhältnisses von BdV und EKD regte Präsident Jaksch gemeinsame Gespräche an. Insgesamt fanden während der Jahre 1966 und 1967 vier solcher Gespräche statt, die die bestehenden Differenzen nicht ausräumten konnten. Das erste Gespräch fand im Januar 1966 in Akademie Bad Boll statt. Siehe Versçhnung. Vgl. auch Rudolph, Kirche Bd. II, 258.

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gesellschaftsdiagnostische Dimension Bezug, die in der Denkschrift einen großen Umfang einnahm. Diese wurden angesichts des hohen Erregungspotentials der außenpolitischen und theologischen Aussagen der Denkschrift nicht zur Kenntnis genommen oder ignoriert. Andere Kommentatoren kritisierten die Denkschrift dafür, dass sie das mitgebrachte geistliche oder kulturelle Erbe der Vertriebenen nicht ausreichend würdige. So bemängelte eine Studie der schlesischen Landsmannschaft die mangelnde „Anerkennung für die Leistungen der östlichen Landeskirchen als Hort der Glaubenstreue und verbindlichen Toleranz“ und bedauerte, „daß sich kein Wort des Erschreckens“ darüber finde, „daß der östliche Eckpfeiler ihrer Kirche in Europa zerschlagen wurde“, was als „lieblose Entfremdung vom pastoralen Dienst am Nächsten“ bewertet wurde.526 Für Eberhard Schwarz, den späteren Vorsitzenden der Gemeinschaft evangelischer Schlesier, waren die Folgen der Vertreibung, das „Zerreißen der geschichtlichen Lebenszusammenhänge“, die Radikalität des erfahrenen Traditionsabbruches, die „Zerschlagung der in Jahrhunderten gewachsenen Stammesart“ und der Verlust der Gemeinschaft ebenfalls geistig unbewältigt geblieben.527 Der westdeutschen Gesellschaft attestierte er viel Unkenntnis über „ihre Eigenart [gemeint sind die Ostkirchen, FT] und ihre kirchliche Gestalt […], wie ja überhaupt das Blickfeld nach Osten merkwürdig beschränkt gewesen ist.“528 Aus diesem Grund war die Eingliederung trotz der wirtschaftlichen Erfolge noch unvollendet: „Denn der Kirche muss deutlich sein, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt und der Satz ,Ubi bene ibi patria‘ nur eine sehr oberflächliche Wahrheit ausspricht.“529 Auch die innerkirchliche Integration ist für Schwarz unvollendet geblieben, was er auf das kirchenrechtliche Territorialprinzip zurückführte.530 Angesichts der scharfen Debatten fand im Januar 1966 ein Gespräch zwischen Vertretern der EKD, den Initiatoren der Denkschrift und Vertretern des OKAs sowie des BdVs statt. Dieses hatte eine temporäre Aussöhnung zur Folge, auch wenn die grundlegenden Differenzen nicht bereinigt werden konnten und der Konflikt bei verschiedenen Anlässen immer wieder hervorbrach.531 Auf der Tagung standen die Schuldfrage und die politischen und 526 Studie der Landsmannschaft Schlesien: Theologische Theorie und kirchliches Verwaltungsdenken. In: Nasarski, Stimmen, 33. Ebenso bemängelte Eberhard Schwarz, dass das ostprotestantische Erbe in der Denkschrift nicht gewürdigt werde. Dies war für Schwarz Symptom einer Geschichtslosigkeit der gesamten EKD, die die „Vollendung der Gegenreformation“ durch einen „nationalistischen Katholizismus in Polen“ unterschätzt habe (Schwarz, Eberhard: Von der geschichtlichen Verantwortung entbunden? In: Ebd., 58 f.). 527 Schwarz, Verantwortung, 581. Ausführlich: Schwarz, Vermächtnis. 528 Schwarz, Verantwortung, 582. 529 Ebd., 582. Hier betonte er die Versöhnungsbereitschaft der Vertriebenen. Vgl. ebd., 585. 530 Ebd., 584. 531 Auf der Tagung mit dem Titel „Versöhnung und Recht“, die vom 21.–23. 1. 1966 in der evangelischen Akademie Bad Boll stattfand, referierten Erwin Wilkens und Gerhard Gülzow über die Ziele der Denkschrift und ihre Aufnahme; Hanns Lilje über das politische Engagement der Kirche, der Völkerrechtler und Jurist Eberhard Menzel und der Präsident des BdV, Wenzel

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rechtlichen Aspekte der Deutschlandfrage, der Grenzfrage und der Vertreibung im Zentrum.532 Wenzel Jaksch vom BdV würdigte den zweiten Teil der Denkschrift keines Wortes.533 Wilkens erläuterte die Motive, bekräftigte den seelsorgerlichen Anspruch der Denkschrift und ging dabei auf den zweiten Teil ein.534 Insgesamt führte er die Spannungen zwischen Vertriebenen und Einheimischen sowie die Vehemenz, mit der das Recht auf Heimat gefordert wurde, darauf zurück, dass die Vertriebenen die Zuständigkeit für die Heimatfrage und den deutschen Osten beanspruchten, während die Einheimischen gegenüber dem „deutschen Osten“ völlig „gleichgültig“ seien.535 Mit den Erwägungen zur „Lage der Vertriebenen in Gesellschaft und Kirche“ habe die Denkschrift „einen guten, vielleicht ihren überzeugendsten Dienst getan.“536 Für Wilkens habe „mit der gelungenen wirtschaftlichen Eingliederung der Vertriebenen die innere, menschliche, gesellschaftliche, geistige und politische Eingliederung nicht Schritt gehalten.“537 Gerhard Gülzow sah in der Denkschrift das ostdeutsche protestantische Erbe in kultureller und geistlicher Hinsicht nicht ausreichend gewürdigt.538 Am ausführlichsten ging Bundesvertriebenenminister Johann Baptist Gradl, der selbst kein Vertriebener war, auf den zweiten Teil der Denkschrift ein und paraphrasierte dabei im Wesentlichen ihre Argumente und Analysen. Mit Blick auf die staatlichen Leistungen kam Gradl zu dem Ergebnis, „daß uns das im ganzen nicht schlecht gelungen ist.“539 Gradl verteidigte ausdrücklich die sozial- und wirtschaftspolitischen Grundsatzentscheidungen der Jahre 1948–1950, insbesondere die dort entschiedene Lastenausgleichskonzeption, auch wenn, wie von einigen

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Jaksch, über die politischen und rechtlichen Aspekte der deutschen Ostgebiete. Bundesvertriebenenminister Johann-Baptist Gradl referierte über die „Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für die Vertriebenen“ (Versçhnung). Die konträren Auffassungen hierzu zeigen sich insbesondere anhand der Referate von Eberhard Menzel und Wenzel Jaksch. An der Podiumsdiskussion nahmen zudem Gülzow, Lilje, Raiser und Reimhold Rehs teil. Siehe ebd., 30–46,47–58 und 59–71. Jaksch, Wenzel: Die Massenvertreibung in politischer, rechtlicher und historischer Hinsicht. In: Versçhnung, 47–58. Wilkens, Erwin: Ziele der Denkschrift. In: Versçhnung, 4. Wilkens bezeichnete die Reaktionen auf die Denkschrift als „klischierte Reaktionsabläufe“ (ebd., 8). Hanns Lilje bekräftigte den seelsorgerlichen Auftrag. Siehe ebd., 28. Daneben spielten die Schuldfrage und theologische Erwägungen eine Rolle. Ebd., 9. Ebd., 8. Ebd. Ebd., 17 f. Die Denkschrift erwähne demnach mit keinem Wort, dass mit dem Verlust Ostpreußens die „älteste evangelische Landeskirche der Welt“, dass „3 000 Kirchen“ und „3 823 Kirchengemeinden“ verloren gegangen seien. Daneben kritisierte er, dass aus der Vertreibung keine „Erweckungsbewegung“ hervorgegangen sein, die zu einer „neuen Lebendigkeit unseres kirchlichen Lebens […]“ hätte führen können. Zudem sei der Versöhnungswille der Vertriebenen und die Arbeit der Vertriebenen für die Versöhnung nicht gewürdigt worden (ebd., 15). Ebd., 74. Gradl berichtete, dass die französische Regierung hinsichtlich der Integration der Algerienfranzosen um Rat gefragt habe.

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beklagt, aus der „Stunde Null“ keine neue „gesellschaftliche Ordnung“ entstanden sei, „die krasse Gegensätze an Einkommen, Vermögen und gesellschaftlicher Position überwunden hätte.“540 Als Defizit benannte der Minister, dass „die Vertriebenen […] auf der Stufenleiter der sozialen Hierarchie zurückgeblieben“ seien.541 Schließlich würdigte der Minister die Denkschrift: Diese hat hier eine gute Hilfe geleistet, indem sie darauf hinwies, daß man sich nicht nur mit dem begnügen kann, was erreicht ist, jedenfalls nicht, wenn man das Wort von der Solidarität ernst nimmt.542

Dass die integrationspolitischen Aussagen der Denkschrift einen politischen Prozess in Gang setzten, scheint insgesamt schon deshalb fraglich, weil sich der Lastenausgleich nach wie vor im Novellierungsprozess befand, der bis in die 1970er Jahre hinein andauerte. Indirekt bewertete der Minister die Denkschrift als nicht näher spezifizierte „Hilfe“ im Gesetzgebungsprozess. Die „Wirkung“ einer solchen argumentativen oder auch symbolischen Unterstützung ist freilich kaum messbar. 4.5.4 Die Rezeption in allgemeinen kirchlichen und säkularen Medien Die allgemeine, d. h. nicht-vertriebenenspezifische überregionale Presse lässt andere Rezeptionsmuster erkennen als die vertriebenenspezifische. Die allgemeine Presse berichtete über die Denkschrift, die begleitenden Auseinandersetzungen oder über die Stellungnahmen einzelner Prominenter oder Verbände in einem beobachtenden Duktus.543 Gelegentlich lassen sich auch positionierende Artikel finden. Die zustimmenden oder abwägenden Kommentare scheinen dabei zu überwiegen.544 Obwohl sich gerade in den 1960er 540 Ebd., 75. 541 Ebd., 76. Indizien waren der hohe Vertriebenenanteil an der Arbeiterschicht – 61 % zu 46 % der Einheimischen – sowie die Ungleichheiten in der Vermögensbildung. Die Zahlen wichen nur geringfügig von den in der Denkschrift genannten ab. Siehe Die Lage der Vertriebenen, 13. Daneben nannte er die schwierige Situation der vertriebenen Landwirte und die niedrige Selbstständigenquote, die aber auch mit dem Strukturwandel der gewerblichen Wirtschaft in Beziehung gesetzt werden müsse. Hierzu Versçhnung, 77 f. 542 Ebd., 77. 543 Die Jahrgänge 1965–1967 der Zeitungen „FAZ“, „SZ“, „Die Welt“, „Der Spiegel“ und „Die Zeit“ wurden hier vollständig ausgewertet. Wegen der großen Zahl an Stellungnahmen wird hier auf Einzelnachweise verzichtet. 544 Auch hier werden nur ausgewählte Beispiele genannt: Wenger, Paul Wilhelm: Notwendiger Appell zur Versöhnung. In: Rheinischer Merkur, 1. 10. 1965; Protestantische Expertise. In: FAZ, 19. 10. 1965, 2. Während „FAZ“ und „Zeit“ tendenziell affirmativ kommentierten, war „die Welt“ skeptischer und stellte die Frage, ob die Kirche ihren Auftrag überschritten habe. Siehe Kirche und Politik. In: Welt, 6. 11. 1965, 1; Conrad, Bernt: Recht auf Versöhnung. In: Welt, 21. 3. 1966, 2; Bismarck, Philipp von: Der Streit um die Denkschrift. Philipp von Bismarck setzt sich im Namen der Vertriebenen mit den Argumenten der EKD auseinander. In: Die Zeit,

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Jahren eine zunehmend kirchenkritisch eingestellte Medienöffentlichkeit formierte, wurde die Legitimität der Kirche, sich in gesellschaftlichen und politischen Frage zu positionieren, in der Mehrheit der Kommentare bejaht.545 Einige Publikationsorgane druckten zudem Ausschnitte der Denkschrift oder Zusammenfassungen ab. Während die „Welt“ lediglich die außen- und ostpolitischen Thesen der Denkschriften paraphrasierte, druckten andere Medien Ausschnitte oder Zusammenfassungen aller Kapitel, d. h. auch des integrationspolitischen Teils ab.546 Daneben fand auch in der weltlichen Presse eine Diskussion der Denkschrift statt. Philipp von Bismarck, Sprecher der pommerschen Landsmannschaft, erwähnte in seinem kritischen Kommentar den integrationspolitischen Teil kurz und würdigte diesen als „in vieler Hinsicht sehr bedenkenswert.“547 Integrationspolitisch relevant waren zwei weitere Einwände von Bismarcks: So kritisierte er, „daß es auch die Kirche in den vergangenen zwanzig Jahren weitgehend an einer in diesem Sinne recht verstandenen Solidarität mit den Vertriebenen hat fehlen lassen“, wie dies im zweiten Kapitel zum Ausdruck komme – und wofür die Denkschrift selbst ein Indiz sei.548 Zudem kritisierte er den Ausschluss der Vertriebenen von den Vorbereitungen.549 Der Soziologe Dietrich Goldschmidt, ebenfalls Mitglied der Kammer für öffentliche Verantwortung und daher am Entstehungsprozess beteiligt,550 verteidigte in seinem Gegenkommentar das Vorgehen der Kammer sowie die Inhalte der Denkschrift und ging dabei auf den integrationspolitischen Teil ein, der notwendig sei, um die „Zusammenhänge der Probleme“ in ihrem „Gesamtzusammenhang darzustellen.“551 Demnach sei die wirtschaftliche Integration „vergleichsweise am besten gelungen“, während

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12. 11. 1965; Goldschmidt, Friedrich: Der Streit um die Denkschrift. Friedrich Goldschmidt antwortet Philipp von Bismarck. In: Die Zeit 19. 11. 1965; und Dçnhoff, Marion: Kirche auf politischen Abwegen? In: Die Zeit, 22. 10. 1965, 1. Erwin Wilkens glaubte überwiegend zustimmende Kommentare in der Presse zu beobachten. Siehe Versçhnung, 2. Vgl. auch Heck, EKD, 173. Heck, EKD, 173. Nikolai Hannig beobachtet in den 1960er Jahren die Entstehung eines kirchenkritischen Religionsjournalismus. Siehe Hannig, Religion. Die offene Wunde der Vertreibung. In: FAZ, 2. 11. 1965, 11; Kirche will Bewegung in die Ostpolitik bringen. In: SZ, 18. 10. 1965, 1 f. Kirche wünscht Dialog auf neuer Ebene. In: Die Welt, 16. 10. 1965, 2. Ein anderer Abdruck in der „Welt“ ging allerdings nur auf die völkerrechtlichen und außenpolitischen Erwägungen ein. Siehe Die evangelische Kirche entfacht einen leidenschaftlichen Streit: Soll man deutsches Land im Osten opfern? In: Welt, 22. 11. 1965. Bismarck, Philipp von: Der Streit um die Denkschrift. In: Die Zeit, 12. 11. 1965. Ebd. Allerdings gab von Bismarck zu, dass „zwei führenden Vertretern der Vertriebenen Gelegenheit zu einem Referat vor der Kammer mit anschließender Aussprache“ gegeben wurde, jedoch auf eine Fortsetzung des Dialogs verzichtet worden sei (Bismarck, Philipp von: Der Streit um die Denkschrift. In: Die Zeit, 12. 11. 1965). Heck, EKD, 153. Goldschmidt, Friedrich: Der Streit um die Denkschrift. In: Die Zeit 19. 11. 1965.

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die soziale wie kirchliche wesentlich unvollkommen vollzogen, ja bestimmte, besonders schmerzliche Züge der neuen Situation, wie die Ächtung der gesellschaftlichen Stellung […] und die Fremdheit in der Umgebung, überhaupt nur zu mildern, aber nicht aufzuheben

seien.552 Goldschmidt stellte schließlich die Integrationsproblematik und Heimatsehnsucht in einen Zusammenhang: „Je unbefriedigender dem einzelnen Menschen die Integration in die neue Umgebung gelingt, umso größer wird die Sehnsucht nach der alten Heimat.“553 Der Bundesvertriebenenminister Johann Baptist Gradl, der die Denkschrift insgesamt differenziert bewertete, würdigte den Teil, der sich mit der Situation der Vertriebenen in der Gesellschaft befasste.554 Marion Gräfin Dönhoff verteidigte die Vertriebenenund Ostdenkschrift, lobte dabei ihren abwägenden Charakter und erwähnte die Integrationsdefizite, wobei sie dabei vor allem den traumatischen Heimatverlust und die daraus resultierenden seelischen oder inneren Integrationsdefizite im Blick hatte.555 Es genüge nicht, dass sich die öffentliche Meinung damit beruhige, dass materieller Lebensstandard und soziale Sicherheit erreicht worden seien.556 Das theologische Postulat eines „Ja zum Gericht Gottes“ empfand sie allerdings als „überraschend.“557 Gerade dieser Teil werde die Vertriebenen zu Fragen veranlassen.558 Goldschmidt und Dönhoff nahmen also Integrationsdefizite wahr, verorteten sie jedoch nicht auf einer materiellen oder wirtschaftlichen Ebene. Dabei hatte die Denkschrift materielle Defizite und Erfolge zugleich thematisiert. Ludwig Raiser griff in seiner Kommunikations- und Verteidigungsstrategie sowohl auf kirchliche als auch auf nichtkirchliche Medien zurück und ließ seine vor der Synode vorgebrachten Argumente in der überregionalen Tagesund Wochenpresse wörtlich abdrucken. So wiederholte er im „Spiegel“ das Argument, dass die Denkschrift nicht „lieblos“ gehandelt habe.559 Weder verschleiere die Denkschrift das Unrecht der Vertreibung, noch „achte sie die Bindung des Menschen an seine Heimat und den Schmerz der Vertriebenen um den Verlust des Wurzelbodens wahrhaftig nicht gering.“560 Mehrere 552 553 554 555 556 557 558 559

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Ebd. Ebd. Gradl für Versöhnungsgrenze zwischen Deutschland und Polen. In: Welt, 28. 10. 1965, 2. Dçnhoff, Marion: Kirche auf politischen Abwegen? Die Denkschrift der EKD zur Ostpolitik. In: Die Zeit, 22. 10. 1965, 1. Ebd. Ebd. Ebd. Einen weiteren befürwortenden Kommentar verfasste Klaus von Bismarck, der auf den integrationspolitischen Teil nicht einging. Siehe Bismarck, Klaus von: Nachbar Polen. Noch regieren die Vorurteile – hüben wie drüben. In: Die Zeit, 16. 6. 1967. Raiser, Ludwig: Das sagt man doch als guter Deutscher nicht. In: Der Spiegel, 17. 11. 1965, 71–73; und Bericht von Raiser über die Denkschrift vor der Synode, 8.–10. 11. 1965 (EZA Berlin 650/85). Ähnlich Blick nach Osten. Realismus als Gebot deutscher Politik. In: Die Zeit, 18. 3. 1966. Ders: Das sagt man doch als guter Deutscher nicht. In: Der Spiegel, 17. 11. 1965, 71–73.

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Kommentatoren in der säkularen Presse argumentierten ähnlich. Der Kommentator der „SZ“ paraphrasierte ausführlich den integrationspolitischen Teil und verwies auf die Ungleichheit in der Eigentums- und Vermögensverteilung. Gerade aufgrund des integrationspolitischen Teils sah er die Kritik der Vertriebenenverbände als ungerechtfertigt an: Über den Zorn der Vertriebenenverbände, die die Denkschrift der evangelischen Kirche zum Flüchtlingsproblem und zur deutschen Ostpolitik heftig angegriffen haben, sollte nicht in Vergessenheit geraten, daß ein umfangreicher Abschnitt dieser Denkschrift […] sich mit der Frage der gesellschaftlichen Eingliederung der Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik beschäftigt. Diese ausgewogene Darlegung stellen erst den richtigen Zusammenhang her.561

Eine intensive Diskussion, an der sich die Initiatoren und Verfasser der Denkschrift, einzelne Bischöfe und prominente Theologen beteiligten, fand zudem in den Zeitschriften „Christ und Welt“, „Sonntagsblatt“ und der „ZEE“ statt. Wolfgang Schweitzer, Helmut Thielicke, Hanns Lilje, Wolfhart Pannenberg und Georg Picht verfassten jeweils befürwortende, Form und Inhalt verteidigende Stellungnahmen.562 Interessanterweise waren es die befürwortenden Stellungnahmen und die Verteidigungsschriften der Koautoren, die auf den integrationspolitischen Teil der Denkschrift verwiesen, um den seelsorgerlichen Anspruch der Denkschrift zu untermauern. Landesbischof Hanns Lilje würdigte die „Noblesse“ des zweiten Teils, ohne darauf näher einzugehen.563 Für Erwin Wilkens bestand der seelsorgerliche Dienst nicht allein darin, „das Unglück als besonderen Weg Gottes zu verstehen und insofern zu 561 Sch tz, Christian: Heimatgefühl und politische Wirklichkeit. Ein Überblick über die Argumentation der evangelischen Denkschrift zu Problemen der Vertriebenen. In: SZ, 21. 10. 1965; und ders.: Die Denkschrift hat überlebt. In: SZ, 29. 10. 1965, 4. 562 Auch hier werden nur ausgewählte Beispiele aus der protestantischen Presse genannt: Schweitzer, Erwägungen, 34–43; ders., Versöhnung, 116–118; Thielicke, Was geht denn das die Kirche an? In: Sonntagsblatt, 31. 10. 1965; Lilje, Hanns: Das geht die Kirche etwas an. In: Sonntagsblatt, 14. 11. 1965, 3 f.; und Picht, Georg: Abfall vom Vaterland? Die Kirche und die EKD-Denkschrift. In: ChrWelt, 7. 1. 1966, 12. Gerstenmaier setzte sich mit dem Verhältnis von Kirche und Nation auseinander und plädierte für einen Mittelweg aus Anerkennung des Vaterlands als „Teil der von Gott geliebten Welt“ und einer kritischen Distanz zum Vaterland. Die Denkschrift wollte er dabei nicht als Aufkündigung der Vaterlandsliebe verstanden wissen. Auch in der allgemeinen und überregionalen kirchlichen Presse überwog insgesamt die zustimmende Kommentierung. Allein in der Zeitschrift „Christ und Welt“ erschien ein einziger ablehnender Kommentar. Siehe Gross, Johannes: Die Denkschrift und ihre Folgen. In: ChrWelt, 26. 11. 1965, 3. Picht widersprach dem jedoch scharf: Picht, Georg: Anders gesehen. Zur EKD-Denkschrift. In: ChrWelt, 10. 12. 1965, 4. Allerdings bezieht sich diese Beobachtung auf die größeren Kommentare. Leserbriefe sind hier nicht mit eingeschlossen und lassen nach einer ersten oberflächlichen Sichtung ein sehr viel heterogeneres Bild entstehen. Auch die Berücksichtigung lokaler und regionaler Medien dürfte das Spektrum deutlich erweitern. 563 Lilje, Hanns: Noch einmal: Die Denkschrift. In: Sonntagsblatt, 12. 12. 1965, 1 f. Ähnlich auch der bayerische Landesbischof vor der bayerischen Landessynode: Vieret Hofft lobt EKDDenkschrift. In: Welt, 27. 10. 1965, 2.

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bejahen“, sondern „unabweisbar ist die Aufgabe, eine neue Sozial- und Gesellschaftspolitik unter das Gebot der einen Schicksals- und Haftungsgemeinschaft des ganzen Volkes zu stellen.“564 Schließlich erklärte Georg Picht, Leiter der Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft, den integrationspolitischen Teil für den entscheidenden: Die Frage, was geschehen kann, um die Verhältnisse als solche menschenwürdig zu gestalten, […] ist besonders im Gedanken an die Vertriebenen eine sehr ernste Frage, denn niemand kann übersehen, daß unsere Gesellschaft den Vertriebenen alles Wesentliche schuldig geblieben ist. Die Teile der Denkschrift, die sich mit dieser Frage beschäftigen, haben bei Weitem die größte Bedeutung. Die Denkschrift ist das erste Dokument, in dem öffentlich mit großem Nachdruck ausgesprochen worden ist, was unsere Gesellschaft und unsere Politik an den Vertriebenen versäumt haben. Der positive Ausweg aus der Lage, auch aus der kirchlichen Lage, in der wir uns befinden, wäre, wenn wir diesen Teil der Denkschrift, die immer in den Hintergrund getreten ist, endlich in das Zentrum des kirchlichen Bewusstseins rücken würden, und wir gemeinsam darüber nachdenken könnten, was eigentlich zu geschehen hätte, um den Vertriebenen in unserem Land die Stellung einzuräumen, die ihnen gebührt.565

Die Fokussierung auf die Grenzfrage und den Sachverhalt, dass die Öffentlichkeit den zweiten Teil der Denkschrift nicht zur Kenntnis nehme, bewertete Picht als Ausdruck dafür, dass die Lage der Vertriebenen gar nicht ernst genommen werde: Der Denkschrift der Evangelischen Kirche geht es primär nicht um die Politik […], es geht ihr vor allem um das Schicksal der betroffenen Menschen. Gerade deshalb ist es ein Politikum von Gewicht, daß die Presse ihre Leser über den Abschnitt II der Denkschrift kaum informiert hat. Hier wird nämlich festgestellt, daß die Vertriebenen noch immer in der Sozialversorgung benachteiligt sind, daß ihnen weiterhin die Möglichkeiten zur Eigentums- und Vermögensbildung fehlen und daß die westdeutsche Gesellschaft den Vertriebenen offenbar vieles und Wesentliches schuldig geblieben ist. Man erregt sich über die Oder-Neiße-Grenze, aber man ist gleichzeitig weit davon entfernt, jene finanziellen und menschlichen Opfer zu bringen, an denen sich erweisen würde, wieweit man die Lage der Vertriebenen wirklich ernst nimmt. Die Denkschrift hat diese Forderung erhoben – die Organe der öffentlichen Meinung schweigen sie tot. Das ist auch eine jener deutschen Realitäten, mit denen es fertig zu werden gilt.566 564 Wilkens, Erwin: Ohne Haß und Gunst. Die neue Denkschrift der EKD. In: Sonntagsblatt, 24. 10. 1965, 1 und 13. 565 In der Umstellungskrise des politischen Bewusstseins. Gespräch mit Prof. Dr. Georg Picht über die „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher“. In: EvKo 1 (1968), H. 6, 304. Demgemäß kritisierte er die Presse dafür, dass diese diesen Teil totschweige. Siehe Picht, Georg: Anders gesehen. Zur EKD-Denkschrift. In: ChrWelt, 10. 12. 1965, 4. 566 Ebd.

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Die protestantische Bilanzierung des Integrationsprozesses

Schließlich rückte der seelsorgerliche Anspruch der Denkschrift ins Zentrum, wobei allerdings das gegen die seelsorgerliche Intention gerichtete Argument, dass der OKA von den Vorbereitungen ausgeschlossen worden sei, weder in der allgemeinen weltlichen noch in der kirchlichen Presse eine Rolle spielte. Ein Kommentator der „FAZ“ erblickte, ebenso wie die Verteidiger der Denkschrift, im integrationspolitischen Teil einen Beleg für die seelsorgerliche Intention, sah diese Intention aber durch die außenpolitischen und völkerrechtlichen Thesen konterkariert: Demnach hätte niemand etwas gegen die Denkschrift einzuwenden, wenn „die Denkschrift bei den seelsorgerlichen Fragen stehen geblieben wäre.“567 Wilkens und Picht beobachteten eine „Gereiztheit gegenüber politisch Andersdenkenden“ und leiteten daraus das Anliegen ab, „daß ein kirchlicher Beitrag zur Entspannung als eine seelsorgerliche Aufgabe erscheinen mußte.“568 Der Theologe Helmuth Thielicke rechtfertigte den seelsorgerlichen Anspruch damit, dass die Grenzfrage nicht nur eine Rechtsfrage sei, sondern auch die innere Haltung berühre, die sich des Rechtsarguments bloß bediene.569 Soweit aber innere Haltungen berührt seien, komme der Kirche ein Mitspracherecht zu. Insofern sei von einer „Überschneidungszone zwischen Politik und Seelsorge“ auszugehen.570 Die innere Haltung könnte in einem verzweifelten Wunschdenken, in einer (leider!) blind machenden Liebe zur verlorenen Heimat, sie könnte in einem NichtWahr-Haben-Wollen realer geschichtlicher Fakten, sie könnte sogar in einem starrköpfigen Pharisäertum und in der Unbußfertigkeit gegenüber dem Spruch der Geschichte bestehen. Das alles wären Haltungen, von denen das Seelsorgeamt der Kirche aufs Tiefste berührt sein muß. […] Man sollte dem Rat der EKD danken, daß er diese Frage des Gewissens, diese Schicksalsfrage unseres Volkes angefaßt und sie so ernst genommen hat, wie sie ist, daß er sachlich unerbittlich argumentiert und gleichwohl menschliches Erbarmen mit den Betroffenen durchscheinen lässt.571

4.5.5 Friedrich Spiegel-Schmidts Kritik an der Denkschrift Der einzige Beitrag, der sich ausführlich und kritisch mit dem zweiten Teil der EKD-Denkschrift von 1965 befasste, erschien 1969 in der Zeitschrift „Die Mitarbeit“ und stammte aus der Feder des ehemaligen Geschäftsführers des 567 Huppert, Egon: Zum Dialog nicht bereit. In: FAZ, 28. 10. 1965. 568 Wilkens, Erwin: Ohne Haß und Gunst. Die neue Denkschrift der EKD. In: Sonntagsblatt, 24. 10. 1965, 1 und 13. Ähnlich auch Lilje, Hanns: Das geht die Kirche etwas an. In: Sonntagsblatt, 14. 11. 1965, 3 f. Auch Thielicke leitete den seelsorgerlichen Anspruch aus einer „Verhärtung der Seelen ab“ (Thielicke, Helmut: Was geht denn das die Kirche an? In: Sonntagsblatt, 31. 10. 1965). 569 Ebd. 570 Ebd. 571 Ebd.

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OKAs Friedrich Spiegel-Schmidt, der die Anliegen der Denkschrift grundsätzlich unterstützt hatte.572 Dass der integrationspolitische Teil der Denkschrift „in Deutschland kaum ein Echo gefunden“ habe, führte der Theologe darauf zurück, „daß man den hier behandelten Fragen auch mit einer gewissen Verlegenheit gegenübersteht.“573 Ebenso wie viele Verteidiger wertete SpiegelSchmidt den zweiten Teil als „Ausdruck der Bekundung für diese Solidarität“ mit den Vertriebenen und urteilte hierüber: Es ging darum, das törichte Reden abzuwehren, den Vertriebenen ginge es besser als daheim, und um aufzuzeigen, daß auch hinter einer gelungenen wirtschaftlichen Eingliederung ein seelisches Verletztsein weiterbesteht, das nicht übersehen werden darf.574

Spiegel-Schmidt übte in seinem Aufsatz scharfe Kritik am Verfasser des zweiten Teils Ludwig Landsberg und würdigte explizit die Arbeiten der Flüchtlingssoziologie. Der zweite Teil der Denkschrift sei sehr stark vom subjektiven Eindruck seines Verfassers geprägt. Es wäre besser gewesen, hier einen der bewährten Soziologen […] zu beauftragen, statt einen aktiven Mann der Flüchtlingsverwaltung, dem in vielem die nötige Distanz fehlt.575

Die Aussage der Denkschrift, es fehle an Untersuchungen zur Vertriebenenproblematik, war für Spiegel-Schmidt ein Ausweis an Ignoranz. Explizit würdigte er dagegen die zahlreichen existierenden Untersuchungen in quantitativer und qualitativer Hinsicht.576 Der Theologe befasste sich insgesamt mit der wirtschaftlichen Situation, der gesellschaftlichen Situation und der Kultur. Die Daten, Wissensbestände, Analysen und Argumente entstammten im Wesentlichen der dreibändigen Sammeldokumentation des Vertriebenenministeriums von 1959, deren Ergebnisse er folglich ebenfalls übernahm.577 Zuerst ging Spiegel-Schmidt auf die verschiedenen sozioökonomischen Parameter ein. Die in der Denkschrift vertretene Ansicht, dass die Vertrie572 Spiegel-Schmidt, Vertriebenen in der Gesellschaft. Warum sich Spiegel-Schmidt erst 1969, also in einem völlig anderen politischen und kommunikativen Kontext zu diesem Thema äußerte, war den hier gesichteten Quellen nicht zu entnehmen. 573 Ebd., 144. 574 Ebd. 575 Ebd., 147. 576 Ebd., 144. Zur Denkschrift siehe Die Lage der Vertriebenen, 10. Den Werken Pfeils und Lembergs sowie der 1959 erschienenen dreibändigen Sammeldokumentation des Bundesvertriebenenministeriums zollte der Theologe besondere Anerkennung. Wenig Verständnis brachte er dafür auf, dass das Sammelwerk von den Autoren der Denkschrift nicht zur Kenntnis genommen wurde. 577 Spiegel-Schmidt, Vertriebene in der Gesellschaft, 144. Spiegel-Schmidt zitierte folgende Aufsätze und Publikationen: Pfeil, Flüchtling; dies., 5 Jahre; Lemberg, Entstehung; ders., Ausweisung; Lemberg/Edding, Eingliederung und Gesellschaftswandel; Edding, Bevölkerung und Wirtschaft; Herlemann, Bauern; Seyffert, Vertriebene im westdeutschen Handel; Albers, Eingliederung aus volkswirtschaftlicher Sicht; Karasek-Langner, Volkstum; und Pfeil/Buchholz, Eingliederungschancen.

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benen im Vergleich zu den Einheimischen überproportional stark am unteren Rand des Existenzminimums lebten, akzeptierte der Theologe nicht, da dieser Befund auf einer falschen Gleichsetzung von Sozialhilfe und Unterhaltshilfe basierte. Die Unterhaltshilfe war vielmehr als Rechtsanspruch auf einen erlittenen Verlust konzipiert, zudem war sie mit weiteren Sozialleistungen kombinierbar und bewirke damit eine „wesentliche soziale Rehabilitierung.“578 Zudem lebten viele ältere Vertriebenen aufgrund des stärkeren Familienzusammenhalts der Ostdeutschen im Haushalt ihrer Kinder, die in der Regel eine ausreichende Lebensgrundlage schaffen konnten.579 Dass der Lastenausgleich keinen „vollen Ausgleich“ gebracht habe, sei zwar richtig, jedoch sei dies auch nicht das Ziel und wirtschaftlich überhaupt nicht möglich gewesen.580 Entscheidender als das „materiale Kapital“ war für ihn das „menschliche und könnerische Potential“, „die Qualität, Arbeitswilligkeit, das Können und Durchsetzungsvermögen.“ Diese Eigenschaften hätten „stärkste Impulse des sozialen Wettbewerbs“ ausgeübt und entscheidend zum Wirtschaftswachstum beigetragen.581 Gerade die „eigene Leistung“ habe den Vertriebenen „Selbstachtung und Selbstbewußtsein“ zurückgegeben.582 Die These, dass die Vertriebenen unter den Selbständigen unterrepräsentiert seien, relativierte der Theologe durch eine berufsgruppenspezifische Analyse.583 Die geringe Zahl der Vertriebenenbetriebe führte der Theologe auf die spezifische Zählweise der Statistik zurück, die nur die im „persönlichen Besitz befindlichen Betriebe“ als „Vertriebenenbetriebe“ erfasse.584 Daneben hätten sich jedoch zahlreiche Kapitalgesellschaften im Bundesgebiet niedergelassen, die „vorher im Vertreibungsgebiet produzierten.“585 Der Vergleich der Einkommensverteilung ergab ein anderes Ergebnis als die Denkschrift. In der untersten Einkommensgruppe bis 3 000 DM seien Vertriebene und Einheimische gemäß ihrem Anteil an der Bevölkerung annähernd gleich vertreten, während die Vertriebenen in der mittleren Einkommensgruppe von 3 000 bis 25 000 DM sogar überproportional stark vertreten seien.586 Lediglich in der 578 Spiegel-Schmidt, Vertriebenen in der Gesellschaft, 148. 579 Ebd. Ein Indiz dafür war, dass die zahlreichen Altenheime, die für die Vertriebenen gegründet worden waren, überwiegend von einheimischen Älteren bewohnt würden. Unklar ist, woher diese Information stammt. 580 Ebd., 149. Ähnliches stellte er auch in Bezug auf die Wohnraumverteilung fest und bezeichnete es als „unbillig zu erwarten, daß bereits nach 20 Jahren ein voller Ausgleich stattgefunden“ habe (ebd., 149 f.). 581 Ebd., 149. 582 Ebd. 583 Ebd., 150. So sei der Anteil der Vertriebenen unter den Instrumentenbauern und Schuhmachern sehr hoch, während sie auf dem Bau unterrepräsentiert seien. 584 Ebd. 585 Ebd. In diesem Zusammenhang verwies er auf die 2 522 sudetendeutschen Betriebe in Bayern, denen mit 82951 Beschäftigen und einem Umsatz von 139 Mio. DM eine große wirtschaftliche Bedeutung zuzusprechen sei. 586 Ebd.

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Gruppe der Spitzenverdiener waren die Einheimischen stärker vertreten.587 Insgesamt monierte Spiegel-Schmidt, dass der zweite Teil der Denkschrift von „einem illusorischen Idealzustand“, nicht jedoch vom „wirtschaftlich Möglichen“ ausgehe.588 Ein weiteres wichtiges Themenfeld war für Spiegel-Schmidt die These des sozialen Abstiegs und das damit verbundene Trauma der Vertriebenen, das allerdings nicht mit einer „neuen sozialen Aktion“ zu lösen sei.589 Was die Denkschrift als sozialen Abstieg bezeichnete, war für Spiegel-Schmidt vielmehr Ausdruck einer „allgemeinen sozialen Umstrukturierung der Bevölkerung“, die mit einer „Umwertung der sozialen Struktur“ einhergehen müsse.590 Indiz dafür war, dass die Denkschrift die soziale Abstiegs-These mit dem Befund verknüpfe, dass die Vertriebenen überproportional in der Arbeiterschicht vertreten seien. Nach Spiegel-Schmidt sei der Schritt vom Selbständigen zum Arbeiter tatsächlich „bitter“ gewesen, aber die Vertriebenen hätten auch die Erfahrung gemacht, daß der Arbeiter in der heutigen Wertskala keineswegs unten steht, daß er durchaus auch in diesem Stand ein geachteter und sorglos lebender, weithin besser als früher gesicherter Mitbürger sein kann.591

Insofern war auch die These eines sozialen Abstiegs inadäquat. Zugleich führte der Theologe das Trauma der Vertriebenen auf die Gesellschaftsauffassung der Ostdeutschen zurück, die der industriellen Gesellschaft nicht entspreche und daher einen Wandel der Gesellschaftsauffassung erforderlich mache: Dieser Wandel erfordere einen „inneren Wandel“, ein „Innerliches Ja […] zur Industriegesellschaft.“592 Insofern sei auch die These eines sozialen Abstiegs das Ergebnis einer spezifischen, als sozialkonservativ titulierten Gesellschaftsauffassung, die aber dem gesellschaftlichen Strukturwandel nicht entspreche: Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Lehre vom sozialen Abstieg eher ein Produkt einer konservativen Gesellschaftsauffassung als vorurteilsfreier sozialpsychologischer Beobachtung ist.593

Damit nahm Spiegel-Schmidt explizit auf die Denkschrift Bezug, die der westdeutschen Bevölkerung ja gerade eine materialistische Lebensauffassung

587 Ebd. Allerdings stellte die Denkschrift in dieser Frage tatsächlich eher die Erfolge heraus. Die Vertriebenen hätten ihr Einkommen und ihren Lebensstandard deutlich steigern können. Siehe Die Lage der Vertriebenen, 12. 588 Spiegel-Schmidt, Vertriebenen in der Gesellschaft, 150. 589 Ebd., 152. 590 Ebd. 591 Ebd. 592 Ebd., 153. 593 Ebd., 154.

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attestiert hatte.594 Im Endeffekt resultierte für Spiegel-Schmidt daraus die Affirmation der modernen Industriegesellschaft: Hilfe in dieser Situation sei dabei nicht von einem „restaurativem Beklagen des Strukturwandels“ zu erwarten, sondern darin, den Wandel der sozialen Wertvorstellungen zu beschleunigen und dem Vertriebenen den Übergang zu diesem ihm neuen gesellschaftlichen Selbstbewußtsein als Arbeiter zu erleichtern.595

Ein weiterer Grund sei jedoch die verweigerte Solidarität der aufnehmenden Gesellschaft mit den Vertriebenen, die in der Verweigerung einer Suche nach einem gemeinsamen Weg zum Ausdruck komme. Auch die Denkschrift selbst „fällt unter dieses Verdikt.“596 Schließlich kam der Theologe auf die Kulturpflege zu sprechen, die er in ihrer gegenwärtigen Erscheinungsform als künstlich abwertete.597 Kultur bräuchte dagegen gar keine Förderung, denn eine „lebendige Tradition […] setzt sich in den Familien selber fort.“598 Dabei lenkte er den Blick auf solche Elemente, die nun Eingang in das Alltagsleben und die kulturellen Praktiken fänden und so die gesamtdeutsche Kultur gestalteten.599 Explizit dachte der Theologe dabei an die „Eßkultur“ und im Rekurs auf Pfeil an die „kräftigen Impulse der Vertriebenen auf Volkshochschularbeit, Bildungswesen, Musikleben.“600 Scharf kritisierte er die „isolierte, ostdeutsche kulturelle Traditionspflege“, denn eine Kulturpflege, „die Anderssein zu ihrem Hauptgesichtspunkt macht, führt ins Ghetto, in den Tod.“601 Da ein Großteil der Vertriebenen mittlerweile „angepaßt“ sei und sich gar nicht mehr „als Vertriebener“ empfände, kam er zu dem Ergebnis, dass „in Richtung auf die neue Gemeinschaft aus Vertriebenen und Einheimischen sehr viel mehr im Gange [ist], als dass man nur negativ darüber urteilen kann.“602 Vor dem Hintergrund dieser Diagnose führte der Theologe die leidenschaftliche Ablehnung der Denkschrift auf einheimische und vertriebene nationalkonservative Kreise zurück, während „die industriebestimmte Gesellschaft, ob vertrieben oder nicht, in Kritik und Zustimmung distanziert urteilte.“603 Abschließend nahm er auf die pluralistische Gestalt der Gesellschaft Bezug, die er als unvermeidlich beschrieb. Es gelte, die „Spannung einer unabweichlich plura594 595 596 597 598 599 600 601

Die Lage der Vertriebenen, 11. Spiegel-Schmidt, Vertriebenen in der Gesellschaft, 154 Ebd., 153. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Die isolierende Kulturarbeit der Vertriebenenverbände hatte allerdings auch Landsberg in seinen Referaten wiederholt kritisiert. Unklar ist allerdings, wie sich diese in der Kulturpraxis konkret manifestierte oder manifestieren sollte. Vgl. oben 125–127 und Anm. 218. 602 Ebd., 157. 603 Ebd.

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listischen Welt“ aus- und durchzuhalten.604 Es sei eine der „größten Versuchungen des Vertriebenen, daß er im Bunde mit absterbenden restaurativen Kräften sich selbst aus der zu bauenden neuen Gesellschaft ausschließt.“605 Mit Spiegel-Schmidt bekräftigte ein Akteur den Topos der erfolgreichen Integration, der selbst vertrieben war und der die kirchliche Vertriebenenarbeit an maßgeblicher Stelle mitprägte.606 Insgesamt verortete SpiegelSchmidt seine Kritik auf mehreren Ebenen: Erstens differenzierte er Landsbergs Befunde durch eine Berufsgruppenanalyse. Zweitens kritisierte er die These des sozialen Abstiegs, die in Bezug auf den hohen Arbeiteranteil als Ausdruck einer sozialkonservativen Gesellschaftsauffassung zu bewerten sei, die der modernen Industriegesellschaft jedoch nicht entspreche. SpiegelSchmidt bejahte die moderne Industriegesellschaft, beschrieb diese aber zugleich im kulturkonservativen Deutungsvokabular, wie das Schlagwort der „Atomisierung“ verdeutlicht.607 Drittens wollte Spiegel-Schmidt die staatlichen Maßnahmen vor dem Hintergrund des wirtschaftlich Machbaren verstanden wissen und kritisierte die hohen Erwartungen. Die Bewertung des Integrationsstandes hing, so lassen sich die unterschiedlichen Ergebnisse einordnen, vom je eigenen Integrationsbegriff, den verschiedenen Zielvorstellungen und den präferierten Gesellschaftsauffassungen ab. 4.5.6 Die Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik in Kirche, Politik und Gesellschaft in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre Im Jahr 1967 fand in der evangelischen Akademie Loccum eine Tagung zum Thema „Die Vertriebenen in der Bundesrepublik“ statt. Offenbar war es im hier untersuchten Zeitraum das letzte Mal, dass die Vertriebenenproblematik auf einer Akademietagung ausführlich thematisiert wurde.608 Auch hier wurde zudem eine soziologische Perspektive eingeholt, die der Soziologe Heiner Treinen bediente, der im Protestantismus bislang keine nennenswerte Rolle 604 Ebd. 605 Ebd. 606 Die soziologische Forschung betonte zunehmend die Integrationserfolge. Erst in den 1980ern wurde der Topos der gelungenen Integration in Zweifel gezogen, wie die Studie von Lüttinger belegt. Lüttingers Anspruch, den „Mythos Integrationswunder“ infrage gestellt zu haben, ist mit Blick auf die Denkschrift der EKD allerdings auch zu hinterfragen. Vgl. Hinst, Verhältnis 7; Jolles, Soziologie, 347, 392 u. 394; L ttinger, Mythos; und ders, Integration. 607 Spiegel-Schmidt, Vertriebenen in der Gesellschaft, 154. 608 Referenten auf der Tagung waren u. a. Ludwig Landsberg, der Soziologe Heiner Treinen, der Flüchtlingsbeauftragte der EKD Günther Besch und der ehemalige Vertriebenenminister Johann Baptist Gradl. Hans Neuhoff sprach für den BdV. Siehe Loccumer Protokolle 19/1967. Der neue Flüchtlingsbeauftragte Günter Besch bedauerte in seinem Referat das „Ende der ostdeutschen Kirchengeschichte.“ Auch hatte sich die Identität „deutsch und „evangelisch“ gelockert (Besch, Folgen. In: Ebd., 95). Neben Besch berichtete hier auch ein Vertreter der katholischen Kirche. Hierzu Ziegler, Folgen. In: Ebd.

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spielte.609 Das Referat von Treinen verdient insofern Interesse, als er gegenüber der Flüchtlingssoziologie der 1950er Jahre einige neue Aspekte und Perspektiven einbrachte, so die Frage der Rolle von Stereotypen im Integrationsprozess.610 Treinen diagnostizierte einen Zusammenhang von unterscheidenden Merkmalen und wirtschaftlicher Konkurrenz: Wenn das Merkmalssyndrom Flüchtling […] für die übrigen Gemeindemitglieder bedeutungslos geworden war (nicht verschwunden!), dann wurde dieser Bevölkerungsteil nicht länger als konkurrierend betrachtet.611

Mit dieser Ausgangsthese knüpfte Treinen an das Konzept der „sekundären Minderheiten“ des Soziologen Emerich Francis an. Francis war ebenfalls in der volksdeutschen Bewegung der 1920er Jahre aktiv, emigrierte jedoch während der NS-Zeit in die Vereinigten Staaten, wo er mit der empirischen Sozialforschung in Kontakt kam, und übernahm in den späten 1950er Jahren eine Professur für Soziologie an der LMU München, die er bis 1974 inne hatte.612 Francis hatte sich ebenfalls intensiv mit ethnischen Minderheiten befasst. In Analogie zu Francis’ Konzept dazu ging Treinen davon aus, dass Integrationsprozesse grundsätzlich mit einer desintegrierenden Polarisierung einsetzten, in deren Folge verallgemeinernde und abgrenzende Stereotypen mobilisiert würden.613 Obwohl es sich bei den Vertriebenen um eine ausgesprochen heterogene Gruppe handelte, seien sie von den Einheimischen als homogene Gruppe wahrgenommen und mit bestimmten Eigenschaften belegt worden – damit habe sich eine als Konkurrenz empfundene „sekundäre Minderheit“ herausgebildet.614 Dieser Minderheitenstatus war noch nicht überwunden: Die Vertriebenen selbst betrachteten sich selbst nach Treinen als nicht eingegliedert, während die Einheimischen Eingliederungsvorbehalte hegten.615 Daneben bestätigte Treinen die These einer erfolgreichen wirt609 Insgesamt Treinen, soziologische Aspekte, 41–55. Seinen Ausführungen lag eine interviewbasierte Untersuchung über eine nicht agrarisch geprägte Mittelstadt in Bayern zu Grunde. 610 Ebd., 44. 611 Ebd. 612 Ebd. Zu Emerich Francis siehe auch Pohl, Soziologen. Pohl plädiert für einen biografiegeschichtlichen Zugriff auf die Wissenschaftsgeschichte und vergleicht die beiden konträren Lebensläufe der Soziologen Eugen Lemberg und Francis Emerich, die beide in der völkischen Bewegung sozialisiert wurden. Ausführlicher siehe Anm. 587. 613 Ebd., 44 f. Francis, der sich ausführlich mit den Themen Minderheiten, Volk und Nation auseinandersetzte, legte in diesem Modell den Fokus auf das Verhältnis von Mehr- und Minderheit und betonte die aus- und abgrenzende Funktion von stereotypen Zuschreibungen. Zum Konzept der sekundären Minderheiten: Francis, Minderheiten. In: ders., Ethnos. In seinem Hauptwerk widmete er sich kurz der Vertriebenenproblematik. Hier verglich er die deutschen Flüchtlinge mit ethnischen Minderheiten, betonte aber auch den temporären Charakter der Minderheitenbildung. Die Integrationskonzepte der Bundesregierung, die auf eine Separierung der Vertriebenen und auf eine Zementierung der Sonderidentität setzten, bezeichnete er als „ideology“ (Francis, Relations, 242–245). 614 Loccumer Protokolle, 46. 615 Ebd.

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schaftlichen Integration, wobei die beruflichen Deklassierungseffekte durch die große Mobilität der Vertriebenen ausgeglichen werden konnten.616 Insgesamt kam der Soziologe zu dem Ergebnis, dass die Eingliederung in den „funktional bedeutenden Bereichen“ Politik und Wirtschaft völlig vollzogen sei.617 Nicht vollzogen war sie für Treinen im „expressiven Bereich der Gemeinde“, d. h. in den „Stammtischen“ und im „Vereinswesen“, wo ein Ausschluss der Vertriebenen zu beobachten sei.618 Grundsätzlich ging Treinen trotz punktueller ausgrenzender stereotyper Zuschreibungen von einer positiven Integrationsbilanz aus und sprach diesbezüglich explizit von einem „Wunder.“619 Der Gebrauch von Stereotypen schien bei Treinen auch partiell Aufschluss über den Stand der Integration zu geben und fungierte somit als Integrationsindikator.620 Treinens Korreferent, Hans Neuhoff, der für den BdV sprach, teilte diese optimistische Integrationsbilanz allerdings nicht. So verwies er auf die negative Einstellung der öffentlichen Meinung, das anhaltende Deklassierungsproblem und den unzureichenden Lastenausgleich, der zu einer geringen Entschädigungsquote geführt habe.621 In diesem Zusammenhang übte Neuhoff Kritik an der Kirche: „Sie hat in den ersten Jahren […] keine positive Haltung angenommen.“622 Schließlich bezeichnete Neuhoff die Vertriebenen, die zudem mehr zum Sozialprodukt beitrügen als die Einheimischen, als „volkswirtschaftlichen Segen“623. Während der Jahre 1967 und 1968 thematisierte das Bundesvertriebenenministerium und der Beirat des Vertriebenenministeriums wieder verstärkt Integrationsdefizite. Der Beirat glaubte eine Vernachlässigung der Vertriebenenproblematik in der Statistik zu beobachten.624 Zugleich ließ das Ministerium verschiedene Memoranden über die noch vorhandenen Integrationsdefizite erarbeiten. Hierbei handelte es sich weniger um eine Reaktion auf die 616 617 618 619 620

621 622 623 624

Ebd., 47 und 49. Ebd., 51. Ebd. Ebd., 43. Dabei sei „Flüchtling“ nicht zu einer eigenen Sozialkategorie „wie die der Juden“ geworden. Treinen fügt sich in die Auseinandersetzung der Flüchtlingssoziologen ein, die neben der sozioökonomischen Deklassierung Mentalitätsunterschiede und die gegenseitige Verständnislosigkeit fokussieren. Pfeil hatte beispielsweise von der Zurückweisung der Vertriebenen durch die Einheimischen gesprochen. Die Rolle von Stereotypen nahmen sie allerdings nicht systematisch in den Blick; Vorurteile wurden in den flüchtlingssoziologischen Beiträgen selten explizit benannt. Zu Pfeil siehe oben 151–154. Landsberg hatte von der „Fremdenfeindlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft“ gesprochen (Die Lage der Vertriebenen, 13). Boehm rechtfertigte die Abwehrreaktionen der einheimischen Bevölkerung und sprach vom „natürlichen Urinstinkt des Fremdenhasses“ (Boehm, Max Hildebert: Denkschrift Flüchtlingsproblem in ökumenischer Verantwortung, ACSG L neburg AR 12/5). Neuhoff, Soziologische Aspekte. In: Loccumer Protokolle 19/1967, 56–58. Ebd., 58. Ebd., 57. Niederschrift über die 4. Sitzung des Arbeitsausschusses des Beirates für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen am 21. 3. 1967 (EZA Berlin 2/4256).

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Vertriebenen- und Ostdenkschrift der EKD als vielmehr um eine Reaktion auf die Forderungen, das Ministerium mit anderen Ressorts zusammenzulegen oder ganz aufzulösen.625 Von daher sah sich das Ministerium auch zur Legitimation seiner Existenz genötigt, die es aus der Diagnose der Unabgeschlossenheit des Integrationsprozesses schöpfte. Aus diesem Grund ließ das Bundesvertriebenenministerium 1968 ein sozialstatistisch fundiertes Gutachten mit dem Titel „Soziale und materielle Eingliederung“ ausarbeiten, das explizit Integrationsdefizite auf der sozialen, wirtschaftlichen und materiellen Ebene thematisierte und die verbreitete Auffassung zu widerlegen beabsichtigte, „daß in Deutschland kein Vertriebenen- oder Flüchtlingsproblem mehr bestehe.“626 Vor dem Hintergrund der Diagnose eines „gewaltigen Deklassierungsproblems“ komme es dabei vor allem auf die Schaffung von dauerhaften Arbeitsplätzen an, die dem Können und der Stellung entsprächen.627 Schließlich verwies das Gutachten auf die durch die Vertriebenen beschleunigte Industrialisierung, Modernisierung, Urbanisierung und würdigten den Beitrag der Vertriebenen am Wirtschaftswachstum.628 Insgesamt kam es zu dem interessanten Ergebnis, dass sich Einwanderung grundsätzlich positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirke: Soziologisch gesehen ist längst erkannt worden, dass die Einwanderungsländer – wenn Möglichkeiten des wirtschaftlichen Ausbaues gegeben sind – Gewinnländer sind. […] Heute hat man erkannt, dass die Vertriebenen, die zunächst für niemanden erstrebenswert waren, einen hohen Anteil am wirtschaftlichen Aufbau in der Bundesrepublik geleistet haben. Sie trugen nicht unerheblich zum Wachstum des Sozialprodukts bei, das von 1950 bis 1967 um fast das Fünffache gestiegen ist. […] Die zur wirtschaftlichen Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge eingesetzten Mittel rechnen mit zu den wirtschaftlich produktivsten, weil hier mit der größten Initiative, mit größter persönlicher Anstrengung der Kreditempfän625 Das geht aus dem Bericht selbst hervor: Memorandum: Die Lage der Vertriebenen und Flüchtlinge nach Festlegung der mehrjährigen Finanzplanung. Vorstellungen des Bundesvertriebenenministers zur Beendigung der Kriegs- und Nachkriegsfolgen [vermutl. 1968] (BArch Koblenz B 150/3711, Bd. 1/2). 626 Soziale und materielle Eingliederung der Vertriebenen und Einheimischen. Anhang zum Schreiben des Bundesvertriebenenministers an die Beiratsmitglieder, 23. 12. 1968 (EZA Berlin 2/14004; BArch Koblenz B 106/0027234). Das Gutachten basierte auf einer Studie von Else Bohnsack. Vgl. Bohnsack, Umschichtung. 627 Soziale und materielle Eingliederung der Vertriebenen und Einheimischen. Anhang zum Schreiben des Bundesvertriebenenministers an die Beiratsmitglieder, 23. 12. 1968 (EZA Berlin 2/14004). Im Wesentlichen nannte der Verfasser die bereits bekannten Argumente und positionierte sich gegen Teile der soziologischen Forschung. Der Soziologe Klaus Hinst stellte 1968 fest, dass ein Großteil der Vertriebenen eingegliedert und nur eine Minderheit nicht eingegliedert sei: Hinst, Verhältnis 7. Vgl. auch Schwartz, Vertriebenen im doppelten Deutschland, 134. 628 Soziale und materielle Eingliederung der Vertriebenen und Einheimischen. Anhang zum Schreiben des Bundesvertriebenenministers an die Beiratsmitglieder, 23. 12. 1968 (EZA Berlin 2/14004).

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ger gerechnet werden kann, in vielen Fällen sind sie den Staatshaushalt durch Steuerleistungen bereits mehrfach zurückgezahlt worden.629

Ein weiteres, fast zeitgleich erschienenes Memorandum aus der Feder des Bundesvertriebenenministers schlug eine etwas andere Richtung ein. Der letzte Bundesvertriebenenminister Heinrich Windelen prognostizierte den Abschluss der Kriegsfolgegesetzgebung und postulierte eine Art Schlussstrich, zumal in „mancherlei Hinsicht“ keine Verbesserung zu erwarten sei: Die Erwartung ist daher berechtigt, daß diese Lösungen von den Betroffenen auch akzeptiert werden, zu einer Beruhigung beitragen und damit, nach menschlicher Voraussicht, wirklich zur Beendigung der Kriegsfolgegesetzgebung führen.630

Im selben Jahr ließ das Bundesvertriebenenministerium das Memoranden „Die geistig-kulturelle Lage der Vertriebenen“ erarbeiten.631 Auch hier ging der Verfasser vom Ausgangspunkt aus, dass es „verfehlt“ sei, „die Eingliederung als beendet anzusehen“ und warnte vor einer materiell-wirtschaftlichen Verkürzung der Problematik.632 In der Vernachlässigung der kulturellen Dimension erblickte der Minister eine Degradierung des Menschen, der mit dem kulturellen Status, der eine Quelle des Selbstbewusstseins sei, auch den sozialen Status verloren habe.633 In der künftigen Kulturarbeit müsse es vor allem darum gehen, das kulturelle Erbe der Vertriebenen im gesamtdeutschen Bewusstsein zu verankern und die Kenntnisse der aufnehmenden Gesellschaft über den deutschen Osten zu vertiefen.634 Insgesamt lässt sich tatsächlich ein Beispiel nachweisen, wo explizit auf den zweiten Teil der EKD-Denkschrift Bezug genommen wurde. 1968 fand im Deutschen Bundestag eine Aussprache über den „Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland“ statt.635 Der neue

629 Ebd. 630 Memorandum: Die Lage der Vertriebenen und Flüchtlinge nach Festlegung der mehrjährigen Finanzplanung. Vorstellungen des Bundesvertriebenenministers zur Beendigung der Kriegsund Nachkriegsfolgen [vermutl. 1968] (BArch Koblenz B 150/3711, Bd. 1/2). 631 Entwurf: Die geistig-kulturelle Lage der Vertriebenen und Flüchtlinge im Ablauf der Eingliederung. Die Vorstellung des Bundesvertriebenenministers, Jan. 1968 (BArch Koblenz B 150/ 3711 Bd. 1/2). 632 Ebd. 633 Ebd. 634 Sprechzettel für die Beiratssitzung am 28. 11. 1968: Kulturpolitische Vorhaben (BArch Koblenz B 106/055778). Ein letztes Mal berichtete Nahm über den „Stand der Eingliederung“, brachte aber keine neuen Gesichtspunkte hervor: Nahm, Peter Paul: Stand der Eingliederung. Niederschrift über die Sitzung des Beirates für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen in Bonn am 8. 12. 1969 (EZA Berlin 2/14004). 635 Aussprache über den Bericht der Bundesregierung über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland. 160. Sitzung des Deutschen Bundestages am 14. 3. 1968. In: Verhandlungen, 5. WP, 8372–8382. Vornehmlich ging es in der Aussprache um deutschlandpolitische Fragen, den Atomwaffensperrvertrag und die Studentenproteste.

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Präsident des BdV, Reinhold Rehs, beklagte in seinem Redebeitrag, dass in diesem Bericht jedes unmittelbare Wort über das tragische Kapitel, das mit dem Schicksal und der Existenz der 10 1/2 Millionen deutscher Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik […] als Teil dieser Not der deutschen Nation verkörpert wird,

fehle.636 Explizit berief sich Rehs dabei auf den zweiten Teil der Vertriebenenund Ostdenkschrift und zitierte dabei die These, dass die westdeutsche Gesellschaft „den Vertriebenen […] Vieles und Wesentliches schuldig geblieben ist.“637 Rehs konnte dabei nicht feststellen, „daß sich seitdem in dieser Hinsicht Wesentliches geändert hat.“638 Dabei rekurrierte Rehs gar nicht so sehr auf die sozialpolitische Situation, sondern bemängelte, „daß wir in der Bundesrepublik Deutschland […] in erschreckendem Maße aneinander vorbeileben und keine wirkliche Kenntnis voneinander haben.“639 Daher sah Rehs den „Zusammenhalt der Nation“ gefährdet.640 Neben dem Appell, die noch erforderlichen Eingliederungsmaßnahmen nicht abzubauen, kritisierte er die Agitation, die sich gegen die Vertriebenen richte, und erwartete von der Bundesregierung Unterstützung bei der „Abwehr gegen ihre Schmäher.“641 Auf dieser Bundestagssitzung standen keine konkreten sozialpolitischen Leistungsverbesserungen im Zentrum. Aber diese Debatte zeigt, dass der Präsident des BdV die von ihm kritisierte Denkschrift als Argument und als Referenztext gebrauchte, um die soziale Benachteiligung der Vertriebenen dem Deutschen Bundestag und allgemeine, eher sozialpsychologische Desintegrationserscheinungen in Erinnerung zu rufen. Die Thematisierung von Integrationsdefiziten konnte jedoch nicht verhindern, dass die neu gebildete Bundesregierung diese Einschätzung nicht teilte – oder ihr keine Relevanz beimaß.642 1969 löste die sozialliberale Koalition das Bundesvertriebenenministerium als eigenständiges Ressort auf und gliederte es als deutlich abgewertete Unterabteilung in das Bundesinnenministerium ein. Infolge der Ostverträge vollzog sich eine tiefgreifende Entfremdung zwischen SPD und dem BdV und eine zeitgleiche Annäherung der Vertriebenenverbände an die CDU.643 In seiner Regierungserklärung hatte Bundeskanzler Willy Brandt gewissermaßen als „Trostpflaster“ für die Neu636 637 638 639 640

Ebd., 8353. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 8354. Konkret verwies er auf den sozialen Abstieg vieler Gruppen wie der vertriebenen Landwirte. Deren Situation werde von der westdeutschen Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen. 641 Ebd., 8355. In diesem Zusammenhang kritisierte er den Abgeordneten Genscher, der von „Berufsvertriebenen“ gesprochen hatte. Vgl. ebd., 8354. Vgl. auch Redebeitrag von Genscher. In: Ebd., 8334. 642 Schwartz, Vertriebenen im doppelten Deutschland, 133. 643 Parak, Kultur, 432.

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ausrichtung der Ostpolitik eine Erhöhung des Kulturetats angekündigt.644 Tatsächlich steigerte der Bund seine Zuwendungen zur Kulturförderung zwischen 1969 und 1974 von 8,5 Millionen auf 10,5 Millionen DM pro Jahr, jedoch wurden die Zuschüsse 1975 unter der von Helmut Schmidt geführten Bundesregierung auf 7,7 Millionen DM reduziert.645 Bundeskanzler Helmut Schmidt bekannte sich in seiner Regierungserklärung von 1974 „nicht einmal mehr deklamatorisch dazu, das Kulturerbe der Vertriebenen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.“646 Auch ließ in den 1970er Jahren das Verständnis für die Kulturförderung gemäß § 96 nach; diese geriet in den Verdacht, „auf eine exklusiv von den Verbänden betriebene Kulturpflege und Politik abzuzielen.“647 Offenbar ließ in den 1970er Jahren die Bereitschaft nach, die Existenz einer ungelösten Vertriebenenproblematik anzuerkennen. Damit korrespondierend entfiel in den amtlichen Statistiken der Bundesrepublik die Rubrik „Vertriebene“648, was dafür spricht, dass ein vertriebenenbezogenes Problembewusstsein nicht mehr existierte. Ob die Vertriebenen selbst diese Diagnose teilten, kann hier mangels empirischer Untersuchungen nicht oder allenfalls auf der Basis von Indizien beantwortet werden. Glaubt man der soziologischen Forschung der 1960er Jahre, so sei bei der Mehrheit der Vertriebenen eine Assimilation an die westdeutsche Gesellschaft festzustellen, in deren Folge große Teile der Vertriebenen nicht mehr als eigene soziale Gruppe erkennbar seien.649 Neben der sozioökonomischen Dimension stellt sich die integrationspolitisch relevante Frage, ob innerhalb des Protestantismus infolge der Vertriebenen- und Ostdenkschrift eine dauerhafte Entfremdung zwischen Vertriebenen und Kirche zurückblieb – und die evangelische Kirche ihre gesellschaftliche Integrationsfunktion einbüßte. Zunächst ist festzustellen, dass das Verhältnis zwischen den säkularen Vertriebenenverbänden und der EKD angespannt blieb. In einem internen Vermerk teilte Hermann Kunst dem Rat der EKD mit, dass man sich nicht viel von den Gesprächen mit dem BdV erhoffe, man wolle dennoch daran festhalten, „um den Vertriebenen das Gefühl zu nehmen, die Kirche wolle keinen Kontakt mit ihnen.“650 Zwar kam es zwischenzeitlich zu temporär erfolgreichen Aussöhnungsversuchen.651 Er644 Ebd. 645 Ebd. 646 Ebd. Als Kompensation beschlossen einige unionsgeführte Länder eine Erhöhung des Kulturetats nach § 96. Außerdem Kittel, Vertreibung, 112 f. 647 Ebd., 432. Allerdings divergierte die Situation in den einzelnen Ländern beträchtlich. In einigen Ländern kamen die Kulturzuwendungen ausschließlich den Vertriebenenverbänden zugute. In anderen wurden Institute gegründet, die sich in öffentlicher Trägerschaft befanden und daher größere Unabhängigkeit von den Verbänden gewinnen konnten. Hier wäre das vom Sozialministerium getragene Haus des Deutschen Ostens in München zu nennen. 648 Schwartz, Vertriebenen im doppelten Deutschland, 133, FN 151. 649 Ebd., 134; und Hinst, Verhältnis, 7. 650 Vermerk vom 15. 3. 1967 (EZA Berlin 87/575). 651 Davon zeugen die Gespräche zwischen BdV und EKD, die in Bad Boll stattfanden. Vgl. Ver-

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eignisse wie die Ernennung des nicht vertriebenen Pfarrers Günther Besch zum Vertriebenenbeauftragten der EKD, die Friedensdenkschrift der EKD von 1968 und schließlich die vom Rat der EKD bejahte Ratifizierung der Warschauer Verträge 1972 machten die Spannungen allerdings wieder sichtbar.652 Die offiziellen Beziehungen zwischen EKD und BdV verraten allerdings nichts darüber, ob die Vertriebenen selbst entfremdet waren oder sich entfremdet fühlten. Der Kirchenhistoriker Hartmut Rudolph diagnostiziert eine anhaltende Entfremdung vieler Vertriebener von der EKD und beruft sich auf die „erschütternden Zeugnisse“ jener Zeit.653 Da die Diagnose einer Entfremdung auch von den Protagonisten des OKAs und seinen Nachfolgern bis heute bemüht wird, stellt sich allerdings auch die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit der Diagnose.654 Vermutlich lassen sich die auf die Gesamtgesellschaft bezogenen Beobachtungen von Michael Schwartz auch auf den westdeutschen Protestantismus übertragen. Nach Schwartz verweigerte sich eine nicht unbeträchtliche Minderheit der Vertriebenen der herrschenden Integrationsideologie und hielt an einer separierten Vertriebenenidentität fest, während die „grundlegende Kombination aus ,Leistungsdruck‘ und ,Anpassungsbereitschaft‘ in Schule und Beruf die weitgehende Assimilation der Vertriebenen an die Mehrheitsgesellschaft erleichtert haben“ dürfte.655 Indizien dafür sind der Rückgang der Mitgliederzahlen des BdV, der insbesondere in der Kindergeneration große Rekrutierungs- und Mobilisierungsprobleme hatte, der

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sçhnung. Zwischendurch hatte sich das Verhältnis entspannt. Während die Spitzen von EKD und BdV aufeinander zugingen, schossen einzelne Landesvorsitzende weiterhin gegen die EKD. Das geht hervor aus: Verschlissenes Vokabular. In: Die Zeit, 8. 9. 1967. Kurz darauf verschärfte sich der Ton wieder. Vgl. Zundel, Rolf: Das Plädoyer der Protestanten. Die Kirchen und die Ostverträge. In: Die Zeit, 7. 4. 1972. Siehe auch die zahlreichen Stellungnahmen anlässlich der Ratifizierung der Warschauer und Moskauer Verträge im Jahr 1972. So z. B.: Zundel, Rolf: Das Plädoyer der Protestanten. Die Kirchen und die Ostverträge. In: Die Zeit, 7. 4. 1972. Diese 25 Protestanten gaben für Zundel die „Mehrheitsmeinung in der evangelischen Kirche“ wieder. Bei den Auseinandersetzungen handelte es sich eher um Nachhutgefechte, die im Wesentlichen keine neuen Gesichtspunkte hervorbrachten. Der Friedensdenkschrift wurde ebenfalls unterstellt, auf die Ostgebiete verzichtet und eine Anerkennung der DDR ausgesprochen zu haben. Hierzu Lepp, Tabu, 603–620. Rudolph, Kirche Bd. II, 210. Einige Kirchenhistoriker, die selbst vom Vertreibungsgeschehen betroffen sind, pflegen dieses auch nicht unberechtigte Narrativ bis heute weiter. Christian Erdmann Schott vertritt die Auffassung, dass die „Denkschriften-Kirche“ (Eberhard Schwarz) mit ihrer Denkschrift „lieblos“ gehandelt und die Denkschrift eine bis heute anhaltende Entfremdung zwischen EKD und Vertriebenen bewirkt habe. Allerdings scheint es auch fraglich, inwieweit die Behauptung einer Entfremdung auf die Gesamtheit aller evangelischen Vertriebenen übertragbar ist, auch wenn es sicherlich zu partiellen Entfremdungserscheinungen kam. Auch das Narrativ, die Denkschrift habe die Solidarität mit den Vertriebenen verweigert, wird bis heute fortgeschrieben. Vgl. Schott, Rolle, 302–305; und ders., Wandlungen, 154–158. Inwieweit man diesem Urteil zustimmt, hängt immer auch von der Perspektive des Betrachters, vom jeweiligen Seelsorgeverständnis sowie von den an die Seelsorge gerichteten Erwartungen ab. Insofern sollte diese Aussage nicht im Hinblick auf alle Vertriebenen generalisiert werden. Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 134.

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Anstieg der Eheschließungen zwischen Vertriebenen und Einheimischen und der Sachverhalt, dass immer weniger Vertriebene bzw. deren Kinder einen Vertriebenenausweis beantragten.656 Vieles spricht dafür, dass sich Protestantismus und bundesrepublikanische Gesellschaft in dieser Hinsicht parallelisieren lassen. Der Erfolg der NPD in den Landtagswahlen 1968, die Radikalisierung der Vertriebenenverbände und die sich parallel formierende protestantische Oppositionsbewegung „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher“ können einerseits als Symptom für eine Radikalisierung und damit für Desintegrationserscheinungen am rechten Rand gedeutet werden, die sich auch durch die Synodalerklärung nicht beschwichtigen ließen. Dabei handelte es sich jedoch nicht um ein flächendeckendes Phänomen.657 Außerdem stimmte ein nicht unbeträchtlicher Teil der Vertriebenen der Neuen Deutschen Ostpolitik zu. Der überwältigende Erfolg der Regierung Brandt in der Bundestagswahl 1972, aus der die SPD als stärkste Fraktion hervorging, nachdem sie kurz zuvor per Misstrauensvotum beinahe gestürzt worden war, wäre nach Schwartz ohne die Zustimmung der Vertriebenen kaum möglich gewesen.658 So stellt Schwartz fest: „Spätestens die Bundestagswahl vom November 1972 beglaubigte, daß es ein einheitliches Interesse ,der Vertriebenen‘ längst nicht mehr gab.“659 Da die Vertriebenen in der Mehrheit evangelisch waren, lässt sich dieser für die westdeutsche Gesellschaft formulierte Befund mit großer Wahrscheinlichkeit auch auf den Protestantismus übertragen. Die Denkschrift, die von einem heterogen zusammengesetzten Kreis protestantischer Intellektueller und Akteure erarbeitet wurde, war vielleicht nicht der unmittelbare Anlass des außenpolitischen Paradigmenwechsels, aber sie trug dazu bei, dass sich der Diskurs über die Ostgrenze und die Identität der 656 Stickler, Ostdeutsch, 138–140. 1960 forderte Staatssekretär Nahm daher den Präsidenten des BdV dazu auf, „angesichts der bevorstehenden Volkszählung dafür Sorge zu tragen, daß möglichst viele Vertriebene einen Vertriebenenausweis beantragen.“ Die rückläufige Tendenz war in noch stärkerem Maße bei Kindern aus Ehen von Vertriebenen und Einheimischen zu beobachten. Die Zahl der „Mischehen“ stieg kontinuierlich an. 1960 waren bereits „75 % der Ehen in Vertriebenenkreisen ,Mischehen‘, mit Einheimischen“ (ebd., 138). 657 „Die Zeit“ bezeichnete die Initiatoren der Notgemeinschaft als „evangelische Außeneiter“, als „Querulanten aus dem fünften Glied, ein paar ultrakonservative Autoren“ (Die armen Deutschen. Evangelische Außenseiter gründen eine Notgemeinschaft. In: Die Zeit, 15. 4. 1966). Kurz nach der Gründung fand eine kleinere Kontroverse zwischen Alexander Evertz und Georg Picht statt. Siehe Evertz, Alexander: Was will die Notgemeinschaft? Plädoyer für Volk und Vaterland. In: ChrWelt, 10. 6. 1966, 10; und Picht, Georg: Wo stehen die wahren Patrioten? Antwort an die Notgemeinschaft Evangelischer Deutscher. In: ChrWelt, 24. 6. 1966, 12. 658 Schwartz, Vertriebenen im doppelten Deutschland, 134. Schwartz nennt eine interne Wahlanalyse der SPD von 1972, die zu dem Ergebnis kam, dass die Ostverträge der SPD nicht geschadet und der CDU nicht genutzt hätten. Auf demoskopischer Ebene: Lepp, Wort, 104; Glaab, Deutschlandpolitik, 242–244. 659 Schwartz, Vertriebenen im doppelten Deutschland, 134. Die diskursiven Entwicklungen führten allerdings nicht dazu, dass das Sprechen über die Vertriebenen reflektiert wurde. So wurde nach wie vor die Kollektivbezeichnung „Vertriebene“ gebraucht, was ein einheitliches Kollektiv suggerierte.

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bundesrepublikanischen Gesellschaft, d. h. das Spektrum des öffentlich Sagbaren, merklich verschob, was wiederum eine Voraussetzung des außenpolitischen Paradigmenwechsels war. Die Vertriebenenverbände, die längst nicht alle Vertriebenen repräsentierten und deren Heimatrechtspostulat in den 1950er Jahren Allgemeingut und offizieller Rechtsstandpunkt der Bundesregierung war, büßten hingegen mit ihren revisionistischen Positionen ihre Diskursfähigkeit ein.

4.6 Gescheitertes Themensetting? Empirische Beobachtungen und systematische Überlegungen zum Vertriebenendiskurs Zwischen der Rezeption der ostpolitischen und der integrationspolitischen Aussagen der Vertriebenen- und Ostdenkschrift der EKD von 1965 besteht eine deutliche Diskrepanz. Der als „Tabubruch“ wahrgenommene Verzicht auf die Gebiete jenseits von Oder und Neiße stand im Fokus der medialen Aufmerksamkeit, während die Thesen zur Situation der Vertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft im Rezeptionsprozess eine untergeordnete Rolle spielten und zudem, ebenfalls im Gegensatz zu den ostpolitischen Thesen, keinen politischen Prozess in Gang setzten oder einen solchen dynamisierten. Die integrationspolitischen Aussagen wurden nur gelegentlich thematisiert. Dieser Befund wirft die Frage auf, wie diese Diskrepanz zu erklären ist. Im Folgenden sind Gründe und Erklärungsmodelle herauszuarbeiten, die hierüber Aufschluss geben. Dazu werden themenspezifische Aspekte, spezifische Interessenkonstellationen, institutionelle Voraussetzungen, kommunikative Bedingungen, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Entwicklungen und kommunikations- und medientheoretische Aspekte genannt, die das Rezeptions- und Diskussionsverhalten erhellen. Um die Rezeption der Denkschrift einzuordnen und zu kontextualisieren, werden auch die themenspezifischen Diskursmechanismen, Kommunikationsbedingungen und die institutionellen Voraussetzungen der Vertriebenendebatten der 1950er und 1960er Jahre herausgearbeitet und miteinander parallelisiert. In diesem Kontext kann auf die medienwissenschaftlichen Agenda-Setting-Ansätze verwiesen werden. Demnach wird mediale Kommunikation als existentielle Voraussetzung politischen Handels begriffen und der Frage nachgegangen, wie und warum Themen, die in den Massenmedien kommuniziert werden, von der Politik aufgegriffen werden.660 Mit den Überlegungen der Agenda-Setting-Ansätze 660 Zum Überblick siehe H rte, Lastenausgleich, 105; Edelstein, Agenda-Setting; und McCombs, Setting. Mediale Präsenz ist ein notwendiger Bestandteil der politischen Artikulation und entscheidet über den Erfolg des Themensettings. Hier nach Kçnemann et al., Interessenvertretung, 54. Die neueren Agenda-Setting-Ansätze grenzen sich von den älteren ab, die die „faktische Wirkung“ von Medien zu bewerten beanspruchen. In den neuen An-

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korrespondiert Georg Francks Konzept einer „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, das sich mit der Rolle und Bedeutung der Ressource „Aufmerksamkeit“ in modernen Gesellschaften befasst.661 Moderne Wissensgesellschaften seien nach Franck durch eine wachsende Informationsflut gekennzeichnet.662 Aufgrund der begrenzten Aufnahmekapazitäten hätten sich massenmediale Kommunikationsmittel herausgebildet, die eine Informationsselektion vornähmen.663 Zugleich sähen sich die Mitglieder moderner Gesellschaften aufgrund der ihrerseits begrenzten Aufnahmekapazitäten zu einer Selektion aus den unterschiedlichen Medienangeboten genötigt.664 Folglich konkurrierten Medien, aber auch politische und gesellschaftliche Akteure, die auf eine Präsenz in den Medien angewiesen sind, um die begrenzte mediale wie personale Ressource „Aufmerksamkeit.“665 Denn die Asymmetrie zwischen Verlangen nach Aufmerksamkeit und Zuwendung von Aufmerksamkeit mache aus dieser ein „knappes“ und begehrenswertes Gut.666 Ein weiteres ergänzendes, kommunikations- und medientheoretisches Erklärungsangebot findet sich bei Niklas Luhmann. Der Systemtheoretiker versteht unter „öffentlicher Meinung“ – präziser: veröffentlichter Meinung – „simplifizierte Kommunikationsprozesse in modernen Massenmedien“ und betont dabei die Vereinfachungsfunktion von Massenmedien. Luhmann interessiert sich für die Frage, wie Themen Bestandteil der öffentlichen Meinung werden und wieder verschwinden.667 Themen werden nach Luhmann nicht nach rationalen Entscheidungskriterien öffentlich, sondern, korrespondierend mit Franck, aufgrund von Aufmerksamkeitsgesichtspunkten.668 Luhmann nennt vier Kriterien für die Erzeugung von Aufmerksamkeit: Die „überragende Priorität

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sätzen wird die Rolle der scheinbar passiven Rezipienten betont. Medien versuchten, die Interessen der Rezipienten zu antizipieren. Komplementär zum Agenda-Setting-Ansatz verhält sich das auf Noelle-Neumann zurückgehende Theorem der „Schweigespirale“. Darunter versteht sie einen gesellschaftlich-medialen Mechanismus, der abweichende Meinungen mit Isolation bedroht. Hier nach H rte, Lastenausgleich, 110 f. Zum Öffentlichkeitsbegriff auch Hodenberg, Konsens. Franck, Ökonomie. Franck verweist auf das existenzielle Bedürfnis nach Aufmerksamkeit. Der knappen Ressource Aufmerksamkeit komme eine fundamentale Bedeutung in Medien und Wissenschaften zu. Franck, Ökonomie, 62. Ebd. und 147–149. Ebd., 49 f. Der ausdifferenzierte Ansatz wird hier nur sehr skizzenhaft wiedergegeben. Siehe v. a. 10–13, 49 f., 62–66. Ebd., 50. Hier nach H rte, Lastenausgleich, 113 f. Luhmann zielt vor allem auf die Reduktion und Vermittelbarkeit komplexer rechtlicher und politischer Strukturen. Eine Gefahr dieser Vereinfachungsfunktion liegt in der Schwarz-Weiß-Logik der Argumentation und dem Wegfall von Differenzierungen. Vgl. auch Luhmann, Öffentliche Meinung und Demokratie, 24 f.; und ders., Öffentliche Meinung, 7. Hier nach H rte, Lastenausgleich, 114. Ein gewisses Indiz für die Mobilisierung von Aufmerksamkeit stellt die Aufmerksamkeit der Presse für ein Thema dar.

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bestimmter gesellschaftlicher Werte“, die bedroht oder verletzt würden oder deren Bedrohung oder Verletzung angenommen wird; die Existenz von externen Krisen oder Krisensymptomen; der soziale Status des Absenders einer Botschaft oder der Neuigkeitswert einer Nachricht.669 Aus kulturhistorischer und diskurstheoretischer Perspektive handelt es sich hierbei nicht um objektiv gegebene Kriterien, sondern um diskursive Zuschreibungsprozesse. Mediale und andere Akteure weisen demnach Nachrichten Eigenschaften zu, die den von Luhmann genannten Kriterien – Verletzung von Werten, Krisenbewusstsein, Status oder Neuigkeitswert – entsprechen. Im Folgenden werden die kommunikativen und institutionellen Bedingungen der Vertriebenendebatten der 1950er und frühen 1960er Jahre skizziert, bevor in einem zweiten Schritt sozialhistorische, themenspezifische und kommunikationstheoretische Argumente und Erklärungsmodelle genannt werden. Die Rezeption der Vertriebenen- und Ostdenkschrift und die Diskrepanz zwischen der Rezeption der außenpolitischen und integrationspolitischen Analysen folgen, so die These, im Wesentlichen den Mechanismen und Dynamiken des Vertriebenendiskurses der 1950er Jahre. Die Analyse der Rezeption der Denkschrift kommt demnach nicht ohne einen Rückblick auf die 1950er Jahre aus. Nachdem sich die wirtschaftlichen Verhältnisse ab spätestens Mitte der 1950er Jahre konsolidiert und stabilisiert hatten und die westdeutsche Gesellschaft den Krisenmodus überwinden konnte, geriet die Vertriebenenproblematik schnell in den Schatten anderer Themen, die im Protestantismus, aber auch darüber hinaus intensiv diskutiert wurden. Auf solchen Gesprächsforen wie der Synode der EKD oder dem DEK, die gesamtprotestantische Relevanz beanspruchten, deutet sich eine Themen- und damit eine Aufmerksamkeitskonkurrenz in Francks Sinne zwischen der Vertriebenenproblematik und den mit Schärfe geführten Debatten um Westintegration, Wiederbewaffnung und Kriegsdienstverweigerung an. Gemäß dem Konzept der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ liegt es in der Logik medialer und öffentlicher Kommunikation, dass die verschiedenen Themen in unterschiedlichem Maße mit Aufmerksamkeit bedacht werden. Den Akteuren der kirchlichen Vertriebenenarbeit gelang es dabei immer weniger, ihre Anliegen auf die Tagesordnung gesamtprotestantischer Gesprächsforen und Organe zu setzen, während die umstrittene West-integrations-, Wiederbewaffnungs- und die Atomfrage mit großer Aufmerksamkeit bedacht wurde. Hatte es auf dem DEK 1950 in Essen noch eine Arbeitsgruppe zum Thema „Heimat“ gegeben, wurde die Vertriebenenproblematik auf dem Kirchentag 1952 nur noch im Rahmen der Arbeitsgruppe „Dorf“ und von 1954 bis 1965 gar nicht mehr thematisiert. Mehrere Bitten des OKAs und anderer Akteure, die Vertriebenenfrage zum Thema des DEK zu machen, waren mit dem Argument abgelehnt worden, dass eine Ansprache der Vertriebenen als einer separaten 669 Hier nach H rte, Lastenausgleich, 112–15.

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Gruppe nicht gewünscht sei.670 Auch eine gleichlautende Bitte aus dem Bundesvertriebenenministerium wurde abgelehnt.671 Einerseits wurden andere Themen mit einer größeren Aufmerksamkeit bedacht, andererseits klingen hier auch integrationspolitische Erwägungen an: Die Kirchentagsleitung setzte auf eine Assimilation und wollte das Gruppenbewusstsein nicht zementieren. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich anhand der evangelischen Akademien. Demnach fand die Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik zunehmend in auf Vertriebenenfragen spezialisierten Gremien wie z. B. dem OKA oder dem OKK – also den beiden Repräsentationsorganen der evangelischen Vertriebenen –, immer seltener jedoch auf themenunabhängigen, gesamtprotestantischen Foren statt. Die Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik und insbesondere die Thematisierung der integrationspolitischen Dimension blieb ab Mitte der 1950er Jahre im Wesentlichen den Vertriebenen selbst und ihren eigenen Gremien überlassen und spielte in der protestantischen Öffentlichkeit allenfalls eine untergeordnete Rolle.672 Die Bindung der Vertriebenenproblematik an einen spezialisierten Ort der Auseinandersetzung beeinflusste die Möglichkeiten des Themensettings. Denn die Anfang der 1950er Jahre noch stattfindenden kirchlichen Großveranstaltungen wie der Tag der zerstreuten Heimatkirche in Lübeck, die Kirchentage, kirchenamtliche Stellungnahmen oder die ökumenische Flüchtlingskonferenz in Hamburg riefen überwiegend eine große Resonanz in der allgemeinen säkularen und kirchlichen Presse hervor, während die Tagungen des OKAs kaum wahrgenommen wurden.673 Daneben wirkten sich auch übergreifende Entwicklungen des Protestantismus auf die ohnehin schon ungünstige kommunikative Ausgangsposition des OKAs aus. Ende der 1950er Jahre, vor allem aber während der 1960er Jahre, deutete sich ein Wechsel der Stimmführerschaft im bundesdeutschen Protestantismus an, was auch Konsequenzen für die Einstellung zur Oder-Neiße-Grenze hatte, während sich der OKA ab Mitte der 1950er Jahre partiell an die revisionistischen weltlichen Landsmannschaften annäherte.674 Hier lassen sich, auch angesichts einer großen Überschneidungsfläche zwischen Vertriebenen und Mitgliedern der evangelischen 670 Die Bitte, die Vertriebenenproblematik auf dem Kirchentag zu thematisieren, wurde 1951, 1955, 1963 und 1967 vorgebracht und jedes Mal abschlägig beschieden. Hierauf wurde bereits auf oben 391–396 verwiesen. Vgl. v. a. die in Anm. 322 genannten Korrespondenzen. 671 Schreiben des Bundesvertriebenenministeriums an Generalsekretär Giesen, 20. 12. 1955; und Schreiben von Giesen an Friedrich Karrenberg, 4. 1. 1955 (EZA Berlin 71/1636). 672 Die Erörterung und Bearbeitung der Vertriebenenfrage durch spezialisierte Gremien lässt sich auch auf die Erfordernisse einer funktional differenzierten Gesellschaft und einer funktional differenzierten Kirche zurückführen. 673 Zur Rezeption des von Adenauer besuchten „Tags der zerstreuten Heimatkirche“ in Lübeck sowie zur Hamburger Flüchtlingskonferenz siehe oben 133–135 und 145–147. Die Berichte über die Kirchentage nahmen regelmäßig einen großen Platz ein. Die Arbeit des OKAs spielte dagegen überhaupt keine Rolle. 674 Zum Wandel der Stimmführerschaft: Greschat, Protestantismus, hier 547–552; und Lepp, Wort, 84 f.

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Konfession, die inner- und außerprotestantischen Auseinandersetzungen und Diskussionen parallelisieren. In den allgemeinen säkularen Medien, aber auch innerhalb der Kirche gerieten, wie die Akteure der kirchlichen Vertriebenenproblematik monierten, die Vertriebenen – zum Teil zu Unrecht – unter Revisionismus- oder Revanchismusverdacht. Sie galten als „Ewig-Gestrige“ und wurden „vom Patenkind zur Unperson.“675 Dies wurde auch von den Akteuren der kirchlichen Vertriebenenarbeit mehrfach beklagt und auf die Kirche übertragen.676 Grundsätzlich unterschieden sich allerdings die Stellung und damit die Einflussmöglichkeiten der jeweiligen Repräsentationsorgane: Während der OKA mit geringen Kompetenzen ausgestattet war, konnten die politischen Vertriebenenorganisationen ein großes Einfluss- und Druckpotential aufbauen.677 Weniger erfolgreich waren die Vertriebenenorganisationen darin, die Berichterstattung über die Vertriebenen in den allgemeinen Medien positiv zu beeinflussen, den Revisionismusverdacht zu entkräften und die Selbstisolation zu überwinden. Ende der 1950er Jahre ist zudem ein Mitglieder- und Bedeutungsverlust des BdV zu beobachten.678 Ab Mitte der 1950er Jahre gerieten die Fragen der Ostgrenzen und des Heimatrechts zunehmend in den Fokus sowohl der kirchlichen Vertriebenengremien als auch der allgemeinen protestantischen Öffentlichkeit. Verschiedene protestantische Akteure, Intellektuelle und einzelne Landessynoden hatten die Möglichkeit einer Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze angedeutet oder explizit gefordert. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Debatte bildete das Tübinger Memorandum von 1963. Diese Beiträge offenbarten ein großes Erregungspotential seitens der säkularen Vertriebenenorganisationen, die die Deutungshoheit über diese Frage beanspruchten und zunehmend in die Defensive gerieten.679 Ein vergleichbares mediales Erregungs- und Auf-

675 Auch Schlau, Eingliederung, 159 f. 676 Die Klage, die Vertriebenen würden in Presse und innerhalb der EKD des Revisionismus verdächtigt, war jedenfalls ab Ende der 1950er Jahre vermehrt zu vernehmen. So jedenfalls Schreiben von Prof. Hans Koch an Gerhard Gülzow, 16. 2. 1959 (EZA Berlin 17/632); Schreiben von Gerhard Rauhut an Gerhard Gülzow, 25. 9. 1959 (EZA Berlin 17/721); und Forum 4 Politik: Vertriebene. In: Dokumente, 806; Schreiben von Hans Frhr. v. Rosen an Günter Besch mit Abschrift an Gülzow, 7. 12. 1966 (EZA Berlin 2/4298). Zum Revisionismusverdacht insgesamt siehe Stickler, Vertriebene, 177–201. Allerdings ist auch im Umgang mit der Literatur Vorsicht angebracht. Stickler macht die erfolgreiche Wirkung der SED-Propaganda für die Verbreitung des Revisionismusverdachts verantwortlich und entlastet den BdV deutlich. Seine Kritik ist grundsätzlich zu begrüßen, jedoch stellt sich die Frage, ob er mit dieser Interpretation andere Faktoren wie beispielsweise die Verlautbarungen des BdV nicht zu stark ausblendet. 677 So jedenfalls Kossert, Heimat, 153 f. 678 Stickler, Ostdeutsch, 140 f. 679 Wie sehr die Vertriebenenverbände die Deutungshoheit über den „deutschen Osten“ beanspruchten, verdeutlicht, dass die Vertriebenenverbände 1957 dafür plädierten, dem Außenminister einen weiteren Staatssekretär zur Seite zu stellen, der die Vertriebenen im Außenministerium vertrete. Dies geht hervor aus: Ein Warnruf der Vertriebenen. In: SZ, 6. 2. 1957, 2.

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merksamkeitspotential vermochten die integrationspolitischen Fragen hingegen nicht zu entfalten. Insgesamt lassen sich zwei Beobachtungen festhalten: Im bundesdeutschen Protestantismus wurde die Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik zunehmend den Vertriebenen selbst und damit einem spezifischen, isolierten Diskursort überlassen. Zudem gerieten die im eigentlichen Sinne integrationspolitischen Fragen gegenüber der Grenzfrage ins Hintertreffen und wurden, wenn überhaupt, in der Regel von einzelnen Akteuren wie Ludwig Landsberg thematisiert. Diese kommunikative und diskursive Konstellation präfigurierte letztlich die Rezeption und Diskussion der Vertriebenen- und Ostdenkschrift der EKD von 1965. Die Denkschrift ließ ein ähnliches Diskussionsverhalten zutage treten. Wie sind diese Beobachtungen zu erklären? Erstens sind die sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Bedingungsfaktoren zu nennen, die sich auch auf den Diskurs und die diskursive Problemzuschreibung und -wahrnehmung auswirkten. Ab Mitte der 1950er Jahre waren die richtungsweisenden sozialpolitischen Entscheidungen gefallen, außerdem hatte sich die wirtschaftliche Situation infolge des Wirtschaftswachstums konsolidiert. Die Vertriebenen waren zwar im westdeutschen Wirtschaftsleben strukturell benachteiligt, doch stabilisierte sich ihre sozioökonomische Situation, wenn auch auf einem im Vergleich zur aufnehmenden Gesellschaft niedrigeren Niveau. Dies hatte auch Effekte auf die vertriebenenspezifischen Integrationsdebatten. Die Vertriebenenproblematik verlor parallel dazu ihr gesamtgesellschaftliches Bedrohungspotential und damit ihre krisensemantische Aufladung. Die gesellschaftlichen Bedrohungsszenarien, das allgemeine Krisenempfinden und die gesellschaftspolitische Integrationsproblematik wurden im Gegensatz zur unmittelbaren Nachkriegszeit nicht mehr miteinander verknüpft. Diese diskursspezifische, sozialgeschichtlich bedingte Tendenz wirkte sich auch auf die Rezeption der Denkschrift aus. Der Topos der gelungenen Integration beschrieb das Lebensgefühl und die Wahrnehmung der aufnehmenden Gesellschaft vermutlich zutreffend, auch wenn dieser Topos aus sozialhistorischer Sicht infrage gestellt werden muss.680 In diese These fügen sich die Sachverhalte ein, dass das Vertriebenenministerium 1969 aufgelöst wurde und die Kategorie „Vertriebene“ kurz darauf aus der amtlichen Statistik der Bundesrepublik verschwand. Beides spricht dafür, dass die Vertriebenen in integrationspolitischer Hinsicht nicht mehr als gesellschaftliches Problem wahrgenommen oder mit einer gesellschaftlichen Problemwahrnehmung diskursiv in Verbindung gebracht wurden. Diese Überlegungen erklären auch, warum ein Teil derjenigen Rezipienten, die den integrationspolitischen Teil zur Kenntnis nahmen, wieder auf den Topos zurückgriffen, dass die wirtschaftlich-materielle Dimension im Wesentlichen erfolgreich verlaufen, während die Schwartz spricht von einem „heimatpolitischen Vetorecht“, das mit der Unterzeichnung der Ostverträge gebrochen worden sei (Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 134). 680 Kossert, Heimat. Sozialstrukturell argumentierend: L ttinger, Mythos.

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sog. innere, d. h. die geistige, kulturelle oder psychologische Eingliederung unabgeschlossen sei. Dieses Motiv ist sogar bei den Initiatoren der Denkschrift selbst zu finden, wie Wilkens Referat auf der Bad Boller Tagung im Januar 1966 zeigt.681 Dabei handelte es sich jedoch um eine verkürzte Rezeption, denn die Denkschrift hatte ja differenziert argumentiert und sowohl Defizite als auch Erfolge sozioökonomisch-materieller Art analysiert. Diese verkürzte Rezeption und die Wahrnehmung einer erfolgreichen wirtschaftlichen Integration trugen dazu bei, dass die Denkschrift in integrationspolitischer Hinsicht keinen politischen Prozess hervorrief. Ein entsprechender sozialpolitischer Handlungsdruck war offenbar nicht mehr vorhanden oder wurde nicht wahrgenommen. Zugleich ist darauf hinzuweisen, dass der Novellierungsprozess des Lastenausgleichs ja weiterhin im Gang war. Möglicherweise fungierte die Denkschrift im Novellierungsprozess als argumentative, moralische und publizistische Schützenhilfe, ohne dass ihr selbst ein unmittelbarer Effekt zugesprochen werden kann oder eine direkte Wirkung der Denkschrift auf den im Gang befindlichen Gesetzgebungsprozess messbar wäre. Zumindest das Votum des Bundesvertriebenenministers Johann Baptist Gradl deutete einen solchen Zusammenhang an. Die in der Denkschrift geforderte Anerkennung des Unrechts wie die Analyse seelischer oder zwischenmenschlicher Befindlichkeiten rekurrierten wiederum eher auf allgemeine Haltungen und Einstellungen seitens der aufnehmenden Gesellschaft, die nicht mit politischen Handlungsaufforderungen einhergingen und in Politik umzusetzen wären. Unterstellt man der Denkschrift eine integrationspolitische Handlungsabsicht, so ließe sich überspitzten, dass sie sich mit ihrer Differenzierung selbst im Wege stand. Mediale Aufmerksamkeit generierten, so die zweite erklärende These, offenbar solche Themen, die selbstverständliche Gewissheiten infrage stellten, identitätspolitisch aufgeladen waren, ein klares Bekenntnis der Debattenteilnehmer verlangten und über eine polarisierende Debattenstruktur, beispielsweise in Form einer sich gegenseitig ausschließenden Entweder-OderAlternative, verfügten. Dieser Sachverhalt zeigt sich bereits anhand der Wiederbewaffnungs- und Westintegrationsdebatten, die regelmäßig die Ausrufung des „Status Confessionis“ hervorriefen und in der letztlich die Fronten des sog. „Kirchenkampfes“ reaktiviert wurden.682 Scharfe Reaktionen provozierten auch solche Äußerungen zum Recht auf Heimat bzw. zur Frage der Ostgrenze, die eine Relativierung des Heimatrechts andeuteten oder explizit aussprachen und damit selbstverständliche Gewissheiten infrage stellten. Dieser Mechanismus kann beispielsweise anhand der Äußerungen von Heinrich Albertz, Martin Niemöller, Klaus von Bismarck und Karl Barth, während der 1960er Jahre anhand des Tübinger Memorandums und 681 Versçhnung, 8. 682 Greschat, Protestantismus im Kalten Krieg; ders., Christenheit; und ders., Protestantismus in der Bundesrepublik.

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schließlich anhand der Denkschrift selbst beobachtet werden. Dies ist auch auf die identitätspolitisch-normative Aufladung der Debatten und ihre polarisierende Debattenstruktur zurückzuführen. Die sozialpolitischen Debatten über den Lastenausgleich waren zwar ebenfalls umstritten, jedoch erforderte der Lastenausgleich kein Bekenntnis, rührte nicht an den Kern nationaler oder religiöser Selbstverständnisse und erzwang keine Positionierung zugunsten einer von zwei sich gegenseitig ausschließenden Alternativen. Folglich konnte hier ein Modus des Kompromisses gefunden werden, der während des Novellierungsprozesses beibehalten wurde. So weist das verabschiedete Gesetz zwar weitgehende Zugeständnisse gegenüber den einheimischen Besitzeliten auf, andererseits konnten während der 1950er und 1960er Jahre deutliche Leistungsverbesserungen für die Geschädigten erreicht werden. Das Wirtschaftswachstum vergrößerte den Verteilungsspielraum beträchtlich, ohne dass die Abgabeseite – und damit die Belastungen für die aufnehmende Gesellschaft – erhöht werden musste. Die Vertriebenenorganisationen reagierten auf die aus ihrer Sicht ungenügenden Novellierungen nach wie vor mit scharfer Kritik und setzten ihr Druckpotential ein, im Endeffekt etablierte sich in den jeweiligen Parlamentsausschüssen oder Beiräten jedoch ein Aushandlungsmodus. Im Protestantismus selbst spielte der Novellierungsprozess, soweit erkennbar, keine Rolle. Die EKD-Gremien, die mit der Vertriebenenproblematik befasst waren, assoziierten die Vertriebenen ab Mitte der 1950er Jahre nicht mehr mit einem Gerechtigkeitsdefizit, das zum Handeln aufgefordert hätte.683 Zudem nahmen einzelne protestantische Akteure durchaus zur Kenntnis, dass die Vertriebenen über einflussreiche Lobbyorganisationen verfügten und somit nicht auf eine advokatorische Vertretung der Kirchen angewiesen waren.684 Diese unterschiedlichen Debattendynamiken zwischen Heimatrechtsproblematik und sozialpolitischen Fragen reproduzieren und wiederholen sich in der Diskussion über die EKD-Denkschrift von 1965. Hier lassen sich zwei 683 Eine Ausnahme waren die Flüchtlinge aus SBZ und DDR. Hier ist wieder ein stärkeres Engagement protestantischer Akteure zu verzeichnen, was auch für das Thema dieser Arbeit relevant ist: Die Flüchtlinge wurden kirchlicherseits mit einem Gerechtigkeitsdefizit in Verbindung gebracht, die Vertriebenen nicht. Das Engagement zielte auf eine Ausweitung der anerkannten Fluchtgründe und eine Besserstellung im Lastenausgleich. Interessanterweise zielte das Engagement zwar auf die DDR-Flüchtlinge und nicht auf die Vertriebenen, in der Rhetorik wurde aber immer von „Flüchtlingen und Vertriebenen“ gesprochen. Vermutliche sollte den Vertriebenen auf diese Weise signalisiert werden, dass man sie nicht vergessen hatte. Vgl. z. B. Niederschrift über das Gespräch „Die Verantwortung der evangelischen Kirche für die Vertriebenen“ am 18./19. 3. 1957 in der evang. Akademie in Loccum; Gutachten aufgrund des Gesprächs über die Verantwortung der Kirche für Vertriebene, Loccum am 18. und 19. 3. 1957 (EZA Berlin 87/130). Umfangreiche Korrespondenzen bezüglich der DDR-Flüchtlinge zwischen Staat und Kirche sind überliefert in den Akten EZA Berlin 87/130; 87/133; 656/456, 87/ 573, 742/396 und BArch Koblenz B 150/419. 684 Hermann Kunst wies auf den Einfluss der Vertriebenenorganisationen hin. Siehe Vertraulicher Aktenvermerk über die Sitzung des Rates der EKD am 4. 2. 1960 in Hannover (EZA Berlin 631/ 4). Vgl. auch Kossert, Heimat, 153 f.

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divergierende nationale Identitätsentwürfe freilegen. Während der BdV, der regelrecht Kampagnen gegen die Denkschrift startete,685 einen territorialbezogenen Identitätsentwurf vertrat, der den als deutsch attribuierten Osten zum unverzichtbaren Bestandteils Deutschlands und zum Bezugspunkt deutscher Identität erklärte, vertraten die Initiatoren der Vertriebenen- und Ostdenkschrift den Identitätsentwurf einer „Schuld- und Haftungsgemeinschaft“686, der die nationalsozialistische Vergangenheit als Bezugspunkt der nationalen Identität begründete. Aus dieser Einsicht heraus leiteten sie letztlich den Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete ab. Auch der Bezug auf die NS-Vergangenheit war für viele Kritiker ein rotes Tuch. Als konfliktverschärfend wirkte sich der Sachverhalt aus, dass die Vertriebenenorganisationen ihre politische Existenzberechtigung an die Heimatrechtsfrage knüpften und sich zum Anwalt nationaler Interessen stilisierten, während ihr faktischer Einfluss ab Ende der 1950er Jahre nachließ.687 Dass es nun ein kirchenamtliches Dokument war, das den Tabubruch vollzog, erhöhte die vehemente Ablehnung der Denkschrift durch die Vertriebenenorganisationen – mit Luhmann gesprochen wirkte sich der „Status des Absenders“ als Generator von Aufmerksamkeit aus.688 Innerhalb protestantischer Kommunikationszusammenhänge stand neben der Frage der nationalen Identität auch die protestantische Identität zur Disposition. So wurde anlässlich der Denkschrift die für das protestantische Selbstverständnis zentrale Frage der Verhältnisbestimmung von Kirche und Vaterland oder von Evangelium und Politik aufgeworfen. Nach der Veröffentlichung der Denkschrift zeigten sich gerade diejenigen enttäuscht, die von „ihrer Kirche“ ein Engagement für die „Entrechteten“ und für nationale Rechtsansprüche erwartet hatten. Ebenso spielten die theologischen Prämissen der Denkschrift und die Frage, ob die Denkschrift eine politische Entscheidung theologisch sanktioniere oder nicht, in der Diskussion eine große Rolle. Die vermeintliche theologische Legitimierung einer politischen Sachentscheidung und die, wie die Kritiker zu beobachten glaubten, unrechtmäßige Vermischung von Theologie und Politik stellte neben den eigentlichen ostpolitischen Aussagen eine der Hauptangriffsflächen dar, auch wenn die Denkschrift selbst hinsichtlich der konkreten Grenzfrage einen autonomen politischen Entscheidungsbereich anerkannt und gerade davor gewarnt hatte, die Leistungsfähigkeit der Theologie zu 685 Von einer Kampagne spricht: Heck, EKD, 170. Heck erkennt in den Berichten der Vertriebenenverbände eine Personalisierung der Angriffe. Siehe ebd., 168. Zu den Reaktionen der Verbände insgesamt siehe ebd., 166–175. 686 Wilkens, Erwin: „Das Recht auf Heimat“, o. D. (EZA Berlin 17/639). 687 Kossert, Heimat, 144. 688 Luhmann benennt Bedingungen dafür, dass ein Thema Aufmerksamkeit erregt. Darunter nennt er das Kriterium „Status des Absenders“ (H rte, Lastenausgleich, 112–15). Dieses ist in diesem Fall gegeben. Es handelte sich zwar um eine Denkschrift der Kammer für öffentliche Verantwortung, jedoch erschien sie mit Billigung des Rats. Der Ratsvorsitzende Kurt Scharf versah die Denkschrift mit einem Vorwort und setzte seine Unterschrift darunter.

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überschätzen. In der Auseinandersetzung mit den theologischen Aussagen und im Versuch, die theologische Argumentationsstruktur zu widerlegen, kommt nicht zuletzt der Anspruch einiger Vertriebenenfunktionäre auf theologische Deutungskompetenz zum Ausdruck, die damit nicht zuletzt ihre Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche markierten. In diesem Sinne heißt es in einem kircheninternen Vermerk über den neu gewählten Präsidenten des BdV: Rehs gab sich als neu gewählter Präsident des BdV betont als Mann der Kirche und als bewusst evangelischer Christ und ebenso als ein leidenschaftlicher Gegner der Denkschrift und der Leitung der EKD.689

Vor dem Hintergrund der Diskussion der theologischen Aussagen bestätigt sich die Hypothese von Könemann et al., dass die theologisch-religiösen Argumente die Aufmerksamkeitspotentiale vergrößern konnten, sofern sie in kritischer Opposition gebraucht wurden.690 Folglich trugen die theologischen Aussagen, aus der Perspektive der Kritiker gedacht, zur Erzeugung von Aufmerksamkeit bei. Unter der Annahme, dass solche nationalen und religiösen Identitätsfragen moralisch und normativ aufgeladen waren und die „Integrität des Ostens“ oder das „Recht auf Heimat“ für viele Vertriebenen und v. a. für ihre Repräsentanten unverhandelbare „Werte“ waren, lässt sich Niklas Luhmanns Überlegung zur Erzeugung von Aufmerksamkeit auch auf dieses Beispiel übertragen: Der Eindruck, dass die Denkschrift fundamentale Werte, Rechte und Prinzipien der Vertriebenenorganisationen mit kirchenamtlicher Autorität verletzte und die Integrität Deutschlands „verrat“, erzeugte mediale Aufmerksamkeit in Form von aufgebrachten Debattenbeiträgen, was medienlogisch auf Kosten der integrationspolitischen Aussagen der Denkschrift ging. Die integrationspolitischen Analysen der Denkschrift bedrohten hingegen keine Werte, stellten keinen Tabubruch dar und gingen auch nicht mit einem Krisenempfinden oder einem Problembewusstsein einher. Es fehlte demnach auch der entsprechende Resonanzboden für die Aufnahme dieses Teils.

4.7 Zwischenfazit Die protestantische Auseinandersetzung mit dem Integrationsprozess und der Situation der Vertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft umfasste zwei Dimensionen: einerseits die integrationspolitischen Implikationen der protestantischen Auseinandersetzung mit Heimat, andererseits die explizite 689 Das geht hervor aus: Vermerk vom 15. 3. 1967 (EZA Berlin 87/575). 690 Kçnemann et al., Interessenvertretung, 241. Die empirische Untersuchung Könemanns ergab, dass religiöse Argumente keine Aufmerksamkeit generierten, sofern sie konsensunterstützend gebraucht werden.

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Thematisierung von Integrationsdefiziten. Anstelle einer ermüdenden Auflistung unzähliger Belege für die Thematisierung von Integrationsdefiziten scheint es heuristisch ergiebiger, den Zusammenhang der beiden miteinander verwobenen Themenfelder zu rekonstruieren und den dominanten Heimatdiskurs auf seine integrationspolitischen Konsequenzen zu befragen. Der Heimatbegriff war nicht nur ein außen-, sondern auch ein integrationspolitischer Begriff, der die Integration und Beheimatung im Westen in den Blick nahm. Viele protestantische Akteure profilierten dabei ein Verständnis von Heimat, das die Rückkehr in den deutschen Osten relativierte und der westdeutschen Industriegesellschaft Heimatfähigkeit zusprach. Heimat war kein klar bestimmbarer, sondern ein fluider, vielfältig konnotierter und vielseitig interpretierbarer Begriff, der einem diskursiven dynamischen Aushandlungsprozess unterworfen war. Ebenso vielseitig interpretierbar wie „Heimat“ war das „Recht auf Heimat“, das einerseits die individuelle Heimatsehnsucht vieler Vertriebenen zum Ausdruck bringen konnte und dabei auf konkrete Orte rekurrierte, andererseits als national-kollektiver Rechts- und Besitzanspruch der Vertriebenen wie des gesamten deutschen Volkes verstanden wurde. Die theologische Skepsis gegenüber einem Recht auf Heimat zeigt sich anhand von drei Argumentationsfiguren und Problemwahrnehmungen: Erstens wurde das Heimatproblem nicht als Rechtsfrage, sondern als seelsorgerliches Problem verhandelt, das nicht einfach durch eine Rückkehr zu lösen sei.691 Zweitens wurde auf die bereits erfolgte Integration im Westen verwiesen. Drittens verweigerten einige Theologen die theologische Legitimation eines Rechts auf Heimat und stellten Heimat unter einen eschatologischen Vorbehalt. Damit verweigerten sie die Legitimierung eines politischen Standpunktes, den die Vertriebenenverbände mit Vehemenz und wenig Kompromissbereitschaft propagierten. Andere Akteure im Umkreis des OKAs waren um eine theonome Legitimation des Heimatrechts bemüht und nahmen damit die mögliche Rückkehr in den Blick. In den späten 1950er Jahren wurde zudem ein Rechtsanspruch postuliert, der moralisch, völkerrechtlich und theologisch konnotiert war. Die partielle Radikalisierung des OKAs ging nicht zuletzt mit seiner veränderten personellen Zusammensetzung einher. Mit dieser politischen und theologischen Ausrichtung konnte der OKA im Gegensatz zu den frühen 1950er Jahren nicht mehr beanspruchen, eine moderierende Instanz zu sein. Damit wurden die Weichen für die Auseinandersetzungen im Vorfeld der Vertriebenen- und Ostdenkschrift gestellt: Denn aufgrund dieser politischen und theologischen Ausrichtung geriet der OKA schließlich in eine Oppositionshaltung gegenüber anderen protestantischen Akteuren und EKD-Gremien, die für eine neue deutsche Ostpolitik und eine Aussöhnung mit Polen warben und die EKD-Denkschrift „Zur Lage der Ver691 In der evangelischen Ethik ist die Unterscheidung von moralischem und juristischem Recht gebräuchlich. Vgl. Huber, Gerechtigkeit.

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triebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ vorbereiteten. In der Terminologie der Diskursanalyse gesprochen trug die Denkschrift dazu bei, dass sich das Spektrum des Sagbaren verschob und eine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze sowie eine Kritik am Recht auf Heimat allmählich sagbar wurde, wie der Meinungsumschwung zeigt, der auf die Denkschrift folgte. Dabei war die in der Denkschrift vertretene Position keineswegs neu, sondern begegnet bereits während der 1950er Jahre, war aber nicht konsensfähig. Die Annäherung des OKAs an die Landsmannschaften hatte den Preis einer diskursiven Isolierung und kirchenpolitischen Entfremdung von der EKD, die sich während der Vorbereitungen der Denkschrift, aber auch in der Kommunikation mit dem DEK oder der Synode deutlich zeigte. Die Vertreter des Heimatrechtspostulats, insbesondere die Vertriebenenorganisationen, gerieten durch Stimmen unter Druck, die ein Recht auf Heimat behutsam oder expressis verbis anzweifelten. Nur vor diesem Hintergrund ist es erklärbar, warum der Vizepräsident des BdV Erich Schellhaus 1962 „ein Gesetz forderte, das Verzichtbekundungen in Bezug auf ,ostdeutsches Land‘ mit Gefängnis bestrafen solle.“692 Im Kontext der Oder-NeißeFrage verschob sich die Heimatrechtsdebatte während der 1960er Jahre auf eine völkerrechtliche und eine ost- bzw. außenpolitische Ebene. Die explizite Bezugnahme auf den Integrationsprozess in Westdeutschland, die integrationspolitischen und seelsorgerlichen Konnotationen sowie die diskursiven und argumentativen Bezüge zwischen Heimatrecht und Integration im Westen spielten sowohl bei den Befürwortern als auch bei den Kritikern in diesem Zusammenhang kaum eine Rolle. Erst die Denkschrift stellte den Zusammenhang von Heimatfrage und Integrationsproblematik explizit her. In Abgrenzung zur überwiegend an den ostpolitischen Fragen interessierten Literatur wird hier die integrationspolitische Bedeutung der Denkschrift hervorgehoben.693 Die seelsorgerliche Intention kam dabei auf mehrfache Weise zum Ausdruck. Die kirchlichen und säkularen Vertriebenengremien bedachten die in der Denkschrift benannten sozioökonomischen Integrationsdefizite mit einer geringen Aufmerksamkeit. Wenn dies wie in der Stellungnahme von Wenzel Jaksch doch der Fall war, dann wurde der integrationspolitische Teil als kommunikatives Ablenkungsmanöver diskreditiert oder seine Ernsthaftigkeit 692 Hier zitiert nach Kossert, Heimat, 153. 693 In der Literatur zur Vertriebenen- und Ostdenkschrift der EKD stehen einerseits die theologische Reflexion, andererseits der ostpolitische Tabubruch im Zentrum. Ausdruck für die verkürzte Rezeption der Literatur ist bereits der gebräuchliche Titel „Ostdenkschrift“, obwohl es sich um eine „Vertriebenen- und Ostdenkschrift“ handelte. Dies ist problematisch, da die Forschungsliteratur damit den zeitgenössischen Diskurs reproduziert und das Kernanliegen der Denkschrift übergeht, nämlich die ostpolitische Situation und die Situation der Vertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft in einen Zusammenhang zu stellen. Der korrekte Titel lautet: „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ (Die Lage der Vertriebenen).

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bezweifelt. Stärker wurden die seelsorgerlichen Intentionen wie die vermeintliche oder tatsächliche Entfremdung der Vertriebenen von der Kirche – und damit die gesamtgesellschaftliche Integrationsfähigkeit der Kirche – problematisiert. Der Zweifel an der seelsorgerlichen Intention war vor dem Hintergrund des seelsorgerlichen und integrativen Selbstverständnisses eine der zentralen Delegitimierungsstrategien ihrer Kritiker; die Affirmation der Seelsorge eine Legitimationsstrategie ihrer Verteidiger. Bezüglich der spezifischen Rezeptionsmechanismen der weltlichen und kirchlichen Vertriebenengremien sind keine grundlegenden argumentativen Unterschiede feststellbar.694 Die Frontlinie hinsichtlich Zustimmung und Ablehnung der Denkschrift und in Bezug auf die Rezeption des integrationspolitischen Teils verlief trotz zum Teil unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen offenbar weniger zwischen weltlichen und kirchlichen als vielmehr zwischen der vertriebenenspezifischen und allgemeinen Presse. Hanns Lilje, Erwin Wilkens, Helmut Thielicke, Wolfhart Pannenberg, Wolfgang Schweitzer, Kurt Rabl, Ludwig Raiser, Eugen Gerstenmaier, Friedrich Goldschmidt, Philipp von Bismarck oder Marion Dönhoff diskutierten die Denkschrift in längeren Essays, die sie in den protestantischen Zeitschriften „Christ und Welt“, „Evangelische Welt“, „ZEE“ oder „Sonntagsblatt“, zum Teil aber auch in der nichtkirchlichen Presse wie dem „Spiegel“, der „Welt“ in der „Zeit“ publizierten.695 Inhaltlich standen die Legitimitätsfrage und insbesondere das seelsorgerliche Selbstverständnis im Zentrum, wobei die integrationspolitischen und gesellschaftsdiagnostischen 694 Sowohl die kirchlichen als auch die nichtkirchlichen Vertriebenengremien setzten sich mit dem seelsorgerlichen Anspruch und mit den theologischen Argumenten auseinander. Theologische Deutungsfiguren wie das „Gottesgericht“ riefen besonders scharfe Kritik hervor und galten den Kritikern als Ausweis für eine unsachgemäße Vermischung von Theologie und Politik. Siehe Jaksch verurteilt EKD-Denkschrift. Stellungnahme des Bundes der Vertriebenen angekündigt. In: Die Welt, 23. 10. 1965, 2. Dietrich Strothmann entgegnete ein Jahr später, dass es sich nicht um ein politisches, sondern um ein „theologisch-seelsorgerliches Votum“ handelte (Strothmann, Dietrich: Kanonade auf Scharf. Vertriebene sagen evangelischen Kirche den Kampf an. In: Die Zeit, 2. 9. 1966). Allerdings wäre zu fragen, ob sich theologische Interpretation und politische Konsequenzen so stark voneinander trennen lassen. Schließlich betonten ja auch die Verteidiger der Denkschrift, dass Seelsorge in den Bereich des Politischen hineinwirke. Vor dem Hintergrund einer Konvergenz zwischen Seelsorge und Politik (z. B. Helmut Thielicke) kann auch der seelsorgerlich intendierten Gericht-Gottes-Figur eine politische Implikation unterstellt werden, die die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als moralisch-politische Konsequenz zumindest nahelegte. Kritisch zur Gerichtsfigur auch Wendebourg, Kirche, 34–36. 695 Z. B. Goldschmidt, Friedrich: Der Streit um die Denkschrift. Friedrich Goldschmidt antwortet Philipp von Bismarck. In: Die Zeit, 19. 11. 1965; Dçnhoff, Marion: Kirche auf politischen Abwegen? Die Denkschrift der EKD zur Ostpolitik. In: Die Zeit, 22. 10. 1965, 1; Bismarck, Philipp von: Der Streit um die Denkschrift. Philipp von Bismarck setzt sich im Namen der Vertriebenen mit den Argumenten der EKD auseinander. In: Die Zeit, 12. 11. 1965; Gerstenmaier, Eugen: Gilt das Vaterland nichts mehr? In: Die Welt, 24./25. 12. 1965; und Raiser, Ludwig: Das sagt man doch als guter Deutscher nicht. In: Der Spiegel, 17. 11. 1965, 71–73. Siehe auch Anm. 467.

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Aussagen als Verteidigung des seelsorgerlichen Anspruchs fungierten. Die nicht vertriebenenspezifische überregionale Presse berichtete über die Stellungnahmen, nahm in erster Linie eine beobachtende Rolle ein und bildete den Diskussionsverlauf ab.696 Punktuell trat die allgemeine säkulare Presse mit eigenen Kommentaren hervor, wobei abwägende oder zustimmende Kommentare überwogen und nur gelegentlich ablehnende Kommentare zu finden sind.697 Hierbei ist ein deutlicher Unterschied zur Aufnahme in der säkularen Verbandspresse festzustellen. Anhand der Rezeption in der allgemeinen säkularen und kirchlichen Presse ist feststellbar, dass der integrationspolitische Teil der Denkschrift zwar ohne Zweifel im Schatten der ostpolitischen, völkerrechtlichen und theologischen Auseinandersetzungen stand, jedoch lässt sich nicht bestätigen, dass dieser Teil überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden wäre. Allerdings ist eine solche Unterscheidung zwischen säkular und kirchlich, die hier aus heuristischen Gründen getroffen wurde, auch problematisch, vernachlässigt sie nicht zuletzt die Wechselwirkungen zwischen beiden Sphären. Die Verteidiger und Initiatoren der Denkschrift brachten ihre Argumente zum Beispiel zum Teil wortgleich sowohl in säkularen als auch in kirchlichen Medien vor. Während die Presseorgane des BdV und der verschiedenen Landsmannschaften die integrationspolitischen Aussagen zum größten Teil ignorierten, nahmen überregionale Wochen- und Tageszeitungen diese teilweise zur Kenntnis und sahen gerade, korrespondierend mit den Verteidigungsstrategien der Initiatoren, im integrationspolitischen Teil einen Beleg für die Ausgewogenheit der Denkschrift und für den seelsorgerlichen Anspruch.698 Insgesamt lassen sich elf längere Kommentare nachweisen, die den integrationspolitischen Teil zustimmend und würdigend erwähnten.699 Konkrete Handlungsappelle oder -empfehlungen wurden damit nicht verknüpft, auch blieb es in der Regel bei der Erwähnung dieses Teils, ohne inhaltlich näher 696 Dabei kann grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, dass auch berichtende Nachrichten indirekt eine Positionierung vornahmen, indem bestimmte Aspekte ausgeschlossen, andere bevorteilt wurden. 697 So sahen es auch die Verfasser der Denkschrift: Versçhnung, 2. 698 Wilkens, Erwin: Ohne Haß und Gunst. Die neue Denkschrift der EKD. In: Sonntagsblatt, 24. 10. 1965, 1 und 13; Raiser, Ludwig: Das sagt man doch als guter Deutscher nicht. In: Der Spiegel, 17. 11. 1965, 71–73; Picht, Georg: Anders gesehen. Zur EKD-Denkschrift. In: ChrWelt, 10. 12. 1965, 4; und In der Umstellungskrise des politischen Bewusstseins. Gespräch mit Prof. Dr. Georg Picht über die „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher“. In: EvKo 1 (1968), H. 6, 304. 699 Kommentare, die den integrationspolitischen Teil zumindest erwähnten, erschienenen in der „Süddeutschen Zeitung“ und in der „Zeit“. Dçnhoff, Marion: Kirche auf politischen Abwegen? Die Denkschrift der EKD zur Ostpolitik. In: Die Zeit, 22. 10. 1965, 1; Gradl für Versöhnungsgrenze zwischen Deutschland und Polen. In: Welt, 28. 10. 1965, 2; Sch tz, Christian: Heimatgefühl und politische Wirklichkeit. In: SZ, 21. 10. 1965; und ders.: Die Denkschrift hat überlebt. In: SZ, 29. 10. 1965, 4. Innerhalb der kirchlichen Presse: Lilje, Hanns: Noch einmal: Die Denkschrift. In: Sonntagsblatt, 12. 12. 1965, 1 f.; und ders.: Das geht die Kirche etwas an. In: Sonntagsblatt, 14. 11. 1965, 3 f.

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darauf einzugehen. Ob der integrationspolitische Teil rezipiert wurde oder nicht, hing schlussendlich auch von der Haltung zur Denkschrift ab. Grundsätzlich ist auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Verweis auf die integrationspolitischen Aussagen und die Würdigung der schwierigen Situation der Vertriebenen instrumentell gebraucht wurden. Mit anderen Worten: Der Verweis auf die integrationspolitischen Aussagen war auch ein willkommenes Argument, um dem seelsorgerlichen Anspruch der Denkschrift Glaubwürdigkeit und der Denkschrift insgesamt Legitimität zu verleihen. Dies soll allerdings nicht die Ernsthaftigkeit der Autorenintention in Zweifel ziehen. Kommunikationsstrategische Motive und politische Überzeugungen müssen nicht als sich gegenseitig ausschließende Alternativen gedacht werden. Die Frage, inwieweit die Denkschrift darüber hinaus dazu beitrug, wenigstens die westdeutsche Gesellschaft für die Situation der vielfach benachteiligten Vertriebenen zu sensibilisieren, muss unbeantwortet bleiben.

5. Fazit 5.1 Die verlorene Gemeinschaft und die Entdeckung der Gesellschaft Insgesamt gab es keinen einheitlichen, kohärenten Eingliederungs- oder Integrationsbegriff, der mit einer spezifischen kohärenten gesellschaftlichen Ordnungsidee und einem spezifischen gesellschaftlichen Selbstentwurf verknüpft wäre. Vielmehr beschrieb er ein Spektrum der anstehenden Aufgaben und beinhaltete vielfältige Vorstellungen davon, wie die „Eingliederung“ verlaufen solle und was das Ziel der Eingliederung sei. Die Vorstellungen von „Eingliederung“ beinhalteten zugleich Implikationen, was die Gesellschaft – deskriptiv und normativ – sei und sein solle und wie der gesellschaftliche Zusammenhang gewährleistet werde. Um die Empfindung oder Wahrnehmung der gesellschaftlichen Desintegration zum Ausdruck zu bringen, wurden etablierte Topoi der Gesellschaftsdeutung, soziale Wissens- und Glaubensbestände aufgerufen. Diese Vorstellungen bewegten sich häufig auf der Ebene des unhinterfragten Meinungswissens. Zur Wahrnehmung und Deutung der als krisenhaft empfundenen Vertriebenenthematik griffen protestantische Akteure auf etablierte Kategorien der kulturkonservativen Gesellschaftsdeutung und Modernekritik zurück, die angesichts der erzwungenen Zuwanderung von 8 Millionen Vertriebenen aktualisiert wurden. Im Rekurs auf das überlieferte Deutungsensemble, das zugleich den historischen Erfahrungshaushalt anzeigt, ließ sich die neuartige Situation beschreib- und erklärbar machen. Insbesondere z. T. sozialmoralisch konnotierten Topoi „Vermassung“, „Atomisierung“ oder „Proletarisierung“ waren fester Bestandteil des sozialen Glaubens und beschrieben den diagnostizierten Bindungs- und Gemeinschaftsverlust der Vertriebenen wie der gesamten Gesellschaft und den daraus resultierenden moralischen Verfall. Vor dem Hintergrund dieses Negativszenarios profilierte der OKA sein Integrationskonzept, das auf die Wiederherstellung der alten heimatkirchlichen wie landsmannschaftlichen Gemeinschaftsformen, Sozialgefüge, Traditionsbestände und Bindungen zielte. Diese Integrationsvorstellungen waren nicht nur seelsorgerlich motiviert, sondern ihnen lag der Gesellschaftsentwurf einer „gegliederten“, d. h. sozial und ethnisch differenzierten Gesellschaft zugrunde. Demnach waren die Individuen in kleinteilige Gemeinschaftsformen wie Kirchengemeinde, Nachbarschaft, dörfliche Gemeinschaft sowie in Landsmannschaft oder Volkstum „einzugliedern“, die als Integrationsinstanzen gedacht wurden, Gemeinschaft und Bindung stifteten, die gesell-

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Fazit

schaftliche Ordnung garantierten und die „atomisierten Individuen“ vor der Asozialität bewahrten. Die Integrationsvorstellungen des OKAs rekurrierten primär auf den innerkirchlichen Bereich, verfügten aber auf der Basis eines unausgesprochenen volkskirchlichen Selbstverständnisses über eine gesamtgesellschaftliche Dimension. Den Kirchen und v. a. den ehemaligen Ostkirchen wurde eine große Bedeutung bei der Lösung der Sozialen Frage zugesprochen, auch wenn sich viele Akteure der kirchlichen Vertriebenenarbeit enttäuscht über die mangelnde Aufnahmebereitschaft der westdeutschen Gemeinden zeigten, was sie wiederum auf die Verbürgerlichung der Kirche und die volkskirchliche Struktur zurückführten. Das implizit vorausgesetzte Selbstverständnis als Volkskirche konnte demnach einerseits das integrative gesellschaftliche Potential der Kirche betonen, indem sich die Kirche als gesamtgesellschaftlich relevante Institution und Integrationsagentur präsentierte, oder gerade ein exkludierendes Moment zum Ausdruck bringen, indem die volkskirchlich-verbürgerlichte Struktur zu einer Entfremdung vom kirchlichen Auftrag der imitatio Christi führte. Im Kontext der innerkirchlichen Integrationsdebatten zeigt sich die spezifische protestantische Problemwahrnehmung darin, dass die Integrationsdefizite in sozialmoralischen und religiösen Kategorien beschrieben wurden. „Gemeinschaft“ war, als Gegenbegriff zur befürchteten oder erfahrenen Vermassung, ein Zukunftsbegriff und Sehnsuchtsort angesichts einer krisenhaften Gegenwart.1 Das Integrationskonzept entsprach auch den Interessen und dem Selbstverständnis des OKAs, der seine kirchenrechtliche Aufwertung anstrebte und die Ekklesiologie einer geistlich bestimmten „Kirche unter dem Kreuz“ zu etablieren versuchte, die geistlich über den territorialen Kirchen des Westens stünden. Das Konzept der gliedhaften Einfügung entsprach grundsätzlich auch den Integrationsvorstellungen des Bundesvertriebenenministers Theodor Oberländer, der sich für eine landsmannschaftlich orientierte Integrationspolitik aussprach und die Förderung des kulturellen Erbes der Vertriebenen im Bundesvertriebenengesetz zum gesetzlich garantierten Staatsziel erhob. Diese Integrationspolitik sollte nicht nur die Sonderidentität der Vertriebenen wie der einzelnen landsmannschaftlichen Gruppen zementieren, sondern war auch gegen die „Zwangsvermassung“ des DDR-Regimes gerichtet.2 Nicht zuletzt sollte sie dem Gesellschaftsentwurf einer entdifferenzierten sozialistischen Gesellschaft das Gesellschaftsmodell einer kulturell, ethnisch und sozial differenzierten Gesellschaft entgegensetzen. Insgesamt kann daher von einer Konvergenz der integrationspolitischen Vorstellungen und Ziele zwischen OKA und Bundesvertriebenenministerium ausgegangen werden. Ein gewisses Spannungsverhältnis zeigt sich allerdings zwischen den integrationspolitischen Vorstellungen der westdeutschen Landeskirchen, die hinsichtlich Bekenntnis und Kirchenordnung eine Assimilation anstrebten, 1 Ähnlich Retterath über diese Figur in der Weimarer Republik. Siehe Retterath, Volk, 65. 2 Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 123.

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und der die landsmannschaftliche Sonderidentität der Vertriebenen bewahrenden Kulturförderung des Ministeriums, die ihren Ausdruck im § 96 des Bundesvertriebenengesetzes fand. Dieses Spannungsverhältnis wurde von den Akteuren allerdings nicht reflektiert. Möglicherweise lag dem die unausgesprochene Vorstellung einer Trennung von säkularer Kultur und religiöser Sphäre zugrunde. Letztlich konnte sich der OKA gegenüber den westdeutschen Landeskirchen nicht durchsetzen. Die intendierte kirchenrechtliche und ekklesiologische Aufwertung blieb dem OKA verwehrt. Allerdings sollte das Narrativ der Assimilation, das primär der Selbstdeutung der beteiligten Akteure entspringt, partiell relativiert werden. Immerhin existierten nach heimatkirchlichen Gesichtspunkten organisierte Repräsentationsorgane der evangelischen Vertriebenen, die karitative und seelsorgerliche Aufgaben übernahmen. Hier kommt die in der sozialhistorischen Forschung betonte Vernetzungsfunktion von Religion zum Ausdruck. Die Ostpfarrer befanden sich in einer spannungsvollen Position und bildeten gewissermaßen einen Puffer zwischen den Eingliederungsvorstellungen der Vertriebenen und den Interessen der Landeskirchen. Jenseits dieser grundsätzlichen Auseinandersetzungen in den Gremien der EKD sind die schwierigen Aushandlungsprozesse in den einzelnen Gemeinden zu nennen. Letztlich konnten die Landeskirchen trotz der Machtasymmetrien kaum verhindern, dass die Vertriebenen ihre eigenen Liturgien und Praktiken ins Gemeindeleben einbrachten und in komplizierten Aushandlungsprozessen Kompromisse erzwangen. Ab Mitte der 1950er Jahre kam es auf der Ebene der EKD zu einer institutionalisierten Traditionsförderung und -bewahrung, deren institutioneller Ausdruck das Ostkircheninstitut in Münster war. Der Wechsel von der Assimilationspolitik der Landeskirchen zur institutionalisierten Kulturförderung erklärt sich vor dem Hintergrund des Sachverhalts, dass die zentralen und grundsätzlichen integrationspolitischen Entscheidungen in dieser Zeit bereits gefallen waren. Die eher dokumentarisch-archivierende Erfassung des kirchengeschichtlichen Erbes, die ab Mitte der 1950er Jahre zu beobachten ist, wurde als unproblematisch empfunden; die Deutungshoheit der Landeskirchen im geistlich-religiösen Bereich, die Kirchenordnung und die landeskirchliche Vorherrschaft wurden nicht mehr infrage gestellt. Jenseits der institutionalisierten „Erbeförderung“ im kirchlichen Raum ist kaum ein kulturpolitisches Engagement der Kirche im politischen Raum feststellbar. Eine Ausnahme stellt das Engagement des kirchenkritischen Akteurs Ludwig Landsberg dar, der sich für die Kulturförderung einsetzte und ein integrativ und gesamtdeutsch verstandenes Kulturkonzept profilierte, das er gegen die revisionistisch-isolierende Zielsetzung der Vertriebenenverbände in Stellung brachte. Dessen kulturelles Engagement im Ostdeutschen Kulturrat ist vielleicht auch als Kompensation für die aus seiner Sicht unzureichende kirchliche Politik zu verstehen. Ein wichtiger Bezugspunkt war die Soziale Frage des 19. Jahrhunderts und der Konflikt zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum, auf den fast alle Akteure

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Fazit

Bezug nahmen und der die Desintegration der Gesellschaft umschrieb. Gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit glaubten viele Beobachter innerhalb wie außerhalb protestantischer Kommunikationszusammenhänge die Entstehung eines neuen Klassenkampfes zu beobachten, der zudem die Züge eines Nationalitätenkampfes trage. Dieser neue Klassendualismus drohte den „alten“ zu überlagern. Die neuen sozialen Ordnungskategorien „Vertriebene“ vs. „Einheimische“ schienen die etablierten Sozialkategorien wie Stand, Beruf, Partei oder Konfession zu verdrängen. Damit ging eine klasseninterne Nivellierung und Homogenisierung einher, was wiederum zu einer Vermassung und Atomisierung führe und die gesellschaftliche Ordnung bedrohte. Innerhalb protestantischer Kommunikationszusammenhänge begegnet eine spezifische Variante dieser Deutungsfigur. Verschiedene protestantische Akteure glaubten ein Versagen der Kirche in der Sozialen Frage des 19. Jahrhunderts zu erkennen, das sich nicht wiederholen dürfe. Eine damit zusammenhängende, lagerübergreifend gebrauchte, jedoch unterschiedlich interpretierte gesellschafts- und kirchenkritische Denkfigur der Theologie war die der „Verbürgerlichung der Kirche“, die spiritualistisch, sozialmoralisch und gesellschaftskritisch-sozialreformerisch gebraucht wurde. In der Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik wurden die durch die Vertriebenen verstärkten oder ausgelösten Modernisierungs- und Transformationsprozesse diskursiv verarbeitet bzw. beides in einen Zusammenhang gestellt. Mit dem Gebrauch traditionsreicher kulturkritischer Deutungsfiguren und mit der Parallelisierung von Vertreibungsgeschehen und Industrialisierung wurde schließlich eine modernisierungskritische Perspektive angedeutet. Max Hildebert Boehm parallelisierte die Folgen der Vertreibung mit denen der Industrialisierung und erblickte in der Vermischung und Nivellierung der Stammes- und Standesstruktur eine der größten Gefahren für die gesellschaftliche Ordnung und das deutsche Volk. Neben diesen pejorativen Modernedeutungen veranlasste die Vertriebenenproblematik einige Beobachter allerdings auch zu einer affirmativen Modernedeutung. In Elisabeth Pfeils Buch „Der Flüchtling“ von 1948 begegnet noch beides: Beschreibung der sozialen Folgen des Vertreibungsgeschehens mit empirischem Anspruch und kulturkritische Versatzstücke, die eine Verlustperspektive nahelegten. Später, d. h. vor allem auf einer Tagung des OKKs 1954, diagnostizierten die Soziologen Pfeil, Wilhelm Brepohl, Dietrich von Oppen und Fritz Rudolph einen wechselseitigen Zusammenhang von Vertriebenenzuzug und gesellschaftlicher Transformation, wobei der gesellschaftliche Wandel, den die Vertriebenen beschleunigt oder verursacht hätten, bei einigen Autoren als unvermeidlich dargestellt und somit indirekt affirmiert wurde. Indizien für den Wandel waren die beobachtete Verstärkung der Industrialisierung, die Zunahme der sozialen und geographischen Mobilität in Form eines Berufspendlertums, der Bedeutungsverlust von Traditionen und die Bedeutungszunahme von Leistungskriterien, die für die Wiedererlangung des sozialen Status relevant waren, wobei in diesem Zusammenhang

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zum Teil nationalsozialistisch belastete Begrifflichkeiten wie „Lebenskampf“ und „Auswahl oder Auslese der Tüchtigen“ gebraucht wurden. Indem das per se „sinnlose“ Vertreibungsgeschehen im Kontext einer übergreifenden, unwiderruflichen gesellschaftlichen Entwicklung und die Vertriebenen als Objekte und Katalysatoren dieser Transformationen gleichermaßen präsentiert wurden, wurde letztlich ein säkulares Sinnstiftungsangebot unterbreitet. Im Kontext dieser Modernedeutung wurden die Vertriebenen gewissermaßen zur Avantgarde der Moderne, zum Symbol der Zeitenwende stilisiert und damit vom Rand an die Spitze der Gesellschaft gerückt. Mit dieser Affirmation der Moderne ging zum Teil eine explizite Abgrenzung von moderne- und kulturkritischen Deutungsfiguren einher, auch wenn eine Verlustperspektive nach wie vor latent vorhanden war. Mit der Hinwendung einiger Akteure zur modernen Industriegesellschaft geriet das sozioökonomische und kulturelle Integrationspotential großstädtischer und industrieller Lebensformen in den Blick. Die Möglichkeit, positiv über die moderne Gesellschaft zu sprechen und zu denken, fand, diskursanalytisch gesprochen, Eingang in das Spektrum des Sagbaren, wobei zu prüfen bleibt, inwieweit es sich hierbei um einen „Elitendiskurs“ handelte. Parallel dazu rückten die exkludierenden Tendenzen ländlicher und dörflicher Gemeinschaften in den Fokus.3 Da es zunächst Soziologen waren, die den Zusammenhang von Modernisierung und Integrationsprozess beobachteten und die moderne Industriegesellschaft affirmierten, liegt die Annahme nahe, dass es sich hierbei um einen Wissenstransfer von der Soziologie in die protestantische Vertriebenentheologie handelte, die diesen Zusammenhang aufgriff und dazu auf von Oppen, Pfeil, Brepohl und indirekt auf Schelsky rekurrierte. Plattformen des Wissenstransfers waren die Akademien und der OKK, dessen Publikationsorgan „Der Remter“, die „ZEE“ und das ESL.4 Die Hinwendung zur modernen Industriegesellschaft ist auch soziologiegeschichtlich einzuordnen und im Zusammenhang mit dem Aufstieg der empirischen Sozialforschung während der 1950er Jahre zu sehen. Sicherlich muss man die „Soziologisierung des Flüchtlingsproblems“ und die empirische Beschreibung der Vertriebenenproblematik nicht als Beitrag zur „Versachlichung des Diskurses“, so die These von Paul Nolte, beschreiben.5 Diese Bezeichnung impliziert eine höhere Wirklichkeitsaffinität der empirischen Sozialforschung und setzt einen 3 Nach Uffelmann entstand das Narrativ der Nivellierung unter dem Eindruck, dass die Vertriebenen und damit weite Kreise der Bevölkerung sämtlichen Besitz und Status verloren hatten und sich die sozialen Unterschiede nivelliert hätten. Später übertrug Schelsky die Nivellierungsthese auf die Wirtschaftswunder- und Konsumgesellschaft der 1950er Jahre und prägte die stark rezipierte, aber auch problematische These einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Schildt/ Sywottek, Wiederaufbau, 23–25). 4 Unabhängig von vertriebenenspezifischen Kommunikationskontexten kam den Akademien als auch der „ZEE“ eine größere Bedeutung für den interdisziplinären Dialog zwischen Theologie, Ökonomie und Soziologie zu. 5 So z. B. Nolte, Ordnung, 228.

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Fazit

Standpunkt höherer Wahrheit durch den/die beobachtenden HistorikerIn voraus, dem/der damit eine tiefere Einsicht in die Sachadäquanz der zeitgenössischen Beiträge unterstellt wird. Aus der Perspektive einer „Kulturgeschichte des Sozialen“ gilt es jedoch, das gesamte Deutungsspektrum der Zeitgenossen ernst zu nehmen, in dem die Zeitgenossen die soziale Wirklichkeit und die Erfahrung des Sozialen beschrieben und ausdrückten.6 Demnach war auch die Deutungsfigur der Vermassung nicht weniger wirklichkeitsadäquat, sondern resultierte, bei allen problematischen Implikationen, aus einem spezifischen Gesellschaftsbild mit einer eigenen, spezifischen Problemwahrnehmung, die für die Zeitgenossen höchst reell war. Daher wird Noltes These einer Versachlichung variiert und ein alternatives Interpretationsangebot formuliert: Einige, jedoch nicht alle Flüchtlingssoziologen trugen mit ihren Analysen zu einer Transformation der Problemwahrnehmung bei, mit deren Hilfe übergreifende gesamtgesellschaftliche Problemdiagnosen wie die eines Klassenkampfes oder eines Fünften Standes in operationalisierbare Teilprobleme und Teilaspekte wie Arbeitsmarkt, Wohnraum, sozioökonomischer Status, Einkommensverhältnisse oder zwischenmenschliches Zusammenleben übersetzt werden konnten. In diesem Zusammenhang formulierten sie Integrationsindikatoren, die den Blick auf sozioökonomische, sozialstatistisch fundierte Integrationsdefizite lenkten und das Klassenkampfnarrativ, die These eines Fünften Standes sowie die Diagnose einer Vermassung infrage stellten. In diese Perspektive flossen nicht nur sozioökonomische Analysen, sondern auch Erfahrungswissen und allgemeine Beobachtungen und Wahrnehmungen ein. Pfeil, Lemberg, Brepohl und von Oppen zogen zudem die Einseitigkeit des Integrationsprozesses in Zweifel, identifizierten anhand der Vertriebenen einen gesamtgesellschaftlichen Strukturwandel, beobachteten oder postulierten eine beidseitige Assimilation oder die „Entstehung eines neuen Volkes“, ohne sich allerdings vollends von völkischen Homogenitätsvorstellungen zu lösen. Im Gegensatz dazu wichen sie von der Integrationspolitik des Vertriebenenministeriums ab, das zwar eine Integration ins westdeutsche Wirtschaftsleben anstrebte, jedoch auf kultureller und identitätspolitischer Ebene gerade eine Zementierung der landsmannschaftlichen Sonderidentität intendierte. Die Soziologen lassen überwiegend einen empirischen Anspruch erkennen in dem Sinne, dass sie Mikrostudien durchführten, sozioökonomisches Datenmaterial zusammentrugen oder Interviews und Umfragen unter Vertriebenen durchführten. Auf diese Weise benannten sie einerseits Integrationsdefizite, stellten andererseits aber auch den Krisendiskurs infrage, betonten dabei Integrationserfolge und die Tendenz zur gegenseitigen Assimilation. Wie die Qualität dieser empirischen Arbeiten zu bewerten ist, muss allerdings der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung überlassen bleiben. 6 Daniel verortet die Wissenschaftsgeschichte in der Kulturgeschichte. Siehe Daniel, Kompendium, 361–379.

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Wie ist das Verhältnis von Flüchtlingssoziologie und Protestantismus zu bewerten? Dazu wurden a) die Rekrutierungskriterien und -bedingungen, b) die NS-Belastungen der Flüchtlingssoziologie und die Frage möglicher Konvergenzen zwischen einer „völkischen“ Flüchtlingssoziologie und Protestantismus und c) die Funktion und der Stellenwert flüchtlingssoziologischen Wissens in kirchlichen Entscheidungsprozessen und Kommunikationszusammenhängen analysiert. a) Die Rekrutierung flüchtlingssoziologischer Expertise im Protestantismus lässt sich auf verschiedene Motive und Bedingungsfaktoren zurückführen: Erstens auf den Anspruch des sog. sozialen Protestantismus der rheinischen Landeskirche, soziologische Expertise für die sozialreformerischen Ambitionen zu berücksichtigen. Zweitens sind die je individuellen Netzwerke der Soziologen zu nennen, die bis in die Weimarer Zeit zurückreichten und nach 1945 problemlos reaktiviert werden konnten, wobei Konfessionalität als implizites Kriterium eine Rolle spielte. Drittens hatten einzelne Soziologen wie beispielsweise Boehm und Seeberg 1945 ihre Anstellung verloren und strebten nach materieller und beruflicher Absicherung, die sie in kirchlichen Kontexten zu finden hofften und vorübergehend auch fanden. Viertens spielten das Renommee und die Bekanntheit einzelner Einrichtungen und Soziologen eine Rolle. b) Zweifellos waren alle Soziologen, die sich in protestantischen Kommunikationszusammenhängen mit der Vertriebenenproblematik befassten, auf unterschiedliche Art nationalsozialistisch belastet, hatten während des NS Karriere gemacht und dem Regime zugearbeitet. Die Bezeichnung der Flüchtlingssoziologie als völkische Soziologie vermag angesichts der implizierten Differenzierung zwischen Sprachgebrauch, Ordnungsdenken und empirischer Praxis allenfalls einzelne Aspekte der Flüchtlingssoziologie zutreffend zu beschreiben, jedenfalls, wenn man unter „völkisch“ ein Synonym für wissenschaftsfeindliche Ideologie erblickt. Andererseits waren die Vordenker der völkischen Bewegung durchaus offen für moderne Wissenschaften und Methoden.7 Jenseits völkisch-biologistischer Versatzstücke auf der sprachlichen Ebene ist auf den empirischen Anspruch und das empirische Selbstverständnis der Flüchtlingssoziologen sowie auf das von Pfeil betriebene Soziologisierungsprogramm zu verweisen, während vor 1945 zugleich eine Biologisierung der Sprache zu beobachten ist. Es ist allerdings nicht gerechtfertigt, letzteres als „Etikett“ abzutun. Vielmehr manifestiert sich im Sprachgebrauch, der ein spezifisches Ordnungsdenken repräsentiert, die Nähe der Flüchtlingssoziologie zum NS bzw. zum völkischen Denken. Der Sprachgebrauch trägt wiederum zur Konstitution der Problemwahrnehmung und des Forschungsgegenstandes bei. Die Mehrheit der Soziologen vermochte – abgesehen von Max Hildebert Boehm – explizit biologistische-völkische Semantiken nach 1945 abzulegen. Daher ist nach Beharrungskräften und 7 Vordermayer, Bildungsbürgertum, 11 f.; und Sieferle, Revolution, 221.

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Fazit

„Kontinuitäten hinter der Diskontinuität“ zu suchen, die sich auf der Ebene der Praktiken, der methodischen Settings, thematischen Interessen und des kultur- und modernekritischen Deutungsrepertoires finden lassen. Auch das wissenschaftliche Feld ist, wie andere gesellschaftliche Funktionsbereiche auch, durch Eigenlogiken, spezifische, zum Teil politisch vorgegebene, aber auch interpretationsoffene Basissemantiken und Kontinuitäten der wissenschaftlichen Praktiken charakterisiert, die sich auch in politischen Systemwechseln nicht einfach umstürzen oder beseitigen lassen, das andererseits aber auch „außerfachliche Resonanzeffekte“ aufweist.8 Im Gegensatz zur oberflächlichen Ebene des Sprachgebrauchs zeigen sich beachtliche Kontinuitäten vor und nach 1945. Bei Seeberg werden diese in den Mikrostudien zur Sozialstruktur ländlicher Gesellschaften augenfällig; Brepohl, von Oppen und Wurzbacher griffen auf vor 1945 generiertes Datenmaterial zurück. Die Kontinuitäten über die NS-Zeit hinaus zeigen sich bei Seeberg anhand ihres Antiliberalismus, ihrer thematischen Anknüpfungspunkte sowie ihres methodischen Settings. Auch der bevölkerungspolitische Aspekt und die Beobachtung exklusiver Tendenzen enger Dorfgemeinschaften sind in ihren vor und nach 1945 entstandenen Texten zu finden. Angesichts dieser Befunde – wissenschaftliche, thematische und personelle Kontinuitäten bei gleichzeitiger Diskontinuität in Bezug auf das völkisch-biologistische Vokabular, das nach 1945 wohl nur noch von Ultrarechten gebraucht wurde9 – kann wohl von systemspezifischen kommunikativen Anpassungsleistungen ausgegangen werden. Die Mehrheit der hier behandelten Autoren, die in den 1920er und 30er Jahren dem Ideal einer völkischen Leistungsgemeinschaft anhingen und „völkische Gegenwartsprobleme“ überwinden wollten, nahmen nach 1945 „semantische Umbauarbeiten“ vor. Ein Beispiel dafür ist nicht zuletzt der Assimilationsbegriff selbst. Viele Soziologen, die aus der Tradition des Ausund Grenzlanddeutschtums stammten, hatten mit diesen Begrifflichkeiten in den 1920er und 30er Jahren die Situation auslandsdeutscher Gruppen in „fremdvölkischer“ Umgebung, aber auch die Zuwanderung osteuropäischer Zuwanderer beschrieben.10 Im Hinblick auf die auslandsdeutschen Gruppen wurde ihre Assimilation in fremde Nationen befürchtet oder beklagt, im letzteren Fall die Assimilation der polnischen Zuwanderer an das deutsche Volk erwartet. „Assimilation“ und „Umvolkung“ wurden zum Teil synonym gebraucht.11 Nach 1945 wurden offensichtlich problematische Begriffe wie Umvolkung durch scheinbar neutrale wie den der Assimilation ersetzt, der aber einer ähnlichen Traditionslinie entstammte und Termini wie den der „Umvolkung“ verdrängte.12 8 9 10 11 12

Bollenbeck, Interesse, 16. Weindling, Einleitung, 13. Pinwinkler, Bevölkerungsforschungen, 52 f. Speziell zu Boehm und Brepohl: Ebd., 57 f. Ebd., 52 f. Ebd.

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Diese Überlegungen sind auch für das Verhältnis von Flüchtlingssoziologie und Protestantismus relevant. Von der Rezeption der Flüchtlingssoziologie im Protestantismus lässt sich nicht zwangsläufig auf einen „völkischen Protestantismus“ rückprojizieren, denn die Verhältnisse erweisen sich als weitaus komplizierter und differenzierter. Aufschluss darüber geben v. a. die vielfältigen praktischen Motive und individuellen Netzwerkbeziehungen. Dabei waren es in erster Linie nationalsozialistisch belastete Soziologien wie die Agrarsoziologie, die Bevölkerungswissenschaft oder die Aus- und Grenzlandsoziologie, die nach 1945 die Vertriebenenfrage als Forschungsgebiet entdeckten, was thematisch in gewisser Hinsicht nahelag. Eine nicht belastete Soziologie, die sich mit der Vertriebenenproblematik hätte befassen können, existierte in den 1950er Jahren kaum. Erst in den 1960er Jahren befassten sich einige Soziologen mit der Vertriebenenproblematik, die einer neuen Generation angehörten.13 Offenbar war das Bewusstsein für mögliche Verstrickungen von Wissenschaftler mit dem NS gering ausgeprägt oder es wurde stillschweigend ignoriert. Auf der Ebene des kultur- und zeitkritischen Denkens existierten hingegen Konvergenzen zwischen Flüchtlingssoziologie und Protestantismus. Diese Überlegungen sprechen den Protestantismus und seine Akteure keineswegs von NS-Affinitäten frei. Denn der Protestantismus kann selbst auf eine vielfältige Verflechtungsgeschichte mit dem Nationalsozialismus zurückblicken, die in dieser Arbeit thematisiert wurde und hier hinein spielt. Darüber hinaus blieben Kategorien wie Volkstum und Volk im Kontext der Vertriebenenproblematik noch relevant bzw. wurden z. T. gegen den theologischen Mainstream wieder reaktiviert. Gerade auf den Tagungen des OKKs, die in den frühen 1950er Jahren stattfanden, zeigen sich bei einigen Akteuren völkische Denktraditionen. Allerdings waren es, von Ausnahmen abgesehen, nicht so sehr die Flüchtlingssoziologen, die nach 1945 auf explizit völkische Argumente, beispielsweise in Form eines biologistischen oder spiritualistischen Volksbegriffes, zurückgriffen. c) Abschließend stellt sich die Frage nach der Funktion der flüchtlingssoziologischen Expertise. Der interdisziplinäre Anspruch mancher protestantischer Einrichtungen sowie die Rezeption und partielle institutionelle Verankerung der Soziologie spricht zunächst für eine gewisse Offenheit für die soziologische Perspektive. Soziologische Figuren der Gesellschaftsbeschreibung, die affirmative Modernedeutung oder Brepohls Heimattheorie wurden in der protestantischen Theologie zumindest rezipiert und in modifizierter Variante übernommen. Dabei stellt sich allerdings die Frage, welche Funktion die Soziologie in kirchlichen Entscheidungsprozessen spielte. Während Seeberg und Boehm den Anspruch erkennen lassen, den innerkirchlichen Integrationsprozess beratend mitzugestalten, nahmen andere Soziologen wie Pfeil jenseits der Formulierung allgemeiner Postulate wie dem, dass die Kirche ein 13 Zu nennen wären Bohnsack oder Treinen, die in der Literatur zum Thema Soziologie im NS nicht erwähnt werden. Vgl. z. B. Klingemann, Soziologie.

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Fazit

Ort sei, an welchem das gegenseitige Verständnis gefördert werden könne, kaum auf die innerkirchliche Integrationsproblematik Bezug; Brepohl, Wurzbacher und Rudolph setzten sich überhaupt nicht mit der innerkirchlichen Dimension auseinander. Die Kirchenleitungen folgten im Wesentlichen der von theologischen und kirchenrechtlichen Problemwahrnehmungen geprägten kirchlichen Eigenlogik; einer soziologischen Perspektive wurde demnach keine Handlungsrelevanz zugewiesen. Offenbar erfüllte die Soziologie und insbesondere die Flüchtlingssoziologie in protestantischen Kommunikationszusammenhängen weniger die Funktion, in Analogie zur Politikberatung innerkirchliche Entscheidungsprozesse beratend zu begleiten und Wissen in Handlungsempfehlungen umzusetzen, auch wenn manche Soziologen Handlungsrelevanz beanspruchten. Vielmehr fungierte sie als Deutungs- und Wissensressource, um die Vertriebenenproblematik in ihrer ganzen Tiefe und aus interdisziplinärer Perspektive zu erfassen und verstehbar zu machen. In der Lastenausgleichsfrage spielte ökonomische Expertise für die Vorbereitung eines zweiten kirchlichen Wortes allerdings durchaus eine Rolle. Schließlich wurde analysiert, welche Kategorien und Begriffe zur Beschreibung der sozialen und national bestimmten Entität herangezogen und welche Vorstellungen von der sozialen Entität durch den Gebrauch spezifischer Begrifflichkeiten zum Ausdruck gebracht wurden. Diese kollektiven Selbstbeschreibungskategorien wurden unter dem heuristischen Filter Pluralität versus Homogenität, Integration versus Differenz analysiert und auf ihre integrationspolitischen Implikationen befragt. Konnte die Gesellschaft überhaupt gleichzeitig integriert und plural gedacht werden? Eine begriffsgeschichtliche Analyse der gebrauchten Selbstbeschreibungskategorien ist der Schlüssel für die Analyse der „gedachten sozialen Ordnung“ wie des nationalen Selbstverständnisses. Anhand der Vertriebenenproblematik zeigt sich eine Spannung zwischen Assimilation und Bewahrung der Sonderidentität der Vertriebenen, da die Integration in den Westen stets unter einen Rückkehrvorbehalt gestellt wurde. Hier wirkte sich die Heimatrechtsproblematik unmittelbar auf die Integrationsproblematik aus. In den frühen Beiträgen der späten 1940er und frühen 50er Jahre dominierte ein emphatischer, sozialharmonisch konnotierter Gemeinschaftsbegriff, der eher auf einer Mikro- und Mesoebene wie Familie, Gemeinde, Nachbarschaft, Landsmannschaft oder Volkstum angesiedelt war und zum Teil als natürlich oder organisch, zumindest als traditionell gewachsen vorgestellt wurde. Eine solcherart imaginierte Gemeinschaft fungierte in der Vorstellung vieler Zeitgenossen als zentrale Reintegrations- und Vermittlungsinstanz zwischen der Gesamtgesellschaft und den Vertriebenen. Neben dem Gemeinschaftsbegriff wurden, zum Teil in Kombination, die Begriffe Volk und Volkstum gebraucht, um die soziale, national bestimmte Entität zu beschreiben. Volkstum war, im Plural gebraucht, entweder auf einer ähnlichen Ebene angesiedelt wie „Landsmannschaft“ oder „Stamm“ und markierte eine

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kulturell und ethnisch bestimmte Varietät des deutschen Volkes, oder war auf das gesamte deutsche Volk, verstanden als dessen „Lebens- und Wesensäußerungen“, bezogen. Damit wurde die kulturelle Differenz der Vertriebenen einerseits affirmiert, andererseits die Zugehörigkeit der Vertriebenen zum deutschen Volk zum Ausdruck gebracht. Dem lag eine spezifische Vorstellung von Pluralität und Homogenität zugrunde: Die meisten Akteure aus dem Umkreis des OKAs gingen davon aus, dass es verschiedene deutsche Landsmannschaften oder „Stämme“ und damit kulturelle und ethnische Vielfalt gebe, die zu bewahren sei. Insofern ließe sich von einer eingeschränkten Pluralität sprechen. Demnach wurden Varietäten des Deutschen akzeptiert und die Ostdeutschen trotz ihrer Unterschiedlichkeit als Teil des deutschen Volkes imaginiert. Das Bundesvertriebenenministerium, Max Hildebert Boehm und einige Akteure aus dem OKA stellten die einzelnen Stämme zudem als in sich homogene Gebilde dar, die möglichst nicht untereinander zu vermischen waren. Einige Autoren wie Brepohl oder Lemberg kamen zu dem Ergebnis, dass sich eine Vermischung und die Entstehung eines „neuen Volkes“ nicht vermeiden lasse. Parallel dazu diagnostizierten auch Pfeil und von Oppen die gegenseitige Assimilation und Anpassung. Das Beispiel und Modell hierfür war das als „Schmelztiegel“ klassifizierte Ruhrgebiet, wo man bereits seit dem 19. Jahrhundert solche Anpassungs- und Vermischungsprozesse zu beobachten glaubte. Der Begriff Volk war in der Regel ein Abstraktum, das zugleich als Appellbegriff fungierte, um Einheit zu suggerieren, die Zusammengehörigkeit von Vertriebenen und Einheimischen zu behaupten, Homogenität zu postulieren oder Solidarität einzufordern. Zweifellos kam den Begriffen Volk und Volkstum ein zentraler Platz in der NS-Ideologie zu. Gleichwohl fungierten Volk und Volkstum bei aller Problematik auch als integrationspolitische Begriffe, die die Zugehörigkeit der Vertriebenen zum deutschen Volk symbolisch und begrifflich zum Ausdruck brachten. Die Begrifflichkeiten Volk und Volkstum waren nicht nur Gegenstand der soziologisch-integrationspolitischen, sondern auch der theologischen Auseinandersetzung. Während die Kategorien Volk und Volkstum für Hans Joachim Iwand grundsätzlich diskreditiert und damit keine bewahrenswerten Größen waren, versuchten andere Mitglieder des OKAs die theologische Legitimierung des Volkstums, das als Teil der göttlichen Schöpfungsordnung interpretiert wurde. Hier zeigen sich eine Kontinuität zum völkischen Denken und nationalprotestantische Denktraditionen. Einen Mittelweg ging Girgensohn, der zwar auf die Problematik von Volk und Volkstum hinwies, aber aus integrationspolitischen und seelsorgerlichen Gründen daran festhielt, da der Mensch „in seinem Stand“ anzusprechen sei. Die Begriffe Volk und Volkstum brachten zugleich ein nationales Selbstverständnis, nämlich einen ethnonationalen Identitätsentwurf zum Ausdruck. Diese Vorstellungen folgten dem im Bundesvertriebenengesetz festgelegten Identitätsentwurf, der das deutsche Volk als „Abstammungs-, Kultur- und Sprachgemeinschaft“ definierte und aus dieser Bestimmung Zugehörigkeitskriterien ableitete. Dass der Identitäts-

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Fazit

entwurf des Bundesvertriebenengesetzes in protestantischen Kommunikationszusammenhängen kaum thematisiert wurde, spricht für seine unausgesprochene Akzeptanz. Der Begriff der Gesellschaft wurde in der Regel in zwei Varianten gebraucht: Entweder zur Beschreibung des Ganzen, d. h. als Oberbegriff, oder er fungierte als Abgrenzungsbegriff zum Gemeinschaftsbegriff und rekurrierte demnach auf eine spezifische Gesellschaftsform. Gesellschaftsgeschichtlich interpretiert repräsentierten „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ ein Oppositionsverhältnis und zugleich unterschiedliche Stadien der Gesellschaftsgeschichte, die mit Ost und West assoziiert wurden. Im Verlauf der 1950er Jahre schien der emphatische Gemeinschaftsbegriff angesichts fundamentaler Transformationsprozesse und weitreichender Mobilisierungserscheinungen an Beschreibungskraft zu verlieren. Gleichzeitig verschob sich die Blickrichtung auf die westdeutsche Industriegesellschaft, die in Abgrenzung zur traditionellen Gemeinschaft als Gesellschaft beschrieben wurde. Ganz im Sinne der Begriffsgeschichte zeigt der semantische Wandel den sozialen Wandel an. Dabei rückte das sozioökonomische Integrationspotential der westdeutschen Gesellschaft in den Fokus, neue gesellschaftliche Institutionen und Vermittlungsinstanzen gerieten in den Blick, die Integration herstellten. In erster Linie ist an Arbeitsplatz, Industriebetrieb, Großstadt oder Vereinswesen zu denken, aber auch der traditionellen Gemeinschaftsform Familie wurde nach wie vor eine große Bedeutung und Integrationsfähigkeit zugeschrieben. Zunehmend wurden Integrationsschwierigkeiten nicht mehr als sozialmoralisch konnotierter und emphatisch beklagter Gemeinschaftsverlust, sondern in sozioökonomischen Kategorien beschrieben, d. h. anhand von Parametern wie Arbeitslosigkeit, Einkommen, Besitz, Vermögensverteilung oder sozialer und beruflicher Status. Diese Perspektive, die schließlich auch Eingang in die EKD-Denkschrift von 1965 fand, verdankte sich einerseits den Flüchtlingssoziologen, andererseits dem Ministerialdirigenten Ludwig Landsberg, der sozialstatistisch argumentierte und als Sozialreferent praktisch mit der sozioökonomischen Dimension befasst war. Diese Indikatoren und Analysen konnten die krisensemantisch aufgeladene Klassenkampfthese in andere Problemwahrnehmungen transformieren, differenzieren, schlussendlich relativieren und in operationalisierbare Teilprobleme übersetzen. Damit veränderte sich auch das Sprechen über die Vertriebenen selbst, die in den Integrationsdebatten zunehmend als sozioökonomisch konstituierte Teilgruppen und Teilprobleme beschrieben wurden. Integrationsdefizite wurden demnach mit einzelnen, sozioökonomisch konstituierten vertriebenen Gruppen wie Selbständigen, Arbeitern, Angestellten, Landwirten, Alten oder Erwerbsunfähigen in Verbindung gebracht, während landsmannschaftliche, z. T. ethnisch konnotierte Differenzierungskriterien ihre gesellschaftspolitische Relevanz verloren. Diese spielten allenfalls in der Kulturarbeit weiterhin eine Rolle. Darauf aufbauend kann die These vertreten werden, dass die sozioökonomische Perspektive zur Etablierung des Gesellschaftsbegriffs beitrug

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oder mit diesem in einem wechselseitigen Zusammenhang stand. Ein sozioökonomisch bestimmter Gesellschaftsbegriff machte gerade, um Gabriele Metzlers These abzuwandeln, den Blick für die soziale und ökonomische Differenzierung einer in ökonomischen und sozialen Kriterien beschriebenen Gesellschaft frei und umgekehrt: Sozioökonomische Kriterien konstituierten die Stellung in der Gesellschaft. Schließlich implizierte der Gesellschaftsbegriff eine größere Offenheit gegenüber kultureller Differenz. Im großstädtischen Leben und am Industriearbeitsplatz – beides semantisch dem Gesellschaftsbegriff zugeordnet – spielten kulturell und ethnisch bestimmte Distinktionsmerkmale, so die Vorstellung, eine geringere Rolle, während diese Distinktionsmerkmale in ländlichen und dörflichen Gemeinschaften gerade zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führten. Der Gesellschaftsbegriff schien also im Gegensatz zum Gemeinschaftsbegriff eine höhere Differenztoleranz zu implizieren, da die soziale Herkunft und die kulturelle Verschiedenheit in der modernen Gesellschaft eine untergeordnete Rolle spielten und keine Exklusionsbedingungen darstellten. Diese These, die in der soziologiegeschichtlichen Literatur zur Beschreibung der 1950er Jahre vertreten wird,14 ruft aber auch Zweifel hervor. Im Anschluss an Klingemann ist darauf hinzuweisen, dass die Flüchtlingssoziologin Elisabeth Pfeil vor 1945 einen Begriff von Volk gebrauchte, der neben biologistischen Konnotationen soziologisch beschreibbar war, d. h. soziale Strukturen, Bedingungsfaktoren und soziale Differenzierungen analysierte und soziologisch erklärte. Zudem steht diese These im Gegensatz zur Selbstdeutung der Zeitgenossen. Denn manche Akteure wie Landsberg attestierten gerade der modernen industriegesellschaftlichen und großstädtischen Lebensform einen Anpassungs- und Konformitätsdruck, in dessen Folge kulturelle Differenz nicht mehr erkennbar sei. Die moderne Industriegesellschaft war demnach nicht eine Gesellschaftsform neben anderen, sondern der bestimmende Gesellschaftstypus, der die Anpassung an jene moderne Industriegesellschaft mit ihren spezifischen Verhaltensweisen voraussetzte und Traditionalität negierte. Auch während der Vorbereitungen des DEK 1965 wurde die „pluralistische Gesellschaft“ kritisch bewertet. Insofern wäre es zu kurz gedacht, den Gesellschaftsbegriff trotz seines inhärenten Differenzierungspotentials automatisch mit der modernen, pluralen Gesellschaft im heutigen Sinne gleichzusetzen. In den hier analysierten Beiträgen war das Konzept der „modernen pluralen Gesellschaft“ noch keine positiv-normative gesellschaftliche Selbstbeschreibungskategorie. Die wenigen existierenden Belege für den Begriff der pluralen Gesellschaft waren stattdessen pejorativer Natur und attestierten ihr paradoxerweise einen höheren Konformitätsdruck. Während emphatisch konnotierte Begrifflichkeiten wie „Volkstum“ oder „Volksgemeinschaft“, die in den späten 1940er und frühen 50er Jahren noch begegnen, allmählich aus dem Vokabular verschwanden, blieb der Begriff Volk 14 Metzler, Konzeptionen, 37.

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Fazit

weiterhin erhalten. Die Etablierung des Gesellschaftsbegriffs, der sozioökonomischen Beschreibungsdimension sowie die Hinwendung zur modernen Industriegesellschaft mussten nicht zwangsläufig mit einer Verdrängung des Terminus’ Volk einhergehen. Vielmehr rekurrierte der Terminus „Gesellschaft“ überwiegend, jedoch nicht ausschließlich auf eine spezifische Gesellschaftsform, ein gesellschaftsgeschichtliches Stadium, während „Volk“ die soziale Ganzheit zum Ausdruck brachte und die Gemeinsamkeit emphatisch beschwor. Bei von Oppen beispielsweise ist zwar eine Hinwendung zur Industriegesellschaft zu beobachten, jedoch lag seinen Überlegungen eine Differenzierung von Volk und Gesellschaft zugrunde: Die moderne Gesellschaft war bei ihm eine spezifische Gesellschaftsform, die ein unvermeidliches „Volksschicksal“ sei. Das deutsche Volk erfuhr also einen Wandel der Gesellschaftsform und -struktur, blieb aber trotzdem ein „Volk“. Als Appell- und Suggestivbegriff, aber auch als verfassungsrechtlicher oder demokratietheoretischer Begriff blieb „Volk“ erhalten, um die national-ethnisch konnotierte Einheit oder die politische Willens- und Handlungsgemeinschaft symbolischbegrifflich auszudrücken.15 In diesem Zusammenhang ist auch auf die semantische Vielschichtigkeit des Volksbegriffs hinzuweisen, dem zwar in den rechtsnational-völkischen Bewegungen der 1920er und 30er Jahre und in der NS-Ideologie ein zentraler Stellenwert zukam und der zudem radikal exkludierend gebraucht wurde, der aber keineswegs zwangsläufig völkisch, biologistisch, organologisch oder religiös konnotiert war.16 Jörn Retterath macht zudem darauf aufmerksam, dass Volk auch im Umbruch von 1918/19 durchaus pluralistisch gebraucht wurde. Der Historiker unterscheidet zwischen einer „exkludierenden Volksgemeinschaft“ im völkisch-deutschnationalen Milieu und einem pluralistischen Volksbegriff der Wende-Zeit.17 Dennoch lässt sich trotz dieser relativierenden Befunde Paul Noltes These der Tendenz nach auf den Protestantismus übertragen. Der Gesellschaftsbegriff der Soziologie habe demnach 15 Nicht zuletzt im deutschen Grundgesetz kommt dem Begriff „Volk“ als Inhaber der Souveränität ein zentraler Stellenwert zu. Nach Koselleck beinhaltet der Volksbegriff im Grundgesetz drei semantische Konnotationen. Siehe Koselleck, Art. Volk, 420. Er analysiert das vielgestaltige semantische Spektrum des überparteilich gebrauchten Begriffs im 19. und 20. Jahrhundert und identifiziert für die Zeit der Zwischenkriegszeit drei zentrale Bedeutungsebenen: eine sittlichreligiöse, eine politisch-soziale und die einer geschichtlichen Letztinstanz. Hierzu ebd., 389–391 .Auf die ethnische sowie die politische und verfassungsrechtliche Bedeutung weist hin: Retterath, Volk, 42–45. 16 Darauf weist auch hin: Honecker, Art. Volk. In: TRE, 205–207. Nach Koselleck habe der Begriff im 19. Jahrhundert eine Politisierung und Ideologisierung erfahren, zudem verfüge er im Deutschen über eine religiöse Implikation, sei aber auch im Kontext der Demokratisierungsbewegung zu verstehen. Siehe Koselleck, Art. Volk, 147–149. 17 Retterath, Volk, 219–221 und 318–327. An anderer Stelle spricht er von „pluralistischen und holistischen Potentialen des Volksbegriffs“ (ebd., 64 f.). Nach Retterath wurde im Verfassungsdiskurs nur selten auf das „ethnos“, häufig jedoch auf einen pluralistisch verstandenen „demos“ rekurriert (ebd., 220).

Die verlorene Gemeinschaft und die Entdeckung der Gesellschaft

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zur westdeutschen Identitätsbildung beigetragen, indem er, ,ideologisch unbelastet‘, eine Idee der sozialen Einheit erfaßte, die über den Verlust der nationalen Einheit hinwegtrug und zugleich die nationale Frage offen hielt (was der Volksbegriff, von seiner ideologischen Kontamination abgesehen, nicht mehr hätte leisten können).18

Nicht nur in der Soziologie, auch darüber hinaus verdrängte der Gesellschaftsbegriff, der in der Nachkriegszeit eine enorme Konjunktur erfuhr, allmählich Begriffe wie Volk und Volkstum, um die soziale Entität zu beschreiben.19 Insofern ist in bestimmten thematischen und kommunikativen Kontexten ein Bedeutungsverlust des Begriffs Volk feststellbar. In diesem Zusammenhang sind, trotz aller semantischen Vieldeutigkeit, zumindest der Tendenz nach die Unterschiede zwischen „Volk“ und „Gesellschaft“ hervorzuheben: Während der Gesellschaftsbegriff die Frage der Zugehörigkeit nicht zwangsläufig stellte und die i. d. R. funktional verstandene Zugehörigkeit zur Gesellschaft vielmehr voraussetzte – beispielsweise durch Arbeit, wirtschaftliche Verflechtung, sozioökonomischen Status, Rollenzuweisung und Partizipation an gesellschaftlichen Institutionen –, geht mit dem Volksbegriff, tendenziell ethnisch-essentialistisch verstanden, normativ konnotiert und emphatisch beschworen, zumeist die Frage einher, wer Teil des Volkes ist und wer aus ihm ausgeschlossen wird.20 Im Gegensatz zum pragmatisch-funktionalen, niedrigschwelligen Gesellschaftsbegriff zieht der ethnische Volksbegriff also die Frage der Inklusion und Exklusion nach sich, auch wenn der Begriff in dem hier untersuchten, spezifischen thematischen Kontext die Zugehörigkeit der Vertriebenen zum deutschen Volk zum Ausdruck bringen sollte und damit tendenziell und im Gegensatz zur exkludierenden Bedeutung, die der Begriff in der völkischen Ideologie gewann, als Integrationsbegriff fungierte. Im Gegensatz zu den scharfen Integrationskonflikten in der frühen Nachkriegs18 Nolte, Ordnung, 228 und 219. Dies bestätigend: Metzler, Konzeptionen, 37. Nach Metzler habe sich damit der Blick für die „funktionale Differenzierung innerhalb eines sozialen Systems [geöffnet] – in deutlichem Gegensatz zur undifferenzierten ,Masse‘ –, deren Kenntnis inkrementales politisches Handeln ermöglichen konnte, ohne daß man einen ‘Gesamtentwurf, vorzulegen brauchte, der wiederum einer Gesellschaftsideologie sehr nahe gekommen wäre.“ Metzler führt diesen Wandel auf die Soziologie zurück. 19 Indiz dafür ist der Sachverhalt, dass die „Bundesförderung deutscher, österreichischer und westeuropäischer Volksgruppen-Aktivisten“ 1973 eingestellt wurde (Schwartz, Vertriebene im doppelten Deutschland, 133). Dieser Befund bezieht sich auf einen Volksbegriff, der als soziale und nationale Selbstbeschreibungsfigur fungierte, und gilt nicht für völkerrechtliche und demokratietheoretische Diskurse sowie nationale Einheitsdiskurse. Zur Präzisierung ist die Unterscheidung zwischen ethnos und demos sinnvoll. Nach Koselleck komme dem ab und nach 1914 gebrauchten Volksbegriff immer auch eine soziale Funktion zu. Siehe Koselleck, Art. Volk, 391. 20 Art. Volk. In: Hillmann, Wörterbuch, 946. Retterath identifiziert als Kriterium des ethnischen Volksbegriffes die Innen-Außen-Dichotomie (Retterath, Volk, 35). Koselleck definiert zwei konstitutive strukturelle Merkmale, nämlich eine Oben-Unten-Relation und eine InnenAußen-Relation (Koselleck, Art. Volk, 145 f.). Zum überwiegend funktionalen Verständnis des Gesellschaftsbegriffs: Art. Gesellschaft. In: Hillmann, 289.

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zeit verschwand mit der Konsolidierung der Verhältnisse die Notwendigkeit und das Bedürfnis, die Zugehörigkeit der Vertriebenen zum deutschen Volk behaupten und begründen zu müssen, zumal die Zugehörigkeit mit dem Bundesvertriebenengesetz von 1953 gesetzlich zementiert wurde. Auch innerhalb der Theologie lässt sich ein solcher Bedeutungsverlust identifizieren: Insgesamt waren die Begriffe Volk und Volkstum sowie schöpfungstheologische Begründungsfiguren zumindest innerhalb der Theologie und in den kirchenleitenden Gremien nur in der unmittelbaren Nachkriegszeit diskursfähig. In protestantischen Kommunikationszusammenhängen geriet der Begriff Volkstum nach 1945 nicht nur als kollektive Selbstbeschreibungsfigur, sondern auch aus theologischen Gründen in die Kritik. Insofern lässt sich die Geschichte der protestantischen Auseinandersetzung mit der Vertriebenenproblematik auch als Geschichte des langen, allerdings nicht linearen Abschieds vom Volkstum beschreiben, in deren Folge sich die Identität von Kirche und Volkstum lockerte – und der nicht zuletzt parallel verlief zu einer allmählichen neuen Verhältnisbestimmung von Kirche und demokratischem Staat bzw. der Staatsform der Demokratie, die sich in Ansätzen bereits in den 1950er Jahren, vor allem aber in den 1960er Jahren vollzog.21 Mit der Denkschrift der EKD von 1965 präsentierte sich die evangelische Kirche gerade als gesellschaftskritische Akteurin, die gerade nicht für nationale Interessen bedingungslos einzutreten bereit war und sich in einer „kritischen Solidarität“ mit den Vertriebenen wie dem gesamten deutschen Volk übte. Freilich repräsentierte dieses Selbstverständnis nicht den gesamten Protestantismus und schon gar nicht alle Vertriebenen. Die Kritik an der Denkschrift kann dabei auch als Enttäuschung darüber gelesen werden, dass sich die evangelische Kirche, so ein verbreitetes Wahrnehmungsmuster, gerade nicht die Anliegen des deutschen Volkes zu eigen machte und die nationalen Interessen wie den Anspruch auf die Territorien östlich von Oder und Neiße bedingungslos unterstützte. Innerhalb der Gremien der kirchlichen Vertriebenengremien ist sogar eine gegenläufige Entwicklung zu beobachten, die sicherlich auch als Gegenreaktion auf die Liberalisierung des Protestantismus wie der gesamten westdeutschen Gesellschaft, aber auch im Kontext einer zunehmenden Rechts-Links-Polarisierung zu verstehen ist. Auf den Tagungen des OKKs 21 Hanke, Deutschlandpolitik. Hanke verortet diesen Wandel hauptsächlich in den 1960er Jahren, identifiziert allerdings auch in den 1950er Jahren einzelne lutherische Theologen, die eine zumindest demokratiekompatible Neuinterpretation der Zwei-Reiche-Lehre vorgenommen hätten. Hanke nennt hier insbesondere Wolfgang Trillhaas und Helmut Thielicke. Seine insgesamt interessante Studie ist insofern auch nicht unproblematisch, weil er seine Ausführungen zur theologischen Staats- und Demokratietheorie auf drei aus Hankes Sicht exemplarische Vertreter, nämlich Karl Barth, Walter Künneth und Arthur Rich konzentriert, obwohl es eine ausgesprochen große Bandbreite theologischer Interpretationen des Politischen gab (ebd. 149–164). Mit Spannung darf die im Entstehen begriffene Dissertationsschrift von Georg Kalinna erwartet werden, der die Reformulierung der theologischen Staats- und Politiktheorie in den 1950er und 1960er Jahren umfassend analysiert. Hierzu Kalinna, Interpretationen.

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wurde ab Ende der 1950er Jahre wieder vermehrt die theologische Durchdringung von Volk und Volkstum und in diesem Kontext ihre Rehabilitation gefordert – in Abgrenzung zum Gesellschaftsbegriff und ganz im Sinne der Gemeinschafts-Gesellschafts-Dichotomie. Die Mitglieder des Arbeitskreises knüpften damit wieder an die Auseinandersetzungen der 1920er bis 1950er Jahre an. Außerhalb vertriebenenspezifischer Kommunikationskontexte war eine theologische Legitimation von Volk und Volkstum im Gegensatz zum konkurrierenden Gesellschaftsbegriff nicht mehr diskursfähig; Volk und Volkstum spielten in der Theologie keine große Rolle mehr.22 Der Gemeinschaftsbegriff hielt sich hingegen als Ideal- und Sehnsuchtsvorstellung, wie die Denkschrift der EKD von 1965 beweist.

5.2 Gesellschaftspolitische Positionierung und sozialpolitische Mitgestaltung Der zweite systematische Abschnitt setzte sich mit dem umfangreichen sozialpolitischen Regelungsbedarf auseinander, insbesondere mit dem Lastenausgleichsgesetz, das zu den wichtigsten sozialpolitischen Integrationsprojekten zählte, auch wenn die realen Umverteilungseffekte nicht überschätzt werden sollten. Der Protestantismus war an den Lastenausgleichsdebatten in zweifacher Form beteiligt: Sie wurden u. a. in protestantischen Kommunikationszusammenhängen wie Akademien, Publizistik und EKD-Kammern ausgetragen; zudem organisierten protestantische Akteure inoffizielle Arbeitstreffen zwischen Ministerien, EKD, OKA und Vertriebenenverbänden. Zugleich entwickelten protestantische Akteure einen politischen Mitgestaltungsanspruch. Sie postulierten angesichts der Nachkriegsnot eine Erweiterung des sozialen Engagements, das die traditionelle, im 19. Jahrhundert von Johannes Wichern begründete Sozialfürsorge um eine Sozial- und Gesellschaftspolitik, um einen Kampf für Recht und Gerechtigkeit ergänzen sollte. Mit der Ausweitung des Engagements ging auch eine Erweiterung des normativen Begründungsspektrums einher. Der Terminus der sozialen Gerechtigkeit avancierte zur normativen Leitkategorie und wurde explizit als Erweiterung und Ergänzung der „Nächstenliebe“ oder „Caritas“ verstanden. Insgesamt wurde der Lastenausgleich von den Zeitgenossen auch mit übergreifenden gesamtgesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen in Verbindung gebracht. Die Debatte, ob ein soziales oder ein quotales Ausgleichsmodell zu bevorzugen sei, berührte nicht zuletzt die Frage, ob eine Restauration der alten Besitzverhältnisse und damit der alten Gesellschaftsstruktur angestrebt, oder

22 Honecker, Art. Volk.

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ob angesichts des sozial nivellierenden, verlorenen Krieges die Chance für die Verwirklichung einer neuen Gesellschaftsordnung genutzt werden sollte. Im Juli und August 1948 initiierte das Hilfswerk der evangelischen Kirche zwei Tagungen, an denen neben Repräsentanten des Hilfswerks Mitglieder des Zonenbeirats und des 15er-Ausschusses teilnahmen. Gerade auf diesen frühen Tagungen ist die Tendenz wahrnehmbar, das Projekt des Lastenausgleichs mit einer umfassenden und übergreifenden Gesellschaftsreform zu verbinden. Die Kombination aus Lastenausgleich, Mitbestimmung im Betrieb, Sozialisierungs- oder Teilsozialisierungsforderungen sollte nicht nur die Vertriebenen ins westdeutsche Wirtschaftsleben integrieren, sondern zugleich den seit dem 19. Jahrhundert bestehenden Klassendualismus überwinden. Auf den ersten Tagungen dominierte die soziale Ausgleichskonzeption, was auch den Vorstellungen des Wirtschaftsrates und des 15er-Ausschusses entsprach. Erst nach und nach wurden Forderungen nach einer quotalen Konzeption laut, was auf die Agitation der Vertriebenenpolitiker und der Vertriebenenverbände zurückzuführen war. Auf der Tagung, die im August 1948 auf der Karlshöhe stattfand, einigten sich die Akteure erstmalig auf einen mit einem Rechtsanspruch ausgestatteten Ausgleich der Vermögensverluste, wobei die soziale Ausgleichskonzeption mit ihrem Fokus auf Existenzbeschaffung priorisiert wurde. Zwar versuchte der Bundesfinanzminister im April 1950, die quotale Konzeption zu unterminieren, jedoch konnte er sich nicht durchsetzen. Damit stand fest, dass der Lastenausgleich sowohl soziale als auch quotale Komponenten enthalten würde. Diese gesamtgesellschaftliche Debattenlage spiegelte sich auch innerhalb protestantischer Kommunikationszusammenhänge wider. Grundsätzlich dominierte tendenziell auch hier das soziale Modell. Die meisten protestantischen Akteure unterstützten schließlich die Aufnahme quotaler Elemente, wiesen aber der sozialen Konzeption ebenfalls die Priorität zu. 1949 setzte die Kammer für soziale Ordnung die Lastenausgleichsproblematik auf die Agenda. Die vier Tagungen der Kammer lassen einen Paradigmenwechsel von der Theologie zur Ökonomie erkennen. Insgesamt lassen sich drei Beobachtungen zu dieser kirchlichen Positionierung formulieren: Die protestantische Auseinandersetzung mit dem Thema Lastenausgleich und insbesondere die Kammerberatungen lassen erstens das Bedürfnis erkennen, einen sachlich adäquaten und ökonomisch informierten Beitrag zu leisten. Zweitens lassen sich die protestantischen Beiträge und insbesondere das zweite Wort der EKD in ihrem programmatischen Kern auf die Formel zusammenfassen, dass volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit miteinander zu vermitteln seien. Drittens wies das zweite Wort der EKD gegenüber dem ersten zwar deutlich mehr Konkretion auf und nannte Forderungen wie die einer Vermögensumschichtung, einer Erweiterung der Ausgleichssumme und einer sozialen Staffelung der Aufbringungsseite. Im Vergleich zu den äußerst kleinteiligen Beratungen des Parlamentsausschusses, die sich um einzelne Prozentwerte und juristische Formulierungen drehten, war das Wort der EKD aber immer noch durch eine hohe Abstraktion und

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Allgemeinheit gekennzeichnet. Letztlich zeigt sich hier das Übersetzungsproblem zwischen religiösem Diskurs bzw. sozialethischen Prämissen und der politischen Eigenlogik des Gesetzgebungsprozesses, die in der komplizierten Lastenausgleichsfrage eine besondere Schärfe und Deutlichkeit gewann. Wenn keine eigenen institutionellen Interessen berührt waren, nahmen protestantische Akteure bzw. Kirchenvertreter zu den konkreten Fragen des Gesetzgebungsprozesses keine Stellung. Die Institution Kirche erfüllte hier ihre gesellschaftlich akzeptierte Rolle als Lieferantin von grundsätzlich konsensfähigen „Normen und Werten“, die mit den detailreichen Ausschussberatungen nur bedingt kompatibel bzw. vielseitig interpretierbar waren. Diese waren unumstritten, solange sie nicht mit konkreteren Forderungen in Verbindung gebracht wurden. Zu einem zentralen Bezugspunkt der protestantischen Diskussion avancierte das Argument der wirtschaftsfreundlichen Ausgestaltung des Lastenausgleichs, das mit beiden Konzeptionen in Verbindung gebracht wurde. Das Argument „wirtschaftsfreundlich“ beherrschte und strukturierte den Diskurs, so dass weder die Vertreter des sozialen Ausgleichs noch die Vertreter des quotalen Ausgleichs, weder die Vertreter der einheimischen Wirtschaft noch die der Vertriebenen, an dieser Figur vorbei gehen konnten. Sie alle reklamierten dieses Attribut für sich und schrieben es ihren jeweiligen Lastenausgleichskonzeptionen diskursiv zu. Nahezu alle Beiträge plädierten unabhängig davon, ob sie eine soziale oder eine quotale Ausgleichskonzeption bevorzugten, dafür, dass den Vertriebenen zu Eigentum verholfen werden und die Eigentumsordnung wieder hergestellt werden müsse. Privates Eigentum wurde offenbar als Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung betrachtet. Auch diese Betonung des Eigentums war gegen die DDR gerichtet. Die DDR war als negative Referenzfolie explizit und implizit dauerhaft präsent: In der Idee eines christlichen Abendlandes, die antikommunistisch aufgeladen war, im expliziten Antikommunismus, der sich integrierend auswirkte und bei den Vertriebenen die Zustimmung zu Adenauers Westintegrationspolitik wie zur Bundesrepublik insgesamt evozierte, im Verständnis vom Eigentum als Fundament der persönlichen Freiheit wie der gesellschaftlichen Ordnung, im Ordnungsentwurf einer sozial und ethnisch differenzierten oder „gegliederten“ Gesellschaft und in der Kulturpolitik, die sich ebenfalls von der DDR abgrenzte und nicht auf eine Assimilation, sondern eine Bewahrung der Vertriebenenidentität(en) zielte. Die protestantische Positionierung zum Lastenausgleich lässt jenseits konkreter und materieller Eigeninteressen im Gesetzgebungsprozess kaum Wiedererkennungseffekte nachweisen; die Wirkung der protestantischen Einflussnahme ist demnach kaum messbar. Daher konzentrierte sich diese Studie auf die Analyse von Beziehungsgeflechten, Kommunikationskanälen und Einflusspotentialen. In diesem Zusammenhang gerieten formalisierte wie weniger formalisierte Netzwerke und Beziehungen zwischen Kirche und Politik oder Verwaltung auf nationalstaatlicher Ebene in den Blick. Allerdings verraten institutionalisierte und formalisierte Beziehungen, die die privile-

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gierte, verfassungsrechtlich abgesicherte Stellung der Kirchen in Politik und Kirche widerspiegelten, nichts über den faktischen Einfluss. Daher müssen auch die Wirkungspotentiale analysiert werden, die sich aus weniger formalisierten, personenzentrierten Netzwerken ergaben. Neben offiziellen und semioffiziellen Arbeitstreffen kamen einzelne Politiker wie Johannes Kunze und Eugen Gerstenmaier in den Blick. Gerstenmaier wechselte seinem sozialpolitischen Gestaltungsanspruch gemäß 1949 von der Leitung des Hilfswerks in die Politik und arbeitete an der „Internationalisierung der Flüchtlingsfrage“. Johannes Kunze fungierte als Schnittstelle zwischen Politik und Kirche und übernahm eine wichtige Funktion im kirchlichen Interessenvertretungsprozess. Dieses Engagement sollte jedoch nicht als Lobbyismus verkürzt werden. Im volkskirchlichen Verständnis Kunzes trug die materielle Bevorzugung der Kirche, die karitative und seelsorgerliche Aufgaben übernahm, zur gesamtgesellschaftlichen Befriedung und Integration bei. Rückblickend reflektierte Kunze den in einem schwierigen Aushandlungsprozess zustande gekommenen Kompromiss unter den Leitbegriff „politische Diakonie“ und suchte damit explizit den Anschluss an protestantische Denkfiguren, wobei politische Diakonie für Kunze einerseits einen Primat der christlichen Ethik in der Politik implizierte und andererseits auf die Vermittlung von sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Vernunft rekurrierte. Allerdings vertrat er dennoch einen Primat der Wirtschaft. Letztlich ist dieser rückblickende Aufsatz auch als nachgeschobene Begründung und Reflexion des Kompromisscharakters zu verstehen, der sich Interessenkonstellation und Sachnotwendigkeiten verdankte. Es wäre sicherlich zu weit gegriffen, Kunzes „Politik des Kompromisses“ zu einem protestantischen Politikstil zu stilisieren. Allerdings lassen sich Konvergenzen zwischen der protestantischen politischen Ethik und Kunzes Überlegungen und seinem Handeln herausarbeiten. Anhand der Interaktionen zwischen politischen und kirchlichen Akteuren zeigt sich insgesamt ein kooperatives, auf Interessenkonvergenzen basierendes Staat-Kirche-Verhältnis. Akteure aus Politik und Verwaltung nutzten wiederum die Kirche für ihre eigenen Anliegen und Interessen. Seelsorge und Caritas wurden auch staatlicherseits als positiv und integrationsfördernd bewertet und finanziell unterstützt.

5.3 Die protestantische Bilanzierung des Integrationsprozesses und die Auseinandersetzung mit „Heimat“ Der dritte systematische Teil befasste sich mit der protestantischen Reflexion und Bilanzierung des Integrationsprozesses vor und im Kontext der Vertriebenen- und Ostdenkschrift. Ein typisches Narrativ war die Unterscheidung zwischen äußerlich-materieller und innerer Eingliederung, wobei die äußere

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im Wesentlichen abgeschlossen, die innere hingegen unabgeschlossen sei. Sowohl auf EKD-Ebene als auch im Beirat des Bundesvertriebenenministeriums wurde ab Mitte der 1950er Jahre der Kulturpolitik und -förderung erhöhte Aufmerksamkeit zuteil. Der Jurist und Ministerialdirigent Ludwig Landsberg belegte eine strukturelle Benachteiligung der Vertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft anhand sozialstatistischer Daten und stellte die Unterscheidung von innerer und äußerer Eingliederung infrage. Neben der Thematisierung der sozioökonomischen, der kulturellen oder der geistigseelischen Dimension spielte eine andere Dimension des Integrationsprozesses eine untergeordnete Rolle, nämlich der „Alltagsrassismus“, die massiven Xenophobien und die alltäglichen Ausgrenzungsmechanismen, die in den Integrationskonflikten „vor Ort“, d. h. im alltäglichen Umgang, beobachtet werden können. Elisabeth Pfeil, Herbert Girgensohn, aber auch Landsberg nahmen indirekt darauf Bezug, wenn sie die Verständnislosigkeit gegenüber der Andersartigkeit der Vertriebenen benannten, die Vertriebenenproblematik als „Problem des Fremden“ oder das Gefühl der Herabsetzung bei den Vertriebenen beschrieben.23 Eine konkretere Benennung der Xenophobien ist allerdings nicht zu entdecken.24 Landsberg nahm am konkretesten darauf Bezug, wenn er von der „Fremdenfeindlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft“ sprach – ein Terminus, der später Eingang in die EKDDenkschrift von 1965 fand. Erst auf der Loccumer Tagung 1967 geriet die Rolle stereotyper Zuschreibungen genauer in den Blick. Ab Mitte der 1950er Jahre wurde die Heimatrechtsproblematik und Grenzfrage diskursbeherrschend. In den frühen 1950er Jahren wurden Rückkehrwünsche im Kontext einer übergreifenden, antikommunistischen Abendlandidee formuliert, die zugleich ein Erklärungsangebot für den Raub der Heimat bereitstellte. Ende der 1950er Jahre wurde die Forderung eines Rechts auf Heimat rechtlich, moralisch und theologisch kategorisiert, legitimiert und hergeleitet. In diesem Kontext wurden wieder theonome, vor allem 23 Das Problem des Fremden thematisieren: Girgensohn, Flüchtlinge, 17; Landsberg, Gemeinde; Pfeil, Art. Vertriebenenprobleme. In: ESL 1954, Dies.: Vertriebene und Eingesessene, psychologisch gesehen (EZA Berlin 71/1186); und dies., Gemeinschaft, 64 f. Ein einzelner, in „Christ und Welt“ erschienener Artikel erhob den Anspruch, über die gegenseitigen Vorurteile aufzuklären und diese abzubauen. In diesem Zusammenhang stellte der 1948 erschienene Artikel das verbreitete Vorurteil infrage, dass es sich bei den Vertriebenen überwiegend um Erwerbsunfähige handelte und diese sowohl den „Frauenüberschuss“ als auch die ungünstige Altersstruktur verstärkten (Vom Zusammenleben der Vertriebenen mit den Einheimischen. In: ChrWelt, 11. 9. 1948). 24 Einige Autoren nahmen indirekt auf diese Dimension Bezug, indem sie den Integrationskonflikt als Nationalitätenkampf bezeichneten. Lemberg und Schelsky sprachen vom „Nationalitätenkampf“ oder „Nationalitätengegensatz“, der zum Klassendualismus hinzutrete (Lemberg, Ausweisung, 24; und Schelsky, Flüchtlingsfamilie, 159). Boehm legitimierte die Abneigung der aufnehmenden Bevölkerung, indem er vom „natürlichen Urinstinkt des Fremdenhasses“ sprach (Boehm, Max Hildebert: Denkschrift „Flüchtlingsproblem in ökumenischer Verantwortung, ACSG Lüneburg AR 12/5).

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schöpfungstheologische Begründungsressourcen aufgerufen. Während der OKA bis Mitte der 1950er Jahre in dieser Frage gespalten war, ist ab Ende des Jahrzehnts eine Verschiebung zu beobachten, was auch mit veränderten personellen Konstellationen im Vertretungsorgan der evangelischen Vertriebenen zusammenhing. Zeitgleich gerieten die kirchlichen Vertriebenengremien partiell in das Fahrwasser der weltlichen Landsmannschaften. Diese konnten die Agenda des OKAs und OKKs teilweise bestimmen, auch wenn das Verhältnis nach wie vor spannungsvoll blieb. Andere protestantische Theologen aus dem OKA profilierten gerade ein alternatives, auf den Westen bezogenes Heimatverständnis und legten damit den Fokus auf die zu leistende Beheimatung im Westen. Die Analyse der in Theologie und Seelsorge gebräuchlichen Argumentationsmuster ermöglicht es, die Grautöne und Differenzierungen eines vielschichtigen Heimatdiskurses sichtbar zu machen und das verbreitete Bild einer Pro-Kontra-Polarisierung zu differenzieren.25 Die integrationspolitischen Implikationen des Heimatdiskurses zeigen sich anhand von drei, hier systematisierten Argumentationsmustern: Erstens postulierten einige Theologen aus dem Umkreis des OKAs die seelsorgerliche Bewältigung des Traumas der Heimatlosigkeit, die als Beitrag zur „inneren Eingliederung“ begriffen wurde und die nicht durch eine Rückkehr zu lösen war. Theologen wie Herbert Girgensohn erkannten ein Recht auf Heimat zwar an, wollten dieses aber expressis verbis als seelsorgerliches und theologisches Problem verstanden wissen. Da das Trauma der Vertriebenen nach Girgensohn weniger im Heimatverlust als vielmehr im erlittenen Unrecht bestehe, verstand er eine Anerkennung des Unrechtscharakters und eine Sanktionierung des Heimatrechts im Völker- oder Menschenrecht als Beitrag zur „inneren“ Bewältigung. Ein beliebter Topos war zudem das Theologumenon der irdischen Heimatlosigkeit des Christen und das Argument, dass der Christ seine Heimat unabhängig vom geographischen Ort nur im Glauben, bei Gott finden könne. Auch diese Figur sollte einen Beitrag zur seelischen Verarbeitung, Sinnstiftung oder Kontingenzbewältigung und damit zur Integration im weitesten Sinne leisten. Inwieweit aus diesem potentiell kritischen, das Heimatrecht relativierenden Argument tatsächlich politische Schlussfolgerungen gezogen wurden, oder ob es sich nicht vielmehr um eine stereotyp vorgebrachte Deutungsfigur ohne jede politische Handlungs- oder Alltagsrelevanz handelte, ist eine andere Frage. Auf die allgemeine wie unverbindliche Gebräuchlichkeit verweist der Sachverhalt, dass auch die Befürworter des Rechts auf Heimat dieses Theologumenon gebrauchten. In ungewöhnlicher Deutlichkeit explizierte allerdings SpiegelSchmidt die politischen Konsequenzen, die sich hieraus ergaben. Zweitens wurde die Vehemenz und Leidenschaft, mit der viele Vertriebenen und ihre Verbände ein Recht auf Heimat in Anspruch nahmen, als Ausdruck einer nicht abgeschlossenen Integration interpretiert. Gerade diese Überlegung veran25 Eine solche Pro-Kontra-Dichotomie suggeriert: Heck, EKD, 125 f.

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lasste die Initiatoren der Vertriebenen- und Ostdenkschrift von 1965 dazu, Integrationsfragen und die Fragen der Ostgrenzen in einen Zusammenhang zu stellen. Drittens reflektierten sie den Heimatbegriff im Kontext der fortschreitenden Integration im Westen und der modernen, mobilen Gesellschaft, die eine neue soziologische Bestimmung von Heimat erforderlich mache. Heimat könne demnach nicht mehr mit einem festen geographischen Ort – und in der Konsequenz auch nicht mit einem Territorium in Ostdeutschland – identifiziert werden. Heimat war demnach sozial, d. h. durch die Gemeinschaft konstituiert und damit auf den Westen übertragbar. Den Anfang machte der Soziologe Wilhelm Brepohl. Dessen in der „Sozialen Welt“ und in der „ZEE“ entfalteten Überlegungen wurden von einigen Theologen im Umkreis des OKAs und des OKKs rezipiert. Zugleich wurde die Rückkehr angesichts der fortschreitenden Integration im Westen infrage gestellt. Alle drei Argumentationsmuster relativierten nicht nur das revisionistische, auf ein konkretes Territorium bezogene Heimatverständnis der Vertriebenenverbände, sondern lenkten den Blick auf die westdeutsche Gesellschaft, der potentiell Heimatfähigkeit attestiert wurde. Freilich ging damit nicht unbedingt eine konkrete integrationspolitische Option einher, aber immerhin wurde überhaupt eine dauerhafte Beheimatung im Westen als Möglichkeit in Betracht gezogen. Nicht zuletzt verfolgte die Seelsorge das Ziel, vor Illusionen zu warnen und zu befreien – also vor der außenpolitischen Unwahrscheinlichkeit oder sogar Unmöglichkeit einer baldigen Rückkehr. Der Heimatbegriff war, so die These, ein integrationspolitischer und seelsorgerlicher Begriff und brachte eine gesellschaftliche Ordnungsdimension zum Ausdruck, indem er zugleich auf die Ganzheit der sozialen Gefüge rekurrierte. Insgesamt lässt sich die theologische Auseinandersetzung mit Heimat und Heimatrecht als Doppelbewegung aus Enttheologisierung und Theologisierung interpretieren: Theologisierung, weil Heimat auf Gott projiziert und damit transzendiert oder spiritualisiert wurde; Enttheologisierung, weil eine theonome Herleitung zumindest von einigen Akteuren verweigert wurde. Die Theologie und ihre Deutungsfiguren konnten in einer schwierigen gesellschaftlichen Diskussion sowohl als deradikalisierende als auch als radikalisierende, als integrative und desintegrative Ressource gebraucht werden. In die polarisierenden Debatten um Heimatrecht und Grenzfrage stieß die EKD-Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“. Ihre Leistung ist neben dem ostpolitischen Tabubruch auch darin zu sehen, dass sie Integrationsdefizite öffentlich thematisierte und Heimatrechtsfrage und Integrationsproblematik in einen Zusammenhang stellte. Vor diesem Hintergrund ist Lüttingers Studie zu relativieren, der für sich in Anspruch nimmt, den „Mythos des Integrationswunders“ infrage gestellt zu haben.26 Die Verfasser der Denkschrift 26 L ttinger, Mythos. Vgl. auch Beer, Flucht, 28. Trifft Sticklers Befund zu, dass ein Rückgang der Vertriebenenausweise zu verzeichnen sei, muss davon ausgegangen werden, dass sich

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meinten dabei, nicht an der schwierigen Situation der Vertriebenen in der Gesellschaft vorbeigehen zu können. Der aus Schlesien stammende Landsberg legte im hauptsächlich von ihm verantworteten zweiten Teil der Denkschrift eine der umfassendsten und differenziertesten Analysen zur Situation der Vertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft vor. Der integrationspolitische Teil bildete nicht den Anlass der Denkschrift, aber ihm wuchs im Verlauf der Vorbereitungen wachsende Bedeutung zu. Im Zentrum der Diskussion der Denkschrift standen jedoch die ostpolitischen Aussagen, die Frage des politischen Mitspracherechtes der Kirche und die theologischen Aussagen, die im Gegensatz zu den integrationspolitischen Aussagen als Tabubruch empfunden und stark rezipiert wurden. Nur wenige Kommentare erwähnten den integrationspolitischen Teil. Insgesamt zeigt sich jedoch eine gewisse Diskrepanz zwischen der Vertriebenenpresse und der allgemeinen Presse: Während die allgemeine Presse die Denkschrift tendenziell zustimmend kommentierte und dabei den integrationspolitischen Teil immerhin zur Kenntnis nahm, nahm die Vertriebenenpresse, die eine Skandalisierungsstrategie verfolgte, die integrationspolitischen Aussagen entweder gar nicht wahr oder diskreditierte diese als „Ablenkungsmanöver“. Offenbar hing die Wahrnehmung des integrationspolitischen Teils auch davon ab, ob der Kommentator oder die Kommentatorin grundsätzlich positiv oder negativ gegenüber der Denkschrift eingestellt war. Dabei kann dem Verweis auf den integrationspolitischen Teil auch eine instrumentelle Bedeutung zugewiesen werden. Auf der inhaltlichen Ebene spielten die sozioökonomischen Argumente allerdings eine geringe Rolle, die von den meisten Kommentatoren als faktische Situationsbeschreibungen ohne Diskussionspotential wahrgenommen wurden. Eine Ausnahme war ein 1969 erschienener Beitrag von Spiegel-Schmidt. Die Beantwortung der Frage, ob die Integration erfolgreich verlaufen war oder nicht, hing nicht zuletzt von den individuellen Maßstäben, Gesellschaftsentwürfen und Zielsetzungen der jeweiligen Betrachter ab. Intensiv wurde der seelsorgerliche Anspruch der Denkschrift diskutiert. Versteht man unter Seelsorge in diesem Zusammenhang einen spezifischen kirchlichen Beitrag zur geistigen oder inneren Integration der Vertriebenen mit dem Ziel einer gesellschaftlichen Befriedung, so gewinnt auch diese Debatte integrationspolitische Relevanz, die nicht zuletzt die gesamtgesellschaftliche Integrationsfähigkeit der Kirche zum Gegenstand hatte. War sie noch gesamtgesellschaftlich integrationsfähig oder bewirkte sie gerade eine Spaltung des Volkes? Die Beantwortung dieser Frage hing vom je eigenen Seelsorgeverständnis ab: Was den einen eine Befreiung von Illusionen und eine Eröffnung neuer Wege und Horizonte war, war Lüttinger Befunde weiter relativieren, da die amtlichen Statistiken dann nur einen Teil der Vertriebenen erfassten. Lüttinger beruft sich in seiner Studie auf die Mikrozensus-Erhebung von 1971. Wie viele der befragten Vertriebenen überhaupt angaben, Vertriebene zu sein, ist nicht nachvollziehbar. Zur Problematik der Vertriebenenstatistik siehe Stickler, Ostdeutsch, 138–140. Genaue Aussagen hierzu sind kaum möglich.

Die protestantische Bilanzierung des Integrationsprozesses

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den anderen ein Verrat der Kirche an ihren Vertriebenen oder am gesamten deutschen Volk. Die Frage, wie das Verhältnis von Kirche und Volk bestimmt wurde, spielte hier ebenfalls hinein. Der Befund einer Diskrepanz zwischen der Rezeption der theologischostpolitischen und der zum Teil verkürzt rezipierten integrationspolitischen Dimension, die im Übrigen mit der Diskursdynamik der zweiten Hälfte der 1950er Jahre konvergierte, lässt sich zweifach erklären. Erstens ist auf die moralische Aufladung der Grenzfrage zu verweisen, die ein nationaler, normativ aufgeladener Identitätsdiskurs war und im Modus eines unverhandelbaren Rechtsanspruches diskutiert wurde. Die Verletzung von moralischen Werten oder der Eindruck, dass solche Werte verletzt würden, wirkte nach Luhmann als Generator von Aufmerksamkeit. Mit der allmählichen Liberalisierung der Gesellschaft und den seit Ende der 1950er Jahren häufiger zu hörenden Forderungen, die Ostgrenze anzuerkennen, gerieten die Vertriebenenverbände in eine defensive Situation, zumal das politische Selbstverständnis der Vertriebenenverbände existentiell mit der Heimatrechtsfrage verknüpft war. Folglich richteten sich ihre Beiträge in erster Linie gegen den ausgesprochenen Verzicht auf das Heimatrecht und seine theologische Begründung. Die Verfasser der Denkschrift formulierten einen alternativen Identitätsentwurf einer „Schuld- und Haftungsgemeinschaft“, der den Entwurf der Vertriebenenverbände infrage stellte. In Anlehnung an Könemann et al. fungierten die „in kritischer Opposition“ gebrauchten religiösen Argumente als Generatoren von Aufmerksamkeit. Zwar verweigerte die Denkschrift die Herleitung einer politischen Entscheidung aus dem Evangelium, für die Kritiker war sie aber genau das, was sie nicht zu sein beabsichtigte, nämlich eine unrechtmäßige Vermischung von Theologie und Politik. Mit den ostpolitischen wie den theologischen Aussagen waren eine ganze Reihe weiterer Konfliktlinien gezogen: Die „Ostdenkschrift“ fungierte nicht nur als „Katalysator der im Mehrheitsprotestantismus vollzogenen Neubestimmung des Nationalen“27, sondern die Debatten waren auch ein Stellvertreterdiskurs für die polarisierenden Kontroversen um eine „Politisierung der Kirche.“ Darüber hinaus ist auf die gesellschaftspolitische Situation der Vertriebenen zu verweisen. Die Vertriebenen waren in der bundesrepublikanischen Gesellschaft zwar strukturell benachteiligt. Jedoch stabilisierte sich ihre Situation in sozioökonomischer Hinsicht, wenn auch, jedenfalls aus Landsbergs Sicht, auf niedrigerem Niveau. Damit verloren die integrationspolitischen Fragen ihre Brisanz und ihr gesellschaftliches Erregungspotential; Vertriebenenproblematik und Krisenempfinden entkoppelten sich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Demnach stieß der integrationspolitische Teil nicht auf einen entsprechenden Resonanzboden, der die Aufnahme erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht hätte. 27 Lepp, Tabu, 538.

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5.4 Abschließende Überlegungen: Der Protestantismus in der Bundesrepublik Was zeichnet den Protestantismus in einer materialen gesellschaftlichen Debatte inhaltlich aus? Lässt sich eine spezifisch protestantische Diskursstruktur und -stilistik herausarbeiten? Welche Rolle und Funktion kann religiösen Argumenten und Rückbezügen auf die eigenen Traditionsbestände zugesprochen werden? Zunächst präsentiert sich der Protestantismus in Form seiner institutionellen, organisatorischen und publizistischen Strukturen, die eine materielle Voraussetzung für die Austragung von Debatten waren. Neben etablierten Strukturen und Institutionen wie den Landeskirchen mit ihren Synoden brachte der westdeutsche Protestantismus der Nachkriegszeit institutionelle Innovationen wie die Evangelischen Akademien und den DEK hervor.28 Die überregional beachteten, teilweise von zahlreichen Politikern und Intellektuellen besuchten Akademietagungen waren einer „dialogische[n] Kultur des Gesprächs“, das zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen stattfinden sollte, und dem Leitbild des Kompromisses verpflichtet.29 Zugleich können sie aufgrund des geringen Druckpotentials kirchlicher Akteure als Instrumente indirekter Einflussnahme gelten, die erfolgreich Dialogprozesse initiierten.30 Möglicherweise ist hierin und in der Bereitstellung von Foren und Institutionen ein zentraler Beitrag des Protestantismus in einer gesellschaftspolitischen Debatte zu sehen. Religion und in besonderem Maße der Protestantismus sind daher als Resonanzraum des gesellschaftlichen Diskurses zu betrachten. In diesem Zusammenhang ist allerdings auch auf die Divergenz der Ziele der Akademiearbeit zu verweisen, die sozialrestaurativen und demokratieskeptischen Positionen folgte, andererseits die theologische Öffnung gegenüber der modernen und pluralen Gesellschaft vorbereitete.31 Diese Institutionalisierung des Gesprächs spiegelt sich auch in diesem Themenfeld wider. Insbesondere die evangelische Akademie Hermannsburg-Loccum und die hier angesiedelte Forschungsstelle, die bis 1957 regelmäßig Vertriebenentagungen veranstaltete, widmeten sich der Vertriebenenfrage mit großer Intensität. Hier referierten administrative, kirchliche und politische Entscheidungsträger aus verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen. Ein weiteres Diskussionsforum war der OKK. Die protestantische Auseinandersetzung mit der Integrationsproble28 29 30 31

J hnichen, Kirchentage, 144. Reitmayer, Elite, 59. Willems, Kirchen, 332 und 335. Reitmayer, Elite, 56. Mit Nicolai Hannig ist zudem zu fragen, inwieweit das auf den Akademietagungen formulierte neue Selbstverständnis der Kirche in der pluralen Gesellschaft von einem breiten Konsens getragen war. In den Medien herrschte demnach gerade ein gegenteiliges Bild von Religion vor (Hannig, Religion, 18).

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matik fand primär in protestantischen Gesprächsforen und Publikationsorganen und nur in geringem Umfang in säkularen Medien statt, wobei sich in der Heimatrechtsfrage der Fokus auch wieder stark auf nichtprotestantische Medien verschob.32 Protestantische Kommunikationszusammenhänge und die protestantische Publizistik sind allerdings nicht als Gegenüber, sondern als substantieller Teil des gesellschaftlichen Diskurses zu verstehen. Denn diese standen nicht außerhalb der Gesellschaft und bildeten kein dichotomisches Gegenüber, sondern waren in ihrer Gesamtheit ein nicht unbeträchtlicher Bestandteil der westdeutschen Medienlandschaft und damit der westdeutschen Gesellschaft, wobei Überschneidungsflächen zwischen den kirchlichen und außerkirchlichen Teilöffentlichkeiten und Leserkreisen existierten und eine Interaktion und gegenseitige Rezeption von protestantischen und säkularen Medien stattfand. Allerdings gelang es den Akteuren der kirchlichen Vertriebenengremien immer weniger, die Vertriebenenproblematik außerhalb ihrer eigenen Kreise zu thematisieren. Die Bereitstellung von gesamtgesellschaftlichen, einer Ethik des Kompromisses verpflichteten Gesprächsforen korrespondiert mit einer weiteren Beobachtung zur Diskursstilistik oder Diskursethik. Gerade das neue Kommunikationsmittel „Denkschrift“ machte die Kirche auch in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft kommunikabel.33 In der Lastenausgleichsfrage nahmen die EKD und Johannes Kunze einen moderierenden und vermittelnden Standpunkt ein, indem sie die Interessen der Vertriebenen und der aufnehmenden Bevölkerung berücksichtigten. Auch der OKA präsentierte sich gegenüber den Landsmannschaften in der polarisierenden Heimatrechtsbzw. Grenzfrage bis Mitte der 1950er Jahre als ausgleichendes Organ, wie die Auseinandersetzungen über Niemöllers Polenreise zeigen. Die Genese der Denkschrift spiegelt den Versuch, einen Konsens herzustellen, ebenfalls wider.34 Den Denkschriften der EKD, die in lagerübergreifend zusammengesetzten Kammern beraten und erarbeitet wurden, war ein langer Diskussionsprozess vorausgegangen, in deren Verlauf verschiedene Perspektiven, auch die des BdV und des OKAs, zumindest konsultiert wurden. Die EKD-Denk32 Hier ist allerdings auch auf die eigenen Publikationsorgane zu verweisen. Nach Könemann verfügten beide Konfessionen in den 1950er und 60er Jahren über eine starke, auflagenstarke Publizistik, so dass religiöse Akteure nicht auf säkulare Kommunikationsplattformen angewiesen waren. Dies habe sich mit den 1960er Jahren allmählich verändert, als die Auflagenzahlen abgebrochen seien. Vgl. Kçnemann et al., Interessenvertretung, 94 f. Zeitschriften wie „Christ und Welt“ oder das „Sonntagsblatt“ gehörten zu den großen meinungsbildenden Zeitungen des westdeutschen Zeitschriftenwesens. Auch im vertriebenenspezifischen Bereich ist das Zeitschriftenwesen stark ausdifferenziert. In den 1960er Jahren setzten hier allerdings Veränderungsprozesse ein, die auch die vertriebenenspezifische Publizistik tangierte. Der „Remter“ wurde 1962 mit zahlreichen anderen Zeitschriften zusammengelegt und erschien fortan unter dem Titel „Europäische Begegnung.“ Einen Überblick über die evangelische Presse gibt: Rosenstock, Presse. Zu den Auflagen Große-Kracht, Christentum, 506. 33 Hanke, Deutschlandpolitik, 216. 34 Ähnlich auch Heck, EKD, 164.

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schrift von 1965 mit ihrer Mischung aus Positionierung und Abwägung ließ dabei ein großes Diskussionspotential offenbar werden, vertiefte die Entfremdung des OKAs von der EKD und die Polarisierung zwischen Mehrheitsprotestantismus und evangelikalen und biblizistischen Protestantismen, während sich die Synode der EKD überwiegend zustimmend äußerte. Die Spandauer Synodalerklärung von 1966 ließ in ihrer Mischung aus Relativierung und Bestätigung der Denkschrift ein breites Zustimmungspotential in der Mitte erkennen, während sich am rechten Rand eine zum Teil radikalisierte Oppositionsbewegung herausbildete. Denkschrift und Synodalerklärung verdeutlichen zusammen genommen den Wunsch nach Positionierung und die Suche nach Konsens. Dies war auch dem erhöhten Integrationsbedarf des heterogenen Protestantismus geschuldet. Insgesamt zeigt sich, dass protestantische Akteure pragmatisch mit religiösen und theologischen Argumenten umgingen und sich an die jeweiligen Argumentations- und Handlungslogiken anpassten. Dabei wurden die Verwendungskontexte und Funktionen religiöser Argumente analysiert, die am ehesten Aufschluss über die spezifisch protestantische Problemwahrnehmung geben. Insgesamt kann zwischen gesellschaftspolitisch-sozialethischen, moralischen und religiös-theologischen Argumenten unterschieden werden, die in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich gebraucht wurden.35 Besonders in der Lastenausgleichsfrage dominierten gesellschaftspolitische und sozialethische Argumente. Bei einigen normativen Begründungsmustern wie etwa „soziale Gerechtigkeit“, „Solidarität“ oder „Allgemeinwohl“ handelte es sich zwar nicht um originär theologische oder religiöse Argumente, diese wurden in der protestantischen Sozialethik jedoch ebenfalls gebraucht, konnten religiös gewendet werden und waren somit in beiden Kommunikationszusammenhängen anschlussfähig.36 In der Lastenausgleichsfrage fungierten religiöse Argumente innerhalb protestantischer Kommunikationskontexte primär als Legitimations- und Mobilisierungsressourcen, während die einzelnen wirtschafts- und sozialpolitischen Konzepte und Sachfragen in gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Kategorien diskutiert wurden.37 Der 35 In Analogie dazu unterscheiden Könemann et al. zwischen „explizit religiösen und theologischen“, „ethisch-moralischen“, „sozialethisch verantworteten“ und „gesellschaftspolitischen“ Argumenten (Kçnemann et al., Interessenvertretung, 196). Ein weiterer von Könemann et al. genannter Typ stellen „religiöse Marker zur Sichtbarkeit und Herstellung von Religiosität“ (ebd.) dar. Bei „religiösen Markern“ handelt es sich um solche Argumentationsfiguren, die nicht so sehr inhaltlich religiös sind, sondern auf personeller oder symbolischer Ebene den Brückenschlag zur Religion herstellen und denen vor allem eine „semantisch-diskursive Signalwirkung“ zukommt (Ebd., 198). 36 Der Terminus hatte in der Theologie und in der Sozialethik einen festen Platz. In diesem Kontext begegnet er allerdings ohne biblischen oder transzendenten Bezug. Vgl. hierzu auch Schabert et al., Art. Gerechtigkeit. In: TRE Bd. 12, 404–448; und Iwand: Art. Gerechtigkeit, ESL 1954, 413–418. 37 In anderen Feldern wie beispielsweise Bildungs- und Erziehungswesen oder im Ehe- und Familienrecht, wo kirchliche und religiöse Akteure traditionellerweise Deutungskompetenz und

Abschließende Überlegungen: Der Protestantismus in der Bundesrepublik 491

Gebrauch religiöser Argumente und theologischer Traditionsbestände variierte schließlich je nach Thema und kommunikativem Kontext: Sie spielten in der Diskussion des Lastenausgleichsgesetzes und in gesellschaftspolitischen Argumentationszusammenhängen eine vergleichsweise geringe, in den politischen Institutionen sogar gar keine Rolle, während der theologischen Deutungstradition in den innerkirchlichen Integrationsdebatten, in der Heimatrechtsfrage und in der Schuldfrage eine große Rolle zukam. Im Zeitverlauf wandelte sich zudem die Selbsteinschätzung der Akteure der kirchlichen Vertriebenenarbeit und damit auch der Gebrauch der Deutungsmuster: Nachdem die grundlegenden integrationspolitischen Fragen entschieden waren, verlor die spezifische Problemwahrnehmung, die den Zustand gesamtgesellschaftlicher Desintegration in sozialmoralischen, ekklesiologischen und religiösen Kategorien artikulierte, an Relevanz. Auch auf die Vorstellung, dass die Kirche die zentrale Integrationsagentur war, die die Gemeinschaft ermögliche und die Vermassung der gesamten Gesellschaft verhindere, verschwand ab Mitte der 1950er Jahre aus dem Deutungsrepertoire. Dies bedeutet freilich nicht, dass der Kirche keine Bedeutung mehr zugesprochen wurde. Die Protagonisten der kirchlichen Vertriebenenarbeit beanspruchten bis in die 1960er Jahre hinein die Zuständigkeit für die „innere“ oder „seelische“ Dimension der Integrationsproblematik und beschrieben die Kirche als eine von mehreren gesellschaftlichen Institutionen und Bereichen. Die evangelische Kirche präsentierte sich mit der Denkschrift von 1965 als Akteurin mit einem advokatorischen und gesellschaftskritischen Anspruch. In ihr kommt deutliche Distanz gegenüber der an die Kirche gerichteten Erwartung zum Ausdruck, „deutsche Interessen zu vertreten.“ Vor allem präsentierte sie sich weniger als moralische Instanz, sondern brachte sich mit konstruktiven und kritischen Diskussionsbeiträgen ein, ohne auf normative Deutungs- und Orientierungsressourcen völlig zu verzichten. Im Anschluss an diese Beobachtungen ist im Rekurs auf die neuere sozialund politikwissenschaftliche Religionsforschung nach der spezifischen Funktion religiöser und theologischer Argumente zu fragen. Insgesamt fungierten religiöse Argumente erstens als strategisch eingesetzte, sprachliche Codes. Zweitens fungierten religiös-theologische Argumente als Ressource der Sinnstiftung und Kontingenzbewältigung, wie die Versuche erkennen lassen, Heimat zu transzendieren, zu spiritualisieren oder zu theologisieren. Drittens wurden religiös-moralische Argumentationsmuster aufgerufen, um grundsätzliche Zustimmung zum Lastenausgleichsgesetz zu mobilisieren, Eingriffe in die Eigentumsordnung zu rechtfertigen oder eine gesellschaftspolitische Mitverantwortung der Kirche zu legitimieren. Viertens wurden Theologie und Religion als Legitimationsressource eingesetzt mit dem Ziel, Mitspracherechte beanspruchten, war der Gebrauch religiöser und moralischer Argumente vermutlich stärker ausgeprägt. Hierzu z. B. Großbçlting, Himmel, 34–37. Am Beispiel bioethischer Themen auch Kçnemann et al., Interessenvertretung, 199 f.

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das juristisch und völkerrechtlich nicht kodifizierte Recht auf Heimat mit zusätzlicher Legitimität auszustatten und in den Rang eines moralischen Postulats zu heben. Fünftens ist aber auch die gegenläufige Tendenz feststellbar, im Rekurs auf religiöse Argumente eine Legitimation des Heimatrechts zu verweigern und ein absolutes Heimatrecht zu relativieren, das unter einen göttlichen Vorbehalt gestellt und der politischen Verfügbarkeit entzogen wurde. Religion und Theologie konnten demnach sowohl als Legitimationsressource als auch als kritisches Korrektiv fungieren. Sechstens boten religiöse Argumente „Orientierung in schwierigen ethischen Konflikten“, wie das Beispiel der Vertriebenen- und Ostdenkschrift beweist.38 Schließlich und siebtens können religiöse Argumente Aufmerksamkeit generieren, sofern sie in kritischer Opposition gebraucht werden.39 Tatsächlich ist festzustellen, dass die theologischen Argumentationen der Denkschrift rezipiert und diskutiert wurden und die theologischen Grundprämissen der Denkschrift – bzw. aus der Perspektive der Kritiker: die unrechtmäßige Verquickung von Theologie und Politik – scharfen Widerspruch und damit Aufmerksamkeit hervorriefen. Von diesen theologisch-religiösen Debatten war der integrationspolitische, gesellschaftspolitisch argumentierende Teil der Denkschrift völlig abgeschnitten. Daher kann die Beobachtung, dass in kritischer Opposition gebrauchte religiöse Argumente Aufmerksamkeit erzeugen oder verstärken, auch ex negativo bestätigt werden: Gerade die theologischen Argumente oder die Kombination aus theologischen Versatzstücken und politischen Thesen riefen eine große Resonanz und Kritik der kirchlichen und weltlichen Vertriebenengremien hervor und fungierten demnach als Generatoren von Aufmerksamkeit. Schließlich beanspruchten die weltlichen Sprecher der Vertriebenenverbände selbst theologische Deutungskompetenz und -hoheit. Auf der Suche nach dem Protestantischen in einer gesellschaftspolitischen Debatte wurden bislang die von protestantischen Akteuren gebrauchten Argumentations- und Deutungsmuster rekonstruiert, systematisiert und zusammengefasst. Wie lässt sich das spezifisch Protestantische nun beschreiben? Ein protestantisches Spezialproblem war sicherlich das Bekenntnisproblem, das hier allerdings nur partiell eine Rolle spielte. Angesichts der großen Heterogenität und Bandbreite der vertretenen Positionen und angesichts des Sachverhalts, dass ähnliche Gesellschaftsdiagnosen auch im allgemeinen politisch-literarischen Feld begegnen, ist es nicht möglich, den Protestantismus mit einer spezifischen gesellschaftspolitischen Position zu identifizieren. Vielmehr begegnet das gesamte im gesellschaftlichen Feld vertretene Spektrum an Argumenten und Deutungsmustern. Selbst im katholischen Bereich lassen sich, wie ein punktuell vergleichender Blick verrät, zumindest struk38 Ebd., 241. 39 Umgekehrt gilt: Religiöse Argumente, die „konsensunterstützend“ gebraucht werden, „führen in der Regel nicht zur Generierung von Aufmerksamkeit in Form aufgebrachter Debattenbeiträge“ (ebd).

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turell ähnliche Deutungsmuster und Integrationskonzepte nachweisen. Die katholische Vertriebenenseelsorge setzte auf eine landsmannschaftlich gestützte, Traditionen und „Brauchtum“ bewahrende Integrationspolitik, die sich gegen „Vermassung“, „Atomisierung“ und den „Kommunismus“ richtete. Hoffnungen auf eine Erneuerung des religiösen Lebens, Vorstellungen einer Identität von Volkstum und Religion, die Vorstellung von Religion als gesamtgesellschaftliche Integrations- und Beheimatungsinstanz oder das Deutungsmuster einer heimatlosen „pilgernden Kirche“ sind im Deutungsspektrum der katholischen Vertriebenenseelsorge und -theologie ebenso zu finden.40 Allerdings gab es einen entscheidenden Unterschied: Im Gegensatz zum Protestantismus kam es im Katholizismus, der sich nicht als territoriale, sondern als universale Kirche verstand, nicht zur Bildung landsmannschaftlicher Organisationen.41 Die Integrationskonzepte und Gesellschaftsvorstellungen fanden demnach keinen Niederschlag im Organisationsprinzip der katholischen Vertriebenenarbeit. Insgesamt fällt auf, dass der Katholizismus als Vergleichs- und Abgrenzungsfolie im Prinzip keine Rolle spielte, was insofern überrascht, da die Abgrenzung zum Katholizismus ein zentraler Bestandteil des protestantischen Selbstverständnisses war. Gerade solche Akteure, die eine Identität von Kirche und Volk oder Volkstum postulierten, schienen gar nicht darüber zu reflektieren, dass es ja zwei Großkirchen gab und die evangelische(n) Kirche(n) bestenfalls die Hälfte des Volkes repräsentieren konnten. Auch hier wird eine Leerstelle im protestantischen Diskurs angezeigt. Eine solche Denkfigur deutet auf die territorialkirchliche Vorstellung partikularer, konfessionell homogener, aber voneinander getrennter Territorien – also die Vorstellung eines „katholischen Bayerns“ oder eines „protestantischen deutschen Ostens.“ Dass solche Vorstellungen nach 1945 nicht mehr der Wirklichkeit entsprachen, steht auf einem anderen Blatt. Möglicherweise wirken in dieser Denkfigur auch nationalprotestantische Traditionsstränge fort, die sich unter der Bedingung einer stark ausgeprägten Identität von preußischem Staat und protestantischer Kirche entwickelten. Im Selbstverständnis des Protestantismus als preußische Staats- und deutsche Volkskirche war der Katholizismus – jenseits seiner Funktion als negativer Referenzrahmen – ein „blinder Fleck“, obwohl beinahe die Hälfte der Deutschen katholisch war. Die gesellschaftsbezogenen Deutungsmuster weisen jenseits ihrer religiös-moralischen Dimension keine konfessionellen Spezifika auf. Im protestantischen Gesellschaftsdiskurs blieb der Katholizismus ebenfalls eine Leerstelle. Auch protestantische Akteure wie Johannes Kunze, die keine offiziellen Vertreter der Amtskirche waren, aber dennoch die Interessen der Kirchenkanzlei der EKD vertraten und in protestantischen Kommunikationskontexten engagiert waren, griffen im politischen Prozess kaum auf konfessionelle Begründungs- oder Abgrenzungsfiguren zurück. Für diesen 40 Bendel, Aufbruch, v. a. 111, 157, 160, 344, 348, 558. 41 Stickler, Ostdeutsch, 35.

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Fazit

Akteurstypus, der als motivationslogisch charakterisiert wurde, spielten christliche Begründungsfiguren oder die Selbstbezeichnung „christlich“ eine größere Rolle. Anders verhält es sich, wenn es um taktisch-strategische Fragen und handfeste Interessen wie finanzielle Zuwendungen, personalpolitische Entscheidungen und die dadurch bedingten Kontakte zur Ministerialbürokratie ging. Hier ist eine gegenseitige Beobachtung und Wahrnehmung der Konfessionen zu beobachten, um das konfessionelle Gleichgewicht zu halten. Gleichwohl, und auch dies darf nicht unterschlagen werden, kam es punktuell zu Kooperationen mit katholischen Akteuren. So traten in protestantischen Kommunikationskontexten wie Zeitschriften und Akademien katholische Akteure wie Hans Lukaschek oder Eugen Lemberg auf. Dies impliziert zunächst eine Nichterkennbarkeit des Protestantismus in einer gesellschaftlichen Debatte, die über organisatorische und institutionelle Zugehörigkeiten hinausging. Ein erklärendes Angebot für diese Nicht-Erkennbarkeit des Protestantismus außerhalb seiner eigenen Institutionen liefert nicht zuletzt die protestantische Theologie selbst. Diese betont in der interpretativen Bezugnahme auf das „reformatorische Erbe“, dass der Protestantismus im Gegensatz zum Katholizismus gerade durch eine Aufwertung des Säkularen charakterisiert sei und die Unterscheidung von sakraler und weltlicher Sphäre relativiert habe.42 Überträgt man diese theologische Selbstdeutungsfigur auf die Befunde dieser Arbeit, ließe sich argumentieren, dass gerade in der Nichtunterscheidbarkeit von Kirche und Welt ein protestantisches Spezifikum zu sehen ist.43 Anderseits scheinen diese Überlegungen auch problematisch, weil es sich hierbei um das Theorem einer theologischen Schulbildung handelt, die die Zugewandtheit des Protestantismus zur modernen Gesellschaft zum Programm erhebt und sich damit wiederum gegen andere theologische Schulen richtet, die dieses normative Selbstverständnis nicht teilen.44 Zudem ist zu fragen, inwieweit sich die Selbstverständnisse zeitgenössischer protestantischer Akteure damit zutreffend beschreiben lassen. Ein verbreitetes Deutungsmuster war in den 1950er Jahren das von der Eigenständigkeit von Kirche und Welt. Ob die Selbstunterscheidung der Kirche von der Welt oder die Identität von Kirche und Welt behauptet, kritisiert oder postuliert wurde, war schließlich eine akteursabhängige Frage, die historisch immer wieder neu gestellt und beantwortet wurde und der man sich daher im Modus der Historisierung nähern sollte. In Abgrenzung zu solchen theologisch-normativen Programmen ist es heuristisch und analytisch 42 Fischer/Graf, Art. Protestantismus, 462 f. Das bedeutet nicht, dass der Katholizismus nicht zu Anpassungsleistungen bereit wäre und es nicht auch Protestanten gebe, die die Anpassung an den Zeitgeist kritisierten. Allerdings ist die Unterscheidung von Kirche und Gesellschaft, von Sakralität und Weltlichkeit im Selbstverständnis des Protestantismus weniger stark verankert. Auch Honecker, Art. Kirche und Welt. In: TRE, 405–421. 43 Fischer/Graf, Art. Protestantismus, 562–566. 44 So betont die lutherische Zwei-Reiche-Lehre die Eigengesetzlichkeit der Sphären Politik und Staat.

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fruchtbarer, protestantische Akteure daraufhin zu befragen, wie sie das Verhältnis von Kirche und Welt jeweils individuell und im Kontext ihrer Zeit modellierten. Auf dieser Ebene kommen ganz andere Aspekte und Vorstellungen zum Vorschein, als das, was die theologische Schulbildung postuliert – ganz gleich, ob liberal-kulturprotestantische oder barthianische Ansätze fokussiert werden. Dennoch ist das spezifisch Protestantische weniger inhaltlicher als vielmehr formaler und struktureller Natur. Ein übergreifendes Strukturmerkmal protestantischen Argumentierens besteht darin, dass protestantische Akteure „Kirche“ und „Gesellschaft“ in Beziehung setzten und eine Standortbestimmung der Kirche in der Gesellschaft vornahmen. Die umstrittene Frage nach einem Mandat der Kirche im politischen Raum oder der gesellschaftspolitischen Mitverantwortung, Vorstellungen einer Verbürgerlichung der Kirche oder eine Identität von Kirche und Volk implizierten Standortbestimmungen in der Gesellschaft. Auch protestantische Einzelakteure in der Politik oder einige der Flüchtlingssoziologen brachten eine solche Standortbestimmung sowie spezifische Vorstellungen kirchlicher Aufgaben zum Ausdruck. In den jeweiligen Integrationskonzepten erhielt die evangelische Kirche einen festen Platz und eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Protestantische Akteure führten ein je individuelles ekklesiologisches Verständnis davon mit, was Kirche in der Gesellschaft ist und sein sollte, wobei der Kirchenbegriff in der Regel als Pauschal-, Appell- und Suggestionsbegriff ohne weitere Binnendifferenzierung fungierte. Ein weiteres Charakteristikum ist die bekenntnismäßige, theologische und politische Heterogenität, die scharfen Streit hervorrief und zugleich Integrationsmechanismen erforderlich machte.45 Die scharf geführten Auseinandersetzungen um Westintegration und Wiederbewaffnung wurden in dieser Form im Katholizismus gar nicht geführt. Die abwägend argumentierende, gleichwohl profilierte Denkschrift und die anschließende Synodalerklärung erhellen dieses Wechselspiel aus gesellschaftspolitischer Positionierung und Reintegrationsversuchen. Die protestantische Auseinandersetzung changierte insgesamt zwischen den Polen Selbstunterscheidung von der Gesellschaft und Anpassung an ihre Handlungs- und Argumentationslogiken, zwischen steter Aktualisierung der eigenen theologisch-religiösen Tradition und selbstsäkularisierender Anpassung an den gesellschaftlichen Diskurs, zwischen normativem Anspruch und Anerkennung von Realitäten. Die evangelischen Akademien und die beratenden Kammern der EKD können als institutionalisierter Ausdruck dieses Spannungsfelds verstanden werden. Gerade die Kammern verankerten und institutionalisierten externe Expertise, von Laien getragene Initiative und das Konsensprinzip in den Strukturen der EKD, woraus zumindest ein partieller Verzicht der Kirchenleitungen auf Deutungshoheit in gesellschaftspolitischen 45 Im hierarchischer verfassten, homogeneren Katholizismus war dies nicht nötig. Vgl. Willems, Kirchen, 329.

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Fazit

Fragen resultierte. Eine protestantische Stellungnahme wie etwa die EKDDenkschrift von 1965 ist ohne diese spezifische Struktur des institutionalisierten Konsensus kaum denkbar. Mit seinen Kammern und Akademien verfügte der Protestantismus über ein Instrument, mit dem er sich in den gesellschaftspolitischen Diskurs einbringen konnte und der zugleich eine Verarbeitung des gesellschaftlichen Diskurses ermöglichte. Somit changierte der Protestantismus zwischen normativer Verbindlichkeit und angestrebter Sachadäquatheit, zwischen Selbstprofilierung und Anpassung an den „säkularen Diskurs“, wobei sich diese Mischungsverhältnisse themenspezifisch und zeitbedingt unterschiedlich gestalteten. Hieran zeigt sich schließlich, dass einige Merkmale und Tendenzen, die üblicherweise auf die Pluralisierungserscheinungen der 1960er Jahre zurückgeführt werden, bereits in den 1950er Jahren angelegt sind.

6. Quellen- und Literaturverzeichnis 6.1 Archivalische Quellen Archiv der Carl-Schirren-Gesellschaft, Lüneburg (ACSG) Bestand: Nachlass Max Hildebert Boehm AR 12/5 Archiv der evangelischen Akademie Bad Boll (ABBM) Bestand Az. 2H: Direktion Müller, Korrespondenz mit Mitgliedern des Leiterkreises 513 Archiv der sozialen Demokratie, Bonn (AdSD) Bestand 1/HAAA: Nachlass Heinrich Albertz 000 141, 000 187, 000 151 Bundesarchiv Koblenz (BArch) Bestand B 106: Bundesinnenministerium 0027234, 055777, 055778 Bestand B 126: Bundesfinanzministerium 1911, 2332, 51552, 5680 Bd. 1–2, 5681 Bd. 1–2, 5682 Bd. 1–2, 5683 Bd. 1–3, 51552 Bestand B 150: Bundesvertriebenenministerium 419, 000777, 000778, 1150 Bd. 2, 2329, 2331, 2334 Bd. 1–2, 3293, 3711, 004342, 004343, 004344, 004345, 004346, 004347, 004348, 004349, 004350, 004351, 004352 Bd. 1–2, 004353, 027416, 027417, 027418, 027419, 027420, 027421, 027422, 027423, 027424, 055777, 055778, 055779, 055780, 05581, 055782, 05783 Bestand B 234: Bund der Vertriebenen 1151, 1388, 1429 Bestand NL 1077: Nachlass Max Hildebert Boehm 2, 3, 4, 5, 7, 8, 9 Archiv des Diakonischen Werkes, Berlin (ADW) Bestand CAO: Centralausschuss, Geschäftsstelle Berlin 71 Bestand CAW: Centralausschuss, Geschäftsstelle Bethel 196, 231, 232, 681, 682 Bestand JK: Nachlass Johannes Kunze 55 Bestand ZB: Zentralbüro 847, 882, 886, 934, 946, 1023 Evangelisches Zentralarchiv Berlin (EZA) Bestand 2: Kirchenkanzlei der EKD 1500, 1501, 1502, 1503, 1505, 1507, 1508, 2139, 2140, 2141, 2423, 4250, 4251, 4256, 4281, 4293, 4297, 4298, 4681, 5812, 14004 Bestand 4: Kirchenkanzlei der EKD – Berliner Stelle 1236

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Bestand 17: Kirchlicher Hilfsausschuss für die Ostvertriebenen (Ostkirchenausschuss, OKA) 57, 296, 297, 302, 303, 305, 516, 517, 518, 519, 520, 559, 564, 565, 566, 570, 571, 572, 573, 574, 575, 576, 580, 584, 585, 623, 624, 625, 626, 627, 630, 631, 632, 634, 635, 635, 636, 637, 638, 639, 699, 700, 701, 704, 705, 706, 707, 710, 713, 714, 717, 720, 721, 722 Bestand 71: Deutscher Evangelischer Kirchentag (DEK) 1186, 1187, 1253, 1607, 1636, 1297, 2589, 3972 Bestand 87: Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland (Hermann Kunst) 48, 57, 126, 127, 130, 131, 132, 134, 135, 136, 137, 573, 574, 575, 1110 Bestand 512: Dokumentation „Evangelische Kirche und Vertriebene“ 65, 67, 149, 150, 151 Bestand 607: Nachlass Gerhard Gülzow 15, 22, 24, 59, 81, 121, 122, 125 Bestand 632: Nachlaß Carl Brummack 1, 2, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 11 Bestand 650: Nachlass Erwin Wilkens 67, 69, 80, 85 Bestand 656: Nachlass Eberhard Müller 456 Bestand 772: Nachlass Walter Schwarz 123 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Duisburg (LAV NRW) Bestand NW 94: Ministerium für Angelegenheiten des Bundes 1417, 1418, 1419 Bestand NW 200: Generalakten: Beschlüsse, Erlasse und Fördermaßnahmen für Heimatvertriebene 2 (Konferenz der Flüchtlingsminister der Länder), 234 (Kulturelle Förderung) Bestand RW 305: Nachlass Ludwig Landsberg 5, 7, 8, 9, 10, 11, 13 Landeskirchliches Archiv der rheinischen Landeskirche, Düsseldorf (LKA Düsseldorf) Bestand 1 OB: Sozialethischer Ausschuss der Evangelischen Kirche im Rheinland, Handakten Professor Friedrich Karrenberg 001 251, 001 168 Bestand 6 HA 006: Handakten Präses Heinrich Held 35, 37, 39, 40 Landeskirchliches Archiv der Hannoverschen Landeskirche, Hannover (LKA Hannover) Bestand E 46: Evangelische Akademie Hermannsburg 332 Bestand L 3/III: Kanzlei von Landesbischof Hanns Lilje 298, 302, 1099, 1120, 1268 Bestand N 14: Nachlass Friedrich Bartels 1, 6, 19, 25, 55, 81 Bestand N 57: Nachlass von Harald von Rautenfeld 1, 3, 6 Bestand N 76: Nachlass von Dr. Karl Wagenmann 55, 81

Veröffentlichte Quellen und Literatur

499

Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages, Berlin (BT PA) Bundestagsausschuss für den Lastenausgleich (17. BT-Ausschuss), 1. WP: 1951 [ohne Signatur] Bestand I 332 A 2 Genese des Gesetzes Bestand I 332 B Zusatzmaterial 1, 2, 7, 8, 9

6.2 Unveröffentlichte Literatur Brunner, Benedikt: Die Ordnung der Kirche. Eine Geschichte der Volkskirche im deutschen Protestantismus (1918–1991). Unveröffentlichte Dissertationsschrift. Münster 2016. H bner, Jörg: Evangelische Kirche und Sozialstaat. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Oktober 2014. Kalinna, Georg: Theologische Interpretationen des Politischen. Eine Relektüre der politischen Ethik des Protestantismus der frühen Bundesrepublik (1945–1968). Unveröffentlichte Dissertationsschrift. Göttingen 2017. Meyer-Magister, Hendrik: Individualisierung durch die Hintertür. Der protestantische Individualisierungsdiskurs in der bundesdeutschen Kriegsdienstverweigerungsdebatte der 1950er Jahre. Unveröffentlichte Dissertationsschrift. München 2017.

6.3 Veröffentlichte Quellen und Literatur 6 Jahre heimatvertrieben und doch Christ! Festschrift zum Tag der zerstreuten Heimatkirche in Lübeck 31. August bis 3. September 1951. Stuttgart 1951. Achinger, Hans/Hçffner, Joseph/Muthesius, Hans/Neundçrfer, Ludwig: Neuordnung der sozialen Leistungen. Denkschrift auf Anregung des Bundeskanzlers. Köln 1955. –, Studie: Materialien zur Ethik der sozialen Sicherung. In: ZEE 2 (1958), 65–72. Ackermann, Volker: Der „echte“ Flüchtling: Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR 1945–1961 (Studien zur Historischen Migrationsforschung 1). Osnabrück 1995. –, Integration – Begriff, Leitbilder, Probleme. In: Beer, Integration, 11–26. –, Integration. Begriff, Leitbilder, Probleme. In: Bade, Heimat, 14–36. Adamski, Jens: Ärzte des sozialen Lebens. Die Sozialforschungsstelle Dortmund 1946–1969 (Veröffentlichungen des Instituts für Soziale Bewegungen: Schriftenreihe A, Darstellungen 41). Essen 2009. –, Überlegungen zur industriellen Kulturraumforschung. Zu Wilhelm Brepohl: „Die Heimat als Beziehungsfeld – Entwurf einer soziologischen Theorie der Heimat“. In: Norman Braun/Julian Müller/Armin Nassehi/Irmhild Saake/Tobias Wolbring (Hg.): Begriffe – Positionen – Debatten. Eine Relektüre von 65 Jahren Soziale Welt (Soziale Welt Sonderband 21). Baden-Baden 2014, 11–17.

500

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Veröffentlichte Quellen und Literatur

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Veröffentlichte Quellen und Literatur

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Veröffentlichte Quellen und Literatur

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7. Abkürzungsverzeichnis BdV BvD CDU ChrWe DEK EKD ESL EvKo EvTh EvWe FAZ FDP FESt JK KZfSS LAG MdB MdL MdR NS NSDAP OKA

Bund der Vertriebenen Bund der vertriebenen Deutschen Christdemokratische Union Christ und Welt Deutscher Evangelischer Kirchentag Evangelische Kirche Deutschlands Evangelisches Soziallexikon Evangelische Kommentare Evangelische Theologie Evangelische Welt Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft Junge Kirche Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Lastenausgleichsgesetz Mitglied des deutschen Bundestags Mitglied des Landtags Mitglied des Reichstags Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Ostkirchenausschuss (Kirchlicher Hilfsausschuss für die Ostvertriebenen) OKK Ostkirchenkonvent (Konvent der zerstreuten Ostkirchen) OKR Oberkirchenrat OLKR Oberlandeskirchenrat ÖRK Ökumenischer Rat der Kirchen SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SS Schutzstaffel SZ Süddeutsche Zeitung VELKD Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands VOL Vereinigte Ostdeutsche Landsmannschaften ZEE Zeitschrift für evangelische Ethik ZvD Zentralverband der vertriebenen Deutschen

8. Personenregister/Biografische Angaben Achinger, Hans, Prof. Dr. rer. oec., Ökonom, Hochschullehrer 245, 254, 273, 280 geb. 5. 10. 1899 Elberfeld, gest. 6. 7. 1981 Frankfurt a. M. Studium der Nationalökonomie in Köln, Berlin und Frankfurt, 1923 Promotion an der Universität Frankfurt, 1925–1936 Geschäftsführer der Centrale für private Fürsorge bis zu deren Auflösung, 1937–1945 Industrie- und Handelskammer Frankfurt a. M., 1938 Habilitation an der Universität Frankfurt, 1946–1952 sozialpolitischer Redakteur der Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung, 1951 Mitglied im Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 1952 Ernennung zum ordentlichen Professor für Sozialpolitik an der Universität Frankfurt a. M., 1955 Mitarbeit an der Denkschrift „Neuordnung der Sozialen Leistungen“ im Auftrag von Bundeskanzler Konrad Adenauer, 1968 Emeritierung. Adenauer, Konrad, Politiker, dt. Bundeskanzler 26, 63, 72, 134, 165, 236, 248, 250, 262, 276, 286 f., 295, 297, 303, 306, 308, 312, 315 f., 324, 337, 341, 349, 354, 361, 451, 481 geb. 5. 1. 1876 Köln, gest. 19. 3. 1967 Röhndorf 1949–1963 dt. Bundeskanzler. Ahme, Karl, Pfarrer, Superintendent 60, 179, 230, 243 geb. 10. 8. 1893 Bielefeld, gest. 22. 10. 1979 Berlin 23. 7. 1922 Ordination, 1921 Landesjugendpfr. in Oldenburg, 1925 Pfr. Neuenbrok/ Oldenburg, 1927 Wilhelmstift Frankenhausen/Thüringen, 1929 Pfr. Teichel/Thüringen, 1938 Pfr. und Superintendent Zossen, seit 15. 6. 1952 Leiter der Ev. Flüchtlingsseelsorge Berlin-Zehlendorf, 1. 10. 1952 Provinzialpfr. für Flüchtlinge, Mitglied des Flüchtlingsbeirats der EKD. Kirchenrat, 1963 i. R. Albers, Willi, Prof. Dr. sc. pol. Dr. h. c., Ökonom, Hochschullehrer 101, 331, 435 geb. 15. 2. 1918 Haffkrug/Eutin, gest. 6. 12. 2000 Deutscher Wirtschaftswissenschaftler, Professur f. Volkswirtschaft an der Universität Kiel, Lehrbeauftragter der Universität Rostock, Mitgründer der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock, Vortragstätigkeit an der evangelischen Akademie Hermannsburg bzw. Loccum, 1983 Emeritierung. Albertz, Heinrich, Pfarrer, Staatsminister, Regierender Bürgermeister 18, 82, 88–90, 145, 254, 277, 307–309, 317, 340 f., 370, 454 geb. 22. 1. 1915 Breslau, gest. 18. 5. 1993 Bremen Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 19. Althaus, Paul, luth. Theologe, Hochschullehrer 117 geb. 4. 2. 1888 Obershagen/Celle, gest. 18. 5. 1966 Erlangen Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 20. Asmussen, Hans, Theologe, Präsident, kirchlicher Dozent, Propst 72–74, 207–209 geb. 21. 8. 1898 Flensburg, gest. 30. 12. 1968 Speyer Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 22 f. Bartels, Friedrich, Theologe, Pfarrer, OLKR, geistl. Vizepräsident 57, 63, 80, 100, 116, 140–142, 155, 191 f., 243, 275

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Personenregister/Biografische Angaben

geb. 28. 1. 1903 Nienburg, gest. 29. 6. 1973 Hemmingen-Westerfeld/Hannover 28. 10. 1928 Ordination, 1930–1936 Pfr. Neuhaus/Elbe, 1. 10. 1936 Landeskirchenrat Hannover, zugleich Schuldezernent, 19. 3. 1943 Oberlandeskirchenrat, 1. 9. 1965 geistlicher Vizepräsident des Landeskirchenamtes Hannover, 31. 3. 1969 i. R. Barth, Karl, Prof. Dr. theol., Theologe, Pfarrer, Hochschullehrer 47, 208, 348, 353 f., 374 f., 411, 454, 478 geb. 10. 5. 1886 Basel, gest. 10. 12. 1968 Basel Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 27. Beckmann, Joachim Lic. theol., Dr. phil., Theologe, Präses, kirchlicher Dozent und Hochschullehrer 227, 384 f., 418 geb. 18. 7. 1901 Wanne-Eickel, gest. 18. 1. 1987 Düsseldorf Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 31. Berg, Christian, Pfarrer, Leiter des Zentralbüros des Hilfswerks 208, 212, 248, 254 geb. 30. 3. 1908 Wesenberg/Mecklenburg, gest. 5. 5. 1990 Berlin 1933 Pfr. Boizenburg, 1934 Pfr. Basse/Mecklenburg, 1937 Haifa, 1939 Kirchheim/Teck, 1945 Mitarbeit im Zentralbüro des Hilfswerks der Ev. Kirche in Stuttgart, 1946 stellv. Generalsekretär, seit 1. 4. 1947 Generalsekretär des Hilfswerks der EKD, 1949–1961 Leiter des Zentralbüros Ost des Hilfswerks (seit 1953 Berliner Stelle), 1956–1957 kommissarischer Leiter des Zentralbüros, 1957–1961 Leiter der ökumenischen Abteilung der Hauptgeschäftsstelle der Inneren Mission und des Hilfswerks der EKD, Berater im Vorstand der Abteilung Zwischenkirchliche Hilfe im ÖRK, seit 1950 im Kuratorium der Goßner Mission, seit 1960 dessen Vorsitzender, 1962–1971 Missionsdirektor der Goßner-Mission. Besch, Günther, Pfarrer, Flüchtlingsbeauftragter der EKD 377, 422 f., 426, 439, 446, 452 geb. 17. 8. 1904 Altdöbern/Brandenburg, gest. 2. 9. 1999 Bremen 1. 10. 1928–30 9.1931 Studieninspektor Predigerseminar Stettin, 21. 4. 1929 Ordination Berlin, 1. 10. 1931–30. 6. 1937 Pfr. Stargard, bis 8. 2. 1936 Leiter der Bruderschaft junger Theologen in Pommern, 1. 7. 1937 bis Kriegsende Provinzialpfr. für Volksmission in Stettin, während des Krieges zugleich stellvertretender Wehrkreispfarrer, Mai 1945–30. 4. 1946 Pfr. Eckardtsheim, 1. 5. 1946–30. 8. 1974 Pfr. an Unserer-Lieben-Frauen-Kirche Bremen, 1953 Wahl in den Kirchenausschuß, 1959 Schriftführer des Kirchenausschusses, 1967–31. 12. 1978 Beauftragter für Umsiedler- und Vertriebenenfragen des Rates der EKD, 1. 1. 1974–31. 12. 1978 Präsident des Gustav-Adolf-Werkes. Binder, Paul, Dr., Ökonom, Finanzstaatssekretär 254 f. geb. 29. 7. 1902 Stuttgart, gest. 21. 3. 1981 Stuttgart Studium Rechtswissenschaften und Nationalökonomie in Rostock, Tübingen und Dijon, 1932 Promotion in Tübingen, 1937 stellv. Direktor bei der Dresdener Bank, Leitung der Zentralstelle „Arisierung jüdischen Vermögens“, 1941 selbstständiger Wirtschaftsprüfer, als solcher mit der Verwertung liquidierten Vermögens in den eroberten Ostgebieten befasst, ab 1945 Landesdirektor für Finanzen in WürttembergHohenzollern, 1946/47 Finanzstaatssekretär, 1946 Eintritt in die CDU, 1947 Entlassung durch die französische Besatzungsmacht, von Januar 1964 bis Februar 1968 Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik. Bismarck, Klaus von, Journalist 18, 65, 94, 139, 165, 169, 198, 200, 277 f., 353, 366, 431, 454 geb. 6. 3. 1912 Jarchlin/Pommern, gest. 22. 5. 1997 Hamburg

Personenregister/Biografische Angaben

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Landwirtschaftliche Ausbildung, 1939–1945 Kriegsdienst, zuletzt im Rang eines Oberstleutnants, nach 1945 Leiter des Jugendamtes Herford und Gründer des Jugendhofes Vlotho, 1949–1961 Leiter des Sozialamtes der Ev. Kirche von Westfalen Haus Villigst bei Schwerte, 1961–1976 Intendant des WDR, 1963/64 Vorsitzender der ARD, 1957–1964 Präsident der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt, seit 1970 Präsidialmitglied des DEK und der Synode der EKD, seit 1976 Präsident des Goethe-Instituts. Bismarck, Philipp von, Dr. jur., Jurist, Bundestagsabgeordneter 353, 387, 392, 394, 413 f., 429 f., 460 geb. 19. 8. 1913 Jarchlin/Pommern, gest. 20. 7. 2006 Obernholz 1950 Promotion, seit 1960 Vorstandsmitglied der Kali-Chemie AG Hannover, 1967–71 Präsident der Industrie- und Handelskammer Hannover, seit 1971 Vizepräsident, 1969 MdB, 1973 Vorsitzender der Niedersachsen-Gruppe in der CDU/CSU-Fraktion, seit 1970 Sprecher der pommerschen Landsmannschaft, Vorsitzender des Ständigen Rats der ostdeutschen Landesvertretung in der BRD. Boehm, Max Hildebert, Prof. Dr. phil., Soziologe, Ethnologe, Hochschullehrer, Publizist 57, 73, 90–95, 100, 102–104, 106, 110 f., 113–116, 119, 124–126, 174, 178, 186 f., 206–216, 220–222, 226 f., 231, 344, 381, 441, 466, 469–471, 473, 483 geb. 16. 3. 1891 Birkenruh/Livland, gest. 11. 11. 1968 Lüneburg Ende 1920 Leiter der „Arbeitsstelle für Nationalitätenprobleme“, 1925 geschäftsführender Vorsitzender im „Ausschuß für Minderheitenrecht”, Vorstandsmitglied im „Deutschen Schutzbund“, im „Verein für das Deutschtum im Ausland“ und in der „Baltischen Arbeitsgemeinschaft“, 1926–1945 Leiter des Instituts für Grenz- und Auslandstudien Berlin, 1928–1935 Dozent an der Dt. Hochschule für Politik, Oktober 1933 Lehrauftrag für Nationalitätenkunde und gleichzeitig Leitung des neu errichteten Seminars für Nationalitätenkunde an der Universität Berlin, dann o. Professor in Jena, ab 1945 Vorsitzender des „Notverbandes amtsverdrängter Hochschullehrer“, 1950 Mitglied im Johann-Georg-Herder-Forschungsrat, 1954 Leiter der Ostdeutschen Akademie. Bohnsack, Else, Dr., Soziologin 178 f., 216, 393 f., 396, 442, 471 Deutsche Soziologin, Vortragstätigkeit auf dem DEK 1965 in Köln, Sekretärin des Komitees Soziologie der Europäischen Forschungsgruppe für Flüchtlingsfragen. Brandt, Willy, Politiker, dt. Bundeskanzler 16, 55, 410, 444, 447 geb. 18. 12. 1913 Lübeck, gest. 8. 10. 1992 Unkeln 1969–1974 deutscher Bundeskanzler. Brepohl, Wilhelm, Dr. phil., Soziologe, Ethnologe, Journalist, Hochschullehrer 97, 100, 109–111, 166–170, 178 f., 200–204, 219–222, 227, 231, 364, 367, 424, 466–468, 470–473, 485 geb. 22. 9. 1893 Gelsenkirchen, gest. 11. 8. 1975 Dortmund Studium der Fächer Neue Philologie und Völkerkunde, 1921 Promotion zum Dr. phil., 1933 Hauptschriftleiter der Gelsenkirchener Allgemeinen Zeitung, 1933 Mitglied in der NSDAP, 1935 Gründung und Geschäftsführer der Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet, 1939 Einziehung zur Wehrmacht, 1940 Soldat im 2. Weltkrieg, Mitglied der Propagandatruppe, 1943/44 Volkstumssachverständiger der Wehrmacht in Nordfrankreich, 1947 Einstufung als ,Mitläufer‘ im Entnazifizierungsverfahren, 1947 Abteilungsleiter der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund, 1948 Lehrbeauftragter der Universität Münster, 1949 Redakteur der Zeitschrift Soziale Welt,

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Personenregister/Biografische Angaben

1951 Leitung der Abteilung „Volkstumsarbeit“ der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster mit Sitz in Dortmund, 1957 Ernennung zum Honorarprofessor, 1960 Ende der Tätigkeit. Brummack, Carl, Pfarrer, Oberkonsistorialrat 57, 66, 179, 347, 351, 375 f., 389 f. geb. 1. 6. 1895 Bromberg, gest. 12. 5. 1971 Preetz/Schleswig-Holstein Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 45 f. Brunner, Emil, Lic. theol., Theologe, Hochschullehrer 117 geb. 23. 12. 1889 Winterthur, gest. 6. 4. 1966 Zürich Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 46. Brunner, Peter, Lic. theol., luth. Theologe, Hochschullehrer 130 geb. 25. 4. 1900 Arheilgen/Darmstadt, gest. 24. 5. 1981 Heidelberg Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 46. Brunotte, Heinz, luth. Theologe, Präsident 278, 294, 300, 302, 317 f., 323 geb. 11. 6. 1896 Hannover, gest. 2. 2. 1984 Hannover Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 46 f. Collmer, Paul, Dr. rer. pol., Sozialwissenschaftler, Direktor 76, 208, 254, 293, 318, 320 f. geb. 2. 3. 1907 Bad Cannstatt, gest. 18. 4. 1979 Stuttgart Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 52 f. Danielsmeyer, Werner, Theologe, Vizepräsident 390 f., 397 geb. 14. 11. 1910 Rinkscheid/Westfalen, gest. 31. 10. 1985 Bielefeld 25. 7. 1937 Ordination, 1. 10. 1934–31. 3. 1935 Lehrvikar Dortmund, 1. 1. 1936 Hilfsprediger ebd., 9. 3. 1941 Pfr. Märten, 1. 4. 1957 Ephorus im Predigerseminar Soest, 12. 1. 1965 OKR in Bielefeld, 1. 1. 1973 theol. Vizepräsident des Landeskirchenamts Bielefeld, 31. 12. 1977 i. R. Dibelius, Otto, Lic. Theol., Pfarrer, Bischof, Vorsitzender des Rats der EKD 61, 75, 146, 191, 246, 264, 275, 277, 281, 286–288, 291, 298 f., 301, 317 f., 320, 322, 353, 378, 425 geb. 15. 5. 1880 Berlin, gest. 31. 1. 1967 Berlin Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 58 f. Dietze, Constantin von, Dr. rer. pol. Dr. agr. h. c. D., Jurist, Volkswirtschaftler, Hochschullehrer 139, 245, 278, 385, 418 geb. 9. 8. 1891 Gottesgnaden/Schwarz, gest. 18. 3. 1973 Freiburg i. Br. Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 60 f. Doehring, Johannes, Pfarrer, Abgeordneter, Leiter, Präsident 188 f. geb. 16. 9. 1908 Tiefensee, gest. 15. 8. 1997 Hennern 1930–1933 Abgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei im Reichstag, bis 1933 Oberhofprediger an der Potsdamer Garnisonkirche, 1933–1937 Standortpfr. an der Potsdamer Garnisonkirche, im Zweiten Weltkrieg Divisionspfr. der 23. Infanteriedivision, 1946–1961 Leiter der Evangelischen Akademie Hermannsburg/Loccum, 1961–1973 erster Beauftragter der Evangelischen Kirchen im Rheinland, von Westfalen und Lippe bei Landtag und Landesregierung in NRW und Leiter des „Düsseldorfer Büros“, 1964 Präsident der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt in Bonn, 1968 Mitglied im Aufsichtsrat der Gelsenkirchener Bergwerks-AG, 1971 Erhalt des Bundesverdienstkreuzes. Donath, Martin, Ökonom, Referent 18, 101, 179, 272–274, 276–281, 285, 302, 331–333 geb. 3. 1. 1904 Dessau, gest. 1966 (Autounfall) Studium der Rechts- und Staatswissenschaften, Geographie, Geschichte an der Uni-

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versität Tübingen, 1928 Staatsexamen als Diplomvolkswirt, 1945 Junkers-Flugzeugwerke in Dessau, 1948–1952 Evangelische Akademie Bad Boll, 1. 8. 1952 Wechsel zur Evangelischen Kirche im Rheinland, Sozialreferent beim Sozialethischen Ausschuss der EKiR, 1. 10. 1956 Sozialreferent der Evangelischen Landeskirche Baden, 1962 Präsident der Ev. Aktionsgemeinschaft für Familienfragen, 1960–1963 Vorsitz im Vorstand der Verbraucherverbände, 1966 Dozent am Diakoniewissenschaftlichen Institut der Universität Heidelberg. Ehlers, Hermann, Dr. jur., Jurist, Richter, Bundestagsabgeordneter, Bundestagspräsident 296, 325, 340, 362 geb. 1. 1. 1904 Berlin, gest. 29. 10. 1954 Oldenburg Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 67 f. Evertz, Alexander, Pfarrer, Vorsitzender der „Notgemeinschaft ev. Deutscher“ 412, 425, 447 geb. 13. 11. 1906 Solingen, gest. 7. 6. 2001 Dortmund Pfr. Zeulenroda/Thüringen, 1941–1945 Wehrdienst, 1955 Pfr. Dortmund, 1966 Gründer und Vorsitzender der „Notgemeinschaft ev. Deutscher“. Fauser, Manfred, Dr., Ökonom, Ministerialbeamter 254, 275 f., 300, 322 f. geb. 1906, gest. 1981 1937–1945 Ministerialbeamter im Innenministerium, 1947–1948 Beschäftigung im Evangelischen Hilfswerk, Teilnahme an Tagungen des Hilfswerks zum Lastenausgleich, 1948 Mitglied der Arbeitsgruppe Lastenausgleich der Verwaltung für Finanzen des Vereinigten Wirtschaftsgebiets, 1949–1971 Mitarbeiter im Bundesfinanzministerium, 1950–1954 Beschäftigung in der Sondergruppe Lastenausgleich und Leiter des Referats B 1 (u. a. Leistungen der Soforthilfe, Lastenausgleichsgesetz, 1960–1971 Leiter der Unterabteilung VI A (Liquidation des Krieges, einschließlich Wiedergutmachung). Francis, Emerich, Prof. Dr., Soziologe, Hochschullehrer 163, 233, 440 geb. 27. 6. 1906 Gablonz, gest. 14. 11. 1994 München Studium der Fächer Germanistik, Philosophie, Pädagogik, Psychologie, Volkskunde und Geschichte in Prag und Osnabrück, Mitglied im deutschnationalen Hochschulbund Staffelstein, 1933 Assistent am Deutschen Institut für Auslandkunde in Münster, 1939 Flucht über Österreich und Großbritannien in die USA, 1947 Assistenzprofessur an der University of Notre Dame, 1954 o. Professor f. Soziologie, 1958 Professor an der LMU München, 1974 emeritiert. Freyer, Hans, Prof. Dr. phil. Dr. rer. pol. h.c., Soziologe, Hochschullehrer 90 f., 97 f., 237 geb. 31. 7. 1887 Leipzig, gest. 18. 1. 1969 Wiesbaden 1920 Privatdozent Universität Leipzig, 1922 o. Professor für Philosophie und Soziologie Kiel, 1925–1948 Leipzig, 1938–1944 Gastprofessur Universität Budapest, 1954–1955 Ankara, 1955 Münster. Fried, Ferdinand (Pseudonym für Zimmermann, Ferdinand Friedrich), Ökonom, Journalist, Publizist 63, 243 geb. 14. 8. 1898 Bad Freienwald, 11. 7. 1967 1919–1923 Studium der Nationalökonomie und Philosophie in Berlin, anschließend bis 1932 Wirtschaftsredakteur bei der Berliner Morgenpost, als solcher Verfechter einer Autarkiepolitik, ab 1929 auch Verfasser von Wirtschaftsanalysen für die Zeitschrift „Die Tat“, 1934 SS-Obersturmbannführer im Rasse- und Siedlungshauptamt SS,

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1948–1953 Wirtschaftsredakteur für die von Landesbischof Hanns Lilje herausgegebene Zeitschrift „Sonntagsblatt“, anschließend Wirtschaftsredakteur für „Die Welt.“ Frings, Joseph, Dr. theol., Priester, Erzbischof, Kardinal 276 geb. 6. 2. 1887 Neuss, gest. 17. 12. 1978 Köln. 1910 Weihe zum Priester, 1916 Promotion, 1942–1969 Erzbischof von Köln, 1946 Kardinal. Gablentz, Otto Heinrich von der, Dr. rer. pol., 61, 243, 246, 334 f. geb. 11. 9. 1898 Berlin, gest. 27. 4. 1972 Berlin Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 83. Gehlen, Arnold, Prof. Dr. phil., Ökonom, Hochschullehrer 90, 158 geb. 29. 1. 1904 Leipzig, gest. 30. 1. 1976 Hamburg 1924–1927 Studium der Philosophie, Philologie, Germanistik und Kunstgeschichte, 1930 Habilitation, 1930–1934 Privatdozent in Leipzig, 1933 Eintritt in die NSDAP, 1934 Lehrstuhlinhaber für Philosophie in Leipzig, 1938 Königsberg, 1940 Wien, 1941 Kriegsdienst, 1947–1961 Professor an der deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 1969 Emeritierung. Gehlen zählt zu den profiliertesten Kritikern der Frankfurter Schule. Gehlhoff, Gerhard, Dr. phil., Pfarrer, Landesflüchtlingspfarrer 69, 104 f., 276, 346 geb. 14. 9. 1896 Berlin, gest. 4. 8. 1954 Hornheide/Münster Berlin, 1920–1929 Schuldienst Berlin, 1. 2. 1929–30. 4. 1934 Pfr. Schlalach/Mark, 1934–1945 Lupow Kreis Stolp, 1939–1945 Wehrdienst, 2. 8. 1945–30. 4. 1946 Lazarettpfr. Blankenese, 1. 5. 1946–31. 9. 1950 Direktor des ev. Mädchen-Gymnasiums Lippstadt, seit 1. 10. 1950 Landesflüchtlingspfr. mit dem Sitz in Handorf/Münster, 1946 Mitglied des OKA. Gerstenmaier, Eugen, Lic. Dr. theol. D., Theologe, Bundestagsabgeordneter, Bundestagspräsident 61, 71, 73–75, 101, 145–147, 151, 242, 247–251, 254 f., 259, 270, 277, 284, 315 f., 323, 325, 341, 371, 373, 411, 415, 426, 432, 460, 482 geb. 25. 8. 1906 Kirchheim/Teck, gest. 13. 3. 1986 Oberwinter/Rhein Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 87. Giersch, Herbert, Prof. Dr. rer. pol., Ökonom, Hochschullehrer 200, 227, 256, 260 f., 271 f. geb. 11. 5. 1921 Reichenbach/Schlesien, gest. 22. 7. 2010 Saarbrücken 1939–1942 Studium in Breslau und Kiel, 1942 Diplom-Volkswirt, 1948 Promotion zum Dr. rer. pol. in Münster, 1948–1950 Fellow an der London School of Economics, 1950 Habilitation, 1950–1951 sowie 1953–1954 bei der OEEC in Paris, 1951–1953 Privatdozent in Münster, 1954–1955 Lehrstuhlvertreter an der TH Braunschweig, 1955–1969 Professor an der Universität des Saarlandes, 1960–2007 Mitglied im wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium, 1962, 1977 und 1978 Gastprofessor an der Yale University, 1964–1970 Gründungsmitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 1969–1989 Präsident des Instituts für Weltwirtschaft und Professor an der Universität Kiel, 1977 Großes Bundesverdienstkreuz, 1983 Ludwig-Erhard-Preis, 1994 Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband. Giesen, Heinrich, Pfarrer, Generalsekretär des DEK 391, 451 geb. 10. 09. 1910 Wuppertal, 12. 10. 1972 gest. Hattingen/Ruhr 1936 Erste Theologische Prüfung in Wuppertal-Barmen, 1938–1940 Studentenpfr. der Bekennenden Kirche in Bonn, 1940–1945 Militärdienst, 1945–1949 Studentenpfr.

Personenregister/Biografische Angaben

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Bonn, Aachen und Köln, 1948 Aufbau der ev. Studentengemeinde in Köln Lindenthal, 1949–1961 theologischer Generalsekretär des Deutschen Evangelischen Kirchentags (zusammen mit Hans Hermann Walz), 1961–1972 Leitung der Berliner Stadtmission und Beauftragter für Mission in Berlin. Girgensohn, Herbert, D. Dr. theol., Theologe, Pfarrer, Vorsitzender des OKA 64–70, 72, 74 f., 77 f., 81, 97 f., 105 f., 117 f., 129, 135 f., 148 f., 169, 179, 201, 207 f., 217, 243 f., 257, 274 f., 277, 330, 344 f., 347, 352, 356 f., 362, 364–371, 373, 375–377, 386, 408, 473, 483 f. geb. 27. 9. 1887 Wolmar, gest. 11. 9. 1963 Glücksburg/Holstein Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 87. Goebbels, Joseph, Politiker, Propagandaminister 14 geb. 29. 10. 1897 Rheydt, gest. 1. 5. 1945 Berlin (Selbstmord) Reichspropagandaminister 1930–1945. Gollwitzer, Helmut, Prof. Dr. theol., Theologe, Hochschullehrer 274, 277 f., 347 f. geb. 29. 12. 1908 Pappenheim/Bayern, gest. 17. 10. 1993 Berlin Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 90. Gradl, Baptist, Politiker, Bundestagsabgeordneter, Bundesvertriebenenminister 410, 428, 431, 439, 454, 461 geb. 25. 3. 1904 Berlin, gest. 2. 7. 1988 Berlin 1926–1931 Redakteur Germania Berlin, dann Mitglied der Geschäftsführung des Dt. Sparkassen- und Giroverbandes, ab 1938 Geschäftsführer der Reichsgruppe Banken, nach Kriegsende Treuhänder, 1947–1948 Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Ostzonen-CDU, seit 1948 Exil-CDU, 1948–1965 Verleger Berliner Tageszeitung „Der Tag“ und „Der Kurier“, 1953–1971 Mitglied des Bundesvorstands der CDU, 1957–1980 Vertreter Berlins im Dt. Bundestag, 1963 Mitglied des Fraktionsvorstandes, 1965–1966 Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsbeschädigte, 1969–1972 Vorsitzender des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen, Präsidialmitglied des Kuratoriums Unteilbares Deutschland. Greifelt, Ulrich Heinrich Richard, SS-Offizier 92 geb. 8. 12. 1896 Berlin, 6. 2. 1949 Landsberg 1933 Eintritt in die NSDAP und SS, Referent im Stab von Heinrich Himmler, 1935 Leitung der Zentralkanzlei des SS-Hauptamtes, 1939 Leiter der Dienststelle „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“, 1944 SS-Obergruppenführer und General der Polizei. G lzow, Gerhard, Oberkonsistorialrat, Theologe, Pfarrer, Leiter des OKA 57, 68 f., 76, 179, 330 f., 345, 347 f., 351 f., 357, 371, 373–376, 386–393, 415, 422–425, 427 f., 452 geb. 28. 10. 1904 Liepgarten/Ückermünde/Pommern, gest. 8. 12. 1980 Lübeck Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 94. Gundert, Wilhelm, Pfarrer, OKR 134, 386, 426 geb. 11. 3. 1915 Stuttgart, gest. 18. 2. 2005 Hannover 27. 3. 1938–31. 10. 1938 Vikar in Württemberg, 1. 11. 1938–31. 3. 1950 nichtberufsmäßiger Wehrdienst, Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft und Heilbehandlung, Pfarrverweser und Pfr. in Württemberg, 1. 4. 1950–30. 9. 1956 EOK Stuttgart, 1. 10. 1956–31. 3. 1980 Kirchenbeamter der EKD, 1. 10. 1963–31. 3. 1980 Oberkirchenrat, Leiter der Abteilung Verkündigung und Werke, Innerdeutsche Ökumene in der Kirchenkanzlei.

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Personenregister/Biografische Angaben

Hamm, Franz, Redakteur, Landeskirchenpräsident 57, 107, 179, 254, 296, 323 f., 352 geb. 18. 3. 1900 Neuwerbass/Batschka/Jugoslawien, gest. 5. 8. 1988 Bad Bodendorf. Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 97. Harms, Klaus, Pfarrer, Superintendent 376, 388–390, 392 geb. 20. 2. 1906 Maldewin/Pommern, gest. 6. 5. 1972 Detmold 18. 10. 1931 Ordination Neustettin, 1. 10. 1931–31. 3. 1932 Hilfsprediger Kirchenkreis Neustettin, 1. 4. 1932–30. 4. 1932 Kreuz/Barth, 1. 5. 1932–31. 10. 1932 Augustwalde/ Stettin, 1. 11. 1931–1945 Pfr. Gülzow, 1. 5. 1946–31. 3. 1947 Flüchtlingspfr. Rotenburg/ Hannover, 1. 4. 1947–30. 9. 1971 Pfr. der ev.-reformierten Kirchengemeinde DetmoldWest, 1962–1967 Superintendent der Klasse Detmold, Mitglied der Bekennenden Kirche, Vorsitzender des Hilfskomitees der ev. Deutschen aus Pommern, Mitglied des OKA und der Synode der Ev. Kirche der Union, 1961–1969 Vorsitzender des Verbandes Ev. Pfarrervereine in Deutschland, Beauftragter der lippischen Landeskirche für die Dokumentation „Ev. Kirche und Vertriebene“. Harmsen, Hans, Dr. med., Mediziner, Arzt, Hochschullehrer, Vorsitzender 179, 195–197, 200, 224 geb. 1899 Berlin, gest. 1989 Bendestorf bei Hamburg 1913–1916 Mitglied im Wandervogel, 1916–1919 Kriegsfreiwilliger, 1919–1923 Medizinstudium an den Universitäten Berlin, München, Wien und Breslau, 1924 Approbation und medizinische Promotion an der Universität Berlin, 1923–1927 Studium der Sozialmedizin, Volkswirtschaftslehre und Staatsrecht in Berlin und Marburg, 1927–1937 Leitender Arzt des Gesundheitswesens der Inneren Mission, 1939 Habilitation an der Universität Berlin mit dem Thema „Möglichkeiten und Grenzen der Eugenik“, 1942 Dozentur an der Berliner Universität , 1942–1945 Kriegseinsatz in Nordafrika und auf dem Balkan als beratender Hygieniker, Dezember 1945 Aufbau der Akademie für Staatsmedizin in Hamburg mit den Schwerpunkten Bevölkerungspolitik und Gesundheitspolitik, 1946 Professor für allgemeine Hygiene und Sozialhygiene an der Universität Hamburg, 1946–1969 Direktor des Hygienischen Instituts in Hamburg, 1948–1957 Leitung Studienkreis Geburtenregelung und Eugenik der Evangelischen Akademie Hamburg, 1952 Mitbegründer und Präsident von Pro Familia, 1953 Präsident bzw. Vorsitzender der Deutschen Akademie für Bevölkerungswissenschaft Hamburg, 1964 Leitung der Deutschen Zentrale für Volkstumspflege, 1984 Niederlegung des Amtes als Ehrenpräsident von Pro Familia nach Kritik an seiner eugenischen Position während des NS. Harnack, Adolf von, Theologe, Hochschullehrer 206 f., 247 geb. 7. 5. 1851 Dorpat, gest. 10. 6. 1930 Heidelberg Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 99 f. Hartmann, Alfred, Jurist, Verwaltungsdirektor, Staatssekretär 254, 287 f., 298 geb. 12. 9. 1894 Duisburg, gest. 27. 8. 1967 Bad Godesberg 1913–1917 Studium der Rechts- und Staatswissenschaften, 1923–1935 Oberregierungsrat im Reichsfinanzministerium, 1935 versetzt ins Finanzamt Berlin-Friedrichshain, 1944 Kriegsdienst, 1945 Haushaltsreferent im bayerischen Finanzministerium, 1947 Direktor der Verwaltung für Finanzen beim Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, 1949 beamteter Staatssekretär im Bundesfinanzministerium. Hartz, Franz, Dr. theol., Priester, Päpstl. Beauftragter 275 f. geb. 15. 6. 1882 Hüls, gest. 15 2.1953 Hüls

Personenregister/Biografische Angaben

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Studium der kath. Theologie in Münster, 1908 Weihe zum Priester, 1914 Promotion, 1924 Pfarradministrator, 1928 Pfr. Berlin, 1930 Domkapitular an der St.-HedwigsKathedrale, 1945 Flucht nach Fulda, 1949 Päpstlicher Beauftragter für die Seelsorge an den Heimatvertriebenen und Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für die Angelegenheiten der Heimatvertriebenen. Heinemann, Gustav, Dr. rer. pol., Jurist, Synodalpräses, Bundespräsident 183 f., 195, 341, 386 geb. 23. 7. 1899 Schwelm/Westfalen, gest. 7. 7. 1976 Essen Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 105. Heisenberg, Werner, Prof. Dr., Physiker, Hochschullehrer, Direktor 384 5. 12. 1901 Würzburg, 1. 2. 1976 München Studium der Physik, 1923 Promotion zum Dr. rer. nat., 1924 Assistent in Göttingen, 1924 Habilitation, 1927 Professor für Physik in Leipzig, 1932 Nobelpreis für Physik, 1942–1945 Professor in Berlin, 1946 Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik in Göttingen, 1958–1970 Direktor des Max-Planck-Instituts in München, Mitautor des Memorandums „Mehr Wahrheit in der Politik!“. Heyde, Ludwig, Dr. sc. pol., Soziologe, Generalsekretär, Hochschullehrer 247, 277 f. geb. 18. 02. 1888 Blasewitz bei Dresden, gest. 23. 2. 1961 Köln Studium der Rechts- und Staatswissenschaften sowie der Sozialwissenschaften an den Universitäten Freiburg, Berlin und München, 1910 Promotion in Tübingen, 1910 Mitarbeit im Berliner Büro für Sozialpolitik, 1919–1931 Generalsekretär der Gesellschaft für soziale Reform, 1920–1924 ao. Professor Rostock, 1922 Berufung durch die Reichsregierung als Nachfolger von Walter Rathenau in den Vorläufigen Reichswirtschaftsrat, 1931 o. Professor in Kiel, 1948 Honorarprofessor für Sozialpolitik an die Universität Köln, 1955–1961 Präsident des Bundesverbandes deutscher Volks- und Betriebswirte, 1958 Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes. Himmler, Heinrich, Reichskommissar und Reichsinnenminister, Oberbefehlshaber 205 geb. 7. 10. 1900 München, gest. 23. 5. 1945 Lüneburg (Selbstmord) 1929 Reichsführer SS, 1932 Sicherheitschef der Parteizentrale der NSDAP München, 1933 Polizeizentrale, 1936 Chef der deutschen Polizei, 1939–1942 Chef des Reichssicherheitshauptamtes, 1939 Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums, 1943 Reichsinnenminister, 1944 Oberbefehlshaber des Ersatzheeres und Chef der Heeresausrüstung. Hçpker, Wolfgang, Ökonom, Journalist, Korrespondent 209, 211–213 geb. 8. 2. 1909 Bromberg/Posen, gest. 6. 3. 1989 Bonn Schulzeit in Erfurt, 1928 Abitur, danach Studium der Nationalökonomie, Soziologie und politischen Geographie, 1934 Promotion an der Universität Jena, 1934–1945 politischer Redakteur der Münchner Neuesten Nachrichten (unterbrochen durch Kriegsdienst), 1946–1947 Herausgeber des Union-Pressedienstes in Hamburg, 1948 zusammen mit Gerstenmaier, Eugen Mitbegründer von Christ und Welt, anschließend dort tätig, 1958 Beginn einer Tätigkeit als Korrespondent für Christ und Welt in Bonn (gesamte Redaktion kommt 1974 nach), 1988 Konrad-Adenauer-Preis für Publizistik. Hoppe, Richard, Pfarrer 413, 425 geb. 28. 4. 1894 Schlawa/Schlesien, Todesdatum unbekannt 27. 2. 1923 Ordination, 1925 Pfr. Wiltschau, 1930 Wohlau, 1949 Marktleuthen/Bayern,

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Personenregister/Biografische Angaben

1955 i. R., zeitweilig Verweser in Auerbach über Ansbach; bayrischer Sprecher der Gemeinschaft ev. Schlesier. Ipsen, Gunther, Soziologe, Hochschullehrer 184, 198, 206 geb. 20. 3. 1899 in Innsbruck, gest. 29. 1. 1984 Oberusel Promotion 1922, Habilitation 1925, 1926 Privatdozent für Soziologie in Leipzig, 1933 Ordinarius für Soziologie in Königsberg, 1937 Eintritt in die NSDAP, 1939–1945 Kriegsdienst, 1951 Abteilungsleiter der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster mit Sitz in Dortmund. Iwand, Hans Joachim, Prof. Dr. theol., Theologe, Hochschullehrer 47, 83 f., 97, 105, 108 f., 118, 145, 168, 232, 261 f., 277 f., 341–343, 347 f., 350–352, 358, 364, 370, 375 f., 473, 490 geb. 11. 6. 1899 Schreibendorf/Schlesien, gest. 2. 5. 1960 Bonn Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 122. Jaksch, Wenzel, Bauarbeiter, Abgeordneter, Ministerialdirektor, Präsident des BdV 414, 426, 428, 459 f. geb. 25. 9. 1896 Langstrobnitz/Sudetenland, gest. 27. 11. 1966 Wiesbaden-Schierstein Bauarbeiter Wien, nach 1918 organisatorische und journalistische Tätigkeit in der sudetendeutschen Arbeiterbewegung, 1929–1938 Abgeordneter des Prager Parlaments, 1938 Vorsitzender der SPD Sudetenland, 1939 Emigration nach England, 1950–1953 Leiter des Landesamtes für vertriebene Flüchtlinge und Evakuierte und Ministerialdirektor im hessischen Innenministerium, seit 1953 MdB (SPD), 1. 3. 1964 Präsident des BdV. Karrenberg, Friedrich, Dr. rer. pol., Ökonom, Unternehmer, Vorsitzender, Hochschullehrer 18, 108, 188 f., 200, 227, 247, 254, 260–262, 271–274, 276 f., 280, 286, 302, 418, 451 geb. 16. 4. 1904 Velbert, gest. 28. 11. 1966 Berlin 1920–1925 Kaufmännische Tätigkeit, 1925 Studium der Volkswirtschaft und der Soziologie an der Universität Frankfurt a. M., 1931 Promotion, 1931–1945 Leitung des väterlichen Betriebes in Velbert bis zu dessen Tode, 1946 Vorsitzender des Sozialethischen Ausschusses der Evangelischen Kirche im Rheinland, 1949 Mitglied der Sozialkammer der EKD, 1954 Redaktion und Verantwortung für das Evangelische Soziallexikon, 1961 stellvertretender Vorsitzender der Sozialkammer, 1961 Honorarprofessor mit Lehrauftrag für Sozialethik an der Universität Köln, 1965 Gründung des Forschungsinstituts für Gesellschaftspolitik und beratende Sozialwissenschaft e.V. Kather, Linus, Dr. jur., Jurist, Bundestagsabgeordneter, Vorsitzender des ZvD und BvD/ BdV 87, 259, 287, 291, 306–308, 310 f., 413 geb. 22. 9. 1893 Prossitten, gest. 10. 3. 1983 Stühlingen 1918 1. jurist. Staatsprüfung, 1919 Promotion und 2. jurist. Staatsprüfung, 1921 Rechtsanwalt, 1921–1933 Mitglied der Zentrums-Partei, 1930–1933 Stadtverordneter in Königsberg, mit Machtübernahme des NS Niederlegung des Mandats, Verteidiger von NS-Gegnern und sämtlichen französischen Kriegsgefangenen in Ostpreußen, 1941–1942 Gestapo-Haft, 1945 Mitbegründer der CDU in Hamburg, 1949–1957 MdB (CDU), seit Mitte 1954 GB/BHE, 1949–1959 Bundesvorsitzender des ZvD bzw. seit 1951 des BvD bzw. seit 1957 des BdV. Keudell, Walter von, Landrat, Reichsinnenminister, Vorsitzender 18 geb. 17. 7. 1884 Castellamare di Stabia/Italien, gest. 7. 5. 1973 Bonn 1916–1920 Landrat Königsberg/Neumark, Mitglied des Kreisausschusses und des Kreistages, Königsberg und des Brandenburger Provinziallandtages, 1924 MdR

Personenregister/Biografische Angaben

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(DNVP), 1927–1928 Reichsinnenminister, 1929 Mitglied der Landvolkpartei, Mitglied des Christlich-Sozialen Volksdienstes, Vorsitz, später Austritt, 1933 Generalforstmeister Preußens und des Reichs, 1936 Staatssekretär, 1937 Berufung in den Reichsverkehrsrat, 1937 i. R., nach 1941 Landrat Königsberg, 1945 Aufbau von Organisationen der Selbsthilfe- und Fürsorgeeinrichtungen für die Vertriebenen, 1948 Eintritt in die CDU, Mitglied des Kreisparteivorstandes Lüneburg, Vorsitzender der Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg, der Vereinigten Landsmannschaften Mitteldeutschlands, 1954 Vorsitzender des Bundesvertriebenenausschusses der CDU. Kost, Heinrich, Generaldirektor 319 geb. 11. 6. 1890 Betzdorf, gest. 3. 7. 1978 Kapellen 1947 Generaldirektor der Deutschen Kohlenbergbau-Leitung, 1953 Aufsichtsratsvorsitzender der Rheinpreußen AG für Bergbau und Chemie, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Bergbau. Krimm, Herbert, Dr. theol., Theologe, Hauptgeschäftsführer, Hochschullehrer 73, 208, 211, 242 geb. 6. 11. 1905 Przemysl/Galizien, gest. 22. 1. 2002 Karlsruhe Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 145. Kr ger, Hans, Jurist, Präsident des BdV, Bundesvertriebenenminister 356, 375 geb. 6. 7. 1902, 3. 11. 1971 Bonn 1927 erstes, 1931 2. Juristisches Staatsexamen, anschließend Richter in Pommern, 1943–1945 Offizier der Wehrmacht, 1948 Geschäftsführer des Bundes der Vertriebenen in Olpe/Westfalen, 1957–1965 MdB, 1958–1964 Präsident des BdV, 1963–1964 Bundesvertriebenenminister. Kruska, Harald, Theologe, kirchlicher Hochschullehrer 100, 111, 116, 179, 358, 376 geb. 23. 10. 1908 Thorn, gest. 17. 9. 1999 Berlin Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 147. K hne, Walter, Präsident des Bundesausgleichsamtes 276, 301, 320 geb. 1923, gest. 1968 1923–1938 Reichsfinanzministerium, 1938–1945 Oberfinanzpräsident in Köln, 1948–1952 Verwaltung für Finanzen des Vereinigten Wirtschaftsgebiets/BMF, dort Sondergruppe Lastenausgleich, 1952–1957 Präsident des Bundesausgleichsamtes. K nneth, Walter, Theologe, Hochschullehrer 357, 359, 478 geb. 1. 1. 1901 Hersbruck, gest. 26. 10. 1997 Erlangen Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 148. Kunst, Hermann, Dr. theol., Theologe, Bevollmächtigter der EKD bei der Bundesregierung 57, 276, 289 f., 292 f., 296, 301, 319, 324 f., 387, 400, 445, 455 geb. 21. 1. 1907 Ottersberg, gest. 6. 11. 1999 Bonn. Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 149. Kunze, Johannes, Diplomvolkswirt, Abgeordneter 243–245, 251 f., 259, 273 f., 276 f., 281 f., 284, 286–291, 296–314, 320, 323, 326 f., 329 f., 335, 482, 489, 493 geb. 6. 6. 1892 Wuppertal-Barmen, gest. 10. 10. 1959 Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 149. Landsberg, Ludwig, Jurist, Referent, Ministerialdirigent, Vorstandsmitglied 57, 84 f., 98 f., 122, 125 f., 136, 155, 169, 241, 295, 333 f., 343 f., 360 f., 365 f., 370 f., 376, 378–380, 388, 391–400, 402–406, 413, 422, 426, 435, 438 f., 441, 453, 465, 474 f., 483, 486 f. geb. 25. 3. 1911 Berlin, gest. 25. 8. 1978 Ebenhausen/Unterfranken

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Personenregister/Biografische Angaben

1939–1945 Wehrdienst, 1947–1975 Referent (zuletzt Ministerialdirigent) für Vertriebenen- und Flüchtlingsfragen im Arbeits- und Sozialministerium Nordrhein-Westfalen, 1959 und 1965–1977 Mitglied der Leitung der Ev. Kirche im Rheinland, Vorstandsmitglied des Diakonischen Werkes im Rheinland und des Theodor-FliednerWerkes Mülheim/Seibeck, Mitautor der Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“. Lemberg, Eugen, Soziologe, Ethnologe, Hochschullehrer, Publizist 19, 43, 100, 109–111, 115, 163, 178 f., 203, 216 f., 293, 337, 343 f., 381, 435, 440, 468, 473, 483, 494 geb. 27. 12. 1903 Plzen (Pilsen), gest. 25. 12. 1976 Mainz Studium an der deutschen Universität Prag, Mitglied im deutschnationalen Hochschuldbund Staffelstein, 1927 Promotion, anschließend Schuldienst in Prag, 1930–1934 wissenschaftlicher Assistent der Universität Münster, dann Lehrer im höheren Schuldienst und an Lehrerbildungsanstalten, 1937 Habilitation, 1938 Direktor der Lehrerbildungsanstalt in Reichenberg (Liberec), danach Militärdienst, 1945 Lehreraus- und Fortbildung in Hessen, Ministerialrat im Kultusministerium Wiesbaden, 1957 Professor für Soziologie des Bildungswesens am Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main, 1956 Gründungsmitglied des Collegium Carolinum in München, 1959–1963 Präsident des Herder-Forschungsrates Lilje, Hanns, Dr. theol., Theologe, Pfarrer, Landesbischof 62, 79–82, 88, 139, 142 f., 186, 188 f., 191, 207, 242–244, 265, 269, 274 f., 281 f., 351, 363, 372 f., 390, 411, 415, 418, 424, 427 f., 432, 434, 460 f. geb. 20. 8. 1899 Hannover, gest. 6. 1. 1977 Hannover Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 157 f. Lukaschek, Hans, Bundestagsmitglied, Bundesvertriebenenminister 92, 103, 116, 191, 265, 268, 275, 279, 286 f., 291, 293 f., 306, 315–317, 329, 340, 494 geb. 22. 5. 1885 Breslau, gest. 26. 1. 1960 Freiburg/Breisgau 1914 Tätigkeit im Reichspatentamt Berlin, 1916 Bürgermeister, 1919 Landrat Rybrik/ Oberschlesien, später Abstimmungskommissar, 1922–1927 Mitglied der Gemischten Kommission für Oberschlesien, Kattowitz, 1927–1929 Oberbürgermeister Hindenburg, 1929–1933 Oberpräsident Oberschlesien, dann Rechtsanwalt in Breslau, 1944 Konzentrationslager Ravensbrück, 1945 Mitbegründer der CDU Berlin, bis 1946 Dritter Vizepräsident des Landes Thüringen, 1947 Amtsgerichtsrat Königstein, 1948 Vizepräsident des Dt. Obergerichts Köln, dann Präsident des Hauptamtes für Soforthilfe Bad Homburg, 1949–1953 Bundesvertriebenenminister. Mager, Reimer, Gewerkschaftsfunktionär, Präses 260–262, 272, 277 f., 282 geb. 22. 7. 1906 Köln, gest. 10. 10. 1966 Dresden Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 165. Manteuffel-Szoege, Georg, Bundestagsabgeordneter, Präsident des Hauptamtes für Soforthilfe 92, 301 f., 319 f., 322 f., 349, 353 geb. 7. 3. 1889 Montreux/Schweiz, gest. 8. 6. 1962 Bad Godesberg 1919–1920 Freiwilliger der Baltischen Landeswehr und Mitglied des Nationalausschusses, 1923–1939 Verwalter des mütterlichen Besitzes in Zabludow bei Bialystock, 1925–1939 Vorstandsmitglied der Baltischen Arbeitsgemeinschaft Berlin, 1935–1939 Lehrbeauftragter Universität Berlin, 1940–1942 Tätigkeit im Auswärtigen Amt, 1942–1945 Treuhänder, 1948–1949 Vorsitzender des Vertriebenenbeirats bei der Arbeitsgemeinschaft der Flüchtlingsverwaltung, 1950–1953 Präsident des Hauptamtes

Personenregister/Biografische Angaben

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für Soforthilfe, seitdem MdB (CDU), Vorsitzender der Dt.-Baltischen Landsmannschaft und des Verbandes der Landsmannschaften. Mehnert, Paul, Dr. jur., Jurist, Publizist 253 f., 257 geb. 10. 10. 1906 Moskau, gest. 2. 1. 1984 Freudenstadt Studium in Tübingen, München, Berkeley/Kalifornien, 1928 Promotion an der Universität Berlin, 1931–1934 Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas in Berlin, 1931–1934 Schriftleiter der Zeitschrift „Osteuropa“, 1934–1936 Korrespondent für deutsche Zeitungen in Moskau, 1936–1937 Tätigkeit als Gastprofessor in Berkeley/Kalifornien, 1937–1941 o. Professor für neuere Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Honolulu, 1941–1945 als Gesandter des Auswärtigen Amtes in Shanghai, 1946 Mitarbeit im Evangelischen Hilfswerk, 1948 Osteuropa-Referent am Deutschen Büro für Friedensfragen in Stuttgart, 1949 Chefredakteur der Zeitschrift „Christ und Welt“, ab 1950 außenpolitischer Kommentator des Süddeutschen Rundfunks und politischer Kommentator des ZDF. Meiser, Hans, D., Theologe, Landesbischof 131, 315–317 geb. 16. 2. 1881 Nürnberg, gest. 8. 6. 1956 München Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 169 f. Mende, Erich, Bundestagsabgeordneter, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen 410 geb. 28. 10. 1916 Groß-Strehlitz/Oberschlesien, gest. 6. 9. 1998 Bonn Berufsoffizier, ab 1946 Parteigeschäftsführer in Nordrhein-Westfalen, Verbandssyndikus, seit 1949 MdB (FDP), 1950–1953 Fraktionsgeschäftsführer, 1953–1957 stellvertretender Fraktionsvorsitzender, 1957–1963 Fraktionsvorsitzender, 1945–1970 Mitglied der FDP, dann CDU, 1960–1968 Bundesvorsitzender der FDP, 1963–1966 (Rücktritt) Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen und Stellvertreter des Bundeskanzlers. Menn, Wilhelm, Theologe, Sozialpfarrer 246 f. geb. 23. 8. 1888 Ferndorf, gest. 29. 2. 1956 Frankfurt a. M. Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 170. Meyer, Konrad, Prof. Dr., Agrarwissenschaftler, Hochschullehrer 181 f., 184 geb. 15. 5. 1901 Salzderhelden, gest. 25. 5. 1973 Salzderhelden 1921–1926 Studium und Promotion im Fach Landwirtschaft an der Universität Göttingen, 1932 Eintritt in die NSDAP, 1933 Eintritt in die SS, 1934 Lehrstuhl für Ackerund Pflanzenbau in Jena, noch im selben Jahr Professor für Ackerbau und Landbaupolitik an der Berliner Universität, 1935 Gründung der „Reichsarbeitsgemeinschaft der Raumforschung“, 1936 Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 1941 Leiter des Planungsamtes beim „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“, hier Chefplaner und Initiator des „Generalplan Ost“, 1945 interniert, 1948 angeklagt und wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilt, 1956–1968 o. Professor für Landesplanung und Raumordnung in Hannover. Middelmann, Werner, Referent, Ministerialbeamter 145, 254, 323 geb. 10. 10. 1909 Offenbach/Main, gest. 24. 8. 1985 1928–1932 Angestellter in der Elektro- und Chemischen Industrie, 1933–1945 Büroleiter, Prokurist und Geschäftsführer in der Elektroindustrie, 1945–1946 Landrat Kreis Bruchsal/Baden, 1946–1947 Landesflüchtlingskommissar Karlsruhe, 1947–1949 Referent beim süddeutschen Länderrat, Stuttgart und Generalsekretär der Arbeitsgemeinschaft der dt. Länderflüchtlingsverwaltung ebd., seitdem Abteilungsleiter Amt für

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Fragen der Heimatvertriebenen Frankfurt und im Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsbeschädigte, 1951 Ministerialdirigent, 1961–1965 Regionaldirektor des Kinderhilfswerks UNICEF für den Mittleren Osten in Beirut, seit 1966 UNICEF New York, 1951–1961 Dt. Delegierter beim Exekutivrat der Flüchtlingskommission der Vereinten Nationen Genf. Mçller, Hans, Jurist, Hochschullehrer 267 f. geb. 3. 3. 1907 Hamburg, gest. 9. 2. 1979 Hamburg 1939 ao., 1941 o. Professor für Bürgerliches, Handels- und Versicherungsrecht, Mitarbeiter der evangelischen Akademie Hamburg, Vorsitzender der Gesellschaft der Freunde der Akademie, Leiter des Studienkreises „Lastenausgleich“. M ller, Eberhard, Theologe, Pfarrer, Akademiedirektor 187, 189, 267, 278, 314, 418 geb. 22. 8. 1906 Stuttgart, gest. 11. 1. 1989 Heidelberg Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 178. M ller, Karl Valentin, Prof. Dr. phil., Ökonom, Soziologe, Hochschullehrer 156, 178 f. geb. 26. 3. 1896 Bodenbach, gest. 3. 8. 1963 Nürnberg 1919 Studium der Germanistik, Volks- und Wirtschaftswissenschaften in Leipzig, 1922 Promotion zum Dr. phil., anschließend Wanderlehrer, 1933 wegen seiner Zugehörigkeit zur SPD entlassen, aber kurz darauf Rückkehr in den Staatsdienst (Reichskulturministerium, Referent für Erwachsenenbildung), 1938 Habilitation in Leipzig, ab 1939 Professuren in Dresden, Prag, Mitglied in der Reinhard-Heydrich-Stiftung, währenddessen Zuarbeiten für den Sicherheitsdienst und Sonderbeauftragter für Rassefragen in den böhmischen Ländern. Müller arbeitete über den „deutschen Erbanteil in Tschechien“, forderte die „Umvolkung“ und „Einschmelzung der Tschechen“ ins „Deutschtum“ und vertrat eine nationalsozialistische Soziologie, die sich Erbbiologie und Rassetheorie zu eigen machte. Nach 1945 Aufbau eines Instituts für Begabtenforschung in Hannover, 1955 Ordinarius für Soziologie und Sozialanthropologie in Hannover. M ller-Armack, Alfred, Prof. Dr. rer. pol., Ökonom, Hochschullehrer 246, 278–285 geb. 28. 6. 1901 Essen, gest. 16. 3. 1978 Köln bis 1923 Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Promotion zum Dr. rer. pol, 1926 Habilitation an der Universität Köln, 1933 Eintritt in die NSDAP, 1934–1940 ao. Professor an der Universität Köln, ab 1938 Universität Münster, 1940–1950 o. Professor für Nationalökonomie und Kultursoziologie an der Universität Münster und Direktor des Forschungsinstituts für allgemeine und textile Marktwirtschaft, 1950 Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften und Leiter des Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität Köln, 1952 Leiter der Abteilung I (Wirtschaftspolitik) im Bundeswirtschaftsministerium, 1958 Berufung zum Staatssekretär für europäische Angelegenheiten im Bundeswirtschaftsministerium; Mitglied des Verwaltungsrates der Europäischen Investitionsbank, 1960 Vorsitzender des Konjunkturausschusses der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), 1962 Auszeichnung mit dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband, 1963 Austritt aus dem Bundesdienst, 1964 Stadtverordneter der CDU in Köln, 1966–1968 Aufsichtsratsvorsitzender der Rheinischen Stahlwerke in Essen. Nahm, Peter Paul, Redakteur, Staatssekretär 141, 217, 294, 373, 382, 443, 447 geb. 22. 11. 1901 Gensingen/Bingen, gest. 15. 1. 1981 Lorch 1924–1933 Redakteur, 1934–1945 Weinbauer, nach Kriegsende Landrat, ab 1947 Leiter

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des hessischen Landesamtes für Flüchtlingsfragen, 1949–1952 Ministerialdirektor im hessischen Innenministerium, dann Umsiedlungsbeauftragter der Bundesregierung und Bundesbeauftragter für die Unterbringung der Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone, 1953–1970 Staatssekretär im Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsbeschädigte, 1960 Präsident des Kath. Flüchtlingsrates. Neuhoff, Hans, Generalsekretär des BdV 439, 441 geb. 1906, gest. 1978 bis 1978 Generalsekretär des BdV und Vorsitzender der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen. Neuloh, Otto, Dr. rer. pol., Ökonom, Leiter 203 geb. 15. 11. 1902 Eichel, gest. 7. 4. 1993 Baden-Baden 1923 Studium der Volkswirtschaften in Münster, München, Königsberg und Berlin, 1926 Diplom-Volkswirt, 1928 Promotion zum Dr. rer. pol., 1931–1938 Abteilungsleiter für Berufsberatung des Arbeitsamtes Hagen, Gründung von Lehrlingsheimen, 1938–1939 Referent für Berufsberatung in der Zweigstelle Berlin des Reichsarbeitsministeriums, 1941–1945 Abteilungsleiter des Landesarbeitsamtes des Sudetenlandes, 1945 Flucht vor der Roten Armee, 1945 Aufbau der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund, hier wissenschaftlicher Geschäftsführer sowie Abteilungsleiter für Soziologie und Sozialpolitik, 1962–1974 Leiter des Instituts für empirische Soziologie. Neundçrfer, Ludwig, Dr. phil., Ökonom, Leiter, Hochschullehrer 137, 145, 178 f., 245, 273 geb. 13. 3. 1901 Mainz, gest. 25. 9. 1975 Frankfurt a. M. 1933–1939 Stadt- und Sozialplaner in Heidelberg, 1939 stellv. Landesplaner beim Gauleiter im Gau Baden-Baden, 1943 Gründung und Leitung des Soziographischen Instituts der Universität Frankfurt a. M., 1949 Professor für Soziologie am Pädagogischen Institut Jugentheim, 1961 Ordinarius für Soziologie und Präsident der Hochschule für Erziehung Frankfurt a. M. Neundörfer war Mitglied der katholischen Jugendbewegung. Nieden, Ernst zu, Propst 266 f. geb. 30. 4. 1903 Viernheim (Bergstraße), gest. 18. 4. 1974 Wiesbaden-Biebrich Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 185. Niemçller, Martin, Pfarrer, Marineoffizier, Kirchenpräsident 72, 281 f., 341, 353, 371 f., 374, 454, 489 geb. 14. 1. 1892 Lippstadt, gest. 6. 3. 1984 Wiesbaden Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 185. Oberl nder, Theodor, Prof. Dr. agr., Agrarwissenschaftler, Hochschullehrer, Bundesvertriebenenminister 18, 104, 115, 123–126, 179, 213 f., 232, 294, 319, 326, 345, 354, 373, 464 geb. 1. 5. 1905 Meiningen/Thüringen, gest. 4. 5. 1998 Bonn 1933 Mitglied der NSDAP, 1934 Professor für Landwirtschaftspolitik Danzig, gleichzeitig Direktor des Instituts für osteuropäische Fragen Königsberg, seit 1939 Reichsführer des „Bundes dt. Osten“, Oktober 1940 o. Professor für Staatswissenschaft Universität Prag, 1939 Wehrdienst, 1943 aus dem Wehrdienst entlassen und unter Staatsarrest gestellt, nach dem Krieg Mitbegründer des Gesamtdeutschen Blocks, Landesvorsitzender Bayern, ab 1946 Arbeit in der Landwirtschaft in Uelzen, später

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Rhön, 1950–1953 Staatssekretär im bayrischen Innenministerium, 1953–1960 (Rücktritt) Bundesminister für Angelegenheiten der Heimatvertriebenen (seit 1957 für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsbeschädigte), 1954/55 Bundesvorsitzender des BHE, 1956 Übertritt zur CDU. Oppen, Dietrich von, Prof. Dr. rer. soz., Theologe, Soziologe, Hochschullehrer 155, 157–163, 165, 178, 193, 200 f., 204 f., 216 f., 219 f., 222, 227, 233, 466–468, 470, 473, 476 geb. 22. 12. 1912 Berlin, gest. 27. 1. 2006 Hamburg 1930–1932 Ausbildung in einem Genfer Bankhaus, 1933 Beginn des Theologiestudiums in Berlin, 1933 studentisches Mitglied der SS, 1935–1939 Studium der Fächer Geschichte, Philosophie und Soziologie in Berlin und Königsberg, u. a. bei Theodor Schieder, Gunther Ipsen und Arnold Gehlen, 1937 Eintritt in die NSDAP, 1939 Wehrdienst, 1941 schwere Verwundung, im anschließenden Genesungs- und Studienurlaub Vollendung seiner Dissertation mit dem Titel „Die Umvolkung in Westpreußen von der Reichsgründung bis zum Weltkrieg“ in Innsbruck, 1942–1944 zeitweilig im Dienst des Auswärtigen Amtes, 1944–1945 erneute Einberufung zum Wehrdienst, 1949/1950 Arbeit an einer Kreisbeschreibung des Landkreises Harburg im Auftrag des Niedersächsischen Landesamtes für Landesplanung und Statistik, gleichzeitig Mitarbeit an Schelskys familiensoziologischen Arbeiten an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg, 1950–1954 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund, 1954 Mitarbeiter an der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg, 1960–1980 Professor für Sozialethik an der Theologischen Fakultät der Universität Marburg, 1964 in die Kammer für soziale Ordnung der EKD berufen. Osterloh, Edo, Theologe, kirchlicher Dozent, Studentenpfarrer, Kultusminister 274, 277 geb. 2. 4. 1906 Rotenhahn bei Oldenburg, gest. 25. 2. 1964 Kiel. Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 190 f. Palmer, Siegfried, Agrarwissenschaftler, Referent, Ministerialbeamter 139–143, 233, 323 geb. 19. 5. 1904 Offenbach a. Main, gest. 15. 8. 1988 Basel 1946–1947 Referent für Siedlungs- und Bodenreform in der Abteilung Ernährung und Landwirtschaft des Landesrates Stuttgart, 1947–1948 Referent für Siedlung im Ernährungs- und Landwirtschaftsrat der amerikanischen und britischen Zone, 1949–1950 Referent für Siedlungs- und Flüchtlingsfragen in der Verwaltung für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten des Vereinigten Wirtschaftsgebiete, 1950–1957 Bundesministerium für Landwirtschaft, dort 1950–1952 Hilfsreferent im Referat IV 7 (Ländliche Siedlung, Besitzfestigung), 1952–1957 Leiter des Referates IV B 1 (Ländliche Sozialfragen), 1957–1969 Bundesvertriebenenministerium, dort Leiter des Referats II 6, ab 1964 II 4 (Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge in die Landwirtschaft; Betreuung der kriegssachgeschädigten Landwirte), 1969 Erhalt des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse, 1969–1970 Bundesministerium des Inneren, dort Leiter des Referates Vt I 3 (Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge in die Landwirtschaft, Betreuung der kriegsgeschädigten Landwirte), 1970 Pensionierung, 1. 6. 1970 Geschäftsführer des Bauernverbandes der Vertriebenen e.V. Pannenberg, Wolfhart, Prof. Dr. theol., Theologe, Hochschullehrer 411, 413, 432, 460 geb. 2. 10. 1928 Stettin, gest. 4. 9. 2014 München 1942 Umzug der Familie nach Berlin, 1944 Soldat im Zweiten Weltkrieg, 1945 britische Kriegsgefangenschaft, 1947 Studium der Theologie und Philosophie an den Univer-

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sitäten Berlin, Göttingen, Basel und Heidelberg, 1953 Promotion bei Edmund Schlink, 1955 Habilitation an der Universität Heidelberg (Veröffentlichung erst 2009), 8. 7. 1956 Ordination in der Heidelberger Peterskirche, 1958–1961 Professor für systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal, 1961–1967 Professor für systematische Theologie an der Universität Mainz, 1967–1994 Professor für systematische Theologie an der Universität München, 1975–1990 Delegierter der EKD in der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung im ÖRK. Pfeil, Elisabeth, Prof. Dr. phil., Soziologin, Hochschullehrerin 147–157, 159 f., 174, 178 f., 183, 193–200, 204, 216 f., 219–221, 224, 226 f., 229, 233, 248, 293, 381, 393, 435, 438, 441, 466–469, 471, 473, 475, 483 geb. 9. 7. 1901 Berlin, gest. 1975 Dießen am Ammersee 1929 Promotion in Berlin über „Die fränkische und deutsche Romidee“, 1930 Assistentin von Albert Brackmann an der Universität Berlin, 1930–1941 Schriftleitung im Archiv für Bevölkerungswissenschaft (gegründet von Hans Harmsen), 1937 Mitglied der NSDAP, 1941–1945 Referentin im Institut für Bevölkerungswissenschaft in München (Leitung: Friedrich Burgdörfer); gleichzeitig Mitglied der Forschungsgemeinschaft für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik, 1945–1950 und 1952–1956 Mitarbeiterin in der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster mit Sitz in Dortmund als Assistentin von Gunther Ipsen, zuständig für Großstadtsoziologie und Vertriebenenfragen, 1956 Mitarbeiterin der Akademie für Gemeinwirtschaft in Hamburg, zeitgleich Lehraufträge am Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Hamburg, 1961 in die Kammer für soziale Ordnung der EKD berufen, 1964 Professur an der Hamburger Hochschule, 1968 Emeritierung. Picht, Georg, Prof. Dr. phil., Erziehungswissenschaftler, Religionsphilosoph, Hochschullehrer 384, 432–434, 447, 461 geb. 9. 7. 1913 Straßburg, gest. 7. 8. 1982 Hinterzarten 1953–1963 Dt. Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen, 1958–1982 Leiter der Forschungsstätte der ev. Studiengemeinschaft Heidelberg, 1965 o. Professor für Religionsphilosophie Heidelberg. Rabl, Kurt, Dr. jur., Dr. phil., Dr. rer. pol., Jurist 179, 354 f., 357, 424, 460 geb. 16. 9. 1909 Breslau Studium in Halle, Berlin, Wien, Leipzig und München, Lehrbeauftragter an der Hochschule für Politik. Raiser, Ludwig, Prof. Dr. jur., Jurist, Hochschullehrer 36, 384 f., 387 f., 390, 392, 399 f., 410 f., 415–417, 426, 428, 431, 460 f. geb. 27. 10. 1904 Stuttgart, gest. 13. 6. 1980 Tübingen Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 201. Ranke, Hansjörg, Jurist, Referent, OKR 57, 146, 243, 260–262, 264, 267 f., 271–279, 281–283, 286, 289, 293, 299–302, 315, 317 f., 320, 322–324, 397 geb. 9. 6. 1904 Arosa/Schweiz, gest. 3. 2. 1987 Berlin Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 202. Rauhut, Gerhard, Großhandelskaufmann, Geschäftsführer 192, 348, 354, 376, 392, 452 geb. 2. 8. 1908 Breslau Lehre als Großhandelskaufmann, anschließend mehrere Jahre arbeitslos, Hilfsarbeiter im Bergbau, seit 1935 in der Textilindustrie tätig, mehrere Jahre Generalhandlungsbevollmächtigter einer Webgarn-Importfirma in Bad Salzbrunn, 1946 als Lektor

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Pfarramtsverweser im Kreis Neumarkt/Schlesien, zuletzt in Maltsch/Oder, dann Flüchtlingsseelsorger im Kirchenkreis Uslar, ab 1. 10. 1947 Geschäftsführer des Arbeitskreises von Pastor Albertz in Celle, 1948 Hauptgeschäftsführer der Gemeinschaft ev. Schlesier, ab 1958 Geschäftsführer des OKA, von der schlesischen Kirchenleitung zum Verwaltungsdirektor ernannt, kaufmännische Leitung der Zeitung „Schlesischer Gottesfreund“ und des Verlages „Unser Weg“, 1. 1. 1973 i. R., stellv. Beisitzer des Präsidiums der VELKD. Rautenfeld, Harald von, Landwirt, Redakteur, Publizist 57, 65, 86, 186 f., 207 geb. 1893 im Baltikum, gest. 3. 6. 1975 Loccum 1911–1916 Studium der Landwirtschaft am Polytechnikum in Libau, 1917–1918 Tätigkeit im schwedischen Generalkonsulat in Moskau, 1918–1920 Verbindungsoffizier der Baltischen Landeswehr in Stockholm, 1920 Übersiedelung ins Deutsche Reich, 24. 3. 1926 Einbürgerung (bis dahin russischer Staatsbürger), gleichzeitig zunehmendes Engagement in der baltendeutschen Bewegung, Redakteur der Baltischen Blätter, zugleich Generalbevollmächtigter des Baltischen Roten Kreuzes in Berlin, 1923–1930 Generalsekretär, 1930–1934 Referatsleiter bei der Baltischen Arbeitsgemeinschaft e.V. in Berlin, währenddessen Beteiligung am Aufbau der baltischen Landeswehr, 1934 Präsident der Baltischen Arbeitsgemeinschaft, 7. 10. 1940 wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Auswärtigen Amt (Informationsabteilung), 19. 1. 1943 Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Reichskommissar für das Ostland in Riga, ab 1947 Geschäftsführer und Referent der Forschungsstelle für Pädagogik, Ostkirchenfragen und Vertriebenenfragen, 1958–1968 Mitglied der Marxismus-Kommission. Rees, Elfan, Pfarrer, Direktor 145, 211, 377 geb. 26. 2. 1906 Brecon/Wales, gest. 1978, 1926–1934 Pfr. der Congregational Church of England in Wales, 1934 Direktor des South Wales Council of Social Service, seit 1938 auch Chairman of the Welsh Committee for the Care of Refugees, 1944 Senior Welfare Specialist für die Balkan Mission of UNRA, Direktor der Displaced Person Divisions der UNRA Mission to Czechoslovakia, 1947 Direktor der Refugee Division im Department of Relief and Reconstruction of the WCC, seit 1950 Permanent Representative der Commission of the Churches on International Affairs in Europe. Rehs, Reinhold, Jurist, Bundestagsabgeordneter, Vizepräsident des BdV 414, 428, 444, 457 geb. 12. 10. 1901 Klinthenen/Ostpreußen, gest. 4. 12. 1971 Bonn Studium der Rechte in Königsberg und Heidelberg, 1923–1924 Schriftleiter, 1925 Hilfsrichter, 1928 Rechtsanwalt Königsberg, August 1945 Referent, Justitiar Landesarbeitsamt Kiel, 1950–1954 MdL Schleswig-Holstein, 1953–1969 MdB, bis 13. 5. 1969 SPD, 13.5.–19. 10. 1969 CDU, 1956–1969 Vorsitzender des Ausschusses Heimatvertriebene und Flüchtlinge des Bundestages, 1962–1969 Vorsitzender des Arbeitskreises Heimatvertriebene und Flüchtlinge der SPD-Fraktion; Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen, 2. Bundesvorsitzender, später Vorsitzender der Landsmannschaft Ostpreußen, Vorsitzender der Stadtgemeinschaft Königsberg, Präsident des Nordostdeutschen Kulturwerkes, 1967–1971 Präsident des BdV. Rhode, Gotthold, Historiker, Referent, Hochschullehrer 106, 415, 424 geb. 28. 1. 1916 Kamillental/Posen, gest. 20. 2. 1990 Mainz 1939 Referent Osteuropa-Institut Breslau, Wehrdienst, 1957 ao. Prof. Mainz, 1960 o. Professor für osteurop. Geschichte, allg. neuere Geschichte und Bevölkerungsge-

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schichte, Vorsitzender der Hist. Kommission für Posen, Präsident der Studiengesellschaft für Fragen mittel- und osteurop. Partnerschaft, Mitglied der deutsch-polnischen und der deutsch-rumänischen Kommission für Schulbuchrevision. Riedel, Heinrich, Theologe, OKR 315, 359 geb. 17. 3. 1903 Nürnberg, gest. 8. 9. 1989 München 1930–1934 Pfr. Thuisbrunn, nebenamtl. Leiter des Volkshochschulheims für Arbeiter in Kasberg, 1934–1943 Landesjugendpfarrer, 1943 Dekan Kulmbach, 1947–1972 Oberkirchenrat in München, ab 1962 Leiter der geistlichen Abteilung des LKR und Personalreferent, ständiger Vertreter des Landesbischofs, 1955–1967 Mitglied des Rates der EKD, 1958–1971 Vorsitz im Diakonischen Rat der EKD, 1959 Mitbegründer der Aktion „Brot für die Welt“, Leiter des Verteilungsausschusses, ab 1969 Mitarbeiter im Ausschuß für den Kirchl. Entwicklungsdienst der EKD, 1. 1. 1972 für sechs Jahre als Vertreter der Gruppe „Religionsgemeinschaften“ in den bayrischen Senat gewählt. Rosenberg, Alfred, Politiker, Publizist, Reichsminister 91, 165 geb. 31. 12. 1892 Reval, gest. 16. 10. 1946 Nürnberg 1933 Leiter des Außenpolitischen Amtes der NSDAP, 1933 „Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Erziehung der NSDAP“ (auch: Amt Rosenberg), 1941 Reichsminister für die besetzten Ostgebiete. Rudolph, Fritz, Volkswirt, Soziologe, Hochschullehrer 155, 159–161, 163, 178, 466, 472 geb. 13. 2. 1926 Ronshausen Diplomvolkswirt, Mitarbeiter des Sozialamtes der Evangelischen Kirche von Westfalen, Professor für Soziologie in Duisburg. Ruppel, Erich, Jurist, Vizepräsident 192, 281, 289, 302 geb. 25. 1. 1903 Wuppertal-Elberfeld, gest. 7.7 1975 Hannover Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 211. Sch ffer, Fritz, Bundestagsabgeordneter, Bundesminister (Finanzen, Justiz) 254, 282, 286–288, 304–307 geb. 12. 5. 1888 München, gest. 29. 3. 1967 Berchtesgaden 1918–1933 Bayerische Volkspartei, ab 1945 CSU, 1949–1957 Bundesfinanzminister und 1957–1961 Bundesjustizminister. Scharf, Kurt, Theologe, Pfarrer, Bischof 391, 410, 415, 422–424, 426, 438, 456, 460 geb. 21. 10. 1902 Landsberg/Warthe, gest. 28. 3. 1990 Berlin Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 215. Scheliha, Hans Heinrich von, Flüchtlingsreferent 138, 243, 331 geb. 2. 10. 1904 Karlsruhe/Baden, gest. 1. 11. 1973 Oldenburg/Niedersachsen 1923 Eintritt in die Reichswehr, 1939 Teilnahme am 2. Weltkrieg, 1942 Oberstleutnant, Abteilungschef im Oberkommando des Heeres, 1944 verhaftet wegen Beteiligung am „20. Juli“, 8. 5. 1945 Entlassung aus der Wehrmacht als Oberst, 1947–1969 Flüchtlingsreferent für das Land Oldenburg (später niedersächsischer Verwaltungsbezirk). Schellhaus, Erich, Bundesvertriebenenminister, Vizepräsident des BdV 459 geb. 4. 11. 1901 Bösdorf/Schlesien, gest. 19. 2. 1983 Hannover Ausbildung zum Bankkaufmann, 1933 Eintritt in die NSDAP, 1939–1945 Offizier der Wehrmacht, 1950 Gründungsmitglied des BHE, 1951–1957 und 1959–1963 Minister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegssachgeschädigte des Landes Niedersachsens, 1955–1958 Bundesvorsitzender der Landsmannschaft Schlesien, 1958–1968 Vizepräsident des BdV.

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Schelsky, Helmut, Prof. Dr. phil., Soziologe, Hochschullehrer 152, 155–157, 159–161, 164 f., 174, 178, 199, 219 f., 224, 233, 467, 483 geb. 14. 10. 1912 Chemnitz, gest. 24. 2. 1984 Münster Studium der Fächer Geschichte, Pädagogik, Philosophie und Soziologie an der Universität Königsberg und der Universität Leipzig, 1932 Mitglied in der SA, 1935 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über Fichte, 1933 Mitglied der NSDAP, 1938–1940 Assistent bei Gehlen, Arnold, 1940 Habilitation mit einer Arbeit über Thomas Hobbes, 1941–1945 Soldat der Wehrmacht, mehrfach schwer verwundet, 1942 Vertretungsprofessur in Leipzig, 1943 ao. Professor in Straßburg, 1945 Beteiligung am Aufbau des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes, 1949 Professor für Soziologie an der Aka demie für Gemeinwirtschaft in Hamburg, 1953 Professor für Soziologie an der Universi tät Hamburg, 1960 Ruf an die Universität Münster, 1960–1970 Direktor Sozialforschungsstelle an der Universität Münster in Dortmund, 1965 Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats und Mitglied des Gründungsausschusses der Universität Biele feld, 1965 Rücktritt aus dem Beirat nach Anschuldigungen wegen seiner NS-Vergangenheit, 1966 Rückkehr in den Beirat, 1970 Professur für Soziologie an der Universität Bielefeld, 1970–1971 Geschäftsführer des Zentrums für interdisziplinäre Ordnung, 1973 Rückkehr an die Universität Münster, 1978 Emeritierung. Scheuner, Ulrich, Dr. jur., Jurist, Hochschullehrer 68, 101, 130, 211 f., 240, 254–256 geb. 24. 12. 1903 Düsseldorf, gest. 25. 2. 1981 Bonn Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 215 f. Schmidt, Helmut, Politiker, dt. Bundeskanzler 445 geb. 23. 12. 1918 Hamburg, gest. 10. 11. 2015 Hamburg 1969–1972 Bundesminister der Verteidigung, 1972–1974 Bundesminister der Finanzen, 1974–1982 deutscher Bundeskanzler. Schmidt, Wilhelm Friedrich Karl, Pfarrer, Leiter des Hilfswerks Hamburg 294 f. geb. 27. 1. 1908 Uchtspringe/Magdeburg, gest. 11. 6. 1983 Hamburg 15. 10. 1933 Ordination Königsberg, 1933–1935 Hilfsprediger Groß Schwansfeld/Ostpreußen und Riesenburg/Westpreußen, 1933 Mitglied der Bekennenden Kirche und des Pfarrernotbundes, 1934–1937 des Bruderrates der ostpreußischen Bekenntnissynode, 1. 4. 1935 Pfr. Groß Schwansfeld, 1. 12. 1945 Sachbearbeiter beim Zentralbüro West des Ev. Hilfswerks in Bielefeld, 1. 3. 1947 Pfr. der Ev. Kirche von Westfalen, 1. 4. 1948 Leiter des Ev. Hilfswerks in Hamburg, 1. 2. 1950 Leiter des Landeskirchlichen Amtes für Gemeindedienst (später umbenannt in Diakonisches Werk), 1958–1973 Leiter des Landesverbandes für Innere Mission e.V. Hamburg, 21. 1. 1960 Berufung als Kirchenrat/Dezernent, 25. 4. 1960 Berufung zum nebenamtlichen Mitglied des Landeskirchenamtes. Schreiber, Ottomar, Staatssekretär im Bundesvertriebenenministerium 18, 92, 116 f., 192, 315–317, 323, 346, 352, 378 geb. 1. 5. 1889 Marienburg/Ostpreußen, gest. 6. 2. 1956 München 1919 Studienassessor, 1920–1922 Verlagsbuchhändler, 1922–1942 1. Syndikus der Industrie- und Handelskammer Memel (Entfernung durch NS-Gauleiter), 1932–1934 Landespräsident des Memelgebietes (Absetzung durch die litauische Regierung, Hochverratsverfahren, Polizeiaufsicht, 1935 Entzug der Staatsangehörigkeit, 1937 Wiederzuerkennung durch Internationales Schiedsgericht), nach Kriegsende Angestellter der Gemeinde Tegernsee/Bayern, 1949–1953 Staatssekretär im Bundesminis-

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terium für Vertriebene, 1948 Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen, Leiter des Amtes für Heimatvertriebene beim Frankfurter Wirtschaftsrat, seit 1952 stellv. Vorsitzender des Dt. Heimatbundes, Mitglied des Präsidiums des Dt. Roten Kreuzes, Mitglied des OKA. Schrçder, Gerhard, Jurist, Bundesminister (Inneres, Auswärtiges, Verteidigung) 296 geb. 11. 9. 1910 Saarbrücken, gest. 13. 12. 1989 Kampen/Sylt 1933 Assistent der Juristischen Fakultät der Universität Bonn und am Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Berlin, 1939 Rechtsanwalt, 1939–1945 Wehrdienst und Gefangenschaft, dann persönlicher Referent des Oberpräsidenten der Nordrhein-Provinz, stellvertretendes Mitglied des Zonenbeirats, Mitbegründer der Dt. Wählergemeinschaft und Vorsitzender des Dt. Wahlrechtsausschusses, 1947–1953 Anwaltspraxis Düsseldorf, Mitglied des Landesvorstands der CDU Rheinland, 1953–1969 Bundesminister des Innern, des Auswärtigen (1961) und der Verteidigung (1966). Schwarz, Eberhard, Pfarrer, Vorsitzender des OKA 57, 136, 394, 427, 446 geb. 18. 4. 1917 Posen, gest. 25. 4. 1990 Kiel 28. 10. 1951 Ordination zum Pfarrer, 1935–1945 Offizier, 1951–1957 Pfr. Wyk auf Föhr, 1957–1960 Schleswig, 1960–1970 Mitglied des Landeskirchenamt Kiel (OLKR), seit 1970 Propst der Propstei Segeberg, seit 1963 Mitglied des OKA, amtierender Vorsitzender, seit 1973 Vorsitzender der Gemeinschaft ev. Schlesier, seit 1977 Synodaler der Nordeibischen Ev.-luth. Kirche. Schwarz, Walter, Theologe, Pfarrer, Pressedirektor 498 geb. 3. 12. 1886 Hirschberg/Schlesien, gest. 23. 2. 1957 Göttingen Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 233. Schweitzer, Wolfgang, Prof. Dr. theol., Theologe, Hochschullehrer 354 f., 385, 388–390, 411, 432, 460 geb. 8. 7. 1916 Erlangen, gest. 25. 9. 2009 Eckardtsheim 1943–1945 kirchl. Dienst Württemberg, 1946–1952 Sekretär der Studienabteilung Weltkirchenrat Genf, 1952–1955 Privatdozent Heidelberg, 1955–1980 Professor für systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Bethel (1962 f., 1967 f. und 1973 f. Rektor). Seeberg, Alfred, Prof. Dr. theol., Theologe, Hochschullehrer 186, 207 geb. 24. 9. 1863 Pedua/Estlang, gest. 9. 8. 1915 Ahrenshoop Studium der Theologie in Dorpat, 1891 Magister der Theologie, 1891 Dozent, 1895 Promotion, 1897–1908 Professor f. exegetische Theologie in Dorpat, 1909 Rostock, 1914 Rektor, im selben Jahr Professor in Kiel. Seeberg, Axel, Redakteur 63, 186, 207 geb. 15. 6. 1904 Dorpat, gest. 27. 5. 1986 Studium in Rostock, München und Berlin, 1929–1931 Referent am Politischen Kolleg Berlin, 1933 Ende der Mitgliedschaft in der Bündischen Jugend, 1931–1939 Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik Berlin, 1939–1945 wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Auswärtigen Amt, 1946 Mitbegründer und Aufbau des Sonntagsblattes unter Hanns Lilje, 1947–1953 Tätigkeit als stellvertretender Chefredakteur und Spezialisierung auf das außenpolitische Ressort 1954–1972 Chefredakteur des Sonntagsblattes als Nachfolger von Hans Zehrer.

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Seeberg, Erich, Prof. Lic. theol., Theologe, Hochschullehrer 186, 207 geb. 8. 10. 1888 Dorpat, gest. 26. 2. 1945 Ahrenshoop/Ostsee Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 234 f. Seeberg, Reinhold, Theologe, Hochschullehrer 186 f., 196 f., 206 f. geb. 5. 4. 1859 Pärrafer (Livland), gest. 23. 10. 1935 Ahrenshoop/Ostsee Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 235. Seeberg, Stella, Dr. rer. soc. habil., Soziologin, Referentin 18, 67 f., 78, 85–89, 90, 94–97, 101 f., 111, 113, 114–116, 128, 138–145, 155, 171, 178–192, 207, 215, 217, 220–222, 226 f., 229, 233, 243, 265, 274 f., 340, 348, 362, 371, 469–471 geb. 14. 7. 1901 Dorpat, gest. 2. 12. 1979 Kellinghusen 1920–1923 Studium der Fächer Volkswirtschaft und Psychologie in Rostock, Kiel und München, 1924 Promotion in München (Summa cum laude), anschließend verschiedene Anstellungen als Hauslehrerin, 1934 Mitglied in verschiedenen NS-Organisationen (NS Rechtswahrerbund, NS Volkswohlfahrt, NS Frauenwerk), 1932–1936 Assistentin am Agrarinstitut in Rostock, 1939 stellvertretende Leiterin der agrarpolitischen Abteilung des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts in Berlin, 1939 Habilitation in Berlin, 1942 Lehrbeauftragte für Volkswirtschaft an der Universität Graz, 1945 als Reichsdeutsche entlassen, 1947/48–1958 Leiterin der Forschungsstelle der Ev. Akademie Hermannsburg/Loccum, 1961–1964 Lehraufträge an der Universität Göttingen, 1964–1971 Privatdozentin, 1961 Lehrbeauftragte an der Universität Göttingen, 1964 Umhabilitation nach Göttingen, 1964–1971 Dozentin und Oberassistentin für politische Ökonomie und Sozialpolitik, zeitweilig Mitglied im wiss. Beirat des Bundesfamilienministeriums. Seuffert, Walter, Jurist, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts 301, 308 f. geb. 4. 2. 1907 New Jersey, gest. 28. 12. 1989 München ab 1925 Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg, Frankfurt und München, 1932 Rechtsanwalt, 1940 von der Gestapo verhaftet, 1941 von der Wehrmacht eingezogen, 1946 wieder Rechtsanwalt, kurz darauf Referent der Bayerischen Staatskanzlei, 1947 Eintritt in die SPD, 1949–1967 MdB, 1967 Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. Sladek, Paulus Friedrich, Dr. theol. habil., Priester 275 geb. 28. 1. 1908 Trebnitz, gest. 2. 11. 2002 Zwiesel Studium der kath. Theologie in Prag, Mitglied im deutschnationalen Hochschulbund Staffelstein, 1931 Weihe zum Priester, 1933 Promotion zum Dr. theol., 1939 Habilitation, 1942–1945 Sanitäter in der Wehrmacht, nach 1945 Aufbau der „Kirchlichen Hilfsstelle München“ und eines landesweiten Netzwerks der katholischen Flüchtlingsseelsorger, bis 1980 Geistlicher Bundes-Beirat der Ackermann-Gemeinde und bis 1981 Leiter der „katholischen Arbeitsstelle für Heimatvertriebene/Süd“. Sçhngen, Oskar, Theologe, Musikwissenschaftler, Geistlicher Vizepräsident, Universitätslehrer 136 geb. 5. 12. 1900 Wuppertal, gest. 28. 8. 1983 Berlin Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 240 f. Spiegel-Schmidt, Friedrich, Theologe, Geschäftsführer des OKA 67, 69, 71, 75 f., 78–81, 84, 96 f., 99 f., 105–108, 111, 117, 130, 134 f., 143, 155, 161–163, 168, 179, 192, 198, 201, 205, 215–217, 229, 233, 243 f., 250, 265 f., 273–278, 280 f., 283, 285, 293 f., 300, 302, 323, 347 f., 351–354, 359 f., 363 f., 366 f., 371–376, 381, 392, 413, 43–439, 484, 486

Personenregister/Biografische Angaben

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geb. 27. 2. 1912 Montreux/Schweiz, gest. 16. 8. 2016 Planegg bei München Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 242. Steinjan, Werner, Dr. rer. pol., Volkswirt, Referent 188 geb. 1919, gest. 2002 1946–1950 Studium der Volkswirtschaftslehre an der Universität Rostock, 1951–1952 Abschluss des Studiums an der Universität Hamburg, 1952–1956 Referent für Wirtschafts- und Sozialpolitik an der Evangelischen Akademie Loccum, 1956–1959 Sozialreferent der Evangelischen Kirche im Rheinland, 1960–1984 Referent im Bundesministerium für Wirtschaft, 1962–1985 Mitglied der Kammer für soziale Ordnung der EKD. Sucker, Wolfgang Friedrich Heinrich, Theologe, Dozent, Hochschullehrer 417 f. geb. 21. 8. 1905, gest. 30. 12. 1968 Darmstadt Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 253. Tenhumberg, Heinrich, Priester 325 geb. 4. 6. 1915 Lünten, gest. 16. 9. 1979 Münster 1947 Weihe zum Priester, 1958 Titular- und Weihbischof in Münster, 1966–1969 Leitung des Katholischen Büro Bonn. Arbeit in der katholischen Flüchtlingsseelsorge. Thadden-Trieglaff, Reinhold, Dr. jur., Jurist, Gutsbesitzer, Kirchentagspräsident 230, 391, 418 geb. 13. 8. 1891 Mohrungen/Ostpreußen, gest. 10. 10. 1976 Fulda Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 254 f. Thielicke, Helmut, Prof. Dr. phil. Lic. theol., Theologe, Hochschullehrer 240–242, 266, 314, 411, 432, 434, 460, 478 geb. 4. 12. 1908 Barmen, gest. 5. 3. 1986 Hamburg Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 256. Tillich, Paul, Prof. Dr. phil., Lic. theol., Theologe, Hochschullehrer 44, 48, 83 geb. 20. 8. 1886 Starzeddel bei Guben/Brandenburg, gest. 22. 10. 1965 Chicago, Illinois (USA) Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 259. Treinen, Heiner, Soziologe, Hochschullehrer 169, 439–441, 471 geb. 1931 Mülheim/Ruhr Studium der Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Köln und München, Lehr- und Forschungstätigkeit in Nashville, München, Köln und Bochum, Vortragstätigkeit an der evangelischen Akademie Loccum, 1972 Lehrstuhl für sozialwissenschaftliche Methodenlehre und Statistik an der Ruhr-Universität Bochum, 1997 Forschungsprofessor am Institut für Arbeit und Technik, Wissenschaftszentrum NRW. Troeltsch, Ernst, Prof., Lic. theol., Theologe, Hochschullehrer 44 f. geb. 17. 2. 1865 Haunstetten bei Augsburg, gest. 1. 2. 1923 Berlin Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 261. Trotha, Carl-Dietrich von, Soziologe, Jurist 35, 62, 208, 246 geb. 25. 6. 1907 Kreisau, gest. 28. 6. 1952 im Fox Lake, Illinois/USA Studium Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, später Rechtswissenschaften in Breslau, 1933 Promotion, 1936 Reichswirtschaftsministerium, Mitglied im Kreisauer Kreis, 1948 Mitarbeiter im Magistrat von Berlin, 1948 Teilnahme an der ersten Konferenz des Ökumenischen Weltkirchenrats, Vorsitzender der Europa-Union, Mitbegründer der Deutschen Hochschule für Politik.

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Personenregister/Biografische Angaben

Wagenmann, Prof. Karl, Dr. jur., Jurist, Präsident 189, 498 geb. 15. 8. 1905 Bleckedei/Eibe, gest. 20. 11. 1982 Hannover Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 267. Walz, Hans Hermann, Theologe, Jurist, Generalsekretär des DEK 198, 391–393 geb. 3. 8. 1914 Esslingen, gest. 4. 7. 1998 Fulda Studium der Evangelischen Theologie in Tübingen, Studium der Rechtswissenschaften in Berlin, 1945 Tätigkeit für den Hilfsdienst für Kriegsgefangene und Vermisste unter der Leitung von Eberhard Müller, 1945–1946 Studienleiter in der Evangelischen Akademie Bad Boll, 1947–1949 wissenschaftlicher Sekretär der Studiengemeinschaft der Evangelischen Akademien in Bad Boll, 1949–1955 Sekretär für Laienarbeit des ÖRK, Stellvertretender Direktor des Ökumenischen Instituts Bogis-Bossey nahe Genf, 1954–1981 Generalsekretär des DEK, 1959–1985 Mitglied im Kuratorium der FESt, 1982–1992 Mitglied des Präsidiums des DEK. Weber, Otto, Prof. Dr. theol., Theologe, Hochschullehrer 130, 261 geb. 4. 6. 1902 Köln-Mülheim, gest. 19. 10. 1966 St. Moritz Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 269. Weisser, Gerhard, Ökonom, Hochschullehrer 149, 200, 227 f., 246, 254–257 geb. 9. 2. 1898 Lissa (Posen), gest. 25. 10. 1989 Bonn 1917 Abitur in Magdeburg, 1917 Kriegsdienst, 1918 Studium der Philosophie in Göttingen und der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Tübingen, 1923 Promotion in Tübingen, danach Leiter des Wohnungsamtes in Magdeburg, 1923 Eintritt in die SPD, 1927 Städtischer Finanzdirektor der Stadt Magdeburg, 1930–1933 Bürgermeister von Hagen, 1933–1945 Arbeit für verschiedene Verlage, 1942/43 Habilitation in Rostock, 1945 Leitung des Finanz- und Wirtschaftsministeriums in Braunschweig, 6. 3. 1946 Generalsekretär des Zonenbeirats der britischen Zone in Hamburg, 1946 Präsident des Gesamtverbandes der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen (ehrenamtlich), 1948–1950 Staatssekretär im Finanzministerium von Nordrhein-Westfalen, 1950 o. Professor für Sozialpolitik und Genossenschaftswesen an der Universität Köln, 1954–1970 Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung, Mitglied in verschiedenen Beiräten von Bundesministerien, Mitarbeit in der Kammer für soziale Ordnung des Rats der EKD, Vorstandsmitglied des Internationalen Forschungs- und Informationszentrums für Gemeinwirtschaft (IFIG), 1965 Emeritierung, Gründer und Wissenschaftlicher Direktor des Forschungsinstitut für Gesellschaftspolitik und beratende Sozialwissenschaft e.V. mit Sitz in Göttingen (zusammen mit Friedrich Karrenberg u. a.). Weizs cker, Carl Friedrich von, Prof. Dr. rer. nat., Physiker, Hochschullehrer 384, 392–394 geb. 28. 6. 1912 Kiel, gest. 31. 1. 2015 Berlin 1934 Assistent am Institut für Theoretische Physik Universität Leipzig, 1936 wissenschaftlicher Mitarbeiter Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie, anschließend Assistent für Physik ebd., 1936 Privatdozent Universität Berlin, 1942–1945 ao. Professor für Theoretische Physik Universität Straßburg, seit 1946 Abteilungsleiter Max-PlanckInstitut für Physik und Honorarprofessor Göttingen, 1957–1969 o. Professor und Direktor des Philosophischen Seminars Universität Hamburg, seit 1970 Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen in der technisch-wissenschaftlichen Welt Starnberg und Honorarprofessor München.

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Wendland, Heinz-Dietrich, Prof. Lic. theol., Theologe, Hochschullehrer 84, 90, 97, 106 f., 187, 242, 245 f., 251, 274, 277, 348, 354 geb. 22. 6. 1900 Berlin, gest. 7. 8. 1992 Hamburg Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 272. Wendt, Siegfried, Jurist, Hochschullehrer 272 f., 276 geb. 5. 11. 1901 Hamburg, gest. 24. 4. 1966 Göttingen 1919–1921 Universität Berlin, Studium der Rechts- und Staatswissenschaft, Geschichte und Philosophie, 1921–1922 Universität Freiburg, 1922–1924 Universität Berlin, Promotion 1924, 1925–1930 wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Volkswirtschaft und Statistik der Handelshochschule Mannheim, 1925–1930 Habilitation bei Ernst Schuster, 1930–1933 Handelshochschule Mannheim, Lehraufträge (Wirtschaft und Finanzwirtschaft), 1933 Eintritt in die NSDAP, 1937 oa. Professor an der Universität Heidelberg, 01938–1943 Universität Göttingen 1. 4. 1943 o. Professor Universität Göttingen, 1. 10. 1943–1946 Professor Universität Gießen, 1. 7. 1946 Entlassung aus dem Dienst auf Anordnung der Militärregierung, 1. 10. 1949–31. 10. 1951 Tätigkeit als stellvertretender Studienleiter an der Evangelischen Sozialschule Friedewald, 1951–1954 Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven, 1954–1962 o. Professor an der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven, 1953 und 1955 Gastprofessuren in Istanbul, 1961/62 Rektor der Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven, 1962–1966 Professor an der Universität Göttingen. Wester, Reinhard, Pfarrer, Bischof 134, 318, 382, 386, 411 geb. 2. 6. 1902 Wuppertal-Elberfeld, gest. 16. 6. 1975 Eutin Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 274. Wilkens, Erwin, Theologe, Vizepräsident 57, 388, 391, 393 f., 396–400, 403–406, 411, 415 f., 426–428, 430, 432–434, 454, 456, 460 f. geb. 11. 7. 1914 Lingen/Ems, gest. 18. 1. 2000 1941 Hilfsgeistlicher Hannover-Herrenhausen, 1947 Pfr. Vöhrum/Peine, 1939–1945 Wehrdienst, 1951 theol. Referent und Leiter der Pressestelle im luth. Kirchenamt, Mitglied der EKD-Kammer für öffentliche Verantwortung, 1964 Referent für Öffentlichkeitsarbeit in der Kirchenkanzlei und als solcher Geschäftsführer der Kammer für öffentliche Verantwortung, 1975–1980 Vizepräsident der Kirchenkanzlei der EKD. Windelen, Heinrich, Bundestagsabgeordneter, Bundesvertriebenenminister 443 geb. 25. 6. 1921 Bolkenhain/Schlesien, gest. 16. 2. 2016 Warendorf 1941 Kriegsdienst, 1945–1948 kaufmännische Ausbildung, 1946 Eintritt in die CDU, 1957 MdB, Februar 1969–Oktober 1969 letzter Bundesvertriebenenminister. Wolf, Ernst, Prof. Lic. theol., Theologe, Hochschullehrer 130, 348 geb. 2. 8. 1902 Prag, gest. 11. 9. 1971 Walchensee Vgl. Braun/Grünzinger, Personenlexikon, 278 f. Wrzecionko, Paul, Prof. Dr. theol., Theologe, Hochschullehrer 354 f. geb. 18. 11. 1916 Teschen/Schlesien, gest. 13. 6. 1998 Münster 1958 Privatdozent Münster, 1960 Dozent, 1965 ao. Professor für systematische Theologie. Wurzbacher, Gerhard, Prof. Dr. phil., Soziologe, Hochschullehrer 155–157, 178, 200 f., 204–206, 219, 227, 233, 470, 472 geb. 31. 7. 1912 Zwickau, gest. 1. 4. 1999

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Personenregister/Biografische Angaben

Professor für Soziologie in Kiel, 1965–1975 Ordinarius für Soziologie in NürnbergErlangen, 1958–1964 Mitglied der Kammer für soziale Ordnung der EKD.