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German Pages 195 Year 2002
RUDOLF ALEXANDER MIKUS
Die Verhaltensnorm des fahrlässigen Erfolgsdelikts
Schriften zum Strafrecht Heft 135
Die Verhaltensnorm des fahrlässigen Erfolgsdelikts
Von
Rudolf Alexander Mikus
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme
Mikus, Rudolf Alexander:
Die Verhaltensnorm des fahrlässigen Erfolgsdelikts I Rudolf Alexander Mikus. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum Strafrecht ; H. 135) Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 2001 ISBN 3-428-10613-X
Alle Rechte vorbehalten
© 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 3-428-10613-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Vorwort Das Fahrlässigkeitsstrafrecht ist in jüngerer Zeit zunehmend mit der Bewertung risikoträchtiger Tätigkeiten konfrontiert. Solche Tätigkeiten sind zur Förderung von Wohlstand und Lebensqualität erlaubt, ja sogar erwünscht - solange die Akteure die spezifischen Risiken im Rahmen akzeptabler Grenzen halten. Bei Risikorealisierung ist zu entscheiden, ob sich im konkreten Fall das typische Risiko der grundsätzlich erwünschten Tätigkeit verwirklicht hat, oder ob der Handelnde die Grenzen erlaubter Risikoschaffung überschritten hat. Die Grenzen des Erlaubten sind aber nur in Ausnahmefallen durch Regeln eindeutig fixiert, im übrigen gibt es lediglich das allgemeine Gebot der Erfolgsvermeidung. Ex post werden sie nun konkretisiert und damit die Norm definiert. In der Theorie ist man sich andererseits einig, daß die Verhaltenserwartung nur aus der Perspektive der Handlungssituation, also ex ante, definiert werden darf. In diesem Spannungsfeld stellt sich die Frage, an welchen vorhandenen Wertungen sich der Handelnde orientieren muß, und inwieweit darüber hinaus seine eigenständige Normfindungsleistung gerichtlicher Kontrolle zugänglich ist. Die eigenständige Normfindungsleistung bedarf sodann der Würdigung in der Dogmatik des strafrechtlichen Erfolgsdelikts. Die Abgrenzung erlaubter von verbotenen Verhaltensweisen stellt hier im wesentlichen ein Auslegungsproblem dar. Doch bislang wurde nicht diskutiert, welche Konsequenzen es hat, daß die ex post getroffene Auslegung ex ante als Orientierungsmaßstab nicht zur Verfügung stand und daß sie möglicherweise so objektiv nicht zu erwarten war. Ist im Rahmen eines Urteils trotz Respektierung der Offenheit der Verhaltenserwartung im Handlungszeitpunkt eine zukunftsweisende Konkretisierung der Norm möglich? Die Arbeit ist im Sommersemester 2001 von der Johannes-Gutenberg Universität zu Mainz als Dissertation angenommen worden. Herrn Professor Dr. Walter Perron, der meine Arbeit betreut hat, möchte ich herzlich danken, insbesondere auch für die fruchtbare Diskussion, aus der die Themenstellung hervorgegangen ist. Danken möchte ich auch Herrn Professor Dr. Justus Krümpelmann für die Erstellung des Zweitgutachtens, Frau Julia H. Kuhn für ihre wertvolle Hilfe bei der Fertigstellung des Manuskripts, und Frau Ursula Streng für ihre stets freundliche Unterstützung während meiner Zeit am Lehrstuhl. Rechtsprechung und Literatur konnten bis einschließlich Februar 2000 beriicksichtigt werden. Stuttgart, im Februar 2002
Rudolf A. Mikus
Inhaltsverzeichnis Einleitung............................ . .................... . ...........................
15
A. Der Begriff der Verhaltensnorm . . . .. . . . . .. .. . . .. . . . . . . .. .. .. . . .. . . .. . . . . . . .. . . .. .
19
I. Das Strafrecht als normative Verhaltenskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
I. Die Norm als Orientierungsmuster für sozialen Kontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
a) Verhaltensnorm und Sanktionsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
b) Bestimmungs- und Bewertungsfunktion der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
c) Verhaltens- und Erfolgsunwert .. .. .. . .. .. . . . . .. . . .. . . .. . .. . .. . . .. .. . .. . . ..
23
2. Die Struktur der Verhaltensnorm . .. .. .. . .. . .. . . . .. . . .. .. .. . .. . . .. . .. .. . .. .. ..
25
a) Verhaltensnorm und Verhaltenspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
b) Gefährdungsverbot oder Erfolgsverursachungsverbot? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
3. Bestimmtheitsgebot und Verhaltensnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
a) Die positivistische Hürde des Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
b) Die relativ unbestimmte Norm als Orientierungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
II. Das Verbot mißbilligter Risikoschaffung als Verhaltensnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
1. Die Bedeutung des erlaubten Risikos .. . . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . . .. . .. . .. .. . . .. .
39
a) Tatbestandsrelevanz von erlaubtem Risiko und Sorgfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
b) Erlaubtes Risiko und Zurechnungsausschluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
2. Objektive Erkennbarkeil des erlaubten Risikos? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
a) Hart und Dworkin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
b) Hart und Dworkin unter Orientierungsgesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
c) Armin Kaufmann . . . . . . . .. . .. . .. .. .. . .. . . .. .. .. . . .. . . .. . .. . . .. . .. .. . . .. . . .
46
III. Inhaltliche Konturen mißbilligter Risikoschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
1. Der Sorgfaltsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
a) Die Maßfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
b) Die Verkehrskreise . . . . .. . . .. .. . .. .. . . . .. .. .. .. .. . . .. . . .. . .. . . . .. . . .. . . . . .
50
8
Inhaltsverzeichnis 2. Die Rolle abstrakter Gefahrdungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
a) Die Indizientheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
b) Jakobs' Vertrauensgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
c) Der Schutzzweck des fahrlässigen Erfolgsdelikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
3. Erkenntnis der Erfolgsmöglichkeit als Verhaltenserwartung? . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
a) Erkennbarkeil des Erfolges als Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
b) Die "Innere Sorgfalt" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
59
c) Die "Diligenzpflicht" als Verhaltensnorm?.. . ... . .. . ........... . .. . ... . . ..
61
d) Erkennbarkeilskriterium als entbehrliche doppelte Wertung . . . . . . . . . . . . . . .
63
IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
B. Die Verhaltensnonn innerhalb geregelter Lebensbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
I. Abstrakte Gefährdungsverbote in Rechtsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
1. Das fahrlässige Erfolgsdelikt als Blankettkonstruktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
2. Konkretisierung der Verhaltensnorm durch das typische Grundrisiko? . . . . . . . .
68
3. Bindungswirkung nur des vollständigen Systems? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
4. Der Schutzzweck abstrakter Gefahrdungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
a) Schutzzweck und Regelungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
b) Abstrakte Gefahrdung als notwendige Voraussetzung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
c) Abstrakte Gefährdung als hinreichende Voraussetzung?.......... . ... . ... .
74
aa) Begrenzung durch den Regelungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
bb) Verhältnis zum Vorhersehbarkeitsbegriff der Rechtsprechung . . . . . . . .
77
cc) Frischs Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
5. Abhängigkeit der objektiven Sorgfaltspflicht von individuellen Merkmalen?
82
a) Erweiterung des Handlungsspielraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
b) Erhöhung des Maßstabs bei Sonderfähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
Il. Einzelfallentscheidungen als Verhaltensleitlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
l. Die behördliche Erlaubnis als Verhaltensleitlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
2. Verwaltungsrechtakzessorietät und Verwaltungsaktakzessorietät . . . . . . . . . . . . .
86
a) Der Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
b) Das Strafrecht als Sekundärrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
Inhaltsverzeichnis 3. Grenzen der Genehmigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 91
a) Entstehen neuer Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
b) Rechtsmißbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
4. Keine Verhaltensleitlinie ohne Genehmigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
a) Genehmigungsfähigkeit und Schutzzweck der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
b) Die aktive Duldung durch die Behörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
III. Gesellschaftliche Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
1. Verhaltensnormqualität gesellschaftlicher Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
a) Die Richtlinie als Verhaltenserwartung und Orientierungsmuster . . . . . . . . . .
98
b) Verbindlichkeitkraft Gewohnheitsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
c) Verbindlichkeit durch Vertrauensschutz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Formelle und materielle Begründung der Verhaltensnormqualität . ..... . .. . ... 104 a) Die formelle Legitimation der Richtlinie als Voraussetzung? . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Ein materieller Beurteilungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 c) Der Vorbehalt richterlicher Korrekturkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3. Speziell: ärztliche Heileingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 a) Regeln der ärztlichen Heilkunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 b) Ärztliche Aufklärungspflicht- Richterrechtliche Normierungen . . . . . . . . . . 113 4. Speziell: zivilrechtliche Verkehrssicherungspflichten .. ... . ................ . .. 116 5. Grenzen der Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 a) Objektiver Mißstand und der Verweis auf das Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 b) Subjektiver Mißstand und Mißtrauensaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 IV. Richterliche Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 1. Ex post Beurteilung und Verhaltensnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
2. Zulässigkeil richterlicher Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3. Berücksichtigung der Normgemäßheil in der Handlungssituation. . .. .. .... . . . 124 a) Irrtumsprivilegierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 b) Rechtsfortbildung durch obiter dieturn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 c) Die Trennung von Verhaltensnorm und Verhaltensunrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 128 aa) Normaussage als Anliegen der positiven Generalprävention . . . . . . . . . . 128 bb) Strafrechtswidrigkeit oder rechtsfreier Raum?.. . . . .. . . .. . .. . ....... . . 131 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
10
Inhaltsverzeichnis
C. Das Fehlen einer Verhaltensleitlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 I. Ungeregelte Lebensbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 l. Das Fehlen einer Handlungsleitlinie . . .. . . .. . . . .. .. . . .. . . .. . . . .. . . . . . .. . . . . . . 134 a) Völlig ungeregelte Lebensbereiche und Regelungslücken . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 b) Durch Dritte oder das Opfer selbst vermittelte Gefahrschaffung . . . . . . . . . . . 136 c) Verteidigungssituationen . . . .. . . . .. .. . .. . . . . .. . . . .. . . .. . . .. .. . . . . .. .. .. . . . 137 2. Beispiele aus der Rechtsprechung . . . .. . . . . . . . .. .. . . . .. . . .. . . .. .. .. . . .. . . .. . . . 138 a) Der Osnabriicker Sozialarbeiterinfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 aa) Garantenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 bb) Verhaltensnorm und Garantenpflicht .. . .. .. . .. . .. . . .. . . . . .. . .. .. . . . .. 139 cc) Der Parallelfall des OLG Stuttgart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Der Skipistenfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 c) Der Palisanfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3. Bildung abstrakter Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 a) Schünemann .. .. .. . . . . .. . .. .. . .. .. .. . .. . . . . .. . . .. .. . .. . . .. .. . .. . .. . .. .. . . 146 b) Frisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 aa) Die Grundlinien tatbestandliehen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 bb) Die Anwendung im Sozialarbeiterin-und Palisanfall . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 4. Ungeregelte Lebensbereiche im Verkehrskreiskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 a) Verhaltenserwartung im allgemeinen Verkehrskreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 b) Die Verhaltenserwartung des normalen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 II. Ein Verbot finaler Erfolgsherbeiführung ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
l. Individuelle Normtindung und finale Handlungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 2. Potentielle Finalität und finale Basishandlung .. . . . .. .. .. .. . .. .. . . .. .. . . . .. . . . 160 3. Kenntnis des Risikosyndroms................ .... ................... .. .. . .... 162 4. Individuelle Vermeidbarkeil der Tatbestandsverwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 a) Jakobs Vermeidbarkeilskonzept .. . .. .. .. . .. .. . .. .. . .. .. . .. .. . .. . .. .. .. . .. 164 b) Objektive Bestimmung der Verhaltensnorm . . .. . . . ........ .. .. .. .. . ....... 167 111. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
D. Ein Spielraum bei der Nornümdung . .. .. .. .. . . .. . . . .. .. . .. .. .. .. . .. .. . . . . .. .. .. . . 171 I. Konturierung eines strafrechtlichen Beurteilungsspielraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
l. Verwaltungsrecht .. . . . .. .. . . .. . . .. .. . .. .. . .. . . . .. .. . .. .. . .. .. . .. .. . .. . .. . .. . . 171
Inhaltsverzeichnis
11
2. Ein Beurteilungsspielraum im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 a) Übertragbarkeit der verwaltungsrechtlichen Kriterien auf das Strafrecht? . 174 b) Ein Individualspielraum in der strafrechtlichen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3. Vertretbarkeil des Täterverhaltens . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4. Ein individueller Beurteilungsspielraum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 a) Das Systemargument: Konfundierung von Unrecht und Schuld . . . . . . . . . . . 178 b) Individualisierung in der Sache nicht gerechtfertigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 II. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Abkürzungsverzeichnis a.A.
anderer Ansicht
AbfG
Gesetz über die Vermeidung und Entsorgung von Abfallen (Abfallgesetz) idF vom 27. 8. 1986
ab!. Abs.
ablehnend Absatz
a.E.
arnEnde
a.F.
alte Fassung
AK
Alternativkommentar
allg.
allgemein
AMG
Arzneimittelgesetz idF vom 11. 12. 1998, BGBI. I 3586, letztes ÄndG vom 26. 7. 1999, BGBI. I. 1666. Änderungsgesetz
ÄndG ARSP Art. AT
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (zit. nach Band und Seite) Artikel Allgemeiner Teil
AtG
AtomgesetzGesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz) idF vom 15. 7. 1985, BGBI. I 1565, letztes ÄndG vom 6. 4. 1998, BGBI. I 694
Auf!.
Auflage
AuslG
Ausländergesetz idF vom 9. 7. 1990, BGBI. I 1354; letztes ÄndG vom 15. 7. 1999, BGBI. I 1618
BayObLG BBG
Bayerisches Oberstes Landesgericht Bundesbeamtengesetz idF com 31. 3. 1999, BGBI. I 675
Bd.
Band Beratung
Ber. BGB
Bürgerliches Gesetzbuch vom 18. 8. 1896; RGBI.I95, letztes ÄndG vom 21. 7. 1999, BGBI. I, 1642
BGBI.I BGH
Bundesgesetzblatt Teil I Bundesgerichtshof BGH-Rechtsprechung in Strafsachen
BGHR BGHSt
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen
BGHZ
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen
BimSchG
Bundes-Immissionsschutzgesetz vom 14. 5. 1990, BGBI. I 880, letztes ÄndG vom 19. 10. 1998, BGBI. I 3179 Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege (Bundesnaturschutzgesetz) ifF vom 21. 9. 1998, BGBI. I 2995
BNatSchG
Abkürzungsverzeichnis
13
BT BVeifG
Besonderer Teil Bundesveifassungsgericht
BVeifGE BVeifGG
Entscheidungen des Bundesveifassungsgerichts Bundesveifassungsgerichtsgesetz idF vom 11. 8. 1993, BGBI. I 1473, letztes ÄndG vom 16. 7. 1998, BGBI. I 1823 Bundeszentralregistergesetz idF vom 21. 9. 1984 BGBI. I 1229, letztes ÄndG vom 17. 12. 1999, BGBI.I 2662
BZRG bzw.
beziehungsweise
ders. d.h.
derselben das heißt
DJT DÖV
Deutscher Juristentag Die öffentliche Verwaltung (zit. nach Jahr und Seite) folgende(r)
f. ff. Fn. FS GA GastG GG h.L. h.M. Hrsg. idF i.E. iSd JA JR JZ KJHG Krimi
folgende Fußnote Festschrift Goltdammer's Archiv für Strafrecht (zit. nach Band und Seite) Gaststättengesetz idF vom 10. 5. 1987, BGBI. I 1632 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. 5. 1949, BGBI. I 1; letztes ÄndG vom 29. 12. 1997, BGBI. I 3158 herrschende Lehre herrschende Meinung Herausgeber in der Fassung im Ergebnis im Sinnedes Juristische Arbeitsblätter (zit. nach Jahr und Seite) Juristische Rundschau (zit. nach Jahr und Seite) Juristenzeitung (zit. nach Jahr und Seite) Kinder- und Jugendhilfegesetz, Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts idF vom 8. 12. 1998, BGBI. I 3546. Kriminologisches Journal (zit. nach Jahr und Seite)
KrWG/AbfG
Gesetz zur Sicherung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Beseitigung von Abfällen (Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz) vom 27. 9. 1994, BGBI. I 2705, letztes ÄndG vom 25. 8. 1998, BGBI. 12455
LG Lit.
Landgericht Literatur
LK
Leipziger Kommentar Monatsschrift für deutsches Recht (zit. nach Jahr und Seite)
MDR mwN. NdsRpfl nF
mit weiteren Nachweisen Niedersächsischer Rechtspfleger (zit. nach Jahr und Seite) neue Fassung
Abkürzungsverzeichnis
14 NJW
Neue Juristische Wochenschrift (zit. nach Jahr und Seite)
NK
Nomos-Kommentar
NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht (zit. nach Jahr und Seite)
OLG
Oberlandesgericht
OVG
Oberverwaltungsgericht Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte (Produkthaftungsgesetz) idF vom 15. 12. 1989, BGBI. I 2198; letztes ÄndG vom 25. 10. 1994, BGBI. I 3082
ProdHaftG
Rn.
Randnummer
Rspr.
Rechtsprechung
s.
s.
siehe Seite oder Satz
SK
Systematischer Kommentar
sog.
sogenannt(e)
StGB
Strafgesetzbuch idF vom 13. 11. 1998, BGBI. I 3222, letztes ÄndG vom 11. 8. 1999, BGBI. I. 1818.
StPO
Strafprozeßordnung idF vom 7. 4. 1987, BGBI. I 1074, letztes ÄndG vom 20. 12. 1999, BGBI. I 2491.
StV
Strafverteidiger (zit. nach Jahr und Seite)
StVO
Straßenverkehrsordnung vom 16. 11. 1970, BGBI. I 1565, letzte Änderung vom 28. 4. 1998, BGBI. I 810.
Th.
Teilband
vgl.
vergleiche Verkehrsrechts-Sarnrnlung. Entscheidungen aus allen Gebieten des Verkehrsrechts (zit. nach Band und Seite)
VRS VwGO
Verwaltungsgerichtsordnung idF vom 19. 3. 1991, BGBI. I 686, letztes ÄndG vom 5. 10. 1994, BGBI. I 2911
VwVfG
Verwaltungsverfahrensgesetz idF vom 21. 9. 1998, BGBI. I 3050.
wistra
Zeitschrift für Wirtschaft, Steuer und Strafrecht (zit. nach Jahr und Seite)
z. B.
zum Beispiel
ZfRV
Zeitschrift für Rechtsvergleichung (zit. nach Jahr und Seite)
ZfS
Zeitschrift für Schadensrecht (zit. nach Jahr und Seite)
zit.
zitiert
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik (zit. nach Jahr und Seite)
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (zit. nach Band und Seite)
Einleitung ,,Es müssen Regeln existieren, die das Gemeinschaftsleben im Rahmen der Sorgfalt halten, die übermäßige Risiken für Rechtsgüter vermeidet: die 'im Verkehr erforderliche Sorgfalt'. Nach deren Erfahrungsregeln kann sich der einzelne auch dann richten, wenn er die Verursachungskette, die sein Handeln anstößt, nicht in alle Teilen überblickt. Aus diesem Bereich sind die Normen zu entwickeln, denen fahrlässiges Verhalten widerspricht. Das Verbot betrifft nur die vorsätzliche Rechtsgüterverletzung oder -gefährdung, oder auch ein Handeln, das abstrakt gefährdet. Für die 'Fahrlässigkeitsnormen' ist daraus allein nichts zu entnehmen, es sei denn eine allgerneine unbestimmte und deshalb unbrauchbare Formel" 1.
Das Strafgesetzbuch benennt die fahrlässige Erfolgsverursachung als Tatbestand, verliert aber kein Wort darüber, welche Verhaltensweisen im einzelnen als fahrlässig eingestuft werden können. Nun könnte es mit diesem Befund sein Bewenden haben, wenn das Strafrecht lediglich den Rechtsanwender anwiese, eine objektiv vorgegebene Bewertung des Täterverhaltens zu erkennen und mit der adäquaten Rechtsfolge zu verknüpfen. Begreift man aber mit Perron das Recht als ein menschliches Zusammenleben regelndes Kulturphänomen, dann hat die Strafe auch eine ordnende Aufgabe im Hinblick auf das zukünftige Verhalten der Gesellschaftsglieder zu erfüllen. 2 Diese gestaltende Funktion des Rechts erscheint aus Sicht der Gemeinschaft als Verhaltenserwartung an das Individuum; sie nimmt das Recht umgekehrt in die Pflicht, dem Individuum im Hinblick auf das erwartete soziale Verhalten bestimmte Orientierungsmuster bereitzustellen. Das Recht bedient sich des Mediums seiner Normen, um seinen sozialgestaltenden Einfluß auszuüben. Der Begriff der Norm bildet daher den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung, er erfährt seine Konturen im Lichte der Funktionsaspekte Verhaltensleitung und Orientierungstauglichkeit Seine Wurzeln findet er nicht zuletzt in Bindings Normentheorie3 und deren kritischer Überarbeitung durch Arrnin Kaufmann.4 Die Fahrlässigkeit, insbesondere das fahrlässige Erfolgsdelikt, stellte für die Normentheorie stets einen gewissen Problernfall dar. Die von Arrnin Kaufmann Arrnin Kaufmann, Normentheorie, S. 120. Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 22. 3 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. I 3. Auflage 1916, Bd. II 2. Auflage 1914-1916, Bd. III 1918, Bd. IV 1919. 4 Arrnin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, Göttingen 1954. I
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Einleitung
beschriebenen Regeln, die das Gemeinschaftsleben im Rahmen der Sorgfalt halten, lassen sich nämlich nicht nur nicht aus dem gesetzlichen Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts ableiten, sondern auch nicht über das Verbot der Verwirklichung eines erfolgsgerichteten Tatentschlusses entwickeln. In Rechtsprechung und Rechtslehre sind seit den Urspriingen der Strafrechtswissenschaft mannigfaltige Kriterien eines Maßstabs fahrlässiger Erfolgsverursachung entwickelt worden. Wenn im Ergebnis die Aufforderung an das Individuum ergeht, erkennbare oder voraussehbare Erfolge zu vermeiden, so liegt darin wenig mehr als eine allgemeine Formel, die ob ihrer Unbestimmtheit weder in der Theorie noch in der Praxis zufriedenstellt Auch deren Präzisierung durch einen Vergleich mit dem Leitbild des einsichtigen und besonnenen Angehörigen des jeweiligen Verkehrskreises 5 stellt selbst kein Orientierungsmuster zur Verfügung, sondern verweist lediglich auf solche Regeln, die im Rahmen des jeweiligen Verkehrskreises bereits gültig sind. In der Sache ist man sich in Rechtsprechung und Literatur weitgehend einig, daß die vom Handelnden erwartete Sorgfalt über den Begriff der Voraussehbarkeit oder Erkennbarkeit der Erfolgsverwirklichung zu definieren ist. Unter dem Eindruck der finalen Handlungslehre konzentrierte sich die Diskussion auf die Frage, ob für den Tater der konkrete Erfolg individuell erkennbar sein muß oder ob objektive Erkennbarkeit ausreicht. 6 Mit den Arbeiten von Karninski7 und Castaldo8 sind in den letzten Jahren zwei umfassende Darstellungen dieses Streits vorgelegt worden, die auch im Ergebnis die konträren Positionen noch einmal verdeutlichen. Das normative Problem tatbestandliehen Verhaltens findet dabei allerdings kaum Beachtung, obwohl Frischs grundlegende Arbeit bereits Ende der achtziger Jahre den Paradigmenwechsel von der Erkennbarkeil allein der Erfolgsmöglichkeit zur ex ante-Bestimmung der Verhaltensnorm vorbereitet hatte. 9 Die vorliegende Arbeit widmet sich daher zunächst den strukturellen und inhaltlichen Vorgaben, denen die Fahrlässigkeitsnorm im Lichte einer gesellschaftlichen Verhaltenserwartung und im Hinblick auf ihre Orientierungsfunktion unterworfen ist (Abschnitt A.). Erst auf dieser Basis kann sich die Untersuchung der Eingrenzung normativer Unbestimmtheit der Fahrlässigkeitsnorm annehmen (Abschnitt B.). Außerhalb des Strafrechts hält die Rechtsordnung eine Fülle detaillierter Normen und Wertungen bereit, die im Rahmen ihres Schutzbereichs die Orientierungsfunktion übernehmen können. Indem sich die herrschende Indizientheorie 10 aber darauf beschränkt, das beziehungslose Nebeneinander abstrakter Normen und des fahrlässigen ErfolgsdeSo die h.M.; vgl. Welzel, Strafrecht, S. 132; Kaminski, S. 135 ff.; vgl. unten A. III.l. a)). Vgl. die Darstellung bei Struensee, JZ 1987, S. 53 ff. und unten im Text. 7 Der objektive Maßstab im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts, passim. s Non intellegere, quod omnes intellegunt, passim; ders., GA 1993, S. 495 ff. 9 Frisch, Verhalten, passim. w BGHSt 4, S. 182 ff.; 12, S. 75 ff.; LK-Schroeder, § 16 Rn. 163; Bohnert, JR 1982, S. 7. Vgl. aber auch die Anerkennung verkehrsrichtigen Verhaltens durch BGHZ 24, S. 21 ff., S. 26; BGHSt 6, S. 30 ff., S. 33; 11, S. 296 ff., S. 298; 13, S. 169 ff., S. 172. 5
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Einleitung
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likts zu betonen, versäumt sie, vorhandene Überschneidungen herauszuarbeiten. Der enorme Zuwachs an Rechtssicherheit, den Frischs Analyse tatbestandliehen Verhaltens hier bereits geschaffen hat, ist in der neueren strafrechtlichen Literatur noch nicht hinlänglich erkannt worden. 11 Dies mag nicht zuletzt daran liegen, daß Frisch seine klaren Strukturen letztlich doch unter das oberste Prinzip der "Angemessenheit, Eignung und Erforderlichkeit des Einsatzes von Strafe" 12 stellt und damit wieder den von der herrschenden Meinung favorisierten Einzelfallkorrekturen Tür und Tor öffnet. Eine ähnliche Bedeutung wie abstrakten Geflihrdungsverboten kommt im Prinzip auch behördlichen Einzelfallentscheidungen und anderen, nicht hoheitlich legitimierten gesellschaftlichen Richtlinien zu. Es ist Kuhlens Verdienst, in seiner Arbeit über strafrechtliche Produkthaftung bereits die damit verbundene Infragestellung strafrichterlicher Letztentscheidungskompetenz angesprochen zu haben. 13 Andererseits erfassen diese vorgefundenen Normen bzw. Wertungen nicht hinlänglich alle denkbaren Handlungssituationen. Selbst wenn ex ante keine bestimmte normierte Verhaltenserwartung existierte, ist nicht schlichtweg jede Erfolgsverursachung bereits tatbestandsmäßig. Die Fahrlässigkeitsnorm toleriert vielmehr auch in ungeregelten Lebensbereichen eine gewisse Risikoschaffung. Es zeigt sich, daß damit hinsichtlich der maßgeblichen Grenzlinie zwischen Tolerierung und Mißbilligung keine orientierunggebende normative Aussage vorliegt (Abschnitt C.). Die Rechtsprechung zögert nun nicht, nachträglich ganz bestimmte ,Sorgfaltspflichten' zu konstruieren, die zum Handlungszeitpunkt weder formuliert noch erkennbar waren. Solche (meist obergerichtlichen) Entscheidungen auch jüngeren Datums 14 überzeugen ebensowenig wie Versuche in der Literatur, durch die Bildung abstrakter Fallgruppen Handlungssituationen und die zugehörigen Verhaltenserwartungen zu typisieren. Das Recht kann nicht alle denkbaren Handlungssituationen vorwegnehmen; es muß beriicksichtigen, daß dem Handelnden selbst die Normfindungsleistung abverlangt wird. In einer Parallele zum Verbot vorsätzlicher Schädigung läßt sich ein Verbot finaler Erfolgsherbeiführung als Verhaltensnorm andenken. Bislang ist es der Wissenschaft aber nicht gelungen, das Spannungsverhältnis zwischen finaler Handlungslehre und unbewußter Fahrlässigkeit zu lösen, es sei denn, wie am Beispiel von Jakobs' Konzept gezeigt werden wird, wieder auf Kosten der Bestimmtheit der Norm. Wenn aber keine bestimmte Norm existiert, wie läßt sich dem Handelnden dann normwidriges Verhalten vorwerfen?
11 Obwohl Frischs Begriffsschöpfungen inzwischen bereits als ,,herrschend" bezeichnet werden. Vgl. dazu Burkhardt, Tatbestandliebes Verhalten und ex-ante-Betrachtung, S. 99. 12 Frisch, Verhalten, S. 86. 13 Kuhlen, Produkthaftung, passim. 14 Vgl. etwa BGHSt 40, S. 79 ff., S. 84 ff. (Falisan I und Il); OLG Köln NJW 1997, S. 2190 ff. (Busfahrer); OLG Oldenburg NStZ 1997, S. 238 (Sozialarbeiterin); OLG Stuttgart NJW 1998, S. 3131 ff. (Sozialarbeiter); OLG Stuttgart NJW 1997, S. 3103 ff. (Suizidalität); AG Dachau NStZ 1996, S. 546 (Schlacke).
2 Mikus
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Einleitung
Ein Blick auf das Verwaltungsrecht soll den Ausweg aus dem Dilemma weisen. In seinem theoretischen Ansatz könnte das Institut eines gerichtlich nicht überprüfbaren Beurteilungsspielraums ein Vorbild für die Verhaltensnormbestimmung in ungeregelten Lebensbereichen sein. Der Versuch, diesen Ansatz auf das Strafrecht zu übertragen (Abschnitt D) führt zu einer Relativierung des Begriffes der Pflichtwidrigkeit und einer Beurteilung des Täterverhaltens an Verwerflichkeitskriterien. Es soll aufgezeigt werden, daß sich auch ein solcher ,Beurteilungsspielraum des Fahrlässigkeitstäters' in das vorhandene (deutsche) Normensystem einfügen läßt.
A. Der Begriff der Verhaltensnorm I. Das Strafrecht als normative Verhaltenskontrolle 1. Die Norm als Orientierungsmuster für sozialen Kontakt
Jakobs rückt die Verhaltensnorm in den Mittelpunkt seiner Strafrechtskonzeption: Aufgabe staatlichen Strafens sei Erhaltung der Norm als Orientierungsmuster für sozialen Kontakt 1. Strafe setze eine "Enttäuschung"2 der Verhaltenserwartung, die von der Norm ausgeht, voraus. Ihr Inhalt sei ein auf Kosten des Normbrechers erfolgender Widerspruch gegen die Desavouierung der(jenigen) Norm, die Kriterium rechtlich richtigen Verhaltens ist. Dieser auf der Theorie der positiven Generalprävention aufbauende Ansatz formuliert prägnant, was heute nicht nur für die präventiven, sondern auch für die absoluten Straftheorien im wesentlichen anerkannt ist: Das Strafrecht beinhaltet ein System normativer Verhaltenskontrolle. 3 • 4 Menschliches Verhalten wird anhand normativer Muster beurteilt, die damit ihrerseits menschlichem Verhalten, zur Vermeidung eines strafrechtlichen Vorwurfs, Orientierung ermöglichen sollen. Diese Orientierungsmuster stellen die Verhaltensnormen5 dar. Frisch zeigt, daß dieses Bild der Rechtsordnung als einer auf richtiges Verhalten ausgerichteten Verhaltensordnung, das auch der vorliegenden Arbeit zugrundeliegt, den strafrechtlichen Unrechtsbegriff zwangsläufig prägt: "Unrecht, als Unrecht einer Person verstanden, ist in diesem Sinn erst einmal Abfall der Person von den Verhaltensnormen, Zuwiderhandlung gegen die Verbotsund Gebotsnormen der Rechtsordnung, kurz: Verhaltensunrecht"6 . Jakobs, Strafrecht AT, 1/11. Jakobs, Strafrecht AT, 1/4. 3 Zum Begriffvgl. Seebaß, Jahrbuch für Recht und Ethik 1994/II, S. 375. Normative Verhaltenskontrolle ist nicht auf strafrechtliche Mittel begrenzt. So kann die informelle moralische Ächtung des Rauchens arn Arbeitsplatz durch die Belegschaft ebenso effektiv sein wie eine Vorschrift des Arbeitgebers oder ein Bundesgesetz. Im Grunde setze Vebindlichkeit einer Norm Sanktionierung noch nicht einmal notwendig voraus, wie Teile des Zivilrechts und der Alltagsmoral belegten. Zur Theorie der positiven Generalprävention grundlegend Luhmann, Rechtssoziologie I, S. 40 ff., S. 53 ff. und passim. Luhmann differenziert weitergehend zwischen den Funktionen der Erwartungssicherung und der Verhaltenssteuerung, denen er die zeitlichen Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft zuweist. Vgl. dazu Luhmann, ARSP-Beiheft N.F.8 (1974), S. 31 ff. 4 Auch nach den absoluten Straftheorien haben Strafrecht und Strafe eine Aufgabe im Hinblick auf das zukünftige Verhalten der Gesellschaftsglieder zu erfüllen. Siehe dazu Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 22 und S. 24 ff. 5 Zum Begriff vgl. Frisch, Verhalten, S. 71 f. I
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A. Der Begriff der Verhaltensnorm
Inwieweit mit dem Orientierungsaspekt in der Rechtswirklichkeit auch tatsächlich normative Verhaltenskontrolle einhergeht, ist eine in der Rechtssoziologie nicht ganz unumstrittene Frage.7 In bestimmten Bereichen des Strafrechts kann die verhaltensleitende Funktion der Strafrechtsnorm sicher vernachlässigt werden, oder ist sogar völlig auszuschließen. Ohne Frage ist es nicht der positive Normbestand des Rechts, der verantwortlich dafür zeichnet, daß die überwältigende Mehrheit der Menschen nicht permanent Morde oder andere Gewaltverbrechen begeht. Die Dinge liegen aber fundamental anders in Lebensbereichen wie dem Straßenverkehrs- oder Arztrecht, in denen fahrlässige Erfolgsverursachung eine große Rolle spielt: Potentielle "Tater" orientieren sich in der Tat an den vorhandenen Regeln, indem sie (bekannte) normative Aussagen auf (erkannte) Lebenssituationen anwenden. Sie informieren sich ex ante darüber, welche Risikoschaffungen verboten sind und legen in der konkreten Handlungssituation Wert darauf, die von ihnen erwartete Sorgfalt auch auszuüben, um nicht gewollte Erfolge zu vermeiden. 8 Entsprechende Information ist auch erforderlich, da die feinen Differenzierungen zwischen erlaubten und unerlaubten Risiken in einer pluralistischen Gesellschaft nicht stets einem Fundus generell geteilter Gerechtigkeitsüberzeugungen entnommen werden können. Das Orientierungsproblem ist hier - in der Tat - soziologische Realität. a) Verhaltensnorm und Sanktionsnorm
Binding, der Vater strafrechtlicher Normentheorie, argumentiert, die Normen seien nicht mit dem Strafgesetz identisch, sondern als unmittelbar geltende Imperative von dessen Existenz grundsätzlich unabhängig: Der Tater könne dem Strafgesetz nicht zuwiderhandeln, sondern er erfülle vielmehr dessen Tatbestand. Die Norm mache daher nicht einen untergeordneten Teil des Strafgesetzes aus, sondern bilde neben diesem einen selbständigen ,,Satz des ungesetzten Rechts"9 . Bindings Normbegriff erlaßt damit allein die an den handelnden Bürger gerichtete Verhaltenserwartung. Er wird in dieser Restriktion von der heutigen Strafrechtsdogmatik 6
Frisch, Verhalten, S. 24.
Zur negativen Beurteilung der Wirkungsmöglichkeiten positiver Generalprävention vgl. Hasserner, Hauptproblerne der Generalprävention, S. 42 ff und Perron, Rechtfertigung und EntschuldigungS. 25 f. rnwN. Nicht ermutigend zeigt sich auch die empirische Untersuchung von Schurnann, Positive Generalprävention, passim. Positiver dagegen Schöch, Jescheck-FS II, S. 1103 f. s Eine eingehende kriminologische Auseinandersetzung mit generalpräventiven Wirkungsrnechanisrnen der Strafe würde den Umfang der vorliegenden Arbeit sprengen. Hinzu kommt, daß die wissenschaftliche Diskussion den Fahrlässigkeitsbereich recht stiefmütterlich behandelt. Schurnanns empirische Untersuchung ist insoweit nur von begrenzter Aussagekraft, zielt sie doch vor allem auf den Umgang Jugendlicher und Heranwachsender mit Betäubungsmittel-, Eigentums- und ähnlichen Delikten. Ebenso Berlitz I Guth I Kaulitzki I Schurnann, Grenzen der Genera!prävention, KrirnJ 19 (1987), S . 13 ff. 9 Binding, Normen I, S. 3 f. Vgl. auch ders., Normen I, S. 156 f. 7
I. Das Strafrecht als normative Verhaltenskontrolle
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nicht mehr geteilt: Auch die Strafgesetze des Besonderen Teils des StGB enthalten als Rechtssätze Normen. Als "Sanktionsnormen" 10 bestimmen sie auf ihrer Tatbestandsseite die Voraussetzungen für den Eintritt der auf der Rechtsfolgenseite genannten Sanktion (Strafe). Sie stellen somit primär Anweisungen an den Rechtsanwender dar, Strafe zu verhängen, falls einer bestimmten Person die Verletzung einer Verhaltensnorm vorzuwerfen ist (und auch im übrigen die Strafbarkeitsvoraussetzungen vorliegen). Aber Bindings "Gesetz, welches der Verbrecher übertritt", geht begrifflich und (regelmäßig aber nicht notwendig) auch zeitlich dem "Gesetz, welches die Art und Weise der Verurteilung anordnet", voraus. 11 Sanktionsnorm und Verhaltensnorm stehen mithin nicht beziehungslos nebeneinander. Die Sanktionsnorm knüpft vielmehr sprachlich und logisch an die Verletzung einer ganz bestimmten Verhaltensnorm an.
b) Bestimmungs- und Bewertungsfunktion der Norm
Der Verhaltensnorm kommt eine Bewertungs- und eine Bestimmungsfunktion zuY Zum einen bewertet sie bestimmte Verhaltenmuster als gebots- oder verbotswidrig, zum anderen ist die Norm, in der Formulierung von Armin Kaufmann, die Denkform der Gebundenheit von Menschen 13 ; sie gebietet insoweit, bestimmte Verhaltensmuster auszuführen oder zu unterlassen. Diese Bestimmungsfunktion 14 folgt normtheoretisch aus dem allgemeinen Grundsatz optimaler Normverwirklichung15 und positivrechtlich aus der an die Normübertretung geknüpften Strafdrohung. Im Sinne einer positiven Generalprävention ist gesellschaftliches Anliegen der Strafe die Garantie bestimmter Verhaltensnormen, damit sich auch andere Verkehrskreisteilnehmer auf deren Geltung verlassen können. Diesem Anliegen genügt es nicht, dem Täter die Verletzung gegen Iokaufnahme eines Nachteils freizustellen oder ihm gar zuzugestehen, sich durch Abschluß einer Versicherung für strafrechtsrelevante Verhaltensweisen des Haftungsrisikos zu entledigen. Mit der IO Zum Begriff der Sanktionsnorm vgl. Frisch, Verhalten, S. 82, S. 541 f Fn. 127; Kindhäuser, Gefährdung, S. 13. Inhaltsgleich Hoyers Begriff der Strafnorm, vgl. Hoyer, Normentheorie, S. 72 und passim. 11 Binding, Normen I, S. 4. 12 Ebenso Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 30 f.; speziell zur Bestimmungsfunktion ders., S. 33. 13 Arrnin Kaufmann, Normentheorie, S. 124. 14 Zum Begriff der Bestimmungsnorm Schönke/Schröder /Lenckner, vor§§ 13 ff, Rn. 49; Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 74 ff, S. 349 ff. Zur Unterscheidung von Bestimmungs- und Bewertungsnorm grundlegend Mezger, GS 89 (1924), S. 207 ff, S. 241; ders., Strafrecht, S. 193 ff, S. 241. Mezger unterscheidet zwei separate Normen, die Bestimmungs- und die Bewertungsnorm. Die Kreierung eigenständiger Normkategorien beinhaltet aber nicht mehr als einen terminologischen Unterschied zur hier dargestellten Konzeption. 15 Kratzsch, Verhaltenssteuerung, S. 154; vgl. auch Luhmann, ARSP Beiheft N.F.8 (1974), S.31ff.
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A. Der Begriff der Verhaltensnorm
Bestimmungsfunktion unvereinbar wäre es daher, in der Strafe im umgangssprachlichen Sinne den "Preis" zu sehen, zu dem dem Individuum die Wahl güterbeeinträchtigenden Verhaltens normativ angeboten wird, 16 denn im Gegensatz zum (zivilrechtlichen) Schadensersatz ist nicht "pricing", sondern "prohibiting" Zweck des Strafrechts. 17 Kurzum: Das Strafrecht stellt es dem Bürger nicht frei, Verhaltensnormen unter Inkaufnahme der Strafe zu übertreten, sondern es verlangt Normbefolgung. Wegen ihres Verbotscharakters verhält sich Strafe -als gewillkürte Übelszufügung- auch bewußt nicht im Rahmen des Kompensationsgedankens; sie findet ihre Schranken allein im grundgesetzliehen Verhältnismäßigkeitsprinzip. 18 Der Bestimmungsfunktion wird allein durch Bestrafung aber auch dann nicht genügt, wenn man durch den in der Strafe liegenden "Widerspruch" die Desavouierung der Norm als kompensiert ansieht. 19 Die Norm muß vielmehr bereits ex ante vor ihrer Desavouierung warnen; sie ist gehalten, eine positive Aussage darüber zu machen, welcherart Verhalten geboten oder verboten ist. An der Bestimmungsfunktion ist daher auch das Bestimmtheitserfordernis der Verhaltensnorm auszurichten. Die Bestimmung, bestimmtes Verhalten zu zeigen oder zu unterlassen, geht einher mit der negativen Bewertung des komplementären Seinsgeschehens. Die Norm bringt insofern gleichzeitig eine Erwartung und eine (gegenständlich übereinstimmende20) Bewertung zum Ausdruck. Binding schreibt, jede Norm enthalte eine "Erklärung dahin, daß das in der Norm Verbotene der Rechtsordnung unerträglich, das in ihr Gebotene unentbehrlich ist" 21 . Diese Bewertung sei "begriffliche Voraussetzung jedes Normerlasses und zugleich ihr einziges Motiv"22. Armin Kaufmann hat auf der Basis der Bindingsehen Bewertungslehre sein dreistufiges Modell des Zusammenhangs zwischen Norm und Werturteil entwickelt. 23 Die erste Wer16 So aber Hoyer, der auf eine "Pflichtnorm" (= Verhaltensnorm) verzichtet und im strafrechtlichen Tatbestand allein eine normierte Präferenzrelation sieht. Vgl. Hoyer, Normentheorie, S. 58 ff, S. 72, S. 138, S. 391 , S. 397 und passim. 17 Warren F. Schwartz, Objective and Subjective Standards of Negligence: Defining the Reasonable Person to Induce Optimal Care and Optimal Populations of Injurers and Victims, 78 Georgetown Law Journal (1989), S. 241 ff; Zum Verhältnis von Schadensersatz und Strafe vgl. J.Schmidt, Schadensersatz und Strafe, S. 41 ff und passim. 18 Andernfalls wären nicht nur die Bestrafung bei Versuch und Gefährdung nicht legitimierbar, sondern auch 'Preisaufschläge' wie etwa beamtenrechtliche Konsequenzen sinnlos und gleichheitswidrig. 19 Jakobs, Strafrecht AT, 1 I 4. Vgl. auch Kindhäuser, Gefährdung, S. 157: Rationale Strafe habe den Geltungsverlust der Norm durch Nachteilszufügung zu kompensieren und zugleich den in der Straftat zum Ausdruck gekommenen Mangel an Gerechtigkeitssinn zu tadeln. 20 Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 91. Ebenso Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 32 f, der weitergehend zwischen den Begriffen "Rechtsgut" und "Tatobjekt" differenziert. 21 Binding, Normen IV, S. 363. 22 Binding, Normen II, S. 155 f; Abhandlungen I, S. 137. 23 Armin Kaufmann, Bindings Normentheorie, S. 69 ff.
I. Das Strafrecht als normative Verhaltenskontrolle
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tung sei stets positiv, sie betreffe bzw. schaffe die sogenannten Rechtsgüter; ihre Summe konstituiert Welzels soziale Ordnung. 24 Auf die ersten, immer positiven Werturteile folgten mit sachlicher Notwendigkeit entsprechende Wertungen des Geschehens: Jedes "Ereignis", das ein Rechtsgut verletzt, unterliege einem negativen Werturteil. Bereits in der unerwünschten Verletzung oder Gefährdung des Rechtsgutes liege der Unwert. 25 Aus den Ereignissen der zweiten Stufe filtert er diejenigen heraus, die Menschenwerk sind: Die Wertung beziehe den Menschen in ihren Gegenstand ein, sein (finales) Werk stelle "personales Unrecht"26 dar. Nun sei es die Eigenart gerade jener Werturteile der dritten Stufe, daß sie sich auf solches den Subjekten mögliches Tun oder Nichttun bezieht - so daß der Gegenstand des Werturteils auf der dritten Stufe gleichzeitig Gegenstand der Verhaltensnorm wird. Das Bewertungsmodell beleuchtet den Zusammenhang zwischen Bewertungs- und Bestimmungsfunktion der strafrechtlichen Norm; es zeigt, daß der strafrechtlichen Norm eine eigene (meist: negative) Wertung zugrundeliegt, die ihrerseits erlaubt, bestimmtes Verhalten mit sozialethischem Tadel zu überziehen. 27
c) Verhaltens- und Erfolgsunwert
In dem Verstoß gegen die (zur Pflicht konkretisierte) Verhaltensnorm liegt die personale Komponente des Unrechts, der Verhaltensunwert oder, begrifflich auf Deliktsbegehung durch positives Tun konzentriert, der Handlungsunwert.28 Der Unwertgehalt der Erfolgsdelikte konstituiert sich nun nicht allein aus dem Handlungsunwert, sondern verlangt dariiber hinaus die "Verwirklichung" der Handlung in einem "Erfolg", der als solcher ebenfalls negativ bewertet sein muß; die ErfolgsZum Begriff Welzel, Strafrecht, S. 4. Ebenso Binding, Normen I, S. 356. Das negative Ereignis vermag zwar nicht strafrechtsrelevantes Unrecht, wohl aber zum Schutz des gefahrdeten Rechtsguts bestimmte EiDgriffsbefugnisse (z. B. im Sinne eines Notstandes) zu begriinden. Dies verkennt Vogels Kritik an Armin Kaufmann: Die Rechtsordnung bewertet mitunter tatsächlich auch solche Gefahrdungen als rechtswidrig, die durch Naturereignisse ausgelöst werden. Vgl. Vogel, Norm und Pflicht, S. 44. 26 Zu der am klarsten von Welzel entwickelten Lehre vom personalen Unrecht vgl. dessen Ausführungen: ZStW 51 (1931), S. 718 ff; ZStW 58 (1939), S. 504 ff; Strafrecht, S. 1 ff und S. 48 ff; Das neue Bild, S. 23 ff. 27 Neben der Sache daher die Kritik Kindhäusers, Kaufmanns Modell erkläre nicht, warum nicht alle, sondern nur bestimmte Güter der sozialen Ordnung geschützt sind. Hier handelt es sich nicht um eine Frage der Normstruktur, sondern der gesellschaftlichen Auswahlprozesse. Vgl. Kindhäuser, Gefahrdung, S. 148. 28 Vgl. nur Schönke/Schröder/Lenckner, vor §§ 13 ff, Rn. 54: Entgegen der finalen Handlungslehre gibt der Handlungsbegriff selbst für diese Frage nichts her. Zur im Grundsätzlichen von der h.M. weithin übernommenen personalen Unrechtslehre vgl. Schönke/ Schröder/Lenckner, vor§§ 13 ff, Rn. 52 mwN. In der Handlungssituation ist die Pflichtverletzung gleichzeitig die Normverletzung; vgl. dazu Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 140 und unten I. 2. a)). 24 25
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A. Der Begriff der Verhaltensnorm
verwirklichungsteht als Erfolgsunwert (oder auch: Sachverhaltsunwert) dem Verhaltensunwert gegenüber. Unrichtig wäre, lediglich der Erfolgsverwirklichung eine objektive Wertaussage zuzugestehen, 29 verweigerte man damit doch konkludent bereits dem Begriff des Verhaltensunrechts die Existenzberechtigung. Eine wertneutrale Norm könnte keine inhaltlich fixierte Verhaltenserwartung aufstellen und wäre daher als Bestimmungsnorm nutzlos. Der Begriff des Erfolgsunrechts umfaßt damit nicht die negative Bewertung des Verhaltens, sondern setzt sie voraus?0 Die Begriffsinhalte von Handlungs- und Erfolgsunwert sind in der strafrechtlichen Literatur noch sehr umstritten. Nach Auffassung der "monistisch-subjektiven Unrechtslehre"31 erschöpft sich der Handlungsunwert im lntentionsunwert, d. h. dem Umsetzen einer auf die Herbeiführung des Erfolgsunwerts gerichteten Intention; für andere kommt, im Sinne eines "objektiv-subjektiven Handlungsunrechts"32 auch ein "Objektivierungsunwert"33 dazu, der mitunter sogar die Handlung samt dem eingetretenen Erfolg umfassen soll.34 Eine eigenständige Bedeutung haben Handlungs- und Erfolgsunwert aber nur, wenn der erstere auf die Umstände beschränkt wird, die den Verstoß gegen die einem bestimmten Deliktstyp zugrundeliegende Verhaltensnorm ausmachen. Nur die eigenständige Bewertung bereits des Verstoßes gegen die Verhaltensnorm läßt eine Abschichtung der Verhaltensleitlinie von den Kriterien der Erfolgsverwirklichung zu und bietet damit bereits im Rahmen der Begriffsbildung das Orientierungsmuster. Der Differenzierung zwischen Handlungs- und Erfolgsunwert entspricht kategorial die Gegenüberstellung von Normwidrigkeit und (objektiver) Zurechnung des Erfolges. Die Zurechnung eines Seinsgeschehens zu einem bestimmten Personenverhalten erfolgt nicht bereits bei Erwartungsverletzung, sondern erst dann, wenn diese nach materialer Wertentscheidung der gesamten Rechtsordnung auch bestraft werden soll.35 Wahrend die Stufe der Normwidrigkeit das Verhalten aus der Sicht des Täters beurteilt, bezieht die Zurechnung des Erfolges auch die Opferperspektive mit ein. 36 Frisch schreibt, der Erfolgseintritt stütze das (Erfolgs-) Unwerturteil nur dann, wenn er das Bedürfnis nach dem Einsatz von Strafe beeinflußt. Wisse man dagegen bei ex post-Betrachtungdes Geschehens, daß der eingetretene Erfolg 29 So aber Spende!, Bockelmann-FS, S. 251 f.; Vogel, Norm und Pflicht, S. 45 mwN. (Fn. 100). 30 Begriffe wie "Pflichtwidrigkeitszusarrunenhang" und ,,rechtmäßiges Alternativverhalten" weisen insofern bereits selbst den Weg ihrer richtigen Einordnung. 31 Vgl. nur Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, S. 78 ff; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 125 ff, S. 205 ff; zusarrunenfassend Schönke/ Sehröder I Lenckner, vor §§ 13 ff, Rn. 59 mwN. 32 dazu Wolter, Zurechnung, S. 25 f, S. 49 fund passim; ders., GA 1991, S. 531 ff. 33 Jakobs, Studien, S. 167. 34 Hirsch, ZStW 94 (1982), S. 240 ff; vgl. auch Schönke/ Sehröder I Lenckner, vor§§ 13 ff, Rn. 56. 35 vgl. dazu Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 21 f. 36 vgl. dazu Krümpelmann, Bockelmann-FS, S. 443 ff.
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eben doch nicht auf das tatbestandsmäßige Verhalten zurückzuführen und deshalb nicht als dessen Realisierung begreitbar ist, so tauge der Erfolg zur sinnfälligen Demonstration des Täterhandeins ebensowenig wie zur Auslösung einer gerade dem unwertigen Täterhandeln zuschreibbaren weiteren Rechtsfriedensstörung. 37 Das Anliegen der Kategorien der Erfolgszurechnung fußt auf der Überlegung, daß auch eine Verletzung der Verhaltensnorm nicht unbesehen, im Sinne eines versari in re illicita38 , zur Erklärung aller nach der Bedingungstheorie darauf zurückführbaren Erfolge herangezogen werden kann. 39 Es ist damit ein negatives Anliegen, da die Haftung für bereits normwidrigen Verhaltens eingrenzend. Umgekehrt ist den Kriterien der ,objektiven Zurechnung des Erfolges' gemeinsam, daß sie die Motivation des Handelnden nicht mehr beeinflussen.40 Gleiches gilt für eine Kategorie der ,subjektiven' Zurechnung. Sofern diese im Fahrlässigkeitsbereich überhaupt Anwendung findet, 41 verlangt sie, daß sich die individuelle Voraussehbarkeit nicht nur auf den Erfolg, sondern auch auf die wesentlichen Stationen des Kausalverlaufs erstreckt. Eine Abweichung des tatsächlichen vom vorgestellten oder vorstellbaren Kausalverlauf läßt die Verhaltensnoemwidrigkeit unberührt, ja setzt normwidriges Verhalten in gleichem Maße voraus wie eine Diskussion der objektiven Zurechnung. 42 Das Erfordernis eines dem Verhalten zurechenbaren Erfolges steht nach alldem außerhalb der Verhaltensnorm: Es bildet ein eigenständiges Erfordernis der Sanktionsnorm, das neben die Verletzung der Verhaltensnorm tritt. Verhaltensnormverletzung und Erfolgszurechnung sind damit letztlich selbständig nebeneinanderstehende Merkmale des Sanktionstatbestandes. 43 2. Die Struktur der Verhaltensnorm a) Verhaltensnorm und Verhaltenspflicht
Als "abstrakte Denkform der Gebundenheit" im Sinne Armin Kaufmanns richtet sich die Verhaltensnorm an jeden, der irgendwann und irgendwo als Teilnehmer des Aktes in Frage kommt, den sie verbietet oder gebietet. 44 Normen erfassen die konkrete Lebenswirklichkeit durch Typenbildung, indem sie an abstrakte Situationsmerkmale anknüpfen. 45 Die Verhaltensnorm variiert somit in Abhängigkeit von 37
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Frisch, Verhalten, S. 519. Vgl. zur Lehre vom versari in re illicita Bo1dt, ZStW 55 (1936), S. 46 f. Zum Erklärungsgedanken vgl. Jakobs, Strafrecht AT, 7/78. Vgl. Frisch, Verhalten, S. 25. Zu den Kriterien der Rechtsprechung vgl. LK-Schroeder, § 16 Rn. 19 ff, Rn. 23.
Ebenso Frisch, Verhalten, S. 636 mwN. Vgl. Frisch, Verhalten, S. 510; Frisch, Vorsatz und Risiko, S. 57. 44 Soweit unbestritten; vgl. Arrnin Kaufmann, Normentheorie, S. 124 f. 45 Ebenso Krümpelmann, Bockelman-FS, S. 446, der die Genese der Norm durch Vertypung der Verhaltenspflicht zu Regel und Norm beschreibt. 42 43
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A. Der Begriff der Verhaltensnorm
denjenigen äußeren und inneren Tatsachen, die sie selbst als relevante Merkmale einer Handlungssituation definiert. Auch konkretisierende Bedingungen und Einschränkungen sind zulässig.46 Beide Verbote ,Ein neu hergestelltes Medikament ist erst nach Anerkennung durch eine Ethikkommission auf den Markt zu bringen',
und ,An der X-Kreuzung haben Fahrer eines PKW der Marke Y anzuhalten, sofern sie in die Z-Straße einbiegen wollen'
genügen strukturell Kaufmanns Normbegriff. Die Norm abstrahiert, indem sie ihren Anspruch nicht von der individuellen Möglichkeit ihrer Befolgung abhängig macht: Die Handlungsfähigkeit der jeweiligen Adressaten ist somit keine Voraussetzung. Die Norm ist vielmehr Ausdruck einer objektiven sozialen Wertordnung. Erst in der tatbestandsmäßigen Situation konkretisiert sich die abstrakte Verhaltensnorm auf jeden Einzelnen, der als Ausführender eines bestimmten Aktes, der Gegenstand des Verbots ist, in Frage kommt47. Die konkretisierte Verhaltensnorm ist dann die Verhaltenspflicht, die einem ganz bestimmten Einzelnen ein ganz bestimmtes Verhalten abverlangt. 48 Diese Pflicht beschreibt Kriimpelmann als ein ,,kurzlebiges Gebilde"49 • Sie entsteht mit der Handlungssituation, besteht nur für die Zeitdauer ihrer Erfüllbarkeit und vergeht mit der pflichterfüllenden oder verletzenden Verhaltensweise. Weil insoweit die Bindung des bestimmten Handlungsfähigen unmittelbar aus der Verhaltensnorm fließt, 50 kann die Pflicht im Hinblick auf ihren Verbotsgegenstand nicht über die Norm hinausgehen. Krümpelmann konstruiert einen weitergehenden Pflichtenbegriff, der die Beziehung zwischen Täter und Opfer als Gesamtheit urnfaßt. Die Pflicht konstituiere sich aus der handlungs- und damit täterbezogenen Norm einerseits und der konkreten Situation des Verletzten andererseits, der "Gefahrdetheit"51 • Gegenüber der Täterhandlung erfolgt diese Bewertung rein axiologisch, also aus der Sicht des 46 Vgl. Armin Kaufmanns Untersuchung zur Existenz "bedingter" Normen in: Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 91 ff. Zur Frage, inwieweit abstrakte Begriffsbildung konkrete Elemente ,verkraftet' vgl. auch Larenz, Methodenlehre, S. 457 ff. 47 Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 139. In einer bestimmten Handlungssituation können deshalb durchaus mehrere Pflichten entstehen. Im Ergebnis kann aber über die Figur der Pflichtenkollision die Bindung des Handelnden wieder aufgehoben sein, soweit es um eine Entscheidung zwischen den kontligierenden Erwartungen geht. 48 Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 138 ff, S. 140. 49 Kriimpelmann, Jescheck-FS, S. 318. 50 Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 132, S. 139 f. ; ders., Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 7. Die Voraussetzung der einschlägigen Sachverhaltskonstellation bezeichnet er als "Gültigkeitsbedingung der Norm". Dazu habe die "Handlungsfähigkeit" des Adressaten zu treten. 51 Kriimpelmann, Bockelman-FS, S. 448.
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Rechtsanwenders. 52 Die Gefährdetheit könne einen Schutzanspruch gegenüber anderen auslösen; dieser Schutzanspruch führe zur Korrespondenzkategorie einer Ausgleichspflicht auf Seiten des Täters. 53 Regelmäßig ergebe sich die Pflichtenlage aus der Begegnung mit dem Gefährdeten, sie erwachse aus erkennbaren Gefahrfaktoren in dessen Situation. In der Begegnung zwischen Täter und Opfer entspricht die Gefährdetheit der konkreten Gefährdung, da der Umstand der Begegnung aus beider Perspektive einen "Realfaktor" in Krümpelmanns Sinne darstellt.54 Eine Ausgleichspflicht des Täters könne aber auch schon vor der unmittelbaren Begegnung mit dem Opfer entstehen, wenn "die Gefährdetheit noch nicht in das Blickfeld des Täters"55 getreten sei. Gleiches gelte, wenn sich im Rahmen der unmittelbaren Begegnung ,,hinter den erkennbaren Realfaktoren der Gefahr ( ... ) andere, unerkennbare verbergen"56. Voraussetzung sei hier aber, daß solche unsichtbaren Momente als "typische Gefahrmomente"57 gewertet werden können. So könne die bevorstehende Begegnung mit einem besoders gefährdeten Rechtsgutsträger durch Indizien angekündigt sein, etwa durch einen in der Straßenmitte liegenden Bal1.58 Ob ein Fall typischer Gefährdetheil vorliege, beurteilt Krümpelmann wiederum aus der Sicht des Täters: Denn maßgeblich ist offensichtlich allein, daß der Täter- und nicht das Opfer- den Ball erkennen konnte. Aus der Sicht des Täters entspricht die Typizität der Gefährdetheit daher dem Merkmal einer abstrakten Gefahrschaffung. Während der Ball einen Realfaktor darstellt, bleibt die Begegnungsprognose axiologischer Bewertung vorbehalten. Der These, daß bereits das Verbot abstrakter Gefährdung den Täter motivieren und ein Verstoß damit Verhaltensunrecht begründen kann, ist auch auf der Basis der vorliegenden Arbeit zuzustimmen. Krümpelmann, so scheint es, verzichtet darüberhinaus sogar auf ein ausdrückliches Verbot desjenigen Verhaltens, mit dem die Herbeiführung der Gefährdetheit typischerweise verbunden ist. Das Anliegen Krümpelmanns Pflichtenbegriff ist eine Modifikation des auf Roxin zurückgehenden Risikoerhöhungsgedankens. 59 Krümpelmann argumentiert, gerade die Sorgfaltspflicht als Wesenselement des Handlungsunrechts könne
Krümpelmann, Bockelman-FS, S. 449. Krümpelmann, Bockelman-FS, S. 451 f; ders., Jescheck-FS S. 320. Im Ansatz ebenso Zielinski, der aus dem Ausgleichsanspruch seine "ohne-zu" Komponente der Fahrlässigkeitsnorm entwickelt. Vgl. Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 171 ff. 54 Zu hypothetischen Faktoren und Realfaktoren Krümpelmann, Bockelman-FS, S. 448 55 Krümpelmann, Bockelman-FS, S. 452. 56 Krümpelmann, Bockelman-FS, S. 452. 57 Krümpelmann, Bockelman-FS, S. 452. 58 Krümpelmann, Bockelman-FS, S. 452. Andere Beispiele seien Schulen, Kindergärten, oder haltende Omnibusse. 59 Krümpelmann, Bockelman-FS, S. 463. Zur Risikoerhöhungslehre grundlegend Roxin, ZStW 74 (1962), S. 411 ff; ders., ZStW 78 (1966), S. 214 ff. 52 53
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nicht ohne Rücksicht auf das konkret erlittene Unrecht des Verletzten entwickelt werden. 60 Um die Konsequenz einer Bestimmung dieser Pflicht erst ex post zu vermeiden, wechselt er ex ante (nur) die Perspektive und gesellt zur Tätersicht die Gefährdetheit des Opfers.61 Unter dem Gesichtspunkt der Verhaltenssteuerung und der Motivierbarkeit des Täters kann die konkrete Opferstellung aber allenfalls insoweit von Einfluß sein, als sie aus der Täterperspektive konkret zu erkennen oder anband abstrakter Verlaufstypen zu erwarten ist. 62 Sind die maßgeblichen Realfaktoren für den Täter nicht erkennbar, kann er, per definitionem, sein Verhalten darauf nicht einstellen; er kann allenfalls (unspezifisch) versuchen, durch eine risikoärmere Lebensweise überhaupt nicht Gefahr zu laufen, besagten Realfaktoren zu begegnen. Auch die normative Korrespondenz eines Opferanspruchs ist nur über die Täterperspektive verrnittelbar, so daß es für das Problem einer (konkreten) Beeinflussung des Täterverhaltens letztlich unerheblich ist, ob die Pflicht über einen Wechsel der zeitlichen oder der persönlichen Perspektive konstruiert wird. Zugegebenermaßen ist damit nicht das letzte Wort über die Trennung von ,Unrecht' und ,Unglück' gesprochen. Doch erscheint es im Interesse einer klaren Abschichtung der Begriffe des Verhaltens- und Erfolgsunrechts vorzugswürdig, alle diejenigen Aspekte aus dem Norm- und Pflichtbegriff auzuklammern, die auf das Täterverhalten nicht (mehr) von Einfluß sein können. Aus diesem Grund soll hier dem von Arrnin Kaufmann geprägten verhaltensnormativem Pflichtbegriff der Vorzug eingeräumt werden.
b) Gefährdungsverbot oder Eifolgsverursachungsverbot?
Nach herrschender Ansicht hat die Bestimmung der Verhaltensnorm aus der Perspektive ex ante zu erfolgen: Soll wegen fahrlässiger Erfolgsherbeiführung bestraft werden, müsse dieser Erfolg im Handlungszeitpunkt zumindest objektiv "erkennbar" oder nach der in der Rechtsprechung regelmäßig anzutreffenden Terminologie "voraussehbar" gewesen sein,63 wobei Erkennbarkeit des Erfolges in der Sache nicht mehr und nicht weniger besagt, als daß "ex ante gefährdendes Verhalten" vorliegt. 64 Hinsichtlich des Begriffsinhalts verweisen Engisch und Welzel auf das Adäquanzurteil: Ein objektiver Beurteiler, ausgestattet mit dem ontologischen Wissen eines einsichtigen Beobachters und dem etwaigen ontologischen Sonderwissen des Täters, im Besitze des nomologischen Höchstwissens seiner Zeit, muß ex ante zu dem Urteil gelangen, daß die Möglichkeit des Er60 61
Krümpelmann, Bockelman-FS, S. 445. Krümpelmann, Bockelman-FS, S. 449.
62 Zur soziologischen Frage, ob die Motivation durch Verhaltensnormen überhaupt möglich ist, vgl. oben A.l. 63 Für die h.M. vgl. nur Welzel, Strafrecht, S. 132 f. Zur Darstellung der unterschiedlichen Begrifflichkeiten Kaminski, Tatbestand, S. 14 ff. 64 Kuhlen, GA 1990, S. 477 ff, S. 480: Frisch, Verhalten, S. 71 f., S. 541 mwN.
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folgseintritts besteht. 65 Die objektive Erkennbarkeil des Erfolges beschreibt eine Minimalanforderung an die Beziehung zwischen Handlung und Erfolg: Weil die Erfolgsherbeiführung ex ante ,möglich' war, das Täterverhalten somit als zur Verletzung ,geeignet' eingestuft werden konnte, wäre (durch Unterlassen) der Erfolg ,vermeidbar' gewesen. Mehr als die Vermeidung gefährdenden Verhaltens, so scheint es, kann auch die Verhaltensnorm des fahrlässigen Erfolgsdelikts nicht verlangen. Doch diese These ist umstritten: Das "objektive Normkonzept"66 Kindhäusers und Vogels67 fordert, die ,Verhaltensnormen' in kontradiktorischer Formulierung dem Wortlaut der Straftatbestände des Besonderen Teils des StGB zu entnehmen. Die Normen, die den Erfolgsdelikten zugrundeliegen, werden als (reine) "Verletzungsverursachungsverbote" formuliert: "Verursache nicht den Tod bzw. die Körperverletzung eines anderen"68 • Die Normwidrigkeit sei eine ex post getroffene Feststellung, die jeweils die objektiven Merkmale des Täterverhaltens sowie besondere subjektive Merkmale, wie beispielsweise nach dem Gesetzeswortlaut geforderte Absichten, enthalte. Die allgemeinen subjektiven Merkmale wie Vorsatz und Fahrlässigkeit seien dagegen aus der Normebene verbannt- sie gehörten "der logisch und teleologisch distinkten Ebene der Pflichtwidrigkeit" an69. Folglich liegt dem vorsätzlichen wie dem fahrlässigen Erfolgsdelikt dieselbe Verhaltensnorm zugrunde, während die unterschiedlichen Verletzungsformen lediglich mit unterschiedlichen Sanktionen belegt werden. Dieses "objektive Normkonzept" beruft sich auf Binding, der ebenfalls den Gegenstand der Verbotsnorm als Verursachungsverbot interpretiert, das die "Herbeiführung einer unliebsamen Veränderung in der Rechtswelt"70 verbietet. 71 Auch er behauptet: "Verursacht nicht, befehlen die Verbote, verursacht, die Gebote"72• 65 Engisch, Kausalität, S. 54 ff.; Welzel, Strafrecht (8. Auflage), S. 43; ders., Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S. 16; Armin Kaufmann, ZfRV 1964, S. 48. 66 Kritik könnte bereits an der Bezeichnung des Verursachungsverbots als "objektives Normkonzept" ansetzen, denn in seiner Objektivität unterscheidet es sich nicht von dem Gefährdungsverbot. Unbestrittenermaßen ist Normzweck auch Verhaltenssteuerung, und das gilt auch für die "objektive" Norm. Normen müssen daher ex ante handlungsorientiert wirken, Gegenstand der Verbotsnorm kann nur ein Verhaltensverbot sein. 67 Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 13 ff; Vogel, Norm und Pflicht, S. 27 ff. 68 Vogel, Norm und Pflicht, S. 50. 69 Vogel, Norm und Pflicht, S. 49. Der Begriff ist bereits deswegen zu eng, weil sich auch außerhalb des Besonderen Teils des StGB, etwa in strafrechtlichen Nebengesetzen (vgl. nur § 21 StVG), Tatbestände finden, denen Normen zugrundeliegen. Im übrigen beinhaltet bereits Bindings Normtheorie, daß fahrlässigen Delikten nicht nur das Verbot der Ursachenerzeugung zugrundeliegt (Ihr sollt nicht: töten), sondern zugleich ein sekundäres Gebot sorgsamen Handeins (Ihr sollt: nicht-töten). Binding, Normen I, S. 110; vgl. Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 115. 10 Binding, Normen I, S. 111. 71 Vogel, Norm und Pflicht, S. 49. 72 Binding, Normen I, S. 123.
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Doch Binding faßte, noch im Sinne der klassischen Verbrechenslehre, Vorsatz und Fahrlässigkeit als Schuldelemente auf und mag daher, in Armin Kaufmanns Worten, inspiriert gewesen sein von dem "dogmatischen Wunsch, die Verbotsmaterie bei Vorsatz und Fahrlässigkeit in gleicher Weise zu bestimmen' 473 • In der Tat erkannte Binding selbst, daß durch die Formulierung der Norm als Verursachungsverbot die fahrlässige Verursachung nicht getroffen wird. Um die "fahrlässige Tat" dennoch erfassen zu können, ergänzt er die Norm insoweit um ein "sekundäres, nicht selbständig übertretbares" Gebot "eines bestimmt geeigenschafteten Handeins ( . .. )zur rechten Tat"74. Bereits Armin Kaufmann wendet sich gegen Bindings Verursachungsverbot mit dem Argument, der Fahrlässigkeitstäter könne hierdurch nicht motiviert werden: Wer selbst die Erfolgsmöglichkeit nicht kenne, habe kein Motiv, die Ursachensetzung zu unterlassen. Das Verursachungsverbot könne daher nur in der Motivationslage des Vorsatzes und der bewußten Fahrlässigkeit wirken?5 Wer nicht wisse, daß er einen tatbestandliehen Erfolg herbeiführen werde (oder könne), kann sich an dem Verursachungsverbot nicht orientieren. Ihm müsse konkret gesagt werden, was er zu tun oder zu unterlassen habe. Armin Kaufmann folgert hieraus, daß nur ein Verbot zwecktätigen (finalen) Handeins möglich ist, nicht aber auch ein Verbot der sich an diesem Kern "auskristallisierenden" Erfolgsverursachung. 76 In dieser Formulierung scheint die Argumentation allerdings nur unter den Vorgaben des Finalismus gültig zu sein. Das Verletzungsverursachungsverbot taugt aber auch dann nicht als Orientierungsmuster, wenn man den Boden der finalen Handlungslehre verläßt. Gegen das Verletzungsverursachungsverbot wurde zu Recht eingewandt, es ermögliche zwar eine unproblematische Gewinnung der Verhaltensnorm, könne aber aus der gefundenen Norm kaum einen Nutzen zur Ableitung der konkreten Pflicht ziehen. Normwidrig wären auch ex ante betrachtet ungefährliche Handlungen, selbst wenn der Erfolg ausbleibt; als normgemäß müßte dagegen auch ex ante noch so gefährliche Handlungen anerkannt werden, solange nur zufällig der Erfolg ausbleibt. Freund argumentiert, das Verbot, den Tod eines Menschen zu verursachen, sei offensichtlich viel zu weitgreifend und daher überhaupt nicht legitimierbar. Beschränkungen der Handlungsfreiheit seien dagegen bereits dann legitimierbar, wenn nur mögliche schadensträchtige Verläufe in Frage stünden. 77 Die Belastung, daß der pflichtgemäß handelnde Täter auch Verhaltensweisen unterlassen muß, die 73 Annin Kaufmann gegen Binding, Normentheorie S. llO. Heute ist zweifelhaft, ob eine solche Überlegung nicht vielmehr in die umgekehrte Richtung weisen müßte, wird doch vertreten, auch das vorsätzliche Erfolgsdelikt beinhalte kein reines Erfolgsverursachungsverbot, sondern vielmehr ebenfalls ein Verbot bestimmter Gefährdungen. 74 Binding, Normen I, S. 110. 75 Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 120. 76 Normentheorie, S. 114. 77 Freund, Unterlassen, S. 122 ff; ders., Strafrecht AT, Rn. 12 und Rn. 14; Freund spricht hier von einem "nebulösen Verursachungsverbot".
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sich ex post als harmlos erweisen, sieht das Gesetz durch die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs ausdrücklich vor. Vogel entgegnet, der Täter könne sich an dem Verletzungsverursachungsverbot orientieren, indem er es "als Obersatz im Modell des praktischen Syllogismus"78 seinem Verhalten zugrundelegt Ergebe sich, daß aus der Sicht des Täters das Verhalten den Verletzungserfolg verursachen wird, so müsse der Täter dieses Verhalten unterlassen, um pflichtgemäß zu handeln. Auch bei Vogel hat sich der Handelnde damit letztlich an einem Gefährdungsverbot zu orientieren. Auch wer sein Verhalten eng an dem Verursachungsverbot orientiert, unterläßt (dank des aus Verwirklichungsverläufen nie auszublendenden Zufallsaspekts) stets nur aus seiner eigenen Perspektive ,gefährliche' Handlungen, da er die Verhaltensentscheidung notwendigerweise in der Handlungssituation, also ex ante fallt. Selbst optimale Normbefolgung würde nicht notwendigerweise zu normgemäßem Verhalten führen; solches wäre stets nur ein Reflex des Zufalls bei der Gefahrenverwirklichung. Konsequenz der Nichterkennbarkeil ist, daß das Verletzungsverursachungsverbot in Einzelfällen sogar zu verletzendem (und damit: normwidrigem) Verhalten motiviert. Die daraus resultierende Rechtsunsicherheit wird auch durch die innere Stringenz des Systems79 nicht beseitigt, da Rechtssicherheit am Maßstab des Handelnden und nicht des Rechtsanwenders zu messen ist. Schließlich bietet auch Vogels (individuell) konkretisierte "Pflicht" keinen adäquaten Ersatz für ein Orientierungsmuster. Dies liegt auf der Hand, wenn man mit Vogel die Pflicht der Ebene der Sanktionsnorm zuordnet; die Pflicht stellt dann lediglich einen Teil derjenigen ex post zu beurteilenden Bedingungen dar, unter denen der Täter durch die Verhaltensnorm verpflichtet wird. 80 Gleiches gilt aber auch, wenn die Pflichtverletzung dem Handlungsunrecht zugeschlagen wird: Armin Kaufmann argumentiert zu Recht, das Verbot könne sich nicht auf einen bestimmten, bereits abgelaufenen oder ablaufenden Akt konkretisieren, sondern müsse konkretisiert sein, bevor der Akt beginnt. Nur so könne die Norm das erreichen, was ihrem Wesen entspricht: Die Motivation ihrer Adressaten, die Beeinflussung deren Entschlußfassung. 81 Das Verbot muß daher bereits konkretisiert sein, bevor der Adressat in den Prozeß der Entschlußfassung eintritt, also bevor die Norm die Pflicht des Adressaten prägt. Daraus folgt: Die Forderung, daß bereits die Norm Orientierungsmuster bieten solle, läßt mehr als eine deduktive Ableitung der Pflicht aus dem Norminhalt nicht zu. In diesem Sinne hat sich grundsätzlich auch bereits Binding geäußert: "Die Mittel des Gesetzgebers sind seinem Zwecke genau angepaßt. Handelt es sich nun um Aufstellung der Pflichten, welche die Un78 Vogel, Norm und Pflicht, S. 55. Die gleiche Konsequenz ergibt sich für Hoyer, trotz aller formalen Gegenbeteuerungen: Enthält die Norm das Element der Erfolgsherbeiführung, so ist im Handlungszeitpunkt eine Prognose erforderlich. Vgl. Hoyer, Normentheorie, S. 170. 79 So aber Vogel, Norm und Pflicht, S. 56 Fn. 171. 80 Vogel, Norm und Pflicht, S. 42. 81 Armin Kaufmann, Normentheorie, S. 139.
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tertanen höchst persönlich zu erfüllen haben, so hat er ihnen genau zu sagen, was er von ihnen fordert und daß er es von ihnen heischt" 82 . Orientierung kann die Norm nur insoweit bieten, als sie einen Maßstab liefert, mit dessen Hilfe in der Handlungssituation zwischen verbotenen und nicht-verbotenen Verhaltensalternativen unterschieden werden kann.83 Treffend ist daher gerade auch im Fahrlässigkeitsbereich Kindhäusers kritische Stellungnahme, mit der er sich gegen Armin Kaufmanns Bewertungsmodell wendet: Normen verbieten nicht einfach die Verletzung von Rechtsgütern, sondern betreffen nur mehr oder minder detailliert charakterisierte Verhaltensweisen und beschränken damit den Rechtsgüterschutz auf bestimmte Tatmodalitäten.84 Dem ist nichts hinzuzufügen.
3. Bestimmtheitsgebot und Verhaltensnorm a) Die positivistische Hürde des Art. 103 Abs. 2 GG Problematisch ist schließlich, ob und wieweit sich die Entwicklung einer vom Tatbestand semantisch losgelösten Verhaltensnorm mit dem Bestimmtheitsgebot vereinen läßt, das Art. 103 Abs. 2 GG bezüglich der "Strafbarkeit" aufstellt. Das Bundesverfassungsgericht spricht dem Bestimmtheitsgebot eine doppelte Funktion zu. Zum einen gehe es um den rechtsstaatliehen Schutz des Normadressaten: prinzipiell müsse der Normadressat anhand der gesetzlichen Regelung voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist; in Grenzfällen gehe er dann, für ihn erkennbar, das Risiko einer Bestrafung ein. Zum anderen sei sicherzustellen, daß der Gesetzgeber selbst über die Strafbarkeit entscheidet: Art. 103 Abs. 2 GG enthalte einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die (wesentlichen) normativen Voraussetzungen einer Bestrafung festzulegen. 85 In der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts haben diese Kriterien jedoch höchst selten86 zur Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Regelung geführt. Bekanntlich wurde ja auch das Tatbestandsmerkmal "Grober Unfug" als ausreichend Binding, Normen I, S. 51. Kuhlen, GA 1990, S. 480. 84 Kindhäuser, Gefährdung, S. 148. 85 BVerfGE 75, S. 329 ff, S. 341 mwN. auf die einschlägige ältere Rechtsprechung; vgl. auch BverfGE 78, S. 374 ff, S. 388. 86 Ausnahme: § 15 Abs. 2 lit.a Fernmeldegesetz a.F., wonach die Errichtung, die Änderung oder das Betreiben von Fernmeldeanlagen unter Strafe gestellt war, soweit gegen die Bedingungen verstoßen wurde, an die die Postbehörden die Genehmigung knüpften: Der Umfang der Strafbarkeit ergab sich im wesentlichen aus Entscheidungen der Post als (damaliges) Exekutivorgan. 82 83
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bestimmt angesehen. 87 Zwar lasse der Wortlaut eine weite Auslegung zu. Welchen Grad an gesetzlicher Bestimmtheit der einzelne Tatbestand aufweisen muß, lasse sich nicht allgemein sagen. Die erforderliche Bestimmtheit hänge von der Besonderheit des jeweiligen Tatbestandes ebenso ab wie von den Umständen, die zu der gesetzlichen Regelung geführt haben. Die Besonderheit der Vorschrift bestehe hier jedoch darin, daß sie zum überlieferten Bestand von Strafrechtsnormen gehöre und durch eine jahrzehntelange gefestigte Rechtsprechung hinreichend präzisiert worden sei. Auch die Verfassungsmäßigkeit des fahrlässigen Erfolgsdelikts als solchem wird sub specie des Art. 103 Abs. 2 GG weder von der Rechtsprechung noch in der Literatur ernsthaft in Frage gestellt. 88 Die im Fahrlässigkeitsbereich stets anzutreffende ,offene' bzw. ,ergänzungsbedürftige' Tatbestandsfassung genüge dem Gesetzesvorbehalt Einig ist man sich, daß das, was sich im Gesetz findet, die ,wesentliche' Regelung im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG darstellt. Doch dürfte die Begriindung, der Gesetzgeber habe immerhin die kriminalpolitische Grundentscheidung über den Rahmen der Strafbarkeit getroffen, 89 nicht ausreichen, da so die Auswahl strafrechtsrelevanter Verhaltensweisen gerade außerhalb des Legitimationszusammenhangs verbleibt. Auch ist es in der heutigen technologischen Risikogesellschaft nicht gerechtfertigt, alle irgendwie möglicherweise erfolgsursächlichen Verhaltensweisen als "Grenzfälle" im Sinne der verfassungsrichterlichen Terminologie zu bezeichnen, bei deren Vomahme der Bürger stets mit der Bestrafung rechnen muß. Beispielsweise Straßenverkehrsteilnehmer und Chirurgen stünden dann nämlich stets mit mehr als einem Fuß im Gefangnis. Aus den gleichen Griinden erweist sich die in der strafrechtlichen Literatur mitunter vorzufindende Formulierung als nicht tragfahig, die Sorgfaltspflicht im Rahmen des Fahrlässigkeitsdelikts ziele auf den Ausschluß jeder Gefahrdung für das geschützte Rechtsgut und der Erfolg sei bereits deshalb vermeidbar, weil der Tater die gefahrbringende Handlungjedenfalls insgesamt unterlassen konnte.90 Nach der insbesondere von Bohnert vertretenen Eingrenzungstheorie ist der Tatbestand des fahrlässigen Erfolgsdelikts bereits deshalb bestimmt genug, weil er jede (fahrlässi87 BVerfGE 26, S. 41 ff. Heute findet sich in dem Nachfolgetatbestand § 118 OWiG das Merkmal der "grob ungehörigen Handlung". 88 Vgl. nur Schönke/Schröder/Eser, § I Rn. 18 ff, Rn. 19 mwN. Zu § 1 StVG vgl. BVerfG NJW 1969, S. 1164. 89 Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 46. Ebenso der Dworkins Unterscheidung zwischen policies und rights verpflichtete Ansatz von Vogel. Vogels Berufung auf die in den Tatbeständen des Besonderen Teils des StOB getroffenen kriminalpolitischen Weftentscheidungen ist jedenfalls bezüglich des fahrlässigen Erfolgsdelikts nicht überzeugend. Vgl. Vogel, Norm und Pflicht, S. 331 ff, S. 333. 90 So z. B. Arrnin Kaufmann ZfRV 1964, S. 47; Schünemann, Schaffstein-FS S. 163; ders. JA 1975, S. 514. Kritisch Jakobs: "Was mit dem Motiv, schlechthin überhaupt nicht zu handeln, vermieden würde, und deshalb überhaupt erst Handlung ist, muß nicht schon deshalb auch mit dem Motiv vermeidbar sein, eine bestimmte (sei!. tatbestandsmäßige) Handlung nicht zu vollziehen (AT 9 I 8).
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ge) Erfolgsverursachung mit Strafe bedroht. Der Bestimmung konkreter Verhaltenserwartungen komme dagegen nur eine limitierende Funktion zu, und zwar zum Vorteil des Taters. Fahrlässigkeitstatbestände seien deshalb nicht offener als die der Vorsatzdelikte; eine Gefahr der Verfassungswidrigkeit nicht gegeben. 91 Nun kann aber das Bestimmtheitsproblem nicht allein durch eine (zu) weite Fassung des Tatbestandes beseitigt werden; die unbestimmte Fassung eines Ausnahmetatbestandes würde ebenso zur Verfassungswidrigkeit der Gesamtregelung führen. 92 Bohnert übersieht, daß es auch Funktion des Bestimmtheitserfordernisses ist, Orientierungssicherheit zu gewährleisten, weshalb sich Art. 103 Abs. 2 GG gerade auch auf die ,Ausnahmen' nicht-verbotener Verhaltensweisen erstrecken muß. Jakobs hält das Anliegen der Eingrenzungstheorie allein im Hinblick auf Zurechnungsvoraussetzungen für gerechtfertigt: Bestimmtheit meine, daß das Gesetz den Mißbrauch seines Regelungszwecks selbst sperrt.93 Zurechnungsvoraussetzungen könnten aber aus der Sache selbst als gültig demonstriert werden, sie seien gerade wegen ihrer Allgemeinheit nicht mißbrauchsanfällig. 94 Auch Tiedemann und Vogel wollen Zurechnungsvoraussetzungen weitgehend von der Garantie der Gesetzesbestimmtheit ausnehmen. Da ihnen keine präskriptive, sondern nur askriptive Funktion zukomme, zählten sie nicht zum Garantietatbestand im engeren Sinne.95 Erforderlich sei dagegen, daß anband des gesetzlichen Tatbestandes eine "sinnvolle Ableitung des konkret-individuellen Sollensbefehls"96 möglich ist. Damit ist es nicht mehr allein die Verhaltensbeschreibung des gesetzlichen Tatbestandes, die an dem Bestimmtheitsgebot gemessen wird, sondern vielmehr die Frage, welche Verhaltensnormen sich daraus ableiten lassen. Nach Roxin führt die Unbestimmtheit von Strafgesetzen sogar solange nicht zu deren Verfassungswidrigkeit, als sich in der "gesamten Rechtsordnung" konkretisierende Maßstäbe in Form sozialer Ordnungsprinzipien fänden. 97 Ganz im Sinne des Bundesverfassungsgerichts, das auf gefestigte Rechtsprechung abstellt, ist es nicht mehr allein der gesetzliche Tatbestand, dem der Kreis der strafbaren Verhaltensweisen entnommen Bohnert, ZStW 94 (1982), S. 68 ff, S. 80. Vgl. die Entscheidung des US Supreme Court US vs Cohen Grocery Co., 225 U.S. 89 (1921), der das Verbot des sonntäglichen Verkaufs von "goods, wares or merchandise except drugs, medicines, provisions or articles of immediate necessity" wegen Unbestimmtheit aufhob, da im Wege der Ausnahme doch wieder alle Güter zum Verkauf zugelassen wurden. Vgl. eingehend Ransiek, Gesetz und Lebenswirklichkeit, S. 88. 93 Jakobs, Strafrecht AT, 4/24 mit Verweis auf AK-StGB-Hassemer, § 1 Rn. 19 ff. 94 Jakobs, Strafrecht AT, 4/43. 95 Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 200; Vogel, Norm und Pflicht, S. 331 Fn. 154: Das Bestimmtheitsgebot reduziere sich auf die Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes und der Berechenbarkeil staatlicher Eingriffe, mithin auf den Ausschluß der Möglichkeit schlechthin willkürlicher Bestrafung. 96 Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 207. 97 Roxin, Grundlagenprobleme, S. 193; ders, JR 1983, S. 333 ff. Zur Konkretisierung strafrechtlicher Nonnen durch in den übrigen Rechtsgebieten zum Ausdruck kommenden Nonnen vgl. auch Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung, S. 24. 91
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I. Das Strafrecht als normative Verhaltenskontrolle
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werden muß: Bestimmtheit bedeutet nur, daß jeweils ein durch die Rechtsordnung gedecktes Orientierungsmuster existieren muß, das die sinnvolle Ableitung konkreter Pflichten zuläßt. Unter dem Eindruck der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gewaltbegriff des Nötigungstatbestandes98 wurde das weite Verständnis von Bestimmtheit zwar in die Defensive gedrängt. Eser befürchtet, durch eine "Weiterverweisung auf allgemeine Rechtsüberzeugung, Rechtsprechung und Schrifttum" werde "harte" Bestimmtheit durch konturenlose, bloße Bestimmbarkeil ersetzt, und schließlich das Erfordernis der lex certa schlechterdings substituiert. 99 Andererseits läßt sich die Menge aller Begriffe nicht akkurat in einen ,bestimmten' und einen ,unbestimmten' Teil trennen. Zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit gibt es vielmehr einen fließenden Übergang. Häufig weisen wertausfüllungsbedürftige (normative) Begriffe im Vergleich zu deskriptiven einen geringeren Bestimmtheilsgrad auf, da deren Bedeutungsgehalt schon kraft äußerer Anschauung vermittelt wird. 100 Da gesetzliche Tatbestände unterschiedliche Begriffe verwenden, können sie auch nicht alle den gleichen, größtmöglichen Bestimmtheitsgrad aufweisen. 101 Der Tatbestand des § 21 StVG beispielsweise weist einen höheren Bestimmtheilsgrad auf als der des § 263 StGB, und dieser wiederum einen höheren Bestimmtheilsgrad als § 222 StGB. In der strafrechtlichen Literatur findet sich daher der Vorschlag, vom Gesetzgeber zu fordern, soweit wie eben möglich bestimmte Begriffe zu verwenden. 102 Doch weil sich daraus für das noch so unbestimmte Gesetz unmittelbar keine Konsequenzen ergeben, ist dieser Ansatz, als begrenzende Maxime verstanden, wohl eher ein stumpfes Schwert. Als Kapitulation vor der gestellten Aufgabe erweist sich schließlich der Ansatz von Jescheck I Weigend, 103 die das verfassungsrechtliche Bestimmtheitserfordernis stets als erfüllt ansehen, wenn eine ,bestimmtere' Formulierung der Verhaltenserwartung gesetzestechnisch nicht möglich ist. Weist die Regelung den erforderlichen Grad an Betimmtheit nicht auf, liegt der Fehler bei der Regelung, nicht aber im Grundgesetz. 104
98 BVerfGE 92, S. 1 ff, S. 12, S. 18 mit zustimmender Anmerkung von Amelung, NJW 1995, s. 2587. 99 Schönke/Schröder/Eser, § 1, Rn. 20. wo Ransiek, Gesetz und Lebenswirklichkeit, S. 68; vgl. auch Schönke/Schröder/Eser, § 1, Rn. 18 ff. !01 Krahl unterscheidet aufgrund eines ,,komparativen" Bestimmtheitsverständnisses zwischen "genauen" und "weniger genauen" Strafgesetzen; vgl. Krahl, Die Rechtsprechung des BVerfG und des BGH zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht, S. 5 und S. 81 ff. 102 Schönke/Schröder/Eser, § 1 Rn. 20; Lenckner, JuS 1968, S. 305 ff; kritisch Ransiek, Gesetz und Lebenswirklichkeit, S. 55 ff. !03 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 564. 104 Wie hier Vogel, Norm und Pflicht, S. 328: Der Gesetzgeber dürfe sich nicht auf Impossibilium nulla obligatio berufen.
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A. Der Begriff der Verhaltensnorm
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In der Sache betrifft die Iex certa-Problematik nicht die semantische Beschränktheit des Gesetzeswortlauts als solche, sondern seine Interpretation anhand fragwürdiger Maßstäbe und in der Gesellschaft letztlich nicht geteilter, umstrittener Konventionen. In dieser Hinsicht liegt die Bestimmtheilsproblematik beim Fahrlässigkeitsdelikt anders als beim Nötigungstatbestand. Die weite Auslegung des Gewaltbegriffes im Zusammenhang mit Sitzblockaden scheiterte an der semantischen Enge des Gewaltbegriffes, soweit "die Gewalt lediglich in körperlicher Anwesenheit besteht und die Zwangswirkung auf den Geschädigten nur psychischer Natur ist" 105 • Der Tatbestand des fahrlässigen Erfolgsdelikts kennt kein dem Gewaltbegriff vergleichbares, durch semantische Enge eingrenzendes Merkmal. Die Problematik liegt vielmehr in dessen semantischer Konturenlosigkeit, denn dem Wortlaut scheint zunächst jede Verursachung zu unterfallen. 106 Das Bestimmtheilskriterium kann insofern gar nicht verhindern, daß der Tatbestand Verursachungen erfaßt, die semantisch von seinem Wortlaut nicht gedeckt sind. Es kann nur sichern, daß sich pönalisierte Verhaltensweisen, in Roxins Sinne, mit Hilfe solcher Ordnungsprinzipien bestimmen lassen, die ihrerseit der gesamten Rechtsordnung zu entnehmen sind. Roxins Maßstab der gesamten Rechtsordnung birgt somit nicht die Gefahr, den gesetzlichen Wortlaut zu sprengen. Ihm kommt vielmehr eine eingrenzende, Rechtssicherheit schaffende Funktion zu. Die so verstandene Bestimmbarkeil steht nicht im Gegensatz zur Bestimmtheit, sondern erfüllt vielmehr das Anliegen des Art. 103 Abs. 2 GG. Im Lichte der eingangs zitierten Rechtsprechung des BVerfG, die Orientierungssicherheit verlangt, ergibt sich nun für die Verhaltensnorm des fahrlässigen Erfolgsdelikts, daß dem Bestimmtheilskriterium nur diejenige Verhaltenserwartung genügen kann, die sich am Maßstab bzw. aus den Vorgaben der gesamten Rechtsordnung- und zwar objektiv erkennbar- entwickeln läßt. Maßstäbe, die nicht auf dem gesicherten Wertebestand der Rechtsordnung beruhen, sondern auf umstrittenen Konventionen oder ungeteilten Moralvorstellungen, stehen mit dem Gebot der lex certa in Widerspruch. 107 Zur Orientierungssicherheit gehört dann aber auch die Erkennbarkeit der konkreten Pflichtenableitung im Einzelfall- auf dieses Kriterium des BVerfG soll im folgenden genauer eingegangen werden.
b) Die relativ unbestimmte Norm als Orientierungsmuster
Orientierungsmuster bestehen nicht notwendig in der Beschreibung von Handlungszielen; auch der Verweis auf Verhaltensmodalitäten und partikuläre Verhaltensaspekte kann der Orientierung dienen. Verhaltensbeschreibung ist weiterhin BVerfGE 92, S. 18 ff. Hinsichtlich dieser Ausgangsfeststellung kann auf Bohnert, ZStW 94 (1982), S. 68 ff, verwiesen werden. 107 Ähnlich Schönke I Sehröder I Eser, § 1 Rn. 22 (zu § 228 StGB nF). 105
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I. Das Strafrecht als normative Verhaltenskontrolle
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nicht auf Deskription beschränkt. Die Subsumtion unter einen wertausfüllungsbedürftigen Begriff geschieht durch Anwendung einer sprachlichen Verwendungsregel, die auf Konvention Bezug nimmt. Daß normative Begriffe nur dann unbestimmt sind, wenn man sie ohne Kontextbezug betrachtet, hat Ransiek demonstriert. Soweit verbindliche Regeln zur Bewertung von Verhalten vorhanden sind, werde auch die resultierende strafrechtliche Bewertung von allgemeinem Verständnis getragen. So handle der schwer betrunken operierende Chirurg sorgfaltswidrig und der Autofahrer rücksichtslos, der mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h an einer Gruppe spielender Kinder vorbeirast, um sich daraus einen Spaß zu machen. 108 Auch kann der These nicht gefolgt werden, es sei der "Idealfall" einer strafrechtlichen Regelung, daß der Gesetzgeber bei deren Formulierung lediglich deskriptive, eindeutig erlaßbare Merkmale verwende und auf ausfüllungsbedürftige Wertbegriffe und Generalklauseln völlig verzichte. 109 Im Gegenteil vermeiden "teleologisch durchsichtige" Generalklauseln eine kasuistische Tendenz, die manche Erscheinungsformen strafwürdigen Verhaltens nicht zu erfassen vermag. Sie ermöglichen eine flexible Reaktion (auch) des Strafgesetzes auf gesellschaftlichen Wandel und ermöglichen so, was Luhmann die Autopoiesis genannt hat - die beständige selbstreferentielle Erneuerung des Rechts. 110 Die grundsätzliche Eignung wertausfüllungsbedürftiger Begriffe zur Beschreibung sozialer Orientierungsmuster darf aber den Blick auf die Grenzen nicht verstellen. Als Grenze jeder strafrechtlichen Begriffsauslegung ist, so die ganz herrschende Meinung, gemäß Art. 103 Abs. 2 GG der "mögliche Wortlaut" festgeschrieben, d. h. die allgemein mit dem Begriff verbundene Bedeutung. 111 Begriffe sind nicht deshalb bestimmt, weil ihnen ein objektiv eindeutiger Bedeutungsgehalt eigen ist, sondern weil ihr Bedeutungsgehalt intersubjektiv gleich gesehen wird. Inwieweit eine Ausdrucksform sprachlich verständlich ist, richtet sich nach dem Erfahrungshorizont der jeweiligen Akteure, von Habermas als Lebenswelt 112 bezeichnet. Zwar ist das Konzept der Lebenswelt auf den individuellen Erfahrungshorizont ausgerichtet und verlangt damit strenggenommen eine KommunikationsRansiek, Gesetz und Lebenswirklichkeit, S. 72 f. So aber Maunz/Dürig-Herzog, Art. 103 Abs. 2 Rn. 107; vgl. auch Kohlmann, Bestimmtheit, S. 252 ff; Krahl, Die Rechtsprechung des BVerfG und des BGH zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht, S. 4 f. und S. 81 ff. 110 Luhmann, Soziale Systeme, S. 60 ff und S. 231. Dazu, daß Unbestimmtheit in diesem Sinne sinnvoll und wünschenswert sein kann, vgl. Vogel, Norm und Pflicht, S. 329 mwN. 111 BGHSt 22, S. 14; vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 322: Eine Deutung, die nicht mehr im Bereich des möglichen Wortsinns liegt, sei nicht mehr Ausdeutung, sondern Umdeutung. 112 Vgl. Habermas, Theorie des Kommunikativen Handelns, Bd. I, S. 165: "Die symbolisch vorstrukturierte Wirklichkeit, wie sie sich dem Handelnden darstellt, bildet ein Universum, das dem außenstehenden Beobachter hermetisch verschlossen, eben unverständlich bleiben muß - sie kann nur von innen erschlossen werden." Vgl. auch Habermas, Theorie des Kommunikativen Handelns, Bd. II, S. 208 ff, S. 212 f zur Herstellung von Situationskonsens. Sprachphilosophisch geht Habermas' Ansatz auf Wittgensteins Philosophische Untersuchungen zuriick. 108 109
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A. Der Begriff der Verhaltensnorm
dichte, die die Norm weder erreichen kann noch darf: ein zu starker Zuschnitt auf einzelne Ideosynkrasien minderte gleichzeitig die Verstehbarkeil für andere Individuen. Die Norm soll ja nur ein Orientierungsmuster darstellen. Strategische Verzerrungen zwischen den Akteuren gehen dann zu Lasten des Normadressaten, wenn er den von ihm erwarteten Erfahrungshorizont nicht aufweist. 113 Die Norm muß aber geeignet sein, sich in der jeweils typisierten Lebenswelt verständlich zu machen. Mit anderen Worten: Soll bestimmtes Rollenverhalten reguliert werden, muß die Verhaltenserwartung in der entsprechenden Lebenswelt verständlich gemacht werden. Dem Verbot fahrlässiger Verletzung bzw. unsargfaltigen Verhaltens lassen sich nur solche Verhaltensweisen unterordnen, die nach dem Erfahrungshorizont der typisierten Lebenswelt diesem Begriffsumfeld unterfallen. Aber auch die relative Unbestimmtheit einer Norm besagt noch nicht, daß keine sinnvolle Ableitung von Verhaltenspflichten möglich ist. Die Norm fordert dann eben nicht bestimmtes Verhalten, und aus der Norm folgt eine entsprechend unbestimmte Pflicht. Falls die Norm keine Orientierungsmuster beinhaltet, die geeignet sind, dem Handelnden das gewünschte Verhalten zu beschreiben, kann sie, umgekehrt, ihren Adressaten auch nicht weitergehend verpflichten. Die (relativ) unbestimmte Verbotsnorm läßt folglich eine Vielzahl sprachlich möglicher Pflichtableitungen nicht zu, weil diese zu unbestimmt wären. Der Umfang der Bindungswirkung einer Norm ist demnach abhängig von dem Konkretisierungsgrad ihres Inhalts. Verhaltensorientierung findet freilich ihre Grenze dort, wo die Norm keine Verhaltensbeschreibung mehr enthält, sondern den Nachvollzug eines bestimmten Abwägungsergebnisses verlangt. Soll aus dem Abwägungsergebnis eine konkrete Pflicht folgen -etwa die Pflicht, beim Einfahren in eine bestimmte Straßenkreuzung sich von seinem Beifahrer einwinken zu lassen-, so muß die Norm ein entsprechend konkretes Orientierungsmuster bereits irgendwo enthalten. Allein das Tötungsverbot stellt solch ein Orientierungsmuster nicht dar - es sei denn, in einer gedachten Handlungssituation führten alle anderen Verhaltensoptionen unweigerlich zur Tötung. In dem Verbot der Pflichtenableitung über erkennbare Orientierungsmuster hinaus liegt auch der eigentliche Kern des verfassungsrechtlichen Verbotes unbestimmter Strafgesetze. Mit Art. 103 GG gerät jedoch in Konflikt, wer im Sinne einer (nur) "pragmatischen" 114 Ableitung der Pflicht aus der Norm vom Handelnden verlangt, ohne Orientierungsmuster aus der Handlungssituation das richtige Abwägungsergebnis herzuleiten. Was der Gesetzgeber nämlich nicht ausdrücklich vorschreibt, kann er auch nicht detailliert einfordern.
113 Hier geht es allein um die Voraussetzungen der Norm; ob dem Individuum ein Defizit auch vorzuwerfen ist, stellt sich erst als Folgeproblem. 114 So aber Vogel, Norm und Pflicht, S. 42.
li. Das Verbot mißbilligter Risikoschaffung als Verhaltensnorm
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II. Das Verbot mißbilligter Risikoschaffung als Verhaltensnorm 1. Die Bedeutung des erlaubten Risikos a) Tatbestandsrelevanz von erlaubtem Risiko und Sorgfalt
Die Suche nach der Verhaltensnorm des fahrlässigen Erfolgsdelikts führt aber im Grunde auch über die Kontradiktion des Tatbestandes nicht zu einem Verletzungsverursachungsverbot. Obwohl der Wortlaut des Strafvorschriften sowohl der "fahrlässigen Tötung" wie auch der "fahrlässigen Körperverletzung" das unter Strafe gestellte Verhalten lediglich als fahrlässige Erfolgsverursachung umschreiben, besteht in der Sache heute Einigkeit, daß das gesetzliche Leitbild des § 276 Abs. 1 BGB in den Tatbestand hineinzulesen ist. 115 Die Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt bildet den Handlungsunwert des fahrlässigen Erfolgsdelikts. Der Sorgfaltsverletzung entspricht sachlich, in Frischs im Vordringen begriffener Terminologie, die Schaffung einer mißbilligten Gefahr als Definiens der tatbestandliehen Handlung. 116 Daß tatbestandsmäßiges Verhalten bereits objektiv eine bestimmte, eben sorgfaltswidrige, Qualität aufweisen muß, entspricht jedenfalls für das fahrlässige Erfolgsdelikt heute ganz herrschender Meinung. 117 Auch Autoren, die wie Jakobs ausdrücklich den (objektiven) Tatbestand als (objektive) Vermeidbarkeit definieren, anerkennen regelmäßig ein erlaubtes Risiko.118 Die Konturen des erlaubten Risikos decken sich mit dem Begriff der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, sind im einzelnen aber umstritten. Übereinstimmung besteht, daß dem erlaubten Risiko die Funktion zukommt, bestimmte Gefährdungen, die in der heutigen Gesellschaft als geringfügig oder sozialadäquat empfunden werden, auch dann nicht als Unrecht zu bezeichnen, wenn sie im Einzelfall erfolgskausal werden. Niese hat das oft und beifällig zitierte Wort geprägt, es sei kein Unrecht, sondern Unglück, wenn jemand einen anderen im Rahmen des erlaubten Risikos verletze. 119 Gefährdungen, die sich im Rahmen dieses Risikos halten, sind nicht tatbestandsmäßig und damit unabhängig vom Eingreifen einer Erlaubnisnorm zulässig; auch die Spazierfahrt mit einem Schwerlast-LKWist solange nicht verhaltensnormwidrig, als sie sich im Rahmen der allgemeinen Verkehrsvorschriften Vgl. nur Welzel, Strafrecht, S. 132. Grundlegend Frisch, Verhalten, S. 33 ff, S. 69 ff; ders., Vorsatz und Risiko, S. 118 ff; NK-Puppe, vor§ 13 Rn. 143 ff; Schönke/Schröder/Lenckner, 25. Aufl., vor§ 13 Rn. 92 ff; SK-Rudolphi, vor§ 1 Rn. 57, Rn. 62; Burkhardt, S. 99. 117 Vgl. nur Kaminski, passim; auch Konzeptionen, die Fahrlässigkeit als subjektive Größe verstehen, setzen auf der objektiven Ebene idR mißbilligte Risikoschaffung oder objektive Sorgfaltswidrigkeit voraus. Vgl. etwa Burkhardt, S. 99. Anders aber LK-Schroeder, § 16 Rn. 133 ff. 118 Jakobs, Strafrecht AT, 7/41 ff. 119 Niese, Streik und Strafrecht, S. 30. 115
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A. Der Begriff der Verhaltensnorm
hält. 120 Anerkennt man sorgfaltsgemäßes Verhalten nicht nur als nicht tatbestandsmäßig, sondern als erlaubt, kann die gesuchte Verhaltensnorm auch nicht allein durch die Vermeidbarkeit des Erfolgseintritts definiert werden: Verhaltensnormwidrig ist dann nur eine Teilmenge des Kreises rechtsgutsgefährdender Verhaltensweisen. 121 Widerspruch kommt, konsequenterweise, von Vogel: Ein erlaubtes Risiko gebe es nicht, abgesehen von den Fällen des rechtfertigenden Notstandes. 122 Bezugnehmend auf die Fallgruppenbildung bei Preuß 123 ordnet er - in Anerkennung dessen Ergebnisse - unbeherrschbare Kausalität, riskante Rettungshandlungen sowie Einwilligung des Opfers in Gefahr und Handlung teils der Einwilligungslehre im weiteren Sinn, teils der Kategorie notstandsähnlicher Lagen zu, oder will über die Regeln mittäterschaftlieber Zurechnung identische Ergebnisse erreichen. Allein um eines sozialen oder wirtschaftlichen Nutzens Willen dürften dagegen keine Risiken eingegangen werden. Erlaubt seien lediglich solche Risikoschaffungen, die schlechthin zu unserer Lebenswelt gehören, wie der Bau von Häusern, der Straßenverkehr oder die Warenproduktion. Diese Tätigkeiten seien lediglich mit einem allgemeinen Lebensrisiko befrachtet, das "qua statistisch unvermeidbaren normwidrigen Verhaltens oder unvermeidbarer höherer Gewalt" verletzungsrelevant werde. 124 Vogel übersieht, daß auch der Begriff der höheren Gewalt durch den des erlaubten Risikos definiert wird und letztlich auch nur die Erlaubnis bestimmter menschlicher Risikoschaffung zum Ausdruck bringt. Zur Verdeutlichung dient wieder die Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit im Straßenverkehr, ein auch nach Vogel grundsätzlich normgemäßes Verhalten. 125 Rennt nun ein Kind derart auf die Straße, daß der Autofahrer die Bremse zwar noch bedienen, das Fahrzeug aber nicht mehr anhalten kann, läßt sich erfolgskausales normwidriges Verhalten nicht feststellen. 126 Hätte die Straßenverkehrsordnung dagegen eine geringere Geschwindigkeit vorgeschrieben, wäre der Kreis der auf ,unvermeidbare höhere Gewalt' zurückgehenden Ursachen kleiner gewesen. Ist der Begriff der höheren Ge12o Nach einem Beispiel von Jakobs, vgl. Jakobs, Strafrecht AT, 7/45. Anders LK-Schroeder, § 15 Rn. 167, der ein erlaubtes Risiko nur auf Rechtfertigungsebene anerkennen will. 121 Anders Jakobs, Studien, S. 87 f.: Der Rekurs auf die Sorgfalt eines einsichtigen Menschen stelle einen Verweis auf ein Nonnensystem außerhalb der Verhaltensnonnen dar. 122 Vogel, Norm und Pflicht, S. 191 ff. 123 Preuß, passim. 124 Vogel, Norm und Pflicht, S. 193. 125 Dem steht auch nicht die von Vogel zu Hilfe gezogene Entscheidung der Vereinigten Großen Senate des BGH entgegen. Diese beinhaltete die Korrektur einer Einzelregel des Straßenverkehrsrechts, nicht aber die Abschaffung des Erlaubten Risikos. Auch wenn ein Menschenleben den Vorrang vor dem Wunsch des einzelnen, rasch vorwärts zu kommen, beanspruchen kann, bleibt doch im Normalfall die Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit erlaubtes Verhalten. V gl. BGHSt 16, S. 145 ff =BGHZ 35, S. 400 ff. 126 Hinsichtlich des Bremsens fehlt es an der Kausalität, und das Weiterrutschen des Autos trotz Bremsens ist schwerlich als menschliches Verhalten zu qualifizieren.
II. Das Verbot mißbilligter Risikoschaffung als Verhaltensnorm
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walt aber abhängig vom Inhalt des Erlaubten, dann ist, weil normwidriges Verhalten Dritter ohnehin nicht ausgeschlossen werden kann, der Begriffsumfang des allgemeinen Lebensrisikos im wesentlichen eine Frage definitorischer Willkür. Vogels Ausnahmetatbestand der ,,Zugehörigkeit schlechthin zu unserer Lebenswelt" überzeugt schon deshalb nicht, weil gefährdende Handlungen auf Baustellen und im Straßenverkehr im heutigen Leben nicht nur Ausnahmesachverhalte darstellen. Auch mutet es etwas wunderlich an, daß beispielsweise die Spazierfahrt mit dem Schwerlast-LKW "schlechthin zu unserer Lebenswelt" gehören soll. Als Orientierungshilfe für den Handelnden ist der Begriff praktisch untauglich: Denkt man an ungeregelte Situationen im Bereich des Straßenverkehrs oder gar der strafrechtlichen Produkthaftung, kann die pauschale Zuordnung des Lebensbereichs wenig über die konkrete Risikoerlaubnis aussagen.
b) Erlaubtes Risiko und Zurechnungsausschluß
Der Begriff des erlaubten Risikos ist eine Kategorie des Verhaltensunrechts und als solcher von Kategorien des Erfolgsunrechts, vor allem der Zurechnung des Erfolges zum Taterverhalten, zu trennen. Während die Rechtsordnung mehr als die Einhaltung des erlaubten Risikos nicht verlangt, beseitigt auch eine Verneinung der objektiven Erfolgszurechnung nicht mehr die Normwidrigkeit des Taterverhaltens. Zwar wird auch der Begriff der Erfolgszurechnung nicht stets einheitlich gebraucht. Die von Honig 127 begrundete Lehre von der objektiven Zurechnung des Erfolges beschreibt den Zusammenhang zwischen tatbestandliebem Verhalten und Deliktserfolg. Anliegen der Theorie von der objektiven Erfolgszurechnung ist die Formulierung von als notwendig erachteten Korrekturen an der strafrechtlichen Äquivalenzlehre der Verursachung. Nach heute herrschender Ansicht handelt es sich um einen Oberbegriff, der verschiedene Restriktionskriterien wie die Adäquanztheorie oder die Aspekte der Risikoverwirklichung und des Selbstverantwortungsprinzips unter sich vereint. 128 Roxin etwa sieht den Tatbestand des fahrlässigen Delikts allein durch die Lehre von der objektiven Zurechnung ausgefüllt, sofern er nicht zusätzlich eine Handlungsbeschreibung enthält. Zu diesen Kriterien objektiver Zurechnung zählt er dann aber auch die Mißbilligung der Gefahrschaffung, 129 und in einzelnen Unterkategorien der objektiven Zurechnung spiegelt sich die Gegenüberstellung von Handlungs- und Erfolgsunrecht Ähnlich erkennt auch Jakobs in dem erlaubten Risiko einen Unterfall der objektiven Zurechnung; er trennt zwischen dem Überschreiten des erlaubten Risikos durch Handlung 130 und Grundlegend Honig, Frank-FG, Bd. I, S. 174 ff. Vgl. zum Diskussionsstand Ebert/Kiihl, Jura 1979, S. 561 ff; Roxin, Honig-FS, S. 133 ff; Schönke/Schröder/Lenckner, vor§§ 13 ff, Rn. 72 ff, Rn. 95; SK-Rudolphi, vor§ 1 Rn. 57 ff. 129 Roxin, Strafrecht AT I, § 24 Rn. 39. 130 Jakobs, Strafrecht AT, 7/39 ff. 127
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A. Der Begriff der Verhaltensnorm
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der Risikoverwirklichung 131 . Bei materialer Betrachtung ist das erlaubte Risiko nach beiden Ansätzen als Kategorie des Verhaltensunrechts und der Verhaltensnorm einzustufen.
2. Objektive Erkennbarkeil des erlaubten Risikos? Schließlich stellt sich die für die Orientierung am erlaubten Risiko entscheidende Frage: Muß das Werturteil, das die Sorgfaltserfordernisse bzw. die Schwelle zwischen tolerierter und mißbilligter Gefahrschaffung festlegt, bereits im Handlungszeitpunkt objektiv erkennbar sein, sich also aus bereits formulierten Wertentscheidungen ableiten lassen? Die Konsequenzen einer Antwort sind nicht unerheblich. Ist objektive Erkennbarkeit erforderlich, begrenzt dieses Kriterium die Regelungswirkung der Norm; nicht erkennbare Verhaltensnormen existieren als solche nicht. Inhaltlich ließe sich die Frage nach der Erkennbarkeit mit dem Verweis auf das Orientierungskriterium beantworten; mangels Orientierung ergibt sich das Problem der relativ unbestimmten Verhaltensnorm. Ist objektive Erkennbarkeit hingegen verzichtbar, läßt sich eine bestimmte Norm konstruieren, ohne daß deren Inhalt ex ante erschließbar zu sein braucht. Wer sie nicht erkennt, handelt im Irrtum. Nun mag man einwenden, der Irrtum über eine objektiv nicht erkennbare Norm sei doch mit Sicherheit unvermeidbar iSd § 17 StGB. Vermeidbarkeit liegt aber schon dann vor, wenn der Täter mit der Möglichkeit rechnen mußte, einem noch strengeren Verbot zu unterliegen. Bezieht sich die Nichterkennbarkeit auf ein bestimmtes Abwägungsergebnis, muß der Handelnde im Rahmen des vorhandenen Abwägungsmaterials grundsätzlich mit jedem möglichen Ergebnis rechnen. Die Frage nach der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums bleibt somit ein Problem des Einzelfalles. In der strafrechtlichen Literatur finden sich wenige eindeutige Stellungnahmen. Roxin schreibt, der Tatbestandsvorsatz müsse sich auf die Umstände erstrecken, aus denen sich das unerlaubte Risiko ergibt. Er brauche aber nicht die Bewertung als unerlaubtes Risiko umfassen; eine falsche Bewertung sei insoweit Verbotsirrtum. 132 Dem folgt die wohl herrschende Ansicht; die Erkennbarkeit unerlaubter Gefahrschaffung, also einer Überschreitung des erlaubten Risikos, ist kein Merkmal des objektiven Tatbestands. 133 Auf objektiver Ebene erfolgt somit eine Prüfung allein der objektiven Erkennbarkeit der risikobegrundenden Umstände, die das als mißbilligt bewertete Risiko ergeben. Ob die Bewertung selbst objektiv erkennbar war, spielt auf Unrechtsebene - und damit auch für die Verhaltensnorm(!) - keine Rolle. Die Risikoschwelle wird damit allein aus der Perspektive ex post definiert. m Jakobs, Strafrecht AT, 7/72 ff. Chengchi Law Review 50 (1994), S. 240. 133 Burkhardt, S. 112; Wolter, GA 1977, S. 263 ff, S. 265, S. 267. 132
II. Das Verbot mißbilligter Risikoschaffung als Verhaltensnorm
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Auch Jakobs setzt für seinen Fahrlässigkeitsbegriff nur (subjektive) Erkennbarkeit des Risikos- also der Gefahrdung- voraus, 134 verlangt aber eine Bestimmung des erlaubten Risikos aus der Perspektive ex ante. 135 Konsequenz ist, daß sich der Beurteilende in die Handlungssituation zurückversetzt, mithin die Festlegung der Risikoschwelle auf der Basis der im Handlungszeitpunkt erkennbaren Umstände erfolgt. Von den Umständen läßt sich aber noch nicht deduktiv auf eine Wertung schließen, so daß die Festsetzung der Risikoschwelle stets innerhalb einer gewissen Bandbreite möglich ist. Auch die Bestimmung aus der Perspektive ex ante gewährleistet damit noch nicht, daß das Ergebnis der Wertung im Handlungszeitpunkt objektiv erkennbar war. Erkennbar ist für den Handelnden nur, daß für den Rechtsanwender ein gewisser Wertungsspielraum besteht, aber nicht, wie dieser Spielraum genau ausgefüllt wird. Die Tatsache, daß innerhalb dieses Spielraums die maßgebende Wertung festgesetzt werden wird, macht die konkret erfolgende Wertung noch nicht zum Orientierungsmuster; Orientierung bietet ex ante nur der Spielraum selbst. Jakobs Forderung stellt deshalb auch noch nicht sicher, daß sich die Feststellung der (objektiven) Tatbestandsmäßigkeit an dem ex ante zur Verfügung stehenden Orientierungsmuster ausrichtet.
a) Hart und Dworkin Das Sachproblem betrifft direkt die rechtstheoretische Frage, ob der Rechtsanwendereinen gestalterischen Spielraum hat (die sogenannte discretion in the law) oder ob für jede Rechtsfrage eine bestimmte richtige Lösung (right answer) existiert. In letzterem Falle wäre der Rechtsanwender nur gehalten, diese richtige Lösung zu finden. Ein Spielraum steht ihm dabei nicht zu, ungeachtet dessen, daß die richtige Lösung aus dem Normsystem nicht ableitbar sein mag. Für diese Auffassung hat sich exponiert der Amerikaner Dworkin stark gemacht. Er behauptet, es gebe für jede rechtlich bedeutsame Konstellation genau eine richtige Lösung. 136 Diese ergebe sich nicht allein aufgrund einer Anwendung der positiven Gesetze (rules), sondern erst durch deren Auslegung unter Berücksichtigung von gesellschaftspolitischen Zielsetzungen (policy) und allgemeinen Rechtsgrundsätzen (principle). Lasse sich mit diesen Hilfsmitteln eine Lebenssituation (scheinbar) nicht eindeutig erfassen, liege darin ein Erkenntnisproblem, nicht aber ein Regelungsproblem. 137 Als Erkenntnisproblem erklärt Dworkin auch die Divergenz gerichtlicher Entscheidungen, etwa im Rahmen eines Instanzenzuges. 138 Nach Dworkin ist auch die Verhaltensnormdes fahrlässigen Erfolgsdelikts in jeder Lebenssituation eindeutig defiJakobs, Strafrecht AT, 917. Jakobs, Strafrecht AT, 7 I 41. 136 Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 22 ff, S. 279 ff. m Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 280. 138 Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 280. Auch höchstrichterliche Entscheidungen können somit "falsch" sein. 134
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A. Der Begriff der Verhaltensnorm
niert. Ob sie erkennbar ist, spielt keine Rolle. Im Gegenteil, ein Korrektiv der Erkennbarkeit könnte im Einzelfall dem Ideal des richtigen Rechts entgegenstehen. Das Problem unbestimmter Verhaltensnormen entsteht nicht. Die Gegenposition vertritt in der internationalen Literatur H.L.A. Hart: Das Recht stellt danach kein abgeschlossenes System dar, sondern bietet nur ein Grundgerüst an Normen. Jede Norm weise eine offene Struktur (open texture) auf139 und lasse im Einzelfall eine Vielzahl kreativer Auslegungsmöglichkeiten zu; 140 jede Rechtsnorm sei daher zu einem gewissen Grade unbestimmt (indeterminate). 141 Den Rechtsanwender binden somit positivrechtliche Regeln sowie tradierte Gerechtigkeitsüberzeugungen, soweit der Norminhalt sich eben durch Auslegung konkretisieren lasse. Im Randbereich gebe es aber keine ,richtige' Auslegung, sondern nur eine Vielzahl vertretbarer Lösungen, die im Vergleich als gleichwertig einzustufen seien. 142 Folglich sind der Regelungswirkung von Normen sachlich Grenzen gesetzt. 143 Hart räumt dem Richter den nötigen Auslegungsspielraum (discretion) ein, um im konkreten Fall die maßgebliche Entscheidung treffen zu können. Er schreibt, es handle sich selbst dann nicht um eine reine Erkenntnisleistung, wenn rein rhetorisch der Wille des Gesetzgebers bemüht wird. 144 Vielmehr liege ein kreativ rechtsgestaltender Akt ex post facto vor; 145 den Gerichten gesteht er insoweit delegierte Normsetzungskompetenz zu. b) Hart und Dworkin unter Orientierungsgesichtspunkten
Diese Arbeit bietet kein Forum, den Positivismusstreit um das Problem der Rechtsgeltung grundsätzlich zu entscheiden. Worauf sich die Geltung des Rechts gründet ist, wie Armin Kaufmann schreibt, im Grunde die Frage nach dem RechtSein: Was ist das Recht? 146 Im Hinblick auf die Verhaltensnormbestimmung beim fahrlässigen Erfolgsdelikt kann aber die Vorstellung einer a priori vorgegebenen Durchnormierung der Materie nicht überzeugen. 139 Hart, The Concept of Law, S. 121 ff, S. 124, und S. 135 spricht von "an open texture as a neccessary feature ofrules". 140 Hart, The Concept of Law, S. 200: The open texture of law leaves a vast field for creative activity. 141 Hart, The Concept of Law, S. 131. 142 Hart, The Concept of Law, S. 128: "There is no possibility of treating the question raised by the various cases as if there were a uniquely correct answer to be found, as distinct from an answer which is a reasonable compromise between many conflicting interests." 143 Ebenso Perron, Diskussionsbericht zur Arbeitssitzung "Rechtfertigung, Entschuldigung oder sonstigehrsg. Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten" in: Albin Eser I Barbara Huber I Karin Comils (Hrsg.), Einzelverantwortung und Mitverantwortung im Strafrecht, s. 373. 144 Hart, The Concept of Law, S. 132. 145 So ausdrücklich Hart, The Concept of Law, S. 128. 146 Arrnin Kaufmann, Normentheorie, S. 47.
II. Das Verbot mißbilligter Risikoschaffung als Verhaltensnorm
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Gegen Dworkin scheint zunächst der pragmatische Einwand zu sprechen, daß eine nicht erkennbare richtige Lösung im Rechtsfindungsprozeß ohne Bedeutung wäre, könne sie doch auch der Rechtsanwender allenfalls zufällig treffen. Dworkin argumentiert dagegen, die Rechtsdurchsetzung lasse sich nicht legitimieren, wenn im Grunde eine andere Lösung ebenso ,richtig' oder ,gerecht' gewesen wäre. Die Tatsache, daß in nahezu allen schwierigen Wertungsfragen unter Rechtsanwendern Streit über die richtige Lösung bestehe, widerlege seinen Ansatz nicht: 147 So lasse sich trefflich streiten, ob David Copperfield wirklich seine Mutter liebte; und welche Blutgruppe er hatte, sei völlig unbekannt. Trotzdem gebe es auf beide Fragen (nur) eine richtige Antwort. 148 Das Fehlen einer eindeutigen positiven Regelung impliziere daher noch nicht, daß keine right answer existiert. Ob Dworkin den Einwand damit ausgeräumt hat, ist aber fraglich. Denn zumindest irgendeine Instanz muß in der Lage sein, den Begriff der right answer auszufüllen - und wenn dies auch nur der Autor eines literarischen Werkes ist. Ansonsten ist es durchaus denkbar, daß sich eine Frage eben nicht eindeutig beantworten läßt. Auf das deutsche Strafrechtssystem übertragen, läuft Dworkin's Ansatz aber Gefahr, mit der Positivismusschranke des Art. 103 Abs. 2 GG in Konflikt zu geraten. Weil das Grundgesetz im Strafrecht diesen eindeutig positivistischen Akzent setzt, können weder principle noch policy jenseits der Wortlautgrenze Strafbarkeit begründen. Andererseits läßt sich auch der Grundsatz nulla poena sine lege als principle verstehen, so daß sich die Konkordanz mit Art. 103 Abs. 2 GG auch nach Dworkins System erklären läßt. Der Preis ist allerdings, im Hinblick auf die Strafbegründung, die Anerkennung der positivistischen Schranke als oberstes principle. Von der These, die right answer sei nicht von der Existenz positiver Normen abhängig, bleibt dann aber nicht allzuviel übrig. Gegen eine a priori Existenz der richtigen Norm spricht vor allem aber der Orientierungsgedanke. Eine nicht erkennbare Norm kann schwerlich ein Motiv für ihre Einhaltung abgeben; erst die formulierte Norm erlaubt Orientierung (in Dworkins Terminologie: wenn notice 149 gegeben worden ist). Über die Leitbilder principle und policy lassen sich nur Abwägungsergebnisse erreichen, die, wie die Praxis ja lehrt, durchaus kontrovers ausfallen mögen. Dworkins Ansatz, der das Richtige zur Norm erhebt, motiviert zum Umsetzen der eigenen, für richtig angesehenen Wertung, mag ein Gericht diese auch (,irrigerweise'!) für falsch erachten. Der Verhaltenssteuerung ist damit nicht gedient, und die ex post- Erkenntnis des Rechtsanwenders kann zu nicht unerheblicher Verunsicherung des Handelnden führen. Schließlich ist im Bereich des erlaubten Risikos durchaus fraglich, ob der materiale Maßstab einer übergreifenden Werteskala stets dessen Festsetzungen rechtfertigt. So ist der Straßenverkehr und die auch mit regelkonformem Fahren verbunDworkin, Taking Rights Seriously, S. 279 ff, S. 280, S. 288; vgl. auch S. 334. Dworkin, "No Right Answer?", S. 58 ff am Beispiel des entsprechenden Werkes von Charles Dickens. 149 Vgl. dazu Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 337. 147 148
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dene Gefährdung von Leib und Leben Dritter erlaubt, obwohl sich die nicht unerhebliche Zahl tödlicher Unfälle pro Tag mit statistischem Material einigermaßen sicher prognostizieren läßt. Jakobs hat darauf hingewiesen, daß die Risikoerlaubnis nur solange gelten könne, als die potentiellen Opfer nicht als solche individuell identifizierbar sind. 150 Dann würde deren Recht auf körperliche Unversehrtheit das wirtschaftliche Interesse anderer Verkehrsteilnehmer unbedingt überwiegen. Die Individualisierung des Risikos ist aber kein Wert im Sinne des Grundgesetzes, so daß hinsichtlich der Tötung des unbekannten Verkehrsteilnehmers die Risikoerlaubnis vergebens nach einem rechtfertigenden principle sucht.
c) Armin Kaufmann
Armin Kaufmann begnügt sich mit der Feststellung, daß die Norm als solche "gültig" sei und zitiert Binding: "Hinter Verbot und Gebot beginnt aber für den, der nach der Rechtswidrigkeit sucht, tiefster, undurchdringlicher Nebel" 151 . Er sieht keinen kontradiktorischen Gegensatz zwischen der Lehre vom objektiven Wert des Sollens und der als "Willenstheorie" bezeichneten, die alles Recht auf den positiven Willen eines Gesetzgebers zurückführt. Denn auch der Wille des Gesetzgebers sei rückführbar auf Wertungen, weshalb auch im Falle der positiven Gesetzgebung die Norm zugleich Ausdruck eines Befehls sowie einer prätendierten Richtigkeit sei. 152 Er schreibt, die Norm könne die Verwirklichung ihres Gegenstandes nicht abwarten; 153 in ihr finde der "Übergang vom Wert- zum Sollensurteil"154 statt. Irgendein gestaltender Akt ist damit zumindest im Rahmen des Sollensurteils erforderlich, denn andernfalls käme die Norm von vornherein nicht in die Verlegenheit, irgendetwas "abzuwarten". Da es weiter nicht möglich ist, ex ante alle möglichen Fahrlässigkeitskonstellationen zu regeln, impliziert Kaufmann eine open textureder Norm. Andererseits sieht er auch das gesetzgebensehe Werturteil wiederum dem Werturteil ausgesetzt, ob es ,richtig' und mithin ,gültig' und ,rechtens' ist. Diese letzte Beurteilung bezeichnet Kaufmann als die "vornehmste Aufgabe der Axiologik" 155. In der Sache ist damit noch keine Entscheidung getroffen, wenngleich der Begriff der Richtigkeit nahelegen könnte, daß sich die axiologische Bewertung eher in einem Erkenntnis- als in einem Gestaltungsakt erfolgt. Doch läßt sich argumentieren, daß Kaufmann gerade für den hier fraglichen Bereich des fahrlässigen Er150 Jakobs, Strafrecht AT, 7/38: Es dürfe niemand Anlaß haben, darüber zu klagen, daß er unverhältnismäßig stark an den Nachteilen der allgerneinen Handlungsfreiheit beteiligt sei. 151 Binding, Normen II, S. 161. Vgl. Arrnin Kaufmann, Normentheorie, S. 47. 152 Annin Kaufmann, Normentheorie, S. 90. 153 Annin Kaufmann, Normentheorie, S. 139. 154 Annin Kaufmann, Normentheorie, S. 76; vgl. auch ders., Normentheorie S. 67: Die Existenz des Werturteils ist begriffliche Voraussetzung der Verhaltensnorm. 155 Annin Kaufmann, Normentheorie, S. 90.
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folgsdelikts die höhere Richtigkeitseckenntnis ausschließt: Könne das endgültige Werturteil überhaupt nicht oder erstaposteriorigefallt werden, nehme es der Norm nicht ihre Gültigkeit. 156 Die Tatsache einer Ordnung sei dann wichtiger als die Gewißheit über die richtige Gestaltung. Die Norm beziehe ihre Gültigkeit aus der Bewertung ihrer Kraft zur Wirklichkeitsgestaltung, aus dem "Wert ihrer Positivität"157. Die Kraft zur Wirklichkeitsgestaltung einer Norm ist nun notwendigerweise auf deren Regelungsgehalt beschränkt, und zwar soweit dieser ex ante objektiv erkennbar ist: Denn wenn sich menschliches Verhalten -etwa aufgrund übergeordneter Gerechtigkeitsprinzipien- nicht an dem erkennbaren Nonninhalt orientiert, dann ist es eben gerade nicht die Norm, die die Wirklichkeit gestaltet. Wie Kaufmann schreibt, setzt die Zulässigkeit axiologischer Kontrolle umgekehrt voraus, daß das endgültige Werturteil bereits im Handlungszeitpunkt gefällt werden kann. Ansonsten bleibt es dabei, daß der Verhaltensbeurteilung die Norm so, wie sie ex ante erkennbar war, zugrundezulegen ist. Somit spielt es für diese Normkategorie in der Tat keine Rolle, ob das endgültige Werturteil im Wege der Erkenntnis oder der Gestaltung gewonnen wird.158 Doch ist hinsichtlich der Festlegung der Mißbilligungsschwelle die Tatsache einer Ordnung wichtiger ist als die Gewißheit über die richtige Gestaltung? Annin Kaufmann verzichtet darauf, seine Stellungnahme durch Beispiele anzureichern. Sein Ordnungsgedanke scheint jedoch weite Teile des Straßenverkehrsrechts problemlos zu erfassen. Eine solche Norm stellt etwa das in Deutschland geltende Rechtsfahrgebot dar. Ob Autos auf der rechten oder auf der linken Straßenseite fahren sollen, oder ob einer flexibleren Regelung der Vorzug zu geben ist, mag Gegenstand axiologischer Erwägungen sein. Auch ist denkbar, daß eine optimale Lösung dieser Rechtsfrage existiert. Wichtiger ist aber, daß überhaupt eine Regelung existiert, und daß diese nicht ruckwirkend durch gerichtliche Entscheidung in Frage gestellt wird. Insofern kommt Kaufmanns "Wert der Positivität" 159 zum Tragen. ,Ordnung' in Kaufmanns Sinn könnte auch dann wichtiger sein, wenn die ,richtige Gestaltung' als Ergebnis einer schwierigen Abwägungsentscheidung im Handlungszeitpunkt nicht erkennbar war. Dies trifft auf die Festlegung der Mißbilligungsschwelle zu, sind doch die in Frage stehenden Gefährdungen regelmäßig im Hinblick auf andere Werte - etwa wirtschaftliches Wachstum und sozialen Wohlstand -erwünscht. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz erfordern, daß die ,Ordnung' nicht ruckwirkend in Frage gestellt wird, mag die axiologische Kontrolle auch eine abweichende ,richtige Gestaltung' definieren. Unklar ist, ob sich der Begriff der ,Ordnung' auch auf Regelungslücken erstreckt, somit ,Unordnung' umArrnin Kaufmann, Norrnentheorie, S. 90. Arrnin Kaufmann, Norrnentheorie, S. 90. 158 Und zwar deshalb, weil de facto immer eine Gestaltung vorliegt. Insofern ist es auch nicht überzeugend, wenn Fleteher das Konzept Dwork.ins pauschal als paradigmatisch für kontinentaleuropäisches Rechtsdenken einstuft. Vgl. Fletcher, The Right and The Reasonable, S. 117. 159 Norrnentheorie, S. 90. 156 157
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faßt. Grundsätzlich sind auch die Grenzen Teil der positiven Regelung, und die gesetzgeberische Entscheidung liegt dann eben in einem Verzicht auf eine detailliertere Regelung. Gerade für den offenen Tatbestand des fahrlässigen Erfolgsdelikts läßt sich Rechtssicherheit nur erreichen, wenn sich der Ordnungsbegriff auch auf die Ausfüllung der Norm erstreckt. Letztlich ist Kaufmanns Abgrenzung aber zu unscharf, weil das normative Kriterium "wichtiger" 160 einen extrem weiten Auslegungsspielraum zuläßt, und daher nur bedingt brauchbar. In der Sache mag es für (fast) jede positive Norm einen gewissen Anwendungsbereich geben, in dem quantitativ minimale Wertungsdefizite hinter dem Wert ihrer Positivität zurückstehen müssen. Als Verhaltensnorm des fahrlässigen Erfolgsdelikts kommt nach alldem allein die Erwartung in Betracht, daß der Rechtsunterworfene die Risikoschwelle nicht überschreite, die ex ante, in objektiv erkennbarer Fassung das erlaubte Risiko definierte. Diese Norm findet damit in der Tat eine Grenze in der Erkennbarkeil ihres Gegenstandes im Handlungszeitpunkt Legt sich die Norm hinsichtlich der Handlungen bzw. Gefährdungen, die diese Schwelle überschreiten, nicht fest, dann definiert sie auch nicht ein bestimmtes Verhalten als normgemäß und damit als richtig. Fehlt es hinsichtlich der Mißbilligungsschwelle an einem formulierten Werturteil, aber auch nur insoweit, liegen bereits die Voraussetzungen einer Norm nicht vor. Das fahrlässige Erfolgsdelikt muß dann konsequenterweise dieselbe Bandbreite möglicher Wertungen als rechtmäßig akzeptieren, innerhalb derer sich im Falle einer Regelung gültige Normen bewegen könnten. Einer gestaltenden Einflußnahme pro futuro steht der Ordnungsgedanke hingegen nicht im Wege, da die Norm keine Gefahr liefe, in Armin Kaufmanns Formulierung, 16 1 die Verwirklichung ihres Gegenstandes abzuwarten. Hinsichtlich der Festlegung der Mißbilligungsschwelle erfordert dies vom Richter eine kreativ rechtsgestaltende Tatigkeit, und nicht lediglich die Erkenntnis einer bereits objektiv bestehenden Wertung.
111. Inhaltliche Konturen mißbilligter Risikoschaffung 1. Der Sorgfaltsbegriff a) Die Maßfigur
Inhaltlich bestimmt die herrschende Meinung das erlaubte Risiko in einer Abwägung aller beteiligten Wertungsgrößen: Roxin schreibt, welche Art von Gefahrschaffung verboten sei, richte sich nach der sozialen Bedeutung des riskanten Verhaltens. 162 BurgstaUer verweist insoweit auf den Gefcihrlichkeitsgrad des zu beur160 16 1 162
Normentheorie, S. 90. Normentheorie, S. 139. Roxin, Strafrecht AT I, § 24 Rn. 37 f mwN.
111. Inhaltliche Konturen mißbilligter Risikoschaffung
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teilenden Verhaltens, den Grad des Zwanges, der zur Durchführung des Verhaltens in der konkreten Form nötigt, sowie den Umfang der Aufwendungen, die erforderlich wären, um die in Rede stehende Gefährlichkeit zu verringern oder zu vermeiden.163 Diese Kriterien enthalten aber keine Verhaltensbeschreibung; der Handelnde wird nur aufgefordert, seinerseits eine Abwägung vorzunehmen - und zwar mit der Maßgabe, dabei das richtige Abwägungsergebnis zu treffen. Welzel begrenzt die im Tatbestand des fahrlässigen Erfolgsdelikts niedergelegte Verhaltenserwartung durch das Leitbild des§ 276 BGB: Fahrlässig handle, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht läßt. Der Richter habe zu ermitteln, was in der konkreten Lage des Taters für ihn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt ist, und dann durch einen Vergleich dieses Verhaltens mit der wirklichen Handlung des Taters festzustellen, ob diese sorgfaltsgemäß war oder nicht. 164 Sorgfaltig sei dasjenige Verhalten, das ein einsichtiger und besonnener Mensch in der Lage des Taters einschlagen würde. Das Verhalten dieses Menschen fungiert also als Norm; die Verhaltenserwartung wird durch das fiktive Verhalten des Einsichtigen bzw. Besonnenen definiert. Die Norm baut insofern auf einer doppelten Fiktion auf: Zum einen befindet sich der Mustermensch nicht in der Handlungssituation und hat sich auch in einer vergleichbaren Lage noch nicht befunden. Zum anderen existiert er nicht als reale Tatsache; er sei vielmehr, so Welzel, anhand eines intellektuellen und eines normativen Gesichtspunkts zu konstruieren. In die Rubrik ,intellektuell' ordnet Welzel die dem Handelnden erkennbaren Tatumstände ein, unter ,normativ' versteht er das Entscheidungsvermögen, anhand der ,intellektuellen' Grundlage die Grenze eines ,maßvollen Risikos' des Erfolgseintritts abzustekken. 165 Welzels Definition des objektiven Tatbestands des Fahrlässigkeitsdelikts folgt im wesentlichen die heute herrschende Lehre. 166 Bedenklich ist, daß die doppelte Fiktion in der Verhaltensnorm die Orientierung nicht unerheblich erschwert: Zunächst muß sich der Handelnde über die Konturen und Eigenschaften des Besonnenen - teilweise wird eher das Leitbild des Vernünftigen167 für maßgebend gehalten- im Klaren sein. Sofern in dem Leitbild der Verweis auf moralische oder normative Grundeinsteilungen in der Gesellschaft liegt, dürfte dem Handelnden nicht unbedingt geholfen sein: Zunächst lehrt die Praxis, daß das Individuum durchaus die Tendenz zeigt, jeweils die eigenen Eigenschaften als, besonnen' oder ,vernünftig' zu definieren. Ob sich der Bürger über den Inhalt von Sorgfaltspflichten stets leicht durch eigene Anschauung unterrichten kann, wie Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 58. Welzel, Strafrecht, S. 131. 165 Welzel, Strafrecht, S. 132. 166 Blei, AT, S. 299; Bockelmann/Volk, AT, S. 159; LK-Hirsch, vor§ 32 Rn. 32; ders., ZStW 74 (1962), S. 94; ZStW 94 (1982), S. 276; Krümpelmann, Bockelmann-FS, S. 443; Rudolphi, JuS 1969, S. 549; Schönke/Schröder/Cramer, § 15 Rn. 120 ff; Schünemann, JA 1975, S. 435, S. 575 ff; Wessels, AT, S. 197. 167 Vgl. Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 57, Fn. 62; Münzberg, Verhalten und Erfolg, s. 250. 163
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Jescheck/Weigend behaupten, ist allein unter dem Eindruck des Vernünftigkeitskriteriums mehr als fraglich. Sofern die positive Rechtsordnung auf eine konkrete Wertung verzichtet, müssen jedenfalls in dem Rahmen, den das Grundgesetz absteckt, abweichende Wertvorstellungen in Kauf genommen werden. 168 Sowohl aus tatsächlichen wie auch aus Rechtsgründen läßt sich über den Begriffsinhalt des Vernünftigen, Einsichtigen oder Besonnenen im konkreten Einzelfall trefflich streiten.
b) Die Verkehrskreise
In Fortführung des Maßfigurkonzeptes hat sich in Rechtsprechung und Literatur das Konzept der Verkehrskreise entwickelt, wonach der leitbildhafte Verkehrskreisteilnehmer die Rolle der Maßfigur übernimmt. Die Rechtsprechung differenziert nach dem Urteilsvermögen eines "gewissenhaften Kraftfahrers" im Autobahnverkehr, 169 des "veratwortungsbewußten Führers eines schweren LKW" vor der Einfahrt in eine längere Gefallstrecke, 170 eines "mit einer gefahrvollen Führungsaufgabe betrauten Offiziers" bei einer Lehrvorführung im Scharfschießen, 171 eines "erfahrenen Facharztes" 172 oder "Sozialarbeiters" 173 etc. oder stellt auf den Umfang "kaufmännischer Sorgfalt" ab. 174 Welche Fähigkeiten dem gedachten objektiven Beurteiler zugeschrieben werden, ist von der jeweiligen Handlungssituation und den risikobefangenen Gütern abhängig. 175 Die in der strafrechtlichen Literatur vertretenen Ansätze legen einer Konturierung des erlaubten Risikos fast ausnahmslos ein solches Verkehrskreiskonzept zugrunde. Der leitbildhafte Verkehrskreisteilnehmer unterscheidet sich nicht von Welzels sorgfältigem. Man habe weder auf den Durchschnittsmenschen noch auf das Verhalten abzustellen, das "im Verkehr tatsächlich geübt" 176 werde. Burgstaller will das zu beurteilende konkrete Verhalten mit dem einer gedachten Modellfigur vergleichen, die man sich in der gleichen Lage vorzustellen habe wie den Handelnden selbst. 177 Als differenzierte Maßfigur habe sie dem Verkehrskreis des Handelnden 168 Vgl. nur Schönke I Sehröder I Eser, § 1 Rn. 22 mwN: Sofern der Gesetzgeber auf eine eigene Wertung verzichtet, muß er die Existenz abweichender Wertvorstellungen in Kauf nehmen. 169 BGH 16, S. 145 ff, S. 161. 11o BGH 7, S. 307 ff, S. 309. 171 BGH 20, S. 315 ff, S. 319. 172 BGH JZ 1987, S. 879. 173 LG Osnabriick, NStZ 1996, S. 437 ff, S. 439. 174 Vgl. die Nachweise bei Schönkel SchröderiCramer, § 15 Rn. 206 ff und LK-Schroeder, § 16 Rn. 195 ff. 175 H.M; Jakobs, Strafrecht AT, 7147 mwN. 176 Welzel, Strafrecht, S. 132. Ebenso Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 55 ff. 177 Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 56 ff.
III. Inhaltliche Konturen mißbilligter Risikoschaffung
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anzugehören: Je nach Tatsituation komme es darauf an, wie sich "ein gewissenhafter und einsichtiger Kraftfahrer, Arzt, Baumeister, Installateur oder Rauchfangkehrer"178 verhalten hätte. Wenn etwa ein Hausmeister auf dem Dach Ziegel deckt, werde er nicht an dem Maßstab eines gewissenhaften und einsichtigen Hausmeisters, sondern an dem eines Dachdeckers gemessen. 179 Dem folgt in der Sache die herrschende Meinung: welche der Leitbildfiguren im Einzelfall heranzuziehen sei, bestimme sich nach dem Handlungs- bzw. Lebensbereich, um den es konkret gehe. Nach Jakobs Ansicht sei daher frir die Beurteilung des Risikos eines Atomreaktors jedes sachverständige Wissen heranzuziehen. Bei der Beurteilung der Betriebssicherheit eines Automobils komme es hingegen nur auf das Wissen eines erfahrenen Technikers an und in der Frage, ob Lebensmittel verdorben sind, entscheide im Rahmen deren industrieller Konservierung das Urteil eines Lebensmittelchemikers, bei privatem Verbrauch das einer erfahrenen Hausfrau. 180 Kaminski präzisiert die Kriterien zur Eingrenzung der Verkehrskreise: Verkehrskreisbildung setze gruppentypisches Verhalten voraus. Verkehrsgruppen seien so zu bilden, daß zum einen der Gesetzgeber die Gruppe sinnvollerweise zum Adressaten von Verhaltensregeln machen könnte, und daß andererseits ein funktionaler Zusammenhang zwischen der Gruppe und dem zu bewertenden Verhalten bestehe. Gruppentypisches Verhalten liege dann vor, wenn in einer Vielzahl von Fällen gleichartig verfahren wird, und wenn diese gleichartigen Verhaltensweisen über einen längeren Zeitraum zu beobachten sind. 181 Konsequenz ist, daß auch das Verhalten der Maßfigur, also die Verhaltensnorm, an diesem gruppentypischen Verhalten auszurichten wäre. Kaminski verweist zur Stützung dieser These auf Stellungnahmen Engischs und Welzels zur Ausstattung der Maßfigur mit nomologischem Höchstwissen auf ontologisch umfassender Urteilsbasis: Diese müßten dahingehend interpretiert werden, daß nicht die prognostischen Fähigkeiten eines Fachmannes, sondern (im Verkehrskreis vorhandenes) allgemeines Erfahrungswissen maßgebend sei. Es komme auf die Vorhersehbarkeit eines sich in der konkreten Situation befindlichen Dritten des betreffenden Verkehrskreises an. 182 Dieser Ansatz überzeugt aber nicht: Anliegen des Verkehrskreises war es doch gerade, die Maßstabsperson mit denjenigen Fähigkeiten auszustatten, die erforderlich sind, um für den Verkehrskreis typische Gefahrensituationen zu meistem. ,Meistem' bedeutet im normalen Sprachgebrauch gerade nicht, nur statistisch durchschnittliches 178 Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 57. Ebenso JescheckiWeigend, Strafrecht AT, S. 427, S. 437, S. 440; Welzel, Strafrecht, S. 134; Wessels, Strafrecht AT, S. 108; Armin Kaufmann, ZfRV 64, S. 51; Kaminski, S. 135 ff. 179 Beispiel nach Armin Kaufmann, ZfRV 1964, S. 51. Ebenso BGHSt 3, S. 91 ff, S. 95; BGHSt6, S. 283 ff, S. 288; BGHSt 7, S. 309 ff; BGHSt 16, S. 145 ff, S. 151; BGHSt20, 315 ff, S. 319; Jakobs, Strafrecht AT, 7 I 47; Roxin, Strafrecht AT I,§ 24 Rn. 32 ff; Kaminski, S. 135 ff. 180 Jakobs, Strafrecht AT, 7 I 47. 181 Kaminski, S. 135 ff. 182 Kaminski, S. 31, mit Verweis auf Engisch, Kausalität, S. 54 und Welzel, Fahrläsigkeit und Verkehrsdelikte, S. 16.
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Verhalten zu zeigen, sondern sich wie jemand zu verhalten, der die Gefahr erkennt und beherrscht: nämlich wie ein Fachmann. Kaminski bedient sich eines Beispiels von Arrnin Kaufmann: Ein Kraftfahrer entdeckt vor Antritt der Fahrt einen Riß im Lenkgehäuse, benutzt sein Fahrzeug aber trotzdem. Der Riß sieht gefährlich aus, sitzt aber, was der Kraftfahrer nicht erkennen kann, einige Millimeter zu weit links, um schädigende Folgen herbeiführen zu können. Ein Mitarbeiter der technisch-physikalischen Bundesanstalt (=ontologisches und nomologisches Höchstwissen) hätte gesehen, daß der Defekt ungefährlich, die Benutzung des Kraftfahrzeugs mithin unbedenklich ist. Unter Zugrundelegung des Expertenwissens hätte das Verhalten des Autofahrers mangels Vorhersehbarkeit des Erfolges nicht als sorgfaltswidrig bewertet werden können. Das Resultat sei aber untragbar, der Kraftfahrer hätte sofort eine Werkstatt aufsuchen müssen. Folglich könne die Expertenansicht nicht maßgeblich sein. 183 Entgegen dem ersten Anschein spricht das Beispiel nicht gegen die Maßgeblichkeit der Expertenmeinung. Unterstellt, sie ist richtig, kommt es nicht zum Unfall, und eine Haftung nach dem Erfolgsdelikt scheidet ohnehin aus.184 Aber auch im Rahmen eines konkreten Gefährdungsdelikts läßt sich ein Verstoß nicht feststellen, denn es fehlt an der konkreten Gefahr: Der vorliegende Defekt kann schon seiner Natur nach nicht zum Schadenseintritt führen, eine ,kritische Verkehrssituation' kann bereits objektiv nicht eintreten. Welche Kriterien auch immer man bemüht, wenn der Erfolgseintritt objektiv unmöglich ist, fehlt es stets an einer konkreten Gefahr. In Betracht käme nur der Verstoß gegen ein abstraktes Gefährdungsdelikt, das an das Fahren trotzRissen im Lenkgehäuse anknüpft. Nun wollte Arrnin Kaufmann mit seinem Beispiel die Notwendigkeit einer positiven, ja: zu gewissem Grade willkürlichen, Grenzziehung im Bereich der normativen Festsetzung der Sorgfalt demonstrieren. Dieses Vorhaben muß allerdings als geglückt angesehen werden. Man stelle sich nur vor, es kommt entgegen der Expertenmeinung doch zum Bruch des Lenkgehäuses. Diese Konstellation ist nicht untypisch: Soll der Verhaltensnormverstoß verneint werden, hat sich die Maßstabsperson immer geirrt, der Erfolg ist also entgegen ihrer Prognose eingetreten. Absolutes Kausalwissen ist eben unter Zugrundelegung einer Perspektive ex ante nicht erreichbar. Auf die Spannung zwischen Faktizität und Norm im Verkehrskreiskonzept hat Roxin hingewiesen: 185 Soweit es um die ordnungsgemäße Ausübung von Berufen oder Gewerben geht, wird man als Leitgesichtspunkte vielfach verbindliche Regeln benutzen können, die entweder als Rechts- oder Verkehrsnormen kodifiziert oder zumindest, wie etwa die ärztliche Iex artis, im jeweiligen Verkehrskreis bekannt sind. Fehlt es an solchen Regeln, fehlt es im normativen Verkehrskreiskonzept genauso an Orientierungssicherheit wie bei der Maßfigur: ,,Je mehr man die Leitfiguren den wirklichen Akteuren eines bestimmten Verkehrskreises angleicht, 183 184 185
Kaminski, S. 30. Ebenso Annin Kaufmann, ZfRV 1964, S. 48 f. So auch Annin Kaufmann, ZfRV 1964, S. 49. Roxin, Strafrecht AT I, § 24 Rn. 33.
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desto gehaltvoller ist ihre argumentative Verwendung, desto stärker gleicht sich aber auch die Bestimmung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt der Deskription der im Verkehr tatsächlich geübten Sorgfalt an" 186• Schließlich hilft die Einordnung der Maßfigur in einen Verkehrskreis spätestens dann nicht mehr weiter, wenn es um das Meistern einer bislang noch nicht erlebten und deshalb neuen Situation geht. Hier gibt es nicht nur kein normatives Leitbild, sondern noch nicht einmal ein tatsächlich geübtes Verhaltensmuster. Im Ergebnis ist auch auf der Basis des Verkehrskreiskonzeptes eine normative Entscheidung vonnöten. Armin Kaufmann bezeichnet den Mustermenschen deshalb als eine "Personifizierung der Rechtsordnung in der konkreten Situation" 187• Verkörpert der Mustermensch aber die gesamte Rechtsordnung, verweist das inhaltsleere Erfolgsdelikt letztlich auf die in einem bestimmten Lebensbereich jeweils gültige Verhaltenserwartung, die sich aus den einschlägigen Rechtsnormen und anderen funktionsgleichen Regelungen ergibt. Die Überlegung leuchtet ein, denn wer, wenn nicht die Rechtsordnung selbst, sollte verbindliche Verhaltensnormen erzeugen können? Der Mustermensch dient damit letztlich nur als Vehikel, um die Rechtsordnung im Tatbestand des Fahrlässigkeitsdelikts unterzubringen, ohne nach dem Legitimationsgrad einzelner Regeln und Richtlinien differenzieren zu müssen. Der Verkehrskreis ist aber als solcher dann verzichtbar. Die Frage nach der Verhaltensnorm im Verkehrskreis läßt sich als Frage nach den maßgebenden Normen der Rechtsordnung reformulieren. 2. Die Rolle abstrakter Gefährdungsverbote
a) Die Indizientheorie
Bei Welzel finden sich gegenüber dem Verkehrskreiskonzept weitergehende inhaltliche Aussagen über die Ausfüllung des offenen Fahrlässigkeitstatbestandes. Der Sorgfaltsbegriff sei anband von Erfahrungssätzen über die Verknüpfung bestimmter Verhaltensweisen mit ihnen eigentümlichen Gefahren und über die Abwendung dieser Gefahren auszufüllen. 188 Solche Erfahrungssätze findet Welzel in den Verkehrsvorschriften des Straßenverkehrs, den Kunstregeln verschiedener Berufszweige oder anderen polizeilichen Sicherheitsvorschriften. Wenn auch die Konkretisierung des fahrlässigen Erfolgsdelikts allein aus dem Gesetzeswortlaut oft schwierig ist, so läßt sich doch oft recht einfach feststellen, daß der Verletzende gegen eine Rechtsnorm verstoßen hat, die im Interesse des Rechtsgüterschutzes be-
Roxin, Strafrecht AT I, § 24 Fn. 51, unter Verweis auf Kuhlen. Annin Kaufmann, ZfRV 1964, S. 51; ebenso Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 55. Man beachte die Übereinstimmung der Maßfigur mit Roxins Bestimmtheitskriterium, vgl. oben II. 1. a). 188 Welzel, Strafrecht, S. 133. 186 187
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stimmte Verhaltensweisen generell untersagt. Welzel schränkt ein, diese Regeln gälten "nur für die große Zahl der gleichartigen oder typischen Fälle" und stellten daher nur "Anzeichen" oder "Beweisanzeichen" für eine Sorgfaltsverletzung im Sinne des fahrlässigen Erfolgsdelikts dar. 189 Dieser "Indizientheorie" folgt heute die ganz herrschende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur. 190 Weil in dem Verstoß gegen ein abstraktes Gefährdungsverbot zwar im Regelfall, aber eben nicht zwingend auch eine konkrete Gefährdung liege, sieht die Rechtsprechung in der Verletzung der abstrakten Norm lediglich ein Indiz für die Erfüllung des Fahrlässigkeitstatbestandes: Der Verstoß gegen eine generelle Rechtsnorm lege zwar die Annahme tatbestandliehen Verhaltens nahe, trotz Vorliegens einer abstrakten Sorgfaltspflichtverletzung könne aber im Einzelfall die Voraussehbarkeit des Erfolges zu verneinen sein. 191 Daß selbst die Orientierung an solchen Verkehrsvorschriften, die Teil der positiven Rechtsordnung sind, noch nicht vor Fahrlässigkeit schützt, findet sich als allgemeiner Tenor fast aller Nuancen der herrschenden Meinung. Nun ist aber mit einem Indiz noch nicht viel gewonnen, wenn dennoch für jeden Einzelfall festgestellt werden muß, ob eine konkrete Gefahr für das verletzte Rechtsgut geschaffen wurde und ob diese normativ zu mißbilligen ist. Die herrschende Meinung weicht der naheliegenden Schlußfolgerung aus, zumindest für Welzels "typische" Fälle eines Normverstoßes die Frage nach der objektiv erforderlichen Sorgfalt entschieden zu haben. Schroeder wirft der Lehre von der Sorgfaltsverletzungdeshalb einen "Widerspruch zu ihren Grundlagen" vor. 192 Über die Verhaltenserwartung selbst besteht aber in diesen typischen Fällen kein Zweifel mehr. Die herrschende Meinung kann den normativen Gehalt der Indizien nur deshalb nicht im Sinne der Rechtssicherheit nutzbar machen, weil es an einer plausiblen Abgrenzung der typischen von den untypischen Fällen fehlt. Gössel/Zipf193 versuchen, die normative Lücke über eine Beweisregel zu schließen: In bestimmten strafrechtlichen wie sonstigen rechtlichen Regeln habe der Gesetzgeber selbst bestimmte Handlungsweisen als per se sorgfaltswidrig 194 und damit der Verkehrssitte widersprechend gekennzeichnet. Dazu zählten abstrakte und besondere Gefährdungsdelikte des StGB, das Straßenverkehrsrecht, §§ 38 ff HGB über die Führung von Handelsbüchern, § 11 des BundesseuchengeWelzel, Strafrecht, S. 134. Exner, Wesen der Fahrlässigkeit, 1910, S. 200, S. 220 Fn. 3, S. 204 Fn. 2; Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit, S. 360 ff; Welzel, Strafrecht, S. 133; Roxin, Strafrecht AT I, § 24 Rn. 15 ff; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, § 55 I 3d; LK-Schroeder, § 16 Rn. 163. 191 BGHSt 4, S. 182 ff, S. 185; 12, S. 75 ff, S. 78; RGSt 8, S. 67; 56, S. 343; 73, S. 370; 76, s. 1. 192 LK-Schroeder, § 16 Rn. 163. 193 Maueach I Gössel/ Zipf, Strafrecht AT Tb.2 § 43 Rn. 43 ff. 194 Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT Tb.2 § 43 Rn. 47. 189
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III. Inhaltliche Konturen mißbilligter Risikoschaffung
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setzes etc. 195 Der Verstoß gegen solchermaßen "geborenes" sorgfaltswidriges Verhalten begründe eine unwiderlegliche gesetzliche Vermutung sorgfaltswidrigen Verhaltens. 196 Für die Praxis stehe mit der Nichtbeachtung der rechtlichen Regeln die Sorgfaltswidrigkeit des Verhaltens fest. Gössel/ Zipf verringern damit noch einmal den Abstand zwischen Indiz und Sorgfalt, ohne ihn völlig zu schließen. Ist die Vermutung aber für die Praxis unwiderlegbar, warum soll entsprechendes nicht auch in der Theorie zum Ausdruck kommen? b) Jakobs' Vertrauensgrundsatz
Ein erwähnenswertes Konzept zur Konkretisierung des erlaubten Risikos liefert Jakobs, das auf dem Gedanken der Erwartenssicherheit aufbaut. Das erlaubte Risiko diene der Ermöglichung sozialen Lebens, das seinerseits auf Erwartensicherheit angewiesen sei. Erwartenssicherheit bedeutet bei Jakobs nicht Vermeidung von Rechtsgutsgefährdungen (,,Enttäuschung") um jeden Preis, sondern sie erweitert die Handlungsfreiheit. Durch die Anerkennung eines Bereichs des erlaubten Risikos soll über ein größtmögliches "Arsenal möglicher Verhaltensweisen" die weitestgehende "Differenzierung des sozialen Lebens" erreicht werden. Selbst eine riskante Wahl führe dann zur Konflikterledigung durch das Opfer selbst. 197 Umgekehrt ist der gewünschte soziale Kontakt erst dann möglich, wenn dem erlaubten Risiko erlaubtes Vertrauen auf die Risikoeinhaltung durch jeden Dritten gegenübersteht, der an der Handlungssituation beteiligt ist. Denn die Existenz einer Verhaltensnorm garantiert noch nicht per se, daß die Norm auch eingehalten wird. Nicht schon das durch strafrechtliche Sanktionen untermauerte Ziel der Erwartenssicherheit macht "die Palette möglichen Verhaltens reichhaltiger", sondern erst die rechtliche Erlaubnis, die Erwartenssicherheit als Faktum auffassen zu dürfen. "Es geht darum, daß bestimmte Handlungen schon ihrer äußeren Gestalt nach nicht enttäuschen, weil ihre Akzeptation zur Erhaltung von sozialem Kontakt nötig oder aber gewöhnlich ist" 198. Dementsprechend hält Jakobs den Vertrauensgrundsatz als allgemeines Prinzip hoch. Den Vertrauensgrundsatz definiert er als die ,,Erlaubnis, trotz der Erfahrung, daß andere Menschen Fehler machen, auf deren richtiges Verhalten zu vertrauen"199. Ebenso dürfe auf das Ausbleiben drastisch deliktischen, und deshalb rollensprengenden Verhaltens vertraut werden, 200 und zwar selbst dann, wenn der VerMaurach I Gössel/ Zipf, Strafrecht AT Tb.2 § 43 Rn. 48. Maurach I Gössel/ Zipf, Strafrecht AT Tb.2 § 43 Rn. 50. 197 Jakobs, Strafrecht AT, 7/35. 198 Jakobs, Strafrecht AT, 7/47. 199 Jakobs, Strafrecht AT, 7/51. 200 Soweit auch die h.M., vgl. Roxin, Strafrecht AT I, § 24 Rn. 26; Schönke I Sehröder I Cramer § 15 Rn. 154; LK-Schroeder, § 16 Rn. 184; SK-Rudolphi, vor § 1, Rn. 72; Stratenwerth, AT, Rn. 1162 ff. 195
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trauende sich selbst rechtswidrig verhält. 201 Von der herrschenden Meinung ist der Vertrauensgrundsatz für den Straßenverkehr entwickelt worden und dort auch anerkannt. Ob und inwieweit er nicht nur eine spezifische Erscheinung des Straßenverkehrs ist, sondern sich auch auf arbeitsteiliges Zusammenwirken und andere Lebensbereiche ausdehnen läßt, ist aber nach wie vor umstritten. 202 Die Grenze erlaubten Vertrauens zieht Jakobs da, wo es Aufgabe eines Beteiligten ist, ein Fehlverhalten anderer zu kompensieren. Auch wenn dem solchermaßen "an sich Zuständigen" erkennbar (subjektiv) Regelkenntnis oder (objektiv) die Moglichkeit zur Befolgung der Regeln fehle, oder er von der Regelbefolgung "dispensiert" sei, scheide erlaubtes Vertrauen des potentiellen Schädigers aus203 . So dürfe ein Autofahrer im Straßenverkehr nicht auf korrektes Verhalten von gebrechlichen Personen oder von nicht beaufsichtigten Kindem oder Teilnehmern eines Karnevalszuges vertrauen. 204 Soweit nun ein hoheitlich legitimiertes Gefährdungsverbot die Handlungssituation regelt, müßte für Jakobs, vorbehaltlich der genannten Grenzen zulässigen Vertrauens, die Frage der Verhaltensnorm gelöst sein. Jakobs schreibt dann auch, durch die Übertretung eines abstrakten Gefährdungsverbotes werde ein unerlaubtes Risiko gesetzt. Bereits der Typ des Verhaltens sei verboten,Z05 sein Ausbleiben könne erwartet werden. Auch bei Schaffung nur geringer Risiken, also nur geringer Gefährlichkeit in der konkreten Situation, seien die "gesetzlich ausgeschiedenen Verhaltensweisen nicht mehr erlaubt"206 • Unter dem Leitmotiv der Erwartenssicherheit ist das konsequent. Einerseits schafft das Verbot geschütztes Vertrauen in die Einhaltung des Verbotes, und andererseits ist das erlaubte Risiko nach Maßgabe größtmöglicher Handlungsfreiheit so zu fassen, daß soziale Kontakte im Rahmen dieses erlaubten Vertrauens auch ausgebaut werden dürfen. Nun ließe sich diese Überlegung zwanglos auf solche Kunstregeln, technischen Standards, oder andere informelle Regelungssysteme ausdehnen, die im sozialen Kontakt das "Übliche oder Bestmögliche" 207 bestimmen. Jakobs anerkennt auch hier den Vertrauensgrundsatz hinsichtlich der Risikoeinhaltung, soweit die VerantJakobs, Strafrecht AT, 7/55; a.A. BGHSt 17, S. 299 ff, S. 301 f. Vgl. nur Roxin, Strafrecht AT I, § 24 Rn. 21 ff. 203 Jakobs, Strafrecht AT, 7/54. 204 Jakobs, Strafrecht AT, 7/54, ebenso die ganz h.M. Vgl. Schumann, Handlungsunrecht, S. 12 ff; Krümpelmann, Lackner-FS, S. 289 ff. Zur im einzelnen umstrittenen Grenze des Vertrauensgrundsatzes Roxin, Strafrecht AT I, § 24 Rn. 22 ff; bezüglich der ,Förderung erkennbarer Tatgeneigtheit' Dritter zu Vorsatztaten vgl. Roxin, Strafrecht AT I, § 24 Rn. 28 ff mwN. Der Vertrauensgrundsatz findet nach herrschender Meinung spätestens dann eine Grenze, wenn erkennbar ist, daß Vertrauen im konkreten Fall nicht gerechtfertigt wäre - weil erkennbar ist, daß der Verkehrskreispartner zumindest ,geneigt' ist, sich nicht im Rahmen der Vorschriften zu halten. 205 Jakobs, Strafrecht AT, 7/45 206 Jakobs, Strafrecht AT, 7/43 2rn So die Darstellung bei Jakobs, Strafrecht AT 7 /35. 2ot
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wortung des Handelnden nicht schon nach den Regeln des Regreßverbots ausgeschlossen sei?08 Dennoch erkennt Jakobs solchen Regelungen mit der herrschenden Meinung nur Indizwirkung zu mit dem Hinweis, der technische Standard erledige das Bewertungsproblem nicht. Die Bestimmung des erlaubten Risikos habe grundsätzlich in einer der Notstandsprüfung vergleichbaren Interessenahwägung zu erfolgen?09 Die Überzeugungskraft seiner Argumentation stellt Jakobs an anderer Stelle selbst in Frage: Da nämlich bei der "überwiegenden Zahl heute als erlaubt anerkannter Risiken" eine solche Kosten - Nutzen Saldierung nicht geleistet werden könne (es fehle nämlich am entsprechenden Vergleichsmaßstab),2 10 trete neben das erlaubte Risiko per Risikoabwägung das erlaubte Risiko kraft historischer Legitimation: Bestimmte Formen erlaubter Betätigung seien historisch übernommen und würden deshalb als erlaubt akzeptiert. 211 Das bedeutet, daß die Existenz einer Regelung durchaus die materielle Risikoabwägung überlagern kann. Ungeklärt bleibt, was Jakobs mit ,historischer Legitimation' meint. Das Alter einer Regelung kann doch nicht entscheidend sein, sondern vielmehr deren aktuelle gesellschaftliche Akzeptanz oder tatsächliche Übung. Die gleiche historische Legitimation muß etwa der Heilung im Rahmen der anerkannten ärztlichen Kunstregeln zukommen, sowie der industriellen Produktion im Rahmen geltender technischer Standards. Gerade unter dem von Jakobs hochgehaltenen Gesichtspunkt der Erwartenssicherheit, deren Schaffung Zweck der Strafrechtsnormen sei, kann doch nur die explizit formulierte Kunstregel oder technische Norm einen Maßstab für sozialen Kontakt abgeben, nicht aber eine unbestimmte Wertung.
c) Der Schutzzweck des fahrlässigen Erfolgsdelikts
Auch der Topos eines "Schutzzwecks" des fahrlässigen Erfolgsdelikts erweist sich in der Frage der Verhaltensleitlinie als unergiebig. Aus etwa dem Zweck des § 222 StOB, dem Lebensschutz, läßt sich allenfalls folgern, daß jegliche Gefährdung ganz zu unterlassen sei. Eine deduktive Ableitung aller konkret mißbilligter Kausalreihen ist dagegen ausgeschlossen, sofern nicht der Willkür Tür und Tor geöffnet werden soll. Der meist leicht eruierbare, spezielle Schutzzweck abstrakter Gefährdungsverbote kann dagegen nicht unbesehen dem fahrlässigen Erfolgsdelikt unterlegt werden. Frisch schreibt, wenn die herrschende Meinung versuche, in der Frage des Schutzzwecks des Erfolgsdelikts fündig zu werden, argumentiere sie entweder aus in Wahrheit gar nicht einschlägigen Normen oder fingiere "bekenntnishaft" einfach das als Schutzwillen des Gesetzes, was dem eigenen Rechtsgefühl entspricht. 212 Der Sache nach handelt es sich um das Problem der Verhaltensnorm 2os
209 21o
211 212
Jakobs, Strafrecht AT, 7 I 53. Jakobs, Strafrecht AT, 7 I 35. Jakobs, Strafrecht AT 7 I 39 und 9/2. Jakobs AT, 7/36 Frisch, Verhalten, S. 83.
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A. Der Begriff der Verhaltensnorm
in anderem Gewand: Welche Verhaltensweisen vom Schutzzweck des Fahrlässigkeitsdelikts erfaßt sind, läßt sich dem Deliktstatbestand allein ohne methodischen Bruch nicht entnehmen.
3. Erkenntnis der Erfolgsmöglichkeit als Verhaltenserwartung?
a) Erkennbarkeif des Erfolges als Kriterium Eine Entscheidung über das Sorgfaltskriterium ist, in Welzels Grundkonzept, stets auf der Basis eines ,einsichtigen' Urteils über die Möglichkeit des Erfolgseintritts zu fällen.Z 13 Dieser ,intellektuelle' Gesichtspunkt urnfaßt die Berücksichtigung aller Auswirkungen einer Handlung, die ,voraussehbar' oder ,erkennbar' sind. 214 Solche Erkennbarkeit ist nicht mit Kenntnis gleichzusetzen. Der Sache nach beschreibt Erkennbarkeit die dem Handelnden abverlangte Erkenntnisleistung, manifestiert in der objektiven Vergleichsperson. Mitunter findet sich die Formulierung, Kenntnis schließe Erkennbarkeit ein.Z 15 Der Kenntnis des Handelnden wird fiktiv ein unbestimmtes Maß an zusätzlicher Kenntnis hinzuaddiert, bis hin zur Erfassung des tatsächlich eingetretenen Kausalverlaufs (=Kenntnis). Auch sogenanntes Sonderwissen des Handelnden wird dem Maßstab zugrundegelegt. 216 Inwieweit auch andere Fähigkeiten des Täters, sogenanntes Sonderkönnen, in den Maßstab eingehen, ist umstritten und führt zu kaum nachvollziehbaren Differenzierungen zwischen Fähigkeiten, Sonderkönnen und Wissen- Können.Z 17 Welzels intellektueller Gesichtspunkt entspricht inhaltlich weitgehend den in Rechtsprechung und Lehre gebräuchlichen Begriffen der "Voraussehbarkeit" oder ,,Erkennbarkeit". Auch in Frischs System spielt der Erkennbarkeitsbegriff eine Rolle für die Schaffung einer mißbilligten Gefahr. Denn auch hier soll im Sinne einer objektiv-nachträglichen Prognose entscheidend sein, ob ein einsichtiger Beobachter vor der Tat das entsprechende Verhalten für riskant bzw. gefahrerhöhend gehalten, mithin die Gefahr erkannt hätte. Auch Exner, der ein "bestimmtes Interesse in der Form eines psychischen Zustandes"218 erwartet, umreißt damit nicht einen Zustand aktueller Voraussicht, sondern lediglich die Möglichkeit der Erfolgsreflexion. Bei Kaminski findet sich die Formulierung, Erkennbarkeit des Erm Welzel, Strafrecht, S. 132. 214 Welzel, Strafrecht, S. 132. 215 Vgl. etwa Jakobs: Wie man, um die Wurzeln einer Pflanze zu finden, nicht nachzugraben braucht, wenn man den Sproß sieht, genüge zur Erkennbarkeit, daß erkannt wurde. Jakobs, Strafrecht AT, 9/4 Fn. 6. 216 Welzel, Strafrecht, S. 132. 217 Vgl. die Aufstellung bei Jakobs, Strafrecht AT, 7/49, sowie die Diskussion bei Kaminski, S. 86 ff. 218 Vgl. Exner, Fahrlässigkeit, S. 207 f., der allerdings nicht Voraussicht, sondern ein bestimmtes Interesse in Form eines psychischen Zustandes erwartet.
III. Inhaltliche Konturen mißbilligter Risikoschaffung
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folges sei Voraussetzung der Sorgfaltswidrigkeit. 219 Doch was bedeutet diese Aussage, was bedeutete Erkennbarkeil als Voraussetzung für die Verhaltenserwartung? Enthält das Erkennbarkeilskriterium des fahrlässigen Erfolgsdelikts etwa die Aufforderung, zu erkennen, ob mit der intendierten Handlung die Möglichkeit der Erfolgsverursachung einhergeht?
b) Die "Innere Sorgfalt" Die Vorstellung einer auf Erkennen gerichteten Verhaltenserwartung ist nicht neu. Schon Feuerbach220 benutzte eine auf Voraussicht des Erfolges gerichtete Diligenzpflicht bei der ,)agd nach dem Vorsatz in der Fahrlässigkeit"221 , und auch sein wissenschaftlicher Gegenspieler von Almendingen sprach von einer "Pflicht" zur Aktivierung "des Perceptionsvermögens'.zz2. Diese "Pflicht" entspricht weitgehend der "inneren Sorgfalt" des Reichsgerichts, nämlich der zu einem intellektuellen Defizit führenden Sorgfaltsverletzung. 223 Auch Engisch stellte der "äußeren" Sorgfalt eine "innere" gegenüber, die eine auf die Vermeidung schädlicher Folgen gerichtete Aufmerksamkeit und Konzentration verlangt. Nur durch tatsächliche Voraussicht ließen sich voraussehbare Folgen verläßlich vermeiden; werde die Voraussicht nicht zum Norminhalt gemacht, sei die Herbeiführung nur voraussehbarer Folgen für den Tater unter dem Gesichtspunkt der Verhaltensnorm zufallig. Engisch spricht hier von einem "Inzuchtnehmen des gesamten psychologischen Apparates"224. Jescheck/Weigend leiten aus dem allgemeinen Sorgfaltsgebot zwei Grundpflichten ab. Neben der "äußeren Sorgfalt", die die Pflicht zu sachgemäßem äußeren Verhalten mit dem Ziel, den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges zu verhindem225 bezeichne, trete die "innere Sorgfalt". Der Handelnde habe Gefahren für das geschützte Rechtsgut zu erkennen und richtig einzuschätzen. Die innere Sorgfalt bestehe in der Beobachtung der Bedingungen, unter denen eine Handlung stattfindet, in der Berechnung ihres Verlaufs und etwaiger Veränderungen der Begleitumstände sowie in der Überlegung, wie sich eine bekannte Gefahr entwickeln und auswirken kann. 226 Die "erforderliche Sorgfalt" könne daher auch in der Erfüllung von Vorbereitungs- und Informationspflichten vor Ausführung der gefahrliehen Handlung bestehen. 227 219 Kaminski, S. 38 und S. 55: Sorgfaltswidrigkeit werde über die Erkennbarkeil des Erfolgseintritts ermittelt. 22o Feuerbach, Betrachtungen über Dolus und Culpa, S. 193 ff, S. 227 f. 221 Binding, Normen IV, S. 328. 222 Von Almendingen, Untersuchungen über das Culpose Verbrechen, S. 54. 223 RGSt 8, S. 67; vgl. auch LK-Schroeder, § 16 Rn. 123. 224 Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, S. 269 ff; vgl. auch Burgstaller, Fahr1ässigkeitsdelikt, S. 19. 225 Jescheck I Weigend, Strafrecht AT, § 55 I 3a. 226 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, § 55 I 2a.
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A. Der Begriff der Verhaltensnorm
Burkhardt begreift Fahrlässigkeit als "pflichtwidrige Fehleinschätzung des individuellen Täters"228, die ihrerseits auf einem Mangel an gebotener und möglicher ,,Sorgfalt" beruhe. 229 Der Begriff der Fahrlässigkeit bezeichne allein die ,subjektive' Tatseite und damit die Verletzung der inneren Sorgfalt durch den Täter. Die Frage, was man relativ zu einem bestimmten Wissen straflos tun dürfe, d. h. ohne fahrlässig zu handeln, werde ,normativ' entschieden. Maßgeblich sei insofern die Sorgfalt, zu der der Täter nach den ihm bekannten Umständen verpflichtet sei230. Es gebe daher ein ,erlaubtes Risiko', das nicht die objektive Zurechnung hindere, sondern (nur) die Reichweite der individuellen Fahrlässigkeit begrenze?31 Unter Zugrundelegung der dem Täter bekannten Umstände bestimmt Burkhardt somit normativ die an den Täter gerichtete Verhaltenserwartung: maßgeblich sei, ob im Licht des aktuellen Wissensstandes die Pflicht bestehe, weiteres Wissen zu aktualisieren. 232 Andererseits komme die Gefahrenschaffung unabhängig vom Wissen des Täters nicht für eine Mißbilligung in Betracht, wenn sie entweder nicht die erforderliche Qualität aufweise oder wenn die Handlungsfreiheit den Vorzug verdiene. Die Verletzung einer Kenntnisverschaffungspflicht brauche dann nicht mehr geprüft zu werden, 233 so daß diese letztlich doch nur sekundären Charakters ist. Decken sich nun Wirklichkeit und die dem Täter bekannten Umstände, die Möglichkeit der Erfolgsherbeiführung eingeschlossen, kommt nach Burkhardts Definition Fahrlässigkeit gar nicht in Betracht. Nun könnte man einwenden, der Täter begehe die objektiv pflichtwidrige Handlung dann ja bereits vorsätzlich. Damit negierte man aber die Unrechtsform bewußter Fahrlässigkeit, und müßte konsequenterweise die Grenze zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatz allein am psychologischen Faktum der Kenntnis ausrichten. Burkhardt vertritt keines von beidem, verzichtet andererseits aber auch darauf, der Frage weiter nachzugehen, wie seine Konzeption von der Fehleinschätzung mit dem Phänomen bewußter Fahrlässigkeit in Einklang gebracht werden kann. 234 Von einer Nachrangigkeit der Pflicht zur Kenntnisaktivierung will Schroeder nichts wissen: Fahrlässigkeit sei als Kenntnis oder Erkennbarkeil der Möglichkeit der Tatbestandsverursachung anzusehen. Jedermann habe demzufolge die Pflicht, bei seinem Verhalten seine Erkenntniskräfte einzusetzen, um die Möglichkeit von Tatbestandsverwirklichungen zu erkennen und damit die Möglichkeit zu gewinnen, Jescheck/Weigend, Strafrecht ATS. 581. Burkhardt, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 130. 229 Burkhardt, S. 130 und S. ll5 in Anlehnung an § 6 öStGB. 230 Burkhardt, S. ll9. 231 Burkhardt, S. 121 (These li). 232 Burkhardt, S. ll9. 233 Burkhardt, S. ll6; ebenso Burgsta1ler, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 19. 234 Burkhardt, S. ll5 Fn. 69. Dieses Manko haftet nicht nur der verwendeten Kurzformel an, sondern Burkhardts gesamten System. 227 228
III. Inhaltliche Konturen mißbilligter Risikoschaffung
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solche zu vermeiden. 235 Das gebotene Erkenntnismittel müsse nicht stets in einer Gedankentätigkeit bestehen, sondern könne auch eine äußere Handlung erfordern. Sehröder definiert die Erkennbarkeit als ein Möglichkeitsurteil, das sich an den Erkenntnismitteln orientiere, die dem Handelnden in der konkreten Situation zur Verfügung stehen. Für die Erkenntnis der tatsächlichen Situation seien bestimmte körperliche Fähigkeiten - die Sinne - ebenso erforderlich wie bestimmte Hilfsmittel zur Erweiterung der Sinneskraft wie Brillen, Mikroskope, Röntgenapparate, Stethoskope, Hörgeräte etc. Dazu kämen die Kenntnis und Erinnerung von Tatsachen und Erfahrungssätzen ebenso wie Mitteilungen Dritter. Erforderlich sei schließlich der Wille und die aktuelle Fähigkeit, alle diese Eigenschaften einzusetzen.236 Mußte der Täter unsichere Geschehensabläufe vorausberechnen, insbesondere Reaktionsmöglichkeiten eines anderen Menschen, spiele die verfügbare Zeit eine wesentliche Rolle. Die Nichtberücksichtigung aller Alternativen könne hier nicht nur nicht fehlerhaft, sondern zur Vermeidung einer Überforderung bei der Entscheidungsfindung geradezu erforderlich gewesen sein237 . Allgemein erscheine eine stärkere Einbeziehung der Ergebnisse der modernen Psychologie geboten.238 Einer Sorgfaltsnorm spricht Schroeder dagegen eigenständigen Charakter ab, da die Pflicht zur Erfolgsvermeidung bereits zwangsläufig aus Kenntnis oder Erkennbarkeit der Erfolgsmöglichkeit folge. Diesen Verzicht kann Schroeder aber nicht durchhalten, anerkennt er doch mit Blick auf das menschliche Sozialleben in seiner modernen, technisierten Form die Figur eines erlaubten Risikos. Ist Risikoschaffung erlaubt, führen weder Erkennbarkeit noch Kenntnis der Möglichkeit der Erfolgsverwirklichung zu fahrlässigem Verhalten. 239 Da die Erkenntnispflicht keine Rolle mehr spielt, sofern das erlaubte Risiko eingehalten ist, 240 kommt ihr auch in Schroeders Konzept letztlich nur sekundäre Bedeutung zu.
c) Die "Diligenzpflicht" als Verhaltensnonn? Eine "Kenntnisverschaffungspflicht", von Armin Kaufmann als altes Requisit der Fahrlässigkeitsschuld abgetan, läßt sich nun aber nicht bruchlos aus dem Fahrlässigkeitstatbestand ableiten. Sie wird nämlich letztlich nicht sanktioniert: Die Erfüllung solch einer Pflicht führt nicht zur Tolerierung des geschaffenen Risikos, sondern im Gegenteil zu zumindest bewußt fahrlässiger Risikoschaffung. Bereits LK-Schroeder, § 16 Rn. 127. LK-Schroeder, § 16 Rn. 132 ff, Rn. 133. 237 LK-Schroeder, § 16 Rn. 132 ff, Rn. 137. 238 LK-Schroeder, § 16 Rn. 132. 239 Schroeder verneint konsequent auch mißbilligte Risikoschaffung im Vorsatzbereich, LK-Schroeder, § 16, Rn. 160. 240 Insoweit ändert sich auch nichts, wenn man mit Schroeder das erlaubte Risiko aus Rechtfertigungsgedanken herleitet, vgl. Schroeder, JZ 1989, S. 780. 235
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A. Der Begriff der Verhaltensnorm
Binding hat darauf hingewiesen, daß die Erfüllung der Pflicht zur Voraussicht damit zur Grundlage des Verstoßes gegen eine andere Pflicht würde. 241 Annin Kaufmann argumentiert weiter, eine Pflicht zur Voraussicht könne im Fahrlässigkeitsbereich nicht zur Erfolgsvermeidung motivieren, da der Tater typischerweise trotz Kenntnis der Erfolgsmöglichkeit darauf vertraue, daß der Erfolg nicht eintrete. 242 Im übrigen ist Gegenstand des Fahrlässigkeitsvorwurfs stets das unerlaubt - riskante Verhalten, nie jedoch der Nichteinsatz von Erkenntnisrnitteln. Das Versäumnis der Kenntnisverschaffung wirkt sich nur aus, wenn gleichzeitig das äußere Taterverhalten als objektiv sorgfaltswidrig eingestuft werden kann. Maßgebend ist daher in erster Linie, ob das durch Taterverhalten, nicht aber durch Taterdenken geschaffene Risiko die Schwelle der Mißbilligung überschreitet: Allein hierzu ist der Handelnde verpflichtet. Die Kenntnisverschaffung stellt allenfalls eine Obliegenheit dar, deren Verletzung als solche straflos ist. 243 Einer Kenntnisverschaffungsspflicht fehlt es daher am Normmerkmal eines Befehls. Gegen eine Pflicht zur Erkenntnis wendet sich auch Jakobs: Die Sorgfalt sei als erfolgsvermeidende zu begreifen, und nicht als voraussehende. 244 Es sei nomologisch unscharf, aus dem Fahrlässigkeitsdelikt eine Handlungspflicht ableiten zu wollen, da dieses nicht bestimmtes Verhalten einfordere, sondern erfolgsverursachendes verbiete. 245 "Eine solche Umdeutung würde dem Gesetzgeber den Vorwurf grober Ungenauigkeit machen, denn wenn er positive Handlungen begehrt, soll er sie klar bestimmen und nicht durch Negation nur erahnen lassen"246. Wie weit dieser von Zeit zu Zeit wiederholte Angriff aber wirklich trägt, ist zweifelhaft. Die Verhaltensnorm des fahrlässigen Erfolgsdelikts enthält zwar grundsätzlich das Verbot einer Vielzahl einzelner Verhaltensweisen. Deren Zahl läßt sich erheblich reduzieren, wenn man in sprachlicher Reformulierung auf das Verbot abstellt, bestimmte Verhaltensweisen ohne Vorsichtsmaßnahmen zu vollziehen?47 Auf der Grundlage von Bindings Normentheorie lassen sich aus der positiven oder negativen Gesetzesformulierung keine zwingenden Vorgaben für die Normstruktur entnehmen. Nur von dem zugrunde liegenden Werturteil ist die Normaussage abhängig. Es verbleibt daher bei Armin Kaufmanns Formulierung: Die Frage nach der Norm, gegen die fahrlässiges Verhalten verstößt, entscheidet sich letztlich doch nach der Struktur des Werturteils, das über dieses fahrlässige Verhalten zu fallen ist. 248 In diesem Sinne reduziert das Erkennbarkeilsmerkmal Normen IV, S. 503 f; Annin Kaufmann, Normentheorie S. 116. Annin Kaufmann, Normentheorie S. 117. 243 Zum Begriff der Obliegenheit Hruschka, Strafrecht, S. 415. 244 Jakobs, Studien, S. 59 ff. 245 Jakobs, Strafrecht AT, 9/7. 246 Fischer, Die Rechtswidrigkeit, S. 17. 247 So die vielleicht plastischste Umschreibung der Normstruktur durch Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert, S. 173 f. 248 Vgl. Annin Kaufmann, Normentheorie, S. 120. 241
242
III. Inhaltliche Konturen mißbilligter Risikoschaffung
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sprachlich den Kreis der prima facie sorgfaltswidrigen Verhaltensweisen, soweit die Erfolgsverursachung ,nicht erkennbar' war. Es verlangt aber nicht positiv, eine Erkenntnisleistung zu erbringen. d) Erkennbarkeitskriterium als entbehrliche doppelte Wertung
Wenn das Merkmal der Erkennbarkeit keine Verhaltensnorm definiert, welche Rolle kommt ihm dann im Rahmen der Verhaltenserwartung zu? Erkennbarkeil ist stets unter Zugrundelegung der ex ante-Perspektive zu bestimmen. Die Erkenbarkeit eines Gegenstandes oder einer Wertung ist daher die sprachliche Umschreibung dafür, daß nicht deren objektives Gegebensein, sondern eine ex antePrognose darüber den Ausschlag geben soll. Burkhardt wendet sich gegen die verbreitete These, eine Gefahr sei immer nur relativ zum Kenntnisstand des Beurteilers vorhanden249. Über Gefährlichkeit könne man sich irren, weshalb der Gefahrenbegriff im Einklang mit seiner umgangssprachlichen Bedeutung bereits als ein Problem des Wissensgegenstandes anzusehen sei. 250 Die Begriffe der ,Gefahr' und des ,Risikos' seien daher richtigerweise aus der Perspektive ex post zu bestimmen. 251 Wenn von einer Gefahrschaffung als Zurechnungsvoraussetzung gesprochen wird, so werde damit nicht nur eine Gefahrschaffung, sondern eine objektiv erkennbare Gefahrschaffung verlangt. 252 Erkennbarkeil der Erfolgsverursachung besagt damit nur, daß bestimmtes Verhalten mit Blick auf den konkreten Erfolg gefährlich ist. 253 Da das ex ante-Urteil hypothetischer Natur ist, liegt in der Erkennbarkeil entgegen Welzel254 kein intellektuelles, sondern ein normatives Kriterium. Erkennbarkeil garantiert nicht, daß bestimmte Faktoren und Umstände erkannt wurden, da die Erkennbarkeil als normative Größe nicht durch einen tatsächlichen Sachverhalt belegt werden kann, und aber auch nicht belegt zu werden braucht. 255 249 So etwa AK-Zielinski §§ 15, 16 Rn. 90; Koriath, Grundfragen strafrechtlicher Zurechnung, S. 535. 250 Burkhardt, S. 101. 251 Der polizeirechtliche Gefahrenbegriff setzt lediglich das Vorliegen eines Zustartdes voraus, der bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in einen Schaden umzuschlagen droht. Er unterliegt damit der ex post-Beurteilung des kompletten Faktenwissens, wenn auch aus Griinden effektiver Gefahrenabwehr die ex ante beurteilte Anscheinsgefahr im Ergebnis der (objektiven) Gefahr gleichgestellt wird. Die ex ante-Betrachtung im Strafrecht soll der personalen Unrechtslehre Rechnung tragen, ist aber nicht durch den Gefahrenbegriff als solchen bedingt. Zum Polizeirecht vgl. BVerwGE 45, S. 57 ff; BVerwG NJW 1970, S. 1892. 252 Burkhardt, S. 102. 253 Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 38; Frisch, Verhalten, S. 104. 254 Welzel, Strafrecht, S. 133. 255 Die Frage, ob ab einem gewissen Grad der ,Kenntnis des Erfolgseintritts' automatisch Vorsatzstrafbarkeit eingreift, liegtjenseits des thematischen Bereichs dieser Arbeit. Vgl. dazu Zipf, ZStW 82 (1970), S. 633 ff.
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A. Der Begriff der Verhaltensnorm
Die Erkennbarkeit stellt damit neben der ebenfalls normativ zu bestimmenden Mißbilligungsfrage ein zusätzliches normatives Urteil dar. 256 Damit stellt sich aber die Frage, ob diese doppelte Bewertung zur Ausfüllung des Tatbestandes wirklich erforderlich ist, oder ob das Erkennbarkeitskriterium nicht im Grunde nur einen Teilaspekt darstellt, der im Gesamturteil der Mißbilligung aufgeht. Während Erkennbarkeit den ersten Wertungsschritt bezeichnet (die Möglichkeit des Erfolgseintritts), scheint die "Sorgfaltswidrigkeit" ein zusätzliches, eben: mißbilligendes Urteil zu fordern. Ein qualitativer Unterschied ist damit aber nicht ausgemacht. Es gibt auch keine naturwissenschaftliche Methode, anband derer die aktuelle Kenntnis bestimmter Tatsachen zweifelsfrei in den maßgeblichen Prognosewert überführt werden könnte. Erkennbarkeit steht daher begrifflich weder vor noch neben der Sorgfaltswidrigkeit, sondern geht in ihr auf. Es ist auch nicht ersichtlich, daß der Erkennbarkeitsbegriff einen Formulierungsvorteil bietet. Allenfalls eine psychologische Legitimationshilfe ließe sich ausmachen, weil das Mißbilligungsurteil nicht als willkürlich aus dem Hut gezauberte Wertung erscheint. Zumindest im Rahmen der Analyse ist der Begriff dann aber entbehrlich. Er mag daher als Zwischenbegriff oder Argumentationshilfe zur Bestimmung des Mißbilligungskriteriums dienen; die Bedeutung eines eigenständigen Kriteriums kommt ihm jedoch nicht zu.
IV. Zusammenfassung Die Offenheit des Tatbestandes des fahrlässigen Erfolgsdelikts führt nach herrschender Meinung solange nicht zur Verfassungswidrigkeit, als sich die ausfüllenden Normen im Rahmen der Rechtsordnung bewegen. Ein Mehr an Bestimmtheit läßt sich auch Welzels einsichtigem und besonnenen Menschen in der Lage des Täters oder dem leitbildhaften Verkehrskreisteilnehmer nicht entnehmen. Das Verhalten des Verkehrskreisangehörigen verhält sich stets innerhalb der Rechtsordnung, entzieht sich aber jeder weiteren verläßlichen Konkretisierung im Handlungszeitpunkt Verhaltensorientierung erlaubt die Verhaltensnorm des fahrlässigen Erfolgsdelikts nur dann, wenn sie nicht nur an objektiv erkennbare Umstände anknüpft, sondern auch die in ihr verkörperte Wertung objektiv erkennbar ist. Erkennbarkeit bedeutet dabei, daß ihr Gegenstand aus der Perspektive ex ante beurteilt wird, markiert aber nicht irgendein psychologisches Faktum. Der Begriff enthält ein normatives Urteil, und im Rahmen der Verhaltensbeurteilung kommt ihm neben der ,erforderlichen Sorgfalt' bzw. der ,mißbilligten Risikoschaffung' eine eigenständige Funktion nicht zu. Alle diese begrifflichen Ergänzungen des Fahrlässigkeitstatbestandes verweisen lediglich auf normative Entscheidungen, ohne dem Handelnden konkret zu sagen, was von ihm erwartet wird.
256
Frisch, Verhalten, S. 104.
III. Inhaltliche Konturen mißbilligter Risikoschaffung
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Dem Fahrlässigkeitstatbestand selbst läßt sich damit keine Norm entnehmen, die als Orientierungsmuster tauglich wäre. Nun ist das tägliche Leben aber geprägt von Verhaltenserwartungen unterschiedlichster Natur; unter einen weit verstandenen Normbegriff im Sinne jeder gesellschaftlichen Verhaltenserwartung könnten Vorschriften über Altlastenentsorgung, Promillegrenzen und Geschwindigkeitsbegrenzungen genauso wie moralische Regeln fallen, die zu Umsicht und Rücksicht mahnen257 • Damit stellt sich die Frage, ob und wie sich der Fahrlässigkeitstatbestand diese Wertungen "zu eigen" machen könnte.
257 Zu diesem weiten Normbegriff etwa Seebaß, Jahrbuch für Recht und Ethik 1994/11, S. 375 f. Ähnlich der Begriff der Kulturnorm bei Max Ernst Mayer, Rechtsphilosophie, S. 37 ff.: Kulturnormen seien solche interessengestützten Verhaltenserwartungen, die zumindest in einer "Gruppe" der "staatlichen Gesellschaft" gelten.
5 Mikus
B. Die Verhaltensnorm innerhalb geregelter Lebensbereiche I. Abstrakte Gefährdungsverbote in Rechtsnormen 1. Das fahrlässige Erfolgsdelikt als Blankettkonstruktion? Es ist weder in der Praxis möglich noch in der Theorie erforderlich, daß die semantische Fassung des Strafgesetzes selbst in vollem Umfang alle geforderten Orientierungsmuster enthält. Bereits Binding siedelt seine Norm außerhalb des Strafgesetzes an; erst durch "Inkorporation durch das Strafgesetz"' werde sie zur verbindlichen Rechtsnorm. Es sei vielmehr Aufgabe der Strafgesetze, unter den Normen diejenigen auszuwählen, deren Verletzung Strafe erfordert, und so zwischen der Bedeutung verschiedener Normen zu differenzieren. 2 Der "Nachweis der Norm"3 und damit: der Hinweis auf die maßgebliche Norm sei aus dem ersten Teil des Strafgesetzes möglich. Die Verhaltensnorm, auf die das Strafgesetz verweist, brauche nicht per se hoheitlich legitimiert zu sein; durch die Bezugnahme des Strafgesetzes, insbesondere durch die im zweiten Teil enthaltene Strafdrohung, erhalte sie aber den Charakter einer Rechtsnorm. 4 Für die rechtliche Qualität der Norm sei es grundsätzlich gleichgültig, ob der Gesetzgeber sie ausdriick.lich fixiert oder durch konkludentes Handeln erklärt habe, 5 die Strafdrohung tauge als Beweismittel für den rechtlichen Charakter des Verbots.6 Die Bezugnahme des Strafgesetzes wäre mithin in vielen Fällen konstitutiv für den Rechtsnormcharakter einer Verhaltenserwartung. Wie Engisch anhand moralischer Normen gezeigt hat, bedeutet Inkorporation der rechtsfremden Norm nicht, daß moralische Normen zu Rechtsnormen werden. Die strafrechtliche Verhaltensnorm kann der rechtsfremden Norm allenfalls ihren Inhalt, die maßgebliche Wertung, entlehnen.7 Einverleibt werde nur der in Bezug genommene Norminhalt Zwischen der rechtsfremden Norm und dem Fahrlässigkeitsdeliktbestehe nur ein "inhaltslogischer Zusammenhang"8 . Engisch vermeidet I
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3 4 5
6 7
Binding, Normen I, S. 56. Normen I, S. 188 f. Binding, Normen I, S. 42 f. Binding, Normen I, S. 156 f. Binding, Normen I, S. 5 f . Binding, Normen I, S. 43. Engisch, Einheit der Rechtsordnung, S. 30 ff, S. 32.
I. Abstrakte Gefahrdungsverbote in Rechtsnormen
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zwar, im Gegensatz zum Bindingsehen Ansatz, die Konstruktion von Rechtsnormen, die sich durch die Rechtsquellenlehre nicht erklären lassen. In der Sache gelangt Engisch aber ebenfalls zu Bindings Ergebnis, nämlich dem rechtlich verbindlichen Verbot des Inhalts der gesellschaftlichen Verhaltenserwartung. Außerstrafrechtliche Normierungen erlangen rechtliche Bedeutung somit nur als konkretisierende Elemente der Verweisungsnorm. 9 Wie der "inhaltslogische Zusammenhang" als Bezugnahme formell legitimierbar ist, erklärt auch Engisch nicht. Es ließe sich diskutieren, ob die Inkorporation der Verhaltensnorm eine Blankettkonstruktion darstellt. Das fahrlässige Erfolgsdelikt könnte im Wege der "dynamischen Verweisung" 10 auf die im jeweiligen Lebensbereich aktuell maßgebliche rechtliche oder gesellschaftliche Sorgfaltsanforderung verweisen. Da das fahrlässige Erfolgsdelikt zwar eine Sanktion vorsieht, hinsichtlich der Beschreibung des sanktionierten Verhaltens aber weiterer normativer Ausfüllung bedarf, liegt die Vermutung einer Blankettkonstruktion nahe. Die Trennung von Sanktions- und Ausfüllungsnorm ist charakteristisch für Blankettstrafgesetze. Man versteht darunter Gesetze, die nur eine Strafdrohung aufstellen, bezüglich des Verbotsinhalts aber auf Gesetze und Verordnungen oder sogar auf Verwaltungsakte verweisen, die von einer anderen Stelle und zu einer anderen Zeit selbständig erlassen wurden. 11 Eine Verweisung auf gesellschaftliche Sorgfaltsanforderungen, denen es an formeller rechtlicher Legitimation fehlt, wäre damit bereits begrifflich ausgeschlossen. Doch der Begriff des Blankettstrafgesetzes ist nicht abschließend geklärt. Wahrend Binding es noch als charakteristisch ansah, daß "das Verbot, dessen Übertretung mit Strafe belegt wird, ausgeht von der Landes- oder Ortspolizeibehörde oder einer sonstigen Behörde oder von der Partikulargesetzgebung"12, definiert Schünemann Blankettstrafgesetze als alle diejenigen Strafgesetze, die zur Beseitigung ihrer semantischen Unschärfe explizit oder implizit auf nicht vom Strafrichter aufgestellte generelle Sollenssätze verweisen. 13 Von einer Verweisung des fahrlässigen Erfolgsdelikts auf davon unabhängige Verhaltensnormen will die herrschende Meinung aber nichts wissen: das Merkmal der konkreten Sorgfaltswidrigkeit bei einem Verletzungsdelikt stelle einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, zu dessen Konkretisierung allein der verfassungsges Engisch, Einheit der Rechtsordnung, S. 32. 9 Vgl. Frisch, Verhalten, S. 102 Fn. 36: Wenn Frisch diesen Weg der Ausfüllung nur für vorrechtliche Normierungen vorsieht, ist dies nicht überzeugend. Für rechtliche Normierungen wie abstrakte Gefahrdungsverbote des Straßenverkehrsrechts gilt a foniori dasselbe. to Zum Begriff Schünemann, Lackner-FS, S. 375. Die von Schünemann ebenfalls diskutierte "statische Verweisung" auf das bei lnkrafttreten des Verweisungsgesetzes gültige Regelungswerk würde allein auf zu diesem Zeitpunkt gültige Sorgfaltsmaßstäbe verweisen. Sie verfehlte damit die Regelungsintention des Erfolgsdelikts. So auch Schünemann, LacknerFS, S. 388. 11 BGHSt 6, S. 30 ff, S. 40 f.; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, S. 111. 12 Normen I, S. 161 f. 13 Schünemann, Lackner-FS, S. 373. 5*
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B. Die Verhaltensnorm innerhalb geregelter Lebensbereiche
mäß, nämlich nach Art. 92 und 97 GG, berufene Richter zuständig sei. 14 Die Gerichte werden angewiesen, die allgemeinen Sorgfaltsregeln fallbezogen zu konkretisieren. Für dieses Ergebnis sprechen formelle Erwägungen: dem fahrlässigen Erfolgsdelikt fehlt jeder ausdrückliche Verweis auf den Sorgfaltsbegriff, geschweige denn auf bestimmte außerstrafrechtliche Regelungen wie abstrakte Gefahrdungsverbote und Verkehrsnormen. Die Konstruktion eines Blankettatbestandes wäre aber nicht nur formell kaum zu legitimieren, sondern würde auch materiell über die inhaltliche Auffüllung der Verhaltensnorm des fahrlässigen Erfolgsdelikts hinausschießen. Zum einen kann das abstrakte Gefährdungsverbot nämlich nicht stets die strafrechtliche Verhaltensnorm definieren, sondern nur dann, wenn es im konkreten Fall auch wirklich die Verhaltenserwartung enthält. Daß dem durchaus Grenzen gesetzt sind, unterstreicht für den Bereich des Straßenverkehrs § 1 StVO. Schließlich wäre eine Bindung im Blankettwege aber auch zu eng: Würde allein der Verstoß gegen eine Sorgfaltsregel sanktioniert, hätte das Fahrlässigkeitsdelikt jenseits dieser Regelungen keinen Anwendungsbereich. Da gesellschaftliches Leben aber nicht vollständig durchnormiert ist, mithin nicht für jedes potentiell gefährdende Verhalten eine Regelung existiert, wäre der Anwendungsbereich des Fahrlässigkeitsdelikts unangemessen eingeschränkt.
2. Konkretisierung der Verhaltensnonn durch das typische Grundrisiko? Abstrakten Gefährdungsverboten mißt Frisch dennoch "ersichtlich" Bedeutung hinsichtlich des tatbestandliehen Verhaltens der Erfolgsdelikte zu: 15 Da der Gesetzgeber durch deren Aufstellung als legitimierte Instanz die betroffenen Freiheits- und Gütererhaltungsinteressen gegeneinander abgegrenzt habe, sei das Risiko, das auch bei Einhaltung des Regelkataloges unvermeidbar verbleibe, toleriertes, hinzunehmendes Risiko. 16 Da sich die tolerierende Aussage des Gesetzgebers nicht auf den Gesamtkreis der bei Regeleinhaltung unvermeidlichen Risikoschaffungen, sondern nur auf das typische Grundrisiko als solches beziehe, sei die Bedeutung des abstrakten Gefährdungsverbotes aber nur mittelbarer Natur. Als mißbilligte Risikoschaffung im Sinne des strafrechtlichen Erfolgsdelikts seien solche Verhaltensweisen anzusehen, die mit einer konstatierbaren, vermeidbaren Erhöhung des Grundrisikos verbunden sind 17 - vorbehaltlich weiterer, die Adäquität des Strafeinsatzes betreffender Erwägungen. Da auch Frisch die strafrechtliche Verhaltenserwartung lediglich mittelbar aus abstrakten Gefährdungsverboten her14 15 16 17
Schünemann, Lackner-FS, S. 389 mwN. Frisch, Verhalten, S. 92. Frisch, Verhalten, S. 92. Frisch, Verhalten, S. 96.
I. Abstrakte Gefahrdungsverbote in Rechtsnormen
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leitet, stellt sich die Frage, inwieweit sich sein Konzept von der Indizientheorie unterscheidet. Zunächst verlangt Frisch "planmäßige Vermeidbarkeil des Erfolges durch Regeleinhaltung"18. Planmäßige Vermeidbarkeil setzt zum einen Erkennbarkeil des Erfolges im konkreten Fall voraus, ein konkretes Gefahrenurteil ist damit erforderlich. Weiter soll es nicht genügen, daß durch Regeleinhaltung Erfolge nur zufällig vermieden werden: Die Regeleinhaltung müsse sich als das geeignete Mittel ex ante darstellen, um die Gefahrschafftung auf das tolerierte Grundrisiko zu reduzieren. Läßt sich allein durch Regeleinhaltung das tolerierte Grundrisiko nicht erreichen, sei ein Mehr erforderlich, eventuell auch das Unterlassen der intendierten Handlung. 19 Daß im Einzelfall trotz Regeleinhaltung strafbares Verhalten vorliegen kann, ist einer der Eckpfeiler der lndizientheorie. Erhöht andererseits der Regelverstoß nicht das Grundrisiko, lasse sich mißbilligte Risikoschaffung damit nicht begründen. Ein Ergebnis, das von der herrschenden Meinung ebenfalls, wenngleich über Zurechnungskriterien, erreicht wird. 20 Gegen Frischs Ansatz läßt sich einwenden, daß das typische Grundrisiko als solches nicht meßbar ist. Es erscheint als quantitative Größe, während Verhaltensnormen eine präzise Erwartung, insofern eine qualitative Aussage, zum Ausdruck bringen müssen. Man denke sich beispielshaft zwei an sich identische Straßenabschnitte; auf dem einen gelte eine Höchstgeschwindigkeit von 60 km I h, auf dem anderen von 50 km I h. An einem völlig durchschnittlichen Tag verursachen zwei Autofahrer geschwindigkeitsbedingt, jedesmal mit Tempo 60, im übrigen identische Unfalle auf beiden Straßen, bei denen jeweils ein Mensch zu Tode kommt und die beide bei Tempo 50 hätten vermieden werden können. Nur der erste Fahrer schaffte ein im konkreten Fall unerlaubtes Risiko. Insbesondere wird er nicht einwenden können, die Geschwindigkeitsbeschränkung sei unangebracht und Tempo 60 spiegele den in concreto adäquaten Gefahrdungsgrad. Ebensowenig wird man den zweiten Fahrer mit dem Argument, das typische Grundrisiko erlaube eigentlich nur 50 km I h, haftbar machen können. Eine solche Nichtberücksichtigung der (willkürlichen) Geschwindigkeitsbegrenzung würde sich gegenüber dem Rechtsunterworfenen als Willkür darstellen und zu Rechtsunsicherheit führen. Die Frage nach der richtigen bzw. adäquaten Gefamlichkeitsgrenze ist damit nicht naturwissenschaftlich akkurat lösbar, sondern kann nur durch eine normative Entscheidung beantwortet werden. Die normsetzende Instanz (hier die Straßenverkersbehörde) hat einen gewissen Spielraum, dessen Ausfüllung auch auf für das fahrlässige Erfolgsdelikt bindend ist. Solange sie diesen Spielraum nicht überschreitet, besteht somit nicht nur eine mehr oder weniger zufallige Kongruenz, sondern eine Abhängigkeit der strafrechtlichen Sorgfaltspflicht von dem abstrakten Gefahrdungsverbot Die Schwäche in Frischs System liegt letztlich gerade in seiFrisch, Verhalten, S. 96 ff. Frisch, Verhalten, S. 99 f. zo Vgl. dazu Frisch, Verhalten, S. 97. 18 t9
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B. Die Verhaltensnorm innerhalb geregelter Lebensbereiche
ner materialen, rechtsgutorientierten Ausrichtung. Solange eine Verhaltensnorm existiert, die kraft vertretbarer Wertung Gültigkeit beansprucht, sollte seine rechtsgutorientierte Sicht der normorientierten Sicht weichen.
3. Bindungswirkung nur des vollständigen Systems? Weiterhin stellt sich die Frage, ob abstrakten Gefährdungsverboten nur dann eine Bindungswirkung zukommen kann, wenn sie Teil eines vollständigen Regelungssystems sind. Gössel/ Zipf wollen vollständigen und mit sozialem Geltungsanspruch schriftlich niedergelegten Regeln die Bedeutung einer unwiderleglichen gesetzlichen Vermutung zukommen lassen. Unvollständige Systeme und Einzelregeln stellten dagegen als Konglomerat "rein faktisch als richtig befolgter Regeln" der Normtindung nicht mehr als Anhaltspunkte für eine entsprechende Verkehrssitte bereit. 21 Auch Frisch22 scheint zur Bestimmung des typischen Grundrisikos vorauszusetzen, daß der Rückgriff auf einen kompletten Regelkatalog möglich ist, denn eine einzelne Norm könnte die geforderte umfassende Wertung ja gerade nicht abgeben. Gegen ein Abstellen auf vollständig niedergelegte Systeme spricht jedoch, daß sich ein solches kaum finden lassen wird. Vollständigkeit setzt ja voraus, daß jede denkbare Entscheidung des Handelnden durch systemimmanente Verhaltensnormen bereits geregelt ist. Selbst die StVO kann nicht als vollständiges System angesehen werden, da eine rechtsgutsverletzende Handlung auch dann sorgfaltswidrig sein kann, wenn sie so ausgeführt wird, wie der Wortlaut einzelner Regelungen es verlangt. Daß einzelnen Regelungen der StVO im Einzelfall die Gültigkeit versagt werden kann, stellt § 1 StVO fest. Als Beispiel diene die Inanspruchnahme der Vorfahrt gern. § 8 StVO, die im Einzelfall auch gegenüber dem Opfer sorgfaltswidrig sein kann, das seinerseits pflichtwidrig keine Vorfahrt gewährt. Hier wären aber die Tatbestandsvoraussetzungen des § 8 StVO nur formal gegeben, während in Wirklichkeit die Ausnahmeregel des§ 1 StVO eingreift. 23 Das Gefährdungsverbot des § 1 StVO ist aber im gleichen Ausmaß unbestimmt wie das strafrechtliche Erfolgsdelikt und kann deshalb nicht viel zur Konstituierung eines vollständigen Systems beitragen. Das Abstellen auf ein vollständig niedergelegtes System entpuppt sich letztlich auch deshalb als untaugliches Kriterium, weil weder die Existenz einer Verhaltenserwartung noch deren Gültigkeit von der Existenz anderer Normen, eben einem System, abhängig sein kann. Im Falle einer Vorfahrtsverletzung ist es irrelevant, ob ähnliche Fälle, etwa das Anfahren vom Fahrbahnrand, gesetzlich geregelt sind oder nicht. Es ist vielmehr allein die jeweils einschlägige Norm des Regelungswerks, die im Rahmen des fahrlässigen Erfolgsdelikts von Bedeutung sein kann. 21 22 23
Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT Tb.2, S. 117 Rn. 47 ff, Rn. 51. Vgl. Frisch, Verhalten, S. 92. Vgl. Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT Tb.2, S. 117 Rn. 50.
I. Abstrakte Gefahrdungsverbote in Rechtsnormen
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4. Der Schutzzweck abstrakter Gefährdungsverbote a) Schutzzweck und Regelungsbereich
Das abstrakte Gefahrdungsverbot definiert die maßgebliche Verhaltensleitlinie im Rahmen des Erfolgsdelikts dann, wenn seine Übertretung bereits eine verbindliche Aussage über das Vorliegen mißbilligter Gefahrenschaffung oder zumindest einzelner Elemente dieses Begriffs erlaubt. Wurde ein abstraktes Gefahrdungsverbot von legitimierter staatlicher Stelle aufgestellt -wie die Straßenverkehrsregeln der StVO oder die abstrakten Verbote des Nebenstrafrechts-, dann existiert immerhin erst einmal eine Verhaltenserwartung, die innerhalb des jeweiligen spezifischen Lebensbereichs Geltung beanspruchen kann. Würde sie nicht die maßgebliche Verhaltensleitlinie darstellen, wäre sie nicht nur überflüssig, sondern auch irreführend. Die Frage ist daher, inwieweit ein solches abstraktes Gefahrdungsverbot, entgegen Frischs24 zurückhaltender Formulierung, nicht nur das Urteil über das Gegebensein oder Nichtgegebensein der Mißbilligung fundiert, sondern auch eine abweichende Abwägung der Gütererhaltungs- und Freiheitsinteressen ausschließt. Bohnert lehnt jede Nutzbarmachung des normativen Gehalts abstrakter Gefahrdungsverbote für das fahrlässige Erfolgsdelikt ab. Als "Sondernormen" stünden diese nämlich nicht nur regelungstechnisch außerhalb des Strafgesetzbuches, sondern verfolgten auch keine identische Regelungsintention. 25 Sie dienten nicht nur dem Schutz jener Rechtsgüter, deren Verletzung auch durch die allgemeinen Strafrechtsnormen erreicht werden soll, sondern verfolgten daneben noch Zwecke der Praktikabilität, der Ästhetik, des öffentlichen Anstandes usw. Bohnerts Argumentation ist unmittelbar einleuchtend, falls die verletzte Sondernorm überhaupt nicht das Ziel der Gefahrenreduzierung26 im Hinblick auf den Bestand strafrechtlich geschützter Rechtsgüter verfolgt. Man nehme als Beispiel, daß eine aus ästhetischen Gründen erlassene Baurechtsnorm das Eindecken mit schwarzen Dachziegeln verbiete. Die von A dennoch verwendeten schwarzen Ziegel seien im konkreten Fall außerdem radioaktiv verseucht, so daß die Gesundheit der Mieter in der Dachwohnung geschädigt wird. Der Verstoß gegen die Baurechtsnorm kann hier für die Talbestandsmäßigkeit des Verhaltens im Rahmen von § 229 StOB keine Rolle spielen. Jenseits solcher extremen Beispiele endet aber die Tragweite von Bohnerts Argumentation: Soweit die Sondernorm nach ihrem Schutzzweck der Gefahrenreduzierung dient, spielt die Tatsache, daß sie regelungstechnisch außerhalb des Strafgesetzbuches steht, für die Frage nach der Verhaltensnorm keine Rolle. Für das ordnende bzw. gestaltende Anliegen einer Norm hat Friedrich Müller den Begriff ihres Regelungsbereichs geprägt. Er versteht darunter den "Ausschnitt Frisch, Verhalten, S. 92. Bohnert, JR 1982, S. 7 f. 26 Sofern sie nicht in letzterem Falle wegen Verstoßes gegen Art. 2 GG ohnehin verfassungswidrig wäre. 24
2s
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B. Die Verhaltensnorm innerhalb geregelter Lebensbereiche
sozialer Wirklichkeit in seiner Grundstruktur, den sich das Normprogramm als einen Regelungsbereich ausgesucht oder zum Teil erst geschaffen hat'm. Unter dem Aspekt des Regelungsbereichs betrifft das Verbot abstrakt-gefährlicher Verhaltensweisen einen anderen Ausschnitt sozialer Wirklichkeit als das Erfolgsdelikt Etwas anderes gilt aber hinsichtlich der teleologischen Kategorie des Schutzzwecks der Norm: In der konkreten Handlungssituation, in der die Verhaltensnorm des fahrlässigen Erfolgsdelikts zum Zuge kommt, deckt sich deren Schutzzweck mit dem des abstrakten Gef:ihrdungsverbots. Zum Beleg dieser These soll im folgenden gezeigt werden, daß das abstrakte Gef:ihrdungsverbot innerhalb seines Regelungsbereichs sowohl notwendige wie auch hinreichende Voraussetzung mißbilligter Gefahrenschaffung ist. In den Schutzbereich fällt der den tatbestandsmäßigen Erfolg verursachende konkreten Geschehensablauf dann, wenn er (noch) zu denjenigen Kausalreihen gehört, um deren Verhinderung willen rechtliche Verhaltensnormen bereits die Schaffung der Gefahr verbieten. 28 Im Gewande der Verhaltensnormproblematik, ob sich nämlich die Anliegen bzw. Zwecke zweier Normen decken, entscheidet sich die Schutzzweckfrage bereits abschließend aus der Perspektive ex ante.
b) Abstrakte Gefährdung als notwendige Voraussetzung?
Bohnert hält die These völliger Unabhängigkeit von abstraktem Gef:ihrdungsverbot und konkretem Sorgfaltsbegriff des fahrlässigen Erfolgsdelikts hoch?9 Eine wechselseitige konstitutive Beziehung bestehe nicht, weil das abstrakte Gefährdungsverbot, in Bohnerts Terminologie die Sondernorm, ohne Einfluß auf die konkrete Gefahrenprognose sei. Für die konkrete Gef:ihrlichkeit sei gleichgültig, ob sie auch typisch ist, und von der typischen könne nicht auf die konkrete geschlossen werden. Die (Verhaltens-)Norm des fahrlässigen Erfolgsdelikts sei stets im Einzelfall festzustellen; Übereinstimmung mit dem Regelungsgehalt der Sondernorm sei nur deshalb "wahrscheinlich," weil die konkrete Gef:ihrlichkeitsprognose "als eine Prognose auf ein Zukünftiges dieses Moment der abstrakten Gef:ihrlichkeitsüberlegung enthält"30 . Zum einen spricht Bohnert der Sondernormverletzung die Eigenschaft einer notwendigen Voraussetzung hinsichtlich der Erzeugung mißbilligter Gefahrenschaffung ab. Bohnert ist für den Fall zuzustimmen, in dem die Sondernorm mit einer weiteren Verhaltensnorm kollidiert, denn dann richtet sich die konkrete Verhaltensleitlinie nach dem Regelungsgehalt beider Normen. Mißbilligte Gefahrschaffung ist nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil gleichzeitig eine Sondernorm einge27
Friedrich Müller, Normstruktur und Normativität, 1966; ders., Juristische Methodik,
28
Vgl. nur Schönke/ Schröder/Lenckner, vor§ 13 Rn. 95. Bohnert, JR 1982, S. 6 ff, S. 7. Bohnert, JR 1982, S. 9.
s. 141 ff. 29 30
I. Abstrakte Gefährdungsverbote in Rechtsnormen
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halten und somit deren Verbotsgehalt nicht verletzt ist. Nimmt der Tater dem Opfer die Vorfahrt, überschreitet er dabei aber nicht die an der nämlichen Kreuzung maßgebliche Geschwindigkeitsgrenze, führt die Einhaltung der Geschwindigkeit natürlich nicht zu einer insgesamt tolerierten Risikoschaffung. Die Einhaltung eines Gefahrdungsverbots legitimiert eben grundsätzlich nicht die Verletzung anderer Verbote. Die Kollision mehrerer abstrakter Gefahrdungsverbote ist stets im Sinne einer kumulativen Beschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit zu lösen. Diese Grundsätze gelten für alle von Bohnert gebildeten straßenverkehrsrechtlichen Beispiele. Überquert eine "gehbehinderte Greisin" 31 die Straße, definiert die für den Autofahrer freigebende grüne Ampel auch nach Straßenverkehrsrecht nicht mehr dessen Rechte und Pflichten. Im Falle der Greisin auch nur von einer "Indizwirkung" der grünen Ampel zu sprechen, wäre zynisch. Im Falle eines Unfalls stünde hier auch nicht eine Verletzung des § 37 StVO, sondern des Gefährdungsverbots aus § 1 StVO zur Debatte. Allein diese Norm befindet über das Vorliegen einer mißbilligten Gefahrschaffung. Für die Maßgeblichkeil der Sondernorm spricht dagegen nicht schon deren bloßes Zusammentreffen mit dem fahrlässigen Erfolgsdelikt Bohnert zeigt auf, daß das abstrakte Gefahrdungsverbot nicht Iex specialis gegenüber dem strafrechtlichen Fahrlässigkeitsdelikt ist. Im Gegenteil derogiere die weitere Norm die engere:32 "Überquert eine ausgerissene Kuh die Fahrbahn, ersetzt sie im selben Moment den Regelungsgehalt [der Geschwindigkeitsnorm] durch die volle Einsetzung des Fahrlässigkeitsmaßstabes"33 . Hier stellt sich nicht nur die Frage, welches Fahrlässigkeitsdelikt durch die Gefahrdung der Kuh überhaupt berührt sein kann, sondern auch gegenüber der Ersetzensaussage sind Zweifel angebracht. Zunächst kommt im Kollisionsfall auch ein Spezialitätsverhältnis des fahrlässigen Erfolgsdelikts gegenüber dem abstrakten Gefahrdungsverbot nicht in Betracht. Das Verhältnis der Spezialität liegt vor, wenn eine Strafvorschrift alle Merkmale einer anderen aufweist und sich nur dadurch von dieser unterscheidet, daß sie mindestens noch ein weiteres Merkmal enthält, das den Sachverhalt unter einem besonderen Gesichtspunkt erlaßt. 34 Das offene fahrlässige Erfolgsdelikt ist tatbestandlieh aber gerade nicht auf die Merkmale eines bestimmten abstrakten Verbots beschräkt. Zur Kollision kann es vielmehr nur kommen, weil sich die Tatbestandsvoraussetzungen beider Gesetze partiell überschneiden. Daraus läßt sich für das offene Erfolgsdelikt auf einen mit dem abstrakten Gefährdungsdelikt in concreto identischen Verbotsgehalt schließen. Nur solange § I StVO nicht eingreift, richtet sich die Verhaltensleitlinie nach der die Fahrtgeschwindigkeit regelnden Norm.
31
32 33 34
Bohnert, JR 1982, S. 9. Bohnert, JR 1982, S. 9. Bohnert, JR 1982, S. 8. V gl. nur Schönke I Sehröder I Stree, vor § 52 Rn. 110.
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B. Die Verhaltensnorm innerhalb geregelter Lebensbereiche
c) Abstrakte Gefährdung als hinreichende Voraussetzung?
aa) Begrenzung durch den Regelungsbereich Mit der Verletzung des abstrakten Gefahrdungsdelikts liegt aber umgekehrt auch eine Verletzung der dem Erfolgsdelikt zugrundeliegenden Verhaltenserwartung vor. Zu Unrecht lehnt die herrschende Meinung eine Bindungswirkung mit dem Argument ab, abstrakte Gefährlichkeit impliziere nicht, daß bestimmtes Verhalten auch konkret gefahrlieh war.35 Die Struktur des Problems findet sich in vielen Beispielen wieder: obwohl eine Verhaltensweise wegen ihrer typischen Gefahrneigung verboten ist, erscheint die Gefahrverwirklichung im konkreten Fall ausgeschlossen zu sein. Dennoch kommt es aufgrund unvorhersehbarer Umstände zum Erfolgseintritt So fehle es an einer konkreten Gefahrschaffung etwa bei dem Arzt, dem die Approbation entzogen war, der aber dennoch, und zwar lege artis, operiert, und dadurch den Tod des Patienten verursacht. Bohnert konstruiert als Beispiel einen Verstoß gegen das in § 60 Abs. I Nr. 5 LuftVG normierte Verbot, Sprengstoff in einem Flugzeug zu transportieren. Der verbotswidrig transportierte Sprengstoff habe die Sprengkraft einer Sprudelflasche. Als aber ein Terrorist eine Handgranate wirft, entzündet sich der fragliche Sprengstoff ebenfalls, wodurch ein Passagier verletzt wird (§ 229 StGB). Bohnert meint, das Mitführen des Sprengstoffes sei konkret ungefährlich gewesen. Wäre es in dem Luftverkehrsbeispiel ausreichend, daß der Täter die Anwesenheit von Terroristen an Bord erkennen kann, oder mußte er erkennen können, daß eine Handgranate auf sein Sprengstoffpaket treffen würde? Warum brauchte der Täter nicht mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sein Paket "zufällig", also aus irgendeinem beliebigen Grund, in solcher Weise geschüttelt oder gedrückt werden könnte, so daß sich der Sprengstoff entzündet? Gemessen am Maßstab der herrschenden Meinung liegen die Voraussetzungen einer konkreten Gefahr durchaus vor. Maßgeblich ist nämlich, ob ein einsichtiger Beobachter an der Stelle des Täters die Möglichkeit des Erfolgseintritts erkannt und die unsargfaltige Verhaltensweise deshalb unterlassen hätte. Da der einsichtige Beobachter mit "nomologischen Höchstwissen" ausgestattet ist, 36 weiß er, daß das abstrakte Gefahrdungsverbot Anwendung findet. In Anwendung dieses Verbots rechnet er ex ante mit all denjenigen Kausalreihen, denen das abstrakte Gefahrdungsverhot vorbeugen soll: Das sind auch die ,femliegenderen •, die nicht sofort ins Auge springen. Er muß davon ausgehen, daß das Verbot dem Schutz vor solchen Gefahren dient, die typischerweise nicht unmittelbar einsichtig sind. Es ist geradezu Zweck des abstrakten Gefährdungsverbots, vor solchen (versteckten) Gefahren zu warnen und deren Verwirklichung letztlich zu verhindern; ansonsten würde es unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenvermeidung über das konkrete Verbot nicht hinausgehen. Mit anderen Worten: Weil das Normwissen der Ver35 36
Vgl. nur BGHSt 4, S. 182 ff; Bohnert a. a. 0. S. 9. Armin Kaufmann, ZtRV 1964, S. 49; Burkhardt, S. 100.
I. Abstrakte Gefahrdungsverbote in Rechtsnormen
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gleichsperson unbeschränkt ist, sind alle Gefahren, denen das Verhaltensverbot vorbeugen will, auch konkret erkennbar. 37 Für Bohnerts Beispiel folgt daraus: Gerade weil das strikte Verbot, Sprengstoff im Flugzeug zu transportieren, auch der unglücklichen Verkettung ungeahnter Umstände vorbeugen will, wird es von der sorgfaltigen Vergleichsperson im konkreten Fall beachtet. Desweiteren ist es für das Erkennbarkeitsurteil weder erforderlich, daß alle Einzelheiten des schadensträchtigen Kausalverlaufs bereits in ihrer Möglichkeit offenlagen, noch muß das konkrete Opfer im Handlungszeitpunkt bereits individualisierbar sein. Wer die vor einer Schule angebrachte Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km I h nicht beachtet, kann sich gegenüber dem überraschend auf die Straße laufenden Kind nicht darauf berufen, er habe es als Person nicht erkennen können. Auch wird er nicht einwenden können, er habe zur Nachtzeit nicht mehr mit Kindern gerechnet, weil ihm nicht erkennbar war, daß in der Schule auch Abendveranstaltungen bzw. nächtliche Festivitäten stattfinden. Auch hier zeigt sich, daß das abstrakte Verbot dem Tater gerade abnimmt, sich selbst alle möglichen Nuancen der Erfolgskonkretisierung vorzustellen und sein Verhalten darauf einzurichten. Es birgt die Erwartung, der Tater möge auch mit dem Eintreten solcher Umstände rechnen, die er persönlich nicht erkennen kann. Nur dann, wenn er die typisierte Vorsicht eingehalten hat, und das Kind dennoch plötzlich vor seinem Wagen auftaucht, muß er sich auf die Atypizität des konkreten Vorgangs berufen dürfen: Sein Verhalten kann dann als ,sorgfliltig' bewertet werden. Eine Übertragung des normativen Gehalts kommt allerdings nur im Rahmen des Schutzzwecks des abstrakten Gefahrdungsdelikts in Betracht. Sofern bestimmte chemische Substanzen nicht unter den Begriff des Sprengstoffs iSd § 60 Abs. 1 Nr. 5 LuftVG fallen, läßt sich allein aus deren Transport noch keine Verhaltensnormwidrigkeit ableiten. Gleiches muß gelten, wenn der Begriff im Wege axiologischer Korrektur auf Substanzen ausgedehnt wird, deren Einbezug ex ante nicht erkennbar war. Insofern erfüllte die abstrakte Regelung bereits nicht die Anforderungen an eine Verhaltensnorm. Ein weiteres Korrektiv bildet die Ebene des Erfolgsunrechts, so daß der Tater etwa einwenden kann, die Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens sei ihrerseits nicht erfolgsursächlich geworden. Das Verhaltensunrecht bleibt hiervon aber unberührt, weil es der normative Gehalt des abstrakten Gefahrdungsverbots ermöglicht, innerhalb des Schutzzwecks auch konkrete Gefahren als erkennbar einzustufen. Wie auch immer in Bohnerts Luftverkehrsbeispiel zu entscheiden ist, konstruktiv handelt es sich weniger um ein Problem nicht zu vereinbarender Geflihrdungsstufen, als vielmehr um ein Problem akkurater Eingrenzung des Schutzzwecks der Norm? 8
37 Mit in der Sache übereinstimmender Argumentation begründet Frisch die Fundierung des Erkennbarkeitsurteils durch außerrechtliche Richtlinien und Empfehlungen; vgl. Frisch, Verhalten, S. 104. 38 So auch Roxin, Strafrecht AT I, § 24 Rn. 17.
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B. Die Verhaltensnorm innerhalb geregelter Lebensbereiche
Im Beispiel des lege artis operierenden Arztes ist dagegen ausgeschlossen, daß das Fehlen der Approbation ein Risiko für das Opfer begründet hat. Erlag das Opfer den Folgen des Eingriffs aufgrund seiner atypisch schwachen Konstitution, so muß dieses Risiko im Hinblick auf die lege artis durchgeführte Operation toleriert werden. Der Schutzbereich des Verbots der Operation ohne Approbation erlaßt nur (gefahrerhöhende) Umstände in der Person des Arztes. Die normative Kraft des Verbots kann daher auch nur die Unkenntnis solcher Umstände ersetzen. Unterläuft dem Arzt im Laufe der Operation ein Flüchtigkeitsfehler aufgrund einer fernliegenden Kenntnislücke, wäre die Risikoschaffung daher mißbilligt. Die Approbationsschranke schützt den Patienten aber nicht vor demjenigen Restrisiko, das auch bei Einhaltung der Iex artis stets verbleibt. Der Schutzzweck erweist sich somit als Korrektiv des (zu) weiten Wortlauts des abstrakten Gefährdungsdelikts im konkreten Einzelfall. Ihm kommt damit eine ähnliche Aufgabe zu wie der Differenzierung zwischen abstrakter und konkreter Gefahr. Das Abstellen auf den Schutzzweck trifft aber das Sachproblem präziser, da in concreto die im abstrakten Gef