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German Pages 579 [580] Year 2004
Werner Mackenbach Die unbewohnte Utopie Der nicaraguanische Roman der achtziger und neunziger Jahre
Editionen der Iberoamericana Ediciones de
Iberoamericana
Serie A: Literaturgeschichte und -kritik / Historia y Crítica de la Literatura Serie B: Sprachwissenschaft / Lingüística Serie C : Geschichte und Gesellschaft / Historia y Sociedad Serie D: Bibliographien / Bibliografías
Herausgegeben von / Editado por: Walther L. Bernecker, Frauke Gewecke, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann A: Literaturgeschichte und -kritik / Historia y Crítica de la Literatura, 33
Werner Mackenbach
Die unbewohnte Utopie Der nicaraguanische Roman der achtziger und neunziger Jahre
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main
2004
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2004 ISBN 3-86527-117-0 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Abbildung: Roger Pérez de la Rocha. Pintas, 1988. Colección Daisy Zamora y Oscar René Vargas. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier gemäß ISO-Norm 9706 Printed in Germany
Für Gabi
Inhalt I - Carretera
Norte
Einfahrt: Vorwort und Dank
15
Bypass: Roman und Welt
19
Peripherie und Zentrum
19
Nation und Region
28
Literatur und Gesellschaft
34
Poesie und Prosa
39
Roman und Welt
47
Zentrum und Peripherie
53 II -
Metrocentro
Erster Kreis: Revolution und Literatur
63
Das Land als offenes Buch, das Buch als offenes Land
63
Kanonisierung des Antikanonischen
65
Neue Lektüre und alte Fragen, Lektüre des Alten und neue Fragen
70
Omar Cabezas: Die Etablierung des sandinistischen testimonios
75
Der testimonio: Waffe im Volkskampf?
85
Der testimonio: Stimme des Volkes an der Macht?
90
Der weibliche testimonio: Möglichkeiten und Grenzen
98
Sergio Ramirez: Schaf im Fuchspelz oder Fuchs im Schafspelz?
104
Tomas Borge: Zwischen Karl May und Karl Marx oder Revolutionäre Erziehung als Intertext
112
Der postrevolutionäre testimonio 1: Stimme des »anderen« Subalternen?
118
Der postrevolutionäre testimonio 2: Autobiografische, parodische und karikierende Stimmen
137
Testimonio am Ende, Zukunft des testimonios?
144
Zweiter Kreis: Magie und Realität
151
Magie des Wirklichen, Wirklichkeit des Magischen
151
Das Autochthone und die Substrate
159
Innensicht und Außensicht
168
Mutter Erde und verlorenes Paradies: Die Magie als Urgrund der Revolution?
171
Herz des Himmels und Reich des Bösen: Die Magie als Verheißung der Revolution?
181
Hexe, Kobold und Gespenst: Die Magie und die Widersprüche der Revolution
186
Teufel, Geister und Tier-Menschen: Die Magie im Widerspruch zur Revolution
191
Marktfrau, Kräuterweib und fliegender Glöckner: Die Magie unterhalb der Nation
195
Indio, Konquistador und Mestize: Die Magie als parallele Welt zur Nation
201
Magische Erzählungen, erzählte Wirklichkeiten
205
Dritter Kreis: Geschlecht und Nation
210
Männerprobleme und Frauenprobleme
210
Der Körper, Land der Seen und Vulkane
213
Weibsbilder und Mannsbilder
219
La patria: Ein Liebesliedflir die Männer
224
Die revolutionäre Nation: Eine bewohnte Frau?
231
Die Geschichte: Ein männlicher Diskurs
234
Die postrevolutionäre Nation: Eine missbrauchte Frau
242
Die revolutionäre Frau: Eine neue Nation?
246
Die wahre Nation: Ein männerloses Haus?
254
Die unbewohnte Nation: Ein geschlechtsloses Wesen?
259
Problemmänner und Problemfrauen oder Vom Geschlecht ohne Nation zur Nation ohne Geschlecht?
266
Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion
270
Historischer Roman und »neuer historischer Roman«
270
Der Romanautor als Geschichtsschreiber
277
Dekonstruktion der offiziellen Historiografie und Suche nach Identität
280
Imagination und Wahrheit: Unmöglich zu erzählen, wie es wirklich war . . . . 284 Mythos und Parodie: Nicht erzählen, wie es gewesen sein soll
296
Geschichte und Mythos: Erzählen, wie es gewesen sein soll
308
Geschichte und Wahrheit: Erzählen, wie es wirklich war
313
Geschichte und Erinnerung: Erzählen, wie es gewesen sein kann
321
Diachronie und Synchronie: Erzählen, wie es nicht (mehr) sein sollte
325
Geschichte als Anachronismus: Erzählen, wie es nicht hätte sein dürfen . . . . 335 Der Romanautor als Geschichtenschreiber oder Wahre Lügen und verlogene Wahrheiten Fünfter Kreis: Raum und Text
341 348
Vom Raum im Kopf zum Raum im Text
348
Der Text als Raum
355
Texträume, Kopfräume
360
Stadt und Land 1: Profaner und mythischer Raum
365
Stadt und Land 2: Zukunftsraum oder locus terribilis?
379
Pazifik und Karibik 1: Mestizischer versus indigener Raum
390
Pazifik und Karibik 2: Mestizischer und indigener Raum?
398
Nation und Region: Eigenraum und Fremdraum
403
Haus und Welt: Weiblicher und männlicher Raum
408
Europa und Amerika: Fremdraum und Eigenraum
419
Vom Raum im Text zum Text ohne Raum?
428
III — Carretera
Sur
Diagonale: Literatur und Revolution
439
Die Revolution als Roman, der Roman der Revolution?
439
Die Revolution in der Literatur: Eine (fast) unbekannte Vorgeschichte
444
Die Revolution: Ein unversöhnlicher Bruderkampf?
455
Die Revolution: Eine unaufhaltsame Naturgewalt?
459
Die Revolution: Eine unerwünschte Erinnerung
465
Die Revolution: Ein ungebautes Museum
469
Die Revolution: Eine unerfüllte Liebe
474
Die Revolution: Eine ungeliebte Sprache, ein ungeliebter Kandidat und ein ungeliebter Kommandant
480
Die Revolution.Ein
491
ungelöster sozialer Konflikt
Die Revolution: Eine unbewältigte Vergangenheit
494
Die Revolution: Eine unbewohnte Utopie
498
Literatur der Revolution und Revolution als Literatur
503
Ausfahrt: Literarischer
Nationalismus
und neue Unübersichtlichkeit
Literatur als Palimpsest
506 506
Moderne und Postmoderne
515
Vom literarischen Nationalismus zu einer neuen Unübersichtlichkeit
522
Bibliografie
529
a) Quellen: Nicaraguanische Romane und testimonios der achtziger und neunziger Jahre
529
b) Weitere Quellen
533
c) Nicaraguanische Romane und testimonios in deutschen Ubersetzungen
535
d) Sekundärliteratur zur nicaraguanischen Literatur
536
e) Allgemeine Sekundärliteratur
547
»El género novela es el pez enjabonado de la literatura: nada más difícil de atrapar.« Angel Rama, La novela en America Latina
/ - Carretera Norte
»La novela centroamericana sigue siendo en gran parte un texto inédito [...] El campo está en ciernes, abierto a nuestra imaginación investigativa y a la responsabilidad ineludible de las opciones y, por supuesto, a merced de nuestras posibilidades.« Magda Zavala, La nueva novela centroamericana
Einfahrt
Vorwort und Dank Nicaragua habe keinen Romancier, der ihm schreibe - so betitelte vor ein paar Jahren ein nicaraguanischer Literaturkritiker in kaum verhüllter Anspielung auf Gabriel García Márquez' berühmten Roman El coronel no tiene quien le escriba einen Artikel über die erzählende Literatur des zentralamerikanischen Landes: »Nicaragua no tiene novelista que la escriba.« (Chow, 1997: 6B)' In der Tat galt es noch bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts als ausgemacht, dass das Land der Seen und Vulkane, der Poeten und Guerilleros ganz im Gegensatz zu seiner reichen lyrischen Tradition keine nennenswerte literarische Prosa hervorgebracht habe: Nicaragua verfuge über keinen Romanschriftsteller, der es (be)schreibe. Die vorliegende Studie entstand zum Teil aus einem Unbehagen an dieser weit verbreiteten, apodiktisch vorgetragenen Feststellung, das in eine sich steigernde wissenschaftliche Neugier mündete. Die Studie ist Ergebnis einer mehij ährigen Beschäftigung mit der zeitgenössischen zentralamerikanischen Literatur, insbesondere der Erzählliteratur Nicaraguas seit den sechziger Jahren des vor kurzem zu Ende gegangenen Jahrhunderts. Im Verlauf dieser Forschungs-, Lehr- und Vortragstätigkeit erwies sich das zitierte, weithin akzeptierte Urteil in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht zunehmend als unhaltbar: Es zeigte sich, dass sich seit den sechziger, spätestens siebziger Jahren in Nicaragua eine (umfang)reiche Narrativik entwickelt hat, die zwar im Land zum Teil breit rezipiert wurde, wobei sie allerdings im literarischen Kanon hinter der dominierenden Poesie als sekundär eingestuft wurde. Dagegen war sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, selbst in den zentralamerikanischen Nachbarländern wenig bekannt, ganz zu schweigen von Europa. Erst langsam steigt - begünstigt durch den Erfolg einiger Autorinnen und Autoren wie Ernesto Cardenal, Gioconda Belli und Sergio Ramírez - das Interesse an dieser Literatur auch in Europa, insbesondere in Spanien und Frankreich, aber auch den deutschsprachigen Ländern. Der Band soll einen Beitrag zur Entdeckung der Erzählliteratur Nicaraguas über die wenigen bekannten Namen hinaus, zu ihrer wissenschaftlichen Analyse und zum Verständnis nicaraguanischen literarischen Schreibens und kulturellen Denkens in Deutschland leisten. Die vorliegende Studie ist nach literarästhetischen Fragestellungen bzw. Problemkreisen geordnet, ohne literatursoziologische und literarhistorische Fragestellungen zu vernachlässigen. Ihre Makrostruktur gliedert sich in drei große Teile, die der Geografie der nicaraguanischen Hauptstadt nachempfunden sind: Der erste, einfuhrende Teil (I - Carretera Norte) entlehnt seinen
Der erstmals 1958 in der Zeitschrift Mito publizierte Roman wurde in Deutschland unter verschiedenen Titeln veröffentlicht: Kein Brief Jür den Oberst (1968) und Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt (1976).
16
Einfahrt: Vorwort und Dank
Namen der großen von Osten nach Westen verlaufenden Achse vom Flughafen zur Hauptstadt Managua, erste nicht nur topografische Annäherung des (Flug)Reisenden an die nicaraguanische Wirklichkeit. Das Kapitel »Bypass: Roman und Welt« in diesem ersten Teil spielt auf die zahlreichen Querverbindungen zwischen den großen innerstädtischen Straßen an und widmet sich einigen hauptsächlich methodologischen Fragestellungen. Der Hauptteil (II Metrocentro) bezieht seinen Titel von dem gleichnamigen Kreisverkehr in der nicaraguanischen Metropole, um den herum das zukünftige Zentrum entstehen soll. Der dritte Teil (III - Carretera Sur) setzt die Bewegung entlang der großen Ausfallstraße in Richtung Süden (zum Pazifik und nach Costa Rica hin) fort. Neben dem letzten Kapitel mit einigen schlussfolgernden Überlegungen enthält er im Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution« ein querschnittartiges Panorama der nicaraguanischen Romane, die im eigentlichen Sinne die Revolution von 1979 zum Thema haben. Die fünf Kreise des Hauptteils sind der heutigen topografischen Struktur der nicaraguanischen Hauptstadt nachgezeichnet, die seit dem großen Erdbeben 1972 über kein Zentrum mehr verfugt, sondern in einzelne Stadtteile zerfällt - eine chaotische Geografie, in der die seit den neunziger Jahren errichteten rotondas (Verkehrskreisel) mit ihren klingenden Namen wie Rubén Dario, El Güegüense, Centroamérica, Cristo Rey, El Periodista usw. wichtige Orientierungspunkte darstellen. So heißt es in dem Roman Un sol sobre Managua (1998) des nicaraguanischen Autors Erick Aguirre: »Date cuenta que Managua es una ciudad fragmentada, dueña de una geografía difícil. Mirala: está surcada por potreros y 'baypases' que nos separan y nos dividen. La zona oriental: la Managua de Ducualí, la Nicarao, Reparto Schick, Las Américas, Santa Rosa ... y no es la misma que la de Monseñor Lezcano, o de Altagracia, Santa Ana y Acahualinca; ya no digamos que la de Ciudad Sandino, ahora un municipio independiente ... En fin, no hay una sola Managua, sino muchas ... « ( 4 7 )
Diese Struktur der nicaraguanischen Kapitale kann durchaus als Metapher der hermeneutischen Bewegung verstanden werden, die in der vorliegenden Studie unternommen wird. Sie versucht in fünf sich einander berührenden und überschneidenden Kreisen sich ihrem Gegenstand zu nähern, und wie nicht ein Managua existiert, gibt es nicht einen nicaraguanischen Roman, auch nicht bezogen auf den literaturgeschichtlichen Bezugspunkt der Untersuchung (die achtziger und neunziger Jahre) oder eine literarästhetische »Klassifizierung« - sondern viele. Wie die mit den rotondas identifizierten Teile Managuas, die sich nach allen Seiten hin ausdehnen, nicht hermetisch voneinander abgeschlossen sind, sondern sich berühren, überlagern, ineinander über gehen, oft keine klaren Grenzziehungen erlauben, so die fünf Kreise des Hauptteils dieses Bandes. Der textuelle Raum der vorliegenden Arbeit ist also nicht nur der Geografie Managuas nachgebildet, sondern ihre hermeneutische Bewegung
Einfahrt: Vorwort und Dank
17
ähnelt der von Ottmar Ette in seiner Studie über Roland Barthes in Anlehnung an den Roman Rayuela von Julio Cortázar vollzogenen und beabsichtigt wie jene, »durch die Anlage verschiedener Leseparcours zusätzliche Verzweigungen aufzuzeigen und auf bewußt konkrete Weise zur Suche nach weiteren möglichen Wegen aufzufordern« (Ette, 1998: 55, vgl. 56). Um diese Dimension der Studie hervorzuheben und dem Leser eine die Querverbindungen leichter erschließende Lektüre zu ermöglichen, habe ich zahlreiche Querverweise in den einzelnen Kapiteln aufgenommen. Über die »traditionelle« lineare Lektüre hinaus bieten sich mögliche Alternativen: So kann mit dem Hauptteil - Metrocentro - begonnen werden, der in fünf Kapiteln eine Analyse des Textkorpus enthält, um dem den ergänzenden und schlussfolgernden bzw. weiterführenden dritten Teil - Carretera Sur - folgen zu lassen und zum Schluss die Lektüre des ersten Teils - Carretera Norte anzuschließen, der in das Thema der Studie einfuhrt und die Analyse des Hauptteils methodologisch, literarhistorisch und -ästhetisch in den Kontext der hispanoamerikanischen, zentralamerikanischen und nicaraguanischen Literatur einbettet. Eine andere Lesart kann sich zunächst den Unterkapiteln der fünf Kreise im Hauptteil - Metrocentro - zuwenden, die im Titel einen Doppelpunkt enthalten. Eine solche Lektüre ergibt eine Werkschau der wichtigsten Texte der nicaraguanischen Romanliteratur der achtziger und neunziger Jahre. Als zusätzliche Hilfe für die Leser sind Autor und Titel der analysierten Romane fett und kursiv gedruckt, wo eine Darstellung über das jeweilige Werk folgt (bei der ersten Nennung meistens auch verbunden mit einer kurzen Inhaltsangabe).2 Danach besteht die Möglichkeit, zu den eher methodologisch bzw. theoretisch angelegten Unterkapiteln (ohne Doppelpunkt im Titel) des Hauptteils überzugehen und danach zu Teil I (Carretera Norte) und Teil III (Carretera Sur), oder auch umgekehrt, um dann noch einmal auf die theoretisch-methodologischen Unterkapitel des Hauptteils zurückzukommen. Alle diese Lesarten verweigern sich einer eindeutig »zentrierten« bzw. »zentralisierten« Lektüre - so noch einmal nicht nur die topografische Struktur Managuas aufnehmend und das Fehlen eines »Zentrums« bzw. eines »Hauptortes« des zeitgenössischen nicaraguanischen Romans betonend, sondern auch in einem weiteren Sinne auf die kulturellen Koordinaten des tropischen Landes anspielend. Vielleicht ist es daher eine nicht zu abgeschmackte rhetorische Figur, in diesem Sinne von einer »mestizischen« Lektüre zu sprechen.
2
Die Originaltexte, die im ersten Teil der Bibliografie: »a) Quellen: Nicaraguanische Romane und testimonios der achtziger und neunziger Jahre« verzeichnet sind, werden nur bei der ersten Erwähnung im jeweiligen Kapitel mit Autorenname, Jahreszahl: Seitenzahl angegeben, danach nur mit Seitenzahl in Klammern. Auf alle übrigen Texte wird unter Angabe von Autorenname, Jahreszahl: Seitenzahl verwiesen. Schrägstriche / in den Zitaten bedeuten, dass im Original ein Absatz folgt.
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Einfahrt: Vorwort und Dank
Die Arbeit an der vorliegenden Studie wurde zeitweise mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Zu ihrem Entstehen nicht unwesentlich beigetragen haben auch zahlreiche vom Deutschen Akademischen Austauschdienst finanzierte Lehr- und Forschungsaufenthalte in Nicaragua bzw. Zentralamerika. Zu ihrer Veröffentlichung wurde ein Druckkostenzuschuss des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT gewährt. Diesen Institutionen gilt mein Dank. Besonders danken möchte ich Herrn Professor Dr. Ottmar Ette vom Institut für Romanistik der Universität Potsdam für die fachkundige Begleitung meiner Untersuchung und die Ermunterung zu ihrer Fertigstellung, ebenso Herrn Prof. Dr. Karsten Garscha vom Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Gleichermaßen dankbar bin ich zahlreichen Einzelpersonen, die in der einen oder anderen Weise zu ihrer Realisierung beigetragen haben, insbesondere Margarita Vannini (Direktorin des Instituto de Historia de Nicaragua y Centroamérica, Managua), Franz Galich, Sigrid Mund, Diana und Ramón Rodríguez, Anke und Herwig Bremer-Senk, Andrea und Ulrich Wolf, Felicitas Michael und Klaus Händler, Luise Baumhauer und Reimar Jelkmann, den Wissenschaftlern und Schriftstellern, die insbesondere während zahlreicher zentralamerikanischer Literatur- und Historikerkongresse wichtige Gesprächspartner waren, sowie den Studentinnen und Studenten meiner Seminare an der Universidad Centroamericana, Managua, und der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Den tiefsten Dank empfinde ich gegenüber Gabi Michael, ohne deren unendliche Geduld, anhaltende Unterstützung und fortwährende Ermutigung diese Studie niemals zustande gekommen wäre, sowie gegenüber unseren beiden Söhnen Alexis und Dario für ihr Verständnis und ihre Hilfe. Werner Mackenbach
Bypass Roman und Welt »Die Erforschung des Romans als Genre birgt besondere Schwierigkeiten. Das ist durch die Eigenart des Objektes bedingt: Der Roman ist das einzige im Werden begriffene und noch nicht fertige Genre. [...] Der Prozeß des Werdens des Romans ist nicht beendet.« Michail M. Bachtin, Epos und Roman »El novelista es un aventurero, un explorador de la realidad no la recibe consolidada y explicada, no la recibe interpretada [...]« Angel Rama, Diez problemas para el novelista latinoamericano »Más que una respuesta, la novela es una pregunta crítica acerca del mundo, pero también acerca de ella misma. La novela es, a la vez, arte de cuestionamiento y cuestionamiento del arte.« Carlos Fuentes, Geografía de la novela
Peripherie und Zentrum Ist die Peripherie im Zentrum angekommen? Der anhaltende Erfolg von Autorinnen und Autoren wie Gioconda Belli und Ernesto Cardenal gerade beim deutschsprachigen Lesepublikum könnte den Schluss nahe legen, die nicaraguanische bzw. zentralamerikanische Literatur erfreue sich hierzulande großer Bekanntheit und sei bevorzugter Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. Zentralamerika fristet innerhalb der deutschsprachigen Lateinamerikanistik jedoch immer noch ein Randdasein. Für den nicaraguanisehen Roman muss gar von einem fast gänzlich weißen Fleck auf der literaturwissenschaftlichen und literarhistorischen Landkarte im deutschsprachigen Raum, aber keineswegs nur hier, gesprochen werden. Die vorliegende Studie soll einen Beitrag dazu leisten, diese Lücke zu schließen. Ihr Gegenstand ist der nicaraguanische Roman der achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts im Kontext der Entwicklung der hispanoamerikanischen und insbesondere zentralamerikanischen Literaturen. Bisher galt in den in Nicaragua wie in anderen Ländern veröffentlichten Studien zur nicaraguanischen Literatur das Verdikt, dass in Nicaragua keine Romanliteratur geschaffen worden sei bzw. dass die nicaraguanische erzählende Literatur keine organische Entwicklung erfahren habe.1 Eine Beschäftigung mit dem zeitgenössischen nicaraguanischen Roman
Der nicaraguanische Literaturwissenschaftler Jorge Eduardo Arellano wiederholt noch in der sechsten Auflage seiner erstmals 1966 unter dem Titel Panorama de la literatura nicaragüense erschienenen Darstellung, die seit 1997 den Titel Literatura nicaragüense trägt, das Urteil, »que Nicaragua no haya creado ninguna novelística« (Arellano, 1997d: 119). Auch Sergio Ramírez kommt im Vorwort der vierten Auflage seiner erstmals 1976 publizierten Anthologie
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Bypass: Roman und Welt
erfordert also eine mehrfache Begründung, die forschungsgeschichtliche, gattungstheoretische, literarästhetische, literatur- bzw. kultursoziologische, aber auch empirisch-pragmatische Gesichtspunkte einschließt. In seiner 1982 erschienenen Studie La novela centroamericana konstatierte der puertoricanische Literaturwissenschaftler Ramón Luis Acevedo, von einigen bedeutenden Ausnahmen abgesehen sei die zentralamerikanische Literatur außerhalb der regionalen und selbst nationalen Grenzen unbekannt. Es sei symptomatisch, dass die bekanntesten zentralamerikanischen Autoren, Rubén Dario und Miguel Angel Asturias, den Hauptteil ihres Werkes außerhalb Zentralamerikas veröffentlicht hätten und von ausländischen Literaturkritikern mit Beschlag belegt worden seien. Die geringe Bekanntheit der zentralamerikanischen Literatur lasse sich nicht mit der fehlenden literarischen Qualität erklären, vielmehr habe sie ihre Ursachen in einer Reihe von außerliterarischen Faktoren, die in der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rückständigkeit der Länder der Region begründet seien, (vgl. Acevedo, 1982: 9, 10, 11, 447) Zwar hat inzwischen im Zuge des gesteigerten internationalen Interesses für die politischen Entwicklungen in Zentralamerika vor allem in den achtziger Jahren auch die Literatur der zentralamerikanischen Länder verstärkte Aufmerksamkeit erfahren, Autorinnen und Autoren wie Ernesto Cardenal, Gioconda Belli und - schon in wesentlich geringerem Umfang - Roque Dalton, Manlio Argueta, Sergio Ramírez, Omar Cabezas, Carmen Naranjo, Mario Monteforte Toledo, Augusto Monterroso, Roberto Sosa, Enrique Jaramillo Levi sind zumindest über die Grenzen ihrer Länder hinaus und zum Teil auch in Europa bzw. Nordamerika bekannt. Was die literaturwissenschaftliche und -geschichtliche Forschung angeht, so ist die Literatur der zentralamerikanischen Länder bisher jedoch weitgehend unberücksichtigt geblieben. Auch hier gilt das Urteil Acevedos, dass die wenigen Ausnahmen die Regel bestätigen. (vgl. Acevedo, 1982: 9) Innerhalb der Gesamtdarstellungen der Geschichte der hispanoamerikanischen Literatur spielen die zentralamerikanischen Literaturen - von wenigen signifikanten Ausnahmen wie Rubén Dario und Miguel Angel Asturias abgesehen - bestenfalls eine untergeordnete Rolle.2 Für die Studien zum hispanoa-
2
Cuento nicaragüense zu dem Schluss, »que la narrativa nicaragüense no ha tenido un desarrollo orgánico«, um allerdings festzustellen, dass »a la hora de ejemplificar esta narrativa a través de una antología de cuentos, nos encontramos con una muestra de verdadera calidad« (Ramírez, 1993: 16). Dies trifft zum Beispiel zu auf die hispanoamerikanischen Literaturgeschichten von Anderson Imbert (1964), Bellini (1985), Flores (1967), Franco (1975 und 1990), Hamilton (1966), Iñigo Madrigal (1982), Leguizamón (1945), Oviedo (1995), Sáinz de Medrano (1989), Sánchez (1973) und Torres-Rioseco (Erstausgabe 1945). Ähnliches gilt für einführende bzw. zusammenfassende Studien zur hispanoamerikanischen Literatur wie Arce Vargas (1983), Cordova (1942), Donoso (1977), Franco (1970), Herra (1989), Rama (1981a), Shaw (1988) und Vargas Llosa (1971), ebenso für das Lexikon hispanoamerikanischer Autoren von Albourek/Herrera (1991), während das Handbuch lateinamerikanischer Literatur von Foster (1992)
Bypass:
R o m a n und Welt
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m e r i k a n i s c h e n R o m a n lässt sich geradezu v o n e i n e m Fehlen Zentralamerikas s p r e c h e n ( a u c h h i e r ist A s t u r i a s d i e w i c h t i g s t e A u s n a h m e ) . 3 A l l e r d i n g s ist i n d e n letzten Jahren i n Zentralamerika selbst, in d e n U S A
u n d z u m Teil i n
Europa eine wachsende Zahl von Studien zu einzelnen zentralamerikanischen Literaturen, e i n z e l n e n A u t o r e n oder E i n z e l a s p e k t e n erschienen, in d e n z e n t r a l a m e r i k a n i s c h e n L ä n d e r n w u r d e n ( i n s b e s o n d e r e i n d e n l e t z t e n b e i d e n Jahrz e h n t e n ) nationale Literaturgeschichten n e u vorgelegt b z w . existierende überarbeitet und w i e d e r aufgelegt.4 N a c h w i e vor f e h l e n j e d o c h - v o n Ausnahmen
abgesehen
-
Gesamtdarstellungen
der
wenigen
zentralamerikanischen
L i t e r a t u r b z w . e i n e z e n t r a l a m e r i k a n i s c h e L i t e r a t u r g e s c h i c h t e . In i h r e r S t u d i e über den zentralamerikanischen R o m a n von 1970 bis 1985 k o m m t die costaricanische
Literaturwissenschaftlerin M a g d a Zavala z u d e m Schluss:
»Sobre literatura centroamericana, por lo tanto, las r e f l e x i o n e s y registros de información son más bien escasos. Los estudios literarios en cada uno de los país e s circunscriben su mirada a la producción nacional, sin que se haya logrado el apropiado desarrollo interno. Las historias literarias nacionales cuando existen llegan, sobre todo, hasta la primera mitad del siglo X X o tienden a ser resúmenes sobre un periodo, una promoción de escritores o un m o v i m e n t o estético.« (Zavala, 1990: 13, vgl. 5f. und Kelly, 1991: 13f.) 5
3
4
5
eigene Kapitel zu Costa Rica, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Panama und El Salvador enthält und das Lexikon der spanischen und hispanoamerikanischen Literatur von Gullón (1993) die zentralamerikanische Literatur recht vollständig bis Ende der achtziger Jahre berücksichtigt. Dies gilt zum Beispiel für die Studien zum hispanoamerikanischen Roman von Alegría (1986), Brushwood (1984), Burgos (1985), Carpentier (1981), Dill (1978), Dill et al. (1994), Foster (1975), Fuentes (1969), Gálvez (1987), Gertel (1970), Goic (1972), Goic et al. (1973), Herlinghaus (1989), Lafforgue (1969), Martin (1989), Mentón (1993), Pérez Galo (1982-83), Pollmann (1982-1984), Rama (1982 und 1986), Roloff/Wentzlaff-Eggebert (1992), Sánchez (1976), Schulman et al. (1967) und Uslar Pietri (1974). Eine wichtige Ausnahme ist Souza (1988), der ein ausführliches Kapitel zu der nicaraguanischen Romanautorin Rosario Aguilar enthält (149-164). Gesamtdarstellungen der einzelnen nationalen Literaturen sind: Mentón (1960) und Albizürez Palma/Barrios (1981, 1982 und 1986) fiir Guatemala, Umaña (1986), Martínez (1987) und Paredes/Salinas Paguada (1987) für Honduras, Toruño (1958) und Gallegos Valdés (1962) für El Salvador, Arellano (1966, 1986, 1997) fiir Nicaragua, Sandoval de Fonseca (1978), Valdeperas (1979), Quesada Soto (1986, 1998 und 2000), Bonilla Baladares (1987), Ovares/Rojas/Santander/Carballo (1993) und Rojas/Ovares (1995) für Costa Rica, García (1972) und Miró (1974, 1987) für Panama; zum guatemaltekischen Roman vgl. die umfassende Studie von Mentón (1985). Insgesamt beschäftigt sich die Mehrheit der zentralamerikanischen Studien über zentralamerikanische Literaturen) mit der Lyrik; s. dazu Zavala/Araya (1995). Zavala nennt einige weitere, auch regional angelegte, Arbeiten, die ähnliche Charakteristiken aufweisen. (Zavala, 1990: 13) Sie führt diese Situation zurück auf die »balcanización de la vida en los ámbitos económico y político a partir de la independencia de España de lo que había sido el 'Reyno de Guatemala' y que en 1821 llevaba el nombre de Provincias Unidas del Centro de América« (Zavala, 1990: 12) Vgl. dazu Galich (2001), der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Geschichte der zentralamerikanischen Literaturen) zu begründen versucht,
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Roman und Welt
Auch in der deutschsprachigen Lateinamerikaforschung wurden die zentralamerikanischen Literaturen (von den erwähnten Ausnahmen abgesehen) bisher wenig beachtet.6 Wenn Ottmar Ette in Bezug auf die »Institutionalisierung der Lateinamerika-Forschung auch im literaturwissenschaftlichen Bereich« im u.a. unter Hinweis auf die bereits existierende, von einem zentralamerikanischen Autorenteam erarbeitete Historia General de Centroamérica (1993ff.). Was länderübergreifend angelegte Studien angeht, sei auf Acevedo (1991a), Albizúrez Palma (1988), Arellano (1997a), Arias (1998a), Beverley/Zimmerman (1990), Craft (1997), Cuadra (1964), Guardia (1983), Kelly (1991), Osses (1986), Rodríguez (1996), Zavala (1990) und Zavala/Araya (1995) sowie besonders Acevedo (1982) hingewiesen, außerdem auf die Sammelbände von Mondragón (1993a), Román-Lagunas (1994 und 2000) und Román-Lagunas/Mc Callister (1999). Zwar widmen die Kleine Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im 20. Jahrhundert von Strosetzki (1994) und das Autorenlexikon Lateinamerika von Reichardt (1994) den zentralamerikanischen Literaturen entsprechende Kapitel, bei Strosetzki fehlen allerdings die Literaturen Honduras', El Salvadors, Costa Ricas, Panamas und Belizes. Die Lateinamerikanische Literaturgeschichte von Rössner (1995) berücksichtigt die Literaturen Zentralamerikas von den bisher erschienenen deutschsprachigen Arbeiten zur Geschichte der lateinamerikanischen Literatur am ausführlichsten, vor allem für die Zeit von 1920 bis in die siebziger Jahre. Allerdings bleibt sie oft bei dem von Rössner selbst kritisierten Panoramacharakter stehen (vgl. IX) und enthält zum Teil Ungenauigkeiten. So wird zum Beispiel der Titel einer Erzählung von Jorge Eduardo Arellano, »Kid Tamariz«, fälschlicherweise als Name eines »außerhalb Nicaraguas bislang nahezu unbekannt gebliebenen« (425) Autors zitiert; er wird noch dazu als Repräsentant einer neuen Literatur »von hoher formaler Originalität« (ibid.) ausgegeben, der sich dadurch auszeichne, dass er »mit jeweils neuen Erzähltechniken und wechselnden Perspektiven ein Erzählkaleidoskop seines Landes entwirft« (ibid.). Auch Dill berükksichtigt die zentralamerikanischen Literaturen in seiner Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im Überblick (1999) recht ausführlich. Einzelne Abschnitte in seiner sich im Wesentlichen auf kurze Zusammenfassungen der wichtigsten Werke, Autoren und Tendenzen beschränkenden Darstellung beschäftigen sich zum Beispiel mit dem Plantagenarbeiterroman, dem Avantgardismus und dem »magischen Realismus« Miguel Ángel Asturias". Ein eigenes Kapitel unter dem Titel »Mittelamerika: kleine Länder mit großen Literaturen« (425-444) behandelt summarisch die Literaturen Nicaraguas, Guatemalas, Costa Ricas, El Salvadors, Panamas und Honduras' in den letzten fünfzig Jahren. Das hier vorgetragene Urteil gilt im Allgemeinen auch für die problemorientierten Gesamtdarstellungen bzw. Sammelbände zur lateinamerikanischen Literatur in der deutschen Forschung; sie »neigte bisher dazu, die lateinamerikanische Literatur als eine Einheit zu betrachten«, wie Kohut bemerkt (1992; 416). Neben den in Fußnote 3 genannten Arbeiten trifft das zu auf Grossmann (1969), Lorenz (1971), Eitel (1978), Garscha (1977, 1978a und 1978b), Strausfeld (1989), Janik (1992) und Günther (1995) sowie auf das Kritische Lexikon der romanischen Gegenwartsliteraturen (Lange, 1984ff.) und den Indice bio-bibliográfico de autores latinoamericanos (Scheerer, 1991fF.). Eine gewisse Ausnahme stellt Links (1992) dar, der nicht nur einen ausführlichen Aufsatz zur Lyrik Ernesto Cardenals enthält (die zusammen mit Rubén Dario und Miguel Ángel Asturias auch in anderen Darstellungen gewürdigt wird), sondern auch den zentralamerikanischen testimonio im Kontext der lateinamerikanischen Testimonialliteratur behandelt. Vgl. insgesamt dazu auch den Abriss der historischen Entwicklungslinien in der deutschen literaturwissenschaftlichen Lateinamerikaforschung in Kohut (1992: 402-406, auch 406-415). In seinen der Erforschung von Ländern und Regionen gewidmeten Passagen führt Kohut u.a. Argentinien und den Cono Sur sowie Brasilien, Mexiko und den »Sonderfall« Karibik (einschließlich Kubas) an, »deren Literatur und Kultur das Forschungsinteresse eines kleinen, aber engagierten Kreises von Romanisten und (Nord-)Amerikanisten auf sich gezogen hat« (ibid.: 416). Zentralamerika findet keine Erwähnung.
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Vergleich mit den USA von einer »gewissen Verzögerung [...] in den beiden deutschen Staaten« und einer »noch sehr jungen Rezeption der lateinamerikanischen Literaturen in Deutschland« spricht (Ette, 1994: 314, 315), dann trifft dieses Urteil umso mehr für die zentralamerikanische Literatur und ihre Erforschung innerhalb der deutschen Lateinamerikanistik zu, die noch kaum begonnen hat.' Die bisher für Zentralamerika getroffenen Feststellungen gelten in besonderem Maße für die nicaraguanische Literatur und umso mehr für die Romanliteratur des Landes. Literaturwissenschaftliche bzw. -geschichtliche Studien, die sich (unter anderem) mit dem nicaraguanischen Roman befassen, sind in Nicaragua selbst bisher folgende erschienen: Arellano (1966, 1986 und 1997d), Centeno Zapata (1958), Mondragón (1991), Palacios (1989, 1991a, 1991b, 1998 und 2000), Urbina (1995) und Rodríguez Rosales (1999).8 Von den genannten Arbeiten sind die Bücher von Nicasio Urbina, Isolda Rodríguez Rosales und Nydia Palacios (1998 und 2000) die einzigen Untersuchungen über den nicaraguanischen Roman, die in den neunziger Jahren herausgegeben wurden und die auch Romane in die Analyse mit einbeziehen, die in den achtziger und neunziger Jahren veröffentlicht wurden. Die Studie Urbinas konzentriert sich auf eine Analyse der Erzählstrukturen und will explizit weder die Bedeutung der behandelten Werke analysieren, noch zielt sie auf eine Theorie des nicaraguanischen Romans ab. (vgl. Urbina, 1995: 11) Das Buch von Rodríguez Rosales ist eine »recopilación de ensayos, que desafortunadamente no abarca todas las obras de la década 1988-1998« (Rodríguez Rosales, 1999: 14); es versucht, eine kritische Sicht der repräsentativsten Romane und Erzählungen jener zehn Jahre zu bieten, mit dem Ziel, einen Beitrag zum Studium der jüngsten nicaraguanischen Literatur zu leisten, wobei die Autorin betont: »No son trabajos concluyentes.« (ibid.) Palacios (1998) widmet sich ausschließlich dem Romanwerk einer Autorin (Rosario Aguilar), während ihr im Jahr 2000 erschienener Band auch Aufsätze zu einer Reihe von in den achtziger und neunziger Jahren publizierten Romanen enthält (zu Rosario Aguilar, Jorge Eduardo Arellano, Claribel Alegría, Gioconda Belli, Gloria Elena Espinoza de Tercero und Alfredo Valessi). Auch die jüngste Ausgabe von Jorge Eduardo Arellanos panoramaartiger Darstellung der nicaraguanischen Litera7
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Vgl. dazu auch den bereits zitierten erhellenden Aufsatz über die Entwicklung der literaturwissenschaftlichen Lateinamerikanistik im deutschsprachigen Raum von Karl Kohut (1992), der ebenfalls von einer »gewissen Verzögerung« der wissenschaftlichen Forschung gegenüber dem Buchmarkt ausgeht (vgl. bes. 404). Das 1998 erschienene Buch Juez y parte. Sobre literatura y escritores nicaragüenses contemporáneos von Erick Aguirre ist eine Sammlung von (kurzen) journalistischen Arbeiten zu literarischen und anderen Themen, »que de alguna manera tratan de interpretar, desde la perspectiva de la literatura y los escritores, una época importante en la historia nicaragüense y de la humanidad (el final de los ochenta y el inicio de los noventa)« (Aguirre, 1998: 5). Sie beziehen sich u.a. auf Romane von Gioconda Belli, Orlando Núñez Soto, Mónica Zalaquett, Carlos Alemán Ocampo, Lizandro Chávez Alfaro, Erick Blandón und Franz Galich.
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tur (1997d) bezieht zahlreiche bis Mitte der neunziger Jahre erschienene Romane (bis zu Alemán Ocampo, 1994; Ramírez, 1995; Pasos Marciacq, 1995; Belli, 1996a) ein. Die restlichen Arbeiten stützen sich hauptsächlich auf literarische Werke, die bis Ende der sechziger Jahre veröffentlicht wurden, beziehen also die siebziger kaum, die achtziger und neunziger Jahre nicht ein.9 Von den Studien zum zentralamerikanischen bzw. nicaraguanischen Roman, die von lateinamerikanischen und nordamerikanischen Autorinnen und Autoren erarbeitet wurden, sind insbesondere hervorzuheben: Acevedo (1982), Arias (1998a), Beverley/Zimmerman (1990), Craft (1997), Kelly (1991), Mondragón (1989 und 1993a), Rodríguez (1992, 1994 und 1996) und Zavala (1990). Im Gegensatz zu den restlichen Untersuchungen zum zentralamerikanischen bzw. nicaraguanischen Roman, die sich im Wesentlichen auf Einzelwerke bzw. einzelne Autoren konzentrieren,10 unternehmen sie ihre Analyse unter übergreifenden literaturgeschichtlichen, literarästhetischen bzw. gattungstheoretischen Fragestellungen. In der bisher umfassendsten literaturgeschichtlichen Studie über den zentralamerikanischen Roman beschäftigt sich Acevedo auch ausführlich mit der Entwicklung des Romans in Nicaragua von den Anfängen bis zu Beginn der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Seine Untersuchung beschränkt sich jedoch im Wesentlichen auf eine Zusammenfassung und Vorstellung der behandelten Werke sowie auf Vergleiche der Entwicklung der Romanliteratur in den verschiedenen zentral amerikanischen Ländern." In gewisser Hinsicht setzt Kelly die Arbeit Acevedos für die sechziger und insbesondere siebziger Jahre fort, ohne allerdings auch nur annähernd ein ähnlich umfassendes Korpus für diese Zeit zugrunde zu legen.12 Sie beabsichtigt nicht, eine detaillierte Untersuchung »de todas las nuevas novelas centroamericanas« vorzulegen, sondern »llamar la atención hacia los más destacados novelistas 'nuevos' de la región, o sea los autores nacidos después del treinta que empiezan a publicar a partir del setenta y cuyas obras presentan las nuevas tendencias literarias« (Kelly, 1991: 15f.).
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Das gilt noch für den überblickartigen Artikel »Historia y desarrollo de la novela nicaragüense« von Nicasio Urbina (2000), der seine Darstellung mit dem Roman Cosmapa (1944) von José Román beschließt und nur in einem kurzen Abschnitt auf einige später erschienene Romane hinweist. Vgl. zum nicaraguanischen Roman besondere die in Teil »d) Sekundärliteratur zur nicaraguanischen Literatur« der Bibliografie verzeichneten Arbeiten. Acevedo begründet die Beschränkung seiner Studie - Desde el Popol-Vuh hasta los umbrales de la novela actual (so der Untertitel des Buches) - damit, Zahl und Qualität der seit den vierziger Jahren in Zentralamerika veröffentlichten Romane seien so hoch, dass sie eine gesonderte Untersuchung erforderten, an der er bereits zu arbeiten begonnen habe, deren Fertigstellung jedoch mehrere Jahre in Anspruch nehmen werde, (vgl. Acevedo, 1982: 19, 459) Bisher ist eine solche Studie nicht erschienen. Sie analysiert insgesamt 14 zwischen 1968 und 1981 erschienene Romane aus Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica; im Falle Nicaraguas beschränkt sie sich auf Tiempo de fulgor (1970) und ¿Te dio miedo la sangre? (1977a) von Sergio Ramirez.
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Weit über den im Großen und Ganzen panoramaartigen Charakter der Studie Kellys hinaus gehen die Arbeiten von Arias, Beverley/Zimmerman, Craft, Mondragón (1993a), Rodríguez und Zavala. Sie widmen sich den Veränderungsprozessen, die sich in diesen neuen Tendenzen der zentralamerikanischen Literatur vor dem Hintergrund des vielfaltigen sozialen, politischen und kulturellen Wandels in der Region seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ausdrücken. Paradigmatisch formulierte Arturo Arias, die zentralamerikanische Literatur habe sich in dieser Zeit von der Diktatur der Mimesis befreit, der Roman habe sich in einen Ort des sprachlichen Experimentierens verwandelt, »para visualizar sistemas de representaciones situados más allá de los modos racionalistas de percibir la identidad« (Arias, 1998a: 54). Insbesondere richten diese Studien ihr Augenmerk auf die sich diversifizierenden Formen der literarischen Repräsentation und ihr Verhältnis zu den politischkulturellen Projekten eines revolutionären Nationalismus in dieser Epoche. Dazu gehören die Bedeutung der Wiederaufnahme mythisch-magischer Elemente, der Konzeptualisierung des Körpers und von GenJerkonstruktionen, des Rekurses auf die Geschichte, der Transformation der Raumwahrnehmung in literarische Räumlichkeit, insbesondere bei der Konstitution von individuellen, sozialen, ethnischen und nationalen Identitäten, schließlich gattungstheoretische Fragestellungen (etwa die nach dem Verhältnis von Dokumentar/ Testimonialliteratur zu literarischer Fiktion). Dabei kommt der Studie Magda Zavalas insofern eine Ausnahmestellung zu, als sie es sich zur Aufgabe stellt, eine Gesamtschau der wesentlichen Tendenzen des zentralamerikanischen Romans der siebziger und der ersten Hälfte der achtziger Jahre zu bieten.13 In allen genannten Arbeiten werden jedoch zahlreiche zeitgenössische nicaraguanische Romane im Kontext der Entwicklung der zentralamerikanischen Literaturen analysiert. Die vorliegende Studie setzt sich ausfuhrlich mit den Ergebnissen dieser Untersuchungen auseinander. Ausschließlich den nicaraguanischen Roman behandelt Amelia Mondragón (1989). Ziel ihrer Untersuchung, die sich in methodologischer Hinsicht wesentlich auf Georg Lukács' Die Theorie des Romans (1989, erstmals 1920 erschienen) stützt, ist, die Entwicklung des Romans in Nicaragua von den Anfängen Ende des 19. Jahrhunderts bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts »en función a los cambios que se dan en la sociedad nicaragüense« (Mondragón, 1989: 1) zu interpretieren, wobei sie die ihn konstituierenden Vorstellungen und ideologischen Inhalte sowie seine »formas representacio13
Sie analysiert insgesamt 10 Romane aus Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica und Panama unter den folgenden vier Gesichtspunkten: »novelas que incorporan la modernidad del género con aspiraciones cosmopolitas«, »novela[s] [...] de orientación mítica y mágica«, »novelística testimonial« und »novelas que, habiendo incorporado la más reciente novedad narrativa a la que se identifica como 'postmodernista', llevan a cabo una especial síntesis en que a esos presupuestos se suman intenciones de la novela testimonial y una visión carnevalesca del mundo« (Zavala, 1990: 10). Aus Nicaragua bezieht sie allerdings nur Cabezas (1988a) ein.
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nales« (ibid.: 31, vgl. 27) in den Mittelpunkt stellt. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung des Romans in Nicaragua zwei entscheidende Wandlungsprozesse erlebt habe: im Gefolge der US-amerikanischen Intervention in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre und in den sechziger Jahren, »cuando la novela empieza a incorporar las formas narrativas consagradas en la Nueva Narrativa' Latinoamericana« (ibid.: 31). Mit den wichtigsten Schlussfolgerungen auch dieser Arbeit werde ich mich in der vorliegenden Studie ebenfalls auseinander setzen, sofern sie für den Roman der achtziger und neunziger Jahre relevant sind. Innerhalb der deutschsprachigen Lateinamerikaforschung sind bisher nur wenige Studien zum zeitgenössischen nicaraguanischen Roman erschienen. Sie beschäftigen sich vorrangig entweder mit Einzelwerken oder einzelnen Autorinnen und Autoren: so zum Beispiel Holstein (1998), Pesara (1993), Rauße (1995) und Schwencke (1992) sowie die Aufsätze von Biermann (1988), Dröscher (1996a und 1996b), Kohut (1995), Links (1986) und Seydel (1996).14 Rauße wiederholt in den allgemeinen Ausführungen ihrer Untersuchung über das erzählerische Werk von Ramirez von den Anfangen bis zum Roman Castigo divino (1988) das gängige Urteil von der »Unterentwicklung« der nicaraguanischen erzählenden Literatur im Vergleich zur Lyrik,15 wobei sie diese Behauptung mit der ausführlichen Analyse des Prosawerks von Sergio Ramirez implizit selbst in Frage stellt, (vgl. dazu Mackenbach, 1996b: 602) Ähnliches gilt für Holsteins Arbeit zu La marca del Zorro (1989) von Sergio Ramirez, in der er sich wesentlich auf Ramirez' Einführung zu einer Anthologie nicaraguanischer Erzählungen (Ramirez, 1993) stützt, (vgl. Holstein, 1998: 36-46)16 Zwar kann Kathryn Eileen Kellys vor über zehn Jahren getroffene Feststellung des Fehlens von Essays über die nueva novela centroamericana (vgl. Kelly, 1991: 15) inzwischen angesichts der insbesondere in den USA zahlreich 14
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Inzwischen sind auch eine Reihe von Aufsätzen erschienen, in denen ich Vorarbeiten zu Teilaspekten der vorliegenden Studie veröffentlicht habe; vgl. dazu meine in Teil »d) Sekundärliteratur zur nicaraguanischen Literatur« der Bibliografie verzeichneten Schriften. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen gehen ebenso in diese Arbeit ein wie die Auseinandersetzung mit den genannten Studien zu Einzelwerken und einzelnen Autoren. Vgl. Rauße, 1995: 11-16; s. ausführlich weiter unten das Unterkapitel »Poesie und Prosa« der vorliegenden Arbeit. Strosetzki konzentriert seine Kleine Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im 20. Jahrhundert (1994) im Falle Nicaraguas auf eine Darstellung der Poesie des modernismo und der vanguardia sowie Ernesto Cardenals, dem erzählerischen Werk Lizandro Chávez Alfares, Sergio Ramírez' und Gioconda Bellis sind dagegen nur wenige Zeilen gewidmet, (vgl. Strosetzki, 1994: 11-24, bes. 20f.) Reichardt (1994) bespricht die ersten beiden Romane Gioconda Bellis (1988a und 1990a), La montaña es algo más que una inmensa estepa verde (1982) von Omar Cabezas, die beiden Romane Trágame tierra (1969) und Balsa de serpientes (1976) von Lizandro Chávez Alfaro, die Romane Tiempo de fulgor (1970), ¿Te dio miedo la sangre? (1977a), Castigo divino (1988) und La marca del Zorro (1989) von Sergio Ramírez sowie die Romane Sangre en el trópico (1930), Los estrangulados (1933), La mascota de Pancho Villa
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erschienenen Studien relativiert werden. Für den deutschsprachigen Raum jedoch gilt nach wie vor, dass die Literatur der zentralamerikanischen Peripherie noch kaum bis ins Zentrum der literaturwissenschaftlichen Forschung vorgedrungen ist - eine Situation, die der bereits zitierte guatemaltekische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Arturo Arias als »marginalidad de la marginalidad« (Arias, 1998a: 11) bezeichnet hat: »El discurso de esta región particular del mundo no sólo es marginal con relación a los centros de poder mundial, sino incluso a los pequeños centros de poder marginal: México, Buenos Aires, Säo Paulo.« (ibid.)17 In Bezug auf den nicaraguanischen Roman gar kann von einem leeren Zentrum der Peripherie gesprochen werden, wenn man die geografische Lage Nicaraguas in der Mitte des Isthmus als Bild für die Zustandsbeschreibung auf dem literarischen Feld heranzieht.' 8 Bisher existiert keine umfassende und repräsentative wissenschaftliche Studie über die jüngste nicaraguanische Romanliteratur vor allem der achtziger und neunziger Jahre, eine Leerstelle
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(1935), Una mujer en la selva (1936) und Brújulas fijas (1961) von Hernán Robleto. In Rössners Lateinamerikanischer Literaturgeschichte (1995) werden nur die folgenden nicaraguanischen Romane kurz analysiert: die beiden Kurzromane Narciso (1939) und La muerte del hombre símbolo (1939) von José Coronel Urtecho, Trágame tierra (1969) und Balsa de serpientes (1976) von Lizandro Chávez Alfaro sowie Tiempo de fulgor (1970) und ¿Tedio miedo la sangre? (1977a) von Sergio Ramírez, (vgl. Rössner, 1995: 292, 246f.) Dill behandelt in seiner Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im Überblick (1999) kurz die folgenden nicaraguanischen Romane: El vecindario (1976) und El comandante (1969) von Fernando Silva, Trágame tierra (1969) von Lizandro Chávez Alfaro, En esos días (1969) von Carlos Alemán Ocampo, Primavera sonámbula (1976) und Siete relatos sobre el amor y la guerra (1986) von Rosario Aguilar, Tiempo de J'ulgor (1970) und ¿Tedio miedo la sangre? (1977a) von Sergio Ramírez sowie die testimonios von Pedro Joaquín Chamorro, Diario de un preso (1963), und von Omar Cabezas, La montaña es algo más que una inmensa estepa verde (1982), wobei seine Darstellung nicht frei von Ungenauigkeiten in der Datierung und bei der gattungsmäßigen Einordnung ist. In Links' Lateinamerikanische Literaturen im 20. Jahrhundert (1992) wird zwar in einem Beitrag zur Testimonialliteratur auf Omar Cabezas' La montaña es algo más que una inmensa estepa verde (1982), Canción de amor para los hombres (1988a) und Sergio Ramírez' La marca del Zorro (1989) verwiesen (vgl. Links, 1992: 102), die nicaraguanische Literatur ist ansonsten aber nur mit einem Beitrag über die Lyrik Ernesto Cardenals vertreten (vgl. ibid.: 64-88). Letzteres trifft auch für Eitels Lateinamerikanische Literatur der Gegenwart in Einzeldarstellungen (1978: vgl. 418-435) und Günthers Die lateinamerikanische Literatur von ihren Anfangen bis heute (1995: vgl. 334-336) zu. In offener Kritik an Wissenschaftlern wie John Beverley, Monika Walter und Hermann Herlinghaus schreibt er: »La periferia de ellos es Säo Paulo, Buenos Aires, Santiago de Chile y Ciudad de México. En su óptica no entra San Juan del Sur, Chalatenango, Puerto Limón o bien Quetzaltenango, pues es igualmente evidente que la mal llamada periferia' son híbridos centros urbanos cosmopolitas, pero no una periferia donde se comen tortillas con sal y chile, vigorones con chicharrón y yuca o bien sopa de caracol con fruta rodajada [ . . . ] . « (Arias, 1998a: 317f.) Eine Anekdote mag dies verdeutlichen: Die Einladung zu dem vom Institut für Romanistik und vom Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Potsdam veranstalteten »Tag der
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innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung, auf die wir bereits auch mit Blick auf die Entwicklung der Erzählung in Nicaragua seit den sechziger Jahren hingewiesen haben, (vgl. Seminario Permanente de Investigaciones de Literatura Centroamericana, 1996: 6) Dieses Fehlen ist umso bedeutender, weil die für die Entwicklung der hispanoamerikanischen Romanliteratur in diesem Jahrhundert wichtigsten Jahrzehnte und die Resultate der auf sie bezogenen Studien bisher für die Untersuchung der nicaraguanischen Literatur keine Berücksichtigung fanden.
Nation und Region Die in den achtziger und neunziger Jahren erschienenen Untersuchungen, die sich mit der zeitgenössischen nicaraguanischen Literatur befassen, wurden durchweg von in hohem Maße politisierten Bewertungskriterien bestimmt und widmeten sich vor allem den Beziehungen zwischen Literatur und Politik, genauer dem »problem of the relation of literature to revolutionary mobilization« (Beverley/Zimmerman, 1990: XV; vgl. Engelbert, 1988: XXI, XXIII). In ihrer 1990 veröffentlichten Untersuchung Literature and Politics in the Central American Revolutions versuchen die beiden nordamerikanischen Literaturwissenschaftler John Beverley und Marc Zimmerman dieses Paradigma auf folgende Weise theoretisch zu fundieren: »We propose to look at the Central American literature as an ideological practice of national liberation struggle, emerging from a complex set of cultural relations and institutions given by tradition and encoding new forms of personal, national, and popular identity.« (Beverley/Zimmerman, 1990: XIII)" Insbesondere in Nicaragua verband sich mit diesem Projekt ein »literarischer
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Amerikas« am 21. Januar 2000 zierte eine Darstellung der beiden amerikanischen Halbkontinente, die nicht durch die zentralamerikanische Landbrücke verbunden waren. An deren Stelle klaffte - zweifellos unbeabsichtigt, aber durchaus symptomatisch - eine unübersehbare Lücke in der Mitte des Blattes, noch dazu direkt über der Ankündigung eines Vortrags über die »Karibik als Drehscheibe« von Ottmar Ette. Für die Lateinamerikanistik in den USA kam Arturo Arias gar zu dem allgemeinen Schluss: »En el mapa de la mayoría de departamentos de castellano de universidades estadounidenses, la frontera sur de México [...] conecta directamente con la cordillera de los Andes. Asimismo, de la selva Lacandona se desprenden los ríos Paraná, Paraguay y Yaguarón, emergiendo esa grandiosa cornucopia literaria que es el Cono Sur. [...] / En este mapa literario, Centroamérica no tiene razón de existir porque, como todos sabemos, ese rincón perdido del mundo sólo produce revoluciones y dolores de cabeza pero ninguna literatura digna de encomio.« (Arias, 1998a: 31 lf.) Was den theoretisch-methodologischen Aspekt ihrer Untersuchung angeht, stützen sich Beverley und Zimmerman hauptsächlich auf die Arbeiten Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes über die Formen der ideologischen Repräsentation (bes. 1985), die ihrerseits auf das Werk zweier marxistischer Philosophen, des Italieners Antonio Gramsci und des Franzosen Louis Althusser, rekurrieren, (vgl. Beverley/Zimmerman, 1990: IX-XI, 1-28)
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Nationalismus«, der in dieser Sichtweise in der Poesie, vor allem in den von der sandinistischen Regierung geförderten Talleres de Poesía (Poesiewerkstätten), und der Testimonialliteratur seinen höchsten Ausdruck fand. Während die Literatur (und die Literaten und Künstler) in diesem Projekt eine zentrale Funktion für die Konstruktion der (neuen) Nation übernahmen, wurde das Konzept der Nation konstituierend für die Literatur, (vgl. ibid.: XIV) Ein solches Verständnis des Verhältnisses von Literatur und Nation bzw. von Nationalliteratur wirft eine Reihe von Problemen auf Stellt die Literatur Zentralamerikas eine Einheit dar, oder wird sie von einer Summe von Nationalliteraturen gebildet, muss also korrekterweise von zentralamerikanischen Literaturen im Plural gesprochen werden? So kann in Abwandlung der auf die Literatur(en) Lateinamerikas zielenden Fragestellung Karl Kohuts (vgl. 1992: 415) auch für Zentralamerika gefragt werden. Und ähnlich wie für Lateinamerika kann man zu dem Schluss kommen, dass die Antwort auch in Bezug auf den zentralamerikanischen Isthmus umstritten ist. (vgl. ibid.: 415f. und Kohut 1991: 9-12) Kohut weist daraufhin, dass die Literaturkritik in Lateinamerika in erster Linie auf die einzelnen - jeweils »eigenen« - Länder ausgerichtet gewesen sei. Mit der nueva novela hispanoamericana rückten übergreifende gesamtlateinamerikanische Problematisierungen in den Vordergrund, zum Teil auch bedingt durch das Zusammentreffen von Autoren und Literaturwissenschaftlern aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern im Exil. Mit den Veränderungen in Lateinamerika, insbesondere den Demokratisierungsprozessen und der Reintegration vieler Schriftsteller »in die jeweiligen Nationalliteraturen«, sei, so schreibt Dill (1999: 346f.), »der kleinflächige nationalliterarische Zusammenhang [...] wieder bedeutsamer als der kontinentale des Booms mit seinen totalen Romanen und grands récits« geworden. Auch für Zentralamerika besteht in der literaturwissenschaftlichen Forschung wie in der Literatur selbst ein Spannungsverhältnis zwischen Gesamtregion und nationalen Einzelliteraturen. Amelia Mondragón argumentiert, seit den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts könne (insbesondere ausgehend von dem Werk Miguel Ángel Asturias') von »una literatura centroamericana« gesprochen werden, »cuya unidad deviene de las particularidades propias de la racionalidad o del proceso de gestación de los estados centroamericanos« (Mondragón, 1993b: 13). Seit Beginn des 20. Jahrhunderts habe eine Art von allgemeinem Willen existiert, Nationalliteraturen als Teil eines in Zentralamerika und der Karibik verallgemeinerten Prozesses der Definition des Nationalen in Abgrenzung von der Intervention Nordamerikas zu schaffen (vgl. ibid: 15)20 Dagegen habe ich bereits daraufhingewiesen, dass die meisten literaturwissenschaftlichen Studien in Zentralamerika einem Konzept von 20
Als bestimmende Faktoren dafür sieht Amelia Mondragón die Existenz eines gemeinsamen Kolonialstaates in fünf der Länder in der Region (Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicara-
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Nationalliteratur folgen, das übergreifende regionale Fragestellungen weitgehend ausschließt, und vergleichende regionale Studien bisher nur in geringem Umfang vorliegen, (vgl. oben, bes. die Fußnoten 4 und 5) Dies mag umso erstaunlicher sein, als die Literaturen) Zentralamerikas innerhalb der Darstellungen der lateinamerikanischen Literatur fast immer bestimmten Zonen, Regionen oder Subregionen zugerechnet und von anderen abgegrenzt werden. Unter Bezug auf Rama (1982) und Losada (1984) unterscheiden Magda Zavala und Seidy Araya innerhalb der lateinamerikanischen Literaturen verschiedene Regionen bzw. Subregionen: hauptsächlich Mexiko, Brasilien, die Karibik, Zentralamerika, den Andenraum und den Río de la Plata, (vgl. Zavala/Araya, 1995: 206) Rössner teilt die Literatur des spanischsprachigen Amerika für die Zeit nach der Unabhängigkeit in sechs Großräume: Mexiko, Mittelamerika (bzw. Zentralamerika, beide Begriffe werden synonym gebraucht), die spanischsprachige Karibik, Kolumbien und Venezuela, die Andenländer sowie die Länder des Cono Sur (Paraguay, Chile, Argentinien und Uruguay), (vgl. Rössner, 1995: VIII)21 In der neueren zentralamerikanischen historischen und sozialwissenschaftlichen Forschung hat sich ein Begriff von Zentralamerika durchgesetzt, der die fünf Republiken Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Costa Rica umfasst, deren Territorium der alten Audiencia y Capitanía General de Guatemala entspricht.22 Dieser Begriff wurde von verschiedenen Autoren auch auf das Gebiet der Literatur übertragen, u.a. von Menéndez Pelayo (1975), Bellini (1985), Arellano (1997a); dagegen beziehen Acevedo (1982) und Albizúrez Palma (1988) Panama mit ein. Losada hat einen der ambitioniertesten Versuche unternommen, die Literatur(en) Lateinamerikas in verschiedene Subregionen zu unterteilen. Er unterscheidet drei spezifische literarische Systeme: a) die Literatur in den Zonen, die früh ihre koloniale Vergangenheit überwunden haben und ähnliche Formen der sozialen Organisation wie die Metropolen aufweisen (die Region des Río de la Plata, Chile, Teile Mexikos und Brasiliens); b) die Literatur der
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gua und Costa Rica), den Versuch der Schaffung einer zentralamerikanischen Föderation zwischen 1823 und 1838 und »la final reconstrucción del área dentro de estados que llevaban en sí mismos las condicionantes que evitaron el reestablecimiento de un estado común para la región; es decir, la existencia de núcleos de poder que controlaban parcelas de territorio y que competían entre ellos« (Mondragón, 1993b: 13). Vgl. auch Oviedo (1995: 25), der von fünf Regionen und vier »zonas intermedias« spricht: Region Río de la Plata - Argentinien und Uruguay, »Zwischenzone« Paraguay; Andenregion - Peru, Chile und Bolivien, »Zwischenzone« Kolumbien; Karibikregion - Kuba und die Antillen, »Zwischenzone« Venezuela; zentralamerikanische Region, »Zwischenzone« Guatemala; mexikanische Region. In diesem historisch-politischen Begriffsverständnis, das unter Berufung auf die gemeinsame Geschichte dieser Staaten begründet wurde, »gehören Panama (das als ehemalige Provinz Kolumbiens die Verbindung zu Südamerika darstellt) und Belize (das als ehemalige britische Kolonie der Karibik zugerechnet wird) von ihrer historisch-politischen Entwicklung her nicht zu Zentralamerika« (Mackenbach, 1995a: 196; vgl. Pérez Brignoli, 1988: 13f.).
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Zonen, in denen diese Strukturen erst spät (und auch nur teilweise) überwunden werden und in denen noch bis heute moderne Urbane Zentren und industrielle Entwicklung mit marginalisierten Gebieten völliger kultureller Rükkständigkeit koexistieren (Mexiko, Brasilien und die Andenländer); c) literarische Praktiken in den Zonen, in denen die Kolonialstrukturen nicht nur weiterexistieren, sondern Rückentwicklungen zu semi-feudalen Lebensformen stattfinden und die von immer wiederkehrenden Invasionen ausländischer Mächte gekennzeichnet sind (die Antillen, Zentralamerika und einige Gebiete im andinen Hochland, (vgl. Losada, 1984: 11-13; Zavala, 1990: 65f.) Ausgehend von dieser Klassifizierung sind einige bedeutende literaturwissenschaftliche Studien etwa zum Realismus in Chile und am Río de la Plata sowie in Mexiko entstanden. Dennoch bleibt festzuhalten, dass diese Einteilung zahlreiche Ungenauigkeiten enthält (so zum Beispiel die Tatsache, dass verschiedene »Nationalliteraturen« in den unterschiedlichen Kategorien mehrmals auftauchen) und dass es überwiegend außerliterarische Aspekte sind, die dieser Unterscheidung in kulturelle bzw. literarische Subregionen zu Grunde liegen.23 Sie wäre erst noch literarhistorisch und literaturwissenschaftlich zu füllen. Franz Galich greift die Diskussion um Kulturzonen und Literatursysteme in zweifacher Weise auf. Zum einen spricht er unter Hinweis auf die präkolumbischen Traditionen und mit Bezug auf ethnologische Studien von einer (ideellen) Scheidelinie zwischen den Völkern, die aus dem Norden kamen (nahua), und denen aus dem Süden (chibcha), die im Golf von Panama beginne, sich über Costa Rica, die großen Seen Nicaraguas fortsetze und im Norden Honduras' und Guatemalas ende: »Y si a esto agregamos la cantidad de idiomas que se hablan en Centroamérica, podremos dimensionar la complejidad lingüística y cultural que nos envuelve.« (Galich, 2001: o.S.)24 Zum anderen bezieht er sich auf die jüngere Geschichte der zentralamerikanischen Staaten seit der Erringung der Unabhängigkeit und resümiert: »Este puede parecer un problema más bien político que literario, si se quiere, pero trasciende la problemática meramente política dado que a lo largo de más de ciento cincuenta años de vida independiente para el Istmo y de colonialismo 23
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Auch Francisco Albizúrez Palma rekurriert in seinem Buch Poesía Contemporánea de la América Central (1995) auf diese außerliterarischen Faktoren wie die Zugehörigkeit zu demselben geopolitischen Sektor, die gemeinsame Geschichte als Teil des Reino de Guatemala, eine schwache Unabhängigkeitsbewegung im Prozess der Loslösung von Spanien und die weiterexistierende Abhängigkeit von den Zentren der politischen und wirtschaftlichen Macht, sowie die Rolle dieser Länder in der internationalen Arbeitsteilung als Rohstofflieferanten, (vgl. Albizúrez Palma, 1998: 271) Er stützt sich dabei u.a. auf die Arbeiten von Krickeberg (1946), Gavidia Mata (1969), Galich (1979), Pottier (1983) und Chávez Alfaro (1998).
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Bypass: Roman und Welt y de 16 de vida independiente para Beiice, se han formado unas culturas propias y unas voces originales, literariamente hablando. Lo mismo puede decirse de Belice, ya que éste posee raíces y vasos comunicantes que lo hace ser similar al resto de países de la Costa del Caribe centroamericano.« (Galich, 2001: o.S.)
Dieser Begriff von Zentralamerika, der - wie bereits betont - literarhistorisch und literaturwissenschaftlich allerdings erst noch zu fundieren wäre, umfasst also die sieben Staaten Guatemala, Beiice, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica und Panama, »incluyendo, por supuesto, todas las regiones y áreas conflictuadas: pienso en la Costa Caribe nicaragüense que reclama su autonomía, los Garífunas de Honduras, los Cunas de Panamá, etc.« (ibid.)25 Einen Schritt in Richtung einer solchen Fundierung unternimmt Albizúrez Palma in seiner bereits erwähnten Studie über die zeitgenössische zentralamerikanische Poesie. Er analysiert nicht nur eine Reihe von sozialen Faktoren, welche die jüngere kulturelle Entwicklung der Länder der Region konditionierten und so auch auf die Literatur enwirkten, wie die bewaffneten Bewegungen ab den sechziger Jahren (vor allem in Guatemala, El Salvador und Nicaragua), die Bürgerkriege und die Rolle der Gewalt und der öffentlichen Lüge, der Sieg der sandinistischen Revolution, die fehlgeschlagenen Versuche der wirtschaftlichen Entwicklung und der Vormarsch des Fernsehens, (vgl. Albizúrez Palma, 1998: 272-274) Vielmehr geht er auf eine Reihe von literarischen Erscheinungen und Tendenzen ein, die - obwohl zum Teil zunächst im Rahmen einzelner »Nationalliteraturen« entstanden - im 20. Jahrhundert die zentralamerikanischen Literaturen in ihrer Gesamtheit beeinflusst, wenn nicht sogar bestimmt haben, darunter den modernismo und Rubén Dario, den narrativen Diskurs Miguel Angel Asturias', die »literatura combativa, en la narrativa, en la poesía, en el teatro, en el testimonio« (ibid.: 272), die Entstehung der so genannten nueva narrativa centroamericana und die »inserción de las literaturas centroamericanas en las vanguardias« (ibid.). Die oft sehr unterschiedlichen Nationalgeschichten der sieben Staaten, die geografisch die Region Zentralamerika bilden, haben sich also in all ihrer Vielfalt immer wieder gegenseitig beeinflusst und bedingt. Ereignisse wie der nationale Befreiungskampf Sandinos (1927-1934) in Nicaragua, das Massaker an den Indios in El Salvador (1932), die »Revolution« (1944-1954) und die 25
Zavala schreibt zusammenfassend: »Hay quienes consideran que el Caribe en su totalidad comparte esa misma posición geoestratégica y, por lo tanto, similares condiciones históricas. En todo caso, la singularidad centroamericana seguiría siendo su condición ístmica y una mayor unidad en el sustrato étnico, la presencia actual de culturas indígenas de origen mesoamericano sobre todo en Guatemala y su más marcada unidad lingüística por medio de la lengua española. Estas condiciones, como tendremos oportunidad de ver, tienen importancia especial en la vida cultural y participan en la definición de los discursos posibles.« (Zavala, 1990: 16, vgl. 15) Allerdings relativiert sie diese Aussage selbst unter Bezugnahme auf die Einwanderung von Schwarzen aus den Antillen und spricht von einem »nuevo mestizaje«: »La región centroamericana es hoy multiracial, pluricultural y plurilingüistica.« (Zavala, 1990: 16)
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US-Intervention (1954) in Guatemala, das »sozialdemokratische« Reformprojekt in Costa Rica nach dem Ende des Bürgerkriegs (1948), die Guerillabewegungen, Bürgerkriege und Kriege in Nicaragua, Guatemala und El Salvador seit den sechziger Jahren, schließlich der Friedensnobelpreis für Rigoberta Menchú (1992) und die Pazifizierungs- und Demokratisierungsprozesse in den neunziger Jahren haben eine regionale und zum Teil darüber hinausgehende Tragweite. Diese gegenseitige Beeinflussung und Durchdringung trifft sicher umso mehr auf die Literatur der Länder zu. Ohne Zweifel haben der Nicaraguaner Rubén Dario, die nicaraguanische Avantgardeliteratur der dreißiger und vierziger Jahre, der guatemaltekische Literaturnobelpreisträger Miguel Angel Asturias, der literarische Zirkel um den Salvadorianer Roque Dalton, das Lebenszeugnis und der Friedensnobelpreis Rigoberta Menchús eine Bedeutung für die zentralamerikanischen Literaturen erlangt, die weit über den Rahmen ihrer nationalen bzw. ethnischen Herkunft hinausgeht. Die Geschichte der zentralamerikanischen Länder und ihrer Literaturen lässt sich so vielleicht am besten mit dem Bild von den kommunizierenden Röhren beschreiben. Gilt dies auch für die jüngste Entwicklung in den achtziger und neunziger Jahren? Der in dieser Arbeit untersuchte Zeitraum fällt in die Epoche des Postbooms und Post-Postbooms, also nach Hans-Otto Dill in eine Phase des Wiederauflebens nationalliterarischer Aspekte.26 Insbesondere in Nicaragua wurde der politisch-kulturelle Diskurs in vielfältiger Hinsicht entscheidend von einem besonderen Verhältnis zwischen Nation und Literatur geprägt: Zum einen erlebte die nicaraguanische Literatur im Kontext des Projektes des Aufbaus einer neuen Nation einen ungeheuren Aufschwung als kulturelle Praxis einer auf gerechtere, demokratischere Verhältnisse gerichteten sozialen Bewegung, für die eine im wörtlichen Sinne verstandene Literarisierung in Form der Alphabetisierung eine strategische Rolle spielte. Diese Alphabetisierung wurde als Grundbedingung der Herstellung einer Nation verstanden, die nicht länger auf dem Ausschluss der Mehrheit beruhen, sondern die umfassende Partizipation des »pueblo« garantieren sollte.27 Damit waren Praktiken des (auch literarischen) Schreibens verbunden, die den traditionellen gattungstheoretischen Kanon sprengten bzw. sprengen sollten. Zum zweiten nahm das Konzept der Nation in der literarischen Repräsentation einen prominenten Platz ein, die das politisch-soziale Projekt des revolutionären Nationalismus begleitenden Formen der literarischen Nationenkonstruktion bedienten sich vor allem des Rekurses auf geschlechtsspezifische, mythisch-magische, ethnische und historische Elemente. Schließlich kam der Literatur als Institution 26
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Vgl. Dill (1999: 346f.), der gleichzeitig auf die Weiterexistenz einer Reihe von übergreifenden Gemeinsamkeiten hinweist, zum Beispiel den testimonio (vgl. 347-351). Vgl. dazu ausführlich meine Studie zum Denken des Mitgründers der sandinistischen nationalen Befreiungsfront FSLN, Carlos Fonseca. (Mackenbach, 1995a: bes. Kap. 2 und Kap. 9)
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(Schriftsteller, Schriftstellerverbände, Verlage, Ministerien, Lehrpläne usw.) nach dem Sturz der Diktatur ab 1979 zunehmend eine zentrale Rolle als national verfasster und auf den Aufbau der neuen Nation ausgerichteter Instanz zu. Wie in keinem anderen zentralamerikanischen Land verschmolzen politische und literarische Instanzen zu einer Einheit.
Literatur und Gesellschaft Im Kontext dieses Projekts der Konstruktion einer neuen Nation nahm der Topos von Nicaragua als einer »república literaria« (Arellano, 1997d: 193), als einer Republik der Poeten, einen strategischen Platz im kulturpolitischen Diskurs des Sandinismus ein.28 Die mit dem Sturz der somozistischen Diktatur am 19. Juli 1979 eingeleiteten gesellschaftlichen Veränderungen wurden sowohl in der Wahrnehmung von außen (insbesondere in Europa und den USA) als auch im Selbstverständnis der politischen Akteure im Innern gar als eine Revolution der Literaten verstanden, so dass noch in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zur Charakterisierung dieser Epoche der jüngsten Geschichte Nicaraguas oft ein dem ehemaligen Kulturminister Ernesto Cardenal zugeschriebener Satz zitiert wurde: »En Nicaragua la literatura está gobernando.« (zit. n. Torres, 1997: 5) Dies hatte bedeutende Folgen für die Literatur als Institution und das Verhältnis von Autor und Politik bzw. Staat. Die sandinistische Kulturpolitik verfolgte trotz aller Differenzen, Widersprüche und Unklarheiten, die es unter den verschiedenen Instanzen, Gruppierungen und Personen gab, das Ziel: »crear una nueva cultura«, wie es 1981 in einer Rede des damaligen Innenministers der sandinistischen Regierung, Tomás Borge, vor einer Versammlung von Schriftstellern hieß.29 Diese Kultur musste de facto aus dem Nichts aufgebaut werden, »desde cero«, wie Klaas Wellinga in seiner Untersuchung über die sandinistische Kulturpolitik von 1979 bis 1990 schreibt, »porque el gobierno anterior nunca se había interesado por la cultura, lo cual se manifestaba claramente en el alto porcentaje de analfabetismo, en el desprecio de la propia cultura y en la admiración servil por todo proveniente del extranjero« (Wellinga, 1994: 61)?" Hauptziel des »kulturellen Projekts« des Sandinismus sei die Demokratisierung der Kultur und die Schaffung einer »cultura revolucionaria, popular, nacional, anti-imperialista« gewesen.31 Wie Wellinga darstellt, folgte dieses Projekt in seinen Grundzügen
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Vgl. dazu auch ausführlich das nächste Unterkapitel: »Poesie und Prosa«. Borge, 1981: 15, hier zit. n. Wellinga, 1994: 67. Die Studie (Claas S. Wellingas ist die erste und meines Wissens bisher einzige umfassende kritische Auseinandersetzung mit der sandinistischen Kulturpolitik. Sie befasst sich mit deren Grundlagen, Erfolgen und ihrem schließlichen Scheitern, wobei sie ausfuhrlich auf die für
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wesentlichen Traditionslinien der sozialistischen Bewegung, wie der Vorstellung von der Demokratisierung der Kultur, der Unterstützung der nicht professionellen Kunst, des Aufbaus von Kulturhäusern, dem Eintreten für eine politische/politisierte Kunst, der Vorstellung, dass Kunst moralisch »gut« sei und das Leben bereichere, der herausragenden Rolle, die die Kunst bei der Schaffung des »neuen Menschen« spiele, (vgl. ibid.: 215)32 Es muss jedoch auch im Kontext der im Zuge der Demokratisierungs- und Modernisierungsbestrebungen verfolgten kulturpolitischen Vorstellungen und -praktiken gesehen werden, die in Zentralamerika seit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts an Boden gewannen, beginnend mit dem Reformprojekt im Gefolge der guatemaltekischen Revolution 1944 und dem »sozialdemokratischen« Reformismus, der mit dem Bürgerkrieg im Jahr 1948 in Costa Rica die gesell-
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einen kulturellen Neuaufbau verheerenden Folgen der Lasten von Krieg und Bürgerkrieg, aber auch auf die Widersprüche und Fehler der Kulturpolitik der Sandinisten selbst eingeht, insbesondere die Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen staatlichen Institutionen, wie dem von Ernesto Cardenal geführten neu geschaffenen und Anfang 1988 wieder aufgelösten Kulturministerium und der Asociación Sandinista de Trabajadores de la Cultura (ASTC), die von der Präsidentengattin Rosario Murillo, wie Cardenal ebenfalls Poetin, geleitet wurde, (vgl. besonders 67-115, 213-219) Dagegen versammelt Steven White in seinem Buch Culture & Politics in Nicaragua. Testimonies of Poets and Writers (1986) Texte von nicaraguanischen Schriftstellern und entwirft ein unkritisches Bild von dem »evolving intellectual conscience of Nicaragua«, das sich »at the forefront of Latin America's political vanguard« befinde (1). Greg Dawes versucht in seiner Studie Aesthetics and revolution. Nicaraguan poetry, 1979-1990 (1993) die Widersprüche und das Scheitern der sandinistischen Kulturpolitik als Folge des Konflikts »between a Leninist or at least a quasi-Leninist philosophy (Cardenal) and a quasi-bourgeois or pluralist position (exemplified, for instance, in Borge's ideas)« (194) zu interpretieren. Nach dieser einem traditionellen Marxismus-Leninismus und sozialistischen Realismus verpflichteten Studie scheiterte das kulturelle Projekt des Sandinismus daran, dass »socialism was never an explicit part of the FSLN's main agenda [...] neither in the political and economic spheres nor in the cultural realm« (195; vgl. auch 28-32, 187-195) Mit Dawes' literarästhetischen Positionen setze ich mich in dem Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur« auseinander. Wellinga, 1994: 120, vgl. 121, 214f. Bei dem Begriff des »kulturellen Projekts« folge ich der Definition Wellingas: »El concepto de proyecto cultural' que se introduce aquí, es un aspecto de la noción de 'política cultural'. Se refiere a los objetivos culturales que se persiguen, mientras que el concepto de 'política cultural' abarca, aparte de los objetivos, también la concretización de esos objetivos en medidas legales, organizativas y financieras, es decir, en una praxis cultural. La noción de proyecto' tiene la ventaja de que implique también que se trata de una política bien consciente, con una clara filosofía detrás, lo cual no necesariamente es el caso con el concepto de 'política cultural'.« (ibid.: 67) Im Gegensatz zur kulturellen Praxis der sozialistischen Länder habe es, so hebt Wellinga hervor, trotz zahlreicher Einschränkungen und Zensurmaßnahmen im sandinistisch regierten Nicaragua im Großen und Ganzen eine »libertad de creación« gegeben, was er auf die etwas widersprüchliche Formel bringt: » [...] no por nada se dice 'de creación', porque la libertad en sí no hubo, aunque, por la economía mixta, no hubo en Nicaragua tanto control sobre la infraestructura cultural como en los países socialistas. Pero los medios 'más masivos' (cine, radio, prensa y televisión) estaban hasta 1987 bajo un estricto control de los sandinistas. Control político, pero no cultural, porque en lo cultural no había censura.« (ibid.: 216)
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schaftspolitische Hegemonie errang. Diese Reformprojekte zielten durchweg auf eine Stärkung des kulturellen Nationalismus, die Schaffung eines nationalen Erziehungswesens und die Förderung der literarischen Werte in Form der literatura culta ab. Mit der immer direkteren Intervention der USA radikalisierten sich die nationalistischen Züge, und es entwickelten sich Vorstellungen von einer Literatur/Kultur im Dienst der nationalen Befreiungsbewegungen, die auf eine extreme Politisierung der Literatur/Kultur als Bestandteil des bewaffneten Kampfes der Guerilla hinausliefen, aber auch von der Suche nach neuen, über die Traditionen der »hohen Kunst« hinausgehenden künstlerischen Ausdrucksformen geprägt waren. Die Literatur nahm in diesen Projekten der Nationenkonstruktion jedenfalls einen privilegierten Platz ein.33 In vielerlei Hinsicht setzte der Sandinismus diese Traditionen fort und verlieh ihnen eine neue Qualität in dem Maße, wie Nicaragua das einzige zentralamerikanische Land blieb, in dem die Diktatur von der revolutionären Bewegung gestürzt wurde und die ehemalige Opposition daranging, die neue Nation und die neue Kultur nach ihren Vorstellungen aufzubauen. Zwar betrug der Etat des neu geschaffenen Kulturministeriums nur 0,1 Prozent des Staatshaushaltes, woraus man schließen könnte, dass die Kultur ähnlich wie bei ihren Vorgängerregierungen auch bei den Sandinisten keine Priorität genoss. (vgl. Wellinga, 1994: 213) Klaas Wellinga gibt jedoch zu Recht zu bedenken: » [...] pero aparte de esto, esa institución cultural rectora también podía disponer de fondos provenientes del extranjero. Además, el Gobierno y el FSLN también financiaban - aunque nunca se supo hasta qué monto - las actividades culturales de la ASTC y de las editoriales ENN y Vanguardia, de modo que es bien posible que los gastos culturales, en su totalidad, fuesen comparables con los de los países desarrollados de la Europa Occidental - que eran [...] un 1 o 2 por ciento del presupuesto total lo cual sería único para un país pobre.« (ibid.)
Die Literatur spielte in dieser staatlichen und ausländischen Förderung eine zentrale, wenn nicht gar hegemoniale Rolle, sei es über die Subventionierung bzw. völlige Finanzierung von Büchern und Verlagen (vgl. ibid.: 82-87), Kulturbeilagen in Tageszeitungen (vgl. ibid.: 87-97, 217f.), Kulturzeitschriften (vgl. ibid.: 97) und Bibliotheken (vgl. ibid.: 98-100) wie auch in den massiv unterstützten Talleres de Poesía (vgl. ibid.: bes. 163-212) und schließlich in der 1981 mit enormem Aufwand durchgeführten Alphabetisierungskampagne.34 Dies konnte nicht ohne Auswirkungen auf die Rolle der Künstler und vor
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Vgl. zu dieser Argumentation ausführlich Anas, 1998a: 25-42, 51-55. Dort finden sich auch zahlreiche Hinweise auf die Unterschiede des hier zusammengefassten Entwicklungsprozesses in den verschiedenen zentralamerikanischen Ländern. Kritisch zu diesen ausfuhrlich dargestellten Erfolgen der sandinistischen Kulturpolitik merkt Wellinga an, dass die massiv verbreiteten Kulturbeilagen für die Mehrheit der Bevölkerung
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allem der Schriftsteller und ihr Verhältnis zum neuen Staat bleiben. Noch Ende der neunziger Jahre sprach der bedeutendste lebende Romanschriftsteller und ehemalige sandinistische Vizepräsident Nicaraguas, Sergio Ramírez, in einem Vortrag von der »dualidad de oficios en mi vida«; jemand wie er, der »ha andado a dos caballos entre la política y la literatura«, habe diese beiden Seiten immer als natürlich, gar kongenial verstanden, »desde luego que los asumí muy temprano, de manera conjunta, en mi adolescencia, sin pensar nunca que fuesen el fruto de una contradicción en mi mismo, o de un desgarramiento«. 35 Was hier als Dichotomie einer individuellen Schriftsteller- und Politikerbiografie erscheinen könnte, verweist auf einen allgemeineren Kontext. Seit den Tagen des Unabhängigkeitskampfes zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts bis hin zu den Guerillakriegen im letzten Drittel des zwanzigsten gab es in Zentralamerika nur unscharfe, kaum wahrnehmbare Trennlinien zwischen dem Begriff des Intellektuellen und dem des Politikers, (vgl. Arias, 1998b: 209, 213) In fast sartrescher Diktion sprach der guatemaltekische Literaturnobelpreisträger von 1967, Miguel Angel Asturias, vom Schriftsteller als moralischer Instanz, (vgl. Arias, 1998a: 36) Doch selbst der intellectuel engagé des französischen Philosophen war für die zentralamerikanischen Intellektuellen gegenüber den Herausforderungen des bewaffneten Kampfes in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren nur mehr eine Formel zur Beruhigung des Schriftsteller-Philisters in den europäischen Metropolen. Angesichts der zentralamerikanischen Wirklichkeit stand Radikaleres auf der Tagesordnung. Zunehmend wurden Poet und Guerillero zu Synonymen. Nicht der (auch) politisch aktive Schriftsteller war gefragt, sondern der (auch) schreibende Guerillakämpfer - Literatur im Dienst an der Waffe. Die Dichotomie wurde also über weite Strecken einseitig aufgelöst zugunsten des politischen und militärischen Engagements des Intellektuellen. Die berühmte Passage in Che Guevaras Kubanischem Tagebuch wurde zur Metapher dieser Militanz: »Vielleicht war dies das erste Mal, daß ich praktisch vor das Dilemma gestellt wurde, mich meinen medizinischen Aufgaben oder meiner Pflicht als Soldat der Revolution zu widmen. Vor mir hatte ich einen Tornister voller Medikamente und eine Kiste Munition, beide zusammen waren zu schwer, um sie zugleich zu tragen; ich nahm die Munitionskiste und ließ den Tornister zurück, um die Lichtung
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unzugänglich waren und dass die hohen Verkaufszahlen der vom Verlag Editorial Nueva Nicaragua publizierten Bücher zum großen Teil deshalb zustande kamen, weil die Regierung einen Großteil der Auflagen aufkaufte: »Es bien posible que todo el proyecto cultural fuese demasiado ambicioso para un país tan pobre como Nicaragua, que todavía no había podido realizar los prerrequisitos fundamentales para ello: buenos niveles educacionales y socio-económicos para la masa de la población.« (ibid.: 216) Der Vortrag mit dem Titel »Oficios compartidos (III)« wurde in den Jahren 1998 und 1999 jeweils mit leichten Änderungen bei unterschiedlichen Gelegenheiten und an verschiedenen Orten gehalten (u.a. in Zaragoza, Spanien, und an der Universität von Maryland, USA); hier zitiert nach der Homepage von Sergio Ramírez: www.sergioramirez.org.ni.
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Bypass: Roman und Welt zu überqueren, die mich vom Zuckerrohrfeld trennte.« (Guevara, 1987: 20)"
Soweit der Schriftsteller an seiner künstlerischen Berufung festhielt und sie nicht gänzlich dem »praktischen« Kampf widmete, verstand er sich als Sprachrohr der Sprachlosen, der den Mehrheiten ohne Stimme und Stimmrecht seine Stimme lieh, die Intellektuellen/Schriftsteller sahen sich in der Rolle »de shamanes de su tribu« (Arias, 1998b: 210, vgl. 214f.; auch 1998a: 38) gegen staatliche Unterdrückung, Willkür und Gewalt." Auch in dieser Hinsicht knüpfte die sandinistische Bewegung in Nicaragua, die sich unter anderem durch eine breite Beteiligung von Intellektuellen auszeichnete, an existierenden Traditionen an. Wo für den zentralamerikanischen Intellektuellen jedoch generell galt, dass seine kulturelle Produktion ein konflikthaftes Verhältnis zum Staat, wenn nicht gar einen fortdauernden Kampf gegen diesen Letzteren implizierte, (vgl. Arias, 1998b: 209) nahm auch dieses Verhältnis mit dem Sieg der Opposition in Nicaragua eine neue Qualität an. Die Intellektuellen fanden sich an der Spitze der politischen Ämter und als Protagonisten einer staatlich betriebenen Kulturpolitik wieder, wie es paradigmatisch in einer Rede von Sergio Ramírez mit dem Titel »Cultura de masas y creación individual« zu den Poesiewerkstätten hieß, die er 1982 vor der zweiten nationalen Versammlung der Asociación Sandinista de Trabajadores de la Cultura (ASTC) hielt: »Por lo tanto, aspiramos a que nuestros poetas se involucren como instructores y maestros de los talleres, que se discuta la metodología, los contenidos, pero que no se descuide el carácter masivo de los talleres. No queremos mañana responsables del fracaso de los talleres, sino responsables de la multiplicación de los talleres.« (Ramírez, 1985: 186)
In der Tat fand ein weitgehender Prozess der Verschmelzung von Schriftstellern mit den staatlichen Organen statt, wie Wellinga konstatiert: »Casi todos los escritores trabajaban en la época sandinista para instituciones y organismos del gobierno o del FSLN, cosa que nunca fue cuestionada. Nunca se planteó la cuestión si esa situación tenía influencia en su obra literaria, si, por temor a perder el empleo, hubo, hasta cierto punto, autocensura.« (Wellinga, 1994: 144)
Wenn auch das Verhältnis von staatlichen Instanzen und Schriftstellern/Künst36
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Der Text Ernesto Che Guevaras erschien zum ersten Mal 1959 unter dem Titel Pasajes de la Guerra Revolucionaria. Arturo Arias spricht angesichts dieser Situation vom Verlust einer ganzen Generation von Künstlern und Schriftstellern in Zentralamerika, mit Ausnahme Costa Ricas, (vgl. Arias, 1998a: 37, 51) Vgl. dazu insgesamt die beiden ausgezeichneten Bücher von Arturo Arias (1998a und 1998b: bes. 209-232). Zu ähnlichen Entwicklungsprozessen in Mexiko vgl. zum Beispiel Steele, 1992: 11-14.
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lern durchweg voller Konflikte blieb, worauf auch Wellinga hinweist,38 so kann doch festgehalten werden, dass die Literatur und die Schriftsteller im kulturellen Projekt des Sandinismus und zum Teil in der sandinistischen Kulturpolitik eine hegemoniale Position einnahmen. Mit dem Verlust der politischen Hegemonie des Sandinismus ab der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurde nicht nur die problematische Rolle der Schriftsteller als Träger der staatlichen Kulturpolitik in Frage gestellt, auf die Klaas Wellinga anspielt. Zunehmend rückte in den Mittelpunkt, welche Auswirkungen dieser Verlust der politischen Hegemonie auf die Literatur selbst haben würde. In Bezug auf die Entwikklung der zentralamerikanischen Literaturen im Allgemeinen kam Arturo Arias zu dem Schluss, dass »los cambios de período en Centroamérica siempre han estado marcados por cambios estilísticos« (Arias, 1998a: 7f.) - einen Zusammenhang, den er insbesondere mit dem Ende der Guerrilla und der Niederlage der Sandinisten als gegeben sieht, die den Beginn »de un nuevo período en la historia centroamericana« (ibid.: 7) und eines Wandels in der Literatur der Region markierten. In der Schlusspassage ihrer im Jahr des sandinistischen Regierungsverlusts erschienenen Arbeit problematisierten John Beverley und Marc Zimmerman das Paradox: » [...] literature has been a means of national-popular mobilization in the Central American revolutionary process, but that process also elaborates or points to forms of cultural democratization that will necessarily question or displace the role of literature as a hegemonic cultural institution.« (Beverley/Zimmerman, 1990: 207) Die vorliegende Arbeit hat unter anderem das Ziel, den Rückwirkungen dieses Verlusts ihrer hegemonialen Rolle in der Literatur selbst nachzugehen.
Poesie und Prosa Zunächst schienen die Implikationen dieses Prozesses der Verschmelzung von politischem und kulturellem Projekt in gattungsspezifischer Hinsicht ein verallgemeinertes Urteil über die Entwicklung der nicaraguanischen Literatur zu
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Vgl. Wellinga, 1994: bes. 132-152. Er weist auf die Geringschätzung hin, die ein Teil der politischen Führung der Sandinisten - unter ihnen der damalige Staatspräsident Daniel Ortega den Schriftstellern entgegenbrachte, (vgl. ibid.: 140) Als grundlegenden, strukturellen Konflikt sieht er die Tatsache, dass die Revolution den Schriftstellern zwar enorme Publikationsmöglichkeiten, aber (aufgrund ihres politischen und administrativen Engagements) kaum Zeit zum Schreiben gegeben habe (vgl. ibid.: 140-145). In dem bereits zitierten Vortrag gibt Sergio Ramirez an, dass er zwischen 1975 (dem Beginn seines vollen Engagements im politischen Kampf) und 1985 (seiner Wahl zum Vizepräsidenten der Republik), also ein ganzes Jahrzehnt lang, nicht literarisch geschrieben habe. (vgl. Fußnote 35)
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bekräftigen: das von der Hegemonie der Poesie auf dem literarischen Feld gegenüber der erzählenden Prosa, die von geringerer Bedeutung sei und sich erst spät entwickelt habe. Ausgehend von ihrem Ansatz, die zeitgenössische zentralamerikanische bzw. nicaraguanische Literatur als Ausdruck eines »literarischen Nationalismus« zu lesen, haben die US-amerikanischen Literaturwissenschaftler John Beverley und Marc Zimmerman in ihrer bereits zitierten Studie versucht, eine Erklärung für die Prädominanz der Poesie als hegemonialer Form der Literatur und als wichtigstem Vehikel des intellektuellen Ausdrucks in der zentralamerikanischen Region seit Rubén Dario und besonders in Nicaragua zu geben (vgl. Beverley/Zimmerman, 1990: 54) - eine Rolle, die nach ihrem Urteil in den lateinamerikanischen Ländern im Allgemeinen der Roman als »the crucial form of literary nationalism« (ibid.: 53, vgl. 25) spielt: »In no Central American country has poetry been as important an element of the national culture as in Nicaragua [...]. This situation is both constituted and represented by the central place of Rubén Dario in modern Nicaraguan literature. [...] Sandinismo invents a cult of personality around him similar to that of Marti in Cuban revolutionary culture. Darío, and the practice of poetry as such, become for the Nicaraguan Revolution forms of expression of the national-popular.« (ibid.: 53) Sich von einer Position abgrenzend, die diese fast vollständige Prädominanz der Lyrik in der nicaraguanischen Literatur des 20. Jahrhunderts ausschließlich dem poetischen Genius Rubén Daríos und seinem Einfluss auf die hispanoamerikanische Literatur zuschreibt," suchen Beverley und Zimmerman nach einer Erklärung für dieses Phänomen bei einer Reihe von sozialen und kulturellen Faktoren, die für die Entwicklung der nicaraguanischen Literatur prägend waren. Unter den Bedingungen eines verallgemeinerten Analphabetismus wie in Nicaragua und Zentralamerika (mit Ausnahme Costa Ricas) hätten Gedichte, Lieder und mündliche Erzählformen, die sich auf die ländlichorale Tradition der Legenden, die Erzählballaden wie der corridos und cuentos de camino mit ihren Wurzeln in den indigenen Kulturen und in der mestizischen Volkspoesie stützen, einen zentralen Stellenwert für alle Formen des literarischen Ausdrucks. Gleichzeitig habe in diesen Gesellschaften die aus der Kolonialepoche überlieferte Instanz des letrado, des komme des lettres, lange überlebt und unter den veränderten Bedingungen neue Funktionen als revolutionärer politischer Repräsentant und Führer übernommen. Schließlich, so argumentieren sie in Anlehnung an eine Studie von Barbara Harlow (1987: bes. 82), sei die Poesie besser dazu geeignet, »to preserve and even to redefine 39
Dass damit lange Zeit eine weitgehende Ignoranz des bedeutenden und innovativen erzählerischen Werks Rubén Daríos (insbesondere seiner cuentos) einherging, haben wir wiederholt kritisiert, (vgl. Seminario Permanente de Investigaciones de Literatura Centroamericana, 1996:4)
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for the given historical moment the cultural images which underwrite collective action, military as well as ideological« (zit. n. Beverley/Zimmerman, 1990: 172). Die Lyrik sei eine Gattung, die den aktuellen politisch-ideologischen Anforderungen einer gegebenen historischen Situation viel unmittelbarer entsprechen könne, während die Romanliteratur und die erzählende Literatur im Allgemeinen die Vergangenheit analysierten - einschließlich der symbolischen Überlieferung um neue Perspektiven für die Zukunft zu entwerfen. (vgl. ibid.) Auch die Testimonialliteratur könne in solchen Zeiten eine dominierende Rolle spielen und aufgrund ihres direkten, militanten und unmittelbar eingreifenden Charakters sowie der engen Verbindung zwischen dem mündlichen Bericht des »Zeugen/Erzählers« und der »vermittelnden« Funktion des »Herausgebers/Autors« in Phasen der revolutionären Mobilisierung und Konsolidierung die Funktion übernehmen, die der Lyrik für die Politisierung der antidiktatorischen Bewegung zukam.40 Unter Berufung auf Eduardo Galeano charakterisieren Beverley und Zimmerman die Testimonialliteratur und die Lyrik, die in den von der sandinistischen Regierung geforderten Talleres de Poesía entstand, als »the two most important innovations in recent Latin American literature« (ibid.: 97), als Formen der Repräsentation von fortschrittlichen Ideologien im Volk und als Ausdruck demokratischer kultureller Praktiken des Volkes Unübersehbar fuhren die beiden US-Wissenschaftler in diesem Zusammenhang in veränderter und an die neuen (revolutionären) Bedingungen angepasster Form Argumentationslinien fort, die über weite Strecken den literarischen und literaturwissenschaftlichen Diskurs in Nicaragua besonders in gattungsspezifischer Hinsicht beherrschten. Wie bereits eingangs dieses Kapitels dargelegt, galt lange Zeit als ausgemacht, dass Nicaragua keine nennenswerte Romanliteratur entwickelt habe. Das Land wurde auch in diesem Sinne als eine Republik der Poeten verstanden, wie es noch 1997 in Jorge Eduardo Ardíanos Literatura nicaragüense heißt: »La poesía nicaragüense tiene de iniciador a Rubén Darío, quien le dió a Nicaragua el pasaporte de la universalidad y la fundamentación de una república literaria, en la cual el género literario se ha desarrollado a plenitud y conciencia. Sólo en poesia, por tanto, presenta el país una trayectoria excepcional, llena de variados y numerosos aportes inexistentes en la mayoría de los países hispanoamericanos.« (Arellano, 1997d: 193) Als unverrückbar galt und gilt zum Teil noch bis heute das apodiktische Urteil des Poeten der nicaraguanischen Avantgarde, José Coronel Urtecho: »La poe40
Vgl. zu dieser gesamten Argumentation Beverley/Zimmerman, 1990: 15f., 25,97, 172f., 188f., 207; vgl. auch Ramírez, 1993: 7-16. Zur besonderen Fähigkeit der Poesie als »una aprensión inmediata de la realidad sensible« vgl. auch Pailler, 1989: 14, s. 15 und 50, und Mondragón, 1989: 28f.
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sia es hasta ahora el ünico producta nicaragüense de valor universal.«4' Neben den von Beverley und Zimmerman angeführten Faktoren dürften für diese Hegemonie der Poesie in der nicaraguanischen Literatur bis in die jüngste Zeit noch weitere von Bedeutung sein wie die Tatsache, dass die Poesie generell in den ehemaligen spanischen Kolonien zunächst die dominierende Gattung war, und insbesondere das Phänomen, dass die nicaraguanische Literatur auch nach Rüben Dario zunächst vor allem Lyriker hervorgebracht hat, die eine Bedeutung weit über die nationalen Grenzen hinaus erlangt haben: Pablo Antonio Cuadra, Carlos Martinez Rivas und Ernesto Cardenal.42 Gerade die jüngste nicaraguanische Literatur ist nicht nur stark von dem wohl bedeutendsten lebenden Lyriker Zentralamerikas, Ernesto Cardenal, beeinflusst, sondern wird aufgrund seines internationalen Rangs auch weitgehend mit dessen Werk gleichgesetzt. Jedenfalls dominiert zum Teil noch bis in unsere Tage nicht nur die Feststellung von der geringen Zahl der existierenden nicaraguanischen Romane, sondern auch die These von einer »Verspätung« im doppelten Sinn. Wo für die Zeit bis zu den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts versucht wird, die Entwicklung des nicaraguanischen Romans auf die des hispanoamerikanischen zu beziehen, wie etwa bei Acevedo (vgl. 1982: bes. 21, 55), geschieht dies nicht nur mit dem Hinweis auf eine zeitliche Verzögerung, sondern auch in Form mehr oder weniger schematischer Übertragung der dort entwickelten Parameter und der These vom verspäteten Nachholen der hispanoamerikanischen Entwicklung in der zentralamerikanischen bzw. nicaraguanischen Literatur, für die Arellano (vgl. 1997d: 119, 133) eine nochmalige »Verspätung« der nicaraguanischen Romanliteratur im Rahmen der Entwicklung des Romans in Zentralamerika konstatiert.43 Erst ab den sechziger Jahren habe die nicaraguanische Romanliteratur mit den Werken von Lizandro Chävez Alfaro und Sergio Ramirez auch in ästhetischer Hinsicht »Anschluss« an die hispanoamerikanische Literatur gefunden, sei allerdings immer noch im Schatten der Poesie verblieben." In der Tat scheint ein Blick auf die Zahl der insgesamt seit der Publikation des ersten nicaraguanischen Romans Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Romane dieses Urteil zu untermauern.45 Für das 19. und 20. Jahrhundert
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Coronel Urtecho, 1967: 50, zit. n. Arellano, 1986: 169. In Arellano (1997d) ist das Zitat nicht mehr enthalten. Vgl. auch Souza, 1988: 149f. Vgl. dazu Mondragón, 1989 : 4f., 28-30. Auch Kelly (vgl. 1991:4f.,9,194, 197) für Zentralamerika sowie Hood (vgl. 1994: 77-79) und Rauße (vgl. 1995: 11-16) für Nicaragua wiederholen diese Argumentation. Im Allgemeinen werden die Romane Trágame tierra (1969 veröffentlicht) von Lizandro Chávez Alfaro und Tiempo de fulgor (1970) von Sergio Ramírez als die beiden literarischen Werke betrachtet, die eine eigenständige nicaraguanische Romanliteratur begründeten, (vgl. Arellano, 1997d: 133-136)
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insgesamt, das heißt für die Zeit von der Erringung der Unabhängigkeit (1821) bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, kam Jorge Eduardo Arellano noch Mitte der achtziger Jahre auf eine Zahl, »que apenas supera los cien títulos y los cincuenta autores« (Arellano, 1986: 129, vgl. auch Arellano, 1975a und 1975b).46 In seiner Arbeit »La novela en Nicaragua: Una bibliografía tentativa« verzeichnet Edward Waters Hood Ende der neunziger Jahre allerdings insgesamt 200 Romane von 79 Autorinnen und Autoren, die zwischen 1878 (José Dolores Gámez: Amor y Constancia) und 1996 (Gioconda Belli: Waslala) erschienen, (vgl. Hood, 1998: 145-152) In der von Hood und mir gemeinsam erarbeiteten Bibliografie »La novela y el testimonio en Nicaragua: una bibliografía tentativa, desde sus inicios hasta el año 2000« schließlich werden 260 Titel von 108 Autorinnen und Autoren nachgewiesen, (vgl. Hood/Mackenbach, 2001)47 Allein der genaue Blick auf die Zahlen relativiert also die bisher geltende Meinung von der geringen Zahl der nicaraguanischen Romane.48
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Schon in Bezug auf die Frage, was der erste in Nicaragua veröffentlichte Roman war, besteht Uneinigkeit unter den Forschern. In Panorama de la literatura nicaragüense bezeichnet Arellano Amor y Constancia von José Dolores Gámez, 1878 in Fortsetzungen in der in Rivas, Nicaragua, herausgegebenen Zeitung El Termómetro erschienen, als »el primer intento novelístico de un nicaragüense« (Arellano, 1986: 129f.; ebenso in Arellano, 1997d: 120). Dieses Urteil wiederholt er im Vorwort zur erstmaligen Buchausgabe von Amor y Constancia, der »primera novela nicaragüense« (Arellano, 1997c: 8). Dagegen nennt Franco Cerutti als ältesten nicaraguanischen Roman La juventud de Bismark des Italo-Nicaraguaners Fabio Carnevalini, 1876 in Fortsetzungen in der Zeitung El Porvenir de Nicaragua erschienen, (vgl. Cerutti, 1974a: 94; vgl. auch Acevedo, 1982: 56, und Palacios, 1989: 5) Für die Arbeiten über den nicaraguanischen Roman gilt, dass sie sich auf ein beschränktes Korpus beziehen. In ihrer Studie über die Anfänge des nicaraguanischen Romans führt Amelia Mondragón (1991) sechs Romane an, die Ende des 19. Jahrhunderts (zwischen 1887 und 1897) erschienen. Nydia Palacios analysiert in ihrer Studie von 1989 sechzig Romane, die in der Zeit zwischen den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und 1980 erschienen sind. (vgl. Palacios, 1989: 71) In ihrer Untersuchung von 1991 spricht sie von ungefähr fünfzig Titeln, die zwischen 1900 und 1940 veröffentlicht wurden, einschließlich Texten autobiografischer Natur, (vgl. Palacios, 1991a: 42) Nicasio Urbina (1995) bezieht insgesamt 22 Romane in seine Untersuchung ein, die zwischen 1878 und 1992, das heißt in einem Zeitraum von mehr als einem Jahrhundert, veröffentlicht wurden. Isolda Rodríguez Rosales (1999) behandelt zehn Romane von sieben Autorinnen und Autoren, die zwischen 1988 und 1998 erschienen. Diese Ziffern schließen im Allgemeinen auch Reisetagebücher, autobiografische Texte, kostumbristische und Feuilletonromane ein. Magda Zavala verzeichnet in einem »Total de novelas publicadas en el periodo 1970-1985« überschriebenen Anhang nur sieben im genannten Zeitraum veröffentlichte nicaraguanische Romane, (vgl. Zavala, 1990: 396) Außerdem enthält sie 48 nachgewiesene, aber noch nicht ausfindig gemachte Titel von 29 Autorinnen und Autoren. Die von dem US-amerikanischen Wissenschaftler und mir erarbeitete Bibliografie, die als »work in progress« ständig ergänzt wird, stellt eine wichtige Arbeit zur Sicherung auch des Korpus der vorliegenden Studie dar, gilt doch für Nicaragua uneingeschränkt Magda Zavalas Feststellung des Fehlens von »estudios historiográficos suficientes« und »registros apropiados«: »A la desinformación literaria producida por la ausencia de contactos sistemáticos entre las instituciones literarias de la región, se suma la escasa recopilación
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Diese lange Zeit herrschende Auffassung von der auch quantitativen »Unterentwicklung« des Romans in Nicaragua wird noch fraglicher, wenn man die Entwicklung seit den sechziger und siebziger Jahren, aber vor allem in den Achtzigern und Neunzigern betrachtet. Zwar konstatiert auch Hood noch 1994 die Vorherrschaft der Poesie über andere literarische Formen in Nicaragua, wobei er als eine Ursache für die geringe Aufmerksamkeit, die der nicaraguanischen erzählenden Literatur bisher zuteil geworden sei, einen spezifischen rubendarismo ausmacht, (vgl. Hood, 1994: 78, 77, 79) Allerdings resümiert er seine Auseinandersetzung mit dem neueren nicaraguanischen Roman: »A pesar de estas circunstancias creo que se puede hablar de un grupo significativo de escritores nicaragüenses vivos, dedicado a la producción de novelas el primero en la historia del país. Este grupo, que incluye a Rosario Aguilar, Fernando Silva, Lizandro Chávez Alfaro, Sergio Ramírez y Gioconda Belli, ya ha producido una novelística profunda y variada.« (ibid.: 80; vgl. ähnlich schon Souza, 1988: 150) In der Tat sind die zweite Hälfte der achtziger und vor allem die neunziger Jahre durch eine für nicaraguanische Verhältnisse reichliche Produktion, das heißt Publikation, von Romanen gekennzeichnet. 49 Verglichen mit der relativ kleinen Zahl von veröffentlichten nicaraguanischen Romanen von der Erklärung der Unabhängigkeit bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts (vgl. die in den Fußnoten 46 und 48 genannten Ziffern) widerspricht die Romanproduktion der achtziger und neunziger Jahre dieses Jahrhunderts der verbrei-
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y síntesis de datos en cada país. El desarrollo de formas de estudio más complejas del fenómeno literario pasan, necesariamente, por un momento empírico, y éste sigue siendo una carencia en los estudios regionales.« (Zavala, 1990: 14) Diese Relativierung wird umso deutlicher, wenn wir den Blick auf Zentralamerika richten. Acevedo (1982) untersucht insgesamt 57 Romane von 22 nicaraguanischen Autoren, die bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts erschienen. Die entsprechenden Zahlen für die anderen zentralamerikanischen Länder sind: Guatemala - 35 Autoren und 87 Romane; El Salvador - 20, 33; Honduras - 13, 29; Costa Rica - 36, 81; Panama - 28, 43. Der Anteil der nicaraguanischen Autoren in dieser Untersuchung liegt also bei 14,3 Prozent, der Anteil der nicaraguanischen Romane bei 17,3 Prozent. (Die Prozentzahlen für die anderen Länder lauten: Guatemala 22,7 und 16,4; El Salvador 13 und 10; Honduras 8,4 und 8,8; Costa Rica 23,4 und 24,5; Panama 18,2 und 13 Prozent. Zu berücksichtigen ist, dass Acevedo ausdrücklich darauf hinweist, seine Untersuchung könne nicht repräsentativ sein, u.a. wegen der zum Teil unüberwindlichen Schwierigkeiten bei der Beschaffung der Texte, (vgl. Acevedo, 1982: 17) In seiner umfangreichen kritischen Geschichte des guatemaltekischen Romans untersucht Mentón 178 Romane von 82 Autorinnen und Autoren, die von 1846 bis 1982 erschienen (vgl. Mentón, 1985: 403-411), wobei auch er ausdrücklich daraufhinweist, das sei nur eine Auswahl der Werke, die er für bedeutend halte (vgl. ibid.: 5). Dies trifft ebenso auf die erzählende Literatur insgesamt (das heißt insbesondere den cuento) zu, wie wir bereits an anderer Stelle konstatierten, (vgl. Seminario Permanente de Investigaciones de Literatura Centroamericana, 1996: 6)
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teten Feststellung vom Fehlen einer eigenständigen nicaraguanischen Romanliteratur. Allein von 1990 bis 2000 wurden - nach meiner Rechnung - 60 Romane bzw. romanähnliche Texte von 45 nicaraguanischen Autorinnen und Autoren veröffentlicht, überwiegend in Nicaragua selbst, zum Teil aber auch in anderen Ländern. Für die achtziger und neunziger Jahre insgesamt liegt die Zahl der publizierten Romane bzw. romanähnlichen Texte bei 95 von insgesamt 60 Autorinnen und Autoren.50 In der Geschichte des nicaraguanischen Romans sind allein diese Zahlen bemerkenswert. Ähnlich wie die erzählende Literatur in Zentralamerika insgesamt erlebt der nicaraguanische Roman im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts einen signifikanten Aufschwung. Während Zavala, Kelly und Arias für Zentralamerika von einem Anstieg der Romanliteratur ab den siebziger Jahren sprechen, trifft diese Entwicklung für Nicaragua insbesondere ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zu.51 Ausschlaggebend dafür sind im Falle Nicaraguas eine Reihe außerliterarischer Faktoren. Der Anstieg der Romanproduktion in den achtziger und neunziger Jahren ist hier zumindest teilweise das Ergebnis struktureller Veränderungen in der nicaraguanischen Gesellschaft wie der Alphabetisierung, der Schaffung eines nationalen Erziehungswesens, des Endes des Krieges und einer gewissen politischen Stabilisierung. Damit scheint ein Teil der außerliterarischen Faktoren überwunden zu sein, die in Zentralamerika laut Acevedo (vgl. 1982: 447) traditionell die Schaffung, die Verbreitung und die Rezeption von Romanen behindert haben: eine hohe Analphabetismusrate, ein niedriges Pro-Kopf-Einkommen, politische Instabilität, die Durchdringung des nationalen Marktes mit ausländischen Produkten, Diktatur, Zensur, Exil, die Nichtexistenz großer Verlage und das Fehlen einer Literaturkritik, (vgl. dazu Rössner, 1995: 284f.; Hood, 1994: 79) Gleichzeitig scheinen auch längerfristige soziale Prozesse zu wirken, die ein entscheidender Faktor für einen Anstieg der kulturellen Produktion im Allgemeinen und der erzählenden Literatur im Besonderen sind: die Herausbildung einer städtischen Mittelklasse, die besonders in Nicaragua traditionell schwach entwickelt war.52 Was den Prozess der literarischen Schöpfung selbst angeht, muss hervorgehoben wer-
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Alle diese Texte sind in Abschnitt »a) Quellen: Nicaraguanische Romane und testimonios der achtziger und neunziger Jahre« der Bibliografie verzeichnet; vgl. auch Hood/Mackenbach, 2001. Die Bezeichnung »romanähnliche Texte« bezieht sich vor alle auf testimonios, die in die genannten Bibliografien und in das Korpus der vorliegenden Arbeit einbezogen sind. (vgl. dazu weiter unten das Unterkapitel »Zentrum und Peripherie«) Vgl. Zavala (1990: 18, 22f.); Kelly (1991: 5, 272); Arias (1998a: 232). Kelly konstatiert einen »boom centroamericano [que] se inicie en los mismos años en que el boom latinoamericano se clausura« (Kelly, 1991: 5), das heißt Anfang der siebziger Jahre, während Arias von einem »'mini-boom' de la narrativa centroamericana« (Arias, 1998a: 232) ab den siebziger Jahren spricht. Vgl. Engelbert, 1994:400f. (dort auch weitere Literaturhinweise); für Nicaragua Mackenbach, 1995a: 20-22, 34-37.
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den, dass mit dem Ende des sandinistischen Projekts eine ganze Generation von Intellektuellen, die sich in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren (mehrheitlich) für bzw. gegen dieses Projekt engagierten, nicht nur über mehr Zeit für die Reflexion und den Akt des Schreibens verfügt, sondern gleichzeitig die Notwendigkeit spürt, die Vergangenheit zu analysieren, um die Gegenwart zu verstehen und neue Optionen für die Zukunft zu eröffnen - Faktoren, die unabdingbar für die Entwicklung einer Romanliteratur sind. (vgl. dazu Hood, 1994: 79)" Alle diese Faktoren legen einen Paradigmenwandel innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses über die Entwicklung des nicaraguanischen Romans nahe, insbesondere auch in gattungstheoretischer Hinsicht, und sie verweisen auf den engen Zusammenhang von sozialem Wandel und Veränderungen in den Formen der literarischen Repräsentation und Präsentation. Im symbolischen Jahr 1990 veröffentlicht (das mit der Wahlniederlage des regierenden Frente Sandinista de Liberación Nacional das Ende des revolutionären Projekts markierte), endet die bereits mehrfach zitierte Studie von Beverley und Zimmerman mit der Feststellung, dass unter den neuen, postrevolutionären Bedingungen nicht nur die Infragestellung der Literatur als hegemonialer kultureller Institution, sondern auch ein Paradigmenwechsel und die Entwicklun neuer Formen der kulturellen Repräsentation notwendig und sehr wahrscheinlich seien. Als bestimmend für diesen Wandel sehen sie eine »problematization of or turning away from the formula of direct testimonio« (Beverley/Zimmerman, 1990: 188) und einen Verlust der hegemonialen Rolle der Poesie im literarischen Feld: »There may also be [...] a change in the position of poetry within the overall
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In einem Gespräch, das ich im Frühjahr 2000 mit Sergio Ramírez führte, wies er auf einige Aspekte dieses Aufschwungs des Romans in Nicaragua hin: »Für mich sind dafür verschiedene Faktoren verantwortlich. Der erste ist ein Reifungsprozess. Die Mehrheit dieser Romanschriftsteller sind keine sehr jungen Autoren. Es sind Schriftsteller, die vorher bereits Gedichte, Essays oder Erzählungen geschrieben haben. Es gibt Romane, die aus der Feder von Anthropologen, Soziologen, Historikern, Journalisten, Poeten stammen. Sie entscheiden sich auf einmal, ihre schöpferischen Ideen in Romanform zu fassen. Denn ihre eigentlichen Instrumente, derer sie sich vorher bedient haben, genügen ihnen nicht mehr. Ihnen ist nicht mehr mit einem langen Gedicht, mit einem Essay, mit einer anthropologischen Studie gedient. Wer sind denn zum Beispiel hier in Nicaragua einige dieser etwa vierzig Romanschriftsteller, die in den achtziger und neunziger Jahren über sechzig Romane geschrieben haben? Da sind zum Beispiel Ricardo Pasos Marciacq, ein Philosophieprofessor, Orlando Núñez Soto, ein Soziologe, Gioconda Belli, eine Poetin, Julio Valle-Castillo, ein Poet und Literaturkritiker, oder Mónica Zalaquett, eine Journalistin, und Erick Blandón, ebenfalls ein Poet. Es handelt sich also nicht um Romane aus der Feder von 'gelernten' Romanautoren. Und damit will ich nicht sagen, dass so keine wirklichen Romane geschaffen werden. Im Gegenteil, viele Romanautoren sind gleichzeitig eng mit dem Journalismus oder der Poesie verbunden. Dagegen habe ich überhaupt nichts. Ich versuche nur zu erklären, wie es zu diesem Phänomen kommt.« (Mackenbach, 2000f: 62f.)
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system of Nicaraguan culture. Poetry will always be an important component of Nicaraguan culture for the reasons we have outlined. But the intensity of its function as a hegemonic expression of national-popular ideology has begun to wane since the early 1980s and will continue to do so.« (ibid.: 110, vgl. 112f., 189, 207) Allerdings entfalten sie diese Problematisierung nicht in einer Analyse der literarischen Produktion ab der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, besonders im Hinblick auf den Anstieg der Romanliteratur, der im Wesentlichen unbeachtet bleibt. Dagegen geht die vorliegende Studie explizit den Veränderungen im literarischen Feld, insbesondere in der Narrativik (einschließlich der Wandlungen innerhalb des testimonios selbst), vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels nach.
Roman und Welt Die achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts stellen in der jüngsten Geschichte Nicaraguas in der Tat zwei Perioden dar, die durch vielfaltige Prozesse des politischen und sozialen Wandels gekennzeichnet sind. Insbesondere in Europa und Nordamerika werden sie nach wie vor als Synonym und Symbol soziopolitischer Transformationen in einem Land der Peripherie unter postkolonialen Bedingungen verstanden. Ganz offensichtlich ist die Koinzidenz der tiefgreifenden Veränderungen in der nicaraguanischen Gesellschaft mit dem Aufschwung der Romanliteratur in den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht zufällig. Bezug nehmend auf Essays von Mario Vargas Llosa, Alejo Carpentier und Carlos Fuentes zu einer Theorie des Romans vertrat Karsten Garscha in seinem Essay über den neuen hispanoamerikanischen Roman die Überzeugung, »de que nuevas orientaciones y procesos de transformación en la cultura, el arte y la literatura se operan en contextos de decisivos cambios sociopolíticos« (Garscha, 1994: 257). Dann schlage die Stunde des Romanciers, schreibt er und zitiert Vargas Llosas inzwischen schon klassischen Text Historia secreta de una novela, in dem der peruanische Autor eine enge Beziehung zwischen den von großen Transformationen geprägten gesellschaftlichen Krisenepochen und dem Roman bzw. den Romanautoren herstellt. 54 Unter Bezugnahme auf Todorov (1981) postuliert Magda Zavala auch für Zentralamerika, dass die Transformationen in den literarischen Gat-
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Es heißt dort: »Hay [...] una relación muy curiosa entre el surgimiento de una gran novela y el estado de crisis y descomposición de una sociedad. [...] América Latina tiene una realidad que está por cambiar de piel, una realidad que va a ser sujeto de grandes transformaciones y de cambios, y creo que justamente ante esta especie de cadáver surgen ahora, como han surgido siempre en la antigüedad, esos buitres en cierta forma, que son los novelistas.« (Vargas Llosa, 1971: 39f„ zit. n. Garscha, 1994: 272)
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tungen mit den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen in Beziehung gesetzt werden müssten: »Es en la memoria del género (sus convenciones) donde inciden los cambios sociales.« (Zavala, 1990: 44) Die Spannung zwischen d e m Roman und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die ihn gleichzeitig bedinge, durchziehe und konstituiere, verwandle ihn in einen textuellen Raum von besonderem Interesse für die literarischen Studien, insbesondere in der höchst komplexen und konfliktreichen historischen Epoche, die Zentralamerika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebe, (vgl. ibid.: 18). Die zentralamerikanische Wirklichkeit dieser Epoche sei gekennzeichnet von »lo que Edelberto Torres Rivas llama la ruptura histórica' en Centroamérica a partir de 1970. Es la irrupción de las luchas sociales organizadas y permanentes que ponen en grave crisis al sistema de injusticia y represión [...] « (ibid.: 19). Wenn Bachtin, so weiter Zavala, davon spreche, dass die Epochen der »Dezentralisierung der sprachlich-ideologischen Welt«, in denen »ein exklusiver Stand, eine Kaste oder Klasse [...] von Zersetzung erfaßt und ihres inneren Gleichgewichts und ihrer Selbstgenügsamkeit beraubt« würden, der »sozial fruchtbare Boden für die Entwicklung des Romans« (Bachtin, 1986c: 200) seien, dann könne m a n sagen, dass Zentralamerika seit den sechziger Jahren alle diese Voraussetzungen erfülle, (vgl. Zavala, 1990: 20) Auch die weitergehende Schlussfolgerung Bachtins sei f ü r Zentralamerika von höchster Bedeutung: »Bajtin va aún más lejos. Una sociedad cerrada sobre sí misma, sólida y sorda a la pluralidad lingüística y discursiva, donde no haya espacio para la contestación y refutación de los valores y normas del sistema lingüístico, de las ideologías literarias y de las visiones del mundo (sistemas míticos, religiosos, sociopolíticos e ideológicos), una sociedad sin 'conciencia galileana' [...] , jamás producirá una novelística significativa.« (Zavala, 1990: 20; vgl. Bachtin, 1986c: bes. 198f., 200-203, 252) Diese Überlegungen zum Zusammenhang von gesellschaftlichen Transformationsprozessen und Veränderungen der und in den literarischen Gattungen enthalten nicht nur im Kern einen Hinweis auf weitere und möglicherweise entscheidendere Gründe als die bisher angeführten für den Aufstieg der Romanliteratur in Zentralamerika seit den siebziger und insbesondere in Nicaragua ab den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, die mit Ausnahme Magda Zavalas (1990) und Arturo Arias' (1998a und 1998b) in den bisherigen Untersuchungen zum zentralamerikanischen Roman k a u m berücksichtigt wurden; 55 sie werfen gleichzeitig eine Reihe von weiteren Fragestellungen auf. In diesem 55
Vgl. vor allem die ebenfalls an Bachtin anlehnenden Überlegungen Arias' zur Bedeutung des Romans in Zentralamerika ais »género más sociológico de todos, debido a que su lenguaje es el registro más sensible de cambios en las actitudes sociales« (Arias, 1998b: 6, vgl. 1-15). Zentralamerika sei, so merkt Magda Zavala an, paradigmatisch für so verstandene »geschlossene
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Kontext scheint es mir von herausragender Bedeutung zu untersuchen, wie die nicaraguanische Literatur und insbesondere die Romanliteratur der beiden genannten Dekaden sich die soziale Wirklichkeit »aneignet« und gleichzeitig zur Konstruktion dieser gesellschaftlichen (historischen) Wirklichkeit im Rahmen einer Suche nach (neuen) individuellen und kollektiven - nationalen? Identitäten beiträgt. Die bisher veröffentlichten Studien zur jüngsten nicaraguanischen Literatur haben sich kaum mit dieser Fragestellung beschäftigt. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man berücksichtigt, dass die nicaraguanische Romanliteratur der achtziger und neunziger Jahre in besonderer Weise von der Aneignung außerliterarischer Realität und ihrer narrativen Präsentation und Repräsentation gekennzeichnet ist. Wie die nueva novela hispanoamericana - auf deren Entstehung sich das Zitat Vargas Llosas bezieht - von der Aneignung der außerliterarischen Wirklichkeit Lateinamerikas bzw. einzelner lateinamerikanischer Länder geprägt war (zum Beispiel Perus im Falle Vargas Llosas und Mexikos bei Carlos Fuentes; vgl. Garscha, 1994: 270, 272; Dill et al., 1994: 13), ist es die spezifische nicaraguanische (und teilweise zentralamerikanische) Realität, die Eingang in die narrative Repräsentation und Präsentation in der zeitgenössischen nicaraguanischen Romanliteratur findet. 56 Es scheint anachronistisch, von außerliterarischer Wirklichkeit und Aneignungen) von Realität in einem von den vielfältigen »postmodernen« und »dekonstruktionistischen« Diskursen dominierten Kontext zu sprechen, die nicht nur ein für alle Mal die Theorien des literarischen Realismus (jedweder Art, seien sie bürgerlich oder sozialistisch) begraben haben, sondern in vielen Fällen auch jegliche Beziehung zur außerliterarischen faktischen Wirklichkeit,
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Gesellschaften« bzw. »realidades cerradas« (Zavala, 1990: 20) gewesen: »Conocidas son las dictaduras sucesivas de Guatemala, la instauración de una dinastía de dictadores en Nicaragua [...]. Se conoce igualmente la matanza de campesinos del año 1932 en El Salvador y la sucesión de golpes de Estado que deja siempre en el poder a grupos militares. Una literatura en semejante contexto, en el 'ojo del c i c l ó n ' [ . . . ] , tiene poca o ninguna oportunidad para la apertura ideológica y la búsqueda artística.« (ibid.: 20f.; vgl. auch Mondragón, 1993b: 18) Diese Aussage mag tautologisch bzw. wie ein Gemeinplatz klingen. Sie ist es jedoch keineswegs. Man denke zum Beispiel nur an die Anfänge des Romans in Nicaragua, für welche die »Reise-«Romane Gustavo Guzmáns eine außergewöhnlich wichtige Rolle spielten. Viele dieser Romane tragen äußerst signifikante Titel: Escenas de Londres (1881), En París (1893), En España (1895), En Italia (1897). Oder auch an die Romanversuche Rubén Darios, die sich nicht auf nicaraguanische Realitäten beziehen. Während die narrative Repräsentation und Präsentation außerliterarischer Welten im kostumbristischen Roman auf die Darstellung europäischer Wirklichkeiten orientiert war, rückte die spezifisch nicaraguanische ländliche Welt erst mit dem Regionalismus und dem sozialkritischen Roman in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in den Vordergrund. Erst ab den sechziger Jahren schließlich gerät auch das städtische Nicaragua ins Blickfeld, wobei selbst noch die Handlung eines für den jüngeren nicaraguanischen Roman so bedeutenden Textes wie Trágame tierra (1969) von Lizandro Chávez Alfaro in Mexiko spielt, (vgl. dazu ausführlich das Kapitel »Fünfter Kreis: Roman und Welt« sowie Mondragón, 1989 und 1991; Palacios, 1989, 1991a und 1991b; Arellano, 1997d: 119-142)
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gar zu extratextuellen Realitäten eskamotieren und allenfalls eine unendliche Reihe von möglichen intertextuellen Bezügen anerkennen. Ich habe allerdings nicht vor, in die Falle eines unhistorischen Begriffes von Realismus zu treten, der ausschließlich, wie Dill et al. in ihrer grundlegenden Studie Apropiaciones
de realidad en la novela hispanoamericana de los siglos XIXy XX schreiben, auf »ciertas corrientes de los siglos XIX y X X que se apropian de esta realidad principalmente mediante la copia mimética, caracterizada por la semejanza exterior con la realidad fáctica [...] con pocos o nulos recursos míticos, alegóricos, simbólicos, parabólicos, etc.« (Dill et al., 1994: 17) bezogen werden sollte. 57 Vielmehr gehe ich von einer Konzeption der Aneignung von Realität aus, wie sie ausfuhrlich in dieser Untersuchung zum hispanoamerikanischen Roman im 19. und 20. Jahrhundert dargelegt wurde. Diese Konzeption begreift den Roman als eine Gattung der erzählenden Literatur, »para la cual la creación de mundos imaginarios y/o imaginados provistos de conjuntos de seres, estados, procesos, acciones e ideas [...] en un tiempo y espacio determinados [...] fue y sigue siendo un rasgo distintivo« (Dill et al., 1994: 13)58 Sich auf den marxschen Begriff der »Aneignung« stützend zielen Dill et al. ab auf eine Untersuchung »de la relación compleja entre mundos novelescos y su presentación narrativa en la novelística hispanoamericana de los siglos XIX y XX, por una parte, y la realidad extraliteraria fáctica, por otra« (ibid.: 13). Sie schreiben: »La apropiación intelectual presupone, según Marx, la transformación - no el reflejo - de la realidad ajena o enajenada en una realidad intelectualmente asimilable, posible sólo al ser transformada la realidad en ideas y palabras, lengua, texto. Marx (1857) distingue tres modos principales de apropiación intelectual: el artístico y el religioso, ambos como transformación de la realidad en visiones (Anschauungen) e imaginaciones (Vorstellungen), y el filosófico-científico como transformación de las visiones e imaginaciones en nociones abstractas (Begriffe). Lingüísticamente, a los tres modos corresponden tres tipos de discurso, el científico, el religioso y el artístico incluyendo el literario.« (ibid.: 15)"
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Ähnlich argumentiert Michael Scheffel, der den Realismus als »Kunstbegriff« bzw. »Stilbegriff« versteht, »der für den Fall der Literatur eine besondere Art des Verhältnisses bestimmt, in das die erzählte und die empirische Welt gesetzt sind« (Scheffel, 1990: 64), und seinen Schwerpunkt in der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts habe. Vgl. auch Zavala (1990: 18) und Arias (1998b: 1-15, bes. 6). Magda Zavala spricht in Anlehnung an Arturo Arias vom »carácter relativamente mimètico de la literatura, entendido ya no con ingenuidad como copia fiel del mundo y sus formas, sino como percepción que una conciencia (particular, caja de resonancia de las conciencias o conciencias sociales) hace de ese mundo. No es posible eludir el aspecto mimètico de la literatura ni de las artes en general, aún y cuando se trate de artes no figurativos, cuya mimesis es solamente más compleja.« (Zavala, 1990: 33, vgl. 37f.) Zum Realismus-Begriff merken sie noch an: »No consideramos obras modernistas o vanguardistas que utilizan instrumentarios no-miméticos, frecuentes en la literatura hispanoamericana,
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Dill et al. unterscheiden drei verschiedene Arten der Beziehung zwischen Romanwelten und außerliterarischer Wirklichkeit: 1) eine Beziehung der Korrespondenz (»correspondencia«) oder Entsprechung bzw. Übereinstimmung, in der die Romanwelt eine außerliterarische faktische Wirklichkeit reproduziert - zumindest ist das ihre Intention; 2) eine Beziehung der Ähnlichkeit (»similitud«), bei der »el mundo novelesco plantea un suceso o una serie de sucesos que de hecho no han sucedido en el mundo extraliterario fáctico, pero que bien hubieran podido suceder« (ibid.: 18) - dafür wurde auch der Begriff der mimetischen Fiktion verwendet; 3) eine Beziehung der Unwahrscheinlichkeit (»inverosimilitud«), das heißt die verschiedenen Varianten der nichtmimetischen, fantastischen bzw. antimimetischen Fiktion, (vgl. ibid.: 18)60 Um den Prozess der Aneignungen von gesellschaftlicher Wirklichkeit (verstanden im weitesten Sinne) zu rekonstruieren, sehen sie die Analyse sowohl der »modelos de mundo subyacentes a las novelas« wie der »mundos novelescos propiamente dichos« (ibid.: 17) als notwendig an. Dies eröffnet ein weites Feld der Untersuchung: 1) im Hinblick auf »las relaciones entre los intereses de determinados grupos o estratos sociales y las apropiaciones de realidad, tal como se manifiestan en los mundos novelescos y los modelos de mundo subyacentes« (ibid.). Ein solches Verständnis schließt zum Beispiel Konzeptionen wie die »institucionalización del discurso literario en el contexto de la evolución de la sociedad burguesa (Bürger 1977 y 1978; Sanders 1981) o el establecimiento de un campo literario específico en relación al campo de poder político y económico que lo sustenta (Bourdieu 1984 y 1992)« ein (Dill et al., 1994: 17), ebenso literatursoziologische wie rezeptionsästhetische und -theoretische Ansätze und Untersuchungen über die Funktion von Literatur in einer bestimmten Epoche, (vgl. ibid.: 17, 19f.) 2) im Hinblick auf die Unterschei-
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como realistas, pero sí como apropiaciones de la realidad extraliteraria fáctica latinoamericana.« (Dill et al., 1994: 17) Scheffel zitiert Felix Martínez-Bonati (1984: 185), dass »events in any given literary fiction noticeable obey to one or more systems of possibility, probability, and necessity, and that some of these systems differ from real-life assumptions while others seem to conform to them« (zit. n. Scheffel, 1990: 63). Ähnlich wie Dill et al. unterscheidet Scheffel in Anlehnung an Martínez-Bonati (ibid.) verschiedene Arten der Beziehung zwischen »erzählter Welt« bzw. der »im Werk entworfenen Welt«: » [...] a work of literary fiction displays an imaginary view of the world [ . . . ] ; [ . . . ] events in this imaginary view conform to one or more (usually one) systems of'reality'[...]. I call the virtual totality [...] a fictional world, or a region of imagination [...] ;[...] some of these systems are striking or marked ('world of fantasy'), some seem to be part of our reality or are inconspicuous, some are constitutionally ambiguous.« (zit. n. Scheffel, 1990: 65) Zavala präzisiert ihre Aussage vom relativ mimetischen Charakter der Literatur folgendermaßen: »La ficción se construye sobre anclajes referenciales más o menos fuertes y la referencia puede ser real, posible o imposible. El tipo de referencia instituye clases de textos de ficción. Cuando la referencia es real o posible se habla de ficcional verosímil. Cuando la referencia es imposible (transgrede las reglas del mundo real) la ficción es no verosímil. En todo caso, el mundo real es parámetro para la construcción de mundos imaginarios.« (Zavala, 1990: 49; vgl. auch Albaladejo Mayordomo, 1986: 58f.)
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dung »entre el plano de la historia de una novela [...] y el plano de la narración (Genette 1972 y 1983)« (Dill et al., 1994: 18). Integriert werden also die wesentlichen methodologischen Aspekte der jüngeren Forschungen zur Narratologie, sei es hinsichtlich der Raum-Zeit-Koordinaten im Roman, der Unterscheidung zwischen Geschichte (histoirej und Erzählung (récit) sowie von Erzählzeit und erzählter Zeit, der Erzählstimmen und Erzählperspektiven, der Präsentation der Erzählung, der Beziehung zwischen Autor, Werk und implizitem Leser, der verschiedenen Konzeptionen von Intertextualität usw. (wie sie vor allem in den Arbeiten Roland Barthes', Gérard Genettes, Wolfgang Isers, Wolf Schmids, Tzvetan Todorovs, Julia Kristevas, Dornt Cohns u.a. entwikkelt wurden). Eine Untersuchung der jüngsten nicaraguanischen Romanliteratur ausgehend von diesen methodologischen Prämissen zielt darauf ab, die rein »technischen« Studien, die sich auf eine immanente Werkanalyse bzw. auf eine eng gefasste intertextuelle Analyse beschränken, und die Bewertung von Literatur nach außerliterarischen politisch-ideologischen Kriterien zu überwinden. Dabei soll nicht nur untersucht werden, wie sich der soziale Wandel in den Romanen niederschlägt (das heißt in ihren Inhalten, Themen und Erzählformen), sondern auch wie die Veränderungen im literarischen Diskurs selbst Teil des sozialen Wandels sind: »Los años ochenta han sido sinónimos de la crisis política en Centroamérica«, schreibt Arturo Arias in seiner exzellenten Studie über die zentralamerikanische erzählende Literatur von 1960 bis 1990 und fährt fort: »Perdido en medio del estruendo está el hecho de que dado el rápido ritmo de cambio, social y político, los centroamericanos también han empezado a cambiar la manera como piensan de sí mismos y conciben su posición en el mundo. Estos cambios son aparentes en la literatura que ha emergido en esta región a lo largo de dicha década. Si estamos de acuerdo en que las novelas son sistemas de representaciones simbólicos que generan 'efectos de verdad' a través de sus prácticas discursivas, es evidente que registran estos cambios subjetivos en la percepción del ser, y su estudio debe posibilitarnos la exploración de las transiciones tanto en la identidad como en la ideología.« (Arias, 1998a: 231, vgl. 229) Eine so angelegte Untersuchung scheint mir unabdingbar, um die narratologischen und ideologisch-symbolischen Parameter des angesprochenen Paradigmenwandels in der zeitgenössischen nicaraguanischen Literatur analysieren und zu einer Theorie des nicaraguanischen Romans im Rahmen der zentralamerikanischen Literatur(en) am Ende des 20. Jahrhunderts beitragen zu können - das heißt im Kontext einer Situation, die von einer Krise des hegemonisierenden Diskurses des literarischen Nationalismus und der hegemonialen Rolle der Literatur und des literarischen Feldes für die Konstruktion bzw. Rekonstruktion einer nationalen Identität charakterisiert wird.
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Zentrum und Peripherie Diese Aufgabenstellung soll im Wesentlichen entlang von fünf Achsen bearbeitet werden: 1) Untersucht werden die wichtigsten Tendenzen innerhalb der jüngsten nicaraguanischen Romanliteratur vorrangig unter dem Aspekt der Aneignung von außerliterarischer Wirklichkeit und ihrer narrativen Repräsentation und Präsentation. Die Arbeit ist in ihren einzelnen Analyseschritten und in ihrer Darstellung also nicht chronologisch geordnet, sondern in ihrem Hauptteil (II - Metrocentro) nach den literarästhetischen Fragestellungen strukturiert, die sich in meiner Beschäftigung mit der zentralamerikanischen und nicaraguanischen Literatur der letzten zwanzig Jahre als zentral erwiesen haben: der testimonio und das Problem der Korrespondenz, das Verhältnis von Magie und Realität im Roman, die Rolle von Genderkonstruktionen im Prozess der (literarischen) Nationenkonstitution, die Beziehung von Geschichte bzw. Geschichtsschreibung und Fiktion sowie Fragen der literarischen Geografie, insbesondere das Verhältnis von Text und Raum. Durch alle diese Problemkreise zieht sich gleichsam wie ein basso ostinato die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Revolution, das heißt nach den Veränderungen im literarischen Feld im Kontext dieser zugespitztesten Form des sozialen Wandels, den Nicaragua in diesen letzten beiden Dekaden erlebte. Die Arbeit beschäftigt sich also auch mit der Problematisierung der besonderen Rolle der nicaraguanischen Literatur in der jüngsten Geschichte des Landes und der Fragestellung, ob von einer neuen hegemonialen literarischen Praxis und von neuen literarischen Repräsentationen der kulturellen/nationalen Identität unter postrevolutionären Bedingungen gesprochen werden kann. 2) Wesentlicher Bestandteil ist die detaillierte Analyse der 95 Werke, die das Korpus der vorliegenden Studie bilden (vgl. dazu Fußnote 50) - in ihrer Ausführlichkeit gewichtet nach ihrer Relevanz für die leitenden Fragestellungen dieser Arbeit und ihrer Bedeutung im literarischen Feld Nicaraguas. In gewisser Hinsicht hat die Arbeit also auch »enzyklopädischen« Charakter. Eine umfassende Darstellung und Analyse dieser Werke ist nicht nur geboten, weil sie im deutschsprachigen Raum (und man könnte hinzufügen: auch in der zentralamerikanischen Region wie in Lateinamerika insgesamt) von Ausnahmen abgesehen kaum bekannt sind. Sie ist angesichts der geringen Zahl von bisher erschienenen Studien zur jüngsten nicaraguanischen Romanliteratur, die sich noch dazu auf eine beschränkte Anzahl von Originaltexten stützen (vgl. Fußnote 46), ein Desiderat innerhalb der Lateinamerikaforschung. Die vorliegende Untersuchung arbeitet daher über weite Strecken mit einer »induktiven Methode«, das heißt sie versucht umfassend das konkrete Material, die in den achtziger und neunziger Jahren erschienenen Romane und romanähnlichen Texte, aufzuarbeiten. In diesem Sinne schließe ich mich der
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Forderung an, die vor einigen Jahren der Literaturwissenschaftler Raúl Bueno formulierte: »Las teorías de la literatura no se 'inventan'. [...] Parten de una materialidad objetual [...] [...] Una teoría literaria, por otro lado, no necesita ser una, ni la teoría. [...] más que un sistema conceptual uniforme, totalizador y coherente, es un campo de reflexiones teóricas, relativamente definido y sostenido por una base epistemológica más o menos cambiante.« (Bueno, 1994: 139f.) Die Arbeit soll damit auch wichtige Vorarbeiten für eine noch zu schreibende Geschichte der nicaraguanischen bzw. zentralamerikanischen Literaturen leisten, für die ebenfalls Mitte der neunziger Jahre die costa-ricanischen Literaturwissenschaftlerinnen Magda Zavala und Seidy Araya postulierten: »Esta tarea [...] tendrá en cuenta, necesariamente, las generalizaciones deductivas que se han hecho en Occidente sobre la literatura, con el propósito de contrastar los resultados e identificar lo específico. Un trabajo de esta índole sería una contribución a una teoría literaria comprobadamente universal.« (Zavala/Araya, 1995: 208) In mehrfacher Hinsicht liegt dieser Arbeit ein weiter Begriff des nicaraguanischen Romans zugrunde: Mein Verständnis des nicaraguanischen Romans umfasst auch autobiografische und eher dokumentarische bzw. journalistische Texte, insbesondere testimonios, die in der nicaraguanischen wie zentralamerikanischen Literatur der letzten Jahrzehnte eine herausragende Rolle spielten. Als nicaraguanischen Roman verstehe ich zum einen alle Romane von in Nicaragua lebenden Autorinnen und Autoren, die in Nicaragua erschienen sind, zum anderen Romane von im Ausland lebenden Autorinnen und Autoren nicaraguanischer Nationalität (seien sie in Nicaragua oder anderen Ländern erschienen), wie zum Beispiel Gioconda Belli, Conny Palacios und Milagros Palma, schließlich Romane von Autorinnen und Autoren, die nicht eindeutig nur der Literatur eines zentralamerikanischen Landes zuzuordnen sind, wie zum Beispiel Claribel Alegría, Franz Galich, Gloria Guardia und María Lourdes Pallais.61 Im Falle der Testimonialliteratur schließe ich auch Texte ein, die von ausländischen Autoren veröffentlicht wurden, sofern sie nicaraguanische testimonios enthalten; dazu gehören neben anderen die Bücher von Pilar Arias,
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Diese vier Autorinnen bzw. Autoren können mit gleicher Berechtigung der salvadorianischen, guatemaltekischen, panamaischen und peruanischen bzw. mexikanischen Literatur zugerechnet werden, was ihre Nationalität bzw. Herkunft, die Themen, Veröffentlichungsorte und Rezeption von Teilen ihrer Werke angeht. Ich versuche also, auch in diesem Zusammenhang den von vielfaltigen Migrations- und Durchdringungsprozessen geprägten literarischen Feldern Zentralamerikas Rechnung zu tragen, wofür ich weiter oben das Bild von den kommunizierenden Röhren benutzt habe.
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María Gravina Telechea, Manfred Liebel, Fernando Pérez Valdés und Margaret Randall.62 3) Die vorliegende Untersuchung hat damit auch das Ziel, zur Überwindung von Charakterisierungen der nicaraguanischen bzw. zentralamerikanischen Literaturen beizutragen, die zum Teil auf einer schematischen Übertragung eurozentrischen Denkens bzw. der Verabsolutierung einzelner Elemente der zentralamerikanischen Kulturen und einem Begriff des literarischen Kanons basieren, der der Vielfalt der zeitgenössischen zentralamerikanischen Literaturen nicht gerecht wird. Für die existierenden nationalen Literaturgeschichten bzw. literaturgeschichtlich ausgerichteten Werke in Zentralamerika gilt mehrheitlich immer noch das doppelte Urteil, das Seidy Araya und Magda Zavala Mitte der neunziger Jahre fällten: Zum einen liege ihnen eine Analyse zugrunde, die in der romantischen und positivistischen Tradition des 19. Jahrhunderts weitgehend biografisch und auf die Wiedergabe des Inhalts der großen Werke der großen Autoren der geschriebenen Literatur ausgerichtet sei. Zum anderen existiere eine Tendenz zur Übernahme der traditionellen Gattungseinteilungen, die als überhistorische, geradezu natürliche Klassifizierungen akzeptiert würden; es herrsche ein »tratamiento cerrado de los géneros (cuento, novela, drama, ensayo y poesía, básicamente) que excluye los géneros 'no ficcionales' como la biografía, la autobiografía, el diario íntimo, las memorias, los testimonios ... « (Araya/Zavala, 1995: 189, vgl. 200, 214; vgl. Garscha, 1995: 219f., 222, 224). Dagegen gelte es, die zentralamerikanischen Literaturen ausgehend von einem veränderten Literaturbegriff, »desprovisto del halo de sacralidad que había obtenido del romanticismo« (ibid.), zu untersuchen: »Esta nueva definición de literatura tiene importantes consecuencias metodológicas para los estudios literarios, en cuanto se abandona paulatinamente la visión inmanentista para detener la observación en los nexos, relaciones, intercambios y contaminaciones entre el discurso literario y el universo general de los discursos propios de una sociedad concreta.« (ibid.) Die vorliegende Studie fühlt sich einem solchen Verständnis verpflichtet. 63
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Ähnlich verfährt Amalia Chaverri in ihrer Introducción a una titulología de la novelística costarricense, indem sie unter dem Begriff Roman auch Texte fasst, die sie als »añoranzas«, »esbozos de novela«, »narraciones« u.ä. bezeichnet. (Chaverri, 1986: 16; vgl. Zavala, 1990: 7) Zavala begründet die Einbeziehung des testimonios in ihre Studie über den zentralamerikanischen Roman folgendermaßen: » [...] se tuvo en cuenta algunos textos clasificados como testimonios debido a que actualmente existe entre los críticos una considerable indecisión sobre cuáles efectivamente son testimonios y cuáles pertenecen más bien a la literatura testimonial.« (ibid.: 9) (vgl. auch Hood/Mackenbach, 2001) Das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur« der vorliegenden Arbeit widmet sich ausführlich den damit zusammenhängenden Problemen. Vgl. auch Arias, 1998a: 8f.; Arias, 1998b: 226f. Ich rekurriere hier auf einen Diskursbegriff,
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Explizit bezieht sie, wie Araya/Zavala (vgl. ibid.: 214) forderten, marginale oder weniger bekannte bzw. im traditionellen Kanon nur gering geschätzte Werke ein, die »mäs elocuentes sobre la realidad cultural en que se producen« sein könnten als »las grandes obras, los hitos y las personalidades destacadas« (ibid.). Die Arbeit soll damit einen Beitrag zur Überwindung eines engen, große Teile der literarischen Produktion Nicaraguas in den achtziger und neunziger Jahren ausschließenden Kanons leisten.64 4) Die hier präsentierte Arbeit widmet sich der Untersuchung des Verhältnisses von Literatur und Nation, insbesondere der Rolle, die die Romanliteratur für die Konstruktion kollektiver Identität im Rahmen des nationalrevolutionären Projekts im Nicaragua ab Ende der siebziger Jahre spielte, und ihrer Veränderung vor dem Hintergrund des vielfaltigen sozialen Wandels in jener Epoche. Eine sich durch alle Teile der Arbeit ziehende Fragestellung ist die der Bedeutung der Formen der kulturellen Repräsentation, insbesondere der narrativen Repräsentation und Präsentation im Roman, für die Schaffung eines kollektiven Bewusstseins, für die Herausbildung einer nationalen Identität. Dennoch ist die Studie keinem ausschließenden Begriff von Nationalliteratur verpflichtet, sondern versucht das besondere Verhältnis von Literatur und Nation bzw. Roman und Identität im Nicaragua der achtziger und neunziger Jahre im Kontext des die gesamte zentralamerikanische Region bestimmenden Diskurses um Identität und Nation der Epoche zu verstehen.65 Gegenstand der Arbeit ist also die Literatur einer Nation im Kontext ihrer regionalen Bezüge;
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wie ihn Ottmar Ette in Anlehnung an Michel Foucault formuliert: »La discursividad se sitúa entre langue y parole y enfoca, por ende, los textos 'individuales' sólo en sus relaciones con las condiciones supra-individuales ligadas a determinados grupos y períodos capaces de fundar configuraciones textuales (conceptuales, ideológicas, etc.) especificas.« (Ette, 1995: 21 f.) Das schließt ebenso, wie Ette in Anlehnung an Jacques Derrida postuliert, die Auseinandersetzung mit der »fuerza diseminadora« (ibid.: 22) des Einzeltextes ein: »Si la intertextualidad se ocupa de las relaciones entre textos diferentes y de la contextualidad de estas relaciones, el concepto discurso, por el contrario, se orienta hacia los lexemas y sus correspondientes isotopías que, a su vez, están ligadas a determinadas instituciones y grupos. [...] El análisis del discurso permite relacionar textos individuales con tales sistemas discursivos.« (ibid.) Sie setzt sich in diesem Sinne auch kritisch mit dem insbesondere in den letzten Jahren in den US-Universitäten etablierten Kanon lateinamerikanischer Literatur auseinander, der auf die lateinamerikanischen Länder zurückgewirkt hat. (vgl. vor allem das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«). Arias schreibt dazu: »La 'literatura latinoamericana' ha sido, en buena medida, un canon establecido desde las universidades estadounidenses que han seleccionado - según intereses propios que tienen que ver con la demografía académica tanto de estudiantes 'latinos' como de los latinoamericanos que trabajan en centros de educación superior estadounidense, cuando no de intereses políticos frecuentemente dominados todavía desde la península ibérica - algunos textos mexicanos, argentinos, uno que otro cubano o portorriqueño, y la presencia contundente de Gabriel García Márquez y Mario Vargas Llosa como figuras cumbres que deslumhran a más de alguno.« (Arias, 1998b: 234) Vgl. dazu Arias (1998a: 25-42, 51-55, 311-320) und oben die Unterkapitel »Nation und Region« sowie »Literatur und Gesellschaft«.
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so weit wie möglich zieht sie vergleichende Aspekte heran, um so zu einer Überwindung eines engen Begriffes von Nationalliteratur beizutragen. Das Bild von den kommunizierenden Röhren auch auf die literaturwissenschaftliche Analyse übertragend soll die Studie am Beispiel der Literatur einer Epoche, einer (wie gesehen weit verstandenen) Gattung und eines national definierten geografischen Raumes Elemente zum Verständnis der Gemeinsamkeiten und Diversitäten der zeitgenössischen zentralamerikanischen Literaturen liefern, also die Bezeichnung zentralamerikanische Literatur(en) begrifflich füllen helfen. Dabei stellt sie zumindest implizit die Behauptung der Zugehörigkeit der nicaraguanischen Literatur zur griechisch-römischen und katholischen Kultur, ihren angeblich »mediterranen« Charakter und die Geringschätzung des indigenen Elements in Frage, wie sie zum Beispiel in der ersten Ausgabe der bisher einzigen existierenden umfassenderen literaturgeschichtlichen Studie in Nicaragua (Arellano, 1966: vgl. besonders 7, 11) enthalten ist, wie auch die Subordination der nicaraguanischen Literatur unter einen ausschließenden Begriff der »caribeüidad« (Zavala/Araya, 1995: 10, vgl. 19f.).66 5) Schließlich wird versucht, die Entwicklung des zeitgenössischen nicaraguanischen Romans vor dem Hintergrund des literaturwissenschaftlichen Diskurses über die hispanoamerikanischen Romane des booms, der nueva novela hispanoamericana, bzw. der Postboom- und Post-Postboomforschung zu lesen. Die 1992 für die deutschsprachige Lateinamerikanistik gezogene Schlussfolgerung Karl Kohuts, dass »die auf den sog. Boom folgende Literatur [...] bisher nur ansatzweise behandelt« (Kohut, 1992: 411) wurde, trifft zehn Jahre später von wenigen Ausnahmen - wie Zavala (1990), Rodríguez (1992, 1994 und 1998), Arias (1998a) - abgesehen immer noch auf die Studien zum zentralamerikanischen und nicaraguanischen Roman zu, nicht nur im deutschsprachigen Raum. Die vorliegende Arbeit hat insofern exemplarischen, über ihre Fokussierung auf ein Land hinausweisenden Charakter, als sie es im Gegensatz zu den sich auf wenige untersuchte Werke beschränkenden Studien von Zavala, Rodríguez und Arias unternimmt, ein möglichst umfassendes Korpus der zeitgenössischen nicaraguanischen Narrativik vor dem Hintergrund der Geschichte der nicaraguanischen (Roman-)Literatur zu lesen, Kontinuitäten und Brüchen nachzuspüren, und es gleichzeitig im Kontext des literaturwissenschaftlichen Diskurses über die hispanoamerikanische erzäh66
Zu Arellano (1966) vgl. Araya/Zavala, 1995: bes. 83ff., 94. Dieser ausschließende Begriff von (nicaraguanischer) Literatur wird in den Ausgaben von Arellano (1986 und 1997d) nicht mehr explizit wiederholt, ohne dass jedoch marginale bzw. marginalisierte Formen des literarischen Ausdrucks (wie die indigenen und oralen Traditionen oder der testimonio) als vollwertig anerkannt würden. Vielmehr hält er weiter seine schon von Araya/Zavala (1995: vgl. 84) kritisierte Unterscheidung in »por un lado la literatura culta, prolongación de la castellana [...] ; y, por otro, la literatura popular, oral como la de los cantares precolombinos y de índole anónima« (Arellano, 1997d: 16) aufrecht.
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lende Literatur seit dem boom zu verstehen. In diesem Zusammenhang setzt sie sich auch mit dem Diskurs um Moderne und Postmoderne und der Frage seiner Übertragbarkeit auf den nicaraguanischen bzw. zentralamerikanischen Roman auseinander, wie sie etwa von Gálvez (1987), Zavala (1988), Ortega (1988), Yúdice (1989), Folian (1992), de Toro (1997b) und Kohut (1997) für Hispanoamerika problematisiert wurde, aber bisher von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht ins Blickfeld der Studien über den zeitgenössischen nicaraguanischen Roman gerückt ist. Mit dieser mehrfachen Aufgabenstellung der vorliegenden Arbeit ist das Problem des Verhältnisses von Peripherie und Zentrum noch in einem ganz anderen Sinne als bisher diskutiert aufgeworfen. Wie dargelegt, versuche ich durch Zugrundelegung eines weiten Romanbegriffes auch bisher periphere Formen des literarischen Ausdrucks in die Analyse einzubeziehen. Dennoch ist der Forschungsgegenstand nach wie vor in dem im bisherigen Diskurs als Zentrum des literarischen Feldes verstandenen Bereich angesiedelt: Untersucht wird die geschriebene und gedruckte Literatur spanischer Sprache, während andere Formen, Medien und Sprachen nicht berücksichtigt werden. Diese Beschränkung rechtfertigt sich aus der hegemonialen Rolle dieser Form des literarischen Ausdrucks im nicaraguanischen Nationenprojekt der achtziger und neunziger Jahre. Für zukünftige Studien allerdings werden zunehmend bisher periphere Ausdrucksformen in den Mittelpunkt rücken müssen, die als Praktiken bereits ins Zentrum des kulturellen Feldes vorgedrungen sind (wie zum Beispiel die telenovela), sich verstärkt von den Rändern her bemerkbar machen (wie die literarischen Praktiken der ethnischen und sprachlichen Minderheiten) oder sich im »virtuellen Raum« bewegen (wobei sie zum Teil an den oralen Traditionen der Populärkultur anknüpfen). (vgl. auch Araya/Zavala, 1995: 189f., 204f.; Garscha, 1995: 222f.) »Ya es hora de ampliar ese canon«, schrieb Arturo Arias in kritischer Abgrenzung von der Meinungsführerschaft des akademischen Zentrums in den USA im Ensemble der wissenschaftlichen Studien über die Literaturen der lateinamerikanischen Peripherie und der zentralamerikanischen Peripherie in der Peripherie, und er fuhr fort, es gehe darum, »de subvertirlo, y de darle su lugar a otras voces que también hablan con fuerza, dinamismo y creatividad en el mar de la heteroglossia latinoamericana.« (Arias, 1998b: 234; vgl. oben, Fußnoten 17, 18, 64) Kann ein Wissenschaftler aus dem europäischen Zentrum dazu einen Beitrag leisten? Meine Position an der Peripherie der bundesdeutschen Lateinamerikanistik (entsprechend der Marginalisierung der Zentralamerikastudien, die als solche nicht existieren) und die Entstehung dieser Arbeit aus einem ständigen Ortswechsel zwischen zentralamerikanischer/nicaraguanischer Peripherie und europäischem/deutschem Zentrum könnten eine Bejahung der Frage nahe legen. Jedenfalls entspricht die dieser Studie
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zugrunde liegende Raumdynamik (in Form von Lehr- und Forschungstätigkeit in Zentralamerika und Deutschland, Teilnahme an internationalen Kongressen) den von Ottmar Ette formulierten Kriterien einer »Literatur in Bewegung«, die er als eine Grundkonstante nicht nur heutiger fiktionaler Texte, sondern auch grenzüberschreitenden wissenschaftlichen Schreibens sieht und für die er eine neue Räumlichkeit wissenschaftlicher Texte jenseits fester »Grenzziehungen zwischen einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, jenseits einer wissenschaftlich disziplinierten Gegenstandskonstruktion« (Ette, 2001: 17, vgl. auch 16) als notwendig erachtet. Es scheint müßig, besonders zu erwähnen, dass dies umso mehr für die Lateinamerikanistik in den Wissenschaftszentren gilt. Ob und inwieweit diese Studie einen Beitrag dazu leistet, bleibt dem Urteil der Leser überlassen.
II - Metrocentro
»We propose to look at Central American literature as an ideological practice of national liberation struggle, emerging from a complex set of cultural relations and institutions given by tradition and encoding new forms of personal, national, and popular identity [...] the institution of literature as such and the 'national question ' became conjuncturally related in the process of Central American development [...] « John Beverley/Marc Zimmerman, Literature and Politics in the Central American Revolutions
Erster Kreis Revolution und Literatur » [...] me había reencontrado con mi propia historia, con la tradición, con la esencia de Nicaragua, encontré mi génesis, mis antepasados, me sentí continuación concreta, ininterrumpida, encontré mi fuente de alimentación [...] « Ornar Cabezas, La montaña es algo más que una inmensa estepa verde »La veracidad de los hechos permanece intocada a lo largo de la narración, porque se trata de un testimonio vivo, sin mácula de adornos o acomodos [...] « Sergio Ramírez, La marca del Zorro »No es que por este medio pretenda yo explicarte los porqués y los cómo-es-posible de ese mi pasado que ya, dicho sea de paso, a nadie interesa, si yo soy Nadie.« María Lourdes Pallais, La carta
Das Land als offenes Buch, das Buch als offenes Land Lebendig wie die Hand, die in seinen Seiten blättere, sei das Buch, schrieb Eduardo Galeano im Vorwort zur deutschen Ausgabe von La montaña es algo más que una inmensa estepa verde (1982) des ehemaligen Guerillakommandanten der sandinistischen nationalen Befreiungsfront Omar Cabezas, die 1983 unter dem Titel Die Erde dreht sich zärtlich, Compañera erschien: »Es ist nicht von Omar Cabezas geschrieben noch diktiert, es ist vielmehr Omar Cabezas. [...] Dies Buch ist Omar Cabezas, und Omar Cabezas ist, ohne es zu wollen, ein Held; Dichter, ohne es zu wollen, und willentlich Nicaraguenser: Das will er so sehr, daß dies Buch auch Nicaragua ist.« (Cabezas, 1988b: 5)' Geradezu emblematisch bringt Galeanos kurzer einleitender Text in poetisch überhöhter Diktion den Kern des damals dominanten literarischen Diskurses in Nicaragua zum Ausdruck. Mit dem testimonio schienen endlich die Schreibform und -praxis gefunden, die den Widerspruch zwischen Realität und Fiktion, Literatur und Politik ein für alle Mal überwanden. 2 Der testimo-
Das Buch erschien in der Übersetzung von Tom Koenigs mit dem Untertitel »Autobiographischer Bericht aus Nicaragua« in der Reihe »Dialog Dritte Welt« des Peter Hammer Verlags, der in den achtziger und neunziger Jahren zahlreiche testimonios aus Zentralamerika veröffentlichte. Ich zitierte aus der 1988 publizierten 5. Auflage. Paradigmatisch hieß es in dem damals auch in der deutschsprachigen Lateinamerikanistik viel beachteten Essay »El cambio actual de la noción de literatura en Latinoamérica« von Carlos Rincón: » [...] la ficción no puede determinarse como lo no real. [...] realidad y ficción no están en una relación de polaridad ontològica, sino que la ficción organiza la realidad vivida para hacérnosla comunicable« (Rincón, 1978b: 30; vgl. Biermann, 1988: 128; Bunke, 1988: 101).
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nio, so hieß es in einem damals besonders in Nicaragua viel beachteten und gelesenen Handbuch der US-Autorin Margaret Randall, ermögliche es, »escribir nuestra historia como realmente ha sido, y es«, und »reconstruir la verdad« (Randall, 1983: 7, 11). Die Testimonialliteratur - insbesondere die novela testimonio - hat seit der kubanischen Revolution in der Tat tiefe Spuren in der hispanoamerikanischen Literatur im Allgemeinen hinterlassen (vgl. Garscha, 1994: 276), und im Besonderen in den Ländern, die versuchten den revolutionären Faden wieder aufzunehmen, das heißt in den Staaten, die durch eine lange Phase des bewaffneten Kampfs, des Kriegs und Bürgerkriegs gingen. Der testimonio erlebte in den siebziger und achtziger Jahren in Zentralamerika einen nie da gewesenen Aufschwung, sodass Magda Zavala in ihrer Untersuchung über den neuen zentralamerikanischen Roman noch 1990 schrieb, er sei »la tendencia subgénerica característica de Centro América« (Zavala, 1990: 380).3 In den Studien zur zentralamerikanischen Testimonialliteratur wurde insbesondere ihre strategische Einbettung (»ubicación estratégica«) in Prozesse des sozialen Wandels hervorgehoben (Delgado, 1999: 30; vgl. Beverley/Zimmerman, 1990: 172, 177f.; Zavala, 1990: 296) und gar davon gesprochen, der testimonio sei die angemessene literarische Form der so bezeichneten ruptura histórica in Zentralamerika seit Anfang der siebziger Jahre.4 Der testimonio sei das wesentlich Neue, das Kernstück der nueva novela centroamericana: » C o n la novela testimonial, Centro A m é r i c a y el Caribe h a c e n su aportación distinta al desarrollo del género en América Latina c o m o nunca antes, por el n ú m e r o y variedad de propuestas. La novedad n o v e l e s c a tiene claramente en ella otra expresión.« (ibid.: 2 9 6 , vgl. 9 8 , 9 9 , 3 8 0 )
Angesichts der Tatsache, dass der Einfluss der kubanischen Revolution und insbesondere des guevaraschen Diskurses vom »neuen Menschen« von herausragender Bedeutung für die sandinistische Bewegung waren (vgl. Mackenbach, 1995a: 87-100),5 kann es nicht überraschen, dass die Testimoniallitera-
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Ähnlich spricht Cynthia Steele für Mexiko von der »testimonial novel« und der »social and political chronicle« als »the quintessential narrative genre of the seventies and eighties« (Steele, 1992: 11). Vgl. dazu Zavala (1990: 19, 244, 246, 249), Morales (2000: 23) und das Kapitel »Bypass: Roman und Welt« der vorliegenden Arbeit. Che Guevara selbst schrieb ja einen testimonio, seinen berühmten Diario del Che en Bolivia (1968), der bis in einzelne erzähltechnische Aspekte hinein als literarisches Modell für zahlreiche andere diente, insbesondere auch für Omar Cabezas' Buch, in dem er explizit auf den Mythos Ches rekurriert, (vgl. dazu unten) Gerade auf dem kulturellen Feld bestimmte der Diskurs vom »neuen Menschen« die Politik der revolutionären Regierung. So hieß es zum Beispiel in einer Rede des Kulturministers der neuen nicaraguanischen Regierung, des Dichters Ernesto Cardenal, vor dem ersten Kongress der Kulturschaffenden in Managua am 25. Februar 1980: »Nuestra cultura que desde el 19 de julio es la cultura de la Revolución, es una cultura
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tur gerade auch im Nicaragua der achtziger Jahre einen bedeutenden Anstieg und eine große Verbreitung erfuhr, zumal Nicaragua das einzige zentralamerikanische Land blieb, in dem die herrschende Diktatur durch Waffengewalt gestürzt wurde und die Guerillabewegung die Macht übernahm. 6 Cabezas' drei Jahre nach dem Sieg der sandinistischen Revolution veröffentlichter Bericht wurde zum paradigmatischen Text einer ganzen Epoche, zum - obwohl historisch keineswegs der erste in einer schier endlosen Kette - Primus inter Pares in der literarischen Produktion des von den Sandinisten im Namen eines revolutionären Nationalismus regierten Landes: »Nicaragua öffnet sich auf diesen Seiten als das Land, das gerade geboren werden will, durch den Mund seines Sohnes Omar Cabezas.« (Galeano, in: Cabezas, 1988b: 5)
Kanonisierung des Antikanonischen Neben den zahllosen testimonios, die seit den sechziger Jahren in Lateinamerika und insbesondere in Zentralamerika publiziert wurden, ist seit der ersten begrifflichen Bestimmung der novela testimonio durch den kubanischen Autor Miguel Barnet (1969, in: Barnet, 1979) auch eine inzwischen unübersichtlich gewordene Zahl von analytischen und theoretischen Texten zum Thema erschienen.7 Polemischer Ausgangspunkt des sich seit Ende der sechziger Jahre etablierenden testimonio-Diskurses (der von Anfang an nicht auf Lateinamerika beschränkt blieb, sondern unter reger Beteiligung von lateinamerikanischen, europäischen und insbesondere US-amerikanischen Kritikern, Wissenschaftlern und Autoren gefuhrt wurde) war zum einen eine Kritik an der kulturellen Erschöpfung der westlichen Konsumgesellschaften der USA und insbesondere Westeuropas. Die Literatur dieser Gesellschaften sei in einer
para consolidar la Revolución; es una cultura para crear el hombre nuevo [...] . Y la cultura es, para transformar la realidad.« (abgedr. in Nicaráuc, Nr. 1, 1980, 163-168, hier zitiert nach Pailler, 1989: 48). Diese Orientierung blieb bis weit in die achtziger Jahre maßgebend für die Kulturpolitik der regierenden Sandinisten. (vgl. Pailler, 1989: 49f.) Von den 95 in den achtziger und neunziger Jahren erschienenen Texten, die das Korpus der vorliegenden Untersuchung bilden, sind 36 der Testimonialliteratur zuzurechnen. Vgl. »Bibliografie a) Quellen: Nicaraguanische Romane und testimonios der achtziger und neunziger Jahre«. Neben den im Folgenden zitierten Texten von Barnet (1979) und Collazos/Cortázar/Vargas Llosa (1977) sind die meisten dieser Texte ausführlich in folgenden Sammelbänden dokumentiert: Jara/Vidal (1986), Beverley/Achugar (1992) und Gugelberger (1996), ebenso in verschiedenen in den achtziger und neunziger Jahren erschienenen Nummern der Zeitschriften Casa de las Américas und Latin American Perspectives (vgl. dazu die Bibliografie in Gugelberger, 1996: 287-304); insbesondere die Arbeiten von Beverley, Casaus, Colás, Duchesne, Harlow, Jara, Pérus, Prada Oropeza, Randall, Sklodowska, Sommer, Yüdice, Zimmerman u.a. Vgl. auch die Studie von Rincón (1978), die Arbeiten der Latin American Subaltern Studies Group (1993) und die Studien indischer Autoren (insbesondere Spivak, 1988).
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Sackgasse, weil sie die Realität aus ihren Werken verbannt habe. Die »nueva novela«, so heißt es in direkter Anspielung auf den nouveau roman, ergehe sich in formalen Spielereien, »el lenguaje del hombre« sei von »la idea del hombre« und «la palabra del hombre« (Barnet, 1979: 126, vgl. 127-129) geschieden worden, (vgl. dazu Dröscher, 2001) Der westeuropäische Roman befinde sich in der Krise. Dagegen entstehe in Lateinamerika eine neue Alternative: »Paralelamente a esta crisis corre otra tendencia, también dentro de la novela de ficción, una corriente saludable, vigorosa y renovadora y es la de la literatura americana, latinoamericana y norteamericana. [...] Y esto se debe esencialmente a que América es un embrión, un mundo que ansia encarnar la realidad, que necesita crearse un sitio para su propia constitución, para su crecimiento social y cultural. Europa está fatigada. América está ávida de acción.« (Barnet, 1979: 129f.) Zum anderen zielte der frühe testimonio-Diskurs direkt gegen die Romane des boom, denen zu geringer Realitätsbezug und -gehalt sowie fehlende revolutionäre Militanz vorgeworfen wurde. Symptomatisch hieß es in einem Aufsatz des jungen Autors Oscar Collazos mit dem Titel »Encrucijada del Lenguaje«, der wie Barnets berühmter Essay im Jahr 1969 erschien: »No sería aventurado hacer aquí una proposición: la búsqueda de la novelística latinoamericana, los pasos hacia la conformación de literaturas nacionales, tiene más perspectiva en las imperfecciones que registran ciertas obras que quieren afrontar la realidad con una nueva óptica, des-intimizarla, darle cauce a un período histórico que está en plena movilidad. Tiene más perspectiva este tipo de propuestas que aquél que busca llegar a un momento final en una explosion apocalíptica del lenguaje o del instrumento verbal [...] « (Collazos/Cortázar/Vargas Llosa, 1977: 24f.; vgl. Zavala, 1990: 247) Im Mittelpunkt stand also das Problem der Aneignung außerliterarischer Realität sowie ihrer narrativen Repräsentation und Präsentation. Gefordert wurde, wie Zavala schreibt, eine neue Literatur, genauer: literarische Praxis, die sich von den traditionellen Kriterien für Literarität befreie und sich durch folgende Züge auszeichne: »la asunción de la realidad, la verosimilitud e inteligibilidad de las obras y su carácter militante revolucionario« (Zavala, 1990: 247). Unüberhörbar wurde in Collazos' Artikel auch ein nicht nur antikanonischer, sondern anti-literarischer und nationalistischer Ton angeschlagen, der in direkter Konfrontation mit dem Kosmopolitismus der nueva novela hispanoamericana das Konzept der Nationalliteratur bzw. eines (neuen) literarischen Nationalismus beschwor. Bis weit in die neunziger Jahre war diese Argumentation bestimmend für eine breite Tendenz innerhalb des testimonio-Diskurses insbe-
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sondere an den US-amerikanischen Universitäten.8 So vertrat der US-amerikanische Wissenschaftler Greg Dawes unter Rekurs auf die Argumentation Eduardo Galeanos und Beverley/Zimmermans (vgl. ausführlich Mackenbach, 1997a) noch in seiner Studie Aesthetics and Revolution. Nicaraguan Poetry, 1979-1990, die 1993 veröffentlicht wurde, die These, dass der testimonio den Realismus fur die Literatur zurückgewinne - das heißt »history, and popular characters and speaks in colloquial language« (Dawes, 1993: 170) - , was seiner Meinung nach von den Romanen des booms weitgehend außer Acht gelassen werde, indem sie das unbewusste Ich überbewerteten und auf der Autonomie der Kunst insistierten, (vgl. ibid.) Parallel dazu entstanden jedoch seit Ende der achtziger Jahre eine Reihe von kritischen Studien, die sich diesen immer dominanter werdenden Prämissen des testimonio-Diskurses entzogen und systematische Typologisierungen bzw. Klassifizierungen des testimonio vorschlugen.9 Insbesondere zielten sie auf eine Überwindung der Fixierung auf inhaltliche Aspekte bzw. die soziale Funktion derTestimonialliteratur, und es gelang ihnen, die orthodoxe und allzu offensichtlich einen Großteil der Testimonialliteratur ausschließende Definition hinter sich zu lassen, die Beverley noch 1989 vorgeschlagen hatte und die weiterhin einen Großteil der Literatur über den testimonio beherrschte: »By testimonio I mean a novel or novella-length narrative in book or pamphlet (that is, printed as opposed to acoustic) form, told in the first person by a narrator who is also a real protagonist or witness of the event he or she recounts, and whose unit of narration is usually a 'life' or a significant life experience. [...] The situation of narration in testimonio has to involve an urgency to communicate, a problem of repression, poverty, subalternity, imprisonment, struggle for survival, and so on.« (Beverley, 1989: 12f.)10 8
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Exemplarisch für diese Arbeiten stehen die Veröffentlichungen der US-Literaturwissenschaftler John Beverley und Marc Zimmerman: Beverley, 1987a, 1987b, 1989, 1995; Beverley/Zimmerman, 1990; Zimmerman, 1995. Dazu gehört als eine der umfangreichsten kritischen Studien die von Elzbieta SkJodowska (1992), die auch eine ausgezeichnete Bibliografie enthält. Vgl. auch Beverley, 1987b: 157; Beverley/Zimmerman, 1990: 173. Ähnlich definierte George Yúdice noch 1991 den testimonio als »an authentic narrative, told by a witness who is moved to narrate by the urgency of a situation (e.g., war, oppression, revolution, etc.). Emphasizing popular, oral discourse, the witness portrays his or her own experience as an agent (rather than a representative) of a collective memory and identity. Truth is summoned in the cause of denouncing a present situation of exploitation and oppression or in excorcising and setting aright official history.« (Yúdice, 1991: 17; vgl. Gugelberger, 1996: 9) In seinem Aufsatz von 1989 wies Beverley (wie auch schon in 1987a und 1987b) angesichts der Heterogenität der testimonios im Hinblick auf ihre Unterschiede in Form und Inhalt der Erzählung sowie der Art und Weise ihrer Publikation auf den vorläufigen und problematischen Charakter jeder Definition hin: » [...] any attempt to specify a generic definition for it, as I do here, should be considered at best provisional, at worst repressive« (Beverley, 1989: 13, hier zit. n. Gugelberger, 1996: 25; vgl. auch Beverley, 1987b: 153-158) Dies verhinderte nicht, dass die von ihm 1989 vorgeschlagene Formel in vielen Studien zum Thema als definitive akzeptiert wurde, (vgl.
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Die Versuche, zu einer weniger engen und nicht thematisch festgelegten Kategorisierung zu kommen, orientierten sich zunächst an textsortenspezifischen Kriterien, um sich dann zunehmend den Beziehungen der verschiedenen narrativen Instanzen im testimonio und ihrer Besonderheit im Vergleich zu anderen Prosaformen zu widmen." Für diese Kategorien lassen sich in der lateinamerikanischen, zentralamerikanischen und nicaraguanischen Literatur der siebziger, achtziger und neunziger Jahre durchaus zahlreiche Belege finden (wie ja die Klassifizierungen auch immer auf einer Untersuchung konkreter
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Cortez, 2001) In späteren Aufsätzen relativierte Beverley selbst seine Position weiter, hielt allerdings an einigen Prämissen wie der Behauptung eines höheren Realitätsgehalts des testimonio im Vergleich zu den Romanen des booms, allgemein der Polemik gegen die nueva novela hispanoamericana, der antiliterarischen und antikanonischen Subversivität und dem testimonio als einer demokratischen kulturellen Praxis fest, die eine neue Beziehung zwischen Intellektuellen und Subalternen ermögliche. Der testimonio wurde als Prototyp eines »concepto no literario de la literatura«, als »postliteratura« bezeichnet. (Beverley, 1995: 165f., vgl. auch 145, 153, 158, 161f. und Beverley, 1996: 266-286) Während Jara eine Klassifikation ausgehend von den Besonderheiten der Entstehungsbedingungen und der Inhalte des testimonios vorschlug (»Es, casi siempre, una imagen narrativizada que surge, ora de una atmósfera de represión, ansiedad y angustia, ora en momentos de exaltación heroica, en los avatares de la organización guerrillera, en el peligro de la lucha armada. Más que una interpretación de la realidad esta imagen es, ella misma, una huella de lo real ... «, Jara, 1986: 2; vgl. Zavala, 1990: 252), versuchten andere zu einer solchen zu kommen, indem sie die Nähe bzw. Distanz des testimonios zu anderen, traditionell anerkannten, literarischen Gattungen bzw. Subgattungen untersuchten und den testimonio als eigene, unabhängige Gattung gegenüber dem Roman, Erinnerungen, dem Tagebuch, der Chronik, der Dokumentation usw. definierten, (vgl. zum Beispiel Casaus, 1986b: 331; Prada Oropeza, 1986: 13; Pérus, 1989: 135f.; s. Zavala, 1990: 252f., 254, 256, 257) Bunke (1988: 84ff.) unterschied auf der Basis textsortenspezifischer Kriterien vier unterschiedliche Typen des testimonios: den journalistischen, den autobiografischen, den ethnografischen und den multiplen. Karlheinrich Biermann (1988: 131-140) schlug in einem Essay zur Dokumentarliteratur in Zentralamerika eine Differenzierung in drei Kategorien vor: 1. der autobiografische Bericht, 2. die soziologisch-ethnografische Dokumentation, 3. der auktoriale Bericht, ohne zum Beispiel in der dritten Kategorie zwischen Texten propagandistischen, journalistischen und literarischen Charakters zu differenzieren. Sklodowska (1992: 98) spricht von »testimonios inmediatos (directos)« und »testimonios mediatos organizados por un editor«, (vgl. Craft, 1997: 23) Beverley/Zimmerman (1990: 178) unterschieden vom eigentlichen testimonio (in der zitierten Definition Beverleys) drei Typen von novelas testimonio: 1. »pseudotestimonies«, die fiktionalen, das heißt literarischen, Charakter haben, 2. Romane, die im Stil der Erzählliteratur des booms geschrieben sind, aber historisch authentische, »testimoníale« Stimmen einschließen, 3. Erzähltexte, die zwischen dem testimonio und dem auktorialen bzw. autobiografischen Roman angesiedelt sind. (vgl. Craft, 1997: 23) Paschen (1993: 44, 47, 48, 50) spricht von »novelastestimonio dialogadas«, »novelas-testimonio monológicas«, »montajes y voces múltiples« und metafiktionalen novelas testimonio, (vgl. dazu auch Holstein, 1998: 11-13) Zavala (1990: 380, vgl. 295) zieht eine Trennlinie zwischen »testimonios« als «relatos documentales sobre grupos de personas que no tienen posibilidad de expresión escrita ni reconocimiento en cuanto a voz válida que interpreta su realidad« auf der einen Seite und der »literatura testimonial« als »la recreación de los testimonios a partir de convenciones literarias explícitas o implícitas, sean conscientes o no para el autor« auf der anderen. Morales (2000: 23, 26-28) griff diesen Vorschlag auf und differenziert zwischen dem testimonio »escrito por su protagonista con o
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Texte beruhen). Allerdings ist Sklodowska zuzustimmen, die resümiert: »Despite all the critical attention it has received, testimonio remains undefinied.« (Sklodowska, 1996: 84) Bis heute hat sich trotz der zahlreichen einschlägigen Studien keine allgemein akzeptierte Definition des testimonio durchgesetzt, (vgl. Cortez, 2001) 12 Das hängt ohne Zweifel mit dem heterogenen Charakter des testimonios selbst zusammen, was Magda Zavala (1990: 253) von »la naturaleza titubeante misma de la escritura y de la subordinación de las realidades textuales a las opiniones o teorizaciones de los oradores« und Mario Roberto Morales (2000: 28) von einem »dispositivo narrativo fronterizo entre la verdad y la alucinación« sprechen ließ. Dies verhinderte allerdings nicht, dass sich in dem in den siebziger und vor allem achtziger Jahren insbesondere das literarische Feld Zentralamerikas weitgehend dominierenden testimonio-Diskurs eine neue Kanonisierung durchsetzte, die sich in einer Reihe von behaupteten fundamentalen Charakteristika des testimonio verfestigte. Dazu gehören in erster Linie die Repräsentativität des Individuellen für das Kollektive/die Ethnie/das Volk/die Nation, der Rekurs auf die kollektive/nationale Geschichte, der Prozess der Bewusstwerdung und des Sichäußerns der subalternen Stimmen, das Verschwinden des
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sin intereses literarios« und dem »escrito por un escritor profesional (o varios de ellos) decantando la versión original del testimoniante«, bzw. zwischen dem testimonio »como documento« und der novela testimonio oder »testinovela«. Diesen von ihm geprägten Neologismus definiert er folgendermaßen, ohne damit etwas gänzlich Neues gegenüber anderen Definitionsversuchen zu bezeichnen: »La testinovela es un tipo específico de novela que se estructura a base de testimonios y que constituye una creación colectiva en la que el escritor profesional actúa como facilitador y ordenador - deliberado e interesado - de las voces y de sus verdades.« (ibid.: 27) Der in Fußnote 11 dargestellten Heterogenität der Definitionsversuche entsprechen die unterschiedlichen Bezeichnungen, die für das hier untersuchte literarische Phänomen verwendet werden. Neben dem allgemeinsten Begriff testimonio (der auf eine Geschichte verweist, die bis in die Kolonialzeit und zur Conquista zurückgeht; vgl. dazu Lienhard, 1991; Prada Oropeza, 1986; Craft, 1997: 29f., 33f., 51, 54f.; Zavala, 1990: 2 4 9 f ) , wurden Bezeichnungen wie »novela testimonio« (Barnet, 1979), »literatura testimonial« (Zavala, 1990) u.a. verwendet. Im Englischen wurde neben der Verwendung des spanischen Begriffs testimonio von »resistance literature« (Harlow, 1987), »novels of testimony and resistance« und »testimonial novels« (Craft, 1997) sowie gar von »icon of sal vational discourse« bzw. »sal vational genre« (Gugelberger, 1996) gesprochen. Während Biermann (1988) für Zentralamerika die Bezeichnung »Dokumentarliteratur« als Übersetzung für »literatura testimonial« vorschlug (nicht ohne auf ihre Problematik hinzuweisen), allerdings auch die Benennung »Testimonialliteratur« verwendet, spricht Bunke (1988) in Bezug auf Kuba von »testimonio-Literatur« und Franzbach (1984) von »Memoiren- und Testimonio-Literatur«. In der vorliegenden Arbeit verwende ich die beiden Begriffe testimonio und Testimonialliteratur aus pragmatischen und konzeptionellen Gründen synonym. Testimonialliteratur scheint mir als deutsche Übersetzung weniger sperrig als andere Varianten, konzeptionell verweist sie auf die Einschreibung des testimonio ins literarische Feld (auch im engeren Sinne; vgl. dazu weiter unten in diesem Kapitel) und hat gegenüber der Bezeichnung »Dokumentarliteratur« den Vorteil, sie nicht ausschließlich in die Nähe reiner Dokumentartexte zu rücken und den spanischen Begriff noch in der deutschen Übersetzung aufscheinen zu lassen.
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Autors als Erzählinstanz bzw. das symbiotische Verhältnis von testimoniante und Autor, der antikanonische Charakter und der nicht literarische bzw. antiliterarische Charakter des testimonio. (vgl. auch Delgado, 1999: 28-31)13 In anderen Worten gesagt: Offensichtlich verwandelte sich im literarischen Diskurs der siebziger und achtziger Jahre in Zentralamerika der antikanonische Impetus des testimonio seinerseits in einen neuen Kanon.
Neue Lektüre und alte Fragen, Lektüre des Alten und neue Fragen Alle diese Kategorisierungen werfen Probleme auf, die für die vorliegende Studie von vorrangiger Bedeutung sind und deren Kern die Beziehung zwischen (außerliterarischer) Wirklichkeit und Fiktion ist. Im zentralamerikanischen bzw. nicaraguanischen Kontext gehören dazu insbesondere das Problem der Korrespondenz bzw. der mimetischen Fiktion (vgl. Dill et al., 1994), das Verhältnis von Historiografie und Literatur, die Beziehung von testimoniante und Autor sowie die von testimonio und traditionellem literarischem Kanon. In ihrem bereits zitierten, 1983 in Costa Rica veröffentlichten, Handbuch Testimonios, das sich im Wesentlichen technischen, organisatorischen und redaktionellen Fragen der Textproduktion widmet, sprach Margaret Randall dem testimonio eine Fähigkeit zu, die ihn von traditionellen Formen der Literatur unterscheide: »la oportunidad - repleta de privilegio y de responsabilidad - de escribir la verdadera historia de nuestro tiempo« (Randall, 1983: 7). Diese enge Verflechtung von testimonio und Historiografie ist zu einem fixen Bestandteil der zahlreichen Aufsätze und Studien zur zentralamerikanischen Testimonialliteratur geworden, in denen argumentiert wird, der testimonio »soporta las pruebas de veredicciön, se refiere a acontecimientos que han ocurrido, en sentido estricto, en la vida social, y por lo tanto, tienen existencia
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Bereits im Jahr 1970 hatte die kubanische Casa de las Américas in ihre jährlichen Literaturpreise auch einen in der Sparte testimonio aufgenommen. Die damals festgelegten Ausschreibungsrichtlinien, die in der Folgezeit im Wesentlichen unverändert blieben, waren relativ allgemein und flexibel gehalten und verzichteten auf eine sehr enge formale Festlegung: »Los libros de testimonio documentarán, de fuente directa, un aspecto de la realidad [...] . Se entiende por fuente directa el conocimiento de los hechos por el autor, o la recopilación, por éste, de relatos o constancias obtenidas de los protagonistas o de testigos idóneos. En ambos casos, es indispensable la documentación fidedigna, que puede ser escrita y/o gráfica. La forma queda a discreción del autor, pero la calidad literaria es también indispensable.« (Bases 1983 Premio Casa de las Américas, 1982: 189; vgl. Bunke, 1988: 83f.; Franzbach, 1984: 152; Zavala, 1990: 249; Craft, 1997: 16f.) Die Kanonisierung ist also ein Ergebnis des Diskurses über den testimonio, der insbesondere in den siebziger und achtziger Jahren - nach der Veröffentlichung wichtiger Texte der Testimonialliteratur - einsetzte und zunehmend das literarische Feld in Lateinamerika bestimmte. Für diese Kanonisierung spielte, wie bereits angedeutet, der Diskurs innerhalb der linken universitären Intelligenz in den USA eine entscheidende Rolle, (vgl. dazu Gugelberger, 1996: 1-19 und weiter unten in diesem Kapitel)
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fuera del discurso« (Zavala, 1990: 250f., vgl. 255). Seine Funktion bestehe vorrangig in der Wiedergewinnung der kollektiven Erinnerung und der Übermittlung der verborgenen und unterdrückten Geschichte, (vgl. ibid.: 260) Reklamiert wurde sein subversiver Charakter als »documento metafórico de la versión extraoficial, comúnmente silenciada por los organismos oficiales de la historia« (Narváez, 2000: 114), als Dokument der »historia escrita desde abajo« (Craft, 2000: 82; vgl. Zavala, 1990: 260, 265; Narváez, 2000: 118). Folgerichtig wurde zum einen von einem doppelten »contrato de veracidad« (Craft, 2000: 81) gesprochen: a) zwischen dem testimoniante und dem Autor/Herausgeber, der in der »anulación del ego del escritor y su identificación incondicional con los protagonistas« (Narváez, 2000: 118) resultiere, b) zwischen »el testigo a través de su agente (o gestor) y el lector« (Craft, 2000: 81): »El lector sabe que no está sólo frente a un producto de la imaginación, sino ante una forma de registro de la historia real.« (Zavala, 1990:259f.) 14 Zum anderen wurde als Hauptfunktion der zeitgenössischen Testimonialliteratur die Selbstrepräsentation des marginalisierten, unterdrückten Subjekts, des Subalternen, des Anderen bezeichnet, (vgl. Craft, 2000: 82)'5 Damit verbunden war schließlich der Hinweis auf die Einbeziehung der oralen Tradition, der Volkssprache in all ihren soziolektalen und regionalen Varianten. Gerade auch in dieser Hinsicht breche der testimonio mit den Normen eines traditionellen Konzeptes von Literatur, sprenge er den literarischen Kanon, indem er auf mündliche Traditionen der Volkskultur rekurriere, (vgl. Zavala, 1990: 291, 387f.)16 Ohne Zweifel hatte dieser Diskurs im zentralamerikanischen Kontext, der
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In Bezug auf diese Funktion, einem anonymen Volk Stimme und Namen zu verleihen (vgl. Beverley, 1987b: 165f.), wurde behauptet, im testimonio werde eine Art von »convivencia y dependencia mutua« (ibid.: 165) hergestellt, eine »relación simbiótica entre locutor e interlocutor« (Vicki Román-Lagunas, 2000: 107), das heißt zwischen dem testimoniante (Repräsentant der subalternen Klassen) und dem Schriftsteller, Herausgeber bzw. Interviewer (Angehöriger der Mittel- bzw. Oberschicht). Dies hat sich zu einer Orthodoxie verfestigt, die von einer völligen Unterordnung und Identifikation des für die Sache der Unterdrückten engagierten fortschrittlichen Intellektuellen, der als Herausgeber bzw. Autor des testimonio fungiert, mit dem testimoniante und seinen Interessen ausgeht. Paradigmatisch schreibt Magda Zavala in Bezug auf die novela testimonio des salvadorianischen Autors Manlio Argueta, Un día en la vida (1982, San José: EDUCA): » [...] el mundo de la novela capta únicamente la perspectiva de los pobladores y sobre ella se detiene la representación del mundo. Los grandes ausentes de la 'novela de la dictadura', entretenida en la figuración de los personajes poderosos, sus alianzas y traiciones, son los grupos populares; estos en cambio ocupan en la novela testimonial todo el espacio del texto.« (Zavala, 1990: 263) Zavala und Craft (2000: 81) weisen in diesem Zusammenhang auf die historischen Wurzeln des zeitgenössischen zentralamerikanischen testimonio hin: die cuentos de camino des »narrador popular, el 'cuentero'«, aber auch des »'cuenta-cuentos', el fabulador espontáneo comunitario« (Zavala, 1990: 291) und »una forma jurídica antigua [...] desde los tiempos de la conquista, cuando se usaba el testimonio como un documento legal en el que un testigo/solicitante reclamaba lo que se le debía« (Craft, 2000: 81). Diese Traditionen seien im zentralamerikani-
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insbesondere in Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua von der jahrzehntelangen Herrschaft von Militärdiktaturen und der damit einhergehenden systematischen Unterdrückung bzw. Auslöschung der nicht offiziellen Geschichte bestimmt war, per se subversiven Charakter.17 Für Nicaragua ging er allerdings noch einen Schritt weiter, auch hier vorrangig ausgehend von den Arbeiten US-amerikanischer Wissenschaftler. In ihrer viel beachteten Studie Literature and Politics in the Central American Revolutions schrieben die beiden US-Literaturwissenschaftler John Beverley und Marc Zimmerman den testimonio in einen Klassendiskurs ein. Er sei »not only a form of representation of popular ideologies and cultural forms; it is also a means of populardemocratic cultural practice, closely bound up with the same motivations that produce insurgency at the economic and political levels« (Beverley/Zimmerman, 1990: 172, vgl. 97; vgl. Zavala, 1990: 257; Beverley, 1989: 23-41, bes. 35) In dieser Konzeption wurde der testimonio schließlich nicht nur als ein direkter und authentischer Ausdruck der Arbeiterklasse und der Bauern gesehen (vgl. Dawes, 1993: 170), sondern auch als eine antiliterarische Gattung bzw. Praxis, die den Rahmen der bürgerlichen Literatur hinter sich lasse: » [...] es evidente [...] que constituye un nuevo género literario posnovelesco. [...] Si la novela tuvo una relación especial con el desarrollo de la burguesía europea y con el imperialismo, el testimonio es una de las formas en que podemos ver y participar a la vez en la cultura de un proletariado mundial en su época de surgimiento [...] « (Beverley, 1987b: 168)'» Dieser Konzeption galten schließlich gar die revolutionären Parolen an den Häuserwänden als höhere Form kultureller Praxis: »In a sense, then, graffiti writers can mark the first step away from bourgeois art (and bourgeois artists) because they do not operate within the traditional literary, economic, and political institutions.« (Dawes, 1993: 186)
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sehen Kontext der sechziger, siebziger und achtziger Jahre - das heißt in einer Situation massiver Repression und Unterdrückung - wiederbelebt worden, (vgl. ibid. und Zavala, 1990: 249f.). Vgl. zu diesem Thema auch den Aufsatz »Murmullos y ecos de voces enterradas. Acerca de los testimonios indígenas coloniales« von Martin Lienhard (1991). Vgl. dazu ausführlich das Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion« der vorliegenden Arbeit. Ähnlich argumentierte bereits Barnet in seinem Aufsatz »Testimonio y comunicación: Una vía hacia la identidad« (1983): »La novela-testimonio al [...] reivindicar los valores que estaban escamoteados y revelar la verdadera identidad social del pueblo, ha contribuido al conocimiento y adaptación de la psiquis colectiva cubana a la idea de lo auténtico, de lo verdadero, de lo esencial. / La historia ha sido interpretada por primera vez en función de la lucha de clases y no cuestionada superficialmente o descrita en planes convencionales o en base a mitos y esquemas del pasado burgués.« (zit. n. Barnet, 1986: 308f., vgl. 312f.; der Aufsatz ist auch abgedruckt in Barnet, 1983: 43-60)
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Die Texte der Testimonialliteratur wurden schließlich als integrierender Bestandteil des Widerstandes gegen die Militärdiktaturen verstanden: »No sólo relatan estrategias de resistencia; son en sí mismas una de estas estrategias.« (Harlow, 1999: 125) Der testimonio wurde in Nicaragua (neben den in den Talleres de Poesia produzierten Texten) zu der zentralen kulturellen Praxis, die sich unmittelbar mit dem Projekt der nationalen Befreiung verband, er wurde kanonisiert als Ausdruck des revolutionären Nationalismus auf dem literarischen Feld, als dominante Form eines »literarischen Nationalismus«." In einem 1997 erschienenen Aufsatz mit dem Titel »Hacia una estética del testimonio« kritisierte die guatemaltekische Literaturwissenschaftlerin Maria del Carmen Meléndez de Alonzo einige Aspekte dieser Kanonisierung und Orthodoxie. Insbesondere verweist sie auf den engen Zusammenhang zwischen dem plötzlichen Aufschwung der Testimonialliteratur in Zentralamerika und der Verschärfung des Konfliktes zwischen Staat und Guerilla vor allem in Ländern wie Nicaragua und Guatemala und attackiert den ihr zugrunde liegenden operativen LiteraturbegrifF, der im Dienste politisch definierter Ziele der Guerilla stehe. Der herrschende literarische Diskurs habe einen Begriff des testimonio als engagierter Literatur im Gegensatz zur »Unterhaltungs«-Literatur favorisiert und den Ausschluss all dessen betrieben, was diesen Kategorien nicht entsprochen habe. (vgl. Meléndez de Alonzo, 1997: 53) In der Testimonialliteratur werde das Individuum ausgelöscht, »para que una colectividad se asome al mundo en una obra que busca destinatario« (ibid.). Für dieses Verständnis von testimonio sieht sie vier Charakteristiken als bestimmend an: 1) »anonadamiento del yo y el simbolismo«, 2) »exaltación de la mística rebelde«, 3) »Información por tamiz«, und 4) »inserción en la ecología« (ibid.: 56-62), und sie kommt zu dem Schluss: » [...] el modelo se ha agotado ya en sí mismo, porque ya no es nuevo y porque -en cierta medida- los conflictos armados en Centroamérica han finalizado. Su persistencia radicará, pues, en la capacidad de autorenovación cualitativa y adaptación a los cambios socio-políticos y económicos globales.« (ibid.: 62) In seinem bereits zitierten Aufsatz mit dem Titel »Proceso cultural y fronteras del testimonio nicaragüense« schließlich stellte der nicaraguanische Autor und Literaturwissenschaftler Leonel Delgado überzeugend dar, dass diese Kanonisierung der siebziger und achtziger Jahre in keiner Weise der Diversität des testimonio in Nicaragua gerecht wird. Er weist auf die Tradition des testimonio in der nationalen Literatur (teilweise bereits vor der kubanischen Revolution) hin, hebt seine enge Verbindung mit dem jeweiligen literarischen bzw. intellektuellen Diskurs der Epoche hervor und kritisiert die widersprüchliche Beziehung zwischen Subalternität und politischen und/oder kulturellen Eliten, "
Vgl. dazu das Kapitel »Bypass: Roman und Welt« der vorliegenden Arbeit.
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zum Beispiel den vorherrschenden männlichen (genauer: machistischen) Charakter des Diskurses vom »neuen Menschen«, (vgl. Delgado, 1999: 3139)20
Die dargestellte Kanonisierung entspricht also in keiner Weise der Realität der Testimonialliteratur in Nicaragua. Eine neue, kritische Lektüre des testimonio ist notwendig, die seiner ganzen Vielfalt und Widersprüchlichkeit gerecht wird und sich insbesondere den Beziehungen zwischen außerliterarischer Wirklichkeit und ihrer Repräsentation und narrativen Präsentation im testimonio widmet. Während eine solche kritische Revision im Falle des kubanischen und guatemaltekischen testimonio schon vor Jahren begonnen hat,2' haben sich die bisher veröffentlichten Studien zum testimonio in Nicaragua von wenigen Ausnahmen abgesehen - nicht systematisch mit der hier dargestellten Problemstellung beschäftigt.22 Diese neue Lektüre wird neue Antworten auf alte Fragen geben, die Lektüre des Alten wird neue Fragen aufwerfen.
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Er verweist auf folgende Texte: Itinerario de Little Corri Island von Manolo Cuadra (1937; in: Cuadra, 1989), Mi rebelión (La dictadura de los Somoza) von Luis G. Cardenal (1961), Diario de un preso von Pedro Joaquín Chamorro Cardenal (1963) und Maldito país von José Román (1979). (vgl. Delgado, 1999: 31-34); vgl. auch Holstein (1998: 60), der zusätzlich Solo en la compañía (1989) und Almidón (1945) von Manolo Cuadra anfuhrt. Seit der Journalist Larry Rohter in der New York Times im Dezember 1998 die kurz bevorstehende Veröffentlichung einer Untersuchung des US-amerikanischen Anthropologen David Stoll über Me llamo Rigoberto Menchú y así me nació la conciencia von Elizabeth Burgos (1983, La Habana: Casa de las Américas) ankündigte, in der die guatemaltekische Friedensnobelpreisträgerin (1992) der Fälschung bezichtigt wurde, hat sich eine noch immer anhaltende polemische Auseinandersetzung dazu entwickelt. Sie kreist vor allem um die Frage der politischen Legitimation des bewaffneten Guerillakampfes in Guatemala in den siebziger und achtziger Jahren, berührt aber auch Probleme der Darstellung von außerliterarischer Wirklichkeit in Rigoberta Menchús Buch, einem der bedeutendsten Texte der zentralamerikanischen Testimoniallliteratur. (vgl. Stoll, 1999; Rohter, 1998) Auch zu Miguel Barnets Biografia de un cimarrón (1966, La Habana), die als der »Gründertext« des zeitgenössischen lateinamerikanischen testimonios verstanden werden kann, hat sich seit der Veröffentlichung der Ergebnisse der Recherchen des deutschen Historikers Michael Zeuske in kubanischen Archiven im Jahr 1997 eine Debatte entwickelt, die sich vor allem auf die Lücken in der Geschichte des testimonios Miguel Barnets über den entlaufenen schwarzen Sklaven Esteban Montejo konzentriert, aber auch literarästhetische Fragen zum Inhalt hat. (vgl. Zeuske, 1997a und 1997b; Walter, 2000) Die wenigen Ausnahmen sind neben dem zitierten Aufsatz Delgados im Wesentlichen die Arbeiten von Yúdice (1986), Rodríguez ( 1994 und 1996), Mackenbach (2001 c) sowie der bisher unveröffentlichte Essay von Mary Kathryn Addis: »Re-presentaciones femeninas: De La mujer habitada a Sofia de los presagios, de Gioconda Belli« (1995b), der auf dem III Congreso Internacional de Literatura Centroamericana (CILCA) im Jahr 1995 in Guatemala als Vortrag präsentiert wurde.
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Omar Cabezas: Die Etablierung des sandinistischen testimonios Als im Jahr 1982 Omar Cabezas für sein Buch La montaña es algo más que una inmensa estepa verde (1982) den »Premio Casa de las Américas« in der Sparte testimonio erhielt, schien eine neue Epoche in der Geschichte der nicaraguanischen Literatur zu beginnen. Das Buch stelle eine neue Dimension der nicaraguanischen Literatur dar, schrieb enthusiastisch einer der Gründerväter der modernen nicaraguanischen Literatur, der ehemals fuhrende Vertreter der nicaraguanischen Avantgarde José Coronel Urtecho. (vgl. Coronel Urtecho, 1994: 120) Es wurde einerseits geradezu hymnisch als Werk bezeichnet, das im Kontext der zahllosen Texte der Testimonialliteratur der Epoche in Lateinamerika in authentischster Weise die guevaraschen Ideen wieder aufgreife und ihnen zusätzliche Größe verleihe, sich also unverfälscht in die kubanische Tradition des testimonio stelle, (vgl. Pérez Valdés, 1983: 147) Andererseits wurde es als genuiner Ausdruck des Nicaraguanischen gesehen, das seine Originalität aus der unsterblichen und allgegenwärtigen oralen Erzähltradition beziehe, (vgl. Coronel Urtecho, 1994: 128; Pérez Valdés, 1983: 150) In der Tat, allein im Hinblick auf seine Verbreitung eröffnete das Buch der nicaraguanischen Literatur neue Horizonte: Bereits im Jahr 1982 erschien es gleichzeitig in drei verschiedenen Verlagen (Casa de las Américas, Siglo XXI und Editorial Nueva Nicaragua), es folgten weitere zahllose Auflagen und Ausgaben in anderen Verlagen sowie Übersetzungen. Es war mithin das am häufigsten verlegte und sehr wahrscheinlich meistgelesene nicaraguanische Buch der achtziger Jahre.23 Gleichzeitig galt es im Urteil der Literaturkritik und -Wissenschaft sowie vieler renommierter lateinamerikanischer Autoren (unter ihnen Julio Cortázar, Gabriel García Márquez und Eduardo Galeano) als eines der bedeutendsten Werke der zeitgenössischen zentralamerikanischen bzw. lateinamerikanischen Testimonialliteratur, neben Miguel Mármol (1972) von Roque Dalton (El Salvador), Dias de la selva (1980) von Mario Payeras (Guatemala), Un día en la vida (1982) von Manlio Argueta (El Salvador) und Me llamo Rigoberto Menchú y así me nació la conciencia (1983) von Elizabeth Burgos (Guatemala) sowie Huillca: habla un campesino peruano (1974) von Hugo Neira Samanez und Si me permiten hablar... Testimonio de Domitila, una mujer des las minas de Bolivia (1977) von Moema Viezzer. In den zeitgenössischen literarischen Diskurs ging es mithin als Gründertext des nicaraguanischen, sandinistischen testimonios ein, wie es exemplarisch in einem bereits erwähnten Artikel in der vom nicaraguanischen Kulturministerium herausgegebenen Zeitschrift Nicaráuac hieß: »Un texto de esta índole reafirma lo que es de sobra conocido: la existencia de 23
Wellinga ( 1994: 84) schreibt, allein der Verlag Editorial Nueva Nicaragua habe 100000 Exemplare des Buches verkauft, ohne allerdings Zeiträume zu nennen, (vgl. Holstein, 1998: 62)
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un nuevo estilo q u e unifica en lo general, reúne en lo revolucionario nicaragüense, se identifica estéticamente sandinista e incorpora lo mejor d e la literatura nacional. L o testimonial en Omar Cabezas es razón histórica y estética de su m o m e n t o . « (Pérez Valdés, 1983: 160) 24
Geschrieben als »autobiographischer Bericht« (Biermann, 1988: 131) erzählt der Text von der ersten Politisierung des Protagonisten im Kampf gegen die Diktatur der Somozas im León der sechziger Jahre, seinem Eintritt in den FSLN, den politischen Erfahrungen im studentischen Kampf und im städtischen Untergrund, dann als Guerillero, der in die Berge geht. Das Buch ist in der Tat von einer Reihe bedeutender Charakteristika geprägt, wie sie für die Testimonialliteratur im Zentralamerika der siebziger und achtziger Jahre als typisch analysiert wurden: Repräsentativität des Individuellen fiir das Volk, eine Klasse, eine Ethnie, die Nation, Rekurs auf die Tradition der Nationalgeschichte, das Sich-zu-Wort-Melden der subalternen Stimmen, Rückgriff auf religiöse, messianische und mythische Elemente, antikanonischer und antiliterarischer Charakter. Schon im zweiten Kapitel schreibt es sich ausdrücklich in den politisch-literarischen Diskurs ein, wie er von der kubanischen Revolution ausging. »Hay que ser como el Che ... «, wie der Che müsse man sein, und um in Nicaragua wie der Che zu sein, »hay que ser sandinista. Es el único camino en Nicaragua para la revolución« (25).25 Allerdings weist Cabezas' Text im Gegensatz zu dieser eindeutigen politisch-ideologischen Bezugnahme in literarischer Hinsicht bedeutende Unterschiede zur kanonisierten Konzeption des testimonios auf. Geschildert wird der Entwicklungs- und Reifeprozess des Protagonisten im Verlauf von etwa sieben Jahren, beginnend mit seinem Eintritt in den organisierten Widerstand 1968 bis zum Jahr 1975, wobei seine Eingliederung (am 2. Juli 1974) und seine Tätigkeit in der Guerilla in den Bergen im Norden Nicaraguas bis zum Jahr 1975 (also insgesamt eine Zeitspanne von etwa einem Jahr) den breitesten Raum einnehmen. Er erfährt diese Entwicklung als einen Reifeprozess von den ersten noch unbewussten und ängstlichen Zusammenstößen mit der verhassten Nationalgarde - »Yo tenía miedo a la sangre« (11) heißt es zu Beginn des Buches in deutlicher Anspielung auf Sergio Ramírez' 24
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Vgl. dazu Zavala, 1990: 245, 276f.; Pérez Valdés, 1983: 147f. ; Biermann, 1988: 140, 142. Cabezas spricht in dem 1993 erschienenen Text »Testimonio de mis testimonios (sobre preguntas de Edward Waters Hood)« von »casi ciento veinte ediciones« und »dieciséis, o quince lenguas, en veintitanto países« (Cabezas, 1993: 112) und berichtet von Einladungen zu internationalen Schriftstellertagungen, Gesprächen mit bekannten Autoren und von den Umständen seiner Teilnahme an dem Wettbewerb der Casa de las Américas, zu der er offensichtlich von Ernesto Cardenal und Tomás Borge gedrängt wurde, (vgl. ibid.: 112f., 116) Ich zitiere hier und im Folgenden nach der 1987 bei Editorial Nueva Nicaragua erschienenen vierten Auflage von Cabezas, 1982. Zitate aus den Quellentexten, die in Teil a) der Bibliografie verzeichnet sind, werden (wie in der Einleitung des vorliegenden Buches erklärt) nur mit Seitenzahlen in Klammern angegeben.
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Roman ¿Te dio miedo la sangre? (1977) - bis hin zur bewussten Entscheidung, den bewaffneten Kampf gegen die Diktatur bis zum Ende zu fuhren »Patria libre o morir«, so die mehrfach beschworene Parole und zur Überzeugung, Teil der bewaffneten Avantgarde zu sein: »... ya nos sentimos como viejos guerrilleros [...] y eso fue poco: sentíamos como que nos hubiéramos parido nosotros mismos, como que todo empezaba ahí [...] « (116) Diese Entwicklung wird unter Rekurs auf christliche religiöse Traditionen und Metaphern (der Aufstieg in die Berge, um einen höheren Grad der moralischen Reinheit zu erlangen, das Selbstopfer als höchster Grad der Askese; vgl. Zavala, 1990: bes. 285-287), wie sie etwa bei den spanischen Mystikern des 16. Jahrhunderts verbreitet waren, geschildert, die sich mit dem modernen Mythos von der Weiterexistenz des Kampfes Sandinos vermischen, verbunden mit dem guevaraschen Diskurs vom »neuen Menschen«, wie er seit dem Sieg der kubanischen Revolution zum politisch-ideologisch dominierenden Diskurs in den lateinamerikanischen Guerillabewegungen wurde. Erst die Abhärtung und Stählung des verweichlichten Städters (und Intellektuellen) durch die Erfahrung der Entbehrungen in den Bergen und die Disziplin des militärischen Trainings (»El entrenamiento militar tiene que ver mucho con esto que estamos hablando ... «, 107) lassen den Protagonisten zu einem bewussten Individuum und gleichzeitig zum Repräsentanten eines für die Verwirklichung transzendentaler Ziele kämpfenden Kollektivs werden: »'Algo te queremos decir, y es que el Eugenio que entró, no es el Eugenio que está bajando ... « (164) Deutlich zeigen sich hier bei Cabezas Züge einer Sozialromantik, wie sie für die lateinamerikanischen Guerillabewegungen, und besonders für den FSLN, als typisch bezeichnet wurden (vgl. Cancino Troncoso, 1984; Mackenbach, 1995a: 134, 223); erst in einem Reinigungsprozess in den Bergen/auf dem Land können die städtischen Intellektuellen sich »proletarisieren«, zum Teil der subalternen Klassen werden: »La montaña [...] es una gran escuela, adonde formamos hombres también, y luego inyectamos la ciudad de hombres sólidos que ayuden a desarrollar la ciudad.« (164). Die historisch fundierte Identität wird endgültig erreicht, als der Protagonist auf den alten Don Leandro trifft, einen ehemaligen Kämpfer in Sandinos Guerillaheer der zwanziger und dreißiger Jahre. Das Buch schließt mit dieser Konstruktion der Kontinuität des Kampfes im Zusammentreffen des Alten mit dem Jungen. In dieser Konstruktion findet der Protagonist nicht nur seine individuelle Identität, sie basiert auf der endlich wieder entdeckten Identität des nicaraguanischen Volkes, der nicaraguanischen Nation, die sich aus dem Kampf gegen die US-Invasoren und ihre lokalen Statthalter speist: » [...] que ésa era la historia del pueblo de Nicaragua; ellos tenían una historia sandinista, una historia de rebelión contra la explotación, contra el dominio norteamericano [...], tenían un sentimiento histórico de rebeldía adquirido de su enfrentamiento con la ocupación norteamericana« (251). Schon zu Beginn des Buches heißt es: »Definitivamente, el pueblo y el frente siempre pensaron
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igual«. (27) Die Widmung lautet: »A la Dirección Nacional / del Frente Sandinista / de Liberación Nacional« (7). Durchweg ist Cabezas' Text als authentisches Dokument des nicht (literarisch) Gebildeten, in diesem Sinne Subalternen, rezipiert worden, das unverfälscht die Stimme des Volkes zum Ausdruck bringe, wozu er selbst wiederholt durch Aussagen in Paratexten beitrug, sein Buch sei ohne literarische Ansprüche geschrieben, er selbst habe davor keinerlei literarische Lese- und Schreiberfahrung gehabt.26 Coronel Urtecho gar verglich ihn mit Bernal Díaz de Castillo, wie er sei Cabezas »otro soldado escritor, cuya gracia consiste en saber escribir sin saberlo, es decir, en hablar [...] « (Coronel Urtecho, 1994: 112), sein Stil sei es, nicht zu wissen, was Stil ist (vgl. ibid.: 124). Wie Delgado kritisierte, ignoriert dies zum einen die Entstehungsbedingungen des Textes, der zunächst nicht als Buchpublikation gedacht war, aus einer Reihe von auf Tonkassette aufgezeichneten Interviews, die später zur Vorlage bei dem kubanischen Literaturwettbewerb bearbeitet und von dem schon damals bekannten nicaraguanischen Schriftsteller und Politiker Sergio Ramírez korrigiert wurden. Schon diese Produktionsbedingungen lassen den Text als komplexes und mehrfach vermitteltes Gebilde erscheinen, das zwar wie ein langer Monolog daherkommt, aber auf der Grundlage von Dialogen entstand und zum Schluss vom Autor/testimoniante sowie Dritten bearbeitet wurde.27 Dies 26
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Zavala (1990: 276) zitiert den Autor nach dem Umschlagtext der vierten bei Siglo XXI 1985 erschienenen Ausgabe: »Estas páginas, fueron concebidas sin esquema, sin pretensiones literarias: fueron hechas para vaciarme'.« In dem bereits zitierten Text »Testimonio de mis testimonios« führt Cabezas, offen mit seiner literarischen Unerfahrenheit kokettierend, aus: »Entonces, cuando yo me fui a !a montaña, yo nada más había leído textos políticos, sociología y derecho. De forma que cuando yo hice mi libro en 1982 o 1983, por ahí, yo nada más había leído un solo libro de literatura, que fue el Quijote de la Mancha, de Miguel de Cervantes. Y que lo había leído, porque me lo habían impuesto como texto en el primer año en la universidad. [...] Entonces, no podemos hablar, pues, que yo tenga literariamente, una influencia.« (Cabezas, 1993: 11 lf.) Erst nach der Veröffentlichung seines ersten Buches und nachdem er bei Treffen mit Schriftstellern, Kritikern usw. immer wieder nach literarischen Vorbildern gefragt worden sei, habe er unter diesem Druck angefangen, literarische Texte zu lesen (zum Beispiel Crónica de una muerte anunciada und Cien años de soledad von García Márquez). Ich stütze mich hier und im Folgenden auf Gérard Genettes Definition von Paratext, insbesondere den von ihm so bezeichneten Bereich des »Peritexts«: Elemente »im Umfeld des Textes, innerhalb ein und desselben Bandes, wie der Titel oder das Vorwort, mitunter in den Zwischenräumen des Textes, wie die Kapitelüberschriften oder manche Anmerkungen« (Genette, 2001: 12). Gelegentlich werden auch, wie in diesem Fall, paratextuelle Elemente herangezogen, die Genette dem Bereich des »Epitexts« zurechnet: »Immer noch im Umfeld des Textes, aber in respektvoller (oder vorsichtigerer) Entfernung finden sich alle Mitteilungen, die zumindest ursprünglich außerhalb des Textes angesiedelt sind: im allgemeinen in einem der Medien (Interviews, Gespräche) oder unter dem Schutz privater Kommunikation (Briefwechsel, Tagebücher und ähnliches).« (ibid.; vgl. auch Ette, 1995: 17f., 25f.) Cabezas selbst schildert ausführlich die verworrene Entstehungsgeschichte des Textes, an der mehrere Frauen als Dialogpartnerinnen beteiligt waren, darunter die US-amerikanische Journalistin Pilar Arias von der Washington Post, die im Auftrag des Verlags Siglo XXI nach dem Triumph der Sandinisten ein Buch über die Revolution in Nicaragua auf der Basis von Inter-
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unterscheidet ihn nicht nur von anderen bedeutenden testimonios, wie zum Beispiel Barnets Biografia de un cimarrón oder Burgos' Me llamo Rigoberto Menchú y así me nació la conciencia, sondern relativiert auch die behauptete unmittelbare Repräsentation des traditionell aus dem literarischen Feld Ausgeschlossenen. Zum anderen weist der Text vielfaltige Verwandtschaften zu existierenden literarischen Traditionen auf, wie der Autobiografie, dem Entwicklungs- und Bildungsroman, dem Heldenepos, religiösen Texten, der novela de caballería. Außerdem sind die intertextuellen Bezüge zu den aus der Guerillaerfahrung in Lateinamerika hervorgegangenen Tagebüchern und Berichten unübersehbar, insbesondere zu Ernesto Che Guevaras Diario del Che en Bolivia (1968). Er schreibt sich also - wenn vielleicht auch für den Autor unbewusst - in eine lange und breite literarische Tradition ein. Diese Tradition ist bereits paratextuell im Titel des Buches präsent: Magda Zavala hat im Detail analysiert, wie sich »una inmensa estepa verde« als Synonym und Metapher bzw. Symbol für die unendliche Weite des Dschungels, der Berge, der Natur in eine lange Geschichte der lateinamerikanischen Literatur einreiht, und im Besonderen auf eine Reihe von zentralamerikanischen Romanen hingewiesen, von Infierno verde (1935) des Costa-Ricaners José Maria Cañas über Prisión verde (1950) des Honduraners Ramón Amaya Amador und Luna verde (1950) des Panamaers Joaquín Beleño bis zu El papa verde (1954) des Guatemalteken Miguel Angel Asturias.28 In engem
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views mit den comandantes schreiben sollte, sowie Sekretärinnen von Cabezas und einem seiner Freunde und seine erste Frau Ruth. (vgl. Cabezas, 1993: 113-116; vgl. auch Zavala, 1990: 292) Alle diese Personen, einschließlich derjenigen, die ihm bei der Verfertigung des Textes beistanden bzw. ihn zur Veröffentlichung animierten, sind paratextuell in der dem Text vorangehenden Danksagung festgehalten: Pilar Arias, Nazarena Navas, Sergio Ramírez Mercado, Ernesto Cardenal, Lilliam Jirón Rivas, Rosario Murillo, Chichi Fernández, Lizandro Chávez, Julio Valle, Cruz Munguia, Fernando Silva, Luis Rocha, Marlene Chow, Xavier Arguello, Gioconda Belli und »la Gata más linda del mundo: mi mujer« (Cabezas, 1987: 9). Sergio Ramírez hat in einem Interview mit Joachim Holstein daraufhingewiesen, dass er das Typoskript zu dem Buch für die Veröffentlichung bearbeitet habe. (vgl. Holstein, 1998: 103) Wiederholt streicht Cabezas heraus, dass die Aufnahmen zu diesem Buch parallel zum Liebesakt mit einigen der genannten Frauen entstanden seien: » [...] esto lo escribí desnudo, haciendo el amor [...] Me encontré con otra amiga que me gustaba y grabamos, y así, pues, iba haciendo el amor.« (Cabezas, 1993: 115) Vor diesem Hintergrund gewinnt die Aussage, das Buch sei aus dem Begehren heraus entstanden »para 'vaciarme'« (s.o., Fußnote 26), eine neue, überraschende Konnotation, (vgl. dazu auch das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« des vorliegenden Buches) Vgl. ausführlich Zavala, 1990: 277-279. Cabezas hat die Entstehung des Titels dargestellt und dabei selbst auf intertextuelle und ikonografische bzw. ikonotextuelle Bezugspunkte sowie seine symbolische Konnotation hingewiesen. Eines Tages seien sie mit einer Guerillaeinheit auf der Flucht vor der Nationalgarde auf den höchsten Gipfel der Umgebung, den Quilambé, gestiegen. Sie hätten bis zum Horizont geschaut und die Bäume unten wie einen riesigen grünen Teppich wahrgenommen: »Y esa imagen de la alfombra verde se parecía mucho a una fotografía que había en mi libro de geografía cuando yo estaba en la escuela primaria, [...] que
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Zusammenhang damit stehen auch die Beziehungen zu religiösen und mythischen Elementen; auf die Bedeutung der christlichen Bergmetapher und des Opfermotivs wurde bereits hingewiesen. Unübersehbar liegen dem Text traditionelle religiöse Werte zugrunde, sei es in Form des »offiziellen« Katholizismus oder in der Variante eines Volks- bzw. Basiskatholizismus, wie er sich vor allem im Engagement für die Armen äußert. Hier vermischt sich die messianische Perspektive des Christentums mit einer politischen Vision, es wird deutlich, dass sich in der dem Text zugrunde liegenden Weltsicht die Ideologie des bewaffneten Kampfes mit der Erlösungsutopie des Christentums verbindet, wie sie in den sechziger und siebziger Jahren in Zentralamerika im Diskurs der Theologie der Befreiung ihren Ausdruck fand. Dies verleiht der Erzählung einen prophetischen und eschatologischen Charakter, (vgl. Zavala, 1990: 263f., 265, 287f.) In diesem Kontext sind auch weitere Elemente zu sehen, die den Text Cabezas' in die Nähe traditioneller literarischer Gattungen bzw. Subgattungen rücken: das Epos und die Autobiografie. Unübersehbar sind die Parallelen zum Epos, insbesondere die Glorifizierung der Ereignisse und handelnden Personen, seine Nähe zum Mythos und zur Legende, die behauptete Repräsentativität des Schicksals seiner Helden/Protagonisten für das Volk und seine heroisch-pathetische Sprache, (vgl. von Wilpert, 1979: 231ff., 448ff., 533ff.) Allerdings sind es in Cabezas' testimonio wie in anderen nicht die Taten der großen Helden und Götter, die erzählt werden, sondern die vergessenen, unterdrückten und aus der offiziellen Geschichtsschreibung gestrichenen Kämpfe und Aktionen der Subalternen. Indem diese in die kollektive Erinnerung zurückgerufen werden sollen, wird auch versucht, einen alternativen Gründermythos zur herrschenden Ideologie zu konstruieren, indem auf einen Bezugspunkt in der Vergangenheit rekurriert wird. Wie im Epos wird ein »pasado incuestionable de los origenes heroicos de la colectividad« (Zavala, 1990: 287) konstruiert; die Gegenwart wird in Funktion dieser Vergangenheit gesehen, die
decía isla, masa de tierra rodeada de agua y una foto de la isla, y así, volcán, istmo, y entonces estepa, y la foto de la estepa, ¿no? Y cuando vi eso, me recordó la fotografía de mi libro de geografía. Como una inmensa estepa verde, dije yo. [...] y entonces yo dije, mierda, dije yo, la montaña es algo más que una inmensa estepa verde, porque estábamos ahí, a punto de perder la vida luchando - e l futuro, el sueño, la Revolución.« (Cabezas, 1993: 120) - Ich spreche von ikonotextuell bzw. »Ikonotext« und »Ikonotextualitát«, wie sie Ottmar Ette definiert hat: » [...] quisiera diferenciar entre lo que Nerlich ha llamado iconotexto, entendiendo bajo este término una obra de arte que funda la relación texto imagen en una unidad dialógica no-ilustrativa, y el término iconotextualidad que posee una mayor envergadura tanto a nivel investigativo como teórico. Dentro de este término, caben tanto los fenómenos descritos, por ejemplo, por Michel Butor en su bello libro (iconotextual) Les mots dans la peinture [...] como aquellas relaciones que [...] tienden hacia una relación ilustrativa o implican tal relación. Quisiera proponer, por ende, una definición de tipo descriptivo y no normativo del término iconotextualidad para designar toda relación estética entre imágenes y textos. Iconotextualidad seria entonces un término paralelo a intertextualidad.« (Ette, 1995: 24)
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Zukunft als ihre Fortsetzung und Vollendung. Trotz der offensichtlichen autobiografischen Grundlage des Textes kann daher auch nicht von einer Autobiografie im traditionellen Sinne gesprochen werden. Während in der Autobiografie wie im Bildungsroman des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts die historischen Ereignisse in Funktion eines besseren Verständnisses der verschiedenen, doppeldeutigen und sogar widersprüchlichen subjektiven Facetten eines Individuums erzählt werden, ohne Repräsentativität für andere Individuen oder Kollektive zu beanspruchen, also der äußere reale Chronotopos und der innere Chronotopos der Person nicht kongruent sind, dreht sich dieses Verhältnis im testimonio von Omar Cabezas um. Innerer und äußerer Chronotopos fallen zusammen: »La óptica de la enunciación y el proceso del narrar mismo son autobiográficos, pero los contenidos y temas de la historia no nos hablan de una autobiografía [...] , sino de un fragmento de una autobiografía [...] como experiencia exterior del héroe en función de los acontecimientos sociopolíticos en que participaba. [...] El personaje Omar Cabezas, narrador de La montaña... muestra frente a su lector su faceta de hombre público para que se conozca la historia de muchos otros personajes del momento en que se organiza y consolida la agrupación que tomará, tiempo después, el poder en Nicaragua.« (Zavala, 1990: 280f.)2' All diese Elemente lassen deutlich werden, dass der Text von Cabezas in vielfaltiger Hinsicht von literarischen Traditionen beeinflusst ist, wobei zusätzlich auf seine »conciencia poética« zu verweisen ist, die sich in zahlreichen in den Text eingestreuten Gedichten und in seinen Versuchen »de textualizar lo trascendente« (Delgado, 1999: 35) manifestiert, eine in der nationalen literarischen bzw. kulturellen Tradition Nicaraguas omnipresente Konstante. Relativieren diese Aspekte schon die Behauptung der Subalternität und
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Vgl. dazu ausführlich Zavala, 1990: 258, 279-290; Bachtin, 1986a: 324, 330; Bachtin, 1986c: 315-333, bes. 317, 457-464. Traditionell gilt die Autobiografie als eine literarische Subgattung, deren Kern die Darstellung des eigenen individuellen Lebens ist, das in seinem historischen, sozialen, psychologischen usw. Kontext erklärt wird. Eine Kongruenz von äußeren und inneren Raum-Zeit-Beziehungen, die Bachtin als »Chronotopoi« bezeichnet (vgl. Bachtin, 1986c: 262-264) kann bestenfalls - wie es im Bildungsroman des 18. und 19. Jahrhunderts der Fall ist - als Ergebnis einer langen und widersprüchlichen Entwicklung des Protagonisten erreicht werden, der ausgehend von religiösen und/oder ideologischen Überzeugungen versucht, seinem Leben a posteriori einen über das Individuelle hinaus weisenden Sinn zu verleihen. In der zeitgenössischen Autobiografie ist oft noch nicht einmal diese Kongruenz im Nachhinein möglich; das individuelle Leben bleibt ohne verallgemeinernden Sinn, voller Widersprüche und Mehrdeutigkeiten, gespalten und brüchig. In letzter Instanz gibt die Autobiografie niemals vor, eine objektive, allgemeine historische Wahrheit zu erzählen, sondern immer nur eine persönliche, individuelle, (vgl. dazu Zavala, 1990: 280f.; von Wilpert, 1979: 60f.) Zum Begriff des Chronotopos als einem »grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen« vgl. Bachtin, 1989:7-9.
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Repräsentativität des Buches, so umso mehr die soziale Herkunft des Autors und seine politische Funktion zum Zeitpunkt der Entstehung und Veröffentlichung des Buches. Leonel Delgado hat bereits die Problematik hervorgehoben, im Falle Cabezas von Subalternität zu sprechen. Zwar aus einfachen Verhältnissen in León stammend, gehörte er als Jurastudent an der dortigen Universität, Studentenführer und später Guerillakommandant nicht nur einer sozialen Schicht an, die zumindest nicht völlig vom Zugang zum Bereich der »cultura letrada« ausgeschlossen war. Bestenfalls ließe sich von einer »relativen« Subalternität im Kontext der »características fuertemente conservadoras y cerradas de los guardianes de lo letrado, es decir, los antiguos vanguardistas granadinos« (Delgado, 1999: 36) und aufgrund seiner engen Bande zur indigenen Gemeinschaft in Subtavia, einem indianischen Stadtteil Leons, sowie seiner Zugehörigkeit zu einer Mittelschicht sprechen, deren Übergänge zu den unteren Klassen fließend waren und die traditionell kaum Zugang zur »Literatur« hatte, (vgl. ibid.: 35, 36) Gänzlich fraglich wird die angebliche Subalternität, wenn das Buch nicht unter dem Gesichtspunkt der erzählten Zeit sondern unter dem der Erzählzeit und dem Zeitpunkt der Veröffentlichung gesehen wird. Cabezas gehört nicht nur in der Guerilla zur führenden Kommandostruktur der nationalen Befreiungsfront, nach dem Sturz der Diktatur bekleidet er verschiedene Funktion der neuen, revolutionären Regierung bzw. ist er Parlamentsabgeordneter des Frente Sandinista. (vgl. dazu Cabezas, 1993: 111) Dennoch ist festzuhalten, dass der testimonio von Omar Cabezas durchaus für eine gewisse Periode - nach dem Sturz der Somoza-Diktatur - zu einem repräsentativen Text des national-revolutionären Projekts werden konnte, das im Namen der Subalternen sprach und dessen Repräsentativität sich erst mit den zunehmenden inneren Widersprüchen des revolutionären Projekts als immer brüchiger erwies.30 Auch in ideologischer Hinsicht - das heißt, in Bezug auf die geschlossene politische Konzeption, wie sie sich mit der Verankerung einer historischen Kontinuität des Guerillakampfes in den Mythen von Ernesto Che Guevara und Augusto César Sandino manifestierte stand Omar Cabezas' Buch exemplarisch für das revolutionäre Projekt, wurde es zum Gründertext der sandinistischen Testimonialliteratur. Allerdings wird diese geschlossene Konzeption teilweise aufgebrochen von der Sprache und dem fragmentarischen Charakter des Textes. Durchweg bezieht sich dieser scheinbare Monolog auf einen internen Adressaten in zweiter Person. Wiederholt wendet sich der Erzähler an den Leser. Diese dialogische Struktur wird verstärkt durch die Einbeziehung der gesprochenen Spra30
Die sandinistische Bewegung wurde insbesondere in ihren Anfangen, das heißt vor der Machtübernahme, sozial im Wesentlichen von der lernenden und studierenden Jugend in den Städten der Pazifikregion und zum Teil dem nördlichen Bergland getragen (vgl. dazu ausführlich Mackenbach, 1995a: 58-61, 177-180; Mackenbach, 1995b: 443ff.), diese gesellschaftliche Schicht beeinflusste auch in großem Maße »las expresiones letradas de sus experiencias« (Delgado, 1999: 36).
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che, des Oralen in seinen verschiedenen populären Ausdrucksformen, in den Text. (vgl. Zavala, 1990: 291-294) Schließlich endet der Text, obwohl nach dem Sieg der Sandinisten geschrieben, ohne den Sturz der Diktatur zu erzählen oder auf andere Weise ein abgeschlossenes Leben zu konstruieren (wie es für das Heldenepos bzw. die Autobiografie typisch ist). Dieser fragmentarische Charakter steht im Widerspruch zur Geschlossenheit seiner politisch-ideologischen Konzeption, fordert den Leser zum Eingreifen und zum Widerspruch heraus. La montaña es algo más que una inmensa estepa verde erweist sich also als ein komplexes Gebilde von hybridem Charakter. Dies trifft viel weniger zu auf das zweite Buch von Omar Cabezas, Canción de amor para los hombres (1988a).i] Dieser zweite testimonio setzt zeitlich und räumlich da ein, wo der erste endet. Die Handlung umfasst den Zeitraum von 1975 bis zum Sieg der Revolution im Juli 1979 (das letzte Kapitel erzählt - quasi als Epilog - von der Einlösung eines gegenseitigen Schwurs des Protagonisten und seines im Kampf gefallenen Bruders Raúl im Jahr 1984: am gemeinsamen Grab seiner gefallenen drei Brüder und des Vaters in Léon seine letzte im Kampf gegen die Diktatur verschossene Patronenhülse als Reliquie anzubringen; vgl. 339-343). Räumlich spielt sich das Geschehen zum überwiegenden Teil in den nördlichen Bergen Nicaraguas ab, im letzten Teil des Buches vorwiegend in den Städten Yalí, Condega, Estelí, León, Matagalpa, Sébaco, Chinandega, Corinto, Managua (und auch Tegucigalpa und Panama City). Die Erzählzeit unterliegt (in beiden testimonios) einem sich ständig beschleunigenden Rhythmus: Während im ersten die etwa ein Jahr umfassende Eingliederung des Protagonisten in die Guerilla in den Bergen und seine dortige Aktivität bis 1975 den Hauptteil ausmachen, so im zweiten die Jahre 1975 und 1976, das heißt die Fortsetzung der Guerillaaktivität in den Bergen, während die Jahre von 1977 bis zum Sieg der Revolution 1979 fast wie im Zeitraffer geschildert werden - parallel zum Anstieg der Massenaktionen, die dem Aufstand in den Städten vorausgehen. Auch inhaltlich setzt dieses Buch bei dem Stand an, der am Ende des ersten Buches nach einem langen Lern- und Entwicklungsprozess erreicht wird. Bereits im ersten Abschnitt beginnt eine Rückblende, die fast das gesamte erste Kapitel einnimmt. Sie schildert zusammengefasst noch einmal Erinnerungen an die erste Politisierung des Protagonisten, die Studentenkämpfe in León, also noch einmal die gleiche Zeitspanne, die auch am Anfang von La montaña es algo más que una inmensa estepa verde steht, sowie Erinnerungen an die sandinistische Tradition der familiären Vorfahren (insbesondere des Großvaters, der in Sandinos Befreiungsheer kämpfte). Allerdings wird hier bereits zu Anfang (wie auch in der Widmung des Buches) Sandino als konstituierender und den Aktivitäten des Protagonisten Sinn gebender, lebendiger Mythos beschrieben. Unter anderem unter Hinweis auf die Lektüre 31
Im Folgenden zitiere ich nach der 1996 erschienenen Ausgabe (Tafalla: Editorial Txalaparta).
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der Sandino-Bücher Gregorio Selsers wird die »existencia de Sandino« beschworen: »hacerme creer que el General era cierto« (11). Die Gewissheit, die im ersten testimonio am Ende steht, wird hier zum Ausgangspunkt: » [...] Sandino es indestructible, Sandino es la victoria. La victoria pasa por Sandino. Sin Sandino no había ni camino ni victoria. Con Sandino yo estoy seguro que hay todo [...] « (15) Zusammen mit der Beschwörung des Mythos Che Guevara und des FSLN-Gründers Carlos Fonseca (der als »verdadero Cristóbal Colón« und »auténtico Galileo« bezeichnet wird, »porque Carlos fue el que descubrió primero a Sandino y Sandino es Nicaragua«; 144) zieht sich dies wie ein roter Faden durch das ganze Buch. Ebenso sind weitere für die zentralamerikanische Testimonialliteratur typische Elemente im Text präsent: die Repräsentativität des Individuums für das Kollektiv (»Yo me siento como hormiga [...] y viendo todo aquello y pensando que de todo lo que está pasando, un poquito tenía yo que ver en todo eso«, resümiert der Protagonist im Angesicht der siegreichen Revolution; 337), die Subalternität des Agierenden (immer wieder wird seine Zugehörigkeit zu den unteren Klassen beschworen, die einhergeht mit einer Distanzierung von den bürgerlichen Kräften, die sich der Revolution anschließen) und der den literarischen Kanon sprengende Charakter des Textes (vgl. dazu weiter unten). Weit weniger ausgeprägt sind religiöse Motive (so übergibt der alte sandinistische Kämpfer Don Leandro in einer quasi religiösen Zeremonie dem Protagonisten eine sorgsam gehütete Sammlung von Gebeten, die ihn vor Gefahren schützen sollen, eine Art von Taufe bzw. endgültiger Aufnahme in die Gemeinschaft). Umso bedeutender sind in diesem Text Elemente des Heldenepos, die sich insbesondere in der Konstruktion einer Reihe von besonderen Mythen - über den allgemeinen Mythos Sandino hinaus - äußern: der Mythos vom bewaffneten Kampf (bis hin zur körperlichen Wahrnehmung: »Qué rico el olor a pólvora. [...] Qué rico el combate. Qué rica la insurrección«; 297), der Mythos vom FSLN als Avantgarde des gesamten nicaraguanischen Volkes, der Mythos von der Einheit des FSLN. Im Unterschied und in Abgrenzung von La montaña es algo más que una inmensa estepa verde wird der dort das ganze Buch konstituierende Mythos von den Bergen dekonstruiert. Während die Guerilla auf dem Land zunehmend aufgerieben wird und immer wieder bei Null anfangen muss, schreitet der städtische Kampf scheinbar unaufhaltsam voran.32 Wie das Epizentrum der Handlung sich vom Land in die Städte verlagert, so vollzieht sich auch eine Anpassung an den städtischen politischen Diskurs. Zwar durchzieht das ganze Buch ein für den testimonio typisches Element, mit dem der direkte Bezug zur mündlichen Sprache betont werden soll: Durchge32
Zu diesen Aspekten vgl. ausführlich die Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität« und »Fünfter Kreis: Raum und Text« der vorliegenden Arbeit; zur Bedeutung der Geschlechterfrage im Werk von Omar Cabezas vgl. das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«.
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hend spricht der Erzähler zu einem direkten Gegenüber in der zweiten Person Singular (»Lo que quiero decirte...«; 14 usw.). Dennoch ist das Buch eher als traditionelle Erzählung, oft gar im Stil eines Monologs geschrieben, die direkten Anleihen im mündlichen Spanisch des nicaraguanischen Volkes sind viel geringer als in La montaña es algo más que una inmensa estepa verde. Die Sprache tritt hier nicht in Widerspruch zur geschlossenen Konzeption wie in La montaña es algo más que una inmensa estepa verde. Geradezu kokettiert wird mit dem nicht literarischen bzw. antiliterarischen Charakter des Textes, vor allem wenn der Erzähler gegen Ende des Buches wiederholt und sich steigernd behauptet, er könne das Erlebte nicht erzählen, weil er kein Schriftsteller sei (»Cómo hago para describirte, sólo siendo descritor podría describirte [...] « ; 335), um es dann zu tun. Wie ein Kommentar zu dem im Diskurs der achtziger Jahre behaupteten antikanonischen Charakter des testimonio liest sich schließlich die Passage über die »pintas« an den Hauswänden, die als »testigos fieles de lo que ocurriría en adelante« (222), sozusagen als höhere Form des testimonios bezeichnet werden, wie sie später ungebrochen von dem US-Wissenschaftler Greg Dawes (1993) in den Rang einer literaturtheoretischen bzw. ästhetischen Kategorie gehoben wird, (s.o.) All dies lässt Canción de amor para los hombres zu einem epigonalen Text, auch im schmalen Werk des Autors selbst, werden, der die Grenzen des sandinistischen testimonios im historischen Kontext Ende der achtziger Jahre offenbart, als das sandinistische Projekt zunehmend in eine offene politischideologische und kulturelle Krise gerät, sich aber auch in der Romanliteratur ein Paradigmenwechsel abzeichnet.33
Der testimonio: Waffe im Volkskampf? Das Jahrzehnt von 1977/78 bis 1988 stand allerdings ganz im Zeichen zahlloser Texte, die sich anscheinend unter die Funktionsbestimmung des testimonios als Waffe im Volkskampf subsumieren lassen, wie sie noch 1999 von der US-Wissenschaftlerin Barbara Harlow bekräftigt wurde, (s.o.) Aus der Fülle
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Im Gegensatz zu Cabezas' erstem Buch ist dieser zweite testimonio in Nicaragua und international viel weniger beachtet (und zum Beispiel auch nicht ins Deutsche übersetzt) worden. Das mag mit den bereits veränderten Rezeptionsbedingungen Ende der achtziger Jahre zu tun haben. Es dürfte aber auch mit einigen Passagen offener Kritik an führenden FSLN-Kadern (Tomas Borge, Henry Ruiz, Daniel Ortega) zusammenhängen, u.a. mit dem Hinweis auf ein in der Tendenz Guerra Populär Prolongada ignoriertes Dokument, das der Autor 1976 verfasst hatte und in dem er de facto ähnliche Positionen wie die Tendencia Insurreccionista bezog, ein Ende der achtziger Jahre in der politischen Krisensituation in Nicaragua, als die Einheit der regierenden Sandinisten um jeden Preis aufrechterhalten werden musste, ungeliebtes Thema. Dies mag ähnlich für das hohe Maß an Selbstironie zutreffen, von dem das Buch geprägt ist. (zum Hintergrund der Tendenzbildung im FSLN vgl. weiter unten)
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der in Zeitschriften, Zeitungen und Broschüren veröffentlichten Texte ragen zwei hervor, die beide bereits in den siebziger Jahren im Gefängnis geschrieben wurden, jedoch erst nach dem Sturz der Somoza-Diktatur und der Etablierung der sandinistischen Regierungsjunta in Buchform veröffentlicht wurden. Sie dokumentieren Leben, Kampf und Tod von zwei fuhrenden Personen des antisomozistischen Widerstandes und Gründerfiguren des Frente Sandinista de Liberación Nacional. Der Text von Tomás Borge, Carlos, el amanecer ya no es una tentación (1982), wurde als »eine Art Requiem in Berichtform über Leben und Sterben des Mitbegründers der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN), Carlos Fonseca Amador« (Biermann, 1988: 139) bezeichnet. Aus der Erinnerung erzählt Borge, ebenfalls Mitbegründer des FSLN, Stationen aus dem Leben Fonsecas vermischt mit allgemeinen Daten der jüngsten nicaraguanischen Geschichte (des Widerstandes gegen die USA und die einheimische Diktatur), angefangen von der Ermordung Augusto César Sandinos im Jahr 1934 und der gemeinsam verbrachten Kinder- und Jugendzeit in Matagalpa in den Bergen im Norden Nicaraguas (wo Carlos Fonseca 1936 und Tomás Borge 1930 geboren wurden) bis zur Ermordung Fonsecas 1976 durch die Nationalgarde, ebenfalls im nördlichen Bergland. Carlos José Guadamuz erzählt in Y... "las casas quedaron llenas de humo" (1982) die Biografíe des 1944 geborenen Julio Buitrago Urroz von 1961, dem Jahr der Gründung der nationalen Befreiungsfront, bis zu seiner Erschießung durch die Nationalgarde im Jahr 1969 in Managua, ebenfalls vermischt mit der Darstellung zeitgenössischer lateinamerikanischer und internationaler politischer Ereignisse. Ähnlich wie Borge und Fonseca gehörte Buitrago zur ersten Generation des FSLN, war Studentenfuhrer und dann einer der wichtigsten Verantwortlichen im städtischen Widerstand. In den Paratexten der beiden Bücher wird zum einen das Fehlen jeglicher literarischen Ambition der Autoren hervorgehoben. So heißt es in Borges »Introducción«: »El que escribe estas líneas se parece tanto a un escritor, como García Márquez a un vendedor de frigoríficos.« (Borge, 1982: 7) In der von Daniel Ortega, dem späteren Generalsekretär des FSLN und Präsidenten Nicaraguas, 1970 geschriebenen »Presentación« des Textes von Guadamuz zitiert er den Autor: »No trato de impresionar a la inteligentzia« und bekräftigt, »que en verdad no son estos momentos para duelos literarios« (Guadamuz, 1982: 16). Zum anderen werden die Authentizität und direkt politischmilitante Funktion der Texte beschworen. So streicht Daniel Ortega den testi/noni'o-Charakter des Textes von Guadamuz heraus: Es handele sich nicht um eine Biografíe im eigentlichen Sinn, sondern um »escenas cortas y trascendentes vividas al lado del héroe y datos sobre las actividades estudiantiles del mismo, recopiladas oralmente entre compañeros de celda que lo conocieron, las que nos proyecta el autor« (Guadamuz, 1982: 16f.) Im »Prólogo« zu Borges Buch schreibt Roberto Fernández Retamar, der Text brauche eigentlich
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kein Vorwort, er sei selbst Prolog - allerdings nicht zu einem literarischen Werk, sondern zu einer historischen Realität: »el prefacio de una acción por venir, y lo vemos como al propio Carlos, con el fusil en la mano, con el corazón desbordando de amor hacia los hombres, con los ojos azules apuntando hacia el 'futuro'« (Borge, 1982: 5). Dies sei nur möglich aufgrund der Authentizität, mit der das Buch erzählt werde, wofür entscheidend sei, dass es unter den Bedingungen des Gefangnisaufenthalts geschrieben sei (vgl. ibid.) - das Gefängnis sozusagen als locus fide dignus, eine literarische Figur, die in vielen testimonios präsent ist. Beide Autoren sind also, wie Biermann (1988: 139) anmerkt, hauptsächlich an der »Sozialbiographie« der Protagonisten interessiert. Dies verhindert allerdings nicht, dass sich die Texte durchaus mit einer vielschichtigen narrativen Struktur präsentieren. Biermann, der die (fragmentarische) Struktur des Buches von Guadamuz aus seiner Entstehung im Gefängnis erklärt, weist selbst auf diese »komplexe Erzählstruktur« (ibid.) hin, in der die chronologische Reihenfolge unterbrochen werde und die Lebensgeschichte Buitragos mit dem Bericht des Autors von einem gemeinsamen Kubaaufenthalt und einmontierten Texten zu allgemeinen politischen Ereignissen verflochten werde.34 Letzteres gilt auch für das Buch Borges. Hinzu kommen weitere Elemente, die beiden Texten eine ausgeprägte Literarität verleihen: so etwa der Titel des Buches von Guadamuz, der dem Titel eines Gedichts des nicaraguanischen Lyrikers Leonel Rugama über den Tod Buitragos und anderer sandinistischer Guerillakämpfer entnommen ist,3S die im zweiten Teil des Buches enthaltenen Gedichte von Guadamuz selbst, die überwiegend Personen, Ereignissen und Orten des Widerstandes gegen die Diktatur gewidmet sind, die intertextuellen Bezüge in Borges Text, die auch seine spätere Autobiografie La paciente impaciencia (1989) prägen werden, (s.u.) Schon diese Elemente lassen den von Barbara Harlow geprägten Begriff der »Widerstandsliteratur« (so der Titel ihres 1987 erschienenen Buches Resistance literature) als für die beiden dargestellten Texte kaum zutreffend erscheinen, ebenso wenig die Tatsache, dass sie zwar in den siebziger Jahren geschrieben, aber erst 1982 in Buchform veröffentlicht wurden - nachdem sich die neue, revolutionäre Regierung konsolidiert hatte und die beiden Auto-
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In der dem Haupttext vorangestellten »Nota sobre el autor« wird darauf hingewiesen, dass die ursprüngliche Textfassung von Camilo Ortega Saavedra, dem jüngeren Bruder Daniel Ortegas und bekannten Guerillakämpfer, der 1978 im Kampf fiel, besorgt wurde: »El fue quien le dio al relato su estructura fragmentada y quien determinó la organización formal de sus capítulos.« (Guadamuz, 1982: 13) Das Gedicht ist zum Beispiel vollständig abgedruckt in Secretaría Nacional de Propaganda y Educación Política del FSLN (1980), einer der zahllosen von dieser Parteiabteilung herausgegebenen Broschüren (in der »Serie Biografías Populäres«), in denen Daten von sandinistischen »héroes y mártires« präsentiert wurden.
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ren bereits wichtige Funktionen in dieser Regierung einnahmen. 36 Erst zu diesem Zeitpunkt fanden die beiden Texte also ein breiteres, über den engsten Kreis der zum großen Teil eingekerkerten Guerilleros hinausgehendes Lesepublikum, wie Daniel Ortega in seiner »Presentación« indirekt bestätigt: »Auscultamos intimidades hasta hoy sólo conocidas por núcleos guerrilleros y la Oficina de Seguridad.« (Guadamuz, 1982: 19) Ihre Funktion bestand also nicht darin, Waffe im Volkskampf gegen die Diktatur zu sein, vielmehr hatten sie eine ausgeprägt didaktisch-propagandistische Zielbestimmung im Dienst der neuen politischen Ordnung: »Vamos correr a través de nuestros ojos los cuarteles clandestinos del pueblo armado, donde compañeros y compañeras conviven en franca camaradería. Observamos allí a la mujer y al hombre nuevo en formación, vislumbramos a la mujer liberada haciendo tareas de hombre' [...], integrada como un combatiente más.« (Guadamuz, 1982: 17) So heißt es in Daniel Ortegas Präsentation, und Tomás Borges Text schließt mit der Beschwörung der Unsterblichkeit Carlos Fonsecas im Moment der Veröffentlichung der Nachricht von seinem Tod: »El comandante de la cárcel de Tipitapa llega hasta nuestra celda jubiloso, con 'Novedades' en la mano, a darnos la noticia: murió Carlos Fonseca, nos dice. Nosotros respondimos, después de callar unos segundos: Se equivoca Coronel, Carlos Fonseca es de los muertos que nunca mueren.« (Borge, 1982 : 80) Die Texte dienen der Heroisierung und Legendenbildung a posteriori, Leben und Sterben der sandinistischen Kämpfer werden umgestaltet »zu einer modernen Martyrologie des Befreiungskampfes ('los héroes y mártires'), um - in kollektive Symbole verwandelt der neuen politischen Ordnung als Identifikationsfigur zu dienen« (Biermann, 1988: 139).37 In diesem Sinne sind die Texte Borges und Guadamuz' durchaus als »obra(s) pionera(s) de la literatura testimonial nicaragüense« zu begreifen, wie es im Umschlagtext des Buches von Guadamuz heißt - allerdings des 36
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Der Text Borges wurde von der Secretaría de Propaganda y Educación Política del FSLN herausgegeben, der von Guadamuz erschien im Staatsverlag Editorial Nueva Nicaragua (in der »Biblioteca Popular Sandinista«), Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war Tomás Borge Mitglied der Nationalen Leitung des FSLN und Minister der sandinistischen Regierungsjunta, Carlos José Guadamuz war Direktor von »La Voz de Nicaragua«, damals offizieller Radiosender des »Gobierno de Reconstrucción Nacional«. Dem entsprechen die ikonografischen Elemente der beiden Bücher: bei Guadamuz eine stilisierte Porträtfotografie Buitragos und im Gefängnis von Lenin Cerna, einem weiteren inhaftierten Sandinisten, angefertigte Tusche- und Aquarellzeichnungen von Guerilleros und Szenen aus dem Widerstandskampf (auf der ersten Umschlagseite und im zweiten Teil des Buches), bei Borge Fotografien von Carlos Fonseca und anderen Sandinisten sowie aus dem Widerstandskampf (auf der ersten Umschlagseite und über den ganzen Text verteilt). - Ähnliche Bedeutung wie die beiden genannten Texte erlangte das von Margaret Randall herausgegebene Zeugnis der Guerillakämpferin Doris Maria Tijerino, Somos millones... La vida de Doris Maria, combatiente nicaragüense (Randall, 1977), das bereits 1977 erschien, allerdings in dem mexikanischen Verlag Editorial Extemporáneos (»Colección Latinoamérica - Serie Testimonio«). Auch dieses Buch fand erst nach dem Sieg der Revolution in Nicaragua größere Verbreitung und wurde zu einem Gründertext des »weiblichen testimonios«. (s.u.)
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bereits regierenden Sandinismus und als Symbol der neuen Macht und nicht als Metonym oder Synekdoche des kämpfenden Kollektivs der Subalternen. Dies gilt verstärkt auch für Carlos Núñez Téllez, Un pueblo en armas (1980), das kurz nach dem Sieg der Revolution geschrieben wurde und die Erfahrungen des ehemaligen Guerillakommandanten im militärischen Kampf von Januar bis Juli 1979, insbesondere während der »insurrección final« bis zur endgültigen Einnahme Granadas durch die Revolutionäre am 19. Juli 1979, zum Inhalt hat.38 In der »Nota del Editor« der Ausgabe von 1986 wird der Text als organischer testimonio des Volksaufstandes, der zum Sturz einer der längsten und grausamsten Diktaturen des Kontinents geführt habe, bezeichnet und die Frische der unmittelbaren Erinnerung sowie die beeindruckende Stärke des heroischen Willens seiner Tausende von Protagonisten reklamiert, (vgl. 9) Zwar beginnt der Autor seine »Introducción« mit der Feststellung, die Seiten des Buches stellten nichts Definitives dar, um nur wenige Abschnitte weiter unten zu versichern, sie seien »sin pretensiones de ser un escritor« geschrieben und der bescheidene Versuch, »plasmar con objetividad las angustias vividas en el transcurso de la guerra libertaria, las reacciones emotivas o ejemplares de los cuadros, militantes o jefes« (12). Zwar auf den persönlichen Erfahrungen des Autors beruhend, wird der Bericht über weite Strecken aus der kollektiven Perspektive verschiedener Guerillaeinheiten und -instanzen bzw. in der ersten Person Plural erzählt, nachdem der Autor in der Einleitung eine quasi kollektive Autorschaft und die Repräsentativität des Erzählten beschworen hat: »Quienes escribieron este folleto a través de mi mano son todos los entrañables hermanos caídos en combate a lo largo de la lucha y los que sobrevivieron al genocidio para brindar hoy, a la Revolución Popular Sandinista, sus energías y sus capacidades plenas con el firme propósito de garantizar que nuestro pueblo siga siendo libre.« (14) Unübersehbar sind der legitimatorische Charakter und die politisch-didaktische Funktionsbestimmung des Textes in Bezug auf einige Grundaussagen der sandinistischen Historiografie. Zu dieser »enseñanza del Frente Sandinista de Liberación Nacional« (14) gehören die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes als einzigem Weg zum Sturz des Somoza-Regimes (vgl. z.B. 12f.) und die Einheit der Sandinisten als Voraussetzung für deren Sieg (vgl. z.B. 13). Bereits im ersten Satz des Dokuments wird diese Einheit als absoluter Wert eingeführt und in die historische Kontinuität des Kampfes der sandinistischen
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Das Buch wurde zunächst 1980 vom Departamento de Propaganda y Educación del FSLN herausgegeben (wo 1981 und 1982 auch zwei Nachdrucke herausgebracht wurden); die zweite Ausgabe erschien 1986 im Parteiverlag des FSLN, Editorial Vanguardia (»Colección Protagonistas 1«). Carlos Núñez Téllez stand als Guerillakommandant an der Spitze des »Frente Interno«, zu dem Managua und die angrenzenden Departements gehörten, zum Zeitpunkt des Erscheinens der zweiten Ausgabe war er Mitglied der Nationalen Leitung des FSLN und Präsident der Nationalversammlung. Ich zitiere im Folgenden aus der Ausgabe von 1986.
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Gründerfiguren gestellt: »Por la unidad habían caído hacía meses o años nuestros hermanos Carlos Fonseca, Eduardo Contreras, Carlos Roberto Huembes, Pedro Aráuz Palacios, Camilo Ortega.« (19) Durchgehend dienen diese »Lehren« als Leitlinien der Erzählung, deren Hauptintention es ist zu zeigen, wie eine kleine politisch-militärische Kraft sich in eine siegreiche Streitmacht verwandelte, die fähig war, die technisch-militärisch weit überlegene Diktatur zu besiegen, (vgl. dazu den Umschlagtext) Sie münden schließlich in den Mythos der sandinistischen Gründerfiguren Sandino und Fonseca (sowie des legendären im Kampf gefallenen Guerillakommandanten Germán Pomares): »Ya Augusto César Sandino podía andar libremente por las calles [...] confiando en el futuro [...] Por fin podríamos decirles a Carlos Fonseca y a Germán Pomares: 'Hermanos: no lo olvidamos; generaciones tras generaciones vivirán recordándolos como sus maestros y guías; estén tranquilos: Nicaragua ya nunca más volverá a ser conquistada, ni ofendida, ni humillada. Comandantes: las órdenes de ustedes han sido cumplidas por sus alumnos. ¿Cuál es la próxima tarea'?« (192)39 Innerer und äußerer Chronotopos sind wie bei Cabezas (1982 und 1988a) identisch.
Der testimonio: Stimme des Volkes an der Macht? Viele der in den achtziger Jahren, zumeist im staatlich finanzierten Verlag Editorial Nueva Nicaragua oder von Parteiinstanzen herausgegebenen, testimonios orientierten sich an diesen Gründertexten der sandinistischen Testimonialliteratur. Einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung dieser Literatur übte die US-amerikanische Autorin Margaret Randall aus, die zu Beginn der achtziger Jahre in Nicaragua lebte, sich aktiv an der kulturpolitischen Diskussion beteiligte und selber eine Reihe von testimonios veröffentlichte. Bereits mit ihrem 1977 erschienenen Buch über Leben, Gefangenschaft und Kampf der Guerillera Doris Maria Tijerino hatte sie einen Text vorgelegt, der ihren konzeptionellen Vorstellungen vom testimonio sehr genau entsprach, zum Vorbild für zahlreiche weibliche testimonios wurde und sich archtitextuell in die von Frauen geschriebenen Gefängnistagebücher in Zentralamerika einschrieb, (s.u.) 1983 fasste sie ihre methodologischen Überlegungen in dem bereits zitierten, in Costa Rica publizierten Handbuch Testimonios (Randall, 1983) zusammen.40 In offensichtlicher Anlehnung an die Kriterien der kubanischen
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Dem korrespondieren auch die Widmung des Buches (genannt werden neben den bekannten Guerillafiihrern andere weniger bekannte Kämpfer und die »héroes anónimos«; 7) und die ikonografischen Elemente (über den Text verteilte und auf der ersten Umschlagseite abgebildete Fotos mit Szenen aus dem Guerillakampf und vom siegreichen Einzug in Managua, auf denen die Darstellung von bewaffneten Aktionen im Vordergrund steht). 1979 hatte das neu gegründete Kulturministerium Margaret Randall zu einem Workshop über
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Casa de las Américas definierte sie eine Reihe von charakteristischen Elementen, die den testimonio von anderen literarischen Genres unterscheide: der Gebrauch direkter Quellen, die Darstellung einer Lebensgeschichte nicht in Form von Verallgemeinerungen wie in den konventionellen Texten, sondern ausgehend von einer Stimme oder von Stimmen aus dem Volk (»del pueblo protagonizador«), die Unmittelbarkeit des Erzählten (der Erzähler berichtet von dem, was er selbst erlebt hat), Benutzung von Sekundärmaterial (Einleitung, weitere Interviews mit anderen Personen, Dokumente, grafisches Material, Chronologien und »materiales adicionales que ayudan a conformar un cuadro vivo«), schließlich eine hohe literarische Qualität. In einem Versuch der theoretischen Fundierung beanspruchte sie schließlich unter Rekurs auf Lenins (selbst unter Marxisten als dogmatisch und philosophisch unhaltbar berüchtigte) Schrift Materialismus und Empiriokritizismus eine besondere Beziehung des testimonios und der oral history zur Geschichtsschreibung und die Möglichkeit, in der Testimonialliteratur zur »verdad absoluta« (Randall, 1983: 11) zu gelangen, was gleichbedeutend mit der Vertiefung der Ideologie des Proletariats sei, die der testimonio pflegen müsse, (vgl. ibid.: 5, 9-11) Es gelte nunmehr, in der »etapa socialista« aus der Sicht des Proletariats, des Volkes an der Macht zu schreiben: » [...] para empezar, se escribe desde el punto de vista del proletariado, del pueblo en el poder. Y no sólo desde el punto de vista de', sino que en la medida en que el pueblo tenga real acceso a la cultura y a las herramientas propicias, puede por primera vez escribir su propia historia.« (Randall, 1983: 167) Unzählige der in den achtziger Jahren publizierten Texte standen in dieser Tradition, ohne dass sie immer die dogmatischen Richtlinien des von Randall bemühten Vulgär-Marxismus einhielten. Sie orientierten sich vorrangig an den organisatorischen und technischen Hinweisen zur Herstellung eines testimonios, die im längeren zweiten Teil des Handbuchs von Randall ausführlich geschildert werden.41 Gepflegt wurde insbesondere die Form des »multiplen« testimonios, das auf Interviews mit mehreren Personen beruht.42
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oral history eingeladen und sie gebeten, dazu eine Art von Handbuch vorzulegen. Daraus ging später das zitierte Buch hervor; vgl. auch den Artikel »¿Qué es, y cómo se hace un testimonio?« (Randail, 1992). (vgl. Holstein, 1998: 52-54) Unter der Überschrift »¿Cómo se hace un testimonio?« enthält dieser Teil des Buches u.a. folgende Kapitel: »La preparación«, »El cuestionario«, »El arte de la pregunta«, »La libreta de apuntes«, »El conocimiento de los aparatos técnicos«, »¿Qué llamamos materia prima?«, »La transcripción«, »¿Un archivo de la palabra?«, »La ética«, außerdem weitere Kapitel über »El trabajo lateral« und »El montaje«, (vgl. Randall, 1983: 15-38) Eine Sonderstellung nimmt der von Carlos Alemán Ocampo veröffentlichte Text ... y se hizo la presa (1985b) ein. Dieser testimonio ist »una crónica vivida del apasionante trabajo« (10) beim Bau eines Stausees, der nach der Revolution zu Beginn der achtziger Jahre in der Nähe von Tipitapa und Malacatoya (bei Granada) errichtet wurde, um die Zuckerfabrik »Victoria de
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Das gemeinsam vom Verlag La Ocarina und dem Kulturministerium Nicaraguas (»Nicaragua Libre«, wie es auf der ersten Umschlagseite heißt) herausgegebene Buch von William Agudelo, El asalto a San Carlos. Testimonios de Solentiname (1982, 1986)43 besteht aus testimonios von zehn Personen, die am 13. Oktober 1977 an dem vom Frente Sandinista organisierten Überfall auf den Sitz der Guardia Nacional in San Carlos am Rio San Juan im Süden Nicaraguas teilnahmen. Die Aktion war eine der wenigen, die im Rahmen einer vom FSLN ausgerufenen Offensive gegen die Somoza-Diktatur realisiert wurde. In den Aussagen der Beteiligten, sämtlich Mitglieder der von Ernesto Cardenal auf der Insel Solentiname im Nicaraguasee organisierten christlichen Basisgemeinde (der auch der Herausgeber William Agudelo angehörte), wer-
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Julio« mit Wasser zu versorgen. Die Paratexte, die »Presentación« der Herausgeber (das heißt der »División de Comunicaciones« des Ministeriums der Agrarreform MIDINRA) und die Widmung, ordnen das Buch in die offiziöse Geschichtsschreibung der sandinistischen Revolution ein. Gewidmet ist es den Bauern, die das Land zur Verfügung stellten; den Arbeitern, die das Bauwerk errichteten; den Technikern, die die Pläne machten und die Arbeiten leiteten; den Genossen des Ministeriums, »que sacan adelante cualquier proyecto en cualquier parte del país« (9). Geschrieben im Stile der »Literatur der Arbeitswelt« (in beiden Teilen Deutschlands in den siebziger Jahren - es liest sich zum Teil wie ein nach den Richtlinien des »Bitterfelder Weges« verfasster Text), singt das Buch gleichzeitig ein Hohelied auf den (technischen) Fortschritt und die Macht des Menschen über die Natur: »La naturaleza estaba dominada. Los trabajadores se turnaban entre los que se movilizaban a los frentes de guerra y los que se empeñaban en que la obra estuviera finalizada para el 19 de julio, para el día de la victoria.« (58). Er ist repräsentativ für die Aufbruchstimmung der ersten Jahre des sandinistischen Jahrzehnts und ihren Glauben an die Veränderung der Gesellschaft, in dem sich positivistisches Fortschrittsdenken mit militärischen Kategorien mischt. In dem von Carlos Alemán Ocampo nur ein Jahr später publizierten Buch Entre el fuego y el agua (1986) geht der Autor interessanterweise einen völlig anderen Weg. Der im Vorwort als »colección de ensayos, versiones y testimonios« bezeichnete Text stellt eine Sammlung von Geschichten, Legenden, Mythen, persönlichen Zeugnissen und Bekenntnissen vom und über das Wasser und seine biologische, medizinische, kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung dar, vor allem bezogen auf die Region der »Meseta de los Pueblos«, den Gebirgszug im Süden Managuas, eine der am weitesten entwickelten Kulturregionen Nicaraguas. Dargestellt werden Traditionen der Volkskultur, darunter die »Danza de moros y cristianos«, die »Fiesta de la yegua«, der »Torovenado« und andere. Der Text stellt innerhalb der nicaraguanischen Testimonialliteratur insofern eine Besonderheit dar, da er sich im Wesentlichen auf Traditionen der Volkskultur bezieht und ihm die politische Dimension sowie das Streben nach Repräsentativität fehlen. Zwei Jahre zuvor hatte Carlos Alemán Ocampo unter dem Titel Y también enséñenles a leer (1984) eine Auswahl von kurzen testimonios über die Alphabetisierungskampagne 1981 herausgegeben, die zu einem von der Universidad Nacional Autónoma de Nicaragua ausgeschriebenen Wettbewerb eingereicht worden waren. In der »Presentación« des Herausgebers heißt es: » [...] por la prisa del concurso y por el requisito que limitaba a doce páginas la extensión de los escritos, resultaron experiencias que era difícil publicar individualmente. Entonces procedía a armar una especie de rompecabezas con tijeras, goma y un lapicero, a dar un hilo narrativo que iba construyendo la historia colectiva de esos muchachos forjadores del gran sueño sandinista mantenido a través de veinte años de lucha clandestina.« (13f.) Die Erstausgabe erschien 1982 bei Ediciones de la Asociación para el Desarrollo de Solentiname.
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den Vorbereitung, Durchfuhrung und Scheitern der Aktion geschildert, in deren Verlauf zwei Guerilleros (Elbis Chavarria und Donald Guevara) getötet wurden. Die anderen Beteiligten wurden gefangen genommen und im Zuge der Besetzung des Nationalpalastes in Managua durch ein sandinistisches Kommando im August 1978 befreit. Sie nahmen zum Teil später in der Sandinistischen Volksarmee EPS wichtige Posten ein. Die »Zeugenaussagen« beschränken sich im Wesentlichen auf die technischen und organisatorischen Aspekte der Aktion, die widrigen klimatischen Umstände und die Repression von Seiten der Nationalgarde. Repräsentativ für die frühe »sandinistische« Testimonialliteratur reiht der Text die Aussagen der verschiedenen Beteiligten chronologisch aneinander, scheinbar ohne besondere organisatorische und ordnende Eingriffe des Herausgebers. Nur in der Verschränkung der Aussagen von direkt an der Aktion in San Carlos Beteiligten und eines auf der Insel Solentiname zurückgebliebenen Zeugen wird eine gewisse kontrapunktische Organisation des Textes sichtbar. Dieser Text kann durchaus als exemplarisch für die im Nachhinein dem testimonio in Zentralamerika zugeschriebenen Charakteristika (vgl. z.B. Beverley und Zimmerman) angesehen werden: antiliterarischer Charakter, Subalternität und Repräsentativität (man beachte allerdings das Spannungsverhältnis zwischen der in eine geplante allgemeinere Erhebung eingebetteten Aktion und der Tatsache, dass sie ihre Besonderheit daraus bezog, eine der wenigen realisierten gewesen zu sein; als solche wurde sie in der sandinistischen Historiografie später quasi zur Legende). Der von der uruguayischen Autorin Maria Gravina Telechea herausgegebene Band Qu e diga Quincho (1982) versammelt Interviews mit achtzehn Kindern und Jugendlichen (zum Zeitpunkt der Interviews 1980/1981 im Alter von dreizehn bis siebzehn Jahren), die sich am Kampf gegen die Diktatur beteiligten. Schon der Umstand, dass die Interviewten zu einer Gruppe von ausgewählten jungen Nicaraguanern der Juventud Sandinista gehörten, die nach der Revolution zum Schulbesuch nach Kuba geschickt wurden (wo die Interviews entstanden), verleiht diesen testimonios einen sozusagen offiziösen Charakter der Repräsentativität. Wie die Herausgeberin in ihrem »Nosotros« überschriebenen Vorwort erklärt, hätten die Interviewten zunächst immer von »wir« gesprochen und sich auf die Erfahrung des FSLN im Allgemeinen, nicht auf ihre eigene Person bezogen. Erst in einem mühsamen Prozess sei es gelungen, diese individuellen Erfahrungen, die Ereignisse in ihrem Leben mit all ihren Schwächen und Defekten freizulegen. Das sei jedoch die Voraussetzung für die Echtheit eines testimonios. Über dieses Hörbarmachen der bisher ignorierten Stimmen der Jugendlichen, die ja die Mehrheit der Basis der sandinistischen Bewegung stellten, sei dann ein Bild des Volks- und Klassenkampfes entstanden, das nichts mit einem »guerrillerismo de élite« (14) zu tun habe. Aus den vielen individuellen Wirklichkeiten sei eine neue kollektive Wahrheit erwachsen, Ausdruck revolutionärer Bescheidenheit und ideologischer Standhaftigkeit: »La verdad, la realidad del 'yo' son los 'nosotros' en tanto obreres,
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campesinos, trabajadores necesitados de justicia.« (15) Diese Repräsentativität wird paratextuell bereits im Titel des Buches beansprucht, der dem Lied »Quincho Barrilete« des bekannten sandinistischen Musikers Carlos Mejia Godoy entnommen ist und in dem ein »héroe infantil [...] / ejemplo vivo de pobreza y dignidad [...] « besungen wird, der » [...] enfrentará las realidades de su pueblo / y con los pobres de su patria luchará [...] « (13)44 Sie erhält außerdem eine quasi offizielle politische Ausprägung durch die Anordnung der namentlich zitierten Aussagen der Jugendlichen in verschiedenen Kapiteln durch die Herausgeberin (von »El Grillo, nosotros y yo« über »Mis primeras ideas revolucionarias« und »Ahora mi familia es mi pueblo« bis »El socialismo es lo más sincero que hay en la vida«) und einen politisch-didaktischen Charakter durch die dem Buch vorangestellten Paratexte von Augusto César Sandino und Tomás Borge: »Aprender de las masas para educar a las masas, esa debe ser la guía de nuestra organización [...] « (9) Die unverfälschten, individuellen Stimmen der »Anderen«, in besonderem Maße »Subalternen«, der Kinder und Jugendlichen, werden zur offiziell sanktionierten, repräsentativen Stimme des neuen Staates, um den Preis ihrer ideologischen Festlegung. Einem anderen, aber ebenso bedeutenden und tragenden Element der sandinistischen Bewegung und der Vorgeschichte der Revolution widmet sich Margaret Randall in Cristianos en la revolución. Del testimonio a la lucha (1983): dem Engagement von Christen aus den unteren sozialen Schichten. Der erste Teil des Buches enthält testimonios von Mitgliedern der christlichen Gemeinschaft auf Solentiname, der zweite von Mitgliedern der christlichen Basisgemeinde des Stadtviertels El Riguero im Osten Managuas. Bei den auf Solentiname Befragten werden zwar auch bekannte Intellektuelle, wie Ernesto Cardenal und William Agudelo, genannt, die 1966 zusammen mit anderen die christliche Kommune gründeten. Der subalterne Charakter dieser Stimmen wird jedoch ausdrücklich hervorgehoben: Es geht um Bauern und Jugendliche »que tomaron una isla y un sueño en las manos« (17). Noch stärker wird diese Subalternität in Bezug auf El Riguero betont: »El Riguero es uno de los aguerridos barrios orientales de la ciudad de Managua. [...]/ El Riguero es un barrio pobre. Sus habitantes son obreros. Algunos, de origen campesino, llegaron a la capital en busca de mejores condiciones y oportunidades de vida.« (105) Der Begriff der Subalternität vermischt sich hier mit dem vor allem zu
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Der Text des Liedes wird im Buch auszugsweise wiedergegeben, (vgl. 13) Die Idee zum Titel sei entstanden, als eines Tages Carlos Mejia Godoy mit seiner Gruppe Los de Palacagäina überraschend in einer der beiden von den interviewten Jugendlichen besuchten Schulen auf der kubanischen Isla de Pinos/Isla de la Juventud aufgetreten sei und das Lied gesungen habe, was zu Begeisterungsstürmen geführt habe. (vgl. 12f.) Vgl. auch Biermann (1988: 134f.), der auf die tragende Rolle der »sandinitos« genannten Kinder und Jugendlichen in der nicaraguanischen Revolution und literarische Traditionen in der Darstellung der Pariser Straßenjungen in der Gestalt des Gavroche in Les Miserables von Victor Hugo hinweist.
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Beginn der sandinistischen Regierungsperiode dominierenden Diskurs von der Einheit der Arbeiter und Bauern als Träger des revolutionären Prozesses (in Anlehnung an die marxistisch-leninistischen »Lehrbücher«, die berüchtigen manuales, die in der politischen Bildung des Frente Sandinista zeitweise eine bedeutende Rolle spielten). Allerdings haben viele der Interviewten zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches bereits wichtige politische oder militärische Funktionen inne, die Subalternität ist nach dem Sieg der Revolution zumindest zum Teil und in politischer Hinsicht umgeschlagen in leitende Funktionen der testimoniantes,45 Schließlich werden die Interviews durch testimonios von Personen ergänzt, die historisch zu den Führern des Sandinismus gehören, also keinen Anspruch auf »Subalternität« erheben können, wie zum Beispiel Tomás Borge, Mónica Baltodano, Martha Isabel Cranshaw und José Antonio Sanjinés. (vgl. 105-107) Keiner von ihnen gehörte der christlichen Basisgemeinde in El Riguero an. Der testimonio verliert so zunehmend seinen subversiven Charakter. Eine ebenso große Bedeutung wie der Subalternität der versammelten testimonios wird ihrer Repräsentativität zugemessen. Die paratextuellen Hinweise sind eindeutig. Der Text auf der vierten Umschlagseite fragt: Welche Bedeutung hatten die christlichen Basisgemeinden in der Geschichte des Kampfes in Nicaragua, wer waren die revolutionären Christen, die sich im Kampf entwickelten, wirklich? Die im Buch enthaltenen testimonios beantworteten diese Fragen und berichteten von der Transformation und Integration der christlichen Aktivisten in eine wirklich im Volk verwurzelte Gemeinschaft, die bis zum Ende gegen die Somoza-Diktatur kämpfen sollte. Auch der typische Bezug zur Rekonstruktion der historischen Wahrheit gegen die offizielle Geschichtsschreibung bzw. das Fehlen jeden historischen Erinnerns wird hergestellt, hier als Rekonstruktion der »verdadera práctica cristiana« (vierte Umschlagseite) im revolutionären Prozess - auch in offener Kritik an der Haltung des Klerus, der lange die Diktatur unterstützte. In der Vorbemerkung betont Margaret Randall den kollektiven Charakter des Buches; viele hätten bei seiner Entstehung geholfen. Deutlich wird, wie sehr die am Entstehungsprozess des Buches Beteiligten in seine Struktur und Komposition eingegriffen haben. Die zentrale Rolle der Herausgeberin bzw. ihrer Assistenten für die Auswahl, Kohärenz und Ordnung der Texte ist nicht zu übersehen, die Grenzen zwischen behaupteter historischer Wahrheit bzw. »bloßer« Wiedergabe,
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Zu Wort kommen zum Beispiel Joaquín Cuadra, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Buches Vizeminister für Verteidigung und Generalstabschef des Ejército Popular Sandinista (EPS), Roberto Gutiérrez und Salvador Mayorga, beide Vizeminister für Landwirtschaft und Agrarreform, Alvaro Baltodano, Leiter der militärischen Ausbildungszentren des EPS, und der Revolutionskommandant Luis Carrion, Mitglied der Nationalen Leitung des FSLN und Vizeminister des Inneren, (vgl. 105-107)
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zwischen Realität und Fiktion werden fließend.46 Auch in dieser Hinsicht steht das Buch also im Kontext des in den siebziger und achtziger Jahren dominierenden Diskurses über den zentralamerikanischen testimonio, mit allen damit zusammenhängenden erkenntnis- und literaturtheoretischen Problemen. In der Tat ist dieser Text Margaret Randalls (wie ihre 1977, 1980 und 1981 erschienenen Bücher) in vielerlei Hinsicht typisch für die »testimonios mediatos« (Sklodowska, 1992: bes. 97-102) bzw. »soziologisch-ethnographischen Dokumentationen« (Biermann, 1988: 133-138, bes. 135f.)47 46
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Zu den Interviews, in denen nur die namentlich gekennzeichneten Antworten (ohne die von der Herausgeberin gestellten Fragen) wiedergegeben werden, heißt es: »Kate Pravera hizo el montaje básico de las secciones sobre Solentiname y el Riguero. Su capacidad para extraer de un montón de palabras lo esencial, y darle un orden coherente, es parte importante de la obra terminada.« (13) Zu den zahlreich erschienenen Texten in diesem Kontext gehören auch: Pilar Arias, Nicaragua: Revolución. Relatos de combatientes del Frente Sandinista (1980) mit Interviews, Reden und Vorträgen von fuhrenden Sandinisten; Pablo Emilio Barreto, El repliegue de Managua a Masaya (1980) mit Berichten vom taktischen Rückzug der Guerilla aus der Hauptstadt nach Masaya im September 1978; Eduardo Pérez-Valle, El martirio del héroe: La muerte de Sandino (1980) mit Erinnerungen, Briefen, Zeitungsartikeln und anderen Texten; Ricardo Morales Avilés, Obras. No pararemos de andar jamás (1981), das Teile des poetischen und theoretischen Werks des Autors enthält, der bis zu seinem Tod 1973 Mitglied der Nationalen Leitung des FSLN war; Fernando Pérez Valdés, Corresponsales de guerra (1981), ein aus der Reportage des kubanischen Regisseurs über die Aufstände in Masaya entstandenes Buch, das 1981 mit dem »Premio Casa de las Américas« ausgezeichnet wurde; das vom Instituto de Estudio del Sandinismo (IES) herausgegebene ¡Y se armó la runga...! Testimonios de la Insurrección Popular Sandinista en Masaya (1982) mit Augenzeugenberichten von den Aufständen in den Jahren 1978 und 1979 in dieser Stadt; das ebenfalls vom Instituto de Estudio del Sandinismo publizierte Porque viven siempre entre nosotros. Héroes y mártires de la insurrección popular sandinista en Masaya (1982), das die Geschichte Masayas von 1912 an nachzeichnet; Sergio Ramírez, El alba de oro. La historia viva de Nicaragua (1983) mit Reden und Vorträgen des Autors; Margaret Randall, Risking a Somersault in the Air. Conversations With Nicaraguan Writers (1984), das Interviews mit Schriftstellern und Ministern enthält; German Pomares Ordóñez, El Danto: algunas correrías y andanzas (1989) mit Texten über das Leben des zwei Monate vor der Revolution 1979 gestorbenen Guerillakommandanten. Alle diese unterschiedlichen Texte wurden mit den Bezeichnungen »testimonio« oder »testimonial« belegt, was auf eine nahezu inflationäre Verwendung des Begriffs hindeutet und die Dominanz des kanonisierten fesiimonio-Diskurses belegt, (vgl. Holstein, 1998: 55, 56f., 58, 61) In einem im Anhang zu Holstein (ibid.: 103-105) abgedruckten Interview vertritt Sergio Ramírez die Meinung, nach der Revolution habe es nicht in die politisch-kulturelle Landschaft gepasst, Autobiografien oder Memoiren zu veröffentlichen; der herrschende Diskurs habe die Verwendung des Wortes »testimonio« als Verkleidung erfordert: »Es un poco más colectivo, un testimonio es menos personal, menos egoísta.« (105) - Biermann schreibt, dass seit Mitte der achtziger Jahre ein »vom Inhalt her neuer [...] Typ der Testimonialliteratur aufzukommen« scheine: »auktoriale und autobiographische Berichte aus dem Krieg gegen die sog. Contras« (Biermann, 1988: 139). Sie sollten offensichtlich dazu dienen, den Widerstandsgeist der Bevölkerung gegen die bewaffnete Konterrevolution zu stärken. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Veröffentlichung solcher testimonios in der Nummer 10 der vom nicaraguanischen Kulturministerium herausgegebenen Zeitschrift Nicaráuac vom August 1984. (vgl. ibid.; vgl. dazu auch unten das Unterkapitel »Triumph und Niederlage: Der postrevolutionäre testimonio 1«)
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Als ebenfalls noch in dieser Tradition stehend kann das von Claribel Alegría und Darwin J. Flakoll veröffentlichte Buch Somoza: Expediente cerrado. La historia de un ajusticiamiento (1993) angesehen werden. Auf der Grundlage von Interviews mit allen Mitgliedern des argentinischen bewaffneten Kommandos, das am 17. September 1980 den ehemaligen Diktator Anastasio Somoza Debayle in Asunción, Paraguay, ermordete, rekonstruiert das Buch Vorgeschichte und Verlauf dieser Aktion. Die Geschichte wird in dritter Person und in Zitaten (Collage) von testimonios der Beteiligten in erster Person erzählt. Am Ende (Kapitel 18) werden außerdem einige Zeitungsausschnitte sowie ein Auszug (als »Apéndice«) aus dem »Informe sobre la situación de los Derechos Humanos en Nicaragua« (1978) der »Comisión Interamericana de Derechos Humanos« wiedergegeben. In der Einleitung bezeichnen die beiden Autoren ihren Text als »testimonio histórico e inédito«, »una crónica de un tiranicidio« (10) und als »testimonio definitivo sobre el ajusticiamiento de Anastasio Somoza Debayle« (9). Offensichtlich aus Rücksicht auf die politische Situation in Nicaragua, besonders die der regierenden sandinistischen Befreiungsfront, wurde das Buch erst 1993 veröffentlicht, obwohl es schon im Laufe der achtziger Jahre geschrieben wurde. Der FSLN sollte in der schwierigen Lage in den achtziger Jahren offenbar nicht mit terroristischen Akten in Verbindung gebracht werden. So heißt es im Umschlagtext: »Esta es la verdadera historia del ajusticiamiento del dictador Anastasio Somoza Debayle en Asunción, Paraguay. / Por múltiples razones, como explican los autores, éste libro no ha salido a luz hasta ahora, trece años después del acontecimiento y es quizás el único que recoge las entrevistas con todos los miembros del comando argentino que le dió muerte al dictador el 17 de septiembre de 1980.«48 Mit dem Anspruch, das »definitive Zeugnis« (Einleitung), die »wahre Geschichte« (Umschlagtext) eines historischen Ereignisses zu sein, steht das Buch ganz im Kontext des dominierenden Diskurses über den testimonio in Zentralamerika in den achtziger Jahren; angesichts seines Themas (Ermordung des letzten Vertreters der Somoza-Dynastie) und seines Erscheinungstermins (nach dem Machtverlust der Sandinisten und dem Ende des revolutionären Projekts) kann das Buch als die letzte Veröffentlichung dieser Art bezeichnet werden, die in Nicaragua einen Kreis in der jüngsten Literaturgeschichte schließt, (vgl. dazu weiter unten)
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An gleicher Stelle wird den Autoren, die es laut Einleitung 1993 für an der Zeit hielten, dieses Zeugnis zu veröffentlichen, eine Distanzierung von terroristischen Aktionen zugeschrieben, die sich so im Text nicht wiederfindet, der frei von Einmischungen seitens der Autoren in Form von Kommentaren o.a. ist: »Esta crónica, bien documentada y a la vez humana, no pretende ser una apología al terrorismo ni a la violencia, si no un documento de valor histórico.« (Umschlagtext)
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Der weibliche testimonio: Möglichkeiten und Grenzen In diesem Diskurs nahm die Debatte über Funktion und Möglichkeiten der weiblichen Testimonialliteratur zunehmend einen breiten Raum ein. Der testimonio schien wie geschaffen, die Stimme der in der offiziellen Geschichtsschreibung prinzipiell abwesenden und unterdrückten Mehrheit der Gesellschaft hörbar werden zu lassen. Indem er dem Anderen, das heißt hier: der Anderen, bisher zum Schweigen Verdammten, Ausdruck verschaffte, schien sein subversiver Charakter neue Dimensionen anzunehmen. Alterität und Subalternität des testimonios mündeten in eine höhere Form der Authentizität und Repräsentativität, verschaffte sich in ihm doch zunehmend die bisher schweigende Mehrheit der Gesellschaft Gehör, die gleichzeitig zu einem tragenden Bestandteil der sozialen Bewegungen geworden war und einen in der zentralamerikanischen Geschichte einmaligen Prozess der Bewusstwerdung durchlief. Gehörten die Frauen gerade unter der jahrzehntelangen Herrschaft der zentralamerikanischen Militärdiktaturen zu den am schlimmsten misshandelten und vergewaltigten Opfern, so wurde insbesondere im Fall Nicaraguas »die Bewußtwerdung der Frauen dieses Landes, ihr Heraustreten aus der gerade für Lateinamerika so charakteristischen Situation der Unterwerfung und Abhängigkeit« (Biermann, 1988: 135) als Grundbedingung für den Sieg der Revolution bezeichnet, die nicaraguanische Revolution sei deshalb »immer wieder eine revolución de jóvenes y mujeres' genannt worden« (ibid.). Archetypisch stehen Produktion und Rezeption der ersten weiblichen testimonios zunächst im Kontext der Gefangnistagebücher, die für Barbara Harlow das Paradigma des testimonios als nicht nur Erzählung über den Widerstand, sondern Teil des Widerstands selbst darstellen, (vgl. Harlow, 1999: 125; vgl. weiter oben)49 Die weiblichen Gefangnistagebücher nähmen darin eine besondere Funktion ein, drückten sie doch den Widerstand der Frauen gegen die Manipulation von Seiten der Staatsapparate wie der männlichen Kader der Widerstandsbewegung gleichermaßen aus: » A u n q u e l o s hombres en situación de presos políticos también luchan dentro de las cárceles, las mujeres juegan un papel particularmente c o m p l e j o y primordial en la transformación de las estructuras sexuales y étnicas, en cuanto a la forma 49
Harlow datiert die Entstehung dieser Subgattung im Kontext der Auseinandersetzung zwischen Staatsmacht und Guerilla in Zentralamerika auf das Ende der siebziger Jahre, als das Gefängnistagebuch Secuestro y capucha des salvadorianischen Gewerkschafters und späteren Guerillakommandanten Salvador Cayetano Carpió erstmals erschien (1979). Ausgehend davon habe sich eine ganze Tradition der Gefängnisliteratur entwickelt, zu der in El Salvador insbesondere Las cárceles clandestinas de El Salvador (1980) von Ana Guadalupe Martínez und Nunca estuve sola (1988) von Nidia Díaz, beide Guerillakommandantinnen, gehörten, (vgl. Harlow, 1999: 123ff., 137) Allerdings muss festgehalten werden, dass in Nicaragua bereits zuvor (1977) weibliche Gefängnis- bzw. Testimonialliteratur erschienen war. (s.u.)
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en que son manipuladas, tanto por los aparatos del Estado como por los cuadros de la resistencia organizada.« (Harlow, 1999: 126) Mehr und mehr wird der testimonio dann parallel zur immer umfangreicheren Produktion von weiblicher Testimonialliteratur als Schreibpraxis rezipiert, die am unmittelbarsten den allgemeinen Prozess der Befreiung der Frau und in Nicaragua ihre aktive Beteiligung an der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft dokumentiere, (vgl. Biermann, 1988: 135) Die in diesen Texten erzählten Geschichten entstammten den alltäglichen Erfahrungen »-nacidas del amor (a su pueblo) y el dolor (frente al sufrimiento de ese pueblo)-« , so schreibt Vicki Román-Lagunas unter Bezug auf Somos millones... La vida de
Doris María, combatiente nicaragüense (1977), Me llamo Rigoberta Menchú y asi me nació la conciencia Díaz:
(1983) und Nunca estuve sola (1988) von Nidia
» [...] dan vestimenta a la carnadura representada por los hechos, los eventos anotados en los libros de historia. La escritura de sus testimonios, con o sin intermediaria, tiene un propósito: dejar constancia del lado más íntimo de los hechos históricos. Las tres narradoras/locutoras proveen un análisis de estos hechos, explicando sus ideas en cuanto a las razones o los orígenes de las injusticias en sus países, para que los lectores aprendan cómo actuar frente a los victimarios, o cómo dejar de ser pasivos frente a las injusticias. Para ellas, escribir es una tarea, un deber, es lo que hacen para contribuir al proceso de transformación histórica, un proceso que para las tres es irreversible.« (Vicki Román-Lagunas, 2000: 101, vgl. 100) Sie analysiert, wie sich diese Erzählstrategie vor allem in einer Kritik der Erziehung und der Kirche niederschlägt, zwei der tragenden Instanzen, die für die Aufrechterhaltung der traditionellen Ordnung verantwortlich sind. (vgl. ibid.: 102-104) Die Versionen der Geschichte, die in diesen weiblichen testimonios präsentiert werden, unterschieden sich zwar substanziell von der in den offiziellen Geschichtsbüchern erzählten Geschichte der Kriege in Zentralamerika, da sie das Intime, das Persönliche, das Alltägliche einschlössen und den Opfern die Möglichkeit gäben, die Folgen der Ereignisse, unter denen sie litten und die sie beobachteten, aus ihrer eigenen Perspektive zu erzählen, (vgl. ibid.: 105) Allerdings münde dies nicht in eine besondere weibliche Dimension der Alterität, Subalternität und Repräsentativität: »Sin embargo, si se comparan estos testimonios femeninos con los masculinos provenientes de Centroamérica, creemos que no se encuentran mayores diferencias. Las historias y los análisis que proveen las mujeres y los hombres son iguales. No podemos decir que el sufrimiento sea ni más ni menos, tampoco podemos decir que el nivel de protagonismo masculino y femenino sea desigual.« (Vicki Román-Lagunas, 2000: 105)
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In der Tat sollte das bereits 1977 als Erfahrungsbericht verfasste, erst in den achtziger Jahren veröffentlichte Buch von Charlotte Baltodano Egner, Entre el fuego y las sombras (1988), sozusagen der Gründertext der weiblichen Gefängnisliteratur in Nicaragua, vor allem dem Ziel dienen, das Vertrauen in den Sieg aufrechtzuerhalten (»Tiene que existir la esperanza«, 101) und exemplarisch für das ganze Volk den Kampf zu führen, es auf seinem Weg gegen die Diktatur zu begleiten: »El camino es duro. El hambre, la sed, el sol y el frío nos acompañan. Algunos saben llegar más rápido: son más fuertes, más inteligentes, más visionarios. Pero no pueden llegar solos, tienen que esperar a los más lentos, ayudarlos para que no se cansen. Este es nuestro papel, Evita, este es el papel que nos tocó jugar.« (101) Als auktoriale Erzählung geschrieben, berichtet der testimonio der aktiven Guerillakämpferin und Sandinistin von den Erfahrungen im Gefängnis »La Aviación« in Managua und im Guerillakampf, vermischt mit Zeitungsausschnitten und anderen Dokumenten. Das mit Illustrationen der Autorin versehene Buch trägt konsequenterweise die Widmung: »A los compañeros caídos / en la lucha por alcanzar / la libertad de Nicaragua« (5). In einer einfachen, in vielen Passagen dennoch poetischen Sprache, berichtet die Autorin vom heroischen Kampf im Untergrund, aber auch von Momenten des Alleinseins und der Zweifel im Gefängnis. Dabei wird ein Entwicklungs- und Bewusstseinsprozess im Laufe des Kampfes deutlich: »Yo ya no era la misma. Comprendía un poco más la esencia de la lucha. Empecé a conocer otras formas de amor, más honda, apropiada a nuevos matices, apasionada. Amor que exige más de lo normal; que se dispone a dar vida por todos los hermanos; amor que desafía la muerte [...] « (30f.) Dieses Bewusstsein basiert auf der Überzeugung, »protagonistas de la historia« zu sein und »el signo de la persecución hasta el final« (31) zu tragen. Dem entspricht die mythische Heroisierung führender Guerillakämpfer, allen voran Carlos Fonsecas: »Se hizo hombre en la lucha que lo tornó sabio. Había presenciado las muertes de muchos hermanos. Vivía como un roble al que no abaten los relámpagos. Respetado por el enemigo, y su nombre era grande entre el pueblo.« (61) Die Paratexte des 1988 als Buch veröffentlichten Textes reklamieren die Repräsentativität dieser individuellen Erfahrung eines Lebens, das sich ganz dem Kampf des nicaraguanischen Volkes hingab (vgl. den Umschlagtext), und die Authentizität des Erzählten, in dem sich die Geschichte der Revolution nicht in Gestalt einer offiziellen und einheitlichen Erzählung ausdrücke, sondern in den lebendigen, aus unterschiedlichen Perspektiven erzählten Geschichten, die sich zu einem Mosaik der Revolution zusammensetzten. Der testimonio Baltodano Egners, so Sergio Ramírez in seinem Vorwort »Palabras para Charlotte« sei ein exemplarischer Teil dieses Mosaiks, ihre Poesie sei ein Katalysator, der die nackte Wahrheit zu Papier bringe, ohne Verkleidung und ohne Zugeständnisse, (vgl. 7f.)50 50
Wie bereits erwähnt, war ebenfalls in den siebziger Jahren der testimonio über das Leben und
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Aus einer spezifischer weiblichen Sicht geschrieben ist das Werk von Margaret Randall, Todas estamos despiertas. Testimonios de la mujer nicaragüense de hoy... (1980), das auf der Basis von über achtzig unmittelbar nach der Revolution geführten Interviews die Beteiligung der Frauen am Widerstand gegen die Diktatur und am schließlich siegreichen Aufstand dokumentiert.51 In dem Buch werden individuelle Interviews mit allgemeineren, thematisch orientierten Teilen vermischt (zum Beispiel eine Einleitung der Herausgeberin zur Geschichte der Frauen von der prähispanischen Epoche bis zur Situation nach der Revolution, ein Kapitel über die sandinistische Frauenvereinigung AMPRONAC und eines über die von der Revolution eingeleiteten wichtigsten Veränderungen). Durchweg reklamiert es die besondere Bedeutung der Beteiligung von Frauen an der Revolution im Rahmen der »incorporación masiva« (93) des Volkes, durch die sich die Rolle der Frauen grundlegend verändert habe, wie es exemplarisch in dem Interview mit der Guerillakommandantin Dora Maria Téllez heißt: »Con el proceso revolucionario cambian también las concepciones. El mismo caso de la mujer. La mujer aquí participó dentro de la Revolución no a nivel de cocina sino a nivel de combatiente. A nivel de dirigencia política. Esto da otro marco a la mujer. De hecho jugó otro papel en la guerra, adquirió una autoridad moral tremenda para que cualquier hombre -incluso en una relación íntima- la respete.« (92, vgl. 74) Eingefordert und dokumentiert werden also die gleichberechtigte Partizipation der Frauen, ihre Gleichstellung mit den Männern im öffentlichen wie privaten Bereich, ihre Organisierung in einer eigenen Vereinigung, der Asociación de Mujeres ante la Problemática Nacional (AMPRONAC), die eine Schlüssei-
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den politischen Kampf von Doris Maria Tijerino entstanden, den Margaret Randall unter dem Titel Somos millones... La vida de Doris María, combatiente nicaragüense (1977) veröffentlichte. Wie bei Baltodano Egner (1977, 1988) soll das Buch, so Margaret Randall in der »Introducción«, dem Ziel dienen, »de mostrar la situación actual verdadera, de nuestros países, y su respuesta: la lucha del pueblo. / Hemos querido mostrar esta lucha a través de una mujer. / Y a la mujer a través de esta lucha. [...] /Y, porque esta mujer es nicaragüense, conocemos a Nicaragua. [...] / La historia de Doris no ha concluido. Es una historia viva, que continúa. Pertenece a una mujer pero no es única. Se repite. Se multiplica. Crece.« (10) In erster Person wird das Leben der Protagonistin von ihrer Geburt 1943 bis ins Jahr 1975 erzählt, insbesondere ihre Militanz in der Oppositions- und Untergrundbewegung. Auch bei Tijerino spielt die Erfahrung des Gefängnisaufenthalts eine wichtige Rolle für die politische Militanz. Das Buch enthält außerdem eine »Cronología mínima de intervención, represión y lucha« in zwei Teilen: »Imposición de la tiranía (1926-1956)« und »Resurgimiento de la fuerza popular« (1956-1974) sowie zahlreiche Fotos und Zeitungssausschnitte, die sich auf den Kampf gegen die Diktatur beziehen. Die Interviews entstanden zwischen November 1979 und Januar 1980 auf Einladung der Autorin durch das nicaraguanische Kulturministerium, »que puso a mi disposición vivienda y comida, el uso de un jeep con chofer, ayuda secretarial y operativa« (9), heißt es in einem dem Buch vorangestellten Paratext der Autorin. Die englischsprachige Ausgabe des Buches publizierte Margaret Randall unter dem Titel Sandino 's Daughters. Testimonies of Nicaraguan Women in Struggle (1981) in Kanada.
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rolle beim Sturz der Diktatur und für den Aufstand gespielt habe, an dem Frauen im Guerillaheer zu dreißig Prozent beteiligt gewesen seien, (vgl. Randall, 1981: iv) Zwar wird auch das besondere Verhältnis zwischen Müttern und Kindern bzw. Müttern und Töchtern angesprochen,52 dennoch bleibt die Perspektive des Buches ausgerichtet auf die Darstellung des Kampfes der Frauen, »who joined with their brothers in the struggle to defeat Somoza«, wie es im Vorwort zur englischsprachigen Ausgabe des Buches heißt (Randall, 1981: iii). Gemeinsame Intention von Herausgeberin und Interviewten ist es, die gleichberechtigte Rolle der Frauen an der Seite der Männer zu beanspruchen, die Notwendigkeit und Fähigkeit, so zu werden wie die Männer (oder besser) - in den von ihnen traditionell besetzten Funktionen.53 Erst gegen Ende der achtziger Jahre manifestieren sich neue Dimensionen und Ausdrucksformen, eher von den Rändern her und den Rahmen des testimonios bereits sprengend. Die salvadorianisch-nicaraguanische Autorin Claribel Alegría vermischt in ihrem Buch Luisa en el país de la realidad (1987) Elemente der Autobiografie, des testimonios und der nueva novela histórica. Es erzählt vom Leben der Luisa Solórzano, Tochter einer wohlhabenden salvadorianischen Familie. Luisa (zum Zeitpunkt des Volksaufstandes in El Salvador und des anschließenden Massakers im Jahr 1932 sieben Jahre alt) ist unschwer als Alter Ego der Autorin (1924 geboren) zu erkennen. Der Text ist voller autobiografischer Bezüge und Details aus dem Leben Claribel Alegrías, ebenfalls Tochter einer wohlhabenden Familie in Santa Ana - von der wohl behüteten Kindheit bis zu ihrem Engagement für die Unterdrückten und Marginalisierten in El Salvador und ganz Zentralamerika (Bud, der Ehemann Claribel Alegrías, taucht im Text ohne Namensänderung als Ehemann Luisas auf). »Schauplätze« sind unter anderem El Salvador, Nicaragua, Frankreich, die USA und Kuba. Dazu kommen Elemente der Testimonialliteratur, wie sie typisch für die salvadorianische und nicaraguanische Literatur der siebziger und achtziger Jahre, vor allem die Gefangnisberichte und -tagebücher von Frauen, sind: Erzählt werden unter anderem Folterszenen aus der Geschichte der lateinamerikanischen Linken dieses Jahrhunderts. Doch der Text 52
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Randall behauptet in der »Introduction« zur englischsprachigen Ausgabe zwar, dass es dabei besonders um das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern gehe (vgl. Randall, 1981: vii), um sich dann jedoch auf die massive Partizipation der Jugendlichen in der nicaraguanischen Revolution zu beziehen, »regardless of their sex« (ibid.: viii): » [...] among those above the age of 30 or 35, women's participation seems to far surpass that of men. Many women became involved through their children's activities. Often their first political involvement was in response to their child's arrest or imprisonment.« (ibid.) Offensichtlich überdeterminiert hier der geschlechtsspezifische, feministische Diskurs ein geschlechtsunspezifisches Phänomen. Dieser offen deklarierte Anspruch auf gleichberechtigte Partizipation wird mit einer gewissen zeitlichen Verschiebung auch in der in den achtziger Jahren erscheinenden Romanliteratur artikuliert, insbesondere in Gioconda Bellis erstem Roman, La mujer habitada (1988a), der viele Züge der Testimonialliteratur trägt, (vgl. dazu ausführlich das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«)
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beschränkt sich nicht auf diese Epoche, sondern greift bis zur Conquista im 16. Jahrhundert und die Rolle der Malinche zurück, um dann wieder zum Massaker von 1932 und dem Kampf Farabundo Martis, den »modernen« Folterkammern in Chile, dem Guerillakampf der siebziger und achtziger Jahre in Nicaragua und El Salvador zu springen. Wie in anderen ihrer Texte versucht Claribel Alegría, Verbindungen zwischen dem Aufstand und dem Massaker von 1932 und der Aufstandsbewegung der siebziger und achtziger Jahre herzustellen und die vergessene und unterdrückte Geschichte der Marginalisierten und zum Schweigen Gebrachten zu rekonstruieren - aus der Sicht der Subalternen. 54 Diese Subalternität findet ihren deutlichsten Ausdruck in der Unterdrückung der Frau über Jahrhunderte hinweg und in den verschiedenen Teilen der Erde und Kulturen. Dieser feministische Diskurs spielt eine zentrale Rolle bei der Konstituierung des »Anderen«, das heißt der eigenen, bisher unterdrückten Identität - des Individuums Luisa und eines ganzen Volkes. Hauptperson ist ein Mädchen/eine Frau, aus deren Perspektive die Erzähler/n die Geschichte entwickelt, die viele Elemente der Autobiografie der Autorin enthält. Der Kampf um die Befreiung der Frau schließlich ist Funktion und wesentlicher Bestandteil der allgemeinen gegen Unterdrückung, Rassismus und Ausbeutung gerichteten Befreiungsbewegung - Luisa die Synekdoche des um seine Befreiung kämpfenden Volkes. Für den weiblichen testimonio im Nicaragua der achtziger Jahre bleibt die Perspektive bestimmend, wie sie kurz und knapp Charlotte Baltodano Egner in einer Szene zusammenfasst, in der sie ihre erste Erfahrung im bewaffneten Kampf macht, angeleitet vom Führer der Guerillaeinheit: »Rolando era el jefe del pelotón. [...] Sus ojos reflejaban el cielo abierto de la madrugada. [...] quería ser como él [...] « (Baltodano Egner, 1988: 30f.) Was Vicki Román-Lagunas in Bezug auf die testimonios von Doris Tijerino, Nidia Díaz und Rigoberta Menchú feststellte, lässt sich auf die weibliche Testimonialliteratur des sandinistischen Jahrzehnts in Nicaragua insgesamt übertragen: » [...] se perciben iguales a los hombres que luchan en Centroamérica. A través de las historias personales que cuentan, sus descripciones de otros protagonistas en tales historias, y en los análisis que proveen, queda muy claro que no creen necesario establecer una diferencia o dicotomía entre papeles protagonísticos masculinos y femeninos. No son las narradoras de estos testimonios las que inician tales escisiones sino que son sus intermediarias, las cuales lo hacen por medio de su manipulación literaria [...] « (Vicki Román-Lagunas, 2000: 107)55
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Dies gilt vor allem für den Roman Cenizas de Izalco (1966, Barcelona: Seix Barrai) und den testimonio No me agarran viva. La mujer salvadoreña en lucha (1983, México, D.F.: Editorial Era). Mit dem letzten Satz spielt Vicki Román-Lagunas auf Hayden White, Tropics of discourse (1978: bes. 85), an. Ausgehend von dessen Feststellung, dass die meisten historischen Ereignisse auf unterschiedliche Weise erzählt werden können, müsse in Bezug auf die von ihr ana-
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Grenzen des testimonios zeichnen sich ab. Seine Möglichkeiten, authentisch und repräsentativ die Stimme der weiblichen Subalternen, Anderen zum Ausdruck zu bringen, finden ihre Beschränkungen im dominierenden politischen und politisch-literarischen Diskurs, der an der Funktionsbestimmung des testimonios als Bestandteil des revolutionären Projekts der Guerilla an der Macht festhält und ihn sogar einer »marxistisch-leninistischen« Dogmatisierung unterwirft.56 Eine Krise der Testimonialliteratur ist nicht zu übersehen.
Sergio Ramirez: Schaf im Fuchspelz oder Fuchs im Schafspelz? Diese Krise nimmt offene Formen an mit dem testimonio, den Sergio Ramirez Ende der achtziger Jahre unter dem Titel La marca del Zorro. Hazanas del comandante Francisco Rivera Quintero contadas a Sergio Ramirez (1989) veröffentlicht.57 Zusammen mit Omar Cabezas' La montafia es algo mäs que
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lysierten Texte von Elizabeth Burgos und Margaret Randall gefragt werden, »si estas intermediarias no se acercaron a su materia prima con un pian un poco diferente al de sus informantes« (Vicki Román-Lagunas, 2000: 107). Der einzige Punkt, in dem sich die weiblichen von den männlichen testimonios unterschieden, sei die Vorstellung, die die Frauen von ihrer eigenen Funktion im Kampf hätten: »Y es justamente aquí donde pensamos que las tres narradoras comparten una visión que no es exactamente igual a la de Burgos-Debray y Margaret Randall. Díaz, Tijerino y Menchú, se comprometen de lleno en la lucha y las tres recuerdan a otras mujeres y a otros hombres que también se han dedicado plenamente a las luchas, pasadas y presentes.« (ibid.: 106) Auch hier dominiert also die Perspektive des gemeinsamen Kampfes. Die spezifisch feministische Sicht sei dagegen Resultat einer Intervention der Herausgeberinnen in den Text. (Interessanterweise werde im testimonio von Nidia Díaz, der ohne Herausgeberin auskommt, also autobiografischen Charakter hat, an keiner Stelle die besondere Rolle der Frauen vom allgemeinen Kampf separiert.) Der Diskurs der Erste-Welt-Intellektuellen und die Erzählung der am Kampf beteiligten Frauen in der Dritten Welt fielen auseinander, letzterer werde von ersterem okkupiert, (vgl. ibid.) Dies trifft ohne Zweifel auch auf Randall (1980 und 1981 ) zu. Im Vorwort von Lynda Yanz zur englischsprachigen Ausgabe gar wird die Partizipation der Frauen an der antidiktatorischen Bewegung für einen vulgär-marxistischen Dogmatismus in Anspruch genommen: »These Nicaraguan women tell us how they have organized as women; beyond that, they reveal their commitment to integrate their own liberation movement with the more general struggle of people fighting against oppression. The relationship between women's liberation and socialism, or as it is sometimes posed, between feminism and marxism, has long been debated in the women's movement. [...] These women restate again and again that the option of women's liberation separate from the revolution was not a reality in Nicaragua.« (Randall, 1981: if.) Zum Zusammenhang von machismo, feministischem Diskurs und literarischem Nationalismus bei der Konstruktion der (neuen) nicaraguanischen Nation vgl. ausführlich das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« der vorliegenden Arbeit. Bereits Ende der siebziger Jahre publizierte Sergio Ramírez mit Abelardo Cuadra. Hombre del Caribe. Memorias presentadas y pasadas en limpio por Sergio Ramírez (1977b) in San José (EDUCA) seinen ersten testimonio. Das Buch - die Lebenserinnerungen von Abelardo Cuadra, der zu dem Kommando gehörte, das Sandino erschoss, und später zum Antisomozisten wurde - basiert auf Aufzeichnungen und Briefen des Protagonisten sowie Interviews, die Sergio Ramírez Anfang der siebziger Jahre mit ihm führte. Ramírez sagte dazu in einem Inter-
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una inmensa estepa verde (1982) und Tomás Borges La paciente impaciencia (1989) gehört Sergio Ramírez' Buch zum »Kanon« der sandinistischen Testimonialliteratur.58 Als »testimonio mediato organizado por un editor« (Sklodowska, 1992: 98) geschrieben knüpft es am unmittelbarsten an der im sandinistischen Diskurs über den testimonio lange Zeit als Modell verstandenen Konzeptionalisierung des Kubaners Miguel Barnet an. Holstein kommt in seiner Studie über das Buch gar zu dem Schluss, dass La marca del Zorro »geradezu paradigmatisch die Charakteristika aufweist, die Barnet und andere für die Testimonio-Literatur, speziell die 'novela-testimonio', formuliert haben«: »Der Protagonist Francisco Rivera ist als außergewöhnliche Persönlichkeit zugleich ein hervorragender Repräsentant seiner Epoche und einer für die Eigendefinition des aus einem revolutionären Umbruch hervorgegangenen Staatswesens konstitutiven Gruppe. Seine Erzählung weist einen hohen Grad an Authentizität und Repräsentativität auf; zudem kann sie einem Publikum präsentiert werden, das zu einem Teil aus anderen Testimonianten dieser Epoche und dieser Gruppe besteht. Die in der theoretischen Diskussion als ein Kriterium für Repräsentativität geforderte Identifikation zwischen Testimoniant und Gruppe konnte für La Marca del Zorro nachgewiesen werden. Sie wurde sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der sprachlichen Ebene konstituiert.« (Holstein, 1998: 99) Im »Prologo«, der den Titel »Metido en la piel de El Zorro«trägt, hebt Ramírez ausgehend von der Art der Entstehung, der Form der Produktion des Textes die im testimonio-Diskurs kanonisierten Züge für den Bericht über die Hazañas del comandante Francisco Rivera Quintero hervor. Dem Buch liegen die Videoaufzeichnungen von insgesamt siebzehnstündigen Gesprächen zugrunde, die Sergio Ramírez im September 1988 mit dem »comandante Francisco Rivera Quintero, El Zorro de la película que fue la guerra de liberación de Nicaragua« (13; vgl. Delgado, 1999: 37), führte. Betont wird die Subalternität des Berichts: » [...] todo como un gran círculo trazado con pólvora que depunta en los días duros de una infancia proletaria vivida en un barrio marginado de Estelí, el lugar donde El Zorro nació en 1954, se cierra en 1979, también en Estelí, el lugar al que regresó tres veces en son de insurreción, hasta sellar la victoria« (13f.). El Zorro ist als »combatiente clandestino desde la adolescencia, guerrillero de la montaña, caudillo militar por naturaleza, jefe
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view: » [...] yo convertí eso en algo que reflejara o que fingiera una narración del propio Abelardo, sacando de unas 800 páginas de documentos [...] 200 páginas que es que tiene el libro. El procedimiento que yo utilicé fue darle una unidad como si se tratara de un relato en primera persona que nunca lo fue.« (Holstein, 1998: 103, vgl. 60) Die erste Auflage vom Juli 1989 lag bei 10000 Exemplaren, die zweite vom Oktober 1989 ebenfalls bei 10000; 1990 erschien eine Ausgabe bei Mondadori in Madrid auch mit 10000 Exemplaren. Damit war das Buch nach Cabezas' La montaña es algo más que una inmensa estepa verde wohl das am zweitbesten verkaufte nicaraguanische Buch der achtziger Jahre, (vgl. Holstein, 1998: 62)
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de tres insurrecciones populares al frente del pueblo en las barricadas« (13), nicht nur Repräsentant eines ganzen Volkes im Kampf gegen die Diktatur. Sein Kampf schreibt sich ein in eine Kontinuität des Widerstandes der unteren Klassen »desde los albores mismos de la existencia del Frente Sandinista, cuando en los años de su infancia ayudaba en pequeñas tareas a su hermano Filemón Rivera, uno de los primeros soldados en alistarse en las filas de la lucha clandestina« (16), eine Tradition, die sich auf noch ältere Mythen des Kampfes von »héroes, mártires y santos de catacumba« (ibid.) stützt. In einem Akt der Heroisierung und Heiligsprechung wird El Zorro durch die Erfahrung der »territorios míticos de la montaña« (ibid.) zum Teil dieser Helden und Märtyrer, »un santo [...], pues de verdad, la lucha por la liberación de Nicaragua se libraba entre santos y demonios« (15). Gleichzeitig insistiert Ramírez auf der Authentizität und Wahrhaftigkeit der Wiedergabe des Berichts, der trotz der Eingriffe des Autors und anderer (vgl. 13) den »halo fundamental que envuelve los acontecimientos del relato, la memoria misma del protagonista, siempre en vela« (13) bewahre. Beschworen wird die symbiotische Verbindung von Autor und testimoniante: »La mano del escritor ha intervenido solamente para ordenar sus recuerdos en una estructura narrativa capaz de mostrar la progresión del círculo que su vida traza con pólvora, para que arda a los ojos del lector, metiéndome en la piel de El Zorro y en su propio lenguaje para exaltarlo en todos sus fulgores.« (14) Der in zwanzig Kapiteln organisierte Bericht des Francisco Rivera Quintero liest sich in der Tat über weite Strecken wie eine Illustration bzw. Ausführung dieser paratextuellen Koordinatenbestimmung im Vorwort des Autors. Erzählt werden in erster Person das Leben und das politisch-militärische Agieren des Protagonisten, insbesondere in den Jahren zwischen 1972 - seiner militärischen Ausbildung in Kuba (April 1972 bis Mai 1973) und seinem Eintritt in den bewaffneten Kampf in den Reihen der sandinistischen Guerilla und 1979 - dem erfolgreichen (dritten) Aufstand in seiner Geburtsstadt Esteli im Norden Nicaraguas am 16. Juli unter seiner Führung, drei Tage vor dem endgültigen Sturz der Somoza-Diktatur und dem Einzug der Revolutionäre in die Hauptstadt Managua. In zahlreichen Rückblenden werden seine Kindheit und Jugend rekonstruiert und Porträts seiner Familie, insbesondere der Mutter, des älteren Bruders und des Vaters gezeichnet. Gerade in diesen Rückblenden wird die Subalternität des familiären und sozialen Umfelds in einem von Angehörigen der unteren Klassen bewohnten Viertel Estelis rekonstruiert: »Me llamo José Francisco Rivera, y soy hijo de un carpintero y de una lavandera«, (19) lautet der erste Satz des testimonios. Die Mutter repräsentiert über diese Subalternität hinaus außerdem die für einen Großteil der unteren Volksschichten in Nicaragua typische Alterität: »Mi madre [...] venía de una familia indígena« (20). Dagegen ist der Vater, zwar offener Gegner des Regimes, als Frauenheld und Alkoholabhängiger Repräsentant eines weit verbreiteten »machismo der Subalternen«. Die Vaterrolle wird weitgehend von dem älteren
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Bruder Filemón übernommen, der El Zorro in die ersten Widerstandsaktivitäten einbezieht, zum bewunderten Vorbild wird und seine Politisierung anstößt und befördert. Er öffnet ihm die Tür zum Untergrundkampf in der sandinistischen Guerilla in den Bergen, in der Francisco Rivera im Verlauf von sieben Jahren trotz seiner Jugend zunächst zum lokalen bzw. regionalen militärischen Führer wird und schließlich als Guerillakommandant bis in die nationalen militärischen Führungsinstanzen des FSLN aufsteigt (1988 erhält er die höchste Auszeichnung des FSLN, die »Orden Carlos Fonseca«). Von dem sich quasi natürlich herausbildenden Repräsentanten an der Spitze von »miles de jóvenes como él« (15) über die Führung von drei Aufstandsversuchen wird El Zorro als »personaje excepcional que cuenta una historia excepcional« (14) zur Synekdoche einer ganzen Generation, eines ganzen Volkes. Diese metonymische Funktion für die subalternen Klassen wird endgültig deutlich, als Francisco Rivera im Moment des Sieges der Revolution auf nationaler Ebene nicht mit den Tausenden von Kämpfern nach Managua geht, sondern in Esteli bleibt: »Por qué me quedé yo en Estelí, por qué no me puse a la cabeza de las columnas que marchaban a Managua, no lo recuerdo bien. [...] / [...] como quien llega de un largo viaje, cansado, adolorido, y se sentía a oir el radio. / Eso es, un largo viaje. Por abras, por picadas, por montes, por cañadas, subiendo montañas y bajando a los valles, entrando clandestino de noche a un caserío campesino, saliendo por veredas, siempre andando. / Y en aquel silencio, sentía que al fin había llegado al punto de donde había partido. A mi barrio proletario, a mi infancia, a la voz serena de mi hermano Filemón enseñándome a ser hombre [...] « (276f.) Der Widerstand der Subalternen ist im Moment des Sieges wieder bei seinen Ursprüngen angekommen. El Zorro wird so zum Repräsentanten einer ganzen Nation, die von unten konstituiert wird und die ganze Vielfalt der niederen Volksschichten umfasst: »Junto a quienes habíamos encabezado la insurrección iban todos los que ya dije: combatientes populares de los barrios, los que habían recibido entreñamiento previo y los que se habían peleado en las barricadas, jóvenes y adultos, mujeres con sus niños, gente de la población civil que nos había ayudado, otros que huían por miedo a la guardia.« (203, vgl. 87) Mehr noch als durch ihre gemeinsamen sozialen Interessen werden diese heterogenen sozialen Gruppen in ihrem Kampf zum Sturz des Unterdrückerregimes durch den Rekurs auf eine Reihe von Mythen zusammengehalten. Da ist zum einen der Mythos von der Kontinuität des Widerstandes der unteren Klassen gegen die verschiedenen Herren in der Geschichte des Landes, verkörpert im Gründermythos Sandino: »Entre los colaboradores que digo, había gente del tiempo de Sandino que transmitía la lealtad por la lucha a sus hijos y a sus nietos, y esa lealtad se mantenía firme y despierta entre hermanos, primos, tíos y sobrinos, guardada como un tesoro humilde por toda la parentela dispersa en distintas comarcas.« (86) Dazu kommt der Mythos Che Guevara, der die Möglichkeit des Sieges gegen eine scheinbar unbesiegbare despotische Macht symbolisiert, und der
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von Carlos Fonseca als »jefe de la revolución« (117), der auch nach seinem im Buch ausführlich geschilderten Tod im Guerillakampf (vgl. l l l f f . ) als Führungs- und Vaterinstanz der sandinistischen Bewegung in den siebziger und achtziger Jahren weiterlebt, dessen Lehren (»enseñanzas«, 130) zur Richtschnur werden und der auch noch nach dem Tod dem Protagonisten wiederholt als Stimme aus dem Jenseits erscheint, um in Momenten der Niedergeschlagenheit Stärke, Zuversicht und Entschlossenheit zu vermitteln (vgl. 126). Diese mythisch konstituierte Kontinuität und Identität sind wie bei Cabezas (1982) völlig männlich dominiert, wichtiger Erfahrungsraum für den Reifungsprozess des jugendlichen Francisco Rivera sind die Berge.59 Allerdings bleiben die Geburtsstadt des Protagonisten und ihr sozialer Kontext sein eigentlicher Bezugspunkt, seine Quelle der Identität - eine Metonymie der nationalen Identität und des politischen Projekts des Sandinismus in einem noch dezidierteren Sinn: Der dreimalige und schließlich siegreiche Aufstand in Esteli steht als Symbol für die siegreiche Strategie der Sandinisten im ganzen Land, die als logische Konsequenz der Entscheidung für den bewaffneten Aufstand (ausgehend von den Städten) erklärt wird. Damit wird im Nachhinein (das Buch entstand 1988/1989, also in der Endphase der sandinistischen Revolutionsregierung) die Strategie der damals dominanten, pragmatisch ausgerichteten Fraktion der »Terceristas« oder auch »Insurreccionistas« als konstituierend für den neuen Staat konstruiert - in Abgrenzung von den beiden anderen Fraktionen, der Tendenz »Guerra Popular Prolongada«, die für einen langanhaltenden Guerillakrieg in den Bergen eintrat, und der »Tendencia Proletaria«, die auf einen allmählich vorzubereitenden Generalstreik in den Städten orientierte.60 Delgado sieht in dieser neuen Ethik und in diesem politischen Pragmatismus, der den Aufstand zum Ziel hat, die relevanten Charakteristiken von La marca del Zorro, »en contraposición al romanticismo fundacionalnacionalista de Omar Cabezas o las intertextualidades del pensamiento y la acción revolucionaria en Tomás Borge. Publicado en 1989 La marca del Zorro señalaba un distanciamiento con respecto a las simbologías revolucionarias estables de los primeros años de gobierno sandinista.« (Delgado, 1999: 38) Dies wird begleitet von einer Konstruktion a posteriori eines quasi unaufhaltsamen Vormarsches der Revolution als Folge der richtigen Entscheidung für die Strategie der »Terceristas«, bis hin zum siegreichen Einzug in Managua: »no una guerra de guerrillas en la cordillera [...] , sino la insurrección nacional, de forma permanente, sin interrupción« (170, vgl. 97ff., 155, 168ff., 171, 174f., 178f., 184, 199f., 201, 229f.), wie auch als Folge einer breiten Bündnispolitik unter Einbeziehung bürgerlicher Kräfte, während die anderen beiden Tendenzen im Nachhinein dekonstruiert werden: » [...] como era de 59
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Vgl. zu diesen Aspekten ausführlich die Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« sowie »Fünfter Kreis: Raum und Text«. Zu diesen Tendenzauseinandersetzungen vgl. ausführlich Mackenbach, 1995a: 163-167.
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esperarse, los mandos de la tendencia GPP me regatearon su apoyo desde el comienzo. / [...] Estaban cerrados, y esa falta de entendimiento hizo que la insurreción de septiembre en Estelí tuviera menos posibilidades y que no pudiéramos impulsar a la vez la insurrección en Matagalpa.« (174, vgl. 175, 181)6' All dies macht La marca del Zorro zu einem offiziösen Dokument des regierenden Sandinismus, zum metonymischen testimonio des späten, institutionalisierten Sandinismus. Dies wird unterstrichen durch die paratextuellen und ikonografischen bzw. ikonotextuellen Elemente. So verleiht der Paratext »Reconocimientos« dem Buch quasi einen offiziellen Rang: »La grabación en video de las entrevistas fue realizada por un equipo de la Dirección de Divulgación y Prensa de la Presidencia de la República [...] / Los mapas fueron preparados en el Instituto Nicaragüense de Estudios Territoriales (INETER) [...] / La cronología es obra de Roberto Cajina, investigador de la Dirección Política del ejército Popular Sandinista [...] « (9). Die insgesamt sechs dem Buch beigegebenen Karten (vgl. 11, 79, 99, 119, 165,189) zeichnen u.a. den Weg Francisco Riveras in die Berge, die militärischen Operationen des FSLN zwischen 1975 und 1976, die Route Carlos Fonsecas kurz vor seinem Tod 1976, die Aktionen des Frente Norte von 1977 bis zum Februar 1978 und den Verlauf des Aufstands in Estelí im September 1978 nach. Die »Cronología selectiva« (279-297) berichtet vor allem von militärischen Aktivitäten der Guerilla bzw. der Nationalgarde und von politischen Ereignissen. Sie sei ausschließlich mit dem Ziel erarbeitet worden, so heißt es in einer Fußnote, »para que sirva como una referencia básica de los sucesos acaecidos a nivel nacional entre 1954, año en que nace Francisco Rivera Quintero, y el triunfo de la Revolución Popular Sandinista en julio de 1979« (279). Damit wird das Problem der Authentizität, Repräsentativität und Wahrhaftigkeit dieses testimonios in einem weiteren Kontext aufgeworfen und ebenso die Frage, ob es sich dabei um einen literarisch-fiktionalen oder historischdokumentarischen Text handelt. Durch den ganzen Text ziehen sich Elemente, die für die Herstellung des doppelten »contrato de veracidad« (Craft, 2000: 81) zwischen testimoniante und Leser und zwischen testimoniante und Autor/Schriftsteller/Agent konstituierend sind. Immer wieder finden sich Strukturen, die dem oralen Zeugnis entnommen sind und die Erinnerung des Erzählenden als Instanz anrufen: »no sé« (21), »se me ha olvidado cómo« (42), »se me viene un recuerdo« (47), »y ahora que reflexiono en mis recuerdos sobre aquel momento« (122), »de otros me iré acordando después« (152) usw. Zwar betont Sergio Ramírez im Vorwort, die Bearbeitung der siebzehn
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In diesem Kontext wird schließlich auch im Nachhinein die charismatische Figur des Guerillakommandanten Edén Pastora, Führer des Überfalls auf den Nationalpalast im August 1978, dekonstruiert, ein Anachronismus, der sich aus dem Kontext Ende der achtziger Jahre erklären lässt, als Edén Pastora als Führer einer konterrevolutionären militärischen Einheit den Kampf gegen die sandinistische Regierung führte, (vgl. 211, 213f.)
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Stunden Videoaufnahmen zur Veröffentlichung in Buchform habe in Zusammenarbeit mit Francisco Rivera stattgefunden. Dennoch kann weder davon gesprochen werden, dass es sich um einen Text »sin mácula de adornos o acomodos« (13) handele, noch von einer »anulación del ego del escritor y su identificación incondicional con los protagonistas« (Narváez, 2000: 118). Nicht nur weist Ramírez darauf hin, dass mit Hilfe eines Dritten, des bereits erwähnten Roberto Cajina, Daten über Ereignisse, Orte, Zeiten und Namen erhoben und verglichen worden seien, (vgl. 13) Auch in der Organisation des Textes sind die Eingriffe des Autors Ramírez nicht zu übersehen. Dies bezieht sich zum einen auf die Einteilung in zwanzig Kapitel und ihre paratextuelle Einbettung durch Überschriften, die Satzfragmente aus dem Text aufnehmen, aber deutlich auf eine Literarisierung abzielen, wie zum Beispiel: »Un rio de aguas bermejas« (19), »Un hombre singular« (33), »Me había llegado la hora« (59), »Siete compañeros a las siete de la noche un siete de noviembre« (109), »La chispa estaba prendida« (159), »Metidos en la ratonera« (219), »El fin de un largo viaje« (267) usw. Diese Literarisierung wird verstärkt durch die Kapitelenden, die oft zusammenfassende allgemeine Erkenntnisse wiedergeben (»Otros tiempos nacían, otro día nos amanecía. Estábamos en el camino de nuevas victorias, y ya nunca más nos íbamos a quedar esperando que nos mataran, uno por uno«, 201) bzw. einen Spannungsbogen zu dem folgenden Textteil aufbauen (»A las pocas semanas, estaría por segunda vez peleando dentro de Estelí«, 217), letztere eine Technik, die für das erzählerische Gesamtwerk Sergio Ramiréz' typisch ist. Der Text schreibt sich also in eine literarische Tradition des Autors ein. Auch das Problem des Verhältnisses von Intellektuellem und Subalternem stellt sich somit schließlich in einem neuen Licht. Holstein kommt in seiner Studie zu dem Schluss: »Das Verhältnis dieser beiden Instanzen kann aber [...] nicht auf ein einfaches Erzähler-Autor-Verhältnis reduziert werden, denn es konnte nachgewiesen werden, daß Francisco Rivera bei der Erstellung des Testimonios teilweise selbst die Position eines 'Vermittlers' einnahm und unmittelbarer Adressat für Testimonios anderer Personen war.« (Holstein, 1998: 99) Die von mir vorgeschlagene Analyse hat eine ungleich komplexere und konfliktreichere Beziehung zu Tage gefördert, in der das erzählende Subjekt (Rivera, der Guerillakämpfer) vom Autor (Ramírez, dem Intellektuellen und Vizepräsidenten) in seiner Bescheidenheit zerstört wird. Die Hauptschwierigkeit, berichtet Ramírez im Vorwort, habe darin bestanden, »derrotar su modestia, sacarlo del anonimato en que siempre quiere refugiarse, vencer su humildad, obligarlo a usar el yo y abandonar el nosotros en el que trataba de perderse« (14). Diese Dekonstruktion resultiert schließlich in der Konstruktion eines neuen Ichs, eines neuen historischen Subjekts, repräsentativ für ein
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ganzes politisches Projekt. Leonel Delgado hat daraufhingewiesen, dass diese Singularisierung des neuen historischen Subjekts nicht wie bei Omar Cabezas spontan ist, sondern von einer Position der »korrekten Politik« her rekonstruiert wird, »señalando al subalterno su lugar en la historia y el pragmatismo político necesario para figurar en lo letrado, espacio, que es, a la vez, [...] el de la historia y de la literatura« (Delgado, 1999: 38). Der Subalterne steigt in den Kreis der »letrados« auf, das Marginale wird zum Zentrum, aber nur um den Preis der Festlegung der »korrekten Stimme« der Subalternen durch die Intellektuellen. Wo aber bleibt, so fragt Delgado, da Raum für den »'otro subalterno', no nacional-sandinista, no 'hombre nuevo', no universitario« (ibid.)? »Metido en la piel de El Zorro« - mit diesem Titel des Vorworts erhebt Ramírez den Anspruch, sich in die Haut des Francisco Rivera Quintero versetzt und sich damit in den Dienst der Subalternen gestellt, ihre Stimme unverfälscht zu Gehör gebracht zu haben. Muss nicht eher davon gesprochen werden, dass El Zorro zwischen die Buchdeckel eines renommierten Schriftstellers, Angehörigen der privilegierten Mittelschichten und noch dazu zum damaligen Zeitpunkt der politischen Elite des Landes, gepresst wurde »metido en el libro de Sergio Ramírez«? Hat er - El Zorro - damit nicht auch seine Subalternität eingebüßt, die er schon als führender Kader der siegreichen Sandinisten ablegte und die nun nur noch als (literarische) Fiktion weiterlebt? Sergio Ramírez selbst verwies ausdrücklich auf die literarische »Konstruiertheit« des Textes:62 Der erste Eingriff, den er als Autor bei der Bearbeitung der Videoaufnahmen für die Buchveröffentlichung vorgenommen habe, sei gewesen, die vom damaligen sandinistischen Politjargon durchsetzte Sprache des Kommandanten Francisco Rivera zu redigieren und durch die Volkssprache zu ersetzen, um so dem Text ein höheres Maß an Authentizität zu verleihen - die Konstruktion eines ideellen Subalternen durch die Dekonstruktion des realen Subalternen. Damit zerstörte Ramírez gleichzeitig eine der letzten Bastionen des fesii/noM/'o-Diskurses, für den dessen Wahrhaftigkeit gerade dadurch garantiert war, dass er sich »en su palpitación directa la tradición oral de raíz popular« und »el discurso coloquial y la diversidad de matices sociolectales ahí impresos« (Zavala, 1990: 291) einverleibe. In La marca del Zorro ist die »habla popular« endgültig zum Kunstprodukt geworden, wie in dem bereits ein Jahr zuvor erschienenen Roman Castigo divino fiktive testimonios dazu dienen, die Unmöglichkeit der Rekonstruktion historischer Wahrheit zu illustrieren, der testimonio also in parodischer Funktion gebraucht wird.63 Schaf im Fuchspelz oder eher Fuchs im Schafspelz? Jedenfalls stellt La
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Die folgende Passage stellt eine Zusammenfassung von Aussagen des Autors dar, die er bei einem Vortrag am 20. Juni 2001 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main machte, (private Aufzeichnungen, W.M.) Eine ähnliche Argumentation entwickelte er bereits in einem Interview mit Joachim Holstein, (vgl. Holstein, 1998: 103f.) Vgl. dazu auch das Kapitel » Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«.
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marca del Zorro nicht nur im Werk Sergio Ramirez' einen Anachronismus dar, dieser »spätsandinistische« testimonio steht exemplarisch für die Krise der Testimonialliteratur. Die Grenzen des beschworenen Horizontes der Repräsentativität, Alterität, Subalternität, Authentizität und des nicht literarischen Charakters sind erreicht.
Tomás Borge: Zwischen Karl May und Karl Marx oder Revolutionäre Erziehung als Intertext Nur scheinbar zeichnet sich ein möglicher Ausweg aus dieser Sackgasse mit dem im gleichen Jahr wie La marca del Zorro erschienenen autobiografischen Bericht von Tomás Borge, La paciente impaciencia (1989), ab. Auch Borges Buch erhielt wie Omar Cabezas' La montaña es algo más que una inmensa estepa verde (1982) im Erscheinungsjahr den »Premio Casa de las Américas« in der Sparte testimonio und erregte breite nationale wie internationale Aufmerksamkeit.64 Wie die Jury in ihrer Begründung hervorhob, dass der Text sich durch seine außergewöhnliche Qualität auszeichne, in der sich die erzählerischen Fähigkeiten des Autors und seine poetische Kraft enthüllten, so wurde er von der Kritik und vielen lateinamerikanischen Autoren geradezu hymnisch als »la mejor de las mejores« (Eduardo Galeano) gefeiert.65 Diese Aufmerksamkeit war nicht nur der Tatsache geschuldet, dass zum ersten Mal ein führender Sandinist seine autobiografischen Erinnerungen vorlegte, das Buch Borges galt einem Teil der Kritik gleichzeitig als ein Meilenstein innerhalb der lateinamerikanischen Testimonialliteratur, wie der Kubaner Victor Rodríguez Núñez schrieb: »Será en el sorprendente horizonte de las letras latinoamericanas, el 'Cien años de soledad' del género testimonio.« (zit. nach dem Umschlagtext) Der einzige überlebende Gründer des Frente Sandinista und damalige Innenminister der sandinistischen Regierung erzählt sein Leben von den Kinderund Jugendtagen in Matagalpa im Norden Nicaraguas über die Studentenzeit, die ersten politischen Aktivitäten und das Engagement in der Guerillabewegung, die Gründung des FSLN, die Jahre der (weitgehend isolierten) Guerillaaktivitäten in den Bergen und dann in den Städten, bis zu seiner Verhaftung, Gefängnisaufenthalt und Folter. Neben der Biografíe des Autors stehen (wie in Borges Carlos, el amanecer ya no es una tentación, 1982) Leben, politisches
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Bereits 1990 erschien im Peter Hammer Verlag, Wuppertal, eine deutschsprachige Ausgabe unter dem Titel Mit rastloser Geduld in der Übersetzung von Lutz Kliche. (vgl. zur Problematik dieser Übersetzung weiter unten, Fußnote 68) Vgl. die vierte Umschlagseite der Ausgabe von 1989, auf der weitere Stimmen zitiert werden.
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Agieren und Tod Carlos Fonsecas im Mittelpunkt. Die Erzählung beginnt mit der gemeinsam verbrachten Jugend in Matagalpa (wo auch Fonseca geboren wurde) und endet mit der Nachricht von seinem Tod 1976, die Tomás Borge im Gefängnis in Managua erreicht. In der Tat weist die Struktur des Textes viele Ähnlichkeiten mit der Testimonialliteratur auf: Neben die Ich-Erzählung treten als solche ausgewiesene testimonios anderer Beteiligter, komplett abgedruckte Dokumente des FSLN und anderer Vereinigungen, (Auszüge aus) Schriften Carlos Fonsecas, Briefe, Auszüge aus zeitgenössischen Zeitungsartikeln und Büchern anderer führender Sandinisten (und von Tomás Borge selbst); eine Karte am Ende des Buches (579) informiert über Carlos Fonsecas letzten Weg vor seinem Tod.66 Wie Guadamuz' testimonio über Julio Buitrago (1982) und Borges über Carlos Fonseca (1982) lässt sich auch La paciente impaciencia als Text lesen, der im Nachhinein die Heroisierung der sandinistischen Guerilla, insbesondere ihrer Führerfigur, und die Legendenbildung um den bewaffneten Kampf als Gründungsakt der neuen Nation betreibt, sich also in den Dienst der neuen Ordnung stellt, dabei aber gleichzeitig beansprucht, repräsentativ und authentisch die Stimme des Volkes zum Ausdruck zu bringen. So heißt es im Klappentext der deutschen Ausgabe: » [...] was er über den jungen sandinistischen Dichter Leonel Rugama schreibt, trifft auf ihn und sein eigenes Buch zu: [...] Er schreibt, und es scheint von den Lippen der Schuhputzer und Marktfrauen, der Schwarzen von der Karibikküste, der Arbeiter und Prostituierten zu kommen. Mit ihnen spricht er, mit dem Holzkohlenhändler, dem Taxifahrer und dem staubigen Lastwagenfahrer, mit dem besoffenen Soldaten und dem Flickschuster, mit den Frauen: der Gemüseverkäuferin mit dem dicken Hintern, den Dienstmädchen, den alten Huren mit den dicken Busen und den jungen, die gerade ins Geschäft kommen.« (Borge, 1990: Klappentext)67
Schon die Tatsache, dass hier mit Borge ein lebender »héroe« der neuen Macht von sich selbst und von dem toten »héroe y mártir« par excellence Carlos Fonseca erzählt, fordert berechtigte Zweifel an der reklamierten Repräsentativität
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Zitiert werden zum Beispiel die testimonios der Ehefrau Carlos Fonsecas, Maria Haydee Teráns, von Doris Tijerino, Carlos Núñez, Carlos Mejia Godoy und Francisco Rivera, Dokumente des Centro Universitario de la Universidad Nacional Autónoma de Nicaragua und des Frente Unitario Nicaragüense en Cuba (174-176), des Movimiento Nueva Nicaragua (176178), die Statuten des FSLN (323-332), Kommuniqués des FSLN-Kommandos, das im Dezember 1974 die bewaffnete Aktion gegen das Haus eines führenden Somozisten unternahm (463-470), Auszüge aus Fonsecas Text »Nicaragua Hora Cero« (229) sowie seine Texte »Desde la cárcel yo acuso a la dictadura« (252-255) und »Esta es la verdad« (255-258). Die nicaraguanische Ausgabe erschien in der Editorial Vanguardia als Nr. 4 der »Colección Protagonistas«.
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und Authentizität des Subalternen heraus. Insbesondere hinsichtlich der narrativen Repräsentation und Präsentation von außerliterarischer Wirklichkeit sprengt der Text den dogmatischen Kanon des testimonios. Bereits in der Widmung offenbart sich ein komplexes Verhältnis der Erzählinstanzen: »A Carlos Fonseca / A los militantes del FSLN // A la memoria de Bolivia / A Josefina / A mis hijos« (5). Zwischen Autobiografie, Heldenlied und testimonio changierend, entwirft der Text einen Prozess der Bewusstwerdung der eigenen Person, der Reifung eines Individuums, der zwar im Kontext eines kollektiven Entwicklungsgangs steht, seine wesentliche Formung jedoch nicht wie im Bildungsroman und im testimonio über die Härteprüfungen des realen Lebens, sondern über eine éducation intertextuelle bezieht, deren Eckpfeiler die beiden berühmten Deutschen sind: »Poco antes de medianoche, durante un verano en Matagalpa, en el escenario de un crepúsculo estupefacto, mientras mi madre creía que yo estudiaba la regla de tres y los modos verbales, murió Winnetou« (11), lautet der erste Satz. Und schon im neunten (von vierzig) Kapiteln kommt diese intertextuelle Reise von Karl May zu Karl Marx: »AI convertirse Carlos en protagonista, todo fue más serio. En Semana Santa, los jocotes se asomaban por la ventana de casa de Lala, tan cercana al río Matagalpa. Bastaba bajar por una pequeña pendiente para lavar la ropa, las ollas y la piel. Bajo los árboles, distraídos por los muslos de las muchachas que se bañaban, se reunía un grupo de adolescentes que leía a Marx.« (109f.) Nicht nur um die erste Lektüre Heranwachsender geht es hier, sondern um die zentralen Bezugspunkte eines Lebens, dessen Identitätsfindung sich als neue Art von Bildungsroman aus den literarisch verarbeiteten Erfahrungen Anderer in der außerliterarischen Wirklichkeit, sozusagen aus zweiter Hand herstellt und für das die Reihe Winnetou-Karl Marx-Che-Carlos Fonseca bestimmend wird und bleibt. Das Ich wird nicht aus der Erfahrung als Guerillero konstituiert (wie bei Cabezas und Ramírez/Rivera), sondern intertextuell, als Ergebnis der Lektüre bedeutender (und weniger bedeutender) Werke der Welt- wie der Nationalliteratur, in der die beiden Deutschen nur die Extrempunkte markieren. Borge berichtet nicht nur (im Unterschied zu Cabezas und Ramírez/Rivera, bei denen die Erfahrung der Berge alles dominiert) von wichtigen Stationen seiner Erziehung und Entwicklung - von der Kindheit über die schulische Ausbildung, die Militanz im FSLN, Aktionen in den Städten und den Bergen, die Liebe zu seinen Freunden und Genossen, immer in enger Verbindung mit Carlos Fonseca - (vgl. Rodríguez, 1996: 5), sondern er erzählt sie, so die in den USA lehrende nicaraguanische Literaturwissenschaftlerin Ileana Rodríguez, als »Erzählung über Erzählungen«: »In fact, his book is here more personal than political, more the autobiography of an intellectual than the testimonial of a guerrillero: it begs us to read it as a narrative about narratives [...] Borge urges the reader to privilege Borge's construction of himself as a literary man, as an intellectual, rather than as a political
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leader. In it we must read Borge as a Citizen o f the Republic o f letters, as Angel Rama would have it, rather than as the leader o f the Nicaraguan Revolution and founder o f the new nation-state.« (Rodríguez, 1996: 6)
Wie um das Dogma des nicht bzw. antiliterarischen Charakters des testimonios durch tropische Fülle von innen zu sprengen, breitet Borge ein ganzes literarisches Panorama aus, das von Rubén Dario bis Gustave Flaubert, Julio Cortázar und Gabriel García Márquez reicht und gleichermaßen die Protagonisten der nicaraguanischen Nationalliteratur von José Coronel Urtecho über Pablo Antonio Cuadra, Carlos Martínez Rivas und Leonel Rugama bis zu Ernesto Cardenal Revue passieren lässt. Schon am Ufer des Rio Matagalpa verschlingt der Jugendliche den »Principe de las Letras Castellanas«: »A orillas del río Matagalpa, viendo las alturas que también nos miran, leí Azul... [...] Lo escribió Rubén Darío, de generales conocidas. Yo lo leí cuando construían el puente para comunicar la ciudad con el hospital que está al otro lado del río, en la falda de El Calvario.« (13f.) Er ist unsterblich verliebt in Emma Rouault »quien llegará a ser de Bovary« (51) - oder verwechselt er sie doch nur mit Rosibel, einer seiner vielen »amores«? - : »Un día mi primo [...] vio cómo me senté junto a ella, oyó el grito de su agonía, mis manos reteniendo sus caderas dislocadas, y creó confundido, como un clarinete ciego, que por quien yo estaba perdido era por Rosibel.« (51) Selbst unter den unwürdigsten Bedingungen im Gefängnis, unter Folter und im Hungerstreik, liest er unter anderen Eduardo Galeano und Julio Cortázar: »¡Ah, Julio!, en aquella soledad fuiste mi compañero. Nunca supuse que llegarías a ser mi amigo, tan hermano, tan. Estuviste preso conmigo y esto sí lo supiste. [...] / La soledad se hacía torturante, pero Cortázar ya me acompañaba. Su construcción y reconstrucción de mundos, su 62/modelo para armar, Todos los fuegos el fuego, eran, para mí, estímulo moral y aliento literario [...] « (515f.) Und noch in dem Moment, als er die Nachricht vom Tod Carlos Fonsecas erhält, beschwört er dessen »afición por [...] la poesía de Pound« (589). Andere Elemente unterstreichen die Literarisierung des Textes, so zum Beispiel die über das ganze Buch verstreuten Zitate aus Gedichten, die Wiedergabe eines Faksimiles von Aufzeichnungen Leonel Rugamas über Rilke, T. S. Eliot und Joaquín Pasos mit Zeichnungen (vgl. 385), das Epigraph und der daraus abgeleitete Titel: »Hermanos, reprendan a los que no trabajen, / impacienten a los desanimados, / ayuden a los débiles, / tengan pacienca«, zitiert Borge den Apostel Paulus (1. Thessalonicher 5, 14).68
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Die deutsche Übersetzung (Borge, 1990) lässt nur eine ungefähre Vorstellung der Originalausgabe zu. Sie hat drei Kapitel weniger (37 anstelle von 40). Ersatzlos gestrichen wurden die Kapitel 4 (Borge, 1989:49-58), 19 (261-271) und 33 (501-510), in denen Borges Lektüre und Auseinandersetzung mit Gustave Flaubert, Pablo Antonio Cuadra und Carlos Martinez Rivas im Mittelpunkt stehen. Nicht übersetzt wurden auch wichtige Passagen aus den Kapiteln 25
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All dies scheint Borges Text zu einer rein autobiografischen Erzählung zu machen, in der a posteriori ein individuelles Leben durch Literarisierung überhöht und stilisiert wird.69 Gerade das Epigraph verweist mit seinem-religiös-didaktischen Ton jedoch auf eine andere Ebene: Indem Borge seine individuelle Erziehung als Prozess schildert, den er in symbiotischer Verbindung mit dem Gründervater der sandinistischen Front, Carlos Fonseca durchläuft, dessen Formung nicht minder literarisch bestimmt ist, und sie somit in den allgemeinen Prozess der kollektiven Bewusstseinsbildung am Vorabend der sandinistischen Revolution stellt, »recrea (o mejor inventa) los principios intelectuales-culturales primigenios de la revolución, tomando como eje la vida de Carlos Fonseca«, wie Leonel Delgado (1999: 36) schreibt. Der Text ist mehr als eine Autobiografie bzw. Biografíe oder eine Mischung aus beidem: » [...] a particular kind of self-representation by means of the author's cultural critical education« (Rodriguez, 1996: 6). Die Literarisierung des (der) Protagonisten verhindert nicht seine (ihre) politische Heroisierung:
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(vgl. 358-368; vgl. Borge, 1990: 218-223) und 26 (Borge, 1989: 378-380) zu José Coronel Urtecho und Gabriel García Márquez, ebenso das erwähnte Faksimile der Aufzeichnungen Leonel Rugamas (Borge, 1989: 385). Neben diesen Auslassungen, die eine wichtige und wie dargelegt zentrale Seite des Buches verschwinden lassen, wurden weitere Sätze (vgl. z.B. Borge, 1989: 183, 184, 251, 412), Passagen (529) und ganze Unterkapitel weggelassen (210214, 409-411, 483-484). Es fehlen außerdem komplett die in Fußnote 66 aufgeführten Dokumente und die Schriften Carlos Fonsecas, die im Original jeweils im Anhang zu einzelnen Kapiteln abgedruckt sind, ebenso die erwähnte Karte (579). Über die Gründe für die Weglassung der Textpassage von Seite 532 bis Seite 533 (Schluss des Kapitels 35) mag man spekulieren, enthält sie doch einen gleichermaßen schwierig zu übersetzenden wie von offenem machismo gekennzeichneten Witz: Eine Lehrerin fragt ihre Schüler, was sie später einmal werden wollten, und einer antwortet: » [...] la tarde«. Von der Lehrerin aufgefordert, das zu erklären, sagt er: »Es que cuando usted, maestra, viene retrasada a impartir sus clases, siempre dice: Perdonen, muchachos, que me cogió la tarde.« (Borge, 1989: 533) Alle diese Weglassungen erfolgen ohne Erklärung bzw. Hinweis. Hinzu kommen zahlreiche Ungenauigkeiten der Übersetzung, die bereits mit dem ersten Satz beginnen und sich im Buch fortsetzen. »Poco antes de medianoche, durante un verano en Matagalpa, en el escenario de un crepúsculo estupefacto [...] «, beginnt das Original (Borge, 1989: 11). Die deutsche Übersetzung macht daraus eine für tropische Breitengrade unwahrscheinliche Szene: »Kurz vor Mitternacht, mitten im atemberaubenden Sonnenuntergang eines Sommers in Matagalpa [...] « (Borge, 1990: 9). Wesentlich genauer ist da zum Beispiel die englische Übersetzung von 1992: »Shortly before midnight one summer evening in Matagalpa. Anesthetized by the twilight [...] «(zit. n. Rodríguez, 1996: 7). Die deutsche Ausgabe muss in der langen Reihe problematischer Übersetzungen zentralamerikanischer Literatur ins Deutsche, die eine eigene Untersuchung verdienten, als ein Tiefpunkt angesehen werden. Die deutsche Ausgabe trägt paradoxerweise (obwohl sie gerade viele der »individualistischsten« Elemente tilgt; vgl. Fußnote 68), den Untertitel »Lebenserinnerungen« (Borge, 1990: 4), der im Original nicht erscheint. Die im Original abgedruckte bibliothekarische Erfassung klassifiziert das Buch folgendermaßen: »1. LITERATURA NICARAGÜENSE-SIGLO XX. / 2. BORGE MARTÍNEZ, TOMÁS-TESTIMONIO / HISTÓRICO. 3. NICARAGUA-HISTORIA-FSLN, / 1961-1979.1. Serie. II t.« (Borge, 1989: 4)
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» [...] Borge's text is more than a discussion of his readings of literature, [...] his rewriting of literary works is, in fact, a way of averting politics or of writing politics into life and making the personal political; that is, a transliteration of novel into testimonial, and of literature into politics. Consequently, his literary readings retrace the lines of the patriotic body of his political practice. As autobiography, the events of which he writes are life, a life overwhelmed by his love for dead bodies (Emma Bovary's, as well as Carlos Fonseca's) and for all fallen patriots, dear friends, and comrades, who are lovingly repossessed in death through his writing. Despite its attempts to be different, then, this register remains the same. Emma/Winnetou/Literature (or the illusion of homeosemanticism, that is, the naive believe in the identity between sign and referent, in this case of reading and reality) and Carlos/Che/Politics (or the pretended homeosemanticism of reality as writing) are the two faces of a single narrative.« (Rodriguez, 1996: 9f., vgl. 36) Der Text präsentiert sich bewusst als Fiktion schon in der Eingangspassage: » [...] en Matagalpa la ficción era la única realidad posible, para no morirse de tedio« (11). Winnetous Tod, Fiktion par excellence, wird von den jugendlichen Freunden in den nördlichen Bergen Nicaraguas als real wahrgenommen (vgl. 11), aber es stellt sich heraus, dass dies nicht das Ende der Geschichte ist: »La lealtad, la rectitud, la defensa de los humildes, no se enterraron con Winnetou.« (12) Die reale Nachricht vom Tod Carlos Fonsecas bleibt für die inhaftierten Guerilleros fiktional-fingiert (von den Herrschern, um ihre Moral zu brechen): »Cuando en la cárcel fui notificado de que Carlos Fonseca había muerto, dije al coronel Nicolás Valle Salinas: Carlos es de los muertos que nunca mueren.« (587; vgl. 581, 582; Hervorhebung im Original) Die Revolution, der bewaffnete Kampf, die Nation wurden mit Carlos Fonseca nicht beerdigt. Sie werden aus den toten Körpern des Indianers und des Guerillero wiedergeboren. 70 Borge ist damit endgültig beim Bruch mit den mimetischen Postulatendes fesf/mowo-Diskurses angelangt, (vgl. Rodríguez, 1999: 10, 15) Der »neue Mensch« ist zur intertextuellen Kopfgeburt geworden, gar zum poststrukturalistischen Produkt der Literatur des zweiten Grades? Jedenfalls scheint Ende der achtziger Jahre die respräsentative, authentische, subalterne, mimetische Energie des testimonios aufgebraucht," die Repräsentanten der
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Vgl. zu diesem Aspekt ausführlich das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«. Beverley und Zimmerman versuchen mit einer neuen Klassifizierung, nach der Borges Text als »neotestimonio« zu lesen sei, vom Dogma zu retten, was zu retten ist, bleiben jedoch bei einer vagen Beschwörung neuer literarischer Ausdrucksformen stehen, die noch im alten Begriffsapparat befangen ist: » [...] if testimonio has been in Central America and elsewhere the literary form of the stages of both revolutionary mobilization and consolidation, paradoxically and against the expectations of its original protagonists - as both the previous Cuban experience with the form and recent Nicaraguan narrative suggest - it does not seem particularly well adapted to be the primary narrative form of an elaborated postrevolutionary society, per-
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neuen Macht nehmen Zuflucht bei der Fiktion - just in dem Moment, als das revolutionäre Regime sich zum ersten Mal bereit erklärt, mit den Contras zu verhandeln und so akzeptiert, nicht authentisch und repräsentativ für alle Nicaraguaner sprechen zu können.72
Der postrevolutionäre
testimonio 1: Stimme des »anderen«
Subalternen?
Ganz im Gegensatz zu Beverleys und Zimmermans Annahme, der testimonio sei untrennbar mit den Bedingungen vorrevolutionärer Mobilisierung und revolutionärer Konsolidierung verbunden, bleibt die Testimonialliteratur auch im nachrevolutionären Nicaragua der neunziger Jahre eine bedeutende Schreibpraxis. Eher scheint es gerechtfertigt, den Diskurs über den testimonio als unmittelbares Produkt der vorrevolutionären/revolutionären Epoche zu begreifen, zieht man das geringe Interesse in Betracht, das die nach der Wahlniederlage der Sandinisten im Februar 1990 erschienenen testimonios bei den ehemaligen Wortführern dieses Diskurses hervorgerufen haben." Die testimonios der neunziger Jahre scheinen paradoxerweise sogar die Argumentation der beiden US-Wissenschaftler zu bestätigen, die Dynamik der Testimonialliteratur hänge von den Bedingungen sozialer und kultureller Ungleichheit und unmittelbarer Unterdrückung ab - allerdings unter umgekehrten Vorzeichen, geht es jetzt doch um die vom revolutionären Prozess selbst hervorgerufenen bzw. ihm innewohnenden sozialen und politischen Widersprüche. Der Wertewandel, der sich mit den globalen und lokalen Veränderungen
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haps because its dynamics depend precisely on the conditions of social and cultural inequality and direct oppression that fuel the revolutionary impulse in the first place. Like its ancestor, the picaresque novel, testimonio is a transitional literary form appropiate to the dynamics of a period of global social and historical transition, but also destined to give way to new forms of cultural representation as that transition moves to new stages and the human collectivities that are its agents come into possession of new forms of power and knowledge.« (Beverley/Zikmerman, 1990: 207; vgl. Delgado, 1999: 36) Rodriguez weist ausdrücklich auf diesen Zusammenhang hin: »It was a moment of skepticism, a moment of confusion ensuing from a paradigm shift, the rise of global market dynamics that restructured geographies according to the unblushing principles of neoliberalism. The construction of the Nicaraguan revolutionary state had come to a halt. / This recomposition of the ideological universe, or that which Foucault termed the order of things ', licenses us to reread Nicaraguan testimonial literature and fiction at their most ironic [...] Tomás Borge's The Patient Impatience (1989) [...] appeared in print just at that juncture when the revolutionary guerrilleros rolled up their sleeves and sat down at the negotiating table.« (Rodriguez, 1996: 4, vgl. 10) Diese beschäftigen sich zwar weiterhin mit dem testimonio, bleiben jedoch im Wesentlichen bei dem bekannten Korpus der vor allem in den siebziger und achtziger Jahren erschienenen Werke stehen. Exemplarisch dafür kann die von Gugelberger 1996 herausgegebene Aufsatzsammlung stehen, in der es - nur zum Teil mit neuen Einsichten - immer wieder um die alten Texte geht und nach 1990 erschienene, wenn überhaupt, nur am Rand behandelt werden.
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am Ende der achtziger und verstärkt in der ersten Hälfte der neunziger Jahre im politisch-militärischen Diskurs vollzieht, scheint auch vor dem literarischen Feld nicht Halt zu machen. Spätestens mit dem nicht erklärten Krieg der Contra gegen das sandinistische Regime in den achtziger Jahren wurde auf dem politisch-militärischen Feld der Guerillakrieg, das heißt Formen des bewaffneten Kampfes, die bisher von den Ideologien der nationalen und sozialen Befreiungsbewegungen der Linken determiniert waren, von konterrevolutionären Kräften »okkupiert« und »usurpiert«. Auf dem literarischen Feld geschah etwas Ähnliches: Der testimonio, bislang als literarische Waffe im antidiktatorischen, antiimperialistischen und antikapitalistischen Kampf verstanden, wurde von den Marginalisierten des revolutionären Prozesses selbst besetzt, die sich seiner als Instrument bedienten, um ihre Stimme, ihre Version von den Ereignissen zum Ausdruck zu bringen - der testimonio als Stimme des »anderen« Subalternen. Parallel dazu begannen ehemals am revolutionären Projekt Beteiligte, Formen der Testimonialliteratur zu nutzen, um ihre Erfahrungen kritisch aufzuarbeiten und zu einer Diskussion über die Bedingungen von Sieg und Niederlage, Errungenschaften, Fehlern und strukturellen Defiziten der Revolution beizutragen. In einzigartiger Weise vermischen sich diese beiden Elemente in dem von Alejandro Bendaña Rodríguez herausgegebenen Buch Una tragedia campesina: testimonios de la resistencia (1991), dem ersten testimonio, der nach dem Machtverlust der Sandinisten erschien. Das Buch gibt acht von ursprünglich dreißig im Jahr 1990 entstandenen Interviews mit Bauern aus der Region VI (Matagalpa, Jinotega) wieder, die sich der Contra angeschlossen hatten. In der »Presentación« werden diese Bauern bzw. ihre Familien als dem Sektor der »pequeños propietarios« (16) zugehörig bezeichnet. Dieser sei zwar nicht repräsentativ für diejenigen, die im Jahr 1990 die Waffen niederlegten, mehrheitlich landlose Bauern aus der Region V (Boaco, Chontales). Sie seien jedoch wegen ihrer historischen und strategischen Rolle ausgewählt worden, die sie für die Contra gespielt hätten. Sie seien die ersten Anhänger und später Kämpfer der Contra gewesen, die nicht aus den Reihen der alten Somozisten, vor allem der Nationalgarde, gekommen, sondern aus einem Distanzierungsprozess hervorgegangen seien, der nach der sandinistischen Revolution von 1979 gegenüber dem revolutionären Projekt stattgefunden habe. Zum Teil hätten sie sogar aus der alten Nationalgarde stammende Leitungskader der mittleren Ebene ersetzt. Schon mit diesem Hinweis auf die repräsentative Rolle der Ausgewählten steht der Text in der Tradition der zentralamerikanischen testimonios, allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass er jede (positive) Beziehung zur revolutionären Ideologie und zum revolutionären Mythos kappt und die Stimme derjenigen hörbar machen will, die in Widerspruch zur Revolution traten. Der Herausgeber, der selbst wichtige Leitungsfunktionen im sandinistischen Apparat bekleidete (u.a. im diplomatischen Dienst), lässt an dieser Ziel-
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Setzung des Buches keinen Zweifel. Ihre Bedeutung rechtfertige sich aus der Tatsache, einer der grundlegenden Widersprüche der Revolution habe darin bestanden, dass die Regierung, die angetreten sei, im Interesse der Bauern zu handeln, dazu gezwungen gewesen sei, in einen Krieg mit dem historischen Subjekt zu treten, das die sandinistische Revolution zu repräsentieren vorgab. Er erkennt an, dass die soziale Basis der konterrevolutionären Kräfte bei den armen Bauern aufgrund der Politik, der Beschränkungen und der Fehler des Sandinismus in viel größerem Maße gewachsen sei, als sich das selbst die antisandinistischen Kräfte in den USA vorstellten. Die Zielsetzung des Herausgebers reflektiert also den veränderten politischen Diskurs Ende der achtziger Jahre innerhalb des Sandinismus selbst, als reformwillige Kräfte begannen, nach den Ursachen der Schwierigkeiten und des sich abzeichnenden Scheiterns des revolutionären Projekts zu forschen und sie öffentlich zu thematisieren. Explizit wird in der »Presentación« formuliert, diese Zusammenstellung von testimonios beabsichtige, zur Versöhnung der Bauern und zur nationalen Versöhnung beizutragen, »presentando la perspectiva del campesino que se integró a la contra a partir de políticas gubernamentales o la mala ejecución de esas políticas [...] « (14). Wie die Contra sich im militärischen Kampf zunehmend der Guerillamethoden gegen die an der Macht befindlichen Guerilleros bediente, die diese vorher im Kampf gegen die Somoza-Diktatur angewendet hatten, so wird nun mit der literarischen Form, die lange Zeit im revolutionären Diskurs als Waffe und Bestandteil des Guerillakampfes galt, den Stimmen Gehör verschafft, die sich offen gegen die Revolution wenden. In der Tat gelten für die hier versammelten testimonios viele der Züge, die ehemals als charakteristisch für die revolutionäre Testimonialliteratur angesehen wurden. Da sind zum einen der Anspruch, mit dem Mittel des testimonios die Realität auf dem Land zu rekonstruieren und zwar »a partir de los testimonios de campesinos desalzados«, sowie die Versicherung des Herausgebers, selbst »las incongruencias contenidas en los mismos« zu respektieren (14) und nicht einzugreifen - also die Behauptung der direkten, unveränderten Wiedergabe der Aussagen und damit die Behauptung des nicht bzw. antifiktionalen Charakters des testimonios. Es sei an der Zeit, ihre Stimmen zu hören, um der historischen Wahrheit willen und um zur politischen und sozialen Stabilität Nicaraguas beizutragen. Nur so sei es möglich, ausgehend von einer Reflexion über diese Zeugnisse zu einem Verständnis dessen zu kommen, was in Nicaragua passiert sei, insbesondere der Gewalt, die das Land zehn Jahre lang heimgesucht habe. Eng damit verbunden ist das Insistieren auf der Repräsentativität der Interviewten. In der Mehrheit seien sie »líderes naturales en sus comunidades y luego en las mismas filas de la contra« (16) gewesen. Das Soziale sei nicht vom Individuellen zu trennen, vielmehr zeichne sich ausgehend von den Erfahrungen der Individuen das vielschichtige Bild des historischen Prozesses mit seinen politischen, ideologischen, kulturellen und sozialen Ausdrucksformen ab. Dieser Aspekt der Repräsentativität wird in vielen
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der Interviews aufgenommen, in denen die Verbundenheit der Individuen mit dem bäuerlichen Kollektiv, insbesondere mit den armen Bauern, beschworen wird: »Como guerrilleros teníamos muchas ventajas: teníamos el pueblo a nuestro favor, teníamos al campesino y podíamos haber estado en medio de ellos y no iban a decir que allí estábamos nosotros« (101), erzählt der ehemalige Contra Wilmer und fahrt fort: »Tuvimos muchas ventajas y muchas victorias militares porque teníamos al pueblo campeche. La gente que nos apoyaba era básicamente el sector más proletario, más pobre.« (102) Mit diesem von Bendaña Rodríguez herausgegebenen Buch scheidet sich in Nicaragua der testimonio endgültig vom ideologischen Diskurs des revolutionären Nationalismus. Die vom revolutionären Prozess unterdrückten oder zu ihm in Widerspruch getretenen sozialen Subjekte ergreifen das Wort somit die These vom subalternen Charakter des testimonios auf nicht vorhergesehene Weise bestätigend.74 Als scheinbar noch in diesem Diskurs befangen präsentiert sich William Agudelo mit El ángel de San Judas (1997). Auf der Basis von 73 testimonios rekonstruiert das Buch Leben und Sterben, »la breve, intensa y bella vida« (VII), von Gabriel Cardenal Caldera, in den siebziger Jahren einer der wichtigsten politischen und militärischen Kader der sandinistischen Befreiungsfront in der Vorbereitung des Aufstands gegen die Somoza-Diktatur in den westlichen Stadtteilen Managuas. Paratextuell und architextuell reiht sich der Text in die lange Tradition der nicaraguanischen Testimonialliteratur der siebziger und achtziger Jahre ein. So heißt es in der Widmung unter anderem: »A sus compañeros y compañeras / caídos en combate. [...] A los sobrevivientes / de esa guerra justiciera.« (III) In der Einleitung des Autors/Herausgebers ist die Rede von »nuestro Gabriel, Francisco de Asís y ángel desnudo que anuncia la liberación de su pueblo en las celdas hediondas de la OSN, nos saluda sereno en vísperas de su retorno a la tierra« (VII). Neben dieser Immortalisierung und Mythisierung präsentiert die Einleitung weitere Elemente, die für den testimonio in Nicaragua typisch sind: Heroisierung, Exemplifizierung, Symbolisierung, Repräsentativität fiir die Nation und die Subalternen. Entsprechend sind die vielstimmigen »Zeugenaussagen« - von Familienangehörigen, Verwandten, Kampfgefährten und -gefährtinnen, Freundinnen und Freunden, politischen »Vorgesetzten« - zum Teil chronologisch, zum Teil »thematisch« organisiert: von der Kindheit über das Studium in den USA, die Einflüsse der Hippie-Bewegung und des Christentums, vor allem der Theologie der Befreiung, marxistisch-leninistischer Ideen, das Engagement in der
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Das Buch erschien mit Unterstützung ausländischer Hilfsorganisationen - ein Hinweis darauf, welche Rolle internationale Organisationen fiir den Friedensprozess in Nicaragua spielten. So heißt es in einer dem Text vorangestellten Bemerkung: »La realización y publicación de esta investigación contó con el apoyo de las organizaciones TROCAIRE, de Irlanda, y Christian Aid, de Gran Bretaña.« (9)
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zunächst legalen, christlich orientierten Stadtteilarbeit, erste halblegale Aktionen (»Beschlagnahme« von Versorgungsgütern für die Guerilla) und die Organisierung im Frente Sandinista de Liberación Nacional, die gewerkschaftliche und betriebliche Agitation, die Aktivitäten im Untergrund gegen das Regime (Sabotageakte, Attentate auf Vertreter und Anhänger des Regimes, »Hinrichtungen«), größere militärische Aktionen, bis zur Vorbereitung des bewaffneten Aufstands im Mai und Juni 1979, der in den Sturz der SomozaDiktatur im Juli 1979 mündete und in deren Verlauf Gabriel Cardenal im Juni 1979 verhaftet, gefoltert und ermordet wurde. Wie einer seiner Mitstreiter zum Ausdruck bringt, soll dieses Leben im Namen aller Gefallenen rekonstruiert werden - gegen das Vergessen und gegen ihr Verschwinden in der Dunkelheit: »El tiene nombre pero ese nombre queremos nosotros que sea no solamente el nombre de él sino que en ese nombre tengan nombre los otros compañeros [...] también caídos. Con el tiempo habrá que ir haciendo el trabajo de rescate de toda esa gente y saldrán muchísimos nombres de la oscuridad, del olvido. [...] Sé que se habla aquí de una persona particular pero tiene que verse de manera más amplia, no solamente por Gabriel sino por todo el resto de compañeros.« (385f.) Allerdings zeichnen den Text einige Besonderheiten aus, die ihn aus der Fülle der nicaraguanischen Testimonialliteratur herausheben und möglicherweise zumindest zum Teil mit dem Datum seiner Veröffentlichung zusammenhängen (1997, nach dem Ende des revolutionären Projekts und nach der zweiten Wahlniederlage der Sandinisten). Zum einen konstruiert er keineswegs eine »lineare« Entwicklung des Protagonisten von der ersten politischen Bewusstwerdung zum organisierten Widerstand, wie sie für viele testimonios typisch ist, sondern einen durchaus widersprüchlichen Weg von einer behüteten Kinderzeit in einer der wohlhabenden Familien Nicaraguas über die USgeprägte Protesthaltung, die sich zunächst im Rauchen von Marihuana, dem Tragen von abgewetzten Jeans und Sandalen und in der Begeisterung für Rockmusik äußert, bis hin zum Engagement in der städtischen Guerillabewegung (» [...] que no era guerrilla de montaña pero tampoco era guerrilla urbana como la de Marighela [...] Estamos hablando de insurrección en la ciudad y de un estilo de combate sub-urbano o sub-rural en las condiciones específicas de Managua«; 383). In diesem Zusammenhang zeigt der Text viele Berührungspunkte zu den Romanen Carlos Alemán Ocampos über das Leben der städtischen Jugend in Managua in den sechziger und siebziger Jahren.75 Es kommen durchaus auch Zeugen zu Wort, die von den »Schwächen« und »Fehlern« des Protagonisten sprechen. Zum anderen rekonstruiert der Text das Leben eines sandinistischen Militanten, das aufgrund seiner Herkunft aus einer der reich-
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Vgl. Alemán Ocampo (1969 und 1985a) sowie das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text« der vorliegenden Arbeit.
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sten Familien Nicaraguas im dominierenden politisch-ideologischen Diskurs der siebziger und achtziger Jahre keineswegs repräsentativ, sondern im Gegenteil eher tabu war. In verschiedenen Aussagen wird dieser Aspekt sogar bewusst problematisiert. Schließlich spricht das Buch offen von den Fraktionierungen innerhalb der sandinistischen Befreiungsfront am Vorabend der Revolution und den Versuchen ihrer Überwindung an der Basis sowie von der Tatsache, dass der FSLN von der Größe und Vehemenz der Volksbewegung überrascht wurde und keineswegs immer eine Avantgarderolle spielte - zwei weitere wichtige Tabus in der offiziösen sandinistischen Historiografie. Agudelos Buch stellt also in dieser Hinsicht einen hybriden Text dar: thematisch und formal noch in der Tradition des sandinistischen testimonios stehend, gleichzeitig aber die Einflüsse des postsandinistischen politisch-ästhetischen Diskurses nicht verleugnend. Dem entspricht auch das mehr oder wenige offene Bekenntnis zur literarischen Organisation des Textes durch den Autor/Herausgeber, zum Beispiel in der zum Teil thematischen Gliederung und den fast poetischen Kapitelüberschriften (»Memorias de bolígrafo«, »Un chicle sin sabor«, »El paso del Mar Rojo«, »La llaves de la ira«, »Cara oculta en el barrio«, »La rueda del recuerdo« usw.) sowie in der teilweise antithetischen Anordnung der Aussagen (vgl. zum Beispiel den Wechsel zwischen Reflexion und Aktion, bes. 120-123). Repräsentativität, Subalternität und vorgeblich nicht literarischer Charakter des testimonios sind als Markenzeichen dieses Textes unbrauchbar. Die Erfahrungen von Jugendlichen in der Epoche der »revolutionären Konsolidierung« liegen zwei Texten von daran Beteiligten zugrunde. Ernesto Castillo Guerrero präsentiert in Algo más que un recuerdo (1997) den autobiografischen Bericht eines Jugendlichen (geschrieben von 1990 an) über seine zwei Jahre (von 1986 bis 1988) als Freiwilliger im Servicio Militar Patriótico (SMP), einem militärischen Zwangsdienst, der 1983 von der sandinistischen Regierung zum Kampf gegen die Contra eingerichtet worden war. Schon im Titel sind seine vielfaltigen intertextuellen Bezüge zum bekanntesten nicaraguanischen testimonio, La montaña es algo más que una inmensa estepa verde (1982) von Omar Cabezas, nicht zu übersehen. Über weite Strecken lässt sich der Text als Antwort bzw. kritische Abgrenzung zu dem Buch von Cabezas und als Gegenentwurf zu den für die zentralamerikanische Testimonialliteratur als typisch erachteten Charakteristika lesen: insbesondere den Zügen, die als »anonadamiento del yo y el simbolismo« und »exaltación de la mística rebelde« (Meléndez de Alonzo, 1997: 56, 59) bzw. als Repräsentativität des Individuellen für das Kollektive, Rekurs auf die nationale Tradition und Geschichte, Evozierung der subalternen Stimmen und nicht- bzw. antiliterarischer Charakter des testimonios analysiert wurden. Bereits die Paratexte betonen den Charakter des Textes als individuellem Bericht: Die Widmung richtet sich ausschließlich an Familienangehörige. Der Text der vierten Umschlagseite evoziert den sehnlichsten Wunsch des Protagonisten, so schnell
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wie möglich wieder zu seiner Familie, in sein tägliches Leben zurückzukehren (am liebsten hätte er diese Erfahrung des Militärdienstes gar nicht gemacht). Im (nicht betitelten) Vorwort wird die Entstehung des Textes erklärt: Der jüngere Bruder des Protagonisten musste im Jahr 1990 fur das Fach Spanisch an seiner Schule einen testimonio über ein beliebiges Thema schreiben, und sein älterer Bruder erklärte sich bereit, ihm zu helfen und seine Erlebnisse im SMP zu Papier zu bringen, also durchaus unter Bezug auf einen literarischen Kontext im Rahmen des Spanischunterrichts. Auch der aus insgesamt sechzehn nach chronologischen Entwicklungsabschnitten benannten Kapiteln (von »El chequeo médico« und »Primer campamento« bis »Ultimas misiones« und »Adiós a las armas«) bestehende Haupttext ist eine Wiedergabe der individuellen Erfahrungen, die der Protagonist in den zwei Jahren Militärdienst macht. Auffällig ist zunächst das völlige Fehlen der für Cabezas und andere konstituierenden »Großmythen« wie der von Sandino, dem »hombre nuevo« des Guevaraschen Diskurses oder anderer Vaterund Heldengestalten des nationalistischen Diskurses des sandinistischen Projekts. Andere Mythen - insbesondere der vom bewaffneten Kampf und von der Sinnhaftigkeit des Todes für das Vaterland (»Patria libre o morir«) - werden im Verlauf des Textes analog zu den Erfahrungen des Protagonisten in den zwei Jahren Militärdienst zerstört. Zwar als Freiwilliger in den SMP eingetreten, verspürt er schon zu Beginn keine Begeisterung, eher das Gefühl einer unausweichlichen Verpflichtung gegenüber seinem Land, hat er keine Erwartungen an die Verwirklichung politischer oder sozialer Hoffnungen. Im Verlauf der Ereignisse werden seine Erfahrungen angesichts der mangelhaften Organisation der SMP-Einheiten, der Widersprüche, Willkür und Verantwortungslosigkeit der Vorgesetzten gegenüber den Soldaten, der Absurdität und Brutalität der Kriegshandlungen zunehmend von Angst, Zweifeln, Wunsch nach Desertion sowie von einem Gefühl der Freiheitsberaubung im Militärdienst, der Verzweiflung über den bewaffneten Kampf und der Sinnlosigkeit des Krieges bestimmt: »Pensé en la vida de perro que llevábamos por andar siguiendo a otros jodidos para matarlos.« (103) Angesichts der empfundenen zunehmenden Angleichung der beiden kriegführenden Parteien (symbolisiert in demselben unpassenden Lied, das die Radiosender sowohl der Sandinisten wie der Contras am 24. Dezember übertragen und das auf die Soldaten in ihrer Einsamkeit wie ein Hohn wirkt) wird der vaterländische Diskurs der militärischen Vorgesetzten ironisiert: »Y seguía hablando [...], porque a todos los oficiales les encantaba hacer discursos: - [...] esto significa un mayor compromiso con la Patria y la Revolución, una mayor entrega en memoria de los héroes y mártires, con la causa revolucionaria y con la historia... etc, etc.« (177) Im Gegensatz zu Cabezas ist kein Rekurs auf eine sinnstiftende mythische Vergangenheit mehr möglich. Im Gegenteil, die unmittelbare Vergangenheit wird mehr und mehr als für die Konstituierung der Nation als unbedeutend
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bzw. hinderlich gesehen: »Pensé que nada había cambiado, que todo seguía igual. Había salido de mi casa con la esperanza de que mi sacrificio aportara algo positivo al país, pero habían pasado dos largos años invertidos en un proyecto de cuyo buen resultado dudaba ahora. Atrás quedaban otros jóvenes que tendrían que pasar mucho tiempo en la montaña combatiendo a los contras. Me pregunté si eso seguiría igual toda la vida o si algún día se acabaría la guerra; ya no sabía como era vivir en paz porque desde los diez años había vivido en un país en guerra y ahora, cuando me desmovilizaba, todo seguía igual.« (214) Nur aus der Überwindung dieser Erfahrung kann die Nation ihre Zukunft gewinnen. Als einzige sinnstiftende Instanz bleibt die Religion, aber auch hier nicht verstanden als ein Beschwören von bzw. Anlehnen an die jahrhundertealten Traditionen, sondern mit einem offenen, fast schon pluralistisch zu nennenden Begriff von Nächstenliebe: »Yo pensaba que hacía un tremendo aporte a mi país, que seguía el ejemplo de Cristo sacrificándome por los demás [...] Y me imaginaba que todo el pueblo de Nicaragua así lo apreciaría.« (58f.) Dies mündet in einen Aufruf, die Fehler des Krieges hinter sich zu lassen und zu verstehen, dass niemand die absolute Wahrheit besitze und »que debemos tolerarnos como hermanos y como compatriotas«, denn dann »todo el coraje, el temple, la valentía, la seguridad, la terquedad, la entrega incondicional, el orgullo y el amor por el prójimo y por la patria tendrán razón de ser« (217). Auch hier findet der veränderte politische Diskurs im Nicaragua zu Ende der achtziger, Beginn der neunziger Jahre seinen Niederschlag, als sich selbst in weiten Kreisen der regierenden Sandinisten ein Verständnis für die sozialen Ursachen der breiten Basis der Contra bei den armen Bauern zu entwickeln begann und das Unverständnis der städtisch dominierten Bewegung des Sandinismus für die Interessen dieser Menschen als eine wesentliche Ursache für das Scheitern des revolutionären Projekts erkannt wurde (der Text wurde 1990, im Jahr des Regierungsverlusts der Sandinisten, begonnen). 76 Wie in dieser Hinsicht geht das Buch Castillo Guerreros auch in anderen Aspekten weit über ein individuelles Zeugnis hinaus, ist es, wie der Titel es bezeichnenderweise ausspricht, Algo más que un recuerdo, nämlich durchaus repräsentativ für die Erfahrungen und das Denken einer ganzen Generation von nicaraguanischen Jugendlichen, die in den achtziger Jahren in den Krieg gegen die Contra geschickt wurden. Nicht von ungefähr wird die Entstehung des Textes in der (fiktiven?) Rahmenhandlung aus der quasi im öffentlichen Raum gestellten Aufgabe erklärt, einen testimonio für den Schulunterricht zu schreiben. Ähn-
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Das Buch wurde von der nicaraguanischen Schriftstellervereinigung im Rahmen des »Proyecto Piloto: Fondo Editorial Asociación Noruega de Escritores (ANE), Centro Nicaragüense de Escritores (CNE) y Agencia Noruega para el Desarrollo (NORAD)« herausgegeben, das in den neunziger Jahren ins Leben gerufen wurde, um jährlich die Herausgabe von fiktionalen und nicht fiktionalen Büchern zu finanzieren, die im Rahmen eines Wettbewerbs von einer Jury des CNE ausgewählt werden.
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lieh wie der Protagonist bei Cabezas durchläuft der Protagonist bei Castillo Guerrero einen Entwicklungs- und Formationsprozess, an dessen Ende er verändert und reifer zurückkommt. Im Unterschied zu Cabezas wird dieser Entwicklungsprozess aber nicht im Stile eine Heldenepos erzählt, sondern schon eher in Anlehnung an die Entwicklung der barocken »Helden«; er steht am Ende wieder da, wo er am Anfang war: »Ahora el decir si fue bueno o malo, si fue por la patria o no, si nos engañaron o nos dejamos engañar, si valió la pena o no, es derecho de cada quien. La verdad es que la guerra no deja nada y al final volvemos al punto de partida: la necesidad del diálogo [...] « (217) Die Subalternität nimmt veränderte Formen an. Es sind die Jugendlichen, von einer Staats- und Kriegsmaschinerie zum Kämpfen gezwungen, die sich in der Stimme des Protagonisten zu Wort melden, ihre kollektive Erfahrung verleiht dem Text seine Authentizität. Der testimonio hat sich von der ideologischen Bevormundung und den politischen Metaerzählungen emanzipiert. Neue soziale Subjekte ergreifen das Wort. Ähnlich wie Castillo Guerrero berichtet Danilo Guido in Testimonios de aquella década (1993) von den Erfahrungen im Servicio Militar Patriótico (SMP). Auch die Zeit-Räume sind identisch: Die erzählte Zeit des von 1988 bis 1993 entstandenen Textes77 umfasst im Wesentlichen die zweite Hälfte der achtziger Jahre, die Schauplätze der Handlung sind das nördliche Nicaragua und zum Teil Honduras. In einer einleitenden Passage werden aus der Sicht des Erzählers einige Stationen der vorrevolutionären Geschichte (seit Mai 1979), des Aufstandes bzw. siegreichen Einzugs der Guerilla in Managua und erste Maßnahmen der revolutionären Regierung geschildert (insbesondere die Alphabetisierung). Diese Phase endet abrupt mit dem Beginn des Krieges, »una guerra cruel en la maltrecha Nicaragua« (11). Vor allem eine Entscheidung der Regierung ändert den Lauf der Dinge von Grund auf: »1983 es un año de incertidumbre y miedo para la juventud. [...] Se reglamenta la Ley del Servicio Militar por primera vez en la historia de Nicaragua. Las madres se oponen, los jóvenes no quieren ir a los frentes de guerra, muchos se esconden, otra gran mayoría se integra para no caer presos, otros prefieren tener aseguradas sus vidas aunque sea en la cárcel, un grupo se integra por convicción y otros salen ilegalmente del país, desde entonces en Nicaragua no había un barrio donde no se realizara una vela, en los cementerios se depositaban los cuerpos en fosas sencillas abiertas el día anterior.« (15) Der Hauptteil des Buches besteht aus der Schilderung dieses traumatischen Erlebnisses und der Schrekklichkeiten des Militärdienstes hauptsächlich aus der Sicht eines Jugendlichen. Wie bei Castillo Guerrero fehlen die für den nicaraguanischen testimonio der siebziger und achtziger Jahre so charakteristischen Bezüge zu den
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Das Buch enthält keine Angaben zu Verlag, Erscheinungsort und -datum, seine Entstehungszeit geht aus den Angaben am Ende des Textes hervor: »Septiembre 1988-1993« (76) .
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Großmythen Sandino, Che Guevara oder Carlos Fonseca (nur ganz am Anfang wird kurz auf den Gründer des FSLN angespielt; vgl. 7). Der Mythos vom bewaffneten Kampf wird zerstört und der Krieg als Zerstörung der persönlichen Freiheit dargestellt: »Qué iba a defender Yo, en la montaña? Un nuevo sistema que tenía comegen. Que violaba los Derechos Humanos, mi libertad religiosa, mi objección de conciencia, que limitaba el derecho a la vida?« (21) Krieg und Tod werden zunehmend als sinnlos empfunden: »Yo no le encontraba sentido a esa guerra de la cual decían era patrimonio de las nuevas generaciones.« (21) Den Text kennzeichnet von Anfang an ein Verständnis für die andere Seite in diesem Krieg, der den Hass unter Brüdern säen soll und die Soldaten belohnt, wenn sie möglichst viele Kämpfer der Gegenseite töten, (vgl. 51) Dagegen beschwört er das berechtigte gemeinsame Ziel aller: »Tienen que salir vivos, es preciso aniquilar a los peones contrarios. Ambos bandos piensan lo mismo.« (65) Dem dienen auch zahlreiche Paratexte: Das Buch ist nicht nur dem Bruder des Erzählers, Eugenio Martín Guido Chevez, auf dessen testimonio weite Teile des Textes basieren, und seinen Eltern sowie einem Freund im SMP gewidmet, von dem das Buch ebenfalls berichtet, sondern auch: » - Todos los jóvenes caídos y desmovilizados del Servicio Militar; / - Todas las madres que siempre se portaron valientes; / - Esos muchachos que un día tuvieron una anatomía envidiable: / Los lisiados de guerra.« In der »Introducción« wird dies noch einmal ausdrücklich hervorgehoben: »Es necesario reconocer la heroicidad de todos los desmovilizados del servicio militar, también la de los soldados de la resistencia nacional que se enfrentaron a un poderoso ejército formado lamentablemente por los mismos nicaragüenses, ellos al igual que los cachorros pensaban que luchaban por una causa justa.« (3) Trotz all dieser Ähnlichkeiten mit dem im gleichen Zeitraum entstandenen Bericht Castillo Guerreros unterscheidet sich das Buch Danilo Guidos in wichtigen Punkten von diesem. Dies trifft zunächst auf die Struktur des Textes und die Erzählperspektiven zu: Guidos Text ist ein »multipler« testimonio. Abwechselnd wird aus der Sicht des Autors/Erzählers (immer in der ersten Person), seines Bruders (in der ersten und dritten Person) und anderer Teilnehmer des SMP, der so genannten »cachorros«, erzählt (auch in der ersten und dritten Person, zum Teil als Zitate aus Tagebüchern): »Este relato es fruto de la experiencia de algunos cachorros, principalmente de mi hermano Eugenio Martín. Fue necesario combinar experiencias propias.« (5) Im Gegensatz zu Castillo Guerrero ist dieser Bruder nicht als Freiwilliger zum SMP gegangen, sondern hatte alles versucht, ihn zu umgehen. Der testimonio des Erzählers selbst besteht im Wesentlichen aus der Schilderung der erlebten Willkürmaßnahmen der neuen Herrschenden, sei es um Privilegien für ihre Familien zu sichern, unliebsame Gewerkschafter zu reglementieren oder gar auf Kosten der einfachen Soldaten im Militärdienst zu leben, die nur Reis und Bohnen zu essen bekommen, während die Comandantes in Saus und Braus leben: »Miles
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de jóvenes cumplieron su Servicio Militar, como servidores exclusivos de los Jefes, ya fuese de conductor de la familia, jardinero, albañil o carpintero [...] « (37) Zu den Berichten aus unterschiedlichen Erzählperspektiven und von unterschiedlichen Erzählern, die größtenteils ohne Übergänge aneinander montiert sind, kommen weitere Elemente hinzu, die der Struktur des Textes eine zusätzliche Komplexität verleihen. Zahlreiche Intertexte weisen den Autor als durchaus belesen aus. Sie stehen in offenem Widerspruch zu dem im kanonisierten testimonio-Diskurs behaupteten nicht literarischen bzw. antiliterarischen Charakter des testimonios. Zwischen die erzählenden Passagen montiert sind Zitate aus Werken von Charles Dickens, Miguel Angel Asturias, Salomón de la Selva, Sergio Ramírez und Leonel Rugama, aber auch der Zeitschrift Novedades de Moscú aus dem Jahr 1988. Sie haben durchweg die Funktion, die allgemeine politische Orientierung des Textes zu stützen.78 Dies wird verstärkt durch eine weitere Textsorte: die allgemeinen Kommentare des Erzählers/Autors, mit denen er direkt auf die politische Situation eingeht. Anders als bei Castillo Guerrero ist nach dem Krieg nicht alles wie vorher, die Sinnlosigkeit des Krieges und des Einsatzes für Ideale wird umso schärfer hervorgehoben, als die neuen Regierenden im Namen der Ideale eine neue, noch schlimmere Willkürherrschaft errichtet haben: »Una nueva dinastía se engendraba en Nicaragua, más numerosa, más fuerte, más inteligente, nos decían de los bienes que ellos tenían, del dinero de que disponían y disfrutaban, de las empresas que hacíamos producir para ellos que eran del pueblo, de cada uno de nosotros pero nunca tuvimos nada, sólo un jardín de flores que no existían.« (17) Damit haben sie auch die alten Ideale verraten: » [...] así pasó con todos los sueños auténticamente revolucionarios, auténticamente sandinistas y auténticamente cristianos, fueron despiadadamente truncados al final de aquella parte de la historia.« (70) Während die Jugendlichen glaubten, das Vaterland zu verteidigen, verteidigten sie doch nur dieses Projekt des »Sandinismus«, das auf der Negation der ursprünglichen sandinistischen Ideen basiere und in dessen Namen alle Schwierigkeiten und Mängel der Revolution legitimiert würden, (vgl. 54, 58) Eine neue, postrevolutionäre Subalternität wird sichtbar: »Ellos mandaban a los jóvenes al Servicio Militar, el gobierno Norteamericano tutelaba a la Contrarrevolución, las bases se enfrentaban mientras unos defendían el poder y otros lo querían.« (54) In einer für den herrschenden testimonio-Diskurs überraschenden Wende reklamiert Guido in dieser Gegenüberstellung eine Repräsentativität im Namen der jungen Generationen, die systematisch von der Teilhabe an den politischen Entscheidungen ausgeschlossen und in einem unwürdigen sozialen Zustand gehalten werden, gegen den postrevolutionären Sandinismus. 78
So zum Beispiel das Zitat aus Salomón de la Selvas Buch El soldado desconocido: » [...] el héroe de la guerra es el soldado desconocido. Es barato y a todos satisface. No hay que darle pensión. No tiene nombre. Ni familia. Ni nada, sólo Patria.« (Guido, 1993: 4)
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Diese politische Zielrichtung der Absage an den Sandinismus aus den Reihen der sandinistischen Kämpfer heraus wird schließlich weiter akzentuiert durch eine Reihe von in den Text eingeflochtenen Intertexten. So zitiert Guido etwa aus dem Buch La tierra es un satélite de la luna des sandinistischen Schriftstellers Leonel Rugama, der im Guerillakampf fiel: » [...] ya que a mi manera de ver, y creo que así debe ser, todo hombre debe respaldar con actos cada palabra que utilice y en esto hay que tener sumo cuidado.« (12) Die sandinistischen Ideale wenden sich gegen die moralische Verkommenheit der regierenden Sandinisten selbst. Angesichts dieser veränderten Situation bleibt keine Position sicher, wird die Wahrheit relativ: »Era el mejor de los tiempos, era el peor de los tiempos; [...] la era de la luz y de las tinieblas, la primavera de la esperanza y el invierno de la desesperación«, zitiert Guido - wie Sergio Ramírez in seinen Erinnerungen an die Revolution, Adiós muchachos (1999: 17), allerdings Jahre vor diesem - aus Charles Dickens' Historia de dos ciudades (Geschichte aus zwei Städten). Die alten Gewissheiten sind für immer dahin: »Para encontrar la verdad y darle la razón de alguno de los dos bandos sería necesario empezar a filosofar, realizar encuestas, ver estadísticas de comportamiento, de acciones buenas y malas, intentar averiguar cual de las dos fuerzas era más justa con los prisioneros de guerra, que nos dijeran donde están enterrados los restos de civiles y militares de uno y otro bando y no es tan fácil como parece. Los dos ejércitos rivales sufrieron daños irreparables y el balance del resultado negativo o positivo es relativo e impreciso. Muchos podrán cuestionar este planteamiento pero al igual que la búsqueda de la verdad no podrá ser absoluto.« (3) Was bleibt, ist die Hoffnung, dass die Zeit die Wunden heilt, dass eines Tages die Alpträume der aus dem Krieg Zurückgekehrten zu Ende sein werden und sie wieder lachen können, ihre Ruhe und ihren Optimismus wiederfinden. Im Gegensatz zu Castillo Guerrero bietet hier noch nicht einmal die Religion Zuflucht, höchstens ein fast schon ironisch anmutendes Trotz alledem, das sich auf den das Buch abschließenden Paratext von José Martí beruft: »Sólo los débiles se enojan, el hombre fuerte aún al caer sonríe.« (77) Ebenfalls noch ganz den Widersprüchen des revolutionären Projekts widmet sich Margaret Randall in Las hijas de Sandino. Una historia abierta (1999), das Interviews mit zwölf Frauen versammelt, die sich aktiv an diesem Projekt beteiligten. Die Idee zu diesem Buch entwickelte sich bereits Ende 1991 während und nach einer vom FSLN einberufenen Konferenz von Solidaritätsgruppen aus der ganzen Welt in Managua, auf der über die Möglichkeiten der Fortsetzung des sandinistischen Projekts nach dem Regierungsverlust gesprochen werden sollte, (vgl. »Prefacio«, 11 f.) Im Gespräch mit den Frauen, die von der Herausgeberin für ihr 1980 erschienenes Buch Todas estamos despiertas interviewt worden waren, und anderen sei das Bedürfnis entstanden, eine Bestandsaufnahme der Situation der Frauen in Nicaragua nach mehr als zehn Jahren sandinistischer Regierung und zwei nachsandinis-
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tischen Regierungsperioden zu machen. Dazu wurden 1992 dreißig Frauen interviewt, darunter einige der im Buch von 1980 vertretenen sowie andere politisch engagierte, (vgl. 14)79 Ausgehend von der Einschätzung, dass die Unfähigkeit des FSLN, die wichtigsten Forderungen der Frauenbewegung zu verwirklichen, zu seiner Niederlage beigetragen habe, sollte eine Bilanz des zehn Jahre zuvor begonnenen Engagements von Frauen im sandinistischen Projekt versucht werden (vgl. 13), das nach Aussagen vieler später für das Buch interviewter Frauen geschlechtsspezifische Fragen immer in den Hintergrund gedrängt habe: »Todas me contaban historias de cómo habían tenido que priorizar la defensa del proceso revolucionario a costa de un perenne relegar o ignorar los temas específicos de género. Todas decían sentirse traicionadas por un proceso al que le habían entregado todo pero que, en el análisis final, presentaba sus necesidades como secundarias - o dispensables.« (14) Die schließlich veröffentlichten testimonios stellen in der Tat eine kritische Bilanz des fortdauernden machismo auch im revolutionären Projekt und der nicht erreichten Gleichberechtigung dar und können auch als Antwort auf das von Randall 1980 publizierte Buch und die darin enthaltenen Hoffnungen und Perspektiven gelesen werden. Exemplarisch heißt es zum Beispiel in dem Interview mit der Feministin Sofia Montenegro: »La esencia del feminismo es su carácter democratizador, el feminismo promueve tanto una democratización general como radical. Así que si el espíritu feminista fuera asumido por un movimiento revolucionario tan amplio como es el sandinismo, sería totalmente extraordinario. [...] el momento exacto de ofrecer una alternativa es ahora, durante la presente crisis. Necesitamos decir: 'Vean esta mierda, el modelo de izquierda no funcionó. La única ideología que queda en pie en el mundo de hoy es el feminismo'.« (396f.) Auch in methodischer Hinsicht bezieht sich Randall 1999 kritisch auf die ihren eigenen testimonios der siebziger und achtziger Jahre zugrunde gelegten Prämissen: »Unas palabras sobre la metodología. Desarrollada a lo largo de un cuarto de siglo de experiencias históricas orales, actualmente, mi metodología consiste en lo siguiente: dedico mucho tiempo a la lectura y al pensamiento sobre un proyecto antes de iniciar el verdadero trabajo de campo. Cada sesión de grabación está precedida por una conversación que le permite al entrevistado entender dónde y cómo será utilizada su historia. Siento que es importante para las mismas mujeres, tener el control, ser dueñas de sus propias voces.« (15) Im Gegensatz zu Randalls früheren Büchern, die individuelle Stimmen mit allgemeinen Aussagen, Passagen und Texten dokumentarischen und analysierenden bzw. kommentierenden Charakters vermischen, sind in Las hijas de Sandino die Interviews als individuelle wiedergegeben, ein-
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Die englischsprachige Ausgabe des Buches erschien schon 1994 unter dem Titel daughters revisited (Rutgers University Press).
Sandino's
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schließlich der Fragen der Autorin. Die Individualität der Interviewten soll erhalten bleiben, ebenso die Nicht-Identität von Interviewerin und Interviewten. Allerdings lässt die Herausgeberin selbst keinen Zweifel daran, dass sie entscheidend in die endgültige Textgestalt eingegriffen hat und sich zumindest solidarisch mit den testimoniantes fühlt: »Nunca he sido una observadora imparcial. No reclamo ninguna neutralidad. Yo apoyo a estas mujeres en sus esfuerzos por lograr que la liberación de su género sea parte integral de la lucha del pueblo nicaragüense por su dignidad y su libertad. [...] Al tener que decidir cuáles de las más de treinta entrevistas completas iba a utilizar, tomé en consideración muchas cosas: diferencias de clase y diferencias étnicas, mi deseo de permitir al lector examinar temas importantes desde una variedad de perspectivas, y mi interés de presentar un cuadro del feminismo nicaragüense tan completo como fuera posible. [...] Las palabras de estas mujeres no han sido cambiadas; si acaso, ocasionalmente, han sido reordenadas para lograr una historia más coherente.« (14f.) Schließlich muss hervorgehoben werden, dass die allgemeinen Paratexte des Buches wichtige Elemente der methodischen Vorstellungen der Herausgeberin aus den achtziger Jahren wieder aufnehmen und unangestastet lassen.80 Die feministische Dekonstruktion des Sandinismus operiert mit den leicht veränderten Mitteln der (zum großen Teil von der Herausgeberin mit kanonisierten) sandinistischen Testimonialliteratur, was der Geschichte des weiblichen testimonios in Nicaragua eine neue Variante hinzufügt. 8 ' Eine andere Art von Dekonstruktion des sandinistischen Projekts - insbesondere der offiziellen sandinistischen Historiografie - mit den Mitteln des sandinistischen testimonios unternimmt Roger Mendieta Alfaro in Olama y Mollejones (1992). Geschildert wird der Verlauf der bewaffneten Aktion von Oppositionellen gegen die Somoza-Diktatur im Mai/Juni 1959, die als »la gesta de Olama y Mollejones« (6) in die jüngere Geschichte Nicaraguas einging und als einer der bedeutendsten Widerstandsversuche am Vorabend der Entstehung einer breiten gesellschaftlichen Oppositionsbewegung gegen das diktatorische Regime gilt.82 Indem der Text die Aktion als politisch-militäri-
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Die einleitenden Paratexte sind folgende: »Prefacio« (11-17), »Agradecimiento« (19-20), »Agradecimiento II« (21), »Introducción a la edición española« (25-43), »Introducción a La Edición en Inglés« (45-89). Der letzte Text stellt eine ausführliche Analyse der Situation der Frau in Nicaragua von »La Nicaragua indígena« bis zu »El nuevo movimiento feminista« dar. Die bibliografische Klassifizierung spricht übrigens nicht mehr von testimonio. Sie lautet folgendermaßen: »1. MUJERES-ACTIVIDAD POLITICA / 2. ENTREVISTA 3. CONVERSACION / 4. NICARAGUA-HISTORIA-REVOLUCION / POPULAR SANDINISTA, 1979« (6).
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Von Costa Rica aus kommend, wo die Aktion vorbereitet wurde, landeten mehrere Hundert vor allem jugendliche Oppositionelle per Flugzeug in dem Olama y Mollejones genannten Gebiet in den Bergen zwischen Matagalpa und Chontales. Die Aktion verstand sich zum Teil als Protest gegen die Besetzung einer Radiostation (»Radio Mundial«) in Managua im November
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sehe Aktivität der Juventud Conservadora schildert und den antikommunistischen Charakter der Bewegung beschwört, soll eine eigene, nicht sandinistische Tradition der Opposition gegen Somoza rekonstruiert werden. Wie seine Romane83 durchziehen auch dieses Buch des Autors zahlreiche metatextuelle, retrospektiv geschriebene Kommentare, in denen er Kritik an den Sandinisten und am kommunistischen Einfluss auf die jüngste Geschichte Nicaraguas übt. Dennoch weist der Text in literarischer Hinsicht viele Parallelen zu der im sandinistischen Diskurs der siebziger und achtziger Jahre kanonisierten Testimonialliteratur auf. Schon paratextuell lässt er keinen Zweifel daran, in welche Tradition er sich stellt. In einem dem Vorwort (»A manera de prólogo«, 7-12) vorangestellten Text (5f.), mit »TESTIMONIO« überschrieben und mit »El Autor« unterzeichnet, wird der Inhalt des Buches kurz umrissen. Der Text selbst besteht aus einer Collage von Erinnerungen des Autors, die sich zum größten Teil auf eigene Aufzeichnungen aus der damaligen Zeit stützen, wörtlicher Wiedergabe von Aussagen an der Aktion Beteiligter (sowohl von Oppositionellen als auch von Angehörigen der Nationalgarde) gegenüber dem Autor bzw. vor dem Militärgericht, das die Teilnehmer der Aktion im Juni 1959 vernahm, intertextuellen Elementen, wie Zitaten aus anderen Büchern (vor allem des Buches Mi rebelión von Luis Cardenal), Zeitschriften (u.a. der kubanischen Bohemia und der Revista Conservadora) sowie Briefen, und den erwähnten metatextuellen retrospektiven Einmischungen des Autors. Zwar als autobiografischer Bericht angelegt, verleihen diese Elemente dem Text einen vielstimmigen Charakter. Darüber hinaus wird der Testimonialcharakter noch dadurch betont, dass der Autor als »Vermittler« seiner eigenen Aufzeichnungen von vor über dreißig Jahren fungiert (der Text wurde am 17. Mai 1992 beendet, vgl. 185). Von Anfang bis Ende wird die Unsicherheit der Erinnerung betont: »si mal no recuerdo« (65, 133), »no recuerdo« (98), »recuerdo« (133), »no estoy seguro, pero creo« (178), »me resulta bastante difícil recordar« (179) und ähnlich heißt es im Text immer wieder. Auch die entscheidende Rolle des Autors für die Konstruktion der Erzählung »de acuerdo con mis apuntes, y las entrevistas que estuve haciendo a mis compañeros de celda en la Cárcel de la Aviación«
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1958, wo ein Treffen zur Solidarität mit den politischen Gefangenen stattfand, durch bewaffnete Einheiten der somozistischen Regierung. Ziel der Aktion war es, politische Konfusion zu erzeugen und das Regime zu destabilisieren, wobei man offensichtlich auf parallele Aktionen in den Städten hoffte (u.a. einen Generalstreik), zu denen es jedoch nicht kam. Zwar bestanden wohl auch vage Vorstellungen von den weitergehenden Plänen im Fall einer siegreichen Aktion; so heißt es im Text: »[...] los comandantes hablaban de elecciones libres, elecciones municipales, ley agraria y reducción del ejército« (117). Dennoch mangelte es dem Unternehmen wohl an klaren Zielvorgaben und an einer effizienten Vorbereitung, so dass es schließlich mit der Kapitulation der rebellierenden Gruppen im Juni 1959 gegenüber den Einheiten der Nationalgarde endete. Vgl. dazu das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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(62) wird immer wieder hervorgehoben: »Se me ocurre todo esto, precisamente cuando estoy revisando los apuntes para que sirvan de soporte a mi memoria en las incidencias del relato.« (86) Schließlich wird auf die Fiktionalität hingewiesen, die Erzählung kann sich nur auf Erinnerungen stützen, die wie ein Film wahrgenommen werden: »A mi memoria, afloran las escenas como paso de una película que vimos alguna vez y ya la habíamos olvidado.« (94) Wie im sandinistischen testimonio (vgl. zum Beispiel Cabezas, 1982 und 1988a) beschwört Mendieta Alfaro den angeblich nicht literarischen Charakter seines Textes: »Cuando escribo estas memorias que no pretenden ser un libro, sino un reportaje periodístico y sentimental [...] « (121), um im gleichen Atemzug intertextuell Bezug auf Sandino zu nehmen und eine literarische Kontinuität mit ihm zu konstruieren; der zitierte Satz geht folgendermaßen weiter: » [...] en honor de un grupo de jóvenes nicaragüenses que no pidió nada [...] « - eine unmissverständliche Anspielung auf die in Nicaragua schon zur stehenden Wendung gewordene Aussage Sandinos, dass er sich in den Dienst des Vaterlandes stelle, ohne dafür von diesem etwas zu verlangen.84 Auch in ideologisch-symbolischer Hinsicht nimmt der Text zahlreiche für den sandinistischen testimonio charakteristische Elemente auf. Mendieta knüpft ebenfalls an den Mythos Sandino an und versucht, eine Kontinuität zwischen dessen Kampf und der Aktion der Konservativen Jugend in Olama y Mollejones herzustellen, (vgl. zum Beispiel 37) Der entscheidende anfangliche Einfluss der kubanischen Revolution und von Fidel Castro auf die Opposition in Nicaragua wird herausgestellt, deren Bedeutung allerdings rein geistig gesehen wird, ohne materielle Unterstützung von Seiten der kubanischen Regierung. Dies mündet in eine Kritik an Kubas zunehmender Annäherung an die Sowjetunion und undemokratischer Entwicklung, (vgl. vor allem 21, 40) Wiederholt werden der bewaffnete Kampf und die »guerra de guerrillas« (13, vgl. auch 21, 28) als einziger Weg für die Auseinandersetzung der Opposition mit dem Somoza-Regime beschworen. Allerdings bleiben die Rebellen Fremdkörper im ländlichen Nicaragua und ohne Unterstützung durch die Bauern: »En verdad, el apoyo de los campesinos, especialmente en Olama y Mollejones se puede decir que fue nulo.« (111) Im Unterschied zur kanonisierten Tradition des testimonios der siebziger und achtziger Jahre ist sich der Autor also bewusst, dass die Zeugnisse der an der Aktion Beteiligten keinen Anspruch darauf erheben können, repräsentativ für das gesamte nicaraguanische Volk zu sein. Dennoch scheint etwas von einer solchen metonymischen Beziehung auf, wenn er die Beispielhaftigkeit
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Im ersten politischen Manifest Sandinos vom 1. Juli 1927 hieß es: »El hombre que de su Patria no exige ni un palmo de tierra para su sepultura, merece ser oído, y no tan solamente ser oído, sino también merece ser creído.« (zit. n. Augusto C. Sandino. El pensamiento vivo, tomo 1, Introducción, selección y notas de Sergio Ramírez, Managua, 1984: Editorial Nueva Nicaragua, 2a ed. rev. y ampliada, 117)
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der Aktion für den Kampf gegen die Diktatur unterstreicht: »De este fracaso, otros nicaragüenses y quizás nosotros mismos, hayamos aprendido lecciones muy duras. De algo sí pueden sentirse satisfechos quienes se enrolaron en la gesta de Olama y Mollejones, porque como dijo Pedro Joaquín Chamorro: 'Fuimos los únicos que cumplimos'.« (185) Die Aktion von Olama und Mollejones wird als Gründungsakt einer eigenen - nicht sandinistischen - Tradition des Widerstandes gegen Somoza, als »el primer grito dado en las montañas de Nicaragua bajo el sentimiento de un idealismo puro, incuestionable, frente a la Dictadura de Somoza« (14) konstruiert, als Anfang vom Ende der Diktatur (für das in der sandinistischen Historiografie gemeinhin die Ermordung Anastasio Somoza Garcías durch den Dichter Rigoberto López Pérez im Jahr 1956 steht)85 - eine Tradition, die auf eigene Helden und Märtyrer Bezug nimmt, insbesondere den später von der Nationalgarde ermordeten Pedro Joaquín Chamorro, den spiritus rector der Rebellenaktion (»cabe hacer especial mención de nuestro Jefe Político, el periodista Pedro Joaquín Chamorro Cardenal«; 5), und dennoch im Wesentlichen mit den vom sandinistischen Diskurs kanonisierten Mitteln des testimonios arbeitet. Das Attentat vom 21. September 1956 in León, bei dem der Gründer der Somoza-Diktatur erschossen wurde, steht im Mittelpunkt von Agustín Torres Lazo, La saga de los Somoza. Historia de un magnicidio (2000). Der Bericht beginnt am Abend jenes Tages und endet mit der Ermordung des gestürzten und geflohenen letzten Diktators, Anastasio Somoza Debayle, am 17. September 1980 in Paraguay durch ein Kommando argentinischer Terroristen (laut Aussage des Autors im Auftrag des paraguayischen Staatspräsidenten Stroessner; vgl. 446). Er stützt sich (abgesehen von einigen wenigen als Faksimilie abgedruckten Dokumenten zum Prozess gegen die vermeintlichen Urheber des Anschlags vom September 1956) auf die persönlichen Erinnerungen des Autors (in der ersten Person erzählt), damals als Militärstaatsanwalt mit den Untrersuchungen betraut. Torres Lazo, der nach Abschluss der Untersuchungen im Januar 1957 seines Postens enthoben, zum Sekretär der nicaraguanischen Botschaft in den USA und zum Abgesandten bei den Vereinten Nationen ernannt wurde und schließlich zur Opposition gegen die Somoza-Diktatur überging (vgl. 16f.), beginnt den »Prefacio« zum Buch mit der Bemerkung, es habe ihn vierzig Jahre gekostet, dieses Buch zu schreiben. Obwohl die erzählten Ereignisse authentisch seien, könnten sie (wie es auch beim Autor im Prozess des Erinnerns geschehen sei) Ungläubigkeit hervorrufen, (vgl. 13) Dennoch stellten sie einen »testimonio de lo que en su momento constituyó uno de
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Als Anhang ist der Text »Perra suerte la del rey. Un cuento sobre el mismo tema« (187-208) abgedruckt. Im Mittelpunkt dieser Erzählung steht der Sohn eines Lotterieverkäufers, der sich vom einfachen Soldaten zu Somozas Chauffeur und Vertrautem hochdient und an Folterungen der inhaftierten Teilnehmer der Aktion von Olama y Mollejones beteiligt ist (ganz im Stil der Romane Mendieta Alfaros wird Somoza Satanasio Samocha genannt).
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los acontecimientos más dramáticos y trascendentales que registra la historia de Nicaragua« dar, den er in »la forma más objetiva y verdadera posible« (18) habe schreiben wollen.86 Intention des Autors ist es offensichtlich, die Ereignisse aus der Sicht eines Beteiligten (wider Willen, vgl. 14) zu erzählen und gleichermaßen der somozistischen Legendenbildung (vgl. den Untertitel des Buches) über ein Massenkomplott gegen Somoza Garcia den Boden zu entziehen, die als Vorwand für umfangreiche Repressionsmaßnahmen diente, wie auch die sandinistische Historiografie zu dekonstruieren, die den individuellen Akt des jungen Dichters Pérez López zum Ausdruck des massenhaften Widerstandes gegen die Diktatur stilisierte, (vgl. 15f., 308-311, 447f.) Dies verleiht dem Buch trotz seines weitgehend individuellen Charakters durchaus eine gewisse Repräsentativität für die Teile der nicaraguanischen Gesellschaft, die sich gleichermaßen von den politisch-militärischen Projekten des Somozismus und des Sandinismus distanzieren. Außertextueller Bezugspunkt des von Manfred Liebet herausgegebenen Bandes Somos NATRAS. Testimonios de niños, niñas y adolescentes trabajadores de Nicaragua (1996) sind die nachrevolutionären Arbeits- und Lebensbedingungen nicaraguanischer Kinder und Jugendlicher, die gleichwohl noch zum Teil Ergebnis der revolutionären Dekade sind.87 In zumeist kurzen Textpassagen werden die Stimmen von 81 Mädchen und Jungen zwischen 9 und 16 Jahren wiedergegeben, die sich zum Großteil im 1994 gegründeten Movimiento de los Niños, Niñas y Adolescentes Trabajadores (NATRAS) organisierten.88 Die testimonios sind ursprünglich aus einem Workshop (»un taller testimonial«, 9) im Jahr 1992 entstanden, zu dem eine Gruppe von Erziehern und Erzieherinnen dreißig Jungen und Mädchen eingeladen hatte, um über das Thema zu sprechen: »Cómo sobrevivimos, cómo queremos vivir« (ibid.). Ihm folgten weitere ähnliche Treffen, aus denen heraus das Buch entstand. Im »Prologo« knüpft der Herausgeber explizit an eine Definition des testimonio als »narración personal de experiencias vividas, positivas o negativas, que marcan el desarrollo de la personalidad« (11) an, in der Begriffe wie Bewusstwerdung, Authentizität, Wahrheit und Repräsentativität im Mittel-
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Auch Pablo Antonio Cuadra spricht in seinem »Prologo« von dem Buch als »el testimonio - n o apasionado sino diáfanamente objetivo- de un momento histórico axial de la historia moderna de Nicaragua« (11). Dagegen heißt es in der bibliografischen Klassifizierung de Buches: »1. NICARAGUA - HISTORIA - DICTADURA / SOMOCISTA, 1944-1999 - RELATOS PERSONALES.« (2) Manfred Liebel ist deutscher Soziologe und arbeitete mehrere Jahre in Projekten mit Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden in Nicaragua. Er veröffentlichte u.a. die Bücher: Mala Onda. La Juventud Popular en América Latina (Managua, 1992) und Protagonismo Infantil. Movimiento de Niños Trabajadores en América Latina (Managua, 1994). NATRAS wurde 1994 gegründet, ausgehend von einer Reihe von Treffen und Versammlungen, an denen sich ca. 1500 Kinder und Jugendliche zwischen neun und sechzehn Jahren beteiligten. (vgl. 9, 113)
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punkt stehen.89 Der testimonio erlaube den Kindern und Jugendlichen, sich als soziales Subjekt zu begreifen, das in der Lage sei, seine Realität zu interpretieren. Er sei ein Mittel der Selbsterziehung, das es den Kindern ermögliche, ihre Situation zu analysieren, zu verstehen und umzugestalten. Schließlich helfe er den Erzieherinnen und Erziehern sowie anderen Erwachsenen, die Probleme der Kinder besser kennen zu lernen und sich für ihre Lebensumstände, Hoffnungen und Bedürfnisse zu sensibilisieren, (vgl. 11, 13) Um authentische testimonios zu erhalten, sei eine Methodologie unabdingbar, »que permita a los niños expresar libremente lo que les parece importante en su vida« (13). In dieser Absicht versammelt das Buch Aussagen von Mädchen zu ihrer Situation aus geschlechtsspezifischer Sicht (Kapitel 1), von Mädchen und Jungen zu ihren Arbeitsbedingungen »ya sea en la casa, en la calle u otros lugares« (16) (Kapitel 2), von jungen Müttern (Kapitel 3) und von jugendlichen Führern der NATRAS-Bewegung (Kapitel 4). Sie lesen sich in der Tat wie authentische Dokumentationen der schwierigen Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen aus den unteren Schichten (also der Mehrheit der nicaraguanischen Gesellschaft) ohne ideologische Überhöhung oder direkte Einbettung in einen politisch-propagandistischen Kontext. In diesem Sinne ist der Text auch als ein spätes Echo auf den von Maria Gravina Telechea herausgegebenen Band Que diga Quincho (1982) zu sehen, in dem sich Jugendliche zu Beginn der sandinistischen Regierungszeit über ihr Engagement für das revolutionäre Projekt äußerten und quasi als Repräsentanten der neuen Macht präsentiert wurden, (s.o.) Der von Liebel publizierte Text verzichtet völlig auf diese Ideologisierung wie auch auf eine direkte politische Funktionalisierung gegen die postsandinistischen Regierungen und bringt so durchaus die Stimme der »anderen«, in der »jungen« nicaraguanischen Gesellschaft großen Mehrheit der »Subalternen« zum Ausdruck.90 Allerdings sind auch hier die direkten
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Liebel stützt sich auf folgende Definition des testimonios, die schriftliche, mündliche, dramatisierte, gezeichnete und andere Ausdrucksformen einschließe: »El testimonio se presenta 'en primera persona'; es decir, es un documento individual, pero puede surgir de una reflexión y un proceso grupal. El testimonio refleja la experiencia personal en el contexto social, y la manera cómo lo expresa, refleja el proceso de socialización y concientización del niño. De todas maneras el testimonio es una expresión auténtica del niño como sujeto social, que no reproduce simplemente los insumos de los adultos o medios de su entorno, sino manifiesta 'la verdad del niño'.« (11) Die Kinder und Jugendlichen stammten aus verschiedenen Städten Nicaraguas, wo sie in Projekten von Nichtregierungsorganisationen und staatlichen Organisationen arbeiteten; die Herausgabe des Buches erfolgte mit Unterstützung von »terre des hommes«, Deutschland, (vgl. 6, 9) Laut dem vom Statistischen Bundesamt, Wiesbaden, herausgegebenen Länderbericht Nicaragua 1995 (Verlag Metzler-Poeschel, Stuttgart 1996) betrug der Anteil der unter 15 Jahre alten Einwohner zur Jahresmitte 1995 etwa 46 Prozent, der unter Zwanzigjährigen etwa 57 Prozent, das Durchschnittsalter der Bevölkerung lag bei 16,8 Jahren, die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate bei 2,57 Prozent und das natürliche Bevölkerungswachstum bei 3,20 Prozent, (vgl. 24-27)
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Eingriffe des Herausgebers in den Text und die paratextuellen Festlegungen unübersehbar: Wie eine Klammer werden die vier Kapitel mit den testimonios vom »Prologo« und von »Un análisis de pensamientos de niñas y niños sobre sus experiencias laborales« aus der Feder des Herausgebers umschlossen, in denen er die Interpretation der Texte mit allgemeineren soziologischen Aussagen vermischt. Im Anhang werden Dokumente des »III Encuentro Nacional de los Niños, Niñas y Adolescentes Trabajadores de Nicaragua« und der Kampagne »Dar una Voz a los Niños y Niñas« aus dem Jahr 1995 abgedruckt. Der Text steht also durchaus in der Tradition des konflikthaften Verhältnisses der beiden Instanzen Erzähler (Angehöriger der Unterschicht aus der »Dritten Welt«) und Herausgeber/Autor (Angehöriger der Mittelschicht aus der »Ersten Welt«), wie sie für viele Texte der Testimonialliteratur typisch ist." Dennoch melden sich in Somos NATRAS neue Generationen, neue soziale Subjekte zu Wort und bedienen sich des testimonios - keineswegs nur als soziologischer Dokumentation, sondern durchaus auch in Anknüpfung an literarische Traditionen, die gleichsam im kollektiven Gedächtnis gespeichert zu sein scheinen. Nicht zufällig erzählen viele testimonios Geschichten über andere Geschichten, bedienen sie sich narrativer Figuren des Märchens und oraler Erzähltraditionen: »Había una vez una niña [...] « (21), beginnt das erste im Buch abgedruckte Zeugnis eines Mädchens, und das letzte endet im Stil einer moralischen Lektion: »El mensaje que yo les doy a todos los NATRAS, es que sigamos adelante; que no nos debilitemos; que sigamos luchando por todo lo que nos pertenece; que hagan la lucha porque yo sé, que todos, unidos, vamos a lograr un mundo diferente.« (110)
Der postrevolutionäre testimonio 2: Autobiograflsche, und karikierende Stimmen
parodische
Endgültig gesprengt wird das enge Korsett des kanonisierten testimonio-Diskurses, wenn wir den Blick für einen Moment ausschweifen lassen auf Texte, die sich nicht explizit als Testimonialliteratur präsentieren, sondern anderen Gattungen bzw. Subgattungen - wie dem Roman, der Autobiografie, den Erinnerungen - zuzurechnen sind, aber gleichwohl Elemente des testimonios enthalten. 91
Der Herausgeber weist ausdrücklich auf seine Eingriffe in den Text hin: »En la transcripción de los testimonios grabados buscamos un compromiso entre la forma hablada y una forma escrita que permite leer y entender fácilmente lo expresado; por ejemplo, quitamos a veces textos repetitivos o palabras innecesarias para entender el contenido. Pero siempre intentamos mantener el 'color personal' del testimonio y nunca sustituimos palabras utilizadas, por otras.« (15) Weitere Eingriffe stellen neben der Anordnung des Textmaterials die vom Herausgeber stammenden Kapitelüberschriften und Zwischentitel dar, die dem Text eine gewisse literarische Note verleihen.
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Dazu gehören zunächst die Autobiografien bzw. Lebenserinnerungen der drei bekanntesten zeitgenössischen nicaraguanischen Intellektuellen, Schriftsteller und ehemals hohen Funktionäre der sandinistischen Regierung Ernesto Cardenal, Sergio Ramírez und Gioconda Belli, die alle um die Jahrhundertwende erschienen sind. Sergio Ramírez hat mit Adiós muchachos. Una memoria de la revolución sandinista (1999) nicht den Roman einer Epoche geschrieben und ebensowenig ein Stück Testimonialliteratur im Stile der achtziger Jahre, das im Schicksal des individuellen Helden den Kampf eines ganzes Volkes symbolisch überhöht. Vielmehr will er die Revolution als eine persönliche Erinnerung erzählen, »como yo la viví, y no como me contaron que fue« (13), ohne den Anspruch bzw. die Anmaßung, eine literarische Bilanz des revolutionären Projekts in seiner Totalität vorzulegen, und ohne einen »literarischen Nationalismus« zu bemühen.92 In Ernesto Cardenal, Vida perdida. Memorias Tomo 1 (1999)92 ist das religiöse Element, das in vielen testimonios seine Spuren hinterlassen hat, omnipräsent und dominant. Es dient dazu, dieses »verlorene Leben«, auf das der Titel anspielt, in doppelter Weise zu erklären, zu interpretieren und zu rechtfertigen: als verloren in den weltlichen Freuden der Liebe und als verloren im Glauben an Gott, das heißt geborgen und voller Sinn. Es ist Gott, »que de alguna manera escribe por mi, o dirige lo que yo escribo en cierto modo« (24). Offensichtlich begründet dieser Bezug zu Gott die privilegierte Rolle des Protagonisten, hebt er ihn aus seinen Zeitgenossen heraus; gleichzeitig entbehrt er jedoch jeglichen messianischen Zugs. Das Buch ist aus einer retrospektiven, individualisierten Vision erzählt, die voller ironischer und parodischer Elemente ist, etwa wenn Cardenal, um seine unzähligen enttäuschten Liebschaften zu erklären, sich mit den Worten tröstet: »Yo sé que fue Dios el que dirigió todo, en este caso como en todos los otros.« (31) Diese Lebenserinnerungen geben nicht vor, eine höhere historische Wahrheit zu enthüllen, sondern beschränken sich auf »ficciones de una ficción, porque Dios hizo que la historia que aquí he contado fuera una realidad ficticia« (36). Gioconda Belli will mit El país bajo mi pieL Memorias de amor y guerra (2001a)9* ihre zwei Leben erzählen: »He sido dos mujeres y he vivido dos vidas. Una de mis mujeres quería hacerlo todo según los anales clásicos de la feminidad: casarse, tener hijos, ser complaciente, dócil y nutricia. La otra quería los privilegios masculinos: independencia, valerse por sí misma, tener vida pública, movilidad, amantes. [...] Creo que al fin he logrado que ambas 92
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Vgl. dazu ausführlich Mackenbach, 2000c. Eine deutschsprachige Ausgabe erschien 2001 unter dem Titel Adiós muchachos. Eine Erinnerung an die sandinistische Revolution in der Übersetzung von Lutz Kliche im Peter Hammer Verlag, Wuppertal. Die deutsche Ausgabe erschien bereits 1998 unter dem Titel Verlorenes Leben. Erinnerungen, Band 1 in der Übersetzung von Lutz Kliche im Peter Hammer Verlag, Wuppertal. Die deutschsprachige Ausgabe erschien ebenfalls 2001 unter dem Titel Verteidigung des Glücks. Erinnerungen an Liebe und Krieg in der Übersetzung von Lutz Kliche im Hanser Verlag, München und Wien.
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coexistan bajo la misma piel. Sin renunciar a ser mujer, creo que he logrado también ser hombre.« (12) In diesem Sinne knüpft sie durchaus an dem Anspruch an, im Namen eines Kollektivs - und hier insbesondere der an der Revolution beteiligten und um ihre Selbstbestimmung kämpfenden Frauen zu sprechen. » [...] escribo estas memorias en defensa de esa felicidad por la que la vida y hasta la muerte valen la pena«, endet der letzte Satz der »Introducción« (13). Gleichzeitig betont sie den individuellen, eher nicht repräsentativen Charakter dieser Erinnerungen: »Mientras mi pueblo escribía en las paredes yanki go home, yo me enamoré de un yanki periodista. Cuando de mi revolución sólo quedaron los ecos y las huellas, el amor, que nunca he podido resistir, me llevó a firmar un pacto con el amado que me condenaba a vivir parte del tiempo en su país. [...] Nadie sospecha al verme que alguna vez me juzgó y condenó a cárcel un tribunal militar por ser revolucionaria.« (12f.) Wie die Erzählung zwischen den beiden Leben, den beiden Frauen Gioconda Belli hin- und herspringt, so changiert der Text zwischen der Wiedergewinnung der kolletiven Erinnerung an andere Formen des Lebens und der Fiktion eines autobiografischen Romans.95 Für alle drei Bücher gilt, dass sie wesentliche Prämissen des testimonio-Diskurses aufgegeben haben und sich bewusst als individualisiertere Form in der Tradition der Autobiografie verstehen,96 wie auch die auf jeden Bezug aufs Kollektive und Repräsentative verzichtenden, persönlichen Widmungen und Danksagungen in den Paratexten untermauern, (vgl. Ramírez, 1999: 9, 11; Cardenal, 1999: 7; Belli, 2001a: 7) Kurioserweise scheinen die Lebenserinnerungen der ersten nachrevolutionären Staatspräsidentin (1990-1997), Violeta Barrios de Chamorro, die unter dem Titel Sueños del corazón (1997) erschienen, im Gegensatz zu den erwähnten Texten der sandinistischen Autoren an einigen Voraussetzungen des testimonios festzuhalten. Wie sie für die von ihr geführte Regierung reklamiert, nicht nur für die Mehrheit der Nicaraguaner, sondern für die nicaragua-
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In einem Interview führte die Autorin in diesem Zusammenhang unter anderem aus: »Hay una especie de preocupación de recuperar una memoria colectiva que poco a poco se va extraviando entre nuevos acontecimientos que no tienen, digamos, el peso de muchos de los que yo cuento en este libro y no me refiero al hecho revolucionario nada más, sino a otras maneras de enfrentar la vida en la que la preocupación no era el uno mismo, sino los demás. Estoy aludiendo a formas diferentes de concebir la vida, las cuales creo es necesario retomarlas o al menos tomarlas en cuenta de una manera seria. [...] Me gusta más lo de novela autobiográfica, porque a decir verdad está estructurada de esa manera y yo soy un personaje dentro de la obra. Además hay acontecimientos en los que la memoria me ha jugado una mala pasada y esto la exime de ser un testimonio en el sentido riguroso de la palabra.« (Midence, 2001: o. S.; vgl. González, 2001) Die deutschsprachige Ausgabe erschien ebenfalls 2001 unter dem Titel Verteidigung des Glücks. Erinnerungen an Liebe und Krieg in der Übersetzung von Lutz Kliche im Hanser Verlag, München und Wien. Die nach den nicaraguanischen Bibliografierrichtlinien vorgenommene Klassifizierung von Cardenals Buch lautet zum Beispiel schlicht: »1. CARDENAL MARTINEZ, ERNESTO- / AUTOBIOGRAFIAS«.
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nische Nation in ihrer Gesamtheit regiert zu haben, so sieht sie ihre Erinnerungen als repräsentativ für das ganze Volk, »para todos, sin distinciones políticas, religiosas, étnicas o de cualquier otra clase« (13), wie es im »Prólogo« des Buches heißt: »Quise una Nicaragua de todos y para todos. Una nación con ciudadanos capaces de convivir armoniosamente en medio de la diversidad de signos ideológicos. Siempre pedí que declinaran las ambiciones personales y los emblemas partidarios para dar lugar al azul y el blanco de nuestra Bandera Nacional.« (14) Auch die Entstehung des Textes wie die komplexen Beziehungen zwischen den daran Beteiligten und den Erzählinstanzen lassen Parallelen zur Testimonialliteratur erkennen.97 Allerdings sind in der Erzählstrategie die Unterschiede zu einem Großteil der Testimonialliteratur unübersehbar, die sich durch ihr Bemühen um Überschreitung der ethnischen, sozialen, kulturellen und politischen wie geschlechtspezifischen Beschränkungen auszeichnen, denen die subalternen Subjekte des testimonio unterworfen sind bzw. in deren Namen er spricht. Im Gegensatz dazu, so der nicaraguanische Journalist, Literaturkritiker und Autor Erick Aguirre in einer vergleichenden Studie einiger zentralamerikanischer testimonios, »el texto de Chamorro evidencia claramente un intento de apropiación del discurso literario como discurso de poder«; er sei nicht das Dokument einer einzigen Person, aber auch nicht einer Nation in ihrer Gesamtheit, sondern »el testimonio de un grupo social (la oligarquía conservadora y la burguesía opuestas al somocismo primero, y al sandinismo después)« (Aguirre, 2001c: o.S.). Diesem Diskurs der Macht entspreche die durchgehende Kontrolle des narrativen Diskurses durch die Protagonistin selbst, trotz der vielen an der Entstehung des Textes beteiligten Instanzen.98 Im Unterschied zum testimonio wird der Text selbst nicht 97
Im Paratext »Reconocimientos« heißt es: »Deseo expresar un agradecimiento especial a mi hija Cristina Chamorro, por haberme animado y orientado a contar mi historia; a Sonia Cruz de Baltodano, por generar y promover la idea de este libro; y a Reid Boates, mi agente literario, que me representó y me impulsó a seguir adelante en la redacción de esta obra durante cinco años. / También deseo dar las gracias a Guido Fernández y Sonia por ayudarme a expresar mis sentimientos en palabras. Guido elaboró un primer borrador manuscrito en castellano, que fue ampliado por Sonia, quien a su vez proporcionó el contexto histórico para el libro con la ayuda de Cristina. Luego Sonia redactó en inglés y lo repasó conmigo, con Cristina y Bob Bender, jefe de edición de Simon & Schuster.« (9) Die Originalausgabe des Buches erschien in englischer Sprache unter dem Titel Dreams of the Heart ebenfalls im Jahr 1997 (Simon & Schuster, New York). Die spanischsprachige Ausgabe wurde von Andrés Linares übersetzt. Sie trägt unter dem Namen der Autorin die Zeile: »con Sonia de Baltodano y Guido Fernández«
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Vgl. dazu ausfuhrlich Aguirre, der schreibt: »Las alteraciones, distorsiones o formas de control de su discurso sin duda fueron parte de un acuerdo inicial entre el enunciante (el periodista costarricense Guido Fernández) y el enunciado. Fueron plenamente aceptadas y forman parte del propósito discursivo del proyecto. Nostalgias y certidumbres, adhesiones y desprecios, temores y envalentonamientos políticos. Todo un torrente de subjetividad y pasión que no brota en realidad del enunciado como individuo, sino de un yo más profundo, un yo colectivo en el que el yo de la narración' evoca e invoca en nombre de su propio grupo social.« (Aguirre, 2001c: o.S.)
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zum Konfliktfeld, sondern bleibt den Intentionen der Protagonistin/Erzählerin/Autorin untergeordnet. Bereits Ende der achtziger Jahre hatte Chuno Blandón mit Cuartel general (1988)^ ein Buch vorgelegt, das mit Elementen des neuen historischen Romans, des testimonios, der Autobiografie und des sprachlichen Experimentierens, wie sie für viele Romane des booms kennzeichnend waren, arbeitet. Der Roman Blandóns stellt einen hybriden Text dar, der außergewöhnlich für die nicaraguanische Literatur zum Zeitpunkt seines Erscheinens Ende der achtziger Jahre war und dessen Bedeutung für den sich ab Ende der Dekade vollziehenden Paradigmenwandel in der nicaraguanischen Literatur bisher noch kaum beachtet wurde. Er schildert das ländliche Leben im Norden Nicaraguas zur Zeit Sandinos und seines Kampfes gegen die US-Besatzer Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre. Zahlreiche historische Personen vor allem der sandinoschen Guerilla, darunter der General selbst, sowie lokale liberale Politiker und US-Soldaten werden in Anspielungen erwähnt bzw. treten als handelnde Personen auf. Eigentliche Träger der Handlung sind jedoch unzählige (zum Teil authentische, zum Teil fiktive) Menschen aus dem einfachen Volk, darunter vor allem Mito (eine Romangestalt, die dem Vater des Autors nachempfunden ist), seine Ehefrau Chela, Cousine der Frau Sandinos, Bianca Arauz, und Pedro Antonio Arauz Pineda, Schwager und Telegraf Sandinos. Ihre Erzählungen (zum Teil in der ersten Person und in der direkten Rede) sowie die durchgehende Erzählung eines Erzählers in dritter Person stellen den Kern der polyfonen Struktur des Textes dar, denen sich weitere zahlreiche Stimmen anschließen. Dabei bedient sich der Autor zahlreicher Elemente der Testimonialliteratur: der Wiedergabe von Zeugnissen der an den Ereignissen Beteiligten (meist in der ersten Person und in der direkten Rede), der Erzählungen von lokalen, christlichen und magischen Gebräuchen und Gewohnheiten im Leben der Landbevölkerung (so zum Beispiel die zahlreichen religiösen Feste wie das Fest des Heiligen Erzengels Raphael, die Pilgerwanderung zur Jungfrau von Guadalupe auf dem Berg Duende in der Nähe von Jinotega).100 Zeugnischarakter hat insbesondere die Sprache des Romans selbst. Über weite Strecken basiert er auf der Integration der gesprochenen Sprache der nördlichen Landbevölkerung und ist so voller lexikalischer Besonderheiten sowohl in regionaler wie in sozialer Hinsicht, (vgl. dazu Rugama López, 2000: bes. 3f.) Gänzlich ohne Kommas geschrieben, werden 99
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Im Folgenden zitiert nach der 1989 bei Editorial Nueva Nicaragua erschienenen Ausgabe. Vgl. zu dem Roman auch die Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion« sowie »Fünfter Kreis: Raum und Text«. Dieser testimonio-ChmakteT des Buches wird belegt durch die Aussage des Autors, ein von Pedro Antonio Arauz, der (authentischen) Romangestalt, die Sandino am nächsten stand, verfasstes Dokument habe den Anlass zum Schreiben des Romans gebildet und seine Grundlage dargestellt, (vgl. Rugama Lopez, 2000: 3) Ohne Zweifel sind auch zahlreiche autobiografische Elemente in den Text eingeflossen (s.o.).
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im Text oft ohne erkennbaren Übergang unterschiedlichste Textsorten montiert, von der Erzählung in der dritten Person über Monologe und Dialoge, Briefe (in der fehlerhaften Orthografie ungebildeter Menschen wiedergegeben, die kaum dem Analphabetismus entronnen sind, vgl. 209f.), offizielle Bekanntmachungen, Fragmente von Gebeten und Liedern bis zu Versen und unzähligen Wortspielen (»Chele camote nariz de garrote [...] chele guatuza nariz de pupusa [...] «, 119) sowie onomatopoetischen Elementen (» [...] el bombo Efrain la caja para para parapa papachín popo chim pochim [...] «, 35; » [...] el poron pom pom [...] parará parará parará contra las latas [...] «, 122) und Sprichwörtern (» [...] cada oveja busca su oreja [...] «, 119). Durchgängig werden die wegen ihrer Brutalität als »machos« bezeichneten US-Soldaten sprachlich lächerlich gemacht und damit dekonstruiert: » [...] que estar loco por ella mi casarme y dejar guerra ir con usted a los Estados Unidos pero doña Ester vigilando cómo ser posible que usted tan linda casar con bandido [...] « (34). Schließlich wird an einigen Stellen bewusst die Syntax aufgebrochen (vgl. zum Beispiel bezeichnenderweise auf Seite 123, wo der Lehrer Chumaría den Lehrplan für die sechs Klassen der Primarschule entwirft). Weit entfernt von den Traditionen des Kostumbrismus entwirft Blandón ein Bild des ländlichen Nicaragua, das geprägt ist von Karnevalisierung und Ironisierung. Nicht von ungefähr konstituieren das Sexuelle, das Fäkale, der Totenkult, Freuden und Gebrechen des Körpers, wichtige Erzählstränge dieses Romans, der sich der tesi/mow'o-Elemente als Pastiche in parodischer Absicht bedient. Als fiktional-fiktive Textsorte montiert der guatemaltekisch-nicaraguanische Autor Franz Galich in Huracán corazón del cielo (1995) einen testimonio in die Erzählung.'01 Die siebziger und achtziger Jahre in Guatemala, das Erdbeben von 1976 und der Bürgerkrieg, sind der Hauptinhalt des Romans. Das vierte Kapitel (Diario de un kaibil) enthält die Aufzeichnungen eines fiktiven, gleichwohl von einem hohen Maß an Realismus bzw. historischer Wahrscheinlichkeit (was die beschriebenen Ereignisse wie Folter, Antiguerillaoperationen, Ausradierung ganzer Indiodörfer, Vergewaltigungen angeht) geprägten Tagebuchs eines Angehörigen der guatemaltekischen Spezialeinheit zur Guerillabekämpfung (die in der Quichésprache kaibil, das heißt »Tiger«, genannt werden). Wie Sergio Ramírez in Castigo divino (s.o.) erfindet Franz Galich diesen testimonio, liegt ihm nicht die Erzählung eines realen testimoni-
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Franz Galich kam 1981 aus politischen Gründen über Costa Rica nach Nicaragua. Während seine ersten beiden Erzählbände Ficcionario inédito (1978) und La princesa de Onix y otros relatos (1985) noch in Guatemala erschienen und sich wie sein erster, schon in Managua erschienener Roman Huracán corazón del cielo thematisch auf sein Geburtsland beziehen, ist der außerliterarische Bezugspunkt seiner in Nicaragua verstreut erschienenen Erzählungen und seines zweiten Romans, Managua Salsa City (2000), Nicaragua, (zu letzterem vgl. das Kapitel » F ü n f t e r Kreis: Raum und Text«, zu Huracán corazón del cielo auch das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«)
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ante zugrunde; im Gegensatz zu Ramírez geschieht dies jedoch nicht mit dem Ziel, die Unmöglichkeit historischer Erkenntnis generell in Frage zu stellen, sondern um die Verrohung durch ein unmenschliches Regime zu dekonstruieren: »Estas líneas no pretenden nada. Las escribo como testimonio de mi esfuerzo por demostrarle a todos los que me hicieron de menos, que yo puedo ser más que ellos«, heißt es in der Eintragung vom 15. Januar, »día del Señor de Esquipulas, / Comandante en Jefe de las Fuerzas Armadas« (89). Das fiktive Tagebuch endet schließlich mit der Beschreibung eines Massakers in einem Indiodorf, die aus einem dokumentarischen Text zu stammen scheint: »Entramos a la aldea a las 9 de la mañana. Parecía desierta. Sólo un chucho indio atravesó lo que era la calle principal. Ordené bloquear las entradas, a otros reconocerla y a otros proteger a los demás. [...] Entonces di la orden que buscaran en cada rancho y sacaran a todos a la calle y los reunieran frente a la iglesita. Sólo mujeres, niños y viejos habían. [...] Todo se hacía con la seriedad del caso, tal como nos enseñaron los gringos. Sabía que si alcanzaba el tiempo, vendría lo mero bueno. [...] Entonces mandé a traer a una joven mujer que estaba embarazada. La desnudamos y la amarramos en el suelo, en cruz. ¡Pásenle!' dije. Los hombres se empezaron a pelear por quién iba de primero. Momento -dije-, yo voy primeras ... ' Como la mujer no quería, le pegué sus talegazos. Ella se retorcía y peleaba con los dientes ... (Aquí se interrumpe el diario).« (103) Der testimonio, der noch in seiner karikierenden Verwendung an den subversiven Impetus der Testimonialliteratur erinnert, wird sozusagen zum Palimpsest der Guerilla- und Kriegstagebücher - geschrieben aus der Sicht der »anderen« Seite, der Schergen des Militärregimes. Die Prämissen des testimonio-Diskutses sind ad absurdum geführt. In ähnlicher Weise bedient sich María Lourdes Pallais in La carta (1996)'02 des testimonios, insbesondere in seiner Variante der (weiblichen) Gefangnistagebücher, als Hypotext. Das Buch erzählt die Geschichte der Liebe und des politischen Engagements Claudettes und Antonios in den bewaffneten Auseinandersetzungen in Lateinamerika. In einer Reihe von Briefen - eigentlich ein einziger, nie zu Ende geschriebener Brief - wendet sich Claudette von ihrer Zelle in einem Gefängnis des US-Bundestaates SouthCarolina (wo sie aus politischen Gründen einsitzt) aus an ihren (ehemaligen) Kampf- und Liebesgefährten. Tochter aus gutem Hause, die sich erst nach und nach und vor allem beeinflusst von ihrem Geliebten für die Sache der Guerilla engagiert, versucht sie in diesem Brief dem Sinn und der Berechtigung ihres
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María Lourdes Pallais, deren Vater Nicaraguaner ist, wurde in Lima (Peru) geboren, lebte zeitweise als Journalistin in Nicaragua, wo sie Gedichte in Tageszeitungen veröffentlichte. Der 1996 in Mexiko (Universidad Nacional Autónoma de México) erschienenen Ausgabe folgte 1999 eine nicaraguanische (Managua: Fondo Editorial CIRA); im Folgenden zitiere ich nach der mexikanischen Ausgabe. Vgl. zu dem Roman die Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«, » F ü n f t e r Kreis: Raum und Text« sowie »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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Kampfes und ihrer Liebe zu Antonio nachzuspüren, um aus der zeitlichen und räumlichen Distanz (ihr erster Brief datiert vom Dezember 1990) eine Bilanz ihres Lebens zu ziehen. Im Stil eines testimonios geschrieben, lässt der Roman nie Zweifel an seinem fiktionalen Charakter. Ausdrücklich wendet sie sich gegen jeden Anspruch auf historische Wahrhaftigkeit bzw. Legitimation: »No es que aquí vaya yo a despejar las dudas, aclarar las incógnitas, mucho menos justificar nada -ni un sólo detalle- de ese mi pasado que todavía me obnubila cada vez que parpadeo.« (49) Die Autorin nutzt die Form des testimonios gerade nicht zur symbolhaften Überhöhung des Kampfes Einzelner im Namen des subalternen Kollektivs - sei es »das Volk«, die »Klasse«, die »Armen«, die Minderheiten sondern zur Dekonstruktion dieses neuen Mythos von der Einheit von Individuum und Masse. Die Protagonistin ist nicht die synekdochische Inkarnation des um seine Befreiung kämpfenden Volkes, sondern ein - Niemand: »No es que por este medio pretenda yo explicarte los porqués y los cómo-es-posible de ese mi pasado que ya, dicho sea de paso, a nadie interesa, si yo soy Nadie. [...] Más bien, con esta carta pretendo que mi pasado se vuelva simplemente eso: mi pasado, que pase al rincón de los álbumes del recuerdo, que deje de entrometerse en el ahora, que sus fantasmas difusos ya no detengan el tic-tac de mi reloj interno, que sus sombras color ratón se desvanezcan poco a poco entre las líneas de esta carta.« (ibid.) Doch gerade indem sie darauf verzichtet und auf der individuellen-individualistischen Perspektive der Protagonistin beharrt - und ohne Bezug auf konkrete Ereignisse der jüngsten lateinamerikanischen Geschichte nehmend oder gar die Handlung präzise verortend gelingt der Autorin eine Allegorie der Lage des engagierten Intellektuellen im Lateinamerika der neunziger Jahre. Nicht von ungefähr bedient sich die Autorin über weite Strecken der Technik des inneren Monologs. In einem »Epílogo del editor« überschriebenen Paratext heißt es, dass Claudette am 26. Januar 1992 ertrunken sei - war es Selbstmord? - und ihr Lebensgefährte Peter Stevenson dem Herausgeber das Manuskript dieses Buches übergeben habe. Es werde mit geringfügigen stilistischen, aber ohne inhaltliche Korrekturen veröffentlicht - ein weiterer parodischer Verfremdungseffekt, der die Mechanismen der Testimonialliteratur aufgreift und gleichzeitig dekonstruiert. Der testimonio ist in den Dienst der Fiktion gestellt.
Testimonio am Ende, Zukunft des testimonios? Die neue, kritische Lektüre des nicaraguanischen testimonios, seit langem ein Desiderat, hat gezeigt, dass die im literarischen Diskurs der siebziger und achtziger Jahre erfolgte Kanonisierung der Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit der nicaraguanischen Testimonialliteratur nicht gerecht wird und dass sich am Ende der achtziger/zu Beginn der neunziger Jahre ein Paradigmenwandel vollzog, dessen Anfänge wir bereits in Sergio Ramírez' Roman
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Castigo divino (1988) und Chuno Blandóns Cuartel general (1988) gesehen haben, (s.o.) Es hat sich gezeigt, dass neue Fragen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen der außerliterarischen Wirklichkeit und den literarischen Welten, im Hinblick auf die Aneignung von Realität und ihre narrative Repräsentation und Präsentation aufgeworfen sind bzw. alte Fragen neue Antworten erfordern. Für die »Meisterdenker« des testimonios galt als ausgemacht (und gilt es zum Teil noch bis heute), dass die Testimonialliteratur sich durch eine Beziehung der Entsprechung bzw. Übereinstimmung zwischen erzählter Welt und außerliterarischer Wirklichkeit auszeichne, allenfalls durch eine Beziehung der Ähnlichkeit, wie wir sie in Anlehnung an die von Dill et al. (1994) herausgegebene Studie zum hispanoamerikanischen Roman im 19. und 20. Jahrhundert weiter oben als Beziehung der Korrespondenz bzw. mimetische Fiktion bezeichnet haben,103 wobei letztere vor allem für die novela testimonio als typisch angesehen wurde, die Beverley daher nur als »pseudo-testimonio(s)« gelten lassen wollte (Beverley, 1987b: 167; vgl. Zavala, 1990: 257). In der Tat trifft auch für die nicaraguanische Testimonialliteratur der achtziger und neunziger Jahre zu, dass sie dieses privilegierte Verhältnis aufrechterhält und die engen Bande zwischen faktischer Geschichte und erzählter Geschichte (histoire und récit im Genetteschen Sinne) nicht kappt. Allerdings hat sich gezeigt, dass sie die Aneignung von außerliterarischer Wirklichkeit und ihre narrative Repräsentation und Präsentation sowohl thematisch als auch im Hinblick auf die diskursive Strategie und das Verhältnis der Erzählinstanzen auf vielfaltige Art und Weise vollzieht, die den testimonio als offene, hybride Erzählform erscheinen lässt und auch in diesem Kontext den von Mario Roberto Morales benutzten Begriff des »dispositivo narrativo fronterizo«, der erzählerischen Grenzgattung, bestätigt, (s.o.) Zwar dominieren in thematischer Hinsicht die mit dem (bewaffneten) Kampf gegen die Militärregimes und die mit den Projekten der politischen, sozialen und nationalen Befreiung zusammenhängenden Fragen der Guerilla, zwar bestimmen die Diskurse vom »neuen Menschen«, der Theologie der Befreiung und des Klassenkampfs die Repräsentation der außerliterarischen zentralamerikanischen Wirklichkeiten in den narrativen Welten des testimonios auf dem Isthmus. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die nicaraguanische Testimonialliteratur keineswegs an diese Themen gebunden ist oder gar die Einbettung in ein revolutionäres Projekt unabdingbarer Bestandteil einer Definition des testimonios sein kann. Im Gegenteil hat es sich erwiesen, dass der Erzähler nicht länger »the synecdochic representative of the collective, the lower class, or an oppressed racial or ethnic group« sein will, wie es Greg Dawes noch 1993 (170) als typisch für den testimonio sah. Die symbiotische Verbindung Revolution-test/mo/z/o löst sich insbesondere in den neunziger
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Vgl. dazu das Kapitel »Bypass: Roman und Welt«.
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Jahren zunehmend auf. Die Literatur emanzipiert sich (wieder) von der Revolution. Eine Vielfalt von unterschiedlichen Formen und Graden der Fiktionalisierung kennzeichnet die narrative Repräsentation. Die Testimonialliteratur verharrt keineswegs in einem sklavischen Anhängigkeitsverhältnis der Korrespondenz zu außerliterarischen Realitäten, die Texte bedienen sich gleichermaßen der mimetischen, nicht mimetischen und selbst antimimetischen Fiktion, letzterer in verstärktem Maße ebenfalls ab den neunziger Jahren. Dem entspricht in der narrativen Präsentation eine Fülle verschiedener Erzähltechniken und -perspektiven, die alle dogmatischen Festlegungs- und Einengungsbzw. Ausgrenzungsversuche á la Beverley u.a. endgültig obsolet werden ließen. (vgl. Beverley, 1989: 12f., und oben, Fußnote 10) Die Testimonialliteratur kennzeichnet in ihren vielgestaltigen Ausprägungen eine unterschiedliche Nähe bzw. Distanz zu anderen Gattungen und Subgattungen, wie der Autobiografie, der Biografíe, dem Epos, der Dokumentation, dem journalistischen Bericht, dem Roman u.a. Wie sie sich Elemente anderer Gattungen und Subgattungen einverleibt, so schreiben sich Elemente des testimonios ihrerseits in andere Gattungen und Subgattungen ein, insbesondere in den Roman. Schließlich ist das Verhältnis der narrativen Instanzen Erzähler/testimoniante und Autor/Herausgeber weit von der im dogmatischen Diskurs beschworenen Harmonie, sei es als bewusste Unterordnung des Intellektuellen unter den Subalternen, sei es als deren symbiotische Verschmelzung, entfernt. Die Beziehung der beiden ist höchst konflikthaft, das Terrain, auf dem die Konflikte ausgetragen werden, ist der Text selbst. Die behauptete authentische Rekonstruktion des »Anderen«, des Subalternen wird im Gegenteil zu einer Konstruktion, die von den Interessen, Ideologien und dem Zugang zum literarisch-politischen Feld überdeterminiert sind, das traditionell von den Angehörigen der literarisch gebildeten Mittelschicht dominiert wird. Mutatis mutandis - das heißt für das Verhältnis Autor-testimoniante bzw. »letrado«-»subalterno« - trifft auf einen Großteil der Testimonialliteratur zu, was Linda Craft zum literarischen Indigenismus des frühen zwanzigsten Jahrhunderts schrieb: » [...] writers [...] interpret their referent, the indigenous world, with a nonnative system of signs and language (Spanish) and nonnative literary forms (the novel) to nonnative readers [...] The text not only describes cultural and political conflict, it is itself the site of conflict.« (Craft, 1997: 35) Was den Diskurs über den testimonio angeht, hat sich sogar gezeigt, dass diesem Verhältnis Autor-testimoniante ein Verhältnis Erste Welt/Intellektuelle/ Theorie/íesf//wo/íí'oDiskurs - Dritte Welt/Subalterne/Praxis/tesri/nowi'o entspricht. Über weite Strecken fand (und findet) der Diskurs auf einem Kampffeld außerhalb Zentralamerikas/Nicaraguas statt, das von den akademischen und politischen Interessen der Intelligenz in der »Ersten Welt«, insbesondere
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in den USA, bestimmt war (und ist). »The desire called testimonio was the desire called Third World literature«, schreibt Georg M. Gugelberger in der Einleitung zu der von ihm herausgegebenen Anthologie mit Aufsätzen zum Thema über die Versuche, den testimonio im literaturwissenschaftlichen Kanon der US-Universitäten zu etablieren, und hebt das Paradoxe dieses Ansinnens hervor, waren es doch gerade diese Erste Welt-Akademiker, die auf seiner antikanonischen Subversivität beharrten (und beharren): »We wanted to have it both ways: from within the system we dreamed about being outside with the 'subaltern'; our words were to reflect the struggles of the oppressed. But you cannot be inside and outside at the same time.« (Gugelberger, 1996: 1, 2, vgl. 3-9; vgl. Craft, 1997: 2f., 28) Der testimonio und der Diskurs über ihn fallen auseinander. Noch in einem weiteren Sinne wird die Testimonialliteratur zum Konfliktfeld zwischen Peripherie und Zentrum, der von Mario Roberto Morales geprägte Begriff des »dispositivo narrativo fronterizo« gewinnt eine zusätzliche Dimension. Kann vor diesem Hintergrund überhaupt noch sinnvoll vom testimonio als eigener Form, Gattung oder Subgattung gesprochen werden? Zweifellos haben sich, was unsere Analyse der nicaraguanischen Testimonialliteratur der achtziger und neunziger Jahre betrifft, die Versuche als unhaltbar erwiesen, den testimonio als »post-bürgerliche« (Anti-)Gattung zu etablieren, die den (bürgerlichen) Roman hinter sich lasse, indem sie das Verhältnis von außerliterarischer Wirklichkeit und Romanwelten revolutioniere, wie sie bereits von Barnet unternommen und u.a. von Beverley fortgesetzt wurden, (vgl. dazu weiter oben in diesem Kapitel)104 Arturo Arias hat auf die Schwierigkeit einer fundamentalen Unterscheidung zwischen dem Roman und dem testimonio hingewiesen: »Para el testimonio actual, como para la novela decimonónica o la novela realista de principios del siglo veinte, no hay distinción epistemológica entre el hecho narrado y el documento científico, entre la ciencia y el arte, entre la proyección ideal de la nación y la realidad de los proyectos integracionistas.« (Arias, 1998a: 17, vgl. 212f. 214, 217; vgl. Sommer, 1991: 7) In den neunziger Jahren allerdings setze sich diese Unterscheidung, wie sie für die Literatur allgemein gelte, auch im zentralamerikanischen testimonio 104
Fleischmann kritisierte bereits diese barnetsche Argumentation und warf ihm einen literarischen Konservativismus vor, rekurriere sein Konzept des testimonios doch auf ein RealismusVerständnis, wie es typisch für die Romane im Europa des neunzehnten Jahrhunderts sei: nämlich ein Verhältnis der Korrespondenz bzw. der mimetischen Abbildung von außerliterarischer Wirklichkeit in der Literatur. Die Heterogenität der zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur werde so missachtet, die epische Funktion der Literatur affirmiert. (vgl. Fleischmann, 1991: 57)
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durch. Wenn auch eine eindeutige Definition kaum möglich ist, was sich aus dem hybriden Charakter des testimonios selbst ergibt, so scheint mir eine Abgrenzung gegenüber dem Roman dennoch unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses der narrativen Instanzen sinnvoll: Der Erzähler im testimonio ist oder rekurriert auf eine authentische, reale Person bzw. wird als solche konstruiert (im Extremfall, wie bei den Romanen, die testimonio-Elemente verwenden, rein fiktiv-fiktional). Daraus bezieht der testimonio seinen besonderen Realitätseffekt beim Leser. Gerade das prädestiniert den testimonio als eine Schreibform und -praxis, in der die in den offiziellen historischen Erzählungen »vergessenen« Stimmen sich äußern können, ohne dass sie damit ideologisch-politisch eindeutig festgelegt wäre. Vom testimonio als von einer besonderen Gattung bzw. Subgattung zu sprechen schließt also die beiden folgenden Aspekte ein: Die Abhängigkeitsverhältnisse der narrativen Instanzen im testimonio basieren auf einer Reihe Erzähler - Autor - Text - Leser bzw. (realer) Erzähler - Autor - Text - Erzähler' - Leser (im Gegensatz zum klassischen Schema Autor - Text/Erzähler - Leser). Gefordert ist darüber hinaus ein historischer Begriff, der die Funktion des testimonios im literarisch-politischen Feld in den Blick bekommt und seine sich wandelnden Beziehungen zu anderen Gattungen und Subgattungen, insbesondere dem Roman, einschließt, (vgl. dazu Craft, 1997: 22, 188-191) In diesem Sinne kann auch für den testimonio eine ähnlich oszillierende Beziehung zwischen Fiktion und Diktion geltend gemacht werden, wie sie Ottmar Ette in Anlehnung an Gérard Genettes schon klassische Unterscheidung in seiner Auseinandersetzung mit Roland Barthes und für den Reisebericht reklamiert. Die hier dargelegten Charakteristika des testimonios rücken diesen in die Nähe einer Textproduktion und rezeption, die Ette als friktionale Literatur bezeichnet - allerdings, wie ich gezeigt habe, in der Testimonialliteratur mit einem deutlichen Überwiegen der fiktionalen Elemente (wobei deren Gewicht bei den verschiedenen Hybridund Unterformen des testimonios durchaus verschieden ist und auch abhängig von den jeweiligen historischen Produktions- und insbesondere Rezeptionsbedingungen unterschiedlich bewertet wird).105 Eine Konsequenz aus dem Dargelegten ist, noch in einem weiteren Sinne als oben dargelegt (vgl. Fußnote 12) von Testimonial//tera/wr zu sprechen, das
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Ette definiert seinen Begriff der friktionalen Literatur folgendermaßen: »Zwischen den Polen von Fiktion und Diktion führt der Reisebericht [...] zu einer Friktion, insoweit klare Grenzziehungen ebenso vermieden werden wie Versuche, stabile Amalgame und Mischformen herzustellen. Im Gegensatz zum Roman bildet der Reisebericht eine Hybridform nicht nur bezüglich der aufgenommenen Gattungen und seiner Redevielfalt, sondern auch hinsichtlich seiner Eigenschaft, sich dem Gegensatz zwischen Fiktion und Diktion zu entziehen. Der Reisebericht schleift die Grenzen zwischen beiden Bereichen ab: Er ist einem literarischen Gebiet zuzuordnen, das wir als friktionale Literatur bezeichnen dürfen.« (Ette, 2001: 48; zu Roland Barthes vgl. Ette, 1998: bes. 312; allgemein: Genette, 1992: bes. 31 f.)
Erster
Kreis:
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heißt, dass die Untersuchung des testimonios mit literaturwissenschaftlichen und literarhistorischen Mitteln operieren muss. Daraus folgt, dass der testimonio als Bestandteil in das literarische Korpus aufzunehmen ist, sozusagen sein Bürgerrecht innerhalb des Diskurses über die nicaraguanische Literatur erhält, der traditionell von einer Missachtung des testimonios bzw. von seiner Bewertung als einer Gattung »zweiten Ranges« geprägt war.106 Für Nicaragua gilt in besonderer Weise, dass der testimonio seit den siebziger Jahren eine bedeutende literarische (Sub-)Gattung darstellt, wie Magda Zavala für Zentralamerika insgesamt argumentierte (vgl. Zavala, 1990: 295f., 379ff.), ohne deren Studium eine ernsthafte wissenschaftliche Untersuchung der Literatur dieser Epoche undenkbar ist. Eine weitere Konsequenz besteht darin, die Vermischung von (positivistisch verstandener) Historiografie und Literatur endgültig aufzugeben, (vgl. dazu auch Arias, 1998a: 212, 215, 217)107 Der Kanonisierung des testimonios in den siebziger und achtziger Jahren ist einer »neuen Unübersichtlichkeit« gewichen, wie sie sich in den vielfältigen und heterogenen Tendenzen innerhalb derTestimonialliteratur selbst gezeigt hat. Mit den postrevolutionären testimonios, der Verwendung von testimonio-Elementen in neueren fiktionalen Texten und in den autobiografischen, dokumentarischen, gleichwohl explizit literarischen Erinnerungen hat sich definitiv ein Paradigmenwandel vollzogen. Kennzeichen dieser jüngsten Testimonialliteratur ist, dass sie den Glauben an die »eine« historische Wahrheit (ähnlich wie die nueva novela histórica) verloren, die Behauptung von Repräsentativität im Namen der Subalternen aufgegeben und den Anspruch auf Literarität zurückgewonnen hat. Individualisierung, Fragmentierung, Relativierung und Fiktionalisierung kennzeichnen die Mehrzahl dieser Texte. Der testimonio hat damit auch seine Funktion bei der Konstruktion nationaler Identität, seine Rolle als privilegierter Ort der
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Noch in der fünften Ausgabe von Jorge Eduardo Arellanos Panorama de la literatura nicaragüense (1986: 106) heißt es zum testimonio: »Heterogénea en su temática [...] ha sido considerado por los narradores nicaragüenses como lo que es: un género secundario, aunque para algunos haya significado más que un ejercicio literario.« (vgl. Delgado, 1999: 29, 30) Als Beispiele fuhrt er u.a. Manolo Cuadra, Itinerario de Little Corn ¡stand (1937) und Emilio Quintana, Bananos (1942) an, die testimonios der siebziger und beginnenden achtziger Jahre werden nicht einmal erwähnt. Literatura nicaragüense (1997) von Arellano enthält zwar ein eigenes kurzes Unterkapitel »Los testimonios de Cabezas y Baltodano« (137), der testimonio wird jedoch nach wie vor aus dem eigentlichen literarischen Kanon ausgeschlossen: »En la primera mitad de los años 80 - l a década de la revolución sandinista- el género novelístico se confundió con el del testimonio, surgido paralelamente al proceso político como la forma discursiva por antonomasia. [...]/ Al año siguiente, cuando ya se había publicado varios testimonios que no corresponde reseñar aquí [...] « (137) Zu diesem Aspekt, insbesondere zu den neueren Diskussionen in der Historie als Wissenschaft und ihren Wechselwirkungen mit dem (historischen) Roman vgl. ausführlich das Kapitel » Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«.
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Erster Kreis: Revolution und Literatur
nationalen Meistererzählungen verloren.108 Ende oder Zukunft des testimonio? Für Beverley und Zimmerman schien bereits Ende der achtziger Jahre ausgemacht, dass die Integration ins literarische Feld dem testimonio seine innovative, revolutionäre Funktion (und damit in ihrem Sinne seine Wesensbestimmung) nehmen werde, (vgl. Beverley, 1987b: 167; Beverley/Zimmerman, 1990: 188; vgl. Zavala, 1990: 257f.) Gugelberger hielt es sogar für notwendig zu zeigen, »how this movement from an authentic margin has been betrayed by inclusion in the Western canon, which can be considered as yet another form of colonization« (Gugelberger, 1996: 13, vgl. 17), um sich - an den Prämissen des testimonio-Diksurses festhaltend - auf die Suche nach der neuen »revolutionären« Form zu machen und »(to) find other developments that now have the potential the testimonio had years ago« (ibid.: 14). Linda Craft schließlich sieht in der Bewahrung des ursprünglichen antirepressiven (und nicht bzw. antiliterarischen) Impulses, mit dem die von neuen revolutionären Regimes Unterdrückten »continue to write testimony protesting the injustices of the new regimes [...] still a place for testimony« (Craft, 1997: 191f.). Mir scheint es genau umgekehrt zu sein: Wenn etwas von der subversiven Energie des testimonios weiterleben kann, dann durch seine Fiktionalisierung, seine widerspenstige Einbeziehung in das weite Feld des Romans bzw. der literarischen Fiktion.
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Vgl. dazu das Kapitel »Ausfahrt: Literarischer Nationalismus und neue Unübersichtlichkeit«.
Zweiter Kreis Magie und Realität » [...] los indios de Acahualinca resucitando en los mestizos de la
Ciudad-Catedral«
Orlando Núñez Soto, Sábado de gloria »En la iglesia quedó la presencia de los dioses antiguos. [...] Lo más importante es no perder los ritos, con eso se confortan los dioses nuevos y los dioses viejos, la imagen de uno y el culto profundo de otro.« Carlos Alemán Ocampo, Vida y amores de Alonso Palomino »—¿ Cómo hace ese hombre para transformarse en mona?, preguntó el internacionalista buscando cómo comprender lo que acababa de escuchar. -Yo no sé, esos son asuntos del diablo.«
Milagros Palma, El pacto
Magie des Wirklichen, Wirklichkeit des Magischen »Después de todo, lo indígena lo llevamos en la sangre«, erklärt die Krankenschwester Flor in Gioconda Bellis Roman La mujer habitada der Protagonistin Lavinia, als der unbewusst entfahrt, man müsse kämpfen wie Yarince. Und als die Architektin aus einer der wohlhabenden Familien Nicaraguas, die sich heimlich in der nationalen Befreiungsfront engagiert, die Frage verneint, ob sie von der Eroberung durch die Spanier gelesen habe, fahrt Flor fort: »Hay un Yarince indígena, cacique de los Boacos y Caribes, que luchó más de quince años contra los españoles. [...] Por cierto que, aunque no se sabe si es leyenda o realidad, Yarince tuvo una mujer que peleó con él. [...] Deberías leer sobre eso. Tal vez lo oíste en alguna parte y se te quedó grabado el nombre. Eso pasa a veces. Hay un término médico, incluso 'paramnesia' ... lo que se guarda inconscientemente; como cuando llegás a un lugar y te parece haber estado allí antes ... «(205)' Das könne sein, erwidert Lavinia: »no sabés las cosas que me pasan; las cosas que se me ocurren ... No les doy importancia pero ahora que lo decís, siempre tienen relación con los indios ... con arcos y flechas, cosas así ... Es extraño, ¿verdad? [...] / Puede ser que mi abuelo me hablara de eso cuando niña ... « (205) Eine Szene wie aus einem Lehrbuch für »magischen Realismus« oder das »wunderbare Wirkliche«: Wie der Orangenbaum im Garten Lavinias von der India Itzá, der Frau Yarinces, bewohnt wird, die ihn mit
Hier und im Folgenden zitiert nach der vierten, 1989 in der Editorial Vanguardia (Managua) erschienenen Ausgabe, die Erstausgabe wurde 1988 im gleichen Verlag publiziert. Eine deutsche (von Lutz Kliche besorgte) Übersetzung erschien ebenfalls 1988 unter dem Titel Bewohnte Frau im Peter Hammer Verlag (Wuppertal).
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Zweiter Kreis: Magie und Realität
magischen Kräfte versieht (»Ha vuelto a nacer, habitado con sangre de mujer«, 10), so spricht Itzá aus dem Baum zu Lavinia, geht ihr Geist in den Körper Lavinias über und verleiht ihm magische Kräfte für den Kampf um die Befreiung der Nation - die bewohnte Frau als symbolische Vorwegnahme der befreiten Nation. Realität und Legende, mündliche und schriftliche Überlieferung, Zauberkraft und Widerstandsgeist vermischen sich im Mythos vom Weiterleben der indianischen Traditionen im politischen und militärischen Kampf zur Sinn- und Identitätsstiftung der nationalen Befreiungsbewegung. Wie keine andere Bezeichnung haben die beiden Oxymora realismo mágico und lo real maravilloso in den letzten Jahrzehnten die Studien zur hispanoamerikanischen Literatur, insbesondere die zur nueva novela hispanoamericana, geprägt, wenn nicht sogar bestimmt. Noch 1992 bezeichnete Dieter Janik den Begriff des Magischen als Kategorie, die geeignet sei, »die Eigenart des hispanoamerikanischen Romans, zumindest einer bedeutenden Gruppe von Werken, in einer tieferen Dimension zu begründen, nämlich im Ausdruck einer spezifischen Auffassungsweise der Wirklichkeit überhaupt« (Janik, 1992: 145). Die Bezeichnung realismo mágico sei »im Laufe der Jahre zu einem etablierten kritischen Begriff« geworden, »noch dazu einer Kategorie, in der die spezifische Amerikanität der hispanoamerikanischen Literatur, zumindest einer Zahl herausragender Werke der letzten 20 Jahre, eingefangen schien« (ibid.: 152). Auch für Zentralamerika spricht Magda Zavala von der »existencia de un grupo de obras que en el área centroamericana, se instalan en esta corriente de una manera muy particular, a través del mito indígena autóctono«, sie erforderten eine spezifische Untersuchung (Zavala, 1990: 202). Aus der breiten und oft widersprüchlichen Rezeption und Verwendung der beiden Bezeichnungen für »casi todos los aspectos de la literatura hispanoamericana« schlussfolgert Karsten Garscha »la poca funcionalidad de la aplicación de esta denominación« (Garscha, 1994: 262). Zu einem ähnlichen Urteil war auch Irlemar Chiampi bereits 1983 in ihrer Arbeit El realismo maravilloso gekommen, in der sie von einem Prozess »de vaciamiento conceptual que el realismo mágico sufrió en la aplicación a la producción literaria hispanoamericana« (Chiampi, 1983: 24, vgl. 31) sprach.2 Michael Scheffel kritisert Janiks Rede vom »etablierten Begriff« und kommt zu dem Schluss, weiterhin bleibe »eine theoretisch fundierte, nachvollziehbare Begründung des Begriffes in der hispanoamerikanischen Literaturwissenschaft ein Desiderat«
2
Noch 1976 hatte Janik in seiner Studie Magische Wirklichkeitsauffassung im hispanoamerikanischen Roman des 20. Jahrhunderts auf die »immer häufigere Verwendung dieser Kategorie [magischer Realismus; W.M.] in immer neuen Zusammenhängen«, auf »ein Verblassen ihres spezifischen Gehalts« und eine »vielfältige und oft undifferenzierte Verwendung des Begriffs« hingewiesen (Janik, 1976: 17), Marina Gálvez sprach ähnlich vorsichtig davon, dass »su aplicación sin duda fue algo arbitraria en muchos casos« (Gálvez, 1987: 150).
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(Scheffel, 1990: 47). Zu keiner Zeit sei geklärt worden, so die Bilanz seiner Rekonstruktion der Geschichte des Begriffs, ob es sich um eine Kategorie handele, die sich auf den Stil, das Genre oder die Gattung beziehe (vgl. ibid.: 50, 1, 4f.): »Aus allen Kontexten der Rede von einem 'magischen Realismus' in Form des größten gemeinsamen Nenners seiner Verwendung rekonstruiert, erweist sich der Begriff somit nicht als inhaltsleer, aber doch als inoperabel.« (ibid.: 58) Ihre vielfaltige und widersprüchliche Verwendung für die unterschiedlichsten Epochen, Autoren, Textsorten, Stilarten und Gattungen allein in der Literaturgeschichte (ganz zu schweigen von anderen Kunstarten), zu der auch einige ihrer als solche bezeichneten Hauptvertreter in der hispanoamerikanischen Literatur beigetragen haben (allen voran Alejo Carpentier und Miguel Angel Asturias, die sich auch theoretisch dazu äußerten), hat in der Tat dazu geführt, dass die Doppelbezeichnung realismo mägico/lo real maravilloso als wissenschaftlicher Begriff nicht taugt.3
In neueren Ansätzen wurde versucht, dem Begriff des »magischen Realismus« eine wissenschaftliche Fundierung zu geben. Michael Scheffel verwendet den Begriff ausschließlich zur Definition eines Erzählstils in der deutschen Literatur von den zwanziger bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, der neben der »geschlossenene Erzählform« folgende Merkmale aufweise: »homogen«, »im Ansatz realistisch«, »stabil«, »innerhalb des realistischen Systems durchgehend gebrochen« (Scheffel, 1990: 111), indem ein Geheimnis in die erzählte Welt integriert sei. Dies werde durch folgende inhaltliche und formale Mittel erreicht: unpräzise Rahmenangaben, Sachschärfe und Verzicht auf perspektivische Fokussierung, »Motive des Morbiden, des atmosphärischen Drucks und einer besonderen Bewußtseinshelle der Figuren«, Tendenz zum Statischen, zur Miniatur und zur Idylle, schließlich die »Behauptung des großen umfassenden Einklangs, des 'hohen Sinns' [...] alles Seienden« (ibid.). Ihm seien u.a. die Autoren Hermann Kasack, Ernst Kreuder, Friedo Lampe, Horst Lange, Elisabeth Langgässer, Martin Raschke, Martha Saalfeld und mit Einschränkungen Ernst Jünger und Wilhelm Lehmann zuzurechnen, (vgl. ibid.: 83, 84f., 112f.) Seymour Mentón kritisiert die unterschiedslose Verwendung der Bezeichnung für die gesamte lateinamerikanische Literatur seit der Conquista (vgl. Mentón, 1998: 163, 162), analysiert die Widersprüche und Ungenauigkeiten in Carpentiers Diskurs vom »wunderbaren Wirklichen« (vgl. ibid.: 162-170), subsumiert gleichwohl Miguel Angel Asturias auch unter die Bezeichnung des real maravilloso, obwohl er die Unterschiede zwischen beiden betont (vgl. ibid.: 170-173). Mentón kehrt wieder nach Europa, der Wiege des Begriffes »magischer Realismus«, zurück und versucht ausgehend von einer Definition der Charaktereigenschaften der (insbesondere deutschen) Malerei der zwanziger Jahre den Stil des magischen Realismus in der darstellenden Kunst und der Literatur zu bestimmen, um von da aus wieder in andere Weltgegenden auszuschweifen und die internationale Gültigkeit des Begriffs zu behaupten. Für Mentón ist er »una sola tendencia artística con límites cronológicos específicos, que tiene sus orígenes en la pintura alemana postexpresionista a partir de 1918, pero que ha alcanzado mayor fama internacional a través de la narrativa de Jorge Luis Borges y de Gabriel García Márquez« (ibid.: 12): »El realismo mágico es la visión de la realidad diaria de un modo objetivo, estático y ultrapreciso, a veces estereoscópico, con la introducción poco enfática de algún elemento inesperado o improbable que crea un efecto raro o extraño que deja desconcertado, aturdido o asombrado al observador en el
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Dennoch wurden in den unzähligen zu diesen beiden Bezeichnungen und ihrer Bedeutung in der hispanoamerikanischen Literatur veröffentlichten kritischen und wissenschaftlichen Arbeiten eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die i m Zusammenhang der Themenstellung der vorliegenden Arbeit, das heißt der Aneignung von außerliterarischer Wirklichkeit und ihrer narrativen Repräsentation und Präsentation i m zeitgenössischen nicaraguanischen Roman, relevant sind. 4 D i e Doppelbezeichnung realismo mágico/lo real maravilloso wurde in der lateinamerikanischen Literaturkritik, später auch Literaturwissenschaft, zunächst als polemischer Begriff g e g e n den Realismus-Naturalismus des 19. Jahrhunderts, den Ästhetizismus Rubén Darios und den Realismus-Regionalismus der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts
museo o al lector en su butaca.« (ibid.: 20, vgl. 30, 36, 37) Auf der Basis der 22 Charakteristiken von Franz Roh bzw. der fünf Grundzüge von Wieland Schmied entwickelt Mentón sieben Eigenschaften des magischen Realismus: »enfoque ultrapreciso«, »objetividad«, »frigidez«, »primer plano y fondo, visión simultánea de lo cercano y lo lejano. Centrípeto«, »eliminación del proceso de pintar: capa lisa y delgada de color«, »miniaturista, primitivista«, »representación de la realidad« (ibid.: 20-30). Er sei »como uno de esos estilos fáciles de identificar y presentes en distintas formas de las artes dentro de un periodo histórico con más o menos ciertos límites, tales como el barroco, el romanticismo, el realismo y el surrealismo« (ibid.: 20f.), und gleichzeitig auf eine relativ kurze zeitliche Epoche begrenzt: »el realismo mágico es una tendencia artística que empezó en 1918 como reflejo directo de una serie de factores históricos y artísticos, que se ha mantenido vigente, en distintos grados de intensidad, hasta nuestros días« (ibid.: 36). Mentons Begriff fuhrt ihn dazu, Werke so unterschiedlicher Autoren als magischen Realismus zu bezeichnen wie Emst Jünger, Virginia Woolf, Joseph Roth, Jorge Luis Borges, Thomas Mann, William Carlos Williams, Jorge Guillen, Francis Ponge, Nathalie Sarraute, Alain Robbe-Grillet, Franz Kafka, Bertolt Brecht, Gabriel Garcia Márquez, Horacio Quiroga, Julio Garmendia, Günter Eich, Günter Grass (vgl. ibid.: 21-28). Kritisch grenzt sich Mentón von einem weiteren Beispiel der zu weiten Verwendung des Begriffs in dem von Lois Parkinson Zamora und Wendy B. Faris (1995) herausgegebenen Sammelband ab, in dem Äquivalenzen zwischen dem magischen Realismus und der Postmoderne bzw. dem Postkolonialismus hergestellt werden, (vgl. Mentón, 1998: 11) Sowohl der eingrenzende Definitionsversuch Scheffels als auch der gleichermaßen eingrenzende wie ausweitende Ansatz Mentons entziehen sich explizit dem Diskurs über die Rolle des Magischen und des Mythos in der zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur, sind also im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit nur von geringer Bedeutung. Die Tatsache, dass beide Autoren die Bezeichnung für so unterschiedliche Phänomene (Scheffel: ein Erzählstil in einer begrenzten Phase der deutschen Literatur, Mentón: eine internationale Stilrichtung in der Literatur und der Malerei ähnlich wie das Barock, die Romantik usw.) verwenden, könnte durchaus als definitives Urteil über ihre wissenschaftliche Unbrauchbarkeit angesehen werden. Jedenfalls dürfte die Hoffnung, die Mentón am Ende seines Buches formuliert, ein frommer Wunsch bleiben: »que [...] acaba con todos los debates teóricos y permita a los críticos y a los lectores analizar y apreciar el arte de las obras individuales« (ibid.: 208). Inzwischen ist eine unübersichtliche Zahl von kritischen und wissenschaftlichen Arbeiten zu diesen beiden Begriffen erschienen, auf die im Rahmen der vorliegenden Studie nicht detailliert eingegangen werden kann, darunter auch einige von Autoren, die Verfasser von mit den beiden Begriffen charakterisierten Werken sind. Zu den wichtigsten Veröffentlichungen zählen: Uslar Pietri, 1948; Carpentier, 1949; Flores, 1955; Alegría, 1960; Leal, 1967; Rodríguez Monegal, 1971; Yates, 1975; Anderson Imbert, 1976; Márquez Rodríguez, 1982; Chiampi, 1983; Mentón, 1985; Scheffel, 1990; Parkinson Zamora/Faris, 1995; Mentón, 1998.
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im Kontext der nueva novela hispanoamericana in Stellung gebracht, (vgl. Chiampi, 1983: 21-23; Rössner, 1988: 204)5 Von heute aus mutet die spiegelbildliche Ähnlichkeit mit dem literarischen Diskurs der siebziger und achtziger Jahre frappierend an, in dem dann der testimonio zur Kampfansage gegen den angeblichen Realitätsverlust der Romane des booms funktionalisiert wurde.6 Wie der testimonio-D\s)aiTs beanspruchte die Rede vom »magischen Realismus« bzw. »wunderbaren Wirklichen« eine höhere Form von Realismus und Authentizität: »superar los procedimientos del realismo decimonónico, dotando a las narraciones de otra dimensión capaz de hacerlas portadoras de una visión más honda y auténtica de la realidad« (Gálvez, 1987: 149). Auch sie beschwor die Repräsentation einer Dimension der Alterität, die von den bisherigen literarischen Werken nicht erfasst werde, allerdings nicht verstanden als das sozial, ethnisch, politisch usw. Andere, das dem Vergessen entrissen werden müsse, sondern als das »Andere« hinter, unter bzw. in der logisch erklärbaren Realität: »Viene a ser, en consecuencia, una superación del realismo, sin negarlo, añadiendo otra dimensión (la mágica, maravillosa o misteriosa) que capte metafóricamente elementos de la 'otra' realidad que el realismo dejaba ausente. En consecuencia, es una suerte de realismo pero con distintos procedimientos narrativos que cooperan eficazmente a dotar de una dimensión trascendente o irreal a una narración de hechos cotidianos o triviales.« (ibid.: 150) Beginnend mit dem berühmten Aufsatz von Paul Angel Flores »Magical Realism in Spanish-American Fiction« (1955), erstmals 1954 auf dem Kongress der Modern Language Association in New York vorgetragen, wurden realismo mágico, lo real maravilloso und die vor allem in den Ländern der La PlataRegion gedeihende fantastische Literatur von einem Großteil der Kritiker als ein Phänomen gesehen, das eine Tradition des »Übernatürlichen« in der lateinamerikanischen Literatur, von dem »Magischen« und »Fantastischen« der prä5
6
In den in Fußnote 4 erwähnten Studien wird ausführlich die praktisch gleichzeitige Entstehung und Verwendung des Begriffs in Deutschland und Italien in den zwanziger Jahren dargestellt (insbesondere in den Schriften Franz Rohs und Massimo Bontempellis). Garscha weist darauf hin, dass Rohs Studie Nach-Expressionismus, magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei (1925) in Teilübersetzung schon 1927 in der von Ortega y Gasset herausgegebenen Revista de Occidente erschien (unter dem Titel »Realismo mägico, postexpresionismo. Problemas de la pintura europea mäs reciente«; vgl. Garscha, 1994: 262; Menton, 1998: 209, 214f.). In der Tat ist die gesamte Begriffsgeschichte auch eine Geschichte der besonderen Beziehungen zwischen Europa und Amerika bzw. der lateinamerikanischen Intellektuellen zur europäischen Kultur. Nicht von ungefähr entwickeln Asturias und Carpentier ihre diesbezüglichen Auffassungen nach ihrer Begegnung mit dem Surrealismus in Frankreich. Zu dieser wechselseitigen Beinflussung vgl. bes. Chiampi, 1983: 21-46; Scheffel, 1990: 4149; Menton, 1998: 209-233 (eine sehr nützliche kommentierte Chronologie des Begriffs realismo mägico von 1922 bis 1995). Vgl. dazu das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«.
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kolumbischen Kulturen über die »magischen« Elemente der Chroniken bis zum modernistischen Exotismus und schließlich zur nueva novela hispanoamericana, fortsetze, (vgl. Chiampi, 1983: 26; Gálvez, 1987: 146) Für sie umschloss die fantastische Literatur als übergeordnete Kategorie die beiden Phänomene, wie Marina Gálvez 1987 schrieb (»la literatura fantástica que las engloba a las dos«; 149, vgl. 144-157), und damit unterschiedslos auch so unterschiedliche Schriftsteller wie Juan Rulfo, Juan Carlos Onetti, Ernesto Sábato, Jorge Luis Borges, Julio Cortázar und Gabriel García Márquez, um nur einige der wichtigsten zeitgenössischen Autoren zu nennen, (vgl. Chiampi, 1983: 26f.)7 Noch 1995 sah Rössner im » Magischen Realismus' bzw. dem 'Wunderbar Wirklichen Amerika', wie es der Kubaner Carpentier nannte, und der am La Plata blühenden Phantastischen Literatur'« gar eine neue Schreibweise, in der »die gedankliche und formale Lektion der europäischen Avantgarde« umgesetzt werde, die »mit europäischen Tendenzen immer noch in einer sehr starken Wechselwirkung« stehe, aber »der eigenen Identitätsdebatte eingegliedert sei« (Rössner, 1995: 262). Im Gegensatz zu diesen gleichermaßen anscheinend grenzenlosen (was die Autoren, Strömungen und Epochen angeht) wie eingrenzenden Strategien (in Bezug auf Schreibarten) stehen Versuche der Konzeptionalisierung, die darauf abzielen, sich der Unterordnung unter die fantastische Literatur zu entziehen und zu einer Differenzierung zwischen realistischen, »magisch-realistischen« und fantastischen Schreibweisen zu kommen.8 Während Arturo Uslar Pietri in seiner Studie Letras y hombres de Venezuela von 1948, in der zum ersten Mal die Bezeichnung realismo mágico auf die lateinamerikanische Literatur übertragen wurde, in Beziehung auf die Erzählliteratur Venezuelas der dreißiger und vierziger Jahre noch sehr allgemein von »la consideración del hombre como misterio en medio de los datos realistas« (Pietri, 1948: 162; vgl. Chiampi, 1983: 25f.) sprach, insistierte Luis Leal 1967 darauf, dass der realismo mágico keine imaginären Welten erfinden wolle, sondern »se enfrenta a la realidad y trata de desentrañarla, de descubrir lo que hay de misterioso en las cosas, en la vida, en las acciones humanas« (Leal, 1967: 232f.; vgl. Chiampi, 1983: 28f., 31). Einen Schritt weiter ging in seinem 1976 veröffentlichten Essay »El 'realismo mágico' en la ficción hispanoamericana« Enrique Anderson Imbert (in: Anderson Imbert, 1976: 7-25). In diesem Aufsatz versuchte er den »magischen Realismus« im Hinblick auf die Beziehungen zwischen außerliterarischen Welten (bzw. den Weltanschauungen, die den literarischen Werken unterliegen) und Romanwelten zu definieren. Er unterscheidet zwischen einem »narrador realista [...] [que] observa cosas ordinarias con la per7
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In diesem Verfahren ist zweifellos eine wesentliche Ursache dafiir zu sehen, dass die beiden Bezeichnungen als wissenschaftliche Begriffe unbrauchbar sind. Zur Kritik an dieser Klassifizierung vgl. auch Chiampi, 1983: 27-32; Scheffel, 1990: 68; Janik, 1992: 149f., 152; Menton, 1998: 12, 36f.; zur fantastischen Literatur Todorov, 1972.
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spectiva de un hombre del montón y cuenta una acción verdadera o verosímil«, einem »narrador fantástico [que] prescinde de las leyes de la lógica y [...] cuenta una acción absurda y sobrenatural«, und einem »narrador mágico-realista [...] [que] finge escaparse de la naturaleza y nos cuenta una acción que por muy explicable que sea nos perturba como extraña« (ibid.: 10). Damit grenzt er ihn zwar von der fantastischen Literatur ab, die in dieser Systematik als explizit antimimetische Literatur zu begreifen wäre,9 schränkt ihn jedoch auf eine Erzählperspektive bzw. -technik ein, mit denen die Ereignisse der außerliterarischen Welt als fremd und ungewohnt präsentiert werden, da sich ihre Erklärung der Logik der zugrunde liegenden, dominierenden Weltanschauungen der Leser entzieht, das heißt er subsumiert ihn einer Kategorie von Literatur, die ich weiter oben mit den Begriffen Unwahrscheinlichkeit (»inverosimilitud«) bzw. nicht mimetische Fiktion bezeichnet habe.10 Dagegen wirft Chiampi dem Definitionsversuch von Flores vor, er enge den »magischen Realismus« auf eine »naturalización de lo irreal« (Chiampi, 1983: 28, vgl. 27) ein, während Leal die andere Seite überbetone und sich der Formel »sobrenaturalización de lo real« (ibid.: 29, vgl. 27) annähere. Beide Seiten seien jedoch präsent, wie schon Uslar Pietri in seinem Aufsatz von 1948 registriert habe, in dem er den magischen Realismus einerseits als »producto del modo de percepción del autor« und andererseits als »producto de la captación del ser misterioso' de las cosas« (ibid.: 29) bezeichnete." Dies werde umso deutlicher, wenn man die von Carpentier parallel entwickelte Bezeichnung lo real maravilloso in die Überlegungen einbeziehe, mit der er darauf 9
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Unter Rekurs auf Todorovs Introduction ä la littératurefantastique (Paris 1970; dt. 1972) hebt Janik als Spezifikum der fantastischen Literatur den »im Leser erzeugte(n) Zustand der hésitation' zwischen der Rückführung des phantastischen Ereignisses auf vertraute, konventionelle Erklärungsmöglichkeiten und der Annahme einer dem Menschen verborgenen, eigengesetzlichen Wirklichkeit« hervor. Dagegen werde »nicht dieser 'choc' [...] von der Literatur des realismo mágico angestrebt, sondern, positiv, eine Erweiterung und Bereicherung der Wirklichkeitserfahrung« (Janik, 1992: 152). Ähnlich argumentiert Scheffel: Während in den erzählten Welten der fantastischen Literatur zwei verschiedene, rational nicht zu vereinbarende Realitätssysteme in einem unlösbaren Konflikt stünden, seien in den narrativen Welten des »magischen Realismus« die Alltagswirklichkeit »um eine 'magische' Dimension verlängert, zwei Ordnungen zu einem synthetischen Ganzen, zu einem geschlossenen Erzählraum verdichtet« (Scheffel, 1990: 68). Vgl. das Kapitel »Bypass: Roman und Welt«. Anderson Imbert fasst seine Argumentation folgendermaßen zusammen: »Entre la disolución de la realidad (magia) y la copia de la realidad (realismo) el realismo mágico se asombra como si asistiera al espectáculo de una nueva Creación. Visto con ojos nuevos a la luz de una nueva mañana, el mundo es, si no maravilloso, al menos perturbador. En esta clase de narraciones los sucesos, siendo reales, producen la ilusión de irrealidad. La estrategia del escritor consiste en sugerir un clima sobrenatural sin apartarse de la naturaleza y su táctica es deformar la realidad en el magín de personajes neuróticos.« (Anderson Imbert, 1976: 19) Ähnlich argumentiert Magda Zavala in Bezug auf den Unterschied von realismo mágico und lo real maravilloso, wobei sie sich auf Márquez Rodríguez beruft: »Para este autor, en lo real maravilloso' carpenteriano [...] , predomina una visión realista que califica de 'occidental',
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abgezielt habe, nicht die Fantasien oder Erfindungen eines Erzählers zu benennen, sondern die Gesamtheit der realen Objekte und Ereignisse zu erfassen, die Amerika von Europa unterschieden, (vgl. ibid.: 36)12 Das »wunderbare Wirkliche« werde durch zwei Elemente konstituiert: auf der einen Seite »el modo de percibir lo real por el sujeto«, auf der anderen »la relación entre la obra narrativa y los constituyentes maravillosos de la realidad americana« (ibid.: 37)." Damit rückt das Problem der Repräsentation der außerliterarischen »magischen Welten« in den literarischen »fiktiven Welten« in den Mittelpunkt. Chiampi kommt gar zu dem Schluss, dass in Abgrenzung von der Unterordnung des realismo mágico/lo real maravilloso unter die fantastische Literatur diese Repräsentation wesentlich von einer Beziehung der Wahrscheinlichkeit bestimmt sei: »La relación entre el signo narrativo [...] y el referente extralingüistico«, schreibt sie in Bezug auf Carpentiers Roman El reino de este mundo, »es postulada desde una perspectiva realista, o sea, el relato deberá contener esa combinatoria inmanente a lo real.« (Chiampi, 1983: 42) Dies manifestiere sich in der konstanten Durchdringung der Erzählung mit dem Mythos, (vgl. ibid.) Allgemeiner spricht sie sogar von »la retórica verosimilizante de la nueva novela« (ibid.: 31). Damit ist die lange dominierende Subsumierung unter die fantastische Literatur überwunden und gleichzeitig der Weg freigeschlagen zu einer Auseinandersetzung mit den Formen der Repräsentation einer außerliterarischen Realität, in der magische und mythische Elemente eine bedeutende Rolle spielen. Folgerichtig fordert Chiampi: »meditar sobre el modo de representación de la complejidad de lo real en el plano del lenguaje« und »los aspectos relevantes de la construcción de la intriga, de la predicación de los personajes o del código narrativo del texto mágico-realista« (ibid.: 30, vgl. 31 f.). Dies schließt, wie Garscha unter Bezugnahme auf Miguel Angel Asturias schreibt, zwei Ebenen ein: »en primer término, la concepción mágica o mítica de la realidad de los indígenas y, en segundo término, una forma de exposición que haga literariamente visible y palpable esa percepción de la realidad« (Garscha, 1994: 263).14 Im Folgenden sollen anhand einiger nicaraguanischer Romane,
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aunque consciente, respetuosa e interesada por encontrar las raíces americanas. / Desde esa visión que parece venir de fuera, se descubre lo insólito del continente y su cultura. El realismo mágico, en cambio, parece ser una mirada desde dentro y hacia los aspectos ancestrales de las culturas de origen no europeo de América y se nutre del mito, no sólo como tema, sino para dar sostén estructural y estilístico al texto.« (Zavala, 1990: 201; vgl. Márquez Rodríguez, 1981) Das berühmte Vorwort Carpentiers zu seinem Roman El reino de este mundo (1949), in dem er erstmals die Bezeichnung lo real maravilloso verwendete, erschien zuerst 1948 in der Tageszeitung La Nación in Caracas, (vgl. Chiampi, 1983: 36) Auch Gálvez argumentiert, das »wunderbare Wirkliche« als »peculiar percepción de lo americano [...], no es sino una cuestión de perspectiva sobre una concreta realidad: la geografía, la historia y la idiosincrasia hispanoamericanas« (Gálvez, 1987: 151). Garscha spricht in diesem Sinne vom »carácter doble« des Begriffs realismo mágico (ibid.),
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die sich in besonderer Weise durch das Verhältnis von Magie, Mythos und erzählter Geschichte auszeichnen, diese Fragen untersucht werden, ganz im Sinne des allgemeinen von Irlemar Chiampi formulierten Anspruchs: »En fin, el problema de la construcción poética del nuevo realismo hispanoamericano no puede ser pensado fuera del lenguaje narrativo, visto en sus relaciones con el narrador, el narratario y el contexto cultural.« (Chiampi, 1983: 32) l ?
Das Autochthone und die Substrate Damit ist zunächst die Frage nach der Bedeutung des Magischen und des Mythos im kulturellen Kontext Lateinamerikas aufgeworfen. Es gibt kaum eine Studie zum Thema Mythos, in der nicht darauf hingewiesen würde, einerseits blieben Mythen »von den mittelalterlichen Epen, die in legitimatorischer Absicht Genealogien konstruieren, bis hin zu den Produkten der Gegenwartsliteratur [...] eine wichtige narrative Konstituente des Literarischen« (Dörner, 1995: 25), andererseits sei der Begriff Mythos »nicht nur in der alltagssprachlichen Verwendung, sondern auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch schillernd und vieldeutig« (ibid.: 12). Diese Begriffsverwirrung mache eine Definition des Mythos unmöglich, »die über die eigene Untersuchung hinaus Gültigkeit beanspruchen dürfte; sie macht es überhaupt schwer, eine klärende und auch nur vorläufige gültige Definition zu finden« (Rössner, 1988: 18). Ähnliches stellt Rössner für den Begriff Magie bzw. des Magischen fest, der noch dazu oft synonym zu dem Begriff Mythos gebraucht werde, (vgl. ibid.: 27f.; Scheffel, 1990: 66)
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vgl. dazu auch Chiampi, 1983: 25, und Scheffel, 1990: 49. Chiampi kommt das Verdienst zu, mit dieser auf die nueva novela hispanoamericana gerichteten Aufgabenstellung die Beliebigkeiten des Diskurses um die Doppelbezeichnung realismo mágico/lo real maravilloso überwunden zu haben. Ich teile allerdings nicht die Auffassung Rössners, der - ohne dies weiter zu begründen - bereits 1988 die Debatte über die beiden Bezeichnungen für abgeschlossen ansah, denn der »semiologisch vorgehende Ansatz von Irlemar Chiampi [...], die den Begriff 'realismo maravilloso' vorschlägt, weil 'maravilloso' zum Unterschied von 'mágico' eine literarische Kategorie sei«, stelle die »theoretisch fundierteste Auseinandersetzung« dar: »Mit ihrer gründlichen Analyse, die auch die geistes- und ideologiegeschichtliche Perspektive einbezieht, sollte der Etikettenstreit definitiv beendet sein.« (Rössner, 1988: 361) Im Gegensatz dazu hat Chiampi erst einige wichtige Fragestellungen aufgeworfen, die zu weiteren Auseinandersetzungen führen werden, während ihre Bezeichnung »realismo maravilloso« dem Ganzen nur ein weiteres Etikett hinzugügt, das den Blick auf die wesentlichen Fragestellungen eher verstellt als erhellt. Erstaunlicherweise scheint Scheffel die bereits 1983 erschienene Studie Chiampis nicht zu kennen. Allerdings ändert das nichts an der Richtigkeit seiner bereits zitierten Feststellung von der wissenschaftlichen Ungenauigkeit des Begriffspaares in Bezug auf die Literatur Lateinamerikas, der ein ähnliches Urteil über Chiampis Neologismus hinzugefügt werden könnte.
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Noch 1989 bezog sich Christian Wentzlaff-Eggebert unter Berufung auf Plato auf die lange Zeit dominierende Gegenüberstellung von Mythos und Logos und rückte das Mythische in die Nähe »der Erzählung und des symbolischen Erfassens oder Wiedergebens«, während das Logische auf der Seite »des Besprechens, des beurteilenden Denkens« (Wentzlaff-Eggebert, 1989: XI) anzusiedeln sei.16 Schon 1988 hatte Rössner gegen diesen »Irrationalismusverdacht«, unter dem der Mythos von alters her stehe, insbesondere unter Verweis auf die Studien Claude Lévi-Strauss' eingewandt, das Mythische könne nicht mit dem Irrationalen gleichgesetzt werden, »schon gar nicht in der politisch determinierten Konnotation, die der Begriff bei Lukäcs und bei Spätapologeten der 'wahren Aufklärung' hat. Es mag Ausdruck einer anderen Verwendung der Vernunft, anderer Grundkategorien des Denkens sein, die aber im Sinne von Odo Marquards intensivem VernunftbegrifT jedenfalls in denselben einzubeziehen wären.« (Rössner, 1988: 23, 27; vgl. Dörner, 1995: 27f.) Wentzlaff-Eggebert spricht unterschiedslos von vier Bedeutungsfeldern des Mythos: »Wort« (»allerdings in einem von Logos verschiedenen Sinn«), »Götter* und Heldensage«, zusammenhängender Komplex solcher »umlaufender, überlieferter und erfundener Erzählungen« und große »Götter- und Menschenwelt umschließende Darstellung des Kosmos« (Wentzlaff-Eggebert, 1989, Xf.).17 Gerade die Tatsache, dass sich im Mythischen die empirisch nachweisbare bzw. wissenschaftlich feststellbare Wirklichkeit nicht direkt äußere, sondern als »verwandelte Realität« (im Sinne Herbert Marcuses), erkläre seine besondere Bedeutung für die Kunst bzw. die Literatur zu unterschiedlichen Zeiten, (vgl. ibid.: Xlf.) Rössner unterscheidet dagegen zwischen dem Mythos bzw. dem Mythischen als »Denk- wie Erzählform«, der Mythe als einzelner überlieferter Erzählung und der Mythologie als zusammenhängendem »System solcher Einzelmythen« (Rössner, 1988: 21, vgl. 20). Ausgehend von diesem Verständnis des Mythischen als Denk- bzw. Bewusstseinsstruktur stellt er Mythos und Magie in einen engen Zusammenhang: » [...] besonders in der Verbindung mit Bewußtseinsstrukturen spricht man im wissenschaftlichen Diskurs gerne von 'mythisch-magisch' oder verwendet diese beiden Einzelbegriffe synonym. Dabei scheint sich als einziger Unterschied in der Bedeutung eine Bindung von 'Mythos' oder' mythisch' an die von uns 'Mythe' genannte Erzählung, somit an Geschichten mit bestimmter sozialer Funktion zu ergeben, während 'magisch' und 'Magie' mehr dem praktischen, gegenwärtigen Handeln assoziiert wird.« (Rössner, 1988: 27) 16
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Die Einführung zu den Akten des Internationalen Literatursymposiums, das vom 22. bis 24. März 1984 in Lindau zum Thema »Realität und Mythos in der lateinamerikanischen Literatur« stattfand, ist eine erweiterte Fassung seines Einführungsreferats mit dem gleichen Titel zu diesem Symposium, (vgl. Wentzlaff-Eggebert, 1989: IX) Der Band versammelt zahlreiche Studien zum Verhältnis von Mythos, Magie, Realität und Geschichte in verschiedenen lateinamerikanischen Literaturen unterschiedlicher Epochen. Er bezieht sich dabei ausdrücklich auf das Wörterbuch der Antike (Lamer/Kroh, 1976: 487).
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Eine ähnliche soziale Funktion ist auch für Magda Zavala ein Charakteristikum des Mythos, die ihn als »relato de orden sagrado de un pueblo o comunidad, cuya función es servir de modelo a las ideas, acciones y comportamientos humanos« (Zavala, 1990: 202) definiert. Für Rössner ergibt sich daraus die Frage nach der spezifischen Rolle des Mythisch-Magischen im Kontext der lateinamerikanischen Kulturen: »Häufig wird in diesem Zusammenhang auf ein anderes Welterleben, eine andere Raum-, Zeit- und Kausalitätsvorstellung, auf mythisch-magische Denkstrukturen verwiesen. Daraus ergibt sich, dass der [...] Bereich des MythischMagischen in Lateinamerika in zweierlei Hinsicht anders besetzt ist als in Europa: er wird erstens mit einer bestimmten Bevölkerungsgruppe (den indianischen Ureinwohnern des Kontinents) identifiziert und dient zweitens als Mittel der nationalen und kontinentalen Identitätsfindung.« (Rössner, 1988: 178)
In der Tat wird der Mythos in den einschlägigen Studien in einem engen Zusammenhang mit der Konstruktion von Identität diskutiert. Dörner sieht in ihm einen »der wichtigsten gesellschaftlichen Sinngeneratoren« (Dörner, 1995: 87). Gerade in der Moderne, wo das Politische zum Erben des Religiösen werde, dienten Mythen dazu, das »zentrale Problem der Moderne, [...] das Problem der Sinnkonstruktion«, zu bearbeiten (ibid.). Sie seien »ein Medium der kollektiven Selbstthematisierung und damit der semiotischen Konstruktion von Identität« (ibid.: 93), insbesondere in Prozessen der Nationbildung und der Herstellung nationaler Identität: »Das wichtigste Schema zur Wahrnehmung bzw. Konstruktion der Einheit moderner Gesellschaften ist ohne Zweifel das der Nation. Kaum ein Staatsgebilde hat auf die Selbstbeschreibung verzichtet. Die neuere Forschung hat nun darauf aufmerksam gemacht, dass die Realität von Nation in ganz hohem Maße ein Produkt von Kommunikationsprozessen ist, dass Mythen und Symbole unverzichtbare semiotische Fundamente nationaler Identität darstellen (vgl. Giesen 1991, 1993; Link/Wülfing 1991).« (ibid.: 94)
In Lateinamerika wurde dieser Rückgriff auf die mythisch-magischen Traditionen seit den Unabhängigkeitsbewegungen zu einem tragenden Element der Versuche, zunächst das Besondere des Lateinamerikanischen vom Europäischen abzugrenzen, dann die spezifisch nationalen bzw. auch regionalen Identitäten im Prozess der Konstruktion von Nationen zu konstituieren. Neben dem Topos von der Einmaligkeit und Großartigkeit der Natur und der Landschaft spielten dabei die Versuche der (Wieder-)Aneignung der mythischmagischen Traditionen der Indios eine zentrale Rolle, (vgl. Wentzlaff-Eggebert, 1989: XII-XIV; Rössner, 1988: 177-185) Wie Rössner diese Hinwendung zu den präkolumbischen Welten einerseits als Form der Suche nach einer eigenständigen Identität gegenüber Europa sieht und andererseits auf die vielfältigen Rückbezüge auf europäische Traditionen und Strömungen (den Sur-
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realismus als künstlerische Avantgardebewegung und ethnologische bzw. anthropologische Studien auf dem wissenschaftlichen Feld) aufmerksam macht (vgl. ibid.: 179f.), so unterscheidet Magda Zavala historisch zwei Richtungen bei der Suche nach der lateinamerikanischen Identität: auf der einen Seite die Orientierung an den Metropolen außerhalb des Kontinents (Paris, Madrid, Rom, New York), auf der anderen das Vordringen ins Zentrum der autochthonen Natur und Kulturen.18 Für Zentralamerika sieht sie in der Suche nach der präkolumbischen Vergangenheit eine »tendencia isotópica muy significativa de la novela actual« (Zavala, 1990: 218, vgl. auch 219, 220) für die Identitätssuche. Sich auf die Ergebnisse - oder, wie Scheffel vorsichtiger argumentiert, »da solche nicht fertig formuliert vorliegen [...] die Zusammenhänge« (Scheffel, 1990: 66) - anthropologischer Untersuchungen stützend wurde in neueren Studien ein Begriff des Magischen entwickelt, der die auch hier verbreitete Gegenüberstellung von »magisch« und »kausal« sowie die Gleichsetzung von Magie mit einer primitiven Stufe der Entwicklung der menschlichen Zivilisation im Rahmen eines schlichten Evolutionsmodells überwindet, (vgl. ibid.: 66f.) Scheffel bezeichnet das magische Denken bzw. die Magie als »Weltanschauung«, der eine »prälogische« Denkweise zugrunde liege. Sie sei aber nicht »antilogisch«, da es ihr nicht darum gehe, Widersprüche zu vermeiden, sondern scheinbar Widersprüchliches in einen unmittelbaren Bedeutungszusammenhang zu bringen: »Wesenheiten, Phänomene und Gegenstände können hier gleichzeitig sie selbst und andere sein, die Kategorien von Raum und Zeit werden - im Unterschied zum rational geordneten Weltbild - als durchlässig begriffen, Natürliches wie Übernatürliches wird als untrennbar zusammengehörig, als 'magische Totalität' erlebt.« (ibid.: 67) Für die literarische Analyse gelte es zu untersuchen, »in welcher Form und mit welchen Folgen das beschriebene synthetische Weltbild [...] das Realitätssystem einer [...] erzählten Welt beeinflussen kann« (ibid.). Janik sieht ausgehend von einem ähnlichen Verständnis die Funktion des »magischen Realismus« in der »Bewahrung einer ursprünglich poetischen Weltsicht und Wirklichkeitsauffassung« (Janik, 1992: 154). Das »Magische«
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Vgl. Zavala, 1990: 202, 203. Entsprechend dieser Argumentation macht Magda Zavala zwei historische Wurzeln des magischen Realismus aus: zum einen in den Phantasien, mit denen die Konquistadoren und Chronisten die Üppigkeit und »Andersartigkeit« der Neuen Welt wahrnahmen, »que se le atribuían a las Indias y a Oriente, gracias a la imaginación de Marco Polo, los caballeros andantes y cruzados« (ibid.: 196), zum anderen »las civilizaciones autóctonas, privadas de sus libros y ritos« (ibid.: 197), die in ihrer mündlichen Überlieferung ein reiches narratives Erbe bewahrten.
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wird in dieser Konzeption als »die zutiefst personalisierte Wirklichkeitsauffassung des auf seine Umwelt bezogen lebenden Menschen« (ibid.) verstanden, in welcher »der sich magisch verhaltende oder magisch denkende Mensch die Natur als einen ihn einschließenden Bedeutungs- und Wirkungszusammenhang erfahrt« (Janik, 1976: 7, vgl. 18); das heißt, der Begriff bezieht sich auf die Mythen der präkolumbischen, indigenen Welten, auf das, was von diesen Weltsichten und Wirklichkeitsauffassungen im kollektiven Unterbewusstsein der lateinamerikanischen Völker weiter lebt und für sie Bestandteil ihrer Realität ist (s. Janik, 1992: 151). Es ist offensichtlich, dass diese magischen Wirklichkeitsauffassungen nicht (mehr) in reiner Form und ohne innere Widersprüche existieren, sondern sich mit Weltsichten und Wirklichkeitsauffassungen vermischen, die sich auf eine radikale technologische Unterwerfung der Natur gründen (vgl. Janik, 1976: 18), aber auch auf ältere Denkstrukturen wie zum Beispiel die Suche nach dem verlorenen Paradies (s. dazu die Studie von Rössner, 1988: bes. 34, 36f.; vgl. Ainsa, 1977 und 1986) und magische Beschwörungen und Praktiken spanisch-europäischer Herkunft, die sich in der Kolonialepoche in den einheimischen Denkstrukturen einnisteten (vgl. Janik, 1976: 43ff.) Diese magisch-mythischen Auffassungen, die aus den prähispanischen Kulturen überliefert werden, sind also verschieden, je nachdem wie sie sich mit anderen Visionen vermischen, (vgl. ibid: 17) Sie schlagen sich in »kulturellen« bzw. »magischen Substraten« (ibid.: 20) nieder, die als Erbe der kulturellen Traditionen überleben und Teil der Wirklichkeit sind, ein »Faktum(s) der Volkskultur«, (ibid.: 25)" Bereits 1976 setzte sich Dieter Janik in seiner Studie Magische Wirklichkeitsauffassung im hispanoamerikanischen Roman des 20. Jahrhunderts mit magischen Traditionen spanischer Herkunft in Romanen des 20. Jahrhunderts sowie dem nahualismo als autochthoner magischer Vorstellung in Zentralamerika und Mexiko und ihrer literarischen Funktion auseinander, (vgl. Janik, 1976: 22-29, 30-42) Für diese Region hob er, sich auf eine Reihe von anthropologischen Untersuchungen stützend, die Bedeutung der Vorstellung von einer engen Mensch-Tier-Beziehung für die Völkskulturen hervor, die zum Teil als von der spanisch geprägten Kulturwelt separierte »parallele Kultur« (ibid.:
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Ausgehend von dieser Argumentation bezeichnete Dieter Janik mit dem Begriff »magischer Realismus« die literarischen Werke, in denen sich die Spannung zwischen dem in den lateinamerikanischen Völkern fortlebenden magisch-personalen Denken und Handeln und dem technokratisch-impersonalen Geist der europäisch-nordamerikanischen Zivilisation ausdrücke, der zunehmend auch die Länder Lateinamerikas durchdringe, (vgl. Janik, 1992: 156) Mir scheint, dass diese Definition die so verallgemeinerte Gegenüberstellung zwischen dem Magisch-Mythischen und dem »Kausalen« überwindet und vielfältige Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Aneignung von Wirklichkeit, das heißt den komplexen Beziehungen zwischen außerliterarischen Welten und fiktionalen Welten in der hispanoamerikanischen Literatur eröffnet. Allerdings gilt hier das Gleiche wie für Chiampis Ansatz: dass die Bezeichnung realismo mägico diese Arbeit eher behindert als befördert.
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31) existierten.20 Dieser nahualismo habe seit der Kolonialepoche zum Teil die soziale Funktion einer gegen die Akkulturation gerichteten messianischen Bewegung, (vgl. ibid.: 33f.) In der Literatur der Region übernehme er unter anderem die Funktion, in den Legenden und Sagen der Indios ihre Eigenart gegenüber der spanisch geprägten offiziellen Kultur darzustellen, diene aber auch der Darstellung der Wirklichkeit alltäglicher Gebräuche, werde als Metapher und Mythos verwandt (zum Beispiel, um auf wundersame Weise die ungewisse Zukunft eines Volkes zu schützen, oder für die Suche nach einem naturhaften und naturbestimmten Urzustand, der keine historische Rückwärtsbewegung, sondern nur einen Ortswechsel im eigenen Land erfordere), (vgl. ibid.: 34-37) Für Nicaragua haben sich Eduardo Zepeda-Henriquez und Milagros Palma in einer Reihe von Studien mit den magisch-mythischen Substraten in der Volkskultur auseinandergesetzt. In seiner 1987 erschienenen Arbeit über das mythische Denken, das er als »el único pensamiento original del hombre nicaragüense« (Henríquez-Zepeda, 1987: 7) bezeichnet, da die nicaraguanische Vorstellung vom Universum sich über das Bild ausdrücke und die Realität in symbolischen Formen erfasst werde, hält Henríquez-Zepeda an der Auffassung von der Mythologie als einer archaischen Konzeption vom Wesen der Dinge fest. Mythos und Logos schlössen sich jedoch nicht aus, sondern seien »manifestaciones complementarias del espiritú del hombre«, insbesondere in der kollektiven Vorstellungswelt der Nicaraguaner habe der mythische Glaube den Status einer »vivencia totalizadora« (ibid.). Er untersucht die Präsenz dieser Mythen in der mündlichen Überlieferung bzw. den alltäglichen Gebräuchen, Chroniken und Berichten sowie historiografischen, ethnologischen und literarischen Texten und ordnet sie in drei Gruppen: reine bzw. eschatologische Mythen, die er auch Mythen »en el origen« (ibid.: 8) nennt, da sie keinen historischen Bezugspunkt hätten, sondern nur das Jenseits symboliserten; Mythen der Geschichte, die auf realen historischen Ereignissen beruhten (»algo histórico que, no obstante, ha ganado altura mítica«; ibid.: 9); schließlich literarische Mythen: »seres poéticos que gritan su independencia; síntesis poderosas que surgen al conjuro' de intuiciones personales, y que suelen representar lo que resulta posible en la medida de lo arquetipico, pero no en la de lo real« (ibid.).21
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Janik unterscheidet drei Teilvorstellungen dieser Beziehung: die »Verwandlungsfähigkeit von bestimmten Menschen in Tiere [...] als [...] tradierten Überrest des viel umfassenderen magischen Vermögens der präkolumbinischen Zauberpriester«, den »Mensch-Tier-Bezug des Zauberpriesters« als »Abbild der Gott-Tier-Identität in den mittelamerikanischen Mythologien« und »die Vorstellung einer konsubstantiellen Verbundenheit von Mensch und Tier« (Janik, 1972: 32f). Diese Vorstellungen wurzelten in der »zentralen Anschauung des Naturzusammenhangs alles Seienden« (ibid.: 41). In der ersten Gruppe stellt er die folgenden Mythen, im oben entwickelten Sinne von Mythe
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In ihren Studien über d i e m y t h i s c h e D i m e n s i o n der m ü n d l i c h e n Ü b e r l i e f e rung in N i c a r a g u a , i m B e s o n d e r e n in Senderos u n d Nicaragua: gioso
Once mil vírgenes.
del pensamiento
mestizo
La feminidad
nicaragüense
míticos
de Nicaragua
en el imaginario
mítico
(1987) reli-
( 1 9 8 8 ) , zielt M i l a g r o s P a l m a dar-
a u f ab, » n a c h z u w e i s e n , daß die m ü n d l i c h e Ü b e r l i e f e r u n g e i n e andere Version der G e s c h i c h t e beinhaltet« (Palma, 1 9 9 4 : 15; vgl. Palma, 1987: 8), s i c h in ihr die S t i m m e n der A n d e r e n , v o n der o f f i z i e l l e n G e s c h i c h t e V e r g e s s e n e n u n d v o n d e n s p a n i s c h e n Erorberern und den h ö h e r e n K l a s s e n Unterdrückten, äußere: d i e d e s e i n f a c h e n V o l k e s u n d der Frauen, ( v g l . Palma, 1994: 15; Palma, 1987: 6) 22 N e b e n der m ü n d l i c h e n Ü b e r l i e f e r u n g b e z i e h t sie Texte v o n C h r o n i s t e n und n i c a r a g u a n i s c h e n Schriftstellern ein. ( v g l . Palma, 1994: 15) D i e oralen Ü b e r l i e f e r u n g e n der Volkskultur sind n a c h ihrer A u f a s s u n g z u m e i n e n » l a expre-
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als einzelner Erzählung, dar: Tamagastad als Mensch-Gott der Ureinwohner Nicaraguas, »un claro varón o un varón fuerte [...] el arquetipo de los nicaraos« (ibid.: 13); die »carreta nagua«, die Karre, die nachts übers Land fährt und die Einwohner in Angst und Schrecken versetzt (oft als Leichenwagen interpretiert, das heißt als Todessymbol); den »cadejo«, ein Fabelwesen der Nacht, das niemand je gesehen hat, Mischung aus Hund, Ziegenbock, Mann und Zerberus (ein weiteres Symbol des Todes); die drei Frauengestalten »la Celestina«, »la Cegua« und »la Mocuana«, Symbole der Liebe, des Hasses, der zerstörten Liebe, der Eifersucht und der ewigen Bedrohung des Mannes durch das Weib; der »cacaste«, das Skelett eines Stiers oder einer Kuh, das nachts die Bauern heimsucht (ebenfalls ein Todessymbol), (vgl. ibid.: 11-67) Als Mythen der Geschichte behandelt er den transozeanischen Kanal als Symbol des Handels, des Wohlstands und des Überflusses, die verwunschene, von Geistern heimgesuchte Stadt León Viejo, die beiden charismatischen und mächtigen »'familias principales' nicaragüenses« (ibid.: 101), die Chamorros und die Sacasas, den Mythos von den »siete pañuelos«, Symbol der Banditen, die im neunzehnten Jahrhundert ihr Unwesen vor allem in der nördlichen Bergregion Nicaraguas trieben (das seinen Ursprung in der Gestalt des als Zeichen des Sieges sieben Taschentücher schwingenden Straßenräubers Bernabé Somoza Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hat), der Mythos von Augusto César Sandino, dem Helden des nationalen Befreiungskampfes gegen die US-Invasion in den zwanziger und dreißiger Jahren und Symbol der indohispanischen Identität des nicaraguanischen Volkes, (vgl. ibid.: 69-129) Als literarische Mythen untersucht er schließlich »El Güegüense«, »protagonista de la comedia bailada que lleva su nombre o el de Macho-ratón« (ibid.: 133), Symbol des nicaraguanischen Mestizen und »héroe sin heroísmo« (ibid.), den Mythos Rubén Daríos von der jungen, rätselhaften Schönen, den sieben Jungfrauen (Symbol der Tugend) und den sieben Jünglingen (Symbol des Lasters) als Personifizierung der Zerrissenheit der nicaraguanischen Seele, den »Hombre-Simbolo« des als »noveleta« bezeichneten Prosatextes La muerte del hombre-símbolo (1938) von José Coronel Urtecho als Symbol des nicaraguanischen Politikers (ohne feste Überzeugungen), die Rolle der mythischen Stadt Tola im Süden Nicaraguas in der nicaraguanischen Literatur (insbesondere in der Komödie La Novia de Tola von Alberto Ordóñez Argüello, 1939), schließlich den Mythos vom Sänger und Schiffer (auf dem Nicaraguasee) Cifar (insbesondere im Werk Pablo Antonio Cuadras), (vgl. Zepeda-Henriquez, 1987: 131-190) Milagros Palma veröffentlichte eine Reihe von anthropologischen Untersuchungen zur Rolle des Mythos und zur Symbolik der Weiblichkeit in Lateinamerika, darunter neben den genannten Palma, 1978, 1992 und 1993. 1994 erschien Once mil vírgenes in deutscher Übersetzung unter dem Titel Mythen und Weiblichkeit. Der Karneval von Masaya. Nikaragua: Das Fest der elftausend Jungfrauen. Die Symbolik der Mestizenkultur in Nikaragua: ich zitiere nach dieser Ausgabe.
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sión del profundo terror que se enmascara debajo de nuestra realidad« (Palma, 1987: 6), Ausdruck eines Schreckens, der mit der Ankunft der Konquistadoren beginnt: Die spanischen Eroberer hätten den Glanz der indigenen Kulturen getrübt und ihre Erde in Gräber für die ihrer Schätze Beraubten verwandelt. Die Vergangenheit habe nur Klage, Schmerz und Verzweiflung über die eingeborenen Völker gebracht, (vgl. ibid.: 6f.; Palma, 1994: 13) Zum anderen schlage sich in den Symbolen der Weiblichkeit das besondere Leid der Frauen in der Geschichte Nicaraguas nieder: Derselbe Diskurs, »der die Unterdrükkung der höheren Klassen enthüllt und die spanische Erbschaft legitimiert«, sei »ein privilegierter Träger der patriarchalen Herrschaft« (Palma, 1994: 15, vgl. 11). Die orale Tradition sei gleichzeitig die Stimme des Volkes, welche die Überlieferung seiner auseinandergebrochenen Kultur ermögliche. Dadurch hätten sich die Lehren der wichtigsten Ereignisse, die religiösen Überzeugungen, die Gebräuche und das Wissen erhalten, (vgl. Palma, 1987: 7) Sie hebt hervor, dass ihre Untersuchungen sich ausschließlich mit der Kultur der mestizisch geprägten Pazifikregion Nicaraguas befassten, »porque el mundo indio y negro de la región atlántica, siempre lejano y aparte, necesita un acercamiento diferente con el previo aprendizaje de la lengua de cada uno de los grupos que la pueblan« (ibid.: 10; vgl. Palma, 1994: 13)23 Schließlich widmet sie sich auch der Frage, in welcher Form unter den neuen, von der Revolution geschaffenen Bedingungen das magisch-religiöse Denken überlebe, das schon die Conquista und die Kolonialzeit überstanden habe, und welche Funktion es unter den veränderten Bedingungen annehme.24 Die Schemata des traditionellen Denkens blieben intakt, mit Hilfe der mythisch-religiösen Kategorien werde die neue Realität interpretiert und (um)gestaltet. In den magisch-mythischen Erzählungen fantastischer Figuren und wundersamer Erscheinungen äußerten sich die sozialen Akteure zur gesellschaftlichen Situation »en boca ajena, en boca divina, la de la Virgen [...] canalizando la expresión de un sector de la población« (Palma, 1987: 10, vgl. 11). Ausgehend von diesen Prämissen stellt Palma in den beiden erwähnten Studien eine große Zahl von mythisch-magischen Erzählungen und Gebräuchen des mestizischen Nicaragua, das heißt als Substrate innerhalb der Volkskultur, dar, wie sie sich seit der Conquista bis in die Epoche der Revolution erhalten haben.25
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Vgl. dazu das Kapitel »Fünfler Kreis: Raum und Text« der vorliegenden Arbeit. Im Vorwort zur französischen Ausgabe von Senderos míticos de Nicaragua weist Palma daraufhin, dass ihre Untersuchung schon vor der Revolution abgeschlossen gewesen sei, mit dem Sieg der sandinistischen Revolution habe die Volkskultur jedoch ein besonderes Interesse gewonnen, da der Sandinismus sich das Ziel gesetzt habe, die authentischen Werte des Volkes zu retten, (vgl. Palma, 1987: 9) Zu den in Senderos míticos de Nicaragua (Palma, 1987) dargestellten Mythen gehören: Seelen ohne Erlösung, der Priester ohne Kopf, die ewige Unterwelt, verzauberte Orte, in Tiere verwandelte Menschen, Teufelspakte, der teuflische Ursprung des Reichtums, die verwunschenen
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Sowohl für Eduardo Zepeda-Henriquez wie für Milagros Palma gilt, dass sie die Transformation dieser Substrate, ihr verändertes Auftreten in unterschiedlichen Kontexten, das heißt das Fehlen einer eindeutigen Denotation betonen und diesen unterschiedlichen Ausprägungen nachgehen, bis hin in einzelne literarische Verarbeitungen, für die der konnotative Charakter der mythisch-magischen Erzählungen prädestiniert scheint. Allerdings fehlen bisher umfassende systematische Untersuchungen zu ihrer Funktion in der zeitgenössischen nicaraguanischen erzählenden Literatur.26 Im Folgenden soll also an einigen exemplarischen Texten der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutung diese Elemente im nicaraguanischen Roman der achtziger und neunziger Jahre für das Problem der Sinnstiftung und Identitätsfindung haben, wobei ich mich im Wesentlichen auf die Mythen beziehe, in denen Substrate des magischen Denkens der indigenen Kulturen narrativ verarbeitet werden.27
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Paradiese, die umherirrende Seele Arrechavalas, »la Llorona« (die Weinende), »la carreta nagua«, »el cadejo«, die Kobolde, die unsichtbaren Plagegeister, das lebende Gold, der »punche de oro« (vergrabene Goldschatz) der Indios von Subtiava, das Ende der Indios, das Ende der Welt. In Once mil vírgenes (dt. Mythen der Weiblichkeit; Palma, 1994) werden zu Mythen gewordene historische Frauengestalten beschrieben: Maria de Peñalosa, Rafaela Herrera, María Manuela Rodríguez, Josefa Chamorro; Männer- und Frauengestalten in magisch-christlichen Riten wie dem Stier-Hirsch-Umzug, dem »Torovenado«, in Tänzen und im Straßentheater, in der Musik, die Riesin und der Zwerg; mythische Frauengestalten wie »la Cegua«, die Jungfrau von Guadalupe, die Kind-Frau, die Äffin-Frau, die Schwein-Frau, die MauleselinFrau, die Coyoten-Frau, die Kuh-Frau, die Eulen-Hexe, die Alte, die Weinende (»la Llorona«), die weiß gekleidete Frau, »la Mocuana«; Frauenrollen, die eine fast mythische Bedeutung angenommen haben, wie die Händlerin und die Marktfrau, die Witwe, die Prostituierte, die Nonne, die Guerillakämpferin; soziale bzw. Geschlechterverhältnisse, in denen sich die Unterdrückung der Frau manifestiert wie die Heirat, die Frau und der Priester, die Jungfräulichkeit, Sexualität/Phallokratie und Macht, die Entfuhrung der Frau, die Vergewaltigung, die Frau und der Tod, die Todesstrafe für die Frau, die Frau und der Wahnsinn. - Zusammen mit der Darstellung Zepeda-Henriquez' (vgl. Fußnote 21) ergibt dies ein nahezu vollständiges Panorama der mythisch-magischen Substrate in der nicaraguanischen Volkskultur. Vgl. dazu das nächste Unterkapitel »Innensicht und Außensicht«. Zu Ernesto Cardenals Werk liegt der Aufsatz »Geschichte und Mythos in der epischen Dichtung Ernesto Cardenals« von Dietrich Briesemeister (1989) vor. Zu den politisch kontextualisierten Mythen Nicaraguas nach der Unabhängigkeit in der Romanliteratur der achtziger und neunziger Jahre vgl. das Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«. Zum Verhältnis der »modernen« Mythen des nachrevolutionären Nicaragua, insbesondere in der Poesie, zu den Ursprungsmythen vgl. den Aufsatz »La hora de los héroes: historia poetizada y mitos primordiales nicaragüenses« von Claire Pailler (1989: 29-44); zu einigen Aspekten des Verhältnisses von Mythos und Geschichte in der Dichtung Ernesto Cardenals vgl. Briesemeister, 1989: 291-310.
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Innensicht und Außensicht Damit stellt sich die Frage nach den Besonderheiten der narrativen Repräsentation und Präsentation der magisch-mythischen Wirklichkeiten als außerliterarischen Bezugspunkten in der Literatur. Die (Wieder-)Entdeckung des Mythisch-Magischen im indigenistischen Roman der zwanziger und dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, war (wie schon Janik, 1976: 34ff., ausführlich dargelegt hat) von einer Außensicht der Autoren wie der Leser auf die Welt der Indios gekennzeichnet, die nicht selten in einer falschen Idealisierung des Indigenen mündete, (vgl. Garscha, 1978b: 8f.)28 Für die nueva novela hispanoamericana wurde dagegen von einem Paradigmenwandel in Bezug auf die Erzählperspektive gesprochen: Während den Werken des Indigenismus eine externe Perspektive eignet, verfahren die Autoren der nueva novela zum großen Teil umgekehrt, »eligiendo una o más perspectivas internas, que corresponden a una visión específicamente hispanoamericana de la realidad« (Garscha, 1994: 262). Der Erzähler sei wie ein Forscher, »der den Boden, auf dem er steht und von dem er lebt, Schicht für Schicht aufgräbt, um in die Tiefe zu dringen und aus den Residuen vergangener Epochen die geschichtlichen Voraussetzungen der gegenwärtigen Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität zu rekonstruieren« (Garscha, 1978b: 19). Um diese Komplexität von Wirklichkeit narrativ zu repräsentieren und präsentieren, seien naturalistische bzw. an einem nur abbildenden Realismus orientierte Schreibweisen nicht länger möglich: »An die Stelle eindimensionalen Denkens und Schreibens tritt zeitliche und räumliche Vieldimensionalität, spricht der Erzähler mit vielen Stimmen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Die Grenzen zwischen schreibendem Subjekt und beschriebenem Gegenstand verschwimmen. Es ist vor allem die Erfahrung der Koexistenz und Kontiguität höchst unterschiedlicher geschichtlicher, kultureller, politischer und sozialer menschlicher Entwicklungsstadien, die den Erzähler zwingt, ebenso polyphon und pluridimensional zu schreiben, wie er wahrnimmt.« (ibid.: 20)29
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Janik sieht in den literarischen Verarbeitungen des »nahualismo« diesen »erzählerisch nicht voll integriert«, vielmehr bilde er »zusammen mit anderen Elementen ein Folklore-Kolorit, das dem Leser die Fremdheit der indigenen Kulturen eindringlich - manchmal fast zu belehrend suggeriert« (Janik, 1976: 37). Ähnlich argumentiert Rössner in Bezug auf den »Indio als Objekt der literarischen Darstellung«, die von den indianistischen Romanen des neunzehnten Jahrhunderts bis zum Indigenismus durch »die europäische Autorensperspektive (bzw. die des europäisch denkenden Mischlings)« (Rössner, 1988: 184, vgl. 182-185) bestimmt sei. In Miguel Ángel Asturias' Hombres de maíz sieht Janik den »nahualismo« als »in schöpferischer Weise verarbeitet [...] und zu einem tragenden Element der Gesamtkonzeption [...] gestaltet«, die Erzählung sei über weite Strecken »aus der Innensicht indianischer Wirklichkeitserfahrung und -deutung« (Janik, 1976: 38) geschrieben.
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Die Sicht von außen war auch für einen Großteil der nicaraguanischen Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnend. Die Gestaltung und Neubearbeitung von »temas indígenas« (Arellano, 1986: 104) bzw. »temas aborígenes y legendarios« (Arellano, 1997: 96) dominierte in den kostumbristischen Erzählungen der ersten beiden Jahrzehnte, die im Allgemeinen nicht über einen »falso pintorequismo« (ibid.) hinausgingen, und seit den zwanziger Jahren in der regionalistischen Literatur, die »ha girado alrededor de una constante: el submundo del campesino, propio de una sociedad predominantemente rural como la nicaragüense por lo menos hasta los años cincuenta« (Arellano, 1986: 106f.).30 Für die nicaraguanische Avantgarde ist dann die indigene Welt in ihrem Bemühen, eine nationale literarische Kontinuität herzustellen, eine unterirdische Kraft, im Prozess der Mestizierung »überdeterminiert« von der »weißen« Kultur der spanisch-katholischen Konquistadoren. Sie überlebt auf dem Grund der nicaraguanischen Identität, eine Kultur ohne Stimme, ohne Schrift, ohne Literatur, eine »forma silenciosa y onírica cuya palabra hay que inventar« (Cuadra, 1981: 8f.). Urgrund der nicaraguanischen Identität sind nicht die präkolumbischen Kulturen, sondern die Vermischung dieser Kulturen mit dem Spanischen in der Kolonialepoche, die Mestizierung - allerdings gesehen mit den Augen des europäischen Reisenden, wie es in einem Aufsatz Joaquín Pasos', eines wichtigen Vertreters der nicaraguanischen Avantgarde, mit dem Titel »Los viajeros en Nicaragua y en su historia« heißt: » [...] en el ojo del viajero nuestra conciencia (subconciencia debiéramos llamarla) nacional, tiene una llama vivida de interés« (in: Pasos, 1994,1: 259f.). Daraus beziehe Nicaragua seinen ganzen Wert. (vgl. ibid.) Die indigenen Traditionen gingen in dieser Konzeption zwar in die Konstruktion der Nation »desde la letra« (Delgado, 1997: 23) ein, allerdings von außen gesehen und dominiert von der Schriftkultur der Konquistadoren, die sich die »schriftlose« Kultur der Eingeborenen einverleibt und Untertan macht. 31 Für den 30
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Nach Arellano dominieren folgende Elemente: Fabeln, Märchen und Legenden bzw. »los cuentos de aparecidos« (Arellano, 1986: 107), traditionelle Anekdoten und Kindergeschichten populären Ursprungs, thematisch die Beherrschung des Menschen durch die Natur, das bäuerliche Leben und ländliche Gebräuche sowie Denkweisen, schließlich eine gewisse Sozialkritik in der Darstellung von Ausbeutung, Krankheit, Elend, Vergewaltigung, Alkoholmissbrauch usw. (vgl. ibid.) In einem Aufsatz von 1932 mit dem Titel »Nuestra respuesta al joven Ocón« schreibt Joaquín Pasos: »Usted entiende por nicaragüense lo indígena, lo nativo nicaragüense. No es así. El índigena (lengua, religión, etcétera, indígenas) no eran nicaragüenses. Eran choroteganos, nagrandanos, o nequecheris, o nicaraguaos, pero no nicaragüenses. Nicaragua nació de la unión del español y el indio, sobre este pedazo de tierra, y con la victoria en las predominancias de ambas razas. Por lo tanto, la lengua nicaragüense no es la india, sino la española. Mejor aún, la española predominante con los resabios indígenas: Esta es la lengua vernácula. ¿No sabe usted dónde está nuestra tradición? Según lo expuesto, Nicaragua, con su verdadera esencia viva, vivió durante el tiempo de la unión del español y el indio, es decir, en la Colonia. Estudie usted esa época con los viajeros, y allí tendrá la verdadera tradición nicaragüense.« (in: Pasos, 1994,1: 69; hier zit. n. Delgado, 1997: 27)
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bedeutendsten Repräsentanten der nicaraguanischen Avantgarde, Pablo Antonio Cuadra, »el indio no tenia verdadera escritura literaria« (Cuadra, 1981: 8); das Indigene besitzt für die Herausbildung und die Kontinuität der nicaraguanischen (National-)Literatur keinen konstitutiven, sondern nur einen komplementären Wert.32 Die indigene Welt bleibt in dieser Perspektive gefangen in der Subalternität und außerhalb des literarischen Feldes.33 Mit dem Aufschwung der Romanliteratur in den achtziger Jahren ändert sich die Situation in signifikanter Weise. Diese Literatur beschäftigt sich in thematischer Hinsicht vor allem mit der älteren Geschichte des Landes, das heißt einer (Re-)Interpretation der Conquista und der Kolonialepoche, mit der jüngsten Geschichte, das heißt den siebziger und achtziger Jahren (dem antisomozistischen Kampf und in zunehmendem Maße den revolutionären und postrevolutionären Epochen), und mit einer literarischen Rekonstruktion der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, das heißt der Periode zwischen den beiden großen Erdbeben in Managua, 1931 und 1972. Im Rahmen dieser Thematiken spielt die Suche nach einer kollektiven/nationalen Identität eine wesentliche Rolle. Das Indigene beginnt eine herausragende Stellung in den literarischen Werken einzunehmen, die versuchen, eine nationale Identität im Rahmen des national-revolutionären Projekts zu (re)konstruieren. Die Aneignung der indigenen Welt(en) und ihre Repräsentation und Präsentation in den erzählten Welten der achtziger und neunziger Jahre wird zu einem wichtigen Bestandteil der nicaraguanischen Romanliteratur der achtziger und neunziger Jahre.34 Welche Funktion übernimmt diese Aneignung der magisch-mythischen Traditionen im Kontext der historischen und literarischen Legitimation des Projektes der Konstruktion der nicaraguanischen Nation und für die narrative Repräsentation und Präsentation der nicaraguanischen Realität am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts?35
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Arellano spricht zwar davon, das Werk Pablo Antonio Cuadras sei von der Herstellung des »sincretismo del mundo greco-romano con el indígena de Mesoamérica« (Arellano, 1976: 175) gekennzeichnet und die Dichter der Avantgarde hätten den »aporte indígena a nuestro proceso histórico« einbezogen, »interpretando la naturaleza mestiza del ser nacional«, sie seien jedoch »profundamente cristianos e hispánicos« gewesen (ibid.: 77). Vgl. dazu den sehr aufschlussreichen Aufsatz »Textualidades de la nación en el proceso cultural vanguardista« von Leonel Delgado (1997) und meine Kritik am Ausschluss der oralen Tradition aus der nicaraguanischen Literaturgeschichtsschreibung (Mackenbach, 1997c). Bei etwa einem Viertel der Werke, die das Korpus der vorliegenden Untersuchung bilden, sind magisch-mythische Elemente tragende Säulen der erzählten Welten. Vgl. »Bibliografie a) Quellen: Nicaraguanische Romane und testimonios der achtziger und neunziger Jahre«. Bei der Beantwortung dieser Frage geht es mir nicht vorrangig um eine motiv- bzw. stofForientierte Analyse, also nicht um die Verwendung von Stoffen, Topoi und Motiven aus einzelnen Mythen und Legenden, sondern wie Rössner in seiner Studie von 1988 »in erster Linie um ein sich in vielen [...] Werken [...] manifestierendes Interesse an Aspekten mythisch-magischen Bewußtseins, wobei dieses Bewußtsein nicht mehr [...] Objekt der Darstellung ist, sondern zum Element der darstellerischen Perspektive wird« (Rössner, 1987: 32Í); wie er
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Mutter Erde und verlorenes Paradies: Die Magie als Urgrund der Revolution? Für diesen Paradigmenwandel in höchstem Maße repräsentativ ist das Romanwerk Gioconda Bellis. Der Rückgriff auf magisch-mythische Traditionen ist weit über die Präsenz einzelner Motive und Stoffe hinaus - tragendes Element in der Struktur ihrer drei Romane La mujer habitada (1988a), Sofia de lospresagios (1990a) und Waslala. Memorial del futuro (1996a), die zweifellos zu den weltweit am meisten gelesenen zeitgenössischen nicaraguanischen und zentralamerikanischen Romanen gehören.36 Gioconda Belli schildert in La mujer habitada (1988a) in der Form eines Bildungsromans den Prozess der Bewusstwerdung und die Entwicklung der Protagonistin Lavinia, einer Architektin, von der kritisch-distanzierten Tochter aus gutem Hause zur engagierten Revolutionärin in den siebziger Jahren. Verwoben mit dem Leben dieser Frau, die sich in den Kampf um politische und sexuelle Befreiung einmischt, ist die parallele Geschichte einer Indiofrau, Itzä, die in der Epoche der Conquista zusammen mit ihrem Lebensgefährten Yarince gegen die spanischen Eroberer kämpfte und deren Geist sich des Körpers der Revolutionärin des 20. Jahrhunderts bemächtigt. In einem nicht näher benannten Land Zentralamerikas spielend, dessen Hauptstadt Faguas ist, basiert der Roman auf - zum großen Teil realen - Geschehnissen aus den letzten Jahren des Befreiungskampfes der sandinistischen Bewegung vor dem Sturz der Diktatur 1979. Außerliterarischer Hauptbezugspunkt ist die Vorbereitung und Durchführung der militärischen Besetzung des Hauses eines hohen Funktionärs der Somoza-Diktatur
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beschäftige ich mich also auch »mit der poetischen Funktionalisierung des Mythischen in der Dichtung« (ibid.: 33). Bisher fehlen für Nicaragua trotz der beachtlichen Zahl zeitgenössischer Romane, die auf magisch-mythische Elemente rekurrieren, noch immer ausführliche Studien zum Thema. Zu den in den letzten Jahren veröffentlichten Arbeiten, die zumindest einige Aspekte dieser Problematik behandeln, gehören: Addis (1995a und 1995b), Arias (1998a: bes. 231-250), Delgado/Ramírez Lazo/Pérez Cuadra (1995), Dröscher (1996b), Kohut (1995), Mackenbach (1995d, 1997a, 1997b, 2000b), Paredes (1999), Pérez Cuadra (1997 und 1998), Rodríguez (1994), Seydel (1996) und Rojas-Trempe (1991); zu Zentralamerika vgl. Zavala (1990: bes. 196-243). Paredes bezeichnet die Romane Bellis als »la primera obra narrativa centroamericana que desde los años de gloria de Miguel Ángel Asturias alcanza una envergadura mundial« und stützt dieses Urteil auf den verlegerischen Erfolg »en los mercados del mundo« (Paredes, 1999: 95f.), insbesondere in Deutschland und Spanien (denen man heute unbedingt die USA hinzufugen müsste), sowie auf die große Zahl akademischer Studien zu ihrem Werk (vgl. ibid.: 95f., 99). Ein Indiz ihrer breiten Rezeption in Deutschland sind die jeweils im Erscheinungsjahr der Originalausgaben im Peter Hammer Verlag, Wuppertal, publizierten deutschen Ausgaben (alle in der Übersetzung Lutz (Clichés), die inzwischen zusammen eine Millionenauflage (u.a. als Taschenbücher im Deutschen Taschenbuch Verlag) erreicht haben: Bewohnte Frau (1988b), Tochter des Vulkans (1990b) und Waslala (1996b). Dröscher (vgl. 1996b: 17) weist darauf hin, dass die deutschsprachige Ausgabe von Waslala noch vor der spanischsprachigen Originalausgabe erschien.
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(José Maria »Chema« Castillo) am 27. Dezember 1974 durch den Frente Sandinista, mit der zahlreiche politische Gefangene freigepresst, die Zahlung eines hohen Lösegeldes an die Befreiungsfront und die Verbreitung revolutionärer Propaganda über die offiziellen Medien erreicht wurde. Die Protagonistin Lavinia nimmt an dieser im Roman in das Jahr 1973 verlegten und »Eureka« genannten Aktion in herausgehobener Position teil und stirbt im Kampf." Dieser unschwer zu erkennende außerliterarische Bezugspunkt hat dazu gefuhrt, dass in der Rezeption und Analyse des Romans lange Zeit sein narrativer Diskurs im Mittelpunkt stand: Er wurde von einem »denotativen« Gesichtspunkt aus gelesen als direkter testimonio des nationalen Befreiungskampfes der siebziger Jahre und von einer feministischen Perspektive aus als Schlüsseltext des Kampfes um Frauenbefreiung in der »Dritten Welt«, wie es noch exemplarisch in Linda Crafts Arbeit Novels of Testimony and Resistance from Central America aus dem Jahr 1997 heißt, die in dem Roman zwar eine hybride Mischung aus »postmodern tendencies and characteristics of nueva narrativa, telenovela [...], and nineteenth-century realistic, romantic, and historical novels« (Craft, 1997: 158) ausmacht, ihn aber eindeutig als »a contemporary testimonial novel« bezeichnet: »Nicaraguan writer Gioconda Belli's first novel [...] dramatizes the simultaneous struggle for national liberation and women's emancipation in her country [...] . This text forms part of the general current of Third World resistance literature.« (ibid.)58
Die Fixierung auf die erzählte Handlung wurde noch akzentuiert durch den offensichtlichen autobiografischen Hintergrund des Romans: Gioconda Belli,
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Die erzählte Zeit im Roman umfasst ein Jahr, von Dezember 1972 bis Dezember 1973; aus unzähligen Bezügen wird jedoch klar, dass sie die realen Ereignisse des Jahres 1974 repräsentiert. Die Aktion gilt als eine der bedeutendsten erfolgreichen Operationen der Guerilla gegen die Somoza-Diktatur und als wichtiger Schritt zur Zersetzung des Regimes auf dem Weg zum Sieg der Revolution 1979. (vgl. dazu zum Beispiel Dietrich, 1988: 173; Mackenbach, 1995a: 163, 229f.; Randall, 1999: 264) Gabriel García Márquez schrieb über diese Aktion ein Drehbuch mit dem Titel »EI asalto« für einen Film, der nie gedreht wurde, (vgl. Kohut, 1995: 262) Neben dieser Aktion bezieht sich die Handlung des Romans auf zahlreiche weitere reale Ereignisse in der jüngsten nicaraguanischen Geschichte in den Jahren vor der Revolution, wie zum Beispiel das Massaker an der Opposition 1967 und das Erdbeben in Managua 1972, und auf zahlreiche Personen der sandinistischen Bewegung, wie Carlos Fonseca, Tomás Borge und vor allem die Kommandantin Nora Astorga, der der Roman gewidmet ist. (vgl. dazu weiter unten) Das Gioconda Belli gewidmete Kapitel ihrer Studie, »The Indian Princess and the High-Heeled Warrior. Gioconda Belli 's Revolting Women«, führt diese beiden Aspekte detailliert aus. (vgl. Craft, 1997: 158-184) Ähnlich argumentieren zum Beispiel auch Kaminsky (1994), Dröscher (1996) und Palacios (2000). Zur Auseinandersetzung mit der feministischen Lektüre des Romans vgl. das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« der vorliegenden Arbeit.
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selbst Tochter einer Familie aus der wohlhabenden nicaraguanischen oberen Mittelschicht, begann in den siebziger Jahren im Widerstand aktiv zu werden und war an der Vorbereitung der Aktion vom 27. Dezember 1974 beteiligt.39 Schließlich legte die Autorin (u.a. in zahlreichen Interviews) selbst eine solche Lektüre nahe, so zum Beispiel im Jahr 1994: » [...] es una novela bastante testimonial. Es una novela que, si bien es ficción y no el testimonio de nadie en particular, recoge una experiencia colectiva que fue muy importante en Nicaragua. Uno fue la continuidad de la rebelión que está expresada por la india, el personaje mítico de la novela; la rebelión presente no arranca de nosotros sino que viene desde mucho antes ... El otro tema fundamental es el de la mujer. ¿Cuáles son las condiciones y las contradicciones y conflictos que se dan en la participación revolucionaria a partir del género ?« (zit. n. Hood, 1996: 103) Dagegen wurde über weite Strecken (von wenigen Ausnahmen abgesehen) eine »konnotative« Lektüre des Romans vernachlässigt, die sich mit den poetisch-symbolischen bzw. metaphorischen Strukturen und insbesondere der Funktion seiner magischen Elemente befasste. Schon Magda Zavala hob die doppelte narrative Struktur des Romans hervor. Die präkolumbische Vergangenheit sei als parallele Geschichte präsent, die sich zwar in der Vergangenheit ereignet habe, aber in der Gegenwart »por una especie de reincarnación del espiritó de la mujer indígena en el personaje femenino que se ubica en el momento de la lucha antisomocista« (Zavala, 1990: 218) neues Leben gewinne. Diese Perspektive unterscheide sich wesentlich von der Haltung gegenüber der prähispanischen Vergangenheit in den Romanen des Cono Sur, in denen sie entweder abgelehnt oder voller Zärtlichkeit und Nostalgie erinnert werde, immer jedoch aus der Sicht einer Gegenwart, in der sie schon nicht mehr existiere, (vgl. ibid.) Auch Karl Kohut wies in einem 1995 veröffentlichten Aufsatz darauf hin, dass der von der India Itzá verkörperte indigene Mythos zu einem konstitutiven Element des Romans wurde, einer Art »magische Tiefenschicht, die das Geschehen in der Gegenwart mit Ereignissen aus der Zeit der spanischen Eroberung verbindet« (Kohut, 1995: 265).40 Ähnlich argumentierten Jorge Paredes, der von »dos historias paralelas« spricht: »la
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Beverley und Zimmerman schreiben dazu in Literature and Politics in the Centra! American Revolutions: »Belli served in a support group for the December 1974 hostage taking by the FSLN in Managua - her recent novel, La mujer habitada, is a fictionalized account of the action - so that when the Frente finally recognized her publicly as a militant, she had already become so 'burnt' that she had to leave the country.« (Beverley/Zimmerman, 1990: 89f.) Vgl. auch das Interview mit Gioconda Belli in Randall, 1999: 239-264, bes. 245f. Unter Anspielung auf den magischen Realismus spricht Kohut in Bezug auf den Roman Gioconda Bellis von »magischem Historizismus«. Der unterscheide sich vom magischen Realismus: Während dieser die Gegenwart magisch verfremde, mache der »magische Historizismus« die Vergangenheit in der Gegenwart sichtbar, (vgl. Kohut, 1995: 265, 268) Hervorzu-
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historia de Lavinia en lucha con sus demonios socio-culturales« und »la historia de Itzá, que se remonta (y el lector con ella) a cuatrocientos cincuenta años atrás« (Paredes, 1999: 1010), und Arturio Arias, der eine »hibridización« der sich nur scheinbar antagonistisch gegenüber stehenden Diskurse sich im Kampf um die Befreiung der Frau vollziehen sieht: »el discurso poético/mítico del indígena, y el discurso de la mujer moderna de fines del siglo XX« (Arias, 1998a: 236). In der Tat bestimmt bis in ikonografische Elemente und die Erzählperspektive bzw. Fokalisierung hinein diese Doppel struktur den Roman: Die Geschichte der Kriegerin Itzá von ihrem Kampf gegen die spanischen Eroberer wird in der ersten Person in »lyrischer Prosa« erzählt, die jeweiligen Passagen tragen als Erkennungszeichen einen Kreis; die Geschichte Lavinias von ihrer Politisierung und Integration in den bewaffneten Kampf als Guerillera von einem allwissenden Erzähler/einer allwissenden Erzählerin in einem epischen Stil und mit einem Quadrat als Erkennungszeichen. In Itzá wurde eine Repräsentation »de la conciencia cultural de los pueblos precolombinos sometidos por la conquista española« und in Lavinia eine Repräsentation der Guerillera als »protagonista y defensora del discurso occidental« (Paredes, 1999: 95) gesehen. Bis in die Ebene der metaphorischen Namengebung wurde eine Fortsetzung dieser Gegenüberstellung von magischem und logischem Denken (symbolisiert im Kreis und im Quadrat) ausgemacht: Itzá/Tautropfen symbolisiere das Kosmische, LaviniaHaphas (griechisch)/ Stein das Materielle, (vgl. Lagos, s. Fußnote"') Gleichzeitig wurde behauptet, in diesem Dialog der Kulturen komme der Stimme Itzás die dominierende Rolle zu, »validando el derecho de las culturas marginalizadas a tener su propia voz y espacios narrativos« (Paredes, 1999: 95); Itzá als Repräsentantin der magisch-mythischen Traditionen setze sich gegen den westlichen Feminismus Lavinias (die in Europa studierte) durch:
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heben sind meines Erachtens die Besonderheiten des Romans Bellis gegenüber dem Diskurs vom realismo mágico, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Funktion des Magischen. Der Roman Bellis scheint mir eher von dem Versuch geprägt, die Gegenwart in der Vergangenheit sichtbar zu machen, in dem Sinne, dass der Befreiungskampf der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts in der (re)konstruierten mythischen Vergangenheit seine Legitimation erfährt, (vgl. dazu weiter unten) Bereits 1991 wandte sich die in den USA lehrende Lady Rojas-Trempe in ihrem Aufsatz »La alteridad indígena y mágica en la narrativa de Elena Garro, Manuel Scorza y Gioconda Belli« von einer vergleichenden Perspektive aus dem Thema zu, danach beschäftigten sich unter anderem Arias (1998a), Paredes (1999) und die in den USA lehrende chilenische Literaturwissenschaftlerin Ramona Lagos mit der Thematik. Insbesondere zwei bisher nicht veröffentlichten, mir von Ramona Lagos freundlicherweise als Manuskript zur Verfügung gestellten Arbeiten verdanke ich zahlreiche Anregungen und Einsichten. Es handelt sich dabei um den Entwurf zu einem Kapitel (»Autoridad y subversión narrativa en La mujer habitada«) eines Buches über Gioconda Belli und um das Manuskript eines auf dem Vilo Congreso Internacional de Literatura Centroamericana im März 1999 in Managua präsentierten Vortrags (»Transgresión de lo imaginario-simbólico en Sofia de los presagios: De la fragmentación a la unidad«).
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»La mujer, primero, y Sofia de los presagios después, muestran claramente direcciones nuevas en sus discursos, a través de los cuales rescatan, validan y llevan a una posición central elementos de la cultura aborigen de Mesoamérica, convenientemente olvidados o silenciados hasta entonces. Leída desde una perspectiva cultural, La mujer nos hace participar de un viaje de (re)descubrimiento de los valores feministas heredados por los pueblos de Mesoamérica, de sus ancestros mayas.« (Paredes, 1999: 100, vgl. 101f.) In der Tat durchzieht den Roman eine Fülle von mythisch-magischen Motiven und Stoffen aus der Überlieferung der präkolumbischen Kulturen, denen sich in den letzten Jahren verstärkt einige Studien gewidmet haben.41 RojasTrempe sieht in der zentralen Rolle des Orangenbaums in Lavinias Garten, über den Itzá spricht und durch dessen Frucht sie in den Körper Lavinias eindringt, die literarische Verarbeitung des Baumsymbols, das in den präkolumbischen Kulturen »une el inframundo al universo y muestra su potencialidad para resurgir de la muerte a la vida« (Rojas-Trempe, 1991: 146). Dieser symbolische Bezug auf das (Weiter)Leben berge den Sinn des Romans in sich: Von seinem Epigraph bis zur letzten Zeile evoziere er »el renacimiento de los náhuatl y de sus creencias ancestrales« (ibid.). Auch andere Bezüge zu den präkolumbischen Konzeptionen werden hergestellt, wie zum Beispiel der Glaube, dass jedem Menschen abhängig vom Tag seiner Geburt eine Gottheit entspreche: So sei Itzá unter dem Schutz von Chalchiutlicue, der Göttin des Wassers geboren, ihre Schutz übertrage sich auf Lavinia und der ganze Roman sei von einem Animismus geprägt, der das menschliche Individuum mit dem Universum in der Magie vereine, (vgl. ibid.: 147f.) Paredes weist diese zahlreichen Bezüge zu den mesoamerikanischen Kulturen anhand einer Reihe von Parallelen zwischen Bellis Roman und dem Popol Vuh, dem Heiligen Buch der Maya-Quiché, nach. Neben dem Baumsymbol fuhrt er Itzá als Reinkarnation des Maya-Mythos von der »Gran Matriarca« bzw. der »Madre tierra« an, die im Popol Vuh den Namen Ixmucané trägt, (vgl. Paredes, 1999: 100-106) Wie das Buch der Mayas bestimme den Roman Bellis ein »principio de sustitución« (ibid.: 105) und eine zyklische Konzeption des Lebens: Lavinia als Verkörperung von Itzá als Verkörperung von Ixmucané, Lavinia als »heroe mítico al final de la novela, reiniciando y duplicando (con lo que se refleja claramente la concepción circular de la vida en las culturas precolombinas) el ciclo de vida y muerte de Itzá« (ibid.: 106f.). Für Lagos schließlich liegen dem Roman vier archetypische Strukturen bzw. ihre Umkehrung und Parodierung zugrunde, die Gioconda Belli zu einem subversiven literarischen Diskurs gestalte: der Archetyp des Fliegens, der auf den heiligen Vögeln der mesoamerikanischen kosmogonischen Tradition beruhe, der Archetyp vom Ritter Blaubart, der Archetyp Dornröschen und der Archetyp der Amazone. Wie die Symbole und Metaphern des Fliegens und die Verkörperung der Amazone in der Guerillera für den Freiheitskampf des Volkes und der Frauen im Allge-
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meinen stünden, so die Umkehrung der ideologischen Bedeutung der Märchen vom Ritter Blaubart und von Dornröschen für den Kampf der Frauen um ihre Befreiung im Besonderen: Lavinia erwacht aus ihrem Schlaf des begüterten bürgerlichen Lebens, um in der Guerilla aktiv zu werden (während ihre Freundin Sara ihn weiterhin schläft, eingeschlossen in eine traditionelle Familie, ihr Haus und ihren Wohlstand); nicht der Ritter Blaubart/der Guerillero-Mann/der Guardia Nacional-Marm, stehen im Zentrum, es sind die Frauen, die den Schlüssel zum Wissen und zur historischen wie privaten Erkenntnis in den Händen halten und den Raum dominieren. Auch in der Struktur des Romans hat man eine Dominanz des indigenen Diskurses Itzás angelegt gesehen. Er beginnt mit dem Eindringen Itzás in den Baum, der ihr »calendario«, ihre »propia vida« annimmt, »el ciclo de otros atardecers«: »Ha vuelto a nacer, habitado con sangre de mujer.« (9f.) Und er endet mit der Stimme Itzás, die aus dem Baum spricht: »Volvimos a la tierra desde donde de nuevo viviremos. / Nadie que ama muere jamás.« (338) (vgl. Arias, 1998a: 234f.; Paredes, 1999: 95, 107) Dazwischen werden das Leben und Sterben Lavinias erzählt, die sich quasi nach den »Anweisungen« Itzás vollziehen, zum Teil wird die Geschichte Lavinias nicht nur von der allwissenden Erzählerin in der dritten Person dargestellt, sondern auch von Itzá. Für Arias übernimmt der Diskurs Itzás die Rolle eines »rector ideológico« (Arias, 1998a: 237), der den Werdegang Lavinias kontrolliert und über ihren Tod hinaus gültig ist. Sie stirbt und kehrt wieder in die Erde zurück, aber beider Samen eröffnet einen neuen Lebens- und Kampfzyklus, an dessen Ende eine strahlende Zukunft steht: »Viviremos en el crepúsculo de las alegrías / en el amanecer de todos los jardines. / Pronto veremos el día colmado de la felicidad« (338), heißt es in Itzás Schlussmonolog. Die Gegenwart werde in Funktion der Vergangenheit konstruiert und die Vergangenheit setze sich in die Gegenwart und in die Zukunft fort wie ein Fluss auf dem Weg zum Meer, kommentiert Arias diese Schlusspassage, (vgl. Arias, 1998a: 237) Eine solche Interpretation übersieht nicht nur, dass Lavinia im zweiten Teil des Romans, wie Lagos anmerkt, eine fast absolute Dominanz im narrativen Diskurs gewinnt, sondern auch, dass nicht nur eine Vermischung zwischen dem indigenen Diskurs Itzás und dem zeitgenössischen Lavinias stattfindet (wie gesehen, unter der angeblichen Oberhoheit des ersteren), sondern eine »Hybridisierung« in einem viel weiteren Sinne als dem von Arias konstatierten. Wie weiter oben, insbesondere unter Bezug auf Ramona Lagos, festgestellt, vermischen sich in dem Roman mythisch-magische Substrate aus ganz unterschiedlichen Epochen, Regionen und Kulturen und fließen im politischen Engagement Lavinias zusammen. Dies wird vor allem deutlich an der zunehmend tragenden Rolle, die Lavinias Freundin Flor, von der sie für die »Bewegung« rekrutiert wird, im Fortgang der Handlung spielt, wie auch am Todesmotiv, das allgemein als zentral für den Roman angesehen wurde. Nicht durch den indigenen Diskurs eines ursprünglichen Feminismus der Bogenschützin
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Itzä, die sich auch gegen den machismo ihres Kampfgefährten Yarince durchsetzt (ein Anachronismus, mit dem die Autorin dem Patriarchalismus den Kampf erklärt), wächst Lavinia in ihre zentrale, aktive Rolle in der Guerilla hinein, auch nicht durch den bürgerlich-individualistischen feministischen Diskurs ihrer Tante Inés, sondern durch den pragmatischen Diskurs der Mestizin Flor, der die indigene Tradition des Befreiungskampfes und die Befreiung der Frau gleichermaßen im aktuellen Kampf zum Sturz der Diktatur und für die politische Revolution aufgehen lässt. Dieser pragmatische Diskurs der Krankenschwester Flor, Repräsentation der unteren Volksklassen, stellt den Indigenismus und den Feminismus in den Dienst des Kampfes um nationale Befreiung bzw. für den Sturz den Diktatur, zusätzlich angereichert durch eine Prise klassenkämpferischer Ideen marxistischer Provenienz im Korpus des revolutionären Nationalismus. 42 Auch das Todesmotiv bzw. der Mythos vom ewigen Leben können keineswegs als unmissverständlicher Beleg der Dominanz prähispanischer Traditionen herangezogen werden, wie es gemeinhin unter Bezug auf das Epigraph aus Eduardo Galeanos Buch Memoria del Fuego getan wurde, in dem der Mythos von der Wiedergeburt und dem Sieg über den Tod der Makiritare-Indianer zitiert wird. (vgl. Paredes, 1999: 102f.; Rojas-Trempe, 1991: 144) Schon Ramona Lagos hat kritisch angemerkt, dass sich in diesem Epigraph wie in der Widmung für die Guerillakommandantin Nora Astorga zwei Seiten später - also in den zwei Paratexten, die dem Roman vorangestellt sind - der Rückgriff auf den indigenen Mythos mit den neuen politischen Mythen des heroischen Todes im bewaffneten Kampf vermischt, der seine Ursprünge in der okzidentalen Tradition des christlichen Opfermythos hat und zum zentralen Ideologem der für eine neue Gesellschaft kämpfenden Guerillabewegung wurde: »Patria libre o morir«. 43 Wie in der Testimonialliteratur wird der (heroische) Tod zur Voraussetzung des (neuen) Lebens (Menschen), die Gegenwart wird als Kontinuität der Vergangenheit konstruiert, die Vergangenheit in Funktion der Gegenwart und
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Zu dem dreifachen feministischen Diskurs und der Rolle Flors in diesem Zusammenhang vgl. ausführlich das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«. Lagos vermerkt, dass Eduardo Galeano und Nora Astorga inzwischen selbst zu Ikonen des nationalen Befreiungskampfes in Lateinamerika, insbesondere des politischen Engagements der Intellektuellen, geworden sind und selbst fast schon mythische Dimensionen angenommen haben. Nora Astorga war führendes Mitglied des FSLN und wurde u.a. durch ihre Unerschrockenheit im bewaffneten Kampf bekannt. Berühmtheit erlangte sie u.a. durch die Verurteilung und Hinrichtung eines der schrecklichsten Folterer der Guardia Nacional, des Generals Reinaldo Pérez Vega, noch während des Guerillakampfes 1977. Nach der Revolution war sie designierte Botschafterin Nicaraguas in den USA, wurde aber vom State Department zurückgewiesen; danach wurde sie als Repräsentantin Nicaraguas vor den Vereinten Nationen nominiert. Sie starb in den achtziger Jahren an Krebs. Der uruguayische Schriftsteller und Philosoph Eduardo Galeano gilt weltweit als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der lateinamerikanischen Linken.
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Zukunft. Der Roman habe eine über-individuelle und über-nationale Dimension und stelle die sandinistische Revolution als letztes Glied einer historischen Abfolge dar, argumentiert Kohut in seinem bereits zitierten Aufsatz: »der Freiheitskampf Lavinias ist der einer Frau, eines Volkes, eines Kontinents. Der Roman singt das Lied der Hoffnung auf eine bessere Zukunft Lateinamerikas.« (Kohut, 1995: 268) i4 Wie Gioconda Belli in dem weiter oben zitierten Interview selbst nahe legt, wird die indigene Tradition in Funktion der aktuellen politischen Kampfziele und -notwendigkeiten gesehen, der Mythos als Legitimation des bewaffneten Kampfes, die Magie als Urgrund der Revolution.45 Der Diskurs Itzás wurde als grundlegende Infragestellung »de las metanarrativas histórica y religiosa, impuestas por los españoles a los pueblos hispanoamericanos« (Paredes, 1999: 109) interpretiert, als Dekonstruktion der offiziellen Geschichte der Conquista und der ihr zugrunde liegenden philosophischen und religiösen Prinzipien, (vgl. ibid.: 110) Die Beschränkung auf diesen Aspekt ignoriert seine Vermischung mit den aus der europäischen Tradition stammenden kulturellen Substraten zu einem Amalgam einer Konzeption der Konstruktion nationaler Identität, die ihre Wurzeln in den europäischen Metaerzählungen nicht verleugnen kann. Mutatis mutandis scheint mir auf Bellis Roman zuzutreffen, was Rojas-Trempe in ihrem Essay über die Rolle der Magie in den Werken Elena Garros, Manuel Scorzas und Gioconda Bellis schlussfolgerte: »Si bien es cierto que la sociedad capitalista moderna tolera mal todo lo que se relaciona a la magia, no obstante la dota de un aspecto utilitario. La magia también se subordina a las demandas del sistema actual.« (Rojas-Trempe, 1991: 152) Ähnliches gilt für ihren dritten Roman, in dem Gioconda Belli den Rekurs auf
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Barbara Dröscher merkt kritisch an, dass gerade die für die Konstruktion einer weiblichen Tradition des Widerstands so zentrale Figur Itzá kaum konkrete Züge trage. Im Gegensatz zu ihrem männlichen Kampfgefährten Yarince, dessen Name an einen gegen die Konquistadoren kämpfenden Indianerhäuptling aus dem 17. Jahrhundert erinnere, bleibe Itzá (wie das Mayavolk im Süden Mexikos hieß, das sich am längsten der Conquista widersetzte) nur »ein allgemeiner Verweis auf den indigenen Widerstand« (Dröscher, 1996b: 15). Dröscher sieht den Diskurs Itzás von Lavinia bestimmt: »Itzá wird beim Erinnern von den Impulsen geleitet, die sie in der Konfrontation mit der Lebensweise der fortgeschrittenen' modernen Mestizin erhält. Sie hat deren als gegeben vorausgesetzten individuellen Emanzipationsprozeß nachzuholen. Die indigene Figur bleibt Projektionsfläche für eine unreflektierte Sehnsucht nach Verwurzelung der Frauenbewegung in Tradition.« (ibid.: 16) Unübersehbar greift Gioconda Belli hier Gedankengänge auf, die bereits fünf Jahre vor der Revolution in einem Buch mit dem Titel Raíces indígenas de la lucha anticolonialista en Nicaragua, de Gil González a Joaquín Zavala (1523 a 1881) von dem Guerillakommandanten und späteren Minister der sandinistischen Regierung Jaime Wheelock (1980) entwickelt wurden. In diesem Buch wird die indianische Kampftradition gegen die spanische Eroberung und Herrschaft von einer strikt proletarischen Klassensicht aus rekonstruiert, (vgl. dazu Mackenbach, 1995a: 170f.)
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den Mythos von der »Madre tierra« fortsetzt und mit dem Mythos vom verlorenen Paradies vermischt: Waslala. Memorial del futuro (1996a). Der Roman erzählt die Geschichte einer Suche. Melisandra, die Enkelin des Poeten Don José (in dem ohne Probleme die Figur des Schriftstellers José Coronel Urtecho wiederzuerkennen ist, ursprünglich einer der Protagonisten der literarischen Avantgarde der dreißiger und vierziger Jahre dieses Jahrhunderts in Nicaragua und einer der »Väter« der modernen nicaraguanischen Literatur),46 und der junge nordamerikanische Journalist Raphael machen sich von den Ufern des Rio San Juan im Süden von Faguas (Nicaragua) auf die Reise, um den mythischen und utopischen Ort Waslala und die Eltern Melisandras zu suchen, die an diesem Ort verschwunden sind. Ihre Mutter war ebenfalls einstmals dorthin aufgebrochen und hatte ihre dreijährige Tochter bei den Großeltern zurückgelassen. Diese in das dritte Jahrtausend vorverlegte Reise, die der Struktur der mythischen Erzählungen folgt,47 fuhrt die beiden mit ihren Begleitern durch ein Nicaragua, das von den aus den heutigen Tendenzen extrapolierten Schrecken von Krieg und Bruderkrieg, ausländischer Intervention, Verarmung und Verwüstung heimgesucht wird. (vgl. Dröscher, 1996b: 17) Schließlich finden sie den idyllischen Ort und Melisandras Mutter, die als Einzige zurückgeblieben ist und die Erinnerung an die Legende wach hält, ihren utopischen Wert für die Zukunft verkörpert, denn Waslala ist inzwischen ein unbewohnter Ort - eine Metapher für das Festhalten an der Utopie einer gerechteren Gesellschaft auch nach dem Scheitern der Revolution und an den ursprünglichen revolutionären Idealen trotz ihres Verrats durch ihre Vollstrecker-Kommandanten (sechs Jahre nach dem Ende des revolutionären Projekts veröffentlicht).48 In ihr vermischen sich nicht ohne Widersprüche das Motiv vom Verrat der Mutter und der Suche nach weiblicher Identität, die in der von Frauen geschriebenen Literatur Mittelamerikas »als ein Schlüssel zum Verständnis der Konstruktion von Geschlechterverhältnissen und der Identitätssuche von Frauen in Lateinamerika überhaupt« (ibid.) gelten, mit dem indianischen Mythos von der »Mutter Erde« und dem Mythos vom verlorenen Para-
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Der Roman zeichnet ein harmonisches Bild des nicaraguanischen Poeten, dessen politische und ästhetische Entwicklung durchaus widersprüchlich verlief. So gehörte er zunächst einer streng konservativen katholischen Tendenz an, die sich gegen die Demokratie als Staatsform richtete und den General Franco verherrlichte, später wurde er zum glühenden Verteidiger des Sandinismus und der sandinistischen Revolution. Der Roman dagegen ist eine unkritische Hommage, in dem diese Widersprüche vollkommen ausgeblendet sind. (vgl. zu dieser Kritik auch Marenco, 1996: 3) Isolda Rodríguez Rosales zählt unter Bezug auf Propp und Greimas die folgenden Elemente auf: »la salida del héroe, la prueba, el adversario, derrota de éste, las alianzas, y el retorno del héroe« (Rodríguez Rosales, 1999: 126; vgl. auch Dröscher, 1996b: 17) In Gestalt der das Land terrorisierenden Brüder Espada enthält der Roman u.a. eine bissige Karikatur der Brüder Daniel und Humberto Ortega (vgl. Dröscher, 1996b: 17); vgl. auch ausfuhrlich das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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dies, der »seit mehr als 5000 Jahren eine Konstante der Weltliteratur« (Rössner, 1988: 34) ist.49 Die Figur der Mutter bleibt seltsam und unglaubwürdig: Sie scheint eine Indiofrau zu sein, aber ihrer Herkunft nach kann sie es nicht sein; vielmehr symbolisiert sie das Archaische: die Erde. Die Utopie verweist zwar auf eine bessere Zukunft, sie wird aber aus der Regression auf ein verlorenes Paradies gewonnen: »als ein erstrebenswerter Zustand also, der durch eine Fehlentwicklung der menschlichen Zivilisation verlorengegangen ist und nun wenigstens in der literarischen Fiktion zurückgeholt werden soll« (ibid.: 36). Die Zukunft - die Utopie - wird konstruiert aus der Vergangenheit - dem »goldenen Zeitalter« - , sie bedient sich des Mythos bei der Projektion ihrer utopischen Veränderungswünsche, (vgl. dazu allgemein ibid.: 37)50 Auch Orlando Núñez Soto stellt in seinem erstmals Ende der achtziger Jahre erschienenen Roman Sábado de gloria (1987, 1990) ähnlich wie Gioconda Belli in La mujer habitada die Verbindung zwischen Mythos und Revolution in einer parallelen Struktur dar: Im ersten Drittel des Romans wechseln sich die Erzählung von den letzten Tagen des Aufstands (in der Stadt León) erzählt von einem extradiegetischen Erzähler in der dritten Person, also mit »Nullfokalisierung« - mit der Erzählung von Legenden der indigenen Bewohner des damaligen Dorfes während und kurz nach der Conquista ab, insbesondere von ihrem Widerstand gegen die spanischen Eroberer und ihren Überlebensstrategien - erzählt aus der Sicht des »maestro Chan«, also unter Fokalisation auf einen intradiegetischen Erzähler. Diese Elemente werden ergänzt durch den Rekurs auf zahlreiche Legenden, die als magische Substrate in der nicaraguanischen Volkskultur unter Vermischung mit aus Spanien stammenden Volkslegenden überlebt haben, wie zum Beispiel die Legenden vom »caballo de Arrechavala«, von der »Carreta Nagua« und der »Cegua«, wie sie sich durch den ganzen Roman ziehen (vgl. 19, 30, 71, 225, 226, 236).51 Wie in
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Vgl. dazu allgemein Rössner, 1988: bes. 34-37, und zu Lateinamerika: bes. 175-243. Vgl. dazu Rössners Argumentation, insbesondere zur europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts (1988: 37); zu den Parallelen zwischen der Literatur der europäischen Romantik und dem Roman Gioconda Bellis vgl. das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution« der vorliegenden Arbeit. Hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe von 1990. Zum Begriff der Fokalisierung bzw. Fokalisation vgl. Genette, 1992: 75-79. Genette unterscheidet zwischen interner und externer Fokalisation, also einer Fokalisation, die sich auf die Erklärung der Subjektivität der Personen von innen konzentriert, und einer Fokalisation, die »sich eines jeden Übergriffs auf die Subjektivität der Personen« enthält, »um statt dessen lediglich ihre von außen und ohne Erklärungsbemühung gesehenen Handlungen und Gefühle zu berichten« (ibid.: 77). Unter »Nullfokalisierung« versteht er einen Erzählmodus, »in dem die Erzählung keinen Blickpunkt' zu privilegieren scheint und sich nach Belieben in das Denken all ihrer Personen einfühlt« (ibid.: 78). Genette unterscheidet zwischen vier Möglichkeiten des Erzählstatus: extradiegetisch (Erzähler außerhalb der erzählten Geschichte) mit den zwei Varianten extradiegetisch-heterodiegetisch (erzählt wird eine fremde Geschichte) und extradiegetisch-homodiegetisch (erzählt wird die eigene Geschichte), intradiegetisch (Erzähler innerhalb der erzählten Geschichte) mit
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anderen nicaraguanischen Romanen der achtziger und neunziger Jahre dient dieser Rekurs auf die magische Welt der Indios offensichtlich dazu, eine historische Kontinuität und Legitimation des Kampfes gegen die Diktatur und der Revolution zu konstruieren: » [...] los indios de Acahualinca resucitando en los mestizos de la Ciudad-Catedral« (23). Allerdings bleiben diese Passagen im Gegensatz zu anderen Romanen (etwa Gioconda Bellis) mit dem Rest der Handlung weitgehend unverbunden, bestimmen nicht erkennbar das Verhalten der handelnden Personen, in den restlichen zwei Dritteln des Romans spielen sie überhaupt keine Rolle mehr. An ihre Stelle tritt im zweiten Teil des Romans der Rekurs auf Europa.52
Herz des Himmels und Reich des Bösen: Die Magie als Verheißung der Revolution? Als durchweg bestimmendes Element erscheint der Rückgriff auf die mythisch-magischen Traditionen in dem Roman des nicaraguanisch-guatemaltekischen Autors Franz Galich: Huracán corazón del cielo (1995).* »Un buen día los indios van a bajar de la montaña y entonces sí vamos a ver lo que es bueno« (37) - wie ein Leitmotiv zieht sich dieser Satz der Großmutter des (zum Teil autobiografisch zu verstehenden) Protagonisten Giordano durch den Text. In einer magisch-mythischen Schlussszene beschwört der Roman diese Verheißung. Huracán Corazón del Cielo, Herz des Himmel, aus dem Heiligen Buch der Quiché, entführt die in der Opposition gegen die Militärdiktatur aktiven Freude Carmina, Giordano und Hunahpú (dessen Name ebenfalls dem Popol Vuh entlehnt ist) in die Lüfte und fliegt mit ihnen ins endlose Blau des Himmels. Zuvor lässt er sie aus dieser Vogelperspektive auf die große Ver-
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den zwei Varianten intradiegetisch-heterodiegetisch (Erzähler ist von der erzählten Geschichte unabhängig) und intradiegetisch-homodiegetisch (Erzähler ist in die erzählte Geschichte involviert), (vgl. ibid.: 41-46) Vgl. dazu das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«; zu dem Roman vgl. ausführlich auch das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«. Zu Franz Galich vgl. die Fußnote 101 im Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«. Von der Herkunft des Autors und von seinem Thema her gehört der Roman zur guatemaltekischen Literatur. Dass er hier im Rahmen einer Studie zum nicaraguanischen Roman behandelt wird, hat im Wesentlichen drei Gründe: Zum einen wurde er in Nicaragua geschrieben, veröffentlicht und zuerst rezipiert. Zum anderen steht er für Tendenzen, die durchaus auch für die nicaraguanische Romanliteratur der neunziger Jahre typisch sind. Schließlich repräsentieren Autor und Werk den für Zentralamerika nicht seltenen Fall einer doppelten, gespaltenen oder multiplen Nationalität, die Ergebnis der jüngsten politischen Entwicklung in der Region ist, und die Präsenz von Autoren in verschiedenen Nationalliteraturen (wie zum Beispiel auch Gloria Guardia für Nicaragua und Panama, Horacio Castellanos Moya für El Salvador und Honduras). Zu einer ausfuhrlichen Auseinandersetzung mit Galichs Roman vgl. Mackenbach (1995d und 1995e) sowie Pérez Cuadra (1997).
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Sammlung der Krieger auf dem Hauptplatz von Tikal blicken, die sich unter dem Klang der Marimbas zum Kampf gegen die Herren von Xibalbá, dem Reich des Bösen, rüsten. Herz des Himmels spricht: »Hoy es el comienzo del fin del túnel, cenotl del alma ... El principio fue hace muchos años, en los llanos de Xelajú, Tecúm-Umán contra Tonatiú, Avilantara, vil adelantado. / Hoy es contra la rapiña gringa y el mísero traidor. El Xequijel se volverá a teñir de rojo, pero ahora la sangre tendrá doble afluente.« (159) Außerliterarischer Bezugspunkt des Romans sind die traumatischen Leidenserfahrungen Guatemalas in den siebziger und achtziger Jahren. Wie sich indianische Mythen und politische wie soziale Realität im Guatemala des 20. Jahrhunderts unentwirrbar verbinden, so in dem Roman. Im narrativen Diskurs vermischen sich die Zwillingsbrüder Hunahpü und Ixbalanqué aus dem Popol Vuh, Indios und Guerilleros, Xibalbá, das Reich des Bösen, US-Invasoren und die nicht abreißende Kette der diktatorischen Regimes einheimischer Tyrannen. Der Autor evoziert die mythische Tradition der Quiché nicht in pittoresker Absicht, es geht ihm nicht um folkloristisches Kolorit oder regionalistische Färbung. Nichts liegt ihm ferner als ein naiver Indigenismus, die Beschwörung einer heilen Welt des »guten Wilden« oder die Konstruktion einer ungebrochenen Kontinutität vom indigenen Widerstand bis zum nationalen und sozialen Befreiungskampf des 20. Jahrhunderts. Sein Thema sind die natürlichen und gesellschaftlichen, das heißt menschlichen, Katastrophen und Verwerfungen eines von der Moderne geschüttelten Guatemala an der Schwelle zur endgültigen »postmodernen« Marginalisierung im Zuge des anscheinend unaufhaltsamen Siegeszugs des nördlichen Industrialismus. Der Roman erzählt, wie die Naturkatastrophe (das große Erdbeben am 4. Februar 1976) und der Bürgerkrieg mit seinem allgegenwärtigen Terror von Seiten des Staates und der US army die guatemaltekische Gesellschaft in einen Strudel der Zerstörung nicht nur der geografischen und physischen Gegebenheiten des Landes reißt, sondern vor allem die traditionellen Werte und Gewissheiten untergräbt. Die untrennbare Verquickung der Naturkatastrophe bzw. ihrer sozialen und ökonomischen Folgen mit dem Terror des Regimes zerreißt die bereits tief gespaltene guatemaltekische Gesellschaft weiter. Sie überlagert die traditionelle Spaltung in Indios, Ladinos, Criollos und Weiße, verschärft sie aber auch weiter, sind es doch die Indios, welche die soziale Hauptlast der Folgen des Erdbebens zu tragen haben und den größten Blutzoll im Bürgerkrieg erbringen.54 Die traditionellen Werteinstanzen - katholische Kirche, liberale und konservative Parteien -verlieren in diesen Jahren ihre Bedeutung; exemplarisch dargestellt an dem Brüderpaar Giordano und Hunahpü, die sich poli-
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Mit Ladinos werden in Guatemala die Personen bezeichnet, die weder der indigenen noch der kreolischen Kultur zugerechnet werden, insbesondere werden von den Indios Menschen weißer Hautfarbe so bezeichnet.
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tisieren, in die Opposition gehen, in der Guerilla aktiv sind, verhaftet und gefoltert (der eine auch getötet) werden, und an Carmina, die direkt von der Nonnenschule zur Guerilla geht und so ihren christlichen Glauben lebt: »El marxismo, pensaba Carmina, no niega la esencia espiritual del hombre, más bien la fortalece al buscar la igualdad entre ellos. La revolución es la Buena Nueva de la historia. Es la alborada de la paz y la justicia.« (146) Guatemala, zerrissen von ethnischen Spaltungen, den Folgen des Erdbebens und des Bürgerkriegs, dem allgegenwärtigen Staatsterror: eine Gesellschaft ohne gemeinsame Identität, ein Land unter Dauerschock. Bis in seinen Aufbau und die literarischen Techniken hinein reflektiert der Roman die Gespaltenheit dieses »modernen« Guatemala. Er besteht aus fünf Kapiteln, die alle aus unterschiedlicher Perspektive und unter Verwendung unterschiedlicher Textsorten geschrieben sind. Das erste Kapitel (Quequema Ha, Casa Oscura) erzählt in Anlehnung an den so oft beschworenen »magischen Realismus« des großen Meisters der guatemaltekischen Literatur, Miguel Angel Asturias, von zwei Freunden, die das Erdbeben eingeschlossen in einem dunklen Haus überleben und jeden Bezug zur gesellschaftlichen, ja irdischen Realität verlieren. Bereits hier sind die mythischen Wurzeln in der Maya-Tradition unübersehbar, die sich durch den ganzen Roman ziehen. Das zweite Kapitel (Cuculhá Huracán, Relámpago Verde) ist am ehesten autobiografisch geprägt und berichtet (in der ersten Person) von der Jugend Giordanos im Guatemala des Erdbebens und des Bürgerkriegs, aber auch der (bewaffneten) Opposition. Giordano, dessen Name (nicht von ungefähr von dem großen italienischen Häretiker Giordano Bruno entlehnt) erst im letzten Kapitel genannt wird, kann aber auch als Protagonist einer ganzen Generation guatemaltekischer Intellektueller und Oppositioneller verstanden werden. Auch in diesem Kapitel sind die magisch-mythischen Bezüge unübersehbar: Giordano und sein Bruder Hunahpú sind direkt den Zwillingsbrüdern des Popol Vuh und ihrem Kampf gegen die Herren von Xibalbá, des Reichs des Bösen, nachempfunden. Das dritte Kapitel (Cartas a Xibalbá, Correo Coyote las llevará) besteht aus einem kurzen Brief an einen nicht namentlich genannten »Señor Presidente, Palacio Nacional« (auch das eine Anspielung auf Asturias und dessen Roman El señor presidente), unterzeichnet von Atanasio Tzul, »Rey de Totonicapán«, und Lucas Aguilar, »Presidente«, in dem diese die tyrannische Politik des Diktators und seine völlige Unterwerfung unter die nordamerikanische Regierung denunzieren, geschrieben im Stil der politischen Propaganda der siebziger Jahre. Atanasio Tzul und Lucas Aguilar sind authentische Personen der guatemaltekischen Geschichte, genauer der Indios in Guatemala: Indioführer, die nach der Unabhängigkeit des Landes von Spanien im 19. Jahrhundert einen Krieg gegen die Regierung führten und ein unabhängiges Königreich, das »Reino de Totonicapán«, ausriefen. Der Text des Briefes (dem im letzten Kapitel weitere folgen) ist Fiktion. Das vierte, den Stil der testimonios parodierende, Kapitel (Diario de un kaibil) besteht aus den (fiktiven)
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Aufzeichnungen eines Angehörigen der guatemaltekischen Spezialeinheit zur Guerillabekämpfung. 55 Das fünfte Kapitel (Huracán) nimmt alle diese Erzählfaden wieder auf: Aus dauernd wechselnden Perspektiven erzählen (bzw. wird von ihnen erzählt) Giordano, Carmina, Hunahpú, aber auch »El presidente«, dazwischen zeitgenössische politische Texte, Zeitungsartikel, Textfragmente aus dem Popol Vuh, die Briefe an Xibalbá - ohne dass dieses »Finale« in einer Synthese, gar einem »Schluss« im traditionellen Sinne enden würde. Der Roman endet da, wo er begonnen hat: als die Erde sich auftat, ihren Todeszoll forderte, nichts mehr war wie früher - aber auch mit der Verheißung einer zukünftigen großen Umwälzung, in der sich die präkolumbischen Traditionen mit der christlichen Kultur und der Guerillaideologie vermischen. Ähnlich wie in Gioconda Bellis Roman La mujer habitada spielt das Todesmotiv eine zentrale Rolle: Wer im Kampf gegen die Herren von Xibalbá, Huncamé und Vucub-Camé, stirbt, so berichtet der Popol Vuh, kommt direkt ins Paradies; die christliche Religion verheißt ein Weiterleben im Jenseits. Dies vermischt sich mit der politischen Realität der sechziger, siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, den neu-alten Mythen der bewaffneten Guerilla: Wer im Guerillakampf fallt, wird zum Helden und Märtyrer. Diese Omnipräsenz des Todes durchzieht das ganze Buch. Der indigene Diskurs und der zeitgenössische Diskurs von der nationalen und sozialen Befreiung am Ende des 20. Jahrhunderts werden jedoch nicht in zwei parallelen (Erzähl)-Strukturen dargestellt, stehen nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Vielmehr vermischen sie sich unentwirrbar in einem vielstimmigen Chor, einem Inter- und Hypertext der unterschiedlichen kulturellen, ethnischen, politischen und literarischen Traditionen, wie der nicaraguanische Kritiker Alvaro Urtecho schrieb: »Galich (escritor versado en los libros sagrados indígenas y buen conocedor de las técnicas de la narrativa moderna) utiliza muy hábilmente los procedimientos intertextuales de yuxtaposición de imágenes y perspectivas distintas, logrando lo que Bajtin denomina estructura polifónica. Es decir, una convocación de voces: las de la historia real, trágica y prosaica, y las del mito, poéticas y esperanzadoras, llenas de rumor de hojas, de rumor de selvas y atabales oraculares, oscilantes entre la profecía y la utopía.« (Urtecho, 1995: o.S.) Wie das vierte Kapitel über einen »ideellen« Hypotext des testimonios geschrieben ist, so die anderen Kapitel als Hypertexte über ideelle und reale indigene Dokumente bzw. ihre Übersetzungen sowie über Texte der beiden großen Gestalten der guatemaltekischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Miguel Angel Asturias und Luis Cardoza y Aragón: Wie die Anleihen bei Asturias' »magischem Realismus« unübersehbar sind, so die beim poetischen
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Vgl. das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«.
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und essayistischen Werk des guatemaltekischen Avantgardisten, das von einer Mischung aus fantastischer Fiktion, unterschiedlichen Sprachstilen und -ebenen, außergewöhnlichen Metaphern und autobiografischen Zügen geprägt ist; bis in Sprachspiele hinein parodiert Franz Galich Cardozas Werk. (vgl. dazu Mackenbach, 1995d und 1995e; Pérez Cuadra, 1997) Der Roman präsentiert sich als Pastiche, geschrieben über die unterschiedlichen (mündlichen und schriftlichen) literarischen Traditionen des Landes56 - als eine Art literarisches Wandgemälde der guatemaltekischen Aktualität Mitte der neunziger Jahre, wie der Autor in einem Interview sagte (vgl. Pérez Cuadra, 1997: o.S.), und gleichzeitig als Allegorie einer zukünftigen gemeinsamen Nation, die auf einer so verstandenen vielfaltigen »guatemaltequidad« beruht. Am Ende des Romans beschwört Huracán Corazón del Cielo diese Zukunft: »Finalmente, en la patria, nuestro grande hogar, arderá el pom. En los patios y en nuestros corazones arderá el copal en señal de alegría, y se beberá la chicha sagrada. Pero para ello tenemos que enfrentar y derrotar a los señores de Xibalbá, los que le han dado a nuestra patria una imagen mala. Nosotros la habremos de volver buena ... « (160) Es ist eine Nation, so die nicaraguanische Kritikerin María del Carmen Pérez Cuadra, die von der mündlichen Überlieferung, den Berichten, den Substraten der indigenen Kulturen, der Intellektuellen, den Religionen repräsentiert werde, die Idee einer »nación, real, maravillosa, mítica que se debate entre las fuerzas mágicas, la hegemonía indígena, el pensamiento de las clases medias y el gobierno militar; sintetizándola en un mosaico en el que se sostiene la estructura de su obra« (Pérez Cuadra, 1997: o.S.): das Pastiche als Allegorie einer anderen, offeneren, nicht autoritären Nation in einem historischen Moment des Übergangs in Guatemala, als der Bürgerkrieg zu Ende ging."
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Dies kommt auch in den Paratexten und den ikonografischen bzw. ikonotextuellen Elementen des Romans zum Ausdruck, wie zum Beispiel im Titel und den Kapitelüberschriften, den beiden Epigraphen von Henry James (5) über die Kunst des Romans und aus dem Popol Vuh (7) sowie in der Wiedergabe eines Fragments des Codex Dresdensis auf dem Umschlag, einer Karte des Corregimiento del Valle de Guatemala aus dem 18. Jahrhundert (11) und den Figurentexten (calligrammes) am Ende des Buches (vgl. 161-164), u.a. der auf Techniken des Dadaismus und der konkreten Poesie rekurrierenden Darstellung des Datums des Erdbebens in »hüpfenden« Buchstaben bzw. wellenlinienförmigen Zeilen (vgl. 161) und dem als Hand gestalteten emphatischen Text über »la mía piel de Guatemala de mis temblores« (162), der intertextuell auf Luis Cardoza y Aragóns berühmten Essay über die guatemaltekische Geschichte, Kultur und Gesellschaft, Guatemala, las lineas de su mano (1955), verweist, (vgl. dazu auch Pérez Cuadra, 1997) m Dezember 1996 wurde der militärische Konflikt, der Anfang der sechziger Jahre begonnen hatte, mit der Unterzeichnung eines Friedensvertrages zwischen der Regierung und der Guerillabewegung URNG beendet.
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Hexe, Kobold und Gespenst: Die Magie und die Widersprüche der Revolution Ebenfalls in einer Situation des Übergangs in Nicaragua erschienen (dem bereits wiederholt zitierten Jahr 1990, als die Sandinisten die Macht verloren), ist im Gegensatz zu dieser Vielstimmigkeit auch der zweite Roman, den Gioconda Belli unter dem Titel Sofia de los presagios (1990a) zwei Jahre nach La mujer habitada vorlegte, von einem parallelen Diskurs zweier Stimmen geprägt. Im Mittelpunkt steht auch hier die Suche der Frau nach persönlicher und öffentlicher Identität. Sofía, die Protagonistin, ist in vielfältiger Hinsicht von ihrer Andersartigkeit geprägt: als von ihren Eltern verlassene Tochter, als Kind eines Zigeunervaters in einer mestizisch und zum Teil indianisch geprägten Gesellschaft, als Frau in einer vom machismo dominierten Kultur. Um sich als menschliches Wesen mit eigener Identität zu konstituieren, muss sie eine Reihe von weltanschaulichen, religiösen, gesellschaftlichen und institutionellen Hindernissen überwinden: die rassischen und religiösen Vorurteile der mestizisch geprägten und im katholischen Glauben erzogenen Bewohner von Diriá, einem Dorf in den Bergen südlich von Managua, gegen das Mädchen ohne Herkunft, für die sie bis zum Ende eine »extranjera, intrusa, hija de los judíos errantes'« (182) bleibt, und vor allem die Ehe, die ihr jegliche Freiheit und Eigenständigkeit raubt.58 Erst indem sie auf die magischen Kräfte Xintals, der indianischen Hexe, die an den Hängen des Vulkans Mombacho lebt, rekurriert, eine Reihe von mysteriösen Riten durchläuft, darunter die Taufe ihrer kurz zuvor geborenen Tochter Flavia, und sich der Anrufung einer vor-patriarchalischen Religion anvertraut, deren Geheimnisse nur Xintal und die anderen indianischen Zauberer des Dorfes - »Diriá, pueblo de brujos« (9) - kennen, kann sie das Rätsel ihrer Herkunft lösen und ihre Mutter, von der sie als kleines Kind verlassen worden war, wiedergewinnen. Sie erkennt, dass ihre Mutter sie nie verlassen wollte und sie weiterhin liebt, und gewinnt aus dieser Wiederherstellung der Mutter-Tochter-Beziehung ihre Identität, die sich wiederum auf ihre Tochter überträgt. Diese Identität hat ihren Urgrund in der Verschmelzung von Frau, Mutter und Erde im indianischen Mythos von der »Madre Antigua«, der von Xintal beschworen wird: »Para ella, la tierra es la mayor de las divinidades, la madre de todos los frutos y de toda la vida.« (110) Diese Identität ist Ergebnis einer doppelten Wiedergeburt durch die Kräuterfrau Doña Carmen und die Hexe Xintal, die in den magischen Kräften der »Madre Antigua« wurzelt: » [...] se unen las voces de Doña Carmen y Xintal a quienes el vientre les empieza a doler con el recuerdo de los partos. Xintal sabe que la Madre Antigua las está preñando para que vuelvan a dar a luz a la Sofía y ésta pueda renacer con un nuevo corazón que sea la unión de serpiente, 58
Hier und im Folgenden zitiere ich nach der 1997 bei anamá Ediciones Centroamericanas, Managua, erschienenen Ausgabe.
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jaguar y pájaro.« (216) Ähnlich wie La mujer habitada von der Beziehung zwischen Itzá und Lavinia bestimmt ist, so Sofia de los presagios von der zwischen Xintal und Sofía, ohne dass sie durch eine unterschiedliche narrative Fokalisation getrennt wären (beide Diskurse werden in der dritten Person erzählt). Xintals poetischer Diskurs repräsentiert die mythisch-magischen Traditionen, er stellt eine Kontinuität der Identität her, er eröffnet und beschließt den Roman: »Xintal. La bruja vieja que habita en el Mombacho«, so heißt es am Ende des ersten Kapitels, »siente un aire de presagios en el ambiente y pone rajas de canela en la puerta de su casa.« (11) Der Epilog schließt mit einer erneuten Zukunftsvision der Alten: »A través del agua, Xintal tiene la visión del tiempo rompiendo el círculo y liberando a la mujer de los designios torcidos de la madre [...] / La vieja sonríe su sonrisa antigua y comienza a caminar despacio hacia su casa mientras el sol rojo del atardecer enciende las llamas vegetales del volcán.« (287) Dazwischen liegt der Entwicklungsprozess Sofias, der (ähnlich wie in La mujer habitada) den Vorahnungen der Hexe folgt und erst in der körperlichen Vereinigung mit Xintal in der Mutter Erde und der daraus entspringenden Wiedergeburt Sofía ihre Identität finden lässt. (vgl. dazu Arias, 1998a: 242f.) Auch diesen zweiten Roman Gioconda Bellis kennzeichnet eine Vermischung kultureller - magisch-mythischer - Substrate unterschiedlicher Epochen und ihre Funktionalisierung im literarisch-politischen Kontext der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts, wie schon die Widmung des Romans suggeriert: »a Gisella y Sofía / a Carlos y mis hijos / a la magia« (5). Sowohl der Mythos von der Mutter Erde wie der Archetyp Hexe verkörpern vielfaltige, zum Teil widersprüchliche Traditionen, die als solche auch im Roman erscheinen. In ihrer kenntnisreichen vergleichenden Studie über die Archetypen Hexe, Heilerin und Wahrsagerin in von Frauen geschriebenen Werken der lateinamerikanischen und deutschen Literaturen hat Ute Seydel dargestellt, das der Hexenmythos einer der wichtigsten Mythen ist, die im Übergang vom Mittelalter zur Renaissance entstanden und sich während der Kolonialepoche auch in Lateinamerika verbreiteten. Wie sie allgemein in Bellis zweitem Roman ein Zusammentreffen von magischen, christlichen und marxistischen Konzepten feststellt, so betont sie im Besonderen, dass der Hexenmythos als solcher unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Elemente und Traditionen in sich vereint. In Bellis Roman konstatiert sie die Präsenz zweier Gruppen von Hexen: »el de las mujeres sabias de culturas precristianas o autóctonas« (Xintal) und »el de las mujeres estigmatizadas como brujas que ejercen cultos en culturas mestizas« (Sofía) (Seydel, 1996: 203, vgl. 157, 183, 204).59 Auch Milagros Palma hatte in ihrer Studie über die Mythen der Weiblichkeit in der nicaraguanischen Volkskultur bereits Belege für die Existenz 59
Als dritte Gruppe sieht Seydel »las brujas como seres fantásticos« (1996: 203): »Representan las partes no adaptadas como una posibilidad de desdoblamiento de las personalidades de las
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dieser beiden Archetypen (zum Teil aus den Werken von Chronisten wie Oviedo) zitiert: die Figur der Alten im mestizischen Volksglauben »in ihren zerlumpten Kleidern, mit ihrem gesenkten Blick« als »Inbegriff einer geheimnisvollen Person«, die »die mißratenen Kinder holt« (Palma, 1994: 106f.), Symbol des Todes, und die Alte in den präkolumbischen Vorstellungen (die zum Teil die mestizische Volkstradition durchdringen und zu einem widersprüchlichen Bild von der Hexe führen) »als Hüterin der Berge und der naturbelassenen, wilden Gebiete« (ibid.: 108), die an den Hängen der Vulkane lebt und eine von der Gesellschaft geachtete Position als Bewahrerin des Lebens innehat, in ihrer doppelten Funktion als Heilerin/Hüterin des medizinischen Wissens und Bäuerin/Bewahrerin der direkten Verbindung zur Erde. (vgl. ibid.: 110) Schließlich hat Ramona Lagos (vgl. Fußnote 41) auf die in der griechischen Mythologie verwurzelte Tradition des Mythos von der Mutter Erde aufmerksam gemacht: Der Name der rebellischen Mutter Sofias, Demetria, die Haus, Geborgenheit und Familie verlässt, um ihre Leidenschaft zu leben, verweist auf Demeter, Göttin der Erde und des Ackerbaus, wie ihr eigener Name ja auch in dieser Tradition steht. Auch der Titel der Originalausgabe Sofia de los presagios bringt diese Ambiguität der Figuren zwischen Wissen und Vorahnung, Vernunft und Magie zum Ausdruck.60 Zwar äußerte Gioconda Belli in einem Interview, sie habe mit Sofia de los presagios keinen politischen Roman schreiben wollen. Vielmehr sei er der Versuch, über die Bereiche zu schreiben, die die Revolution unberührt ließ: »la profundidad de los sentimientos de la mujer, la magia [...] todo ese mundo mitico que la mujer entiende tan bien, especialmente la mujer rural« (Randall, 1999: 258f.).6' Das Buch habe nicht autobiografisch sein sollen, sondern etwas vollkommen Fiktionales, das die nicaraguanische Volkskultur erkunde, (vgl. ibid.: 259) Indem Gioconda Belli den negativen Hexen-Archetyp durch den Rekurs auf den positiven präkolumbischen Archetyp der Alten unterläuft, indem die von der Gesellschaft verachtete Sofia in der Verbindung mit Xintal ihre weibliche Identität findet, dekonstruiert der Roman den traditionellen patriarchalischen Diskurs, der die um ihre Selbstbestimmung ringende Frau mit dem Archetyp der bösen Hexe stigmatisiert. In der Endphase des sandinistischen Regierungsprojekts geschrieben und 1990, im Jahr des Regierungsverlusts der Sandinisten, veröffentlicht, lag die (auch politisch) subversive Sprengkraft des Romans nicht nur darin, dass er die Rebellion der Frau gegen die patriacharchalischen Strukturen zum Ausdruck brachte, die traditionell in
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protagonistas y una manifestación de sus caracteres ambiguos.« (ibid.: 204) Sie sind in Bellis Roman nicht direkt vertreten, jedoch spiegeln sowohl Xintal wie Sofia Züge dieses Typs. Der Titel der deutschen Übersetzung Tochter des Vulkans eskamotiert leider diese Bezüge. Das Interview erschien 1994 in Sandino 's daughters revisited (Rutgers University Press), hier zitiert nach der spanischsprachigen Ausgabe Las hijas de Sandino. Una historia abierta (1999).
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der Mehrheit der Länder der sogenannten Dritten Welt herrschen. Er stellte gleichzeitig die Institutionalisierung einer Revolution unter Anklage, die sich zwar auch die Befreiung der Frau in der allgemeinen Befreiung des Menschen (des »hombre nuevo«) auf die Fahnen geschrieben hatte, aber vom Überleben der alten machistischen Strukturen bestimmt war: »La revolución no afecta los espacios subjetivos, los espacios irracionales, los espacios domésticos que conforman el grueso de la sociedad rural. Implícitamente se asume que la revolución afecta exclusivamente lo ideológico, que es el espacio del conocimiento sujeto a la racionalidad cartesiana.« (Arias, 1998a: 245)
Wie in La mujer habitada steht die Magie im Dienst des Kampfes der Frau um ihre Identität, im Unterschied zu ihrem ersten Roman jedoch in teilweisem Widerspruch zum revolutionären Projekt bzw. seinen Defiziten - die Magie im Dienst einer Reklamation der bisher nicht verwirklichten Ziele der allgemeinen Befreiung der menschlichen Individuen, im Dienst des Feminismus gegen den machismo-nacionalismo.62 Die Problematik der Weiterexistenz uralter patriarchalischer Strukturen und Verhaltensmuster nach der Revolution thematisiert auch Orlando Núñez Soto in seinem zweiten Roman, El vuelo de las abejas (1992). Das Gefühl der Hauptperson Laura, von einem Kobold bewohnt zu sein, steht hier für den Kampf der Frauen, die sich aktiv an der Revolution beteiligten, aber von den neuen Herren unter dem Etikett des »hombre nuevo« und vom Gewicht der traditionellen sozialen Institutionen wie der Ehe an einer wirklichen Befreiung gehindert werden. Dabei greift der Autor nicht von ungefähr auf die Denkfigur des Kobolds zurück, die ihren Ursprung in der Kolonialzeit hat, als die Frauen der spanischen Konquistadoren begannen, indianische Mädchen im christlichen Glauben zu erziehen und insbesondere für eine Ehe im christlichen Sinne vorzubereiten. Milagros Palma stellt in ihrer Studie über die Mythen der Weiblichkeit in Nicaragua eine Übereinstimmung zwischen dem prähispanischen patriarchalischen Denken und den christlichen Konzeptionen der Geschlechterbeziehungen fest, wodurch die »Unterwerfung unter die neuen Herrscher der höheren Kultur und Rasse« (Palma, 1994: 168) erleichert worden sei: »Das patriarchalische Denken war darauf ausgerichtet, die Frau zu überzeugen, daß für sie die Notwendigkeit besteht, sich durch die Ehe unter den Schutz des Mannes zu begeben. Das Bild des Kobolds hat eine der wichtigsten Rollen dabei gespielt, der Frau die Gefahren einer Welt voll männlicher Geister, die ihr ständig nachstellen, einzuschärfen.« (ibid.)
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Zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Roman unter dem Aspekt der Geschlechterkonstruktionen im Prozess der Konstitution der Nation vgl. das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«.
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Palma zitiert zahlreiche Stimmen aus dem Volk, insbesondere Bauern, die ein lebendiges Bild vom Kobold als einem Mann von der Größe eines etwa fünfjährigen Kindes entstehen lassen, der den ledigen, insbesondere ungetaufiten, Mädchen nachstellt. Diese Wesen leben in den Bergen in Erdhöhlen, ihr Gesicht ähnelt dem von Fröschen, mal sind sie ganz in Rot gekleidet, mal tragen sie lange Kindernachthemden, manchmal sitzen ihnen die Füße verkehrt herum an den Beinen und sie laufen rückwärts.63 Zwar führt Palma auch Erzählungen an, in denen die Kobolde riesige Schätze ihr Eigen nennen und als Bild der präkolumbischen Vorfahren erscheinen, die alles besitzen außer den Frauen, die ihnen von den Konquistadoren geraubt wurden. Deshalb hätten sie den Männern den Krieg erklärt und würden so lange nicht ruhen, bis sie wieder Frauen hätten, um ihre Weiterexistenz zu sichern, (vgl. ibid.: 170) Nünez Sotos Roman lässt diesen subversiven Aspekt allerdings unberükksichtigt. Das Bild des »mit ungeheurer Macht ausgestatteten Kobolds« bleibt bei ihm, wie auch Palma resümiert, »eine Konstruktion des männlichen Denkens« (ibid.: 173). Er ist ein Symbol des männlich-patriarchalischen Denkens, mit dem die jungen Mädchen im heiratsfähigen Alter terrorisiert und zur Heirat gezwungen werden sollen, in dem Roman ein Symbol der Weiterexistenz dieser Denk- und Handlungsmuster auch nach der Revolution, ein unmissverständlicher Hinweis auf die dem revolutionären Prozess zugrunde liegenden Widersprüche.64 Im Gegensatz zu Gioconda Belli, die die verschiedenen Hexenmythen zu einer Dekonstruktion des machismo nutzt, den einen Mythos durch den anderen zerstört, dekonstruiert Nünez Soto die patriarchalische Denkfigur des Kobolds nicht, indem er seine gegenläufigen Konnotationen ins Spiel brächte. Laura kann sich erst dann vom machismo befreien, als sie sich durch ihr Engagement in einem Frauenhaus endgültig von dem Gefühl der Besessenheit durch den Kobold losmacht. Im Gegensatz zu Sofia in Gioconda Bellis Roman findet sie dabei keine Unterstützung im Mythos selbst. Die Kobold-Männer in Gestalt einiger vom katholischen Klerus aufgestachelter ehemaliger Contras behaupten ihre Macht, schänden und ermorden die »Emanze«. Die Geister der Vergangenheit treiben fröhliche Urständ auch unter nachrevolutionären Bedingungen.
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Vgl. Palma, 1994: 168-173. Palma zitiert wörtlich die Geschichte von einem Mädchen mit Namen Laura, die von einem Kobold bedroht wird: »Als Laura, ein junges Mädchen, einmal die Kühe hütete, kam sie an einer Höhle vorbei, in der Kobolde lebten. Sie und ihr kleiner Begleiter hörten eine Stimme, die sie rief. Die Kobolde schenkten ihr Obst und Früchte und wollten bei ihr bleiben. Diese Männlein waren aus der alten Zeit.« (ibid.: 169) Sie verweist auch auf die Existenz der Legende bei den Miskito-Indianern der nicaraguanischen Karibikregion, unter denen Geschichten von den Kobolden als reichen Wesen kursieren, die mit goldgefüllten Truhen und Schätzen in Höhlen wohnen, (vgl. ibid.: 170) Zum Koboldmotiv allgemein vgl. auch Palma, 1987: 97-100. Vgl. zu dem Roman auch ausführlich das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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Eine andere Variante des Geister- bzw. Gespenstermotivs greift Monica Zalaquett in ihrem im gleichen Jahr veröffentlichten Roman Tu fantasma, Julián (1990) auf. Vermischt mit dem jüdisch-christlichen Mythos von Kain und Abel bestimmt das Gespenst Juliáns (worauf der Titel hinweist), das heißt die unerlöste, umherirrende Seele des von seinem Bruder José Benito in den politisch-militärischen Auseinandersetzungen der achtziger Jahre zwischen Sandinisten und Contras ermordeten Revolutionärs, das Verhältnis zwischen den beiden. Wie in den magischen Vorstellungen der nicaraguanischen Volkskultur die »almas en pena« und die »aparecidos« einen breiten Raum einnehmen, so im Roman. Den überlieferten mythischen Erzählungen vor allem des bäuerlichen Nicaragua liegt eine präkolumbische und christliche Elemente vermischende synkretistische Vorstellung von der Zweiteilung des Universums von Zeit und Raum zugrunde. Die Welt besteht aus zwei Ebenen: Die obere Ebene ist von Gott, Christus, Jungfrauen, Heiligen, Engeln und denjenigen bewohnt, die in Frieden mit den anderen starben. Allerdings finden diejenigen keinen Zugang, die bei ihrem Tod oifene Rechnungen und Versprechungen hinterlassen haben. Die Seelen von Personen, die Todesopfer eines Verbrechens sind, irren als Gespenster, Geister, Erscheinungen umher und terrorisieren die Lebenden, bis sie die an ihnen begangene Missetat rächen können und endlich Erlösung finden, (vgl. dazu Palma, 1987: 43f.) Wie einer dieser Geister der Vergangenheit sucht die umherrirrende Seele des ermordeten Julián seinen Bruder heim und wird nach den magisch-mythischen Vorstellungen erst dann Ruhe finden, wenn die Untat gerächt ist. Diese Rache erhält in dem Roman eine tragische Bedeutung angesichts der Tatsache, dass Julián und José Benito in dem Bruderkampf Revolution nur die beiden unentrinnbar miteinander verbundenen Seiten der »dualen« nicaraguanischen Identität verkörpern.65 Der Mythos von der »alma en pena« wird zur Metapher für die Gespaltenheit der nicaraguanischen Nation und die Widersprüche der Revolution.
Teufel, Geister und Tier-Menschen: Die Magie im Widerspruch zur Revolution Magisch-mythische Wesen treten gar in offenen Gegensatz zur Revolution in den Romanen von Milagros Palma selbst, ohne allerdings mit ähnlich negativen Konnotationen ausgestattet zu sein wie bei Orlando Nünez Soto. Mit dem Zusammenprall der neuen, von der Revolution geschaffenen Verhaltens- und Denkweisen und der überlieferten Lebensbedingungen, Gewohnheiten und Traditionen, der zugleich ein Zusammenstoß des städtischen und des bäuer-
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Vgl. dazu Delgado/Ramírez Lazo/Pérez Cuadra, 1995: 18f. und ausfuhrlich zu dem Roman insgesamt das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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liehen Nicaragua und unterschiedlicher sozialer Schichten ist, setzt sich Milagros Palma in ihrem Roman El pacto (1996) auseinander. Wie in einem Brennglas bündelt sich diese Problematik im Mikrokosmos der »isla del Caimán«, dem Hauptschauplatz der Handlung, literarischer Repräsentation der Insel Ometepe im Nicaraguasee. Dort wollen die Revolutionäre in Erinnerung an den Kampf gegen die Diktatur und den Sieg der Revolution ein Museum der Infamie errichten und weitere revolutionäre Maßnahmen durchsetzen, wie zum Beispiel eine Agrarreform und den Aufbau von Kooperativen.66 Wie fern den Revolutionären die Lebensgewohnheiten der bäuerlichen Bevölkerung bleiben, wird deutlich an ihrem völligen Unverständnis der ihnen zugrunde liegenden Mythen, wie zum Beispiel der Präsenz von Geistern und der Verwandlung von Menschen in Tiere in der bäuerlich-indigenen Lebenswelt auf der Insel: »¿Cómo hace ese hombre para transformarse en mona?« (43) verlangt ein erstaunter Internationalist nach einer Erklärung für das, was ihm die Inselbewohner von den Menschen-Tieren erzählen, und erhält zur Antwort: »Yo no sé, esos son asuntos del diablo.« (ibid.) Der Mitarbeiter des Ministeriums für die Agrarreform versteht nichts und »traducía en número lo que veía, o ponía una frase para el informe como en este caso: 'Cooperativa bajo control revolucionario, enérgica, buena vigilancia'« (ibid.). Diese Lebenswelt ist ein von Geistern und Teufeln belebter Raum, der den Revolutionären und insbesondere den Internationalisten völlig verschlossen bleibt. Durch das ganze Buch ziehen sich Anspielungen auf zahlreiche in Nicaragua verbreitete Volkslegenden, wie die von »la Llorona« (106, 128), »el Cadejo« (112, 209), »un hombre con una sotana pero sin cabeza« (162), »una mujer bien alta, con vestido blanco« (166) und »la Cegua« (192). Dieser Raum ist von »personas encantadas« bewohnt, und es ist nichts Außergewöhnliches, ihnen zu begegnen, »que se vuelven a ver como somnámbulas, pero no hablan« (166). Selbst ein kubanischer Lehrer, der nach der Revolution auf die Insel kam, verlässt sie nach einer Woche wieder, entnervt von unerklärlichen Geschehnissen: »Los ruidos no lo dejaron dormir ni una noche. La casa se movía, tiraban piedras, caía agua amarilla con olor a orines, como que estuviera lloviendo y la casa no tuviera tejas. Todas las mañanas, frente a la puerta de la casa que le habían confiscado a Don Gregorio que le decían el brujo, amanecía una montaña de tierra negra, como de muerto.« (45) Aber nicht nur die Revolutionäre stoßen mit dieser Vorstellungswelt zusammen. Auch die Beziehungen unter den Inselbewohnern werden von Geistern, übernatürlichen Wesen und Mythen bestimmt, insbesondere die zwischen (armen) Indios und (gegenüber diesen relativ wohlhabenden) Mestizen. Der Reichtum des arm auf die Insel gekommenen Gregorio Mena, der durch harte Arbeit als hacendero zu Wohlstand kam, kann nur seine Herkunft in einem Pakt mit dem Teufel haben. Auch diese
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Vgl. zu dem Roman auch ausführlich das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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Art von »Moderne«, symbolisiert im Geld des reichen Don Gregorio, bricht als Fremdkörper in die indigene Welt ein. Wie eine literarische Gestaltung ihrer anthropologischen Studien der magisch-mythischen Substrate in der nicaraguanischen Volkskultur liest sich dieser Roman Milagros Palmas. Wie bereits dargestellt, hatte die Autorin in ihrer 1987 erschienenen Studie Senderos míticos de Nicaragua unzählige Legenden und mythische Erzählungen der oralen Überlieferung gesammelt und dargestellt, die in dem Roman verarbeitet sind, wie zum Beispiel Seelen ohne Erlösung, Priester ohne Kopf, die umherrirende Seele Arrechavalas usw. (s.o., Fußnote 25) Insbesondere die auf der Insel Ometepe gesammelten Zeugnisse der oralen Tradition begegnen in El pacto wieder: verzauberte Orte, in Tiere verwandelte Menschen, Teufelspakte, der teuflische Ursprung des Reichtums, die verwunschenen Paradiese (die an den beiden die Insel beherrschenden Vulkanen Madera und Concepción angesiedelt sind), ja selbst Namen wurden übernommen.67 Wie die Autorin hier auf zahlreiche Legenden und Mythen zurückgreift, die nicht nur zum reichen Schatz der Volkskultur Nicaraguas gehören, sondern in vielen oralen Überlieferungen unterschiedlicher Weltregionen und Kulturen präsent sind, so gilt das auch für ihre anderen vier Romane, was Fernando Ainsa von einer »unidad temática y la continuidad estilística de su mundo novelesco« (Aínsa, 2000: 9) - zumindest für ihre ersten vier Romane - sprechen lässt: »Cuatro novelas, cuatro facetas de una misma realidad socio-cultural de inequívoco signo centroamericano y cuyo juego complementario supera toda visión unívoca de la historia contemporánea del país que apenas se disimula en sus páginas, Nicaragua, sobre el cual se han forjado tantas mitificaciones y estereotipos.« (ibid.)68 So verarbeitet Milagros Palma bereits in ihrem ersten Roman Bodas de ceni-
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Vgl. Palma, 1987: 53-71. Die Hauptfigur des Romans, Gregorio Mena, ist direkt nach einer Figur aus der mündlichen Erzählung von zwei Alten in der Inselhauptstadt Moyogalpa gestaltet, die Milagros Palma wiedergibt. Es ist die Geschichte eines auf die Insel und dort zu Reichtum gekommenen Viehzüchters mit Namen Fernando Mena, der im Pakt mit dem Teufel steht und Menschen in Tiere bzw. Vieh verwandelt und damit seinen Reichtum vergrößert, (vgl. ibid.: 59) Wie ein direktes Zitat aus ihrer Studie liest sich der folgende Satz aus dem Roman: »En la isla del Caimán, todo aquel que tuviera un poquito más que los demás se decía que tenía pacto.« (66) In Senderos míticos de Nicaragua heißt es: »La riqueza intriga a la gente y su origen parece misterioso para el campesino pobre que no encuentra explicación porque constata que con su extenuante trabajo no logra jamás salir de la miseria. El trabajo honrado no engendra riqueza, mucho menos de un día para otro como por encanto.« (Palma, 1987: 59) Ihre ersten beiden Romane, Bodas de cenizas (1992) und Desencanto al amanecer (1995), erschienen im Verlag Indigo Ediciones in Bogotá, Kolumbien, ab El pacto (1996) wurden ihre Romane von Indigo Ediciones in Paris herausgegeben, wo die Autorin lebt.
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zas (1992) viele Elemente der mestizischen Volkskultur, um deutlich werden zu lassen, wie dieses magisch-mythische Denken dazu beiträgt, das Bild der Frau nach patriarchalischen Mustern zu gestalten und die patriarchalische Herrschaft zu perpetuieren, indem Werte, Vorstellungen und Bilder der Frau übermittelt werden, die sie zu einer »'creación puramente arbitraria', acorde con los intereses patriarcales« (Rodríguez Rosales, 1999: 78) machen: La mujer es puro cuento, wie der Titel eines ihrer Bücher zu Mythen und Weiblichkeit in Kolumbien lautet.69 Ganz im Gegensatz zum Romanwerk Gioconda Bellis, in dem die Rückkehr in die magisch-mythische Vergangenheit zur Quelle der weiblichen (feministischen) Identität wird, ist sie hier der Fluch, der über dem scheinbar unveränderlichen Schicksal der Frau auch unter »modernen« Bedingungen liegt.70 Ähnlich wie bei Gioconda Belli erlaubt in dem zweiten Roman von Milagros Palma, Desencanto al amanecer (1995), das Eintauchen der Protagonistin Fernanda, einer überzeugten Revolutionärin, in die ursprünglich-erotische Welt der eingeborenen Yawira die Entdeckung einer eigenen (lesbischen) Sexualität und Identität jenseits der Phallokratie der Patriarchen-Guerilleros. Im Universum der Guerilla gibt es (im Gegensatz insbesondere zu Bellis Roman La mujer habitada) keine Emanzipation der Frau, die weiblich-indigene Magie tritt in offenen Widerspruch zur Revolution, (vgl. Ainsa, 2000: 13f.) Schließlich lässt Milagros Palma in ihrem vierten Roman, El obispo (1997), die weibliche Hauptfigur Victoria Zuflucht bei der Hexerei finden, aus der sie gegenüber der Unterdrückung durch ihren Ehemann Leonardo Identität bezieht. Zwar knüpft die Autorin an den subversiven Seiten des Hexenmythos (die Frau als Heilerin, Wahrsagerin, Kartenlegerin, Hüterin medizinischen Wissens) an (wie Gioconda Belli in Sofia de los presagios), die Identität der Frau bleibt jedoch labil und brüchig. Er begründet kein Konzept der definitiven Befreiung der Frau aus den patriarchalischen Zwängen, sondern dient bestenfalls als Ort des Rückzugs und Sich-Einschließens gegenüber der omnipräsenten Rationalität der nordamerikanischen Industriegesellschaft (wo Victoria und Leonardo in der Emigration leben) und dem machismo ihres Ehemanns, (vgl. Rodríguez Rosales, 1999: 85-87; Ainsa, 2000: 13f.) Das Motiv der Entdeckung der eigenen sexuellen Identität in der Wiederentdekkung indigener Mythen greift Milagros Palma auch in ihrem jüngsten (fünften) Roman Así es la vida (2000) wieder auf. Die Hauptfigur Yolanda, eine in Frankreich lebende kolumbianische Biologin, lernt während ihrer Forschungsreisen zu den Amazonas-Indianern den Mythos von den Fledermäusen und der Klitoris, »las llaves del placer« (24), kennen, der ihr zum Schlüssel für das Verständnis der Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Sexualität 69
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La mujer es puro cuento. La feminidad en el imaginario mítico religioso indígena y mestizo en Colombia (Bogota, 1987: Indigo editores). Vgl. dazu auch die Kapitel »Die präkolumbische Phallokratie« und »Der Penis« in Palma, 1994: 182-183.
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und zur Bewusstwerdung ihrer eigenen Bedürfnisse als Frau wird.71 Mythos und Magie sind Substrate einer vergangenen, gleichwohl präsenten Realität, die mit den Erfordernissen und Veränderungen der aktuellen Wirklichkeit zusammenstoßen: »tradiciones, mitos, costumbres y creencias profundamente arraigadas y confrontadas a una modernidad mal asumida y a cambios políticos radicales que no superan la enunciación voluntarista de sus dirigentes o la retórica en que se plasman sus dogmas« (Aínsa, 2000: 9). Die kulturellen Realitäten sind zählebiger, ihre Transformation dauert länger als die politische Umwälzung mit ihrem totalisierenden Anspruch. Weder die auf manichäischen Denkstrukuren basierende Entscheidung für eine der beiden Seiten noch ihre wohlfeile synkretistische Verschmelzung (die doch nur die Vergangenheit in den Dienst der Gegenwart und Zukunft stellt), bestimmen die Romanwelten Milagros Palmas, sondern eine »sociedad profundamente estratificada y mestizada, donde tradiciones y creencias del pasado conviven con una modernidad portadora tanto de signos liberadores, especialmente para la condición femenina, como de dependencias de comportamientos y modas impuestas desde el exterior« (ibid.: 10). Mythos und Magie sperren sich gegen Moderne und Revolution, aber das eine kann sich dem anderen nicht verweigern.
Marktfrau, Kräuterweib und fliegender Glöckner: Die Magie unterhalb der Nation Gänzlich losgelöst von den Diskursen um Revolution und Nation erscheinen die magisch-mythischen Substrate der Volkskultur in drei Romanen von Carlos Alemán Ocampo, Sergio Ramírez und Maria Gallo. Carlos Alemán Ocampo erzählt in seinem Roman Vida y amores de Alonso Palomino (1994), für den er im Erscheinungsjahr den nicaraguanischen Literaturpreis »Premio Nacional Rubén Dario « erhielt,72 mit viel Ironie die Geschichte des stolzen »Alonso Palomino, descendiente de conquistador español« (12). Er bedient sich dabei der Technik der Erzählung in der Erzählung: Alonso Palomino, in die Jahre gekommen, erinnert in einer langen Retrospektive (in der ersten Person) sein Leben von Diriá aus, seinem Geburtsort, in den er am Ende seines Lebens zurückkehrt, nachdem er lange Jahre in der Hauptstadt Managua gelebt hat. Der Roman endet, wie er begann: Alonso Palomino sitzt im Haus seiner Kindheit und schreibt seine Erinnerungen nieder. Er unternimmt nicht nur eine geografische Reise von Diriá nach Managua und zurück. Er verlässt
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Vgl. zu diesen vier Romanen auch das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«. Eine zweite Auflage erschien 1997 (wie die erste im Verlag El Jaguar y la Rosa, Managua). Im Folgenden zitiere ich nach der Ausgabe von 1994.
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nicht nur die eine Frau, Clorinda, seine erste große Liebe, um mit einer anderen, Gertrudis, (und »wie zufallig« einer ganzen Reihe anderer Frauen) auf den Märkten der Hauptstadt zusammenzuleben, und kehrt schließlich wieder zu Clorinda zurück. Er oszilliert damit auch zwischen den zwei Welten, die so charakteristisch für die unmittelbare Vorgeschichte der großen Natur- und gesellschaftlichen Erschütterungen der nicaraguanischen Gesellschaft in den siebziger und achtziger Jahren waren. Die Beziehung zu Gertrudis ist der eine Pol: Sie repräsentiert das Leben in der Welt der Hauptstadt, die einen massiven Prozess der Urbanisierung und Modernisierung durchlebt und durchleidet. Außerliterarischer Bezugspunkt ist eine Epoche der jüngsten nicaraguanischen Geschichte, in der mit der zweiten Welle der Kapitalisierung durch die Einfuhr des Baumwollanbaus ab den fünfziger Jahren und der damit verbundenen Durchdringung der heimischen Wirtschaft mit ausländischem Kapital und Produkten (in erster Linie aus den USA) ein sozialer Veränderungsprozess einsetzt, der nach und nach - aber unaufhaltsam - die alten sozialen Bindungen auflöst und die traditionellen Werte untergräbt. Den anderen Pol stellt Diriá dar, ein Dorf in der »Meseta de los pueblos«, dem Gebirge südlich Managuas, bis heute bekannt für seine starken magischen Traditionen und das Überleben prähispanischer Gebräuche und Überzeugungen. Clorinda, die Kräuterfrau, symbolisiert diese dörfliche Welt mit ihren indigenen Wurzeln. »¡Ay, Clorinda! ¡Ay, Gertrudis! ¡Te fuistes Alonso Palomino!« (269) ruft der Protagonist emblematiscch für den ganzen Roman am Ende aus. Zur narrativen Repräsentation dieser beiden Welten bedient sich Alemán Ocampo zweier zentraler Frauenfiguren der mythisch-magischen Volkserzählungen: der Marktfrau und des Kräuterweibs/der Hexe. Erstere ist die Herrscherin über die Welt des Handels und bezieht ihre Stellung aus präkolumbischen Traditionen.73 Für die Männer ist dieser Ort des Marktes verbunden mit den »chaotischen Eigenschaften der weiblichen Welt«, er »verkörpert das Dunkle, Gewöhnliche, in dem die Verschwörung, das Gerede entstehen, die Unwissenheit ihre Wurzeln hat, in dem die weibliche Bosheit sich in ihrer ganzen Monsterhaftigkeit zeigt« (Palma, 1994: 40), während der Mann ihr gegenüber machtlos ist. In der oralen Tradition wird die Marktfrau auf vielerlei Art verleumdet und gering geschätzt sowie mit Hexereien in Verbindung gebracht. Ähnlich verkörpert die Hexe in Gestalt der Kräuterfrau die seit den präkolumbischen Zeiten vererbten medizinischen Fähigkeiten und Kenntnisse der
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Milagros Palma weist auf diese Tradition hin: »Die Tradition des weiblichen Handels ist ein Erbe der präkolumbischen Zeit. In einer Gesellschaft, in der die Männer sich der Kriegsfuhrung widmeten, haben Frauen die Hausarbeit, die Landwirtschaft und den gewerblichen Handel mit dem wenigen Überschuß in der häuslichen Produktion erledigt. Der Außenhandel war Aufgabe der Krieger. / Der örtliche Markt war durch eine Reihe strikter Normen bezüglich der Geschlechter bestimmt. Die Männer durften daran nicht teilnehmen - weder kaufen noch verkaufen - [...] « (Palma, 1994: 43).
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Frauen, mit denen sie Kranke heilen können. Sie können sich aber auch durch allerlei Zaubereien der Männer bemächtigen, um deren Liebe zu erlangen oder sich an ihnen zu rächen, indem sie negativen Einfluss auf ihren Geist oder Körper nehmen. 74 Beide Figuren symbolisieren also Macht, Stärke und Unabhängigkeit der Frauen. In der Umkehrung dieser von der patriarchalischen Tradition negativ bestimmten Mythen dekonstruiert Alemán Ocampo mit den Mitteln der Ironie nicht nur den machismo des stolzen Nachfahren der spanischen Konquistadoren, der nicht aus eigener Kraft leben kann, sondern Halt und Unterhalt bei den beiden Frauen sucht, von denen er im wahrsten Sinne des Wortes ausgehalten wird. Er zerstört damit auch den Mythos von der Überlegenheit der weißen Rasse und Kultur der spanischen Eroberer über die indigene Kultur. In der Welt des Nicaragua der fünfziger, sechziger und beginnenden siebziger Jahre, die einer massiven Modernisierung ausgesetzt ist (nur zeitweise unterbrochen vom großen Erdbeben in Managua 1972, das diesen Prozess gleichzeitig beschleunigt), vermischen sich die unterschiedlichen Traditionen und Kulturen zu einem chaotischen Ganzen. Im Gegensatz zu anderen Autoren rekurriert Alemán Ocampo auf das Indigene nicht als etwas Vergangenes, eine weit zurückliegende Identität, die durch die (Re-)Konstruktion des Mythos wiedererlangt werden muss. Seine Perspektive ist vollkommen synchron, auf die Vermischung und gegenseitige Durchdringung der beiden Traditionen und Kulturen mit all ihren Widersprüchen in der Aktualität der fünfziger, sechziger und beginnenden siebziger Jahre gerichtet." Die magischen Substrate sind Bestandteil der alltäglichen Realität Nicaraguas. Dem korrespondiert die linguistische Ebene des narrativen Diskurses. Sich offensichtlich auf seine Untersuchungen der nicaraguanischen Volkssprache, unter anderem auf den Märkten der Hauptstadt und im dörflichen Milieu, stützend, die er in einer Reihe von Essays veröffentlichte, 76 öffnet Alemán Ocampo seinen Roman diesen sprachlichen Substraten der nicaraguanischen Volkskultur: »Alemán Ocampo busca en los símbolos de las culturas antiguas, la voz que se dejó en el tiempo perdido, de ahí su engranaje lingüístico sustentador de la novela. Por eso las voces arcaicas, los giros verbales, la hermosa palabra. 'Ha tiempos', 'vengo precavido', 'sus decires', 'de zafado'. Sabrosas expresiones de factura conversacional que revelan la investigación y el conocimiento de un nar-
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Vgl. Palma, 1994: 101, die auch darstellt, dass die Region um Nindiri (in der Nähe von Diriá) berühmt für ihre Hexenkünste sei. In den achtziger Jahren veröffentlichte Carlos Alemán Ocampo mit Entre el fuego y el agua (1986), herausgegeben vom Instituto Nicaragüense de Acueductos y Alcantarillados, ein Buch, das u.a. Legenden und Mythen zum Wasser enthält, (vgl. dazu die Fußnote 42 im Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«) Unter anderem arbeitete er an der Herausgabe des Standardwerks El español en Nicaragua (Arellano, 1992) mit.
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rador de oficio : 'más después todavía', urgencia de precisa', 'querencia', me va a pasar a dispensar', 'mucho aliño'. Decires que corresponden a la fiesta verbal que [...] nos remite al origen.« (Brantome, 1997: 2) Nicht die folkloristische Suche des Kostumbrismus und Regionalismus nach einer »authentischen« Sprache des indianisch-bäuerlichen Nicaragua, sondern die Aufnahme des städtischen wie ländlichen Jargons in seiner lexikalischen, grammatischen und phonetischen Vielfalt kennzeichnen den Roman. Indigenismen, der Slang der städtischen Märkte, populäre Modismen vor allem der Sexualsprache stehen nebeneinander und machen den Text Alemán Ocampos zu einem einzigartigen Dokument der nicaraguanischen Romanliteratur der neunziger Jahre, indem er die Volkssprache zum Bestandteil eines nicht rükkwärts gewandten narrativen Diskurses werden lässt, ihr literarischen Rang verleiht.77 Ganz in der Welt des dörflichen Nicaragua angesiedelt ist die Handlung, die Sergio Ramírez in seinem Roman Un baile de máscaras (1995) präsentiert.78 Er erzählt - mit Rückblenden und Vorgriffen, die einen Zeitraum von etwa drei Generationen umfassen - die Ereignisse eines Tages, des 5. August 1942, in Masatepe, einem Dorf in den Sierras de Managua, der Gebirgskette, die sich im Süden der nicaraguanischen Hauptstadt erhebt (es ist die gleiche ländliche Region wie in Alemán Ocampos Roman): »una boda, un entierro [...] ; más tarde un baile de disfraces« (37), wie der Erzähler schon im zweiten der sieben Kapitel des Romans zusammenfasst. Am Ende des Tages werden es dann eine Hochzeit, vier Tote, eine wiederauferstandene Tote und ein toter Hund sein - sowie eine Entbindung, die Geburt des Autors selbst, der an ebendiesemTag das Licht der Welt erblickte. Der Bericht von den Ereignissen jenes Tages dient dem Autor als roter Faden des Romans, um den herum er zahlreiche Erzählungen von Ereignissen im Leben der einzelnen Personen und des ganzen Dorfes in der Vergangenheit und in der Zukunft (aus der Perspektive des 5. August 1942) spinnt. Sergio Ramírez stellt das gesellschaftliche Leben eines Dorfes in den vierziger Jahren in einer Art und Weise dar, die ein hohes Maß an historischer Glaubhaftigkeit besitzt, auch wenn der Roman voller ziemlich unglaubwürdiger Elemente ist, wie ein Glöckner, der fliegen kann, eine Tote, die wiederaufersteht, ein Boxkampf zwischen Quevedo und Jesus Christus. Es ist eine Welt, in der sich die Mythen und der Aberglaube der präkolumbischen Tradi-
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Vgl. Aguilar (1996: 40), Llopesa (1997: 7), Brantome (1997: 2), Mackenbach (2000b: 112f.). In ähnlicher Radikalität wird das dann erst wieder Franz Galich in seinem Roman Managua, Salsa City (2000) mit der städtischen Volkssprache im nachrevolutionären Managua machen. Vgl. dazu das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«. Eine deutsche Obersetzung erschien 1998 unter dem Titel Maskentanz im Peter Hammer Verlag (Wuppertal, Übersetzung von Lutz Küche).
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tionen mit dem christlichen Glauben und dem Aberglauben der Kolonialzeit und den Einflüssen der Moderne mischen, die zwar noch kaum an die Pforten des Dorfes geklopft hat, doch über die Anordnungen der diktatorischen Regierung im weit entfernten Managua, über Berichte einzelner Personen von Reisen in die Vereinigten Staaten und nach Europa und schließlich (im Roman am Anfang) über die Nachrichten der einzigen Tageszeitung in das Dorf eindringt, die j e d e n Nachmittag mit dem Vier-Uhr-Zug kommt. Es ist die ( R e k o n s t r u k tion einer kollektiven Identität von unten (die durch das Fehlen von Helden im klassischen Sinn gekennzeichnet ist), trotz der Diktatur. Diese Identität ist vollkommen mestizisch und erlaubt das Zusammenleben der unterschiedlichsten Charaktere, Konfessionen, Nationalitäten und Traditionen unter der scheinbar totalen Herrschaft der Staatsautoritäten und der katholischen Hierarchie. Aber gleichzeitig ist sie voller Widersprüche und Reibungen. Diese Welt wird bestimmt von den Sorgen und Verrichtungen des alltäglichen Lebens, ohne auf einen nationalen Mythos zu rekurrieren. Zur gleichen Zeit ist sie geprägt vom Traum und der magischen Vorstellungswelt: ein Pluralismus der unterschiedlichsten Lebensentwürfe, die sich nur in den praktischen täglichen Verrichtungen zu einer kollektiven proto-nationalen Identität vereinen. Z u m Verhältnis zwischen Realität und Erzählung/Fiktion bemerkte Ramírez in einem Interview: » [...] yo soy un escritor realista, si se puede decir algo en esto de las clasificaciones. Me considero un escritor realista porque trabajo con la realidad, y con la realidad del recuerdo y con el recuerdo de la realidad. No toda la realidad es real. Las categorías de realidad están dadas por la realidad misma.« (Espinoza, 1995: 16)
In diesem »realismo naif« (ein Begriff, den der Autor selbst prägte; vgl. ibid.) hat sich die Magie von den kollektiven Großmythen gelöst, ist z u m Bestandteil der alltäglichen Realität geworden. Nur scheinbar nimmt Ramírez - wie ihm von Delgado (o.J.: o.S.) vorgehalten wurde - in diesem R o m a n eine Position wieder auf, wie er sie in seinem bekannten Essay »Seis falsos golpes contra la literatura centroamericana« Mitte der siebziger Jahre vertrat: Der Akt der literarischen Schöpfung sei »una empresa totalizadora de la realidad« (Ramírez, 1985: 119), diese Vision einer Fragmentierung zu unterwerfen, sei gleichbedeutend mit einem »Verrat« des Schriftstellers an seiner Aufgabe, (vgl. ibid.) 79 Die Realität entzieht sich dieser Totalisierung, sie selbst ist fragmen-
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Der Aufsatz entstand 1975 während eines zweijährigen Deutschlandaufenthaltes in Berlin, wo Sergio Ramirez seinen zweiten Roman, ¿Tedio miedo la sangre? (1977), schrieb. Er ist abgedruckt in Ramirez, 1985: 117-128, vgl. bes. 117. (vgl. dazu auch das Kapitel »Ausfahrt: Literarischer Nationalismus und neue Unübersichtlichkeit«)
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tiert, maskiert, entstellt und merkwürdig. Ihre literarische Repräsentation in Un baile de máscaras ist noch in der Dimension eines Dorfes nur als Collage möglich, wie Delgado gleichzeitig unter Hinweis auf die Eingangspassage des Romans ausdrücklich vermerkt. Es ist die wörtliche Wiedergabe der Tageszeitung La Noticia vom 4. August 1942 (9-12), »que, se sabrá después, el abuelo Teófilo lee mientras camina de la estación del ferrocarril a su casa, elimina las jerarquías culturales, ofreciendo no el flujo de conciencia del personaje, sino el flujo mass-mediático donde conviven las noticias de la II Guerra Mundial, la publicidad de un consumo ya establecido y que define categorías sociales y culturales, noticias de la política criolla y de deportes, la cartelera cinematográfica y el ofrecimiento de bienes culturales« (Delgado, o.J.: o.S.). Oder ais Maskenball, literarische Repräsentation einer Welt, in der sich Masken und Gesichter, Magie und Realität ununterscheidbar vermischen.80 Auch Maria Gallo thematisiert in Entre altares y espejos (2000) den Zusammenstoß von magischer-mythischer Überlieferung und Moderne. Der Roman erzählt die Geschichten zweier im Text ineinander verschachtelter, mit den Techniken des flashbacks bzw. der Traumschilderung präsentierter Reisen: Benigna reist mit ihrer Tochter Leonor und ihrem Sohn Fernando von Managua nach León, um dort der Priesterweihung ihres anderen Sohnes Judas Tadeo beizuwohnen. Während dieser Fahrt erinnert sie sich im Traum an die Reise, die sie Jahrzehnte zuvor mit ihrer Großmutter Fidelina von León nach Managua unternahm, wo sie von ihrer Mutter Lucia erwartet wurde und ins Berufsleben eintrat. Der Roman spielt, wie aus einer Reihe von Anspielungen auf das Ende der US-Invasion, Sandino und den General Somoza hervorgeht, zwischen 1934 und 1972 (dem großen Erdbeben in Managua, das im Roman mit keinem Wort erwähnt wird). Hauptthema ist die schwierige Suche Benignas nach ihrer Identität, die vielfältig gespalten ist: Als Tochter der »weißen« Lucia, die aus der Verbindung der India und Hausangestellten Fidelina mit ihrem Herrn, dem spanischen Einwanderer Don Juan Herrera, hervorgegangen ist, sucht Benigna ihre Wurzeln bei der Großmutter, die für sie die indigene Tradition und Identität verkörpert und die in ihrem Leben immer präsent bleibt, während sie ihre Mutter Lucia ablehnt. Wie Fidelina lebt sie in den Mythen und Traditionen der prähispanischen Kultur, die allerdings mit dem Leben in der Hauptstadt Managua in Konflikt treten, symbolisiert in dem ständigen Konflikt und dem Unverständnis, in dem Benigna und ihre Tochter Leonor leben. Die Spaltung zwischen dem synkretistisch in den alten vorchristlichen und christlichen Traditionen verhafteten León und dem gottlosen Managua, in dem der Teufel herrscht und sich angeblich alle Frauen als Prostituierte an die Yan-
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Vgl. zu dem Roman auch die Kapitel » Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion« sowie »Fünfter Kreis: Raum und Text«.
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kee-Invasoren bzw. ihre Nachfolger verkaufen, ist das zweite große Thema des Romans, mit dem die individuell gespaltene Identität Benignas als repräsentativ für eine ganze Gesellschaft geschildert wird. Verschärft wird diese Identitätsspaltung durch den Einbruch der Moderne in die bäuerliche Welt Nicaraguas, symbolisch geschildert im Eintritt Lucias und Benignas in die hauptstädtische Arbeitswelt der Büros, Werkstätten und Fabriken und im ersten Kinobesuch Benignas: Die von magischen Überlieferungen der präkolumbischen Epoche und der Kolonialzeit geprägte Vorstellungswelt Benignas (die im Roman in zahlreichen Volkslegenden präsent ist, wie zum Beispiel in der vom Gespenst des Generals Arrechavala auf seinem weißen Ross und dem Gekreisch der »Carreta Nagua«, die durch die Nächte in Leon geistern) stößt mit einer neuen Magie zusammen, die von den bewegten Bildern im Kino »Apolo« ausgeht. Schreiend flieht sie mit ihrer Freundin Virginia vor den Flammen auf der Leinwand, in denen sie sich verbrennen sehen. Doch unwiederbringlich ist Benigna von dieser Macht des Teufels, der mit der Moderne über Managua gekommen ist, angezogen. Ein Zurück gibt es nicht. Das Gute und das Böse, Gott und der Teufel, kämpfen auf dem gleichen Terrain, sind unentwirrbar miteinander verbunden. Der Mensch ist zwischen beiden hin- und hergerissen, sich immer zwischen dem Abgrund und dem Himmel, dem Himmel und der Hölle bewegend, »condenado [...] a ser Endemoniado o Endiosado. Es la misma cosa. No importa el nombre.« (175) Auch in diesem Sinne ist die Moderne nicht rückgängig zu machen: Es liegt am Menschen selbst, sich für das eine oder andere zu entscheiden. Aber manchmal kennt er den Unterschied nicht, und noch dazu ist das Böse so vergnüglich, das Gute nur wie ein langes Gähnen. Wie in dieser Parabel der mit dem Einzug der Moderne verschärften Identitätskrise der nicaraguanischen Gesellschaft der Rückgriff auf die Magie nicht in einen utopischen Zukunftsentwurf mündet, der seine Identität aus der Vergangenheit bezieht, so kennzeichnet die drei hier behandelten Romane der Verzicht auf jegliche Art von Großmythos. Die mythisch-magischen Traditionen überleben als Substrate in der Alltagskultur, wo sie sich mit den neuen Denk- und Lebensformen vermischen, die mit der Moderne Einzug halten. Die drei Romane rekurrieren nicht auf einen historischen, politischen oder utopischen Mythos, um eine neue kollektive/nationale Identität zu schaffen. Eine kollektive Identität konstituiert sich »von unten«, unterhalb der staatlich verfassten, von der Hauptstadt aus diktatorisch regierten Nation.
Indio, Konquistador und Mestize: Die Magie als parallele Welt zur Nation Als parallele, von den Mestizen ebenso wie von den spanischen Konquistadoren unverstandene Welt erscheinen die magisch-mythischen Kulturen in Julio Valle-CastiUo, Requiem en Castilla del Oro (1996), wo sie nur noch als
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unwiederbringliche Vergangenheit evoziert werden können, die zwar noch in den Verhaltensweisen und Gebräuchen der Heutigen aufscheint, aber fiir immer verloren sind. Der Roman erzählt das Leben - besser gesagt die anhaltende Agonie - Pedro Arias de Avilas, genannt Pedrarias Dávila, Generalkapitän der Spanischen Krone, Konquistador Nicaraguas und Gouverneur von »Castilla del Oro«. Mit der Darstellung der Geschichte dieser historischen Figur rekonstruiert er eine ganze Epoche in der Geschichte dieser Region, die beginnend mit dem ersten Zusammentreffen zwischen den Vertretern der Könige von Spanien und der Indios, das heißt zwischen dem Kapitän Gil González Dávila und dem Kaziken Nicarao im Jahr 1502, die »Provincia de Nicaragua« genannt wurde. Der Roman konzentriert sich vor allem auf eine (Rekonstruktion der Jahre zwischen 1526, der ersten Ankunft Pedro Arias de Avilas in Nicaragua, und dem Tag seiner Totenfeier in León Viejo am 25. April 1530. Zugleich ruft er unzählige Epochen in der Geschichte Nicaraguas (und Spaniens) ins Gedächtnis, angefangen von den präkolumbischen Zivilisationen und Spanien vor der Conquista über das koloniale León, Nicaragua im 16., 17., 19. und 20. Jahrhundert bis zum somozistischen, sandinistischen und »post-sandinistischen« Nicaragua." Der Vieldimensionalität der erzählten Zeiten und Räume korrespondiert die Struktur des narrativen Diskurses. Dieses »Requiem« ist ein polyfoner, bisweilen kakophoner Gesang, in dem sich Stile und Gattungen vermischen, Texte unterschiedlichster Art, verschiedene Sprachen, intertextuelle Bezüge: Lobgesänge, Diatriben, Gebete, Lieder, Gedichte, Beschreibungen, Dialoge, Theaterszenen, Dialoge im Dialog, Berichte, Erzählungen, Briefe, Episteln, Litaneien, »Regeln«, Texte von Chronisten, OfFertorien, Mementi, Kolloquien, ein Telegramm, ein ärztliches Bulletin usw., ja sogar Partituren (von Mozart) und Illustrationen (des nicaraguanischen Künstlers Alejandro Aróstegui). Es existiert ein ständiger Wechsel zwischen der spanischen Sprache der damaligen Epoche82 und dem modernen Spanisch, dem Latein und dem náhuatl, der Sprache der indigenen Bevölkerung. Mit dieser Collage aus etymologischen Wortspielen, mit Fragmenten, Prosagedichten und anderen Texten gelingt dem Autor »una narración pluridimensional« (Rodríguez Rosales, 1999: 141). Darüber hinaus ist der Roman voller intertextueller Referenzen, unter anderem zu liturgischen und religiösen Dokumenten, Texten lebender und toter nicaraguanischer Schriftsteller wie Ernesto Cardenal, José Coronel Urtecho, Enrique Fernández Morales, Luis Alberto Cabrales, Fanor Téllez, aber auch Werken von Umberto Eco, Alejo Carpentier, Bartolomé de las Casas, Gonzalo Fer-
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Vgl. zu dem Roman auch ausführlich das Kapitel » Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«. Hervorzuheben sind zum Beispiel sprachliche Besonderheiten aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert wie die Abkürzung »Xto.« für Christus, Ausdrücke wie »pasadas unas horas, era ido de este mundo«, »hijosdalgos«, »fiscieron«, die Anrede »Vuecencia« und das Verb mit Enklitikon: »sepades«, »asömbrase«. (vgl. Rodriguez Rosales, 1999: 138, 139)
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nández de Oviedo y Valdés, Girolami Benzoni und Gil González Dávila. (vgl. auch ibid.: 141-143) Allerdings ist die Sprache der Indios nicht als solche präsent, sie taucht nur als lexikalisches Substrat im nicaraguanischen Spanisch und bisweilen unvermittelt in lateinischen Texten auf. Selbst in dem Kapitel mit der bezeichnenden Überschrift »¡Ma ye ya nican! o Al principio era el verbo«, in dem erzählt wird, wie die indigenen Ureinwohner von Mexiko aus nach Süden wanderten und sich in dem später Nicaragua genannten Gebiet, insbesondere auf der »isla de dos sierras como tetas de mujer« (51; das heißt Ometepe), niederließen, sind es ausschließlich Namen für Götter (teotes), Personen, Tiere, Dinge und Orte in náhuatl, die das Spanisch der Erzählung durchziehen: Cipactli, Cóatl, Itzcuintli, Océlotl, Tamagastad, Tochtli, Astochimal, Chicoyatonal, Malitzen, Tecoteyda, Totoaca, Xali, Xóchitl, ayotes, cachiltguegue, chichigua, chompipes, teocalli, teponaxtles, teyopas, yayaguyt, xilinjoche, Apoyo, Axoxosco, Cocabolca, Lenderí, Massatepehc, Monimbó, Ometepetl, Tescapa, Ticuantepec, Xiloá, Xolotl usw. usf. (vgl. bes. 51-62; Rodríguez Rosales, 1999: 139) Im folgenden Kapitel, »Danza del Totolhuacatl (Sones de pito, violín y tambor)«, schließlich ist die Sprache der indígenas nur noch als ununterscheidbarer Lärm zu vernehmen, als die sie sich den spanischen Eroberern präsentiert haben muss: » [...] en el reino de Coatega, la otra mañana el capitán pareció distinguir un lejano rumor o murmullo, que se acallaba a ratos y a ratos se renovaba con más fuerza: -Gurrúúúúúú toe toctoc / gurrúúúúú toe toe toe toe gurrúúúúúú... / tun-tún-tun-tún-tun-tún-tun-tún...« (71) Trotz der zahlreichen und vielfaltigen intertextuellen Bezüge präsentieren sich die Referenzen zu prähispanischen Texten nur vermittelt über die Berichte der Chronisten, Priester und Eroberer. Der indigene Hypotext ist für immer verloren, er ist bestenfalls zu erahnen in den Hypertexten der spanischen Eroberer und ihrer mestizischen Nachkommen; noch die orale Überlieferung muss sich dieser Texte der zweiten Stufe bedienen. Diese Absenz der authentischen indigenen Sprache ist in einem Roman nicht zu unterschätzen, der sich vielleicht mehr als andere nicht dadurch auszeichnet, was er erzählt, sondern wie er es erzählt, (vgl. Rodríguez Rosales, 1999: 131) In einem Interview hob Julio Valle-Castillo im Jahr 1997 selbst diesen Aspekt hervor: »Si yo he podido escribir toda la novela en náhuatl, la hubiera escrito, pero hablo castellano y en esa lengua expreso el dolor del indio. [...] A mí no me importa tanto la historia, me interesa la escritura. Aquí no es el cuento que me interesa a mí, me interesa el canto.« (Sánchez Delgado, 1997: 7) Mit dem Verlust der Sprache ist aber auch die präkolumbische Kultur für immer vergangen. 83 Nicht von ungefähr bezeichnet sich der Roman in seinem 83
Hier liegt nicht von ungefähr ein wichtiger Unterschied zu dem Roman Huracán corazón del cielo von Franz Galich. Im Gegensatz zu Guatemala, wo es noch über zwanzig gesprochene
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Titel selbst als »Requiem«. Dieser Paratext weist nicht nur auf die den narrativen Diskurs strukturierenden Totenfeiern des Gouverneurs und Generalkapitäns Pedrarias hin, die er alljährlich zum Dank Gottes zelebrieren lässt und denen er bei lebendigem Leib beiwohnt, seit er am 25. April 1460 einen Anfall von Starrsucht überlebte - eine Allegorie der anscheinend ewigen Macht des Autoritarismus und Despotismus in Nicaragua. Er ist auch ein Totengesang auf die autochthone Kultur der Eingeborenen. In seiner Suche nach Identität kann sich das mestizische Nicaragua weder auf seine spanischen Eroberer noch auf seine indianischen Vorfahren stützen. Die Identität, die Julio Valle-Castillo konstruiert, kann nur negativ definiert werden. Seine Welt ist ein »Bi-Kosmos«: auf der einen Seite der Negative, der Antiheld Pedrarias, auf der anderen der Abwesende, der Indio, dessen Welt zerstört wird. Julio Valle-Castillo sucht die nationale Identität nicht in der (Wieder-)Erfindung der vorgeblich harmonischen indigenen Welt. Er ist pro-Indio, aber er mythologisiert den Indio nicht. Die zwei Welten, die beiden Identitäten - die spanische und die indigene - existieren nebeneinander in den Substraten der mestizischen Volkskultur und im Kollektivbewusstsein weiter, ohne Versöhnung - wie die nicaraguanisch-chilenische Journalistin und Romanautorin Mónica Zalaquett in einer Besprechung schrieb: » [...] la novela de Valle nos permite asistir al Réquiem, a la misa de muerto del tirano y del indio redivivos, a la vela permanente a dos mundos y dos culturas que no mueren y tampoco acaban de fundirse, al juego de espadas de esos dos fantasmas que lidian su destino en un perenne medir de fuerzas; la vieja España y la pobre América batiéndose aún en un mundo de computadoras, armas atómicas y guerras de satélite.« (Zalaquett, 1997: 6) Am Ende des Romans taucht Pedrarias selbst auf dem Bildschirm des Computers des Autors auf: »Yo oprimí varias veces la tecla SUPR, SUPR, SUPR y no lo pude borrar.« (314) Das Drama wiederholt sich in alle Ewigkeit: Das nationale Bewusstsein bleibt gespalten, die Nation ist noch immer auf der Suche nach ihrer eigenen Identität. Die langen Schatten des Eroberers liegen wie ein Albdruck über der Gegenwart, die zerstörte indigene Kultur kann nicht wieder erschaffen werden. Die magische Welt der Ureinwohner bleibt verloren-unverstanden, ist bestenfalls als parallele Welt zur Nation zu erahnen. Die mestizische Nation kann ihre Identität nicht (mehr) aus der Vergangenheit beziehen.
indigene Sprachen und überlieferte Strukturen indigener Gemeinschaften gibt, existiert das náhuatl in Nicaragua nicht mehr als eigene Sprache, die indigenen Gemeinschaften in der Pazifikregion sind von der Mestizierung nicht unberührt geblieben und wurden erst in den letzten Jahren wieder aktiviert.
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Magische Erzählungen, erzählte Wirklichkeiten Das Verhältnis von Magie und Realität, so legt das hier ausgebreitete Panorama nahe, behält für die literarische Repräsentation und Präsentation der nicaraguanischen Wirklichkeit am Ende des 20. Jahrhunderts eine herausragende Bedeutung, ja es gewinnt - verglichen mit der weitgehend vom testimomo-Diskurs bestimmten Literatur der siebziger und achtziger Jahre - in den Neunzigern neue Aktualität. Neben den in diesem Kapitel untersuchten Werken sind magisch-mythische Elemente in unterschiedlichen Ausprägungen in zahlreichen weiteren Romanen gegenwärtig, ohne jedoch den narrativen Diskurs insgesamt zu bestimmen. Rosario Aguilar stützt sich in La niña blanca y los pájaros sin pies (1992) auf Chroniken der Eroberung und gestaltet insbesondere die aus dem Schatz der indigenen Volkslegenden Guatemalas stammende Legende vom weißen Mädchen (Alter Ego Doña Leonors, der Tochter des Konquistadors Pedro de Alvarado und der India Doña Luisa), das unterstützt von vielen Vögeln ohne Füße verhindert, dass Pedro de Alvarado von dem Indianerhäuptling Tecúm Umán getötet wird, zu einer Metapher der Vermischung der beiden Kulturen in einer mestizischen Identität.84 Claribel Alegría verleiht in Luisa en el país de la realidad (1987) den aus den zentralamerikanischen Völkslegenden entliehenen Gestalten (wie der »Siguanaba«, dem »Cipitio«, den »Cadejos«) eine subversive Funktion: Die »Verrückten«, die locos, die an die magischen Welten glauben, sind die einzigen, die von einer anderen, besseren Realität träumen und gerade deshalb von einer auf Repression und Vernichtung des »Anderen« gegründeten Gesellschaft ausgegrenzt werden.85 Guillermo Bendaña G. vermischt in dem Roman Mayapán. Novela de ficción (1992) Elemente der Siencefiction mit der Mythologie der Mayas zu einer Utopie des Weiterlebens der Maya-Zivilisation auf einem anderen Planeten und ihrer möglichen Rückkehr auf die Erde.86 Auch in Tex-
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Vgl. zu dem Roman ausführlich die Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« sowie »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«. Der »Cipitio« entspricht im salvadorianischen Volksglauben der Figur des Kobolds in Nicaragua, die »Siguanaba« der Frauengestalt »la Cegua« (vgl. die Fußnoten 21 und 25). Im Stil der Trivialliteratur geschrieben und voller Schwarzweißmalerei (die guten Mayas und die bösen Spanier) erzählt der Roman, wie sich von der planetarischen Föderation des Sonnensystems Algol aus drei Raumschiffe auf den Weg machen, um nach Lebewesen auf anderen Planeten zu suchen, die ihre Zivilisation retten könnten. Diese ist vom Aussterben bedroht, da durch die technische Entwicklung jeglicher Fortpflanzungstrieb bei den Bewohnern Algols abgestorben ist. Aufgrund eines Unfalls landet eines der Raumschiffe auf dem Territorium der Mayas, genau zum Zeitpunkt der Eroberung durch die Spanier. Die Besatzungsmitglieder des Raumschiffes leben ein paar Jahre mit den Mayas zusammen und freunden sich mit ihnen an. Die Mayas zeichnen sich nicht nur durch eine hohe Fruchtbarkeitsrate aus, sondern wecken auch wiederden Sexualtrieb bei den »Außerirdischen«. Diese unterstützen die Mayas in ihrem Kampf gegen die »Barbarei der spanischen Eroberung«, angeführt von dem Indianerhäuptling
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ten von Omar Cabezas, Lizandro Chávez Alfaro, Gloria Elena Espinoza de Tercero und Sergio Ramírez finden sich zahlreiche Motive aus der magischmythischen Tradition, die sich zum Teil mit moderneren Mythen (wie etwa dem von Augusto César Sandino, Carlos Fonseca, vom bewaffneten Kampf, von den Bergen als Ort der Formung des »neuen Menschen«, von der Einheit des FSLN und dem unaufhaltsamen Vormarsch der Revolution) verquicken.87 Für alle diese Romane kann festgehalten werden: Zum einen bleibt der Rekurs auf die magisch-mythische Tradition eng verbunden mit dem Problem der Identität, es ist jedoch bezeichnend, dass seit den neunziger Jahren die Romane überwiegen, die schon nicht mehr die Möglichkeit sehen, eine kollektive Identität durch die einfache Wiedergewinnung der präkolumbischen Vergangenheit zu (re)konstruieren. Zum anderen spielt der Rückgriff auf magisch-mythische Elemente eine wichtige Rolle bei den Prozessen der Fiktionalisierung außerliterarischer Wirklichkeit, ohne dass daraus ein einheitlicher Begriff der poetischen Funktionalisierung des Magisch-Mythischen, gar eine Wiedergeburt des doppelten Oxymorons realismo mágico/lo real maravilloso zu begründen wäre. In seiner Einfuhrung zu dem Band Realität und Mythos in der lateinamerikanischen Literatur, der die Beiträge eines 1984 in Lindau veranstalteten Internationalen Literatursymposiums unter dem gleichen Titel enthält, schrieb Christian Wentzlaff-Eggebert, der Mythos sei in der lateinamerikanischen Literatur häufig »zum Vehikel einer für amerikanische und europäische Leser gleichermaßen erkennbare(n), aber doch, je nach Perspektive, verschieden akzentuierte(n) literarische(n) Identität« (WentzlaffEggebert, 1989: XIV) geworden: »Die Grenzen vermischen sich: Für die einen scheint typisch Amerikanisches
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Diriangén, und erreichen, dass die hundert besten Männer, die hundert besten Frauen, die hundert besten Jungen und die hundert besten Mädchen sich mit den Oberlebenden der Besatzung nach der Zerstörung der Hauptstadt Mayapán auf den Weg nach Algol machen, um die dortige Zivilisation zu retten. Unübersehbar sind die Anspielungen auf die Mayastadt Mayapán, die in der Nachfolge von Chichén Itzá gegründet wurde und 1224 unterging, und die intertextuellen Bezüge zur Chronik Libro de los libros de Chilam Balam sowie zu Ernesto Cardenals Gedicht »Mayapán«. Im Gegensatz zu Cardenals Gedicht (in seinem Buch El estrecho dudoso, 1966), in dem er den Zentralismus, Totalitarismus und die diktatorische Herrschaft des Stadtstaates für den Verfall der alten Werte der Maya-Kultur verantwortlich macht und sie als dunkle Vorzeichen für die Zukunft liest, zeichnet Guillermo Bendaña G. ein durchweg verklärendes Bild, (zu Cardenal vgl. Briesemeister, 1989: 297-303) Dies trifft für die folgenden Texte zu: Omar Cabezas, La montaña es algo más que una inmensa estepa verde (1982) und Canción de amor para los hombres (1988a); Lizandro Chávez Alfaro, Columpio al aire (1999); Gloria Elena Espinoza de Tercero, La casa de los Mondragón (1998); Sergio Ramírez, La marca del Zorro. Hazañas del comandante Francisco Rivera Quintero contadas a Sergio Ramírez (1989) und Margarita, está linda la mar (1998a). Vgl. ausführlich zu diesen Texten besonders die Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«, »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion« sowie »Fünfter Kreis: Raum und Text«.
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nicht nur auf die umgebende Wirklichkeit, sondern auf die europäischen Wurzeln zu verweisen; für die anderen erhalten europäische Figuren und Überlieferungen einen exotisch-paradigmatischen Anstrich. Es entsteht so für beide Seiten eine nicht allzu schwer assimilierbare Mischung aus Bekanntem und Andersartigem.« (ibid.)
Dies habe seinerseits zu einem neuen Mythos von »Lateinamerika« geführt, der die Vielfalt und Komplexität, die Probleme und Widersprüche der lateinamerikanischen Wirklichkeit - und man müsste hinzufügen: auch der literarischen Realität - eher verdecke als erhelle, (vgl. ibid.) Das mag für die lateinamerikanische Seite kaum verwundern, begab sich das Bemühen um lateinamerikanische Identität historisch doch immer in zwei kulturellen Zentren auf die Suche: dem europäischen und dem präkolumbischen/indigenen. Wie eingangs dieses Kapitels dargelegt, ist die Geschichte des doppelten Begriffspaares »magischer Realismus/das wunderbare Wirkliche« ein beredter Beleg dieser doppelten Orientierung und ihrer unentwirrbarren Verquickung in der lateinamerikanischen Literatur und Literaturkritik. Für Magda Zavala stellen Pedro Páramo von Juan Rulfo und Hombres de maíz von Miguel Angel Asturias, was die Suche nach meso- bzw. zentralamerikanischer Identität im indigenen Mythos angeht, zwei Gründerromane dar. Die danach erschienenen Werke bildeten »un subconjunto literario al que reúne su arraigo en el mito indígena mesoamericano. Se restablece así por la narrativa, una unidad cultural originaria que va más allá de las fronteras nacionales.« (Zavala, 1990: 203, vgl. 241) Allerdings sieht sie für Zentralamerika ab den achtziger Jahren gerade in diesem Kontext einen Paradigmenwandel: Die Verwurzelung (»arraigo«) im indigenen Mythos - für die zentralamerikanische Literatur nach Rulfo und Asturias als konstituierend für eine regionale mesoamerikanische kulturelle/literarische Identität gesehen - beginnt einer zunehmenden Thematisierung der Wurzellosigkeit bzw. Entwurzelung und ihrer narrativen Gestaltung zu weichen. So schreibt sie paradigmatisch in Bezug auf den Roman El tiempo principia en Xibalbá (1985) des Guatemalteken Luis de Lión: »El tema del olvido del origen y la pérdida de los abuelos tiene en El tiempo principia en Xibalbá una grave consecuencia. Todo el pueblo es olvido y descomposición, así se reproduce. Lo que en otras novelas es comarca autárquica y feliz, un pueblo salido de la edad de oro o del paraíso, aquí se trasforma en el infierno, como señala Fernando Aínsa para un grupo considerable de novelas latinoamericanas. Estos pueblos llevan en sí mismos la destrucción, por la ausencia de solidaridad y nexos positivos [...] « (Zavala, 1990: 219; vgl. Aínsa, 1986: 453)
Die Sehnsucht nach der indigenen Vergangenheit, das Bewusstsein des Verlusts brächten eine allgemeinere Identitätssuche des zentralamerikanischen
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Zweiter Kreis: Magie und Realität
Intellektuellen am Ende des Jahrhunderts zum Ausdruck. Auch in Nicaragua manifestiert sich dieser Paradigmenwandel. Die Repräsentation der indigenen Welten in den Romanwelten und ihre poetische Funktionalisierung erfolgt von äußerst verschiedenen Gesichtspunkten aus: Die indigene Welt ist eine von den spanischen Konquistadoren misshandelte Welt; sie ist eine Vergangenheit, die bei der Suche nach individueller und kollektiver Identität wiedergewonnen werden muss; sie ist eine Welt, die für revolutionäre Zwecke instrumentalisiert wird; sie ist eine parallele Welt, die am Rande der von den Spaniern/Mestizen dominierten Welt fragmentiert überlebt, jedoch nicht wiedergewonnen und wiederhergestellt bzw. mit dieser versöhnt werden kann; sie ist eine magische Welt, die in den Sitten und täglichen Verrichtungen der nicaraguanischen Bevölkerung überlebt, ohne zum Ausgangspunkt für einen neuen Großmythos zu werden. Er äußert sich auch darin, dass in den Romanen selbst - hypertextuell, metatextuell und selbstreferenziell - diese Problematik präsentiert, die konstitutive Funktion von Mythos und Magie für die Konstruktion von (proto)nationaler Identität dekonstruiert wird und zum Beispiel die »magischen Substrate« in der Völkskultur mit neuen (unter anderem revolutionären) Ideologien zusammenstoßen, um sich schließlich mit diesen zu vermischen und eine neue hybride kollektive Vorstellungswelt zu schaffen. Wie dargelegt steht in den in den achtziger und neunziger Jahren in Nicaragua erschienenen Romanen nicht die Suche nach der lateinamerikanischen bzw. zentral- oder mesoamerikanischen Besonderheit im Vordergrund, sondern das Bemühen um eine (neue) nationale Identität im Rahmen des Projekts des revolutionären Nationalismus, für das die magisch-mythischen Traditionen funktionalisiert werden. Ab den neunziger Jahren lösen sich die engen Bande zwischen Magie und Nation zunehmend auf, ja das Magisch-Mythische übernimmt die Funktion, die Brüchigkeit der nationalen Identität zu repräsentieren. Diese Romanliteratur der neunziger Jahre hat den Diskurs des »literarischen Nationalismus« hinter sich gelassen, sie wirft erneut und in spezifischer Weise das Problem der Beziehung zwischen Aneignung der sozialen Realität, Mythos und literarischer Repräsentation sowie Präsentation auf, für deren Analyse der Begriff des magischen Realismus wie andere direkt aus ihm abgeleitete Konzeptionen nur noch historischen Wert haben.88 Die Beziehung zwischen außerliterarischen Welten und Romanwelten, das heißt die Aneignung
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Dies trifft meines Erachtens auch auf den Vorschlag Magda Zavalas zu, im zentralamerikanischen Kontext von »mythischem Realismus« zu sprechen: »La importancia de los textos de base en la nueva realidad textual permite hablar con propiedad de un realismo mítico, en vez de realismo mágico o real maravilloso. De esa manera se marcaría la dominante mítica.« (Zavala, 1990: 242) Abgesehen davon, dass das mythische Element traditionell eng mit dem Begriff des Magischen verbunden ist, verhindert auch die von Zavala favorisierte Bezeichnung eher, die unterschiedlichen narrativen Funktionalisierungen des Magisch-Mythischen in der zeitgenössischen zentralamerikanischen Literatur in den Blick zu bekommen.
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von Realität in den nicaraguanischen Romanen der achtziger und neunziger Jahre, die auf magisch-mythische Elemente zurückgreifen, scheint mir wesentlich komplexer und differenzierter, als dass sie mit der Fortschreibung einer der verschiedenen Versionen der zweifachen Doppelbezeichnung realismo mágico/lo real maravilloso angemessen analysiert werden könnten. Es bestätigt sich, dass die Präsenz des Magisch-Mythischen in der Literatur nicht mit fantastischer Literatur gleichzusetzen ist. Fantastische Elemente sind vorhanden und nehmen zum Teil tragende Funktionen ein (wie zum Beispiel in den Romanen von Gioconda Belli, Sergio Ramírez und Franz Galich), aber in der Funktion, Realitäten zu repräsentieren, die von Aberglauben, Legenden, Mythen etc. geprägt sind und in Widerspruch zur rationalen Logik treten, bzw. utopische Entwürfe zu formulieren. Dabei werden Techniken der mimetischen, nicht mimetischen und antimimetischen Fiktion, manchmal sogar Korrespondenz, verwendet. Auch hinsichtlich der narrativen Präsentation lässt sich kaum bestätigen, was allgemein für die Literatur des Postbooms und Post-Postbooms konstatiert wurde, nämlich eine allgemeine Tendenz der Rückkehr zu einfachen, konventionellen Formen und einer Konzentration auf das Was der Erzählung anstelle des Wie. (vgl. Gálvez, 1987: 96f.; González Echevarría, 1987: 69-71; González Echevarría, 1990; Arias, 1998a: 233f., 246-250, bes. 248) Vielmehr scheint mir auch für Nicaragua das zu gelten, was Magda Zavala für die zentralamerikanischen Romane nach dem boom als charakteristisch ansah, die sich durch die Integration von Thematiken, Figuren, linguistischen Materialien und authentischen Texten der »ethnischen Subkulturen« sowie ihrer verschiedenen mündlichen Ausdrucksformen, das heißt durch ein vielfaltiges Beziehungsgeflecht von Hypotexten und Hypertexten auszeichneten (vgl. Zavala, 1990: 241): »Las novelas que corresponden a la transformación de uno o varios hipotextos míticos, toman de ellos sus universos temáticos y sus necesidades de simbolización, reinterpretadas en función de las nuevas necesidades culturales. Igualmente, los textos de base aportan su concepción de las coordenadas espacio-temporales, nutren la armazón estructural y las estrategias discursivas. [...] Las estrategias narrativas y de composición textual del mito se mezclan en estas novelas con las técnicas novelísticas contemporáneas [...]« (ibid.: 242)" Die erzählten Wirklichkeiten bedienen sich der magischen Erzählungen, wie diese die Repräsentation von Realität durchdringen.
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Ähnlich argumentiert Arturo Arias, der innerhalb der behaupteten allgemeinen Tendenz durchaus einen »nuevo tipo de juego de tipo formal, un volver deliberadamente a formas explícitas de la tradición para desdoblarlas en un contexto diferente« (Arias, 1998a: 234) erspäht. Zur Auseinandersetzung mit der These von der Rückkehr zu konventionellen Schreibformen vgl. das Kapitel »Ausfahrt: Literarischer Nationalismus und neue Unübersichtlichkeit«.
Dritter Kreis Geschlecht und Nation » [...] encontré mi génesis, mis antepasados, me sentí continuación concreta, ininterrumpida, encontré mi fuente de alimentación, [...] yo estaba siendo alimentado por Sandino, pero no había logrado ver materialmente mi cordón umbilical, y eso me nació, lo descubrí en ese momento.« Ornar Cabezas, La montaña es algo más que una inmensa estepa verde » [...] la Madre Antigua las está preñando para que vuelvan a dar a luz a la Sofia y ésta pueda renacer con un nuevo corazón que sea la unión de serpiente, jaguar y pájaro.« Gioconda Belli, Sofía de los presagios » -Mi seguridad está en mi venta, nunca me falla. Que no se te ocurra volverme decir que la deje [...] -fue la respuesta contundente y categórica de la Gertrudis.« Carlos Alemán Ocampo, Vida y amores de Alonso Palomino
Männerprobleme und Frauenprobleme Männerprobleme hätten sie nicht in Nicaragua, antwortet der Guerillakommandant Francisco Rivera in Sergio Ramírez' La marca del Zorro (1989) auf die besorgte Frage des panamaischen Generals und damaligen »líder máximo« Omar Torrijos bei einem Besuch in dessen Haus im Januar 1979, also wenige Monate vor dem Sieg der sandinistischen Revolution in Nicaragua: »Bueno, muchacho, ¿y cuál es el problema en Nicaragua? ¿Es asunto de hombres, de güevos, o de qué cosa ?« (214) Was sie bräuchten, seien Waffen, und das nicht zu knapp: »-Un momento. Problema de hombres y de güevos, no tenemos ninguno - l e contesté. / -¿Y qué es lo que necesitan entonces? / - L o que necesitamos son armas en puta -le dije.« (ibid.)1 Die Nation biologisiert als männliches Geschlechtsorgan: Metaphorisch-symbolisch verkörpert diese Szene ein Schlüsselproblem des Nationendiskurses in der nicaraguanischen Literatur am Ende des 20. Jahrhunderts. Während mit der nueva novela hispanoamericana der nationale Rahmen als Bezugspunkt der Literatur endgültig verlassen schien, erlebt das Konzept der Nation in den zentralamerikanischen Literaturen der sechziger, siebziger
Wie im Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur« ausgeführt, stellt Ramirez' Buch einen der bedeutendsten Texte der nicaraguanischen Testimonialliteratur der achtziger Jahre dar.
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Kreis:
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und achtziger Jahre im Kontext des politisch-militärisch-kulturellen Diskurses um nationale Befreiung und revolutionär-nationalistische Projekte der gesellschaftlichen Veränderung eine ungeahnte Renaissance. Die Nation spielt in den Literaturen Zentralamerikas und insbesondere Nicaraguas in zweierlei Hinsicht eine herausragende Rolle: Zum einen wird die Literatur als ideologische Praxis des nationalen Befreiungskampfes verstanden, das Projekt des revolutionären Nationalismus findet seine Entsprechung in einem »literarischen Nationalismus«, der nach dem Sturz der Diktatur von der revolutionären Regierung ausgiebig gefördert wird. Die Literatur (wie die Literaten und Künstler) übernimmt in diesem Projekt eine zentrale Funktion flir die Konstruktion der (neuen) Nation. 2 Zum anderen wird das Konzept der Nation konstituierend für die Literatur; die Aneignung der außerliterarischen Wirklichkeit und ihre literarische Repräsentation und Präsentation werden weitgehend vom Nationendiskurs geprägt, der seinerseits auf mythisch-magische, historische, ethnische, räumliche und insbesondere geschlechtsspezifische Elemente rekurriert. Wie die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Mary K. Addis in einem Vortrag über die Romane La mujer habitada (1988a) und Sofia de los presagios (1990a) von Gioconda Belli feststellte, ist dieser literarische Nationalismus, »tal como está expresado en sus textos más conocidos, [...] un nacionalismo profundamente marcado por concepciones de la diferenciación genérico-sexual« (Addis, 1995b: 2). In den späten achtziger und den neunziger Jahren ist eine Reihe von Studien erschienen, die sich insbesondere damit befassen, die Schnittstellen von (sozialem) Geschlecht, Ethnie und Nation in Zeiten des Übergangs zur Moderne in Lateinamerika zu untersuchen. 3 In diesen Arbeiten wird hervorgehoben, wie die aus dem bewaffneten Kampf entstehende Nation als männlich-patriarchalische konstruiert wird. Während diese
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Vgl. dazu ausführlich Beverley /Zimmerman (1990) und die Kapitel »Bypass: Roman und Welt« sowie »Ausfahrt: Literarischer Nationalismus und neue Unübersichtlichkeit« der vorliegenden Arbeit. Vgl. Rodríguez, 1994: 1. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Jean Franco (1989), Doris Sommer (1991) und - insbesondere zu Zentralamerika und Nicaragua Ileana Rodríguez (1992, 1994 und 1996); vgl. auch die in Seminar on Feminism and Culture in Latin America (1990) enthaltenen Beiträge (insbesondere Pratt, 1990). Rodriguez spricht von »two transitions to modernity: the first, at the beginning of the century, is carried out under the ideology of Neo-Positivism; the second, in the middle of the century, is under the ideology of Marxism. For the first transition, I take as examples of masculine paradigmas the novels of nation-formation, and for the second, testimonial literature.« (Rodriguez, 1994: 1, vgl. 27f.) Zu den ersten gehören: Rómulo Gallegos, Doña Bárbara (1929), Ricardo Güiraldes, Don Segundo Sombra (1926) und José Eustasio Rivera, La voragine (1924), zu den zweiten Omar Cabezas, La montaña es algo más que una inmensa estepa verde ( 1982) und Canción de amor para los hombres ( 1988a), Sergio Ramírez, La marca del Zorro ( 1989) sowie Tomás Borge, La paciente impaciencia (1989). Unter dem Aspekt der weiblichen Paradigmen in der Literatur dieser Übergangsperioden untersucht sie Romane von fünf lateinamerikanischen Autorinnen:
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Dritter Kreis: Geschlecht und Nation
Konstruktion das Männliche, den vielbeschworenen »hombre nuevo« nicht nur als Metapher, sondern als Metonymie und Synekdoche der Nation versteht, grenzt sie das Weibliche entweder ganz aus oder bestenfalls marginal ein als literarische Figur, als Metapher: » [...] woman [...] is [...] the compañera, the couple, male sexuality within the womb of the guerrilla nation-state. But grammatically she is only an adjunct, a man's companion, family - this [...] is the way she appears in the guerrilla texts.« (Rodríguez, 1994: 41) Der »hombre nuevo« schließt - indem er in Umkehrung des biblischen Aktes Eva sozusagen in die Rippe Adams re-implantiert - auch leiblich die »mujer nueva« ein: »The 'new woman' is a 'new man', a woman with balls, meaning a courageous woman, balls being the signifier of value, a compañera, as in comrade-in-arms. But since balls are also the masculine signifier par excellence, the term slides from one meaning to another to suit the convenience of male power: [...] The new woman in the mountain has incorporated all the male attributes: she is a ballsy woman who is brave, ready, audacious - but she is not yet a man.« (ibid.: 42) In diesem Kontext wurden die nicaraguanischen Romane, die das Verhältnis von Geschlechterkonstruktion und Nationendiskurs thematisieren, rezipiert und wissenschaftlich untersucht. Insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, entwickelte sich um die nicaraguanische »Frauenliteratur«, das heißt die von Frauen geschriebene Literatur, in der das Problem der Unterdrückung bzw. Emanzipation der Frau im Mittelpunkt steht, eine rege Debatte, vor allem unter US-Wissenschaftlerinnen, die hauptsächlich auf die Romane Gioconda Bellis fokussiert ist.4 Trotz einiger kritischer Ansätze bei Debra Castillo und Ileana Rodríguez (vgl. dazu weiter unten) überwiegt in diesen Studien eine eindeutige Vereinnahmung des erzählerischen Werkes Gioconda Bellis für einen militanten Feminismus bzw. eine Geltendmachung des besonderen nicht im allgemeinen Projekt der sozialen Veränderung und nationalen Unabhängigkeit aufgehenden - Stellenwerts der Befreiung der Frau, auch und gerade gegenüber dem machismo und dem Fortleben patriarchalischer Strukturen innerhalb der Befreiungsbewegung selbst. Integraler Bestandteil der Konstruktion eines feministischen Diskurses in La mujer habitada (1988a) sei die Dekonstruktion des machismo, (vgl. Crafit, 1997: 175) Vom literarischen
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Teresa de la Parra (Venezuela), Dulce María Loynaz (Kuba), Jean Rhys (Jamaika), Simone Schwarz-Bart (Guadeloupe) und Gioconda Belli (Nicaragua), (vgl. ibid.: 1) Vgl. Dröscher, 1996b: 20. Dazu gehören u.a. die Arbeiten von Addis (1995b), Castillo (1992), Craft (1997), Galindo (1997), González (2000), Harlow (1992), Kaminsky (1994) und Rodríguez (bes. 1994: 1-55, 165-169).
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Feld aus schlage Gioconda Belli eine »mujer históricamente centrada« (González, 2000: 175) vor, die in eine aktive und authentische weibliche und feministische Agenda auf dem politischen und sozialen Feld transformiert werden müsse. Die »bewohnte« oder (um González' Bild aufzugreifen) »zentrierte« Frau Bellis wird so ihrerseits zur metonymischen und synekdochischen Repräsentation einer neuen nationalen und sozialen Ordnung: »What emerges in the end is a hybrid novel that pays homage to Nicaragua's fighting women who, in touch with their natural and indigenous roots and in solidarity with their sisters, demand freedom from oppressive social values and access to power alongside their male counterparts.« (Craft, 1997: 182) Diese sozusagen denotative Lektüre, die sich (wie am Erscheinungsdatum der hier zitierten Arbeiten zu sehen) bis Ende der neunziger Jahre fortsetzt, lässt nicht nur eine Reihe von widersprüchlichen Elementen im ersten Roman Gioconda Bellis außer Acht, die sich gegen eine einseitige Interpretation sträuben. 5 Sie ignoriert auch die Veränderungen im Werk der Autorin selbst, insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses von Geschlechterkonstruktion und Nationenkonstitution, und damit die Wandlungen, die sich in der nicaraguanischen Romanliteratur der achtziger und neunziger Jahre vollziehen - und zwar nicht nur in der so genannten »Frauenliteratur« im obigen Sinn, sondern auch in der von männlichen Autoren geschriebenen Literatur, die sich keineswegs nur, aber auch »Frauenthemen« widmet. Die Verschiebungen in Bellis Werk stehen im Kontext eines allgemeineren Paradigmenwandels, was das Verhältnis von Geschlecht und Nation in der narrativen Repräsentation und Präsentation von Wirklichkeit und die poetologische Funktion von Weiblichkeits- und Männlichkeitskonzepten in der Literatur angeht. Diesen Veränderungen soll in diesem Kapitel nachgespürt werden.
Der Körper, Land der Seen und Vulkane »Siento que soy un bosque, que hay ríos dentro de mí, / montañas ... / Y me parece que voy a estornudar flores / y que, si abro la boca, provocaré un huracán con todo el viento / que tengo contenido en los pulmones.« So heißt es quasi programmatisch in dem Gedicht »Mi sangre« des 1974 veröffentlichten Buches Sobre la grama von Gioconda Belli.6 In der Tat liest sich die von
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Vgl. die Kritik der chilenischen Literaturwissenschaftlerin Ramona Lagos an einer auf den Inhalt fixierten, nicht literarischen, naiven und (was den expliziten Diskurs des Romans angeht) leichtgläubigen Lektüre, (vgl. Fußnote 41 im Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«) Hier zitiert nach Moyano, 2000: 183f.
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Frauen geschriebene Poesie der siebziger Jahre in Nicaragua wie ein Echo auf den feministischen Diskurs der damaligen Epoche (vor allem in Europa und Nordamerika) und wird auch als solche rezipiert. Die Bedeutung dieser neuen Poesie für die zeitgenössische nicaraguanische Literatur kann kaum unterschätzt werden. Schon der 1970 entstandene und 1974 veröffentlichte erste Gedichtband Gioconda Bellis, den Jorge Eduardo Arellano noch in der letzten Ausgabe seiner Literatura nicaragüense als »la revelación de 1970« (Arellano, 1997: 239; vgl. Kohut, 1995: 260) bezeichnete, fegte - um im Bild der Autorin zu bleiben - wie ein Wirbelwind eine literarische Tradition durcheinander, in der nicht nur Autorinnen fast nicht präsent waren, sondern das Frauenbild noch lange nicht das ihm von den patriarchalischen Konventionen angelegte Korsett gesprengt hatte. Um die Bedeutung des Einbruchs der Frau als Autorin, Protagonistin und autonomer poetischer Figur in die Männerdomäne Literatur zu verstehen, genügt es, sich vor Augen zu halten, dass in den von Frauen geschriebenen testimonios, insbesondere den Gefangnistagebüchern, der siebziger Jahre der weibliche Körper als Quelle des Leids, Objekt der männlichen Begierde, Unterdrückung und Vergewaltigung, ja Ursache des unheilvollen weiblichen Schicksals repräsentiert wird und dass noch bis weit in die achtziger Jahre hinein (also nach dem Sieg der Revolution) selbst die viel beschworenen »authentischen« literarischen Ausdrucksformen dieser Revolution, der testimonio und die Lyrik der Talleres de Poesía, von traditionellen Weiblichkeitsbildern beherrscht werden.7 Noch in Omar Cabezas' La montaña es algo más que una inmensa estepa verde (1982) werden die Berge als weiblicher Körper erfahren, von dem der Guerillero zu Recht Besitz ergreift, die Frau selbst ist aus diesem mythischen Schaffensakt des »hombre nuevo« ausgeschlossen. (vgl. dazu weiter unten) In den im Kontext der Poesiewerkstätten entstehenden Gedichten dominiert der männliche Blick auf den weiblichen Körper als Objekt der Begierde, historische Identität und Kontinuität werden unter Rekurs auf die patriarchalische Figur Augusto César Sandino konstruiert und von Frauen (Großmüttern und Müttern) weitererzählt. Noch ist diese Literatur beherrscht von einem Verständnis der weiblichen Sexualität ausschließlich im Dienst des Mannes, der traditionellen Rolle der Frau für die Reproduktion der männlich dominierten Gesellschaft und der Funktionalität der Frauen für das Gelingen der Revolution.8 Mit ihrem ersten Gedichtband bricht Gioconda Belli unüberhörbar und definitiv mit diesen Konventionen, indem sie die Erschaffung des weiblichen
Vgl. dazu das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«. Vgl. den materialreichen Artikel »La mujer de la Nueva Nicaragua: imägenes en la poesia de los talleres populäres« von Ciaire Pailler (in: Pailler, 1989: 45-77, bes. 51-63). Pailler weist darauf hin, dass in dem auf sieben Anthologien (erschienen zwischen 1980 und 1983) basierenden Korpus ihrer Studie von 187 Autoren nur 52 weiblichen Geschlechts seien, ein ähnliches Missverhältnis gelte für die Zahl der veröffentlichten Gedichte, (vgl. ibid.: 45, 50)
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G e s c h l e c h t s durch Gott preist u n d inmitten der Unterdrückung, der Zerstörung und d e s T o d e s e i n L o b l i e d a u f d a s Leben, die Liebe, die w e i b l i c h e Sensualität u n d Sexualität singt. D i e s e w e i b l i c h e S t i m m e g e w i n n t nicht nur m i t i h r e m z w e i t e n , 1 9 7 8 v e r ö f f e n t l i c h t e n G e d i c h t b a n d Linea defuego,
der mit d e m kuba-
n i s c h e n » P r e m i o C a s a de las A m e r i c a s « a u s g e z e i c h n e t wird, g r ö ß e r e Brillanz, i n d e m sie d e n A n s p r u c h a u f w e i b l i c h e S e l b s t b e s t i m m u n g mit d e m K a m p f u m d i e B e f r e i u n g v o n der Diktatur verbindet, (vgl. Kohut, 1 9 9 5 : 2 6 0 ; M o y a n o , 2 0 0 0 : 178)' Z u s a m m e n mit ihr m e l d e t s i c h auch unüberhörbar e i n e g a n z e G r u p p e v o n s c h r e i b e n d e n u n d g r ö ß t e n t e i l s i m p o l i t i s c h e n W i d e r s t a n d aktiven Frauen z u Wort, d i e R o l l e u n d B i l d der Frau in der n i c a r a g u a n i s c h e n Literatur e i n für alle Mal verändern. 1 0 D e r w e i b l i c h e Körper ist nicht länger Objekt der m ä n n l i c h e n Lust u n d Q u e l l e d e s w e i b l i c h e n Leids, d a s heißt der E n t f r e m d u n g u n d V e r d i n g l i c h u n g der Frau, er w i r d z u m Ort der w e i b l i c h e n Identität, ihrer S e l b s t b e s t i m m u n g u n d ihrer Freuden. D i e N a t u r m e t a p h e r n und der Rekurs a u f d i e vier E l e m e n t e , die in den G e d i c h t e n n a h e z u a l l g e g e n w ä r t i g sind, s t e h e n nicht l ä n g e r i m D i e n s t e i n e s m ä n n l i c h e n W e i b l i c h k e i t s b i l d e s , sondern d i e n e n dazu, e i n e n e u e Frau z u i m a g i n i e r e n . " D e r w e i b l i c h e Körper wird z u e i n e m L a n d der S e e n u n d
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Außer den beiden genannten veröffentlichte Gioconda Belli folgende Gedichtbände: Truenos y arco iris (1982, Managua: Editorial Nueva Nicaragua), De la costilla de Eva (1986, Managua: Editorial Nueva Nicaragua), El ojo de la mujer (1991, Managua: Editorial Nueva Nicaragua) und Apogeo (1997, Managua: anamá ediciones). Auf Deutsch sind folgende Lyrikbände erschienen: Feuerlinie (1981, Wuppertal: Peter Hammer Verlag, übersetzt von Dieter Masuhr), Wenn du mich lieben willst (1985, Wuppertal: Peter Hammer Verlag, übersetzt von Dieter Masuhr), Aus einer Rippe Evas (1989, Wuppertal: Peter Hammer Verlag, übersetzt von Dagmar Ploetz und Anneliese Schwarzer de Ruiz), In der Farbe des Morgens (1992, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, übersetzt von Dieter Masuhr), Zauber gegen die Kälte (1992, Wuppertal: Peter Hammer Verlag, übersetzt von Anneliese Schwarzer) und Feuerwerk in meinem Hafen (1997, Wuppertal: Peter Hammer Verlag, übersetzt von Lutz Küche). Zur Bedeutung der Erotik in Gioconda Bellis Poesie (von Linea de fuego bis El ojo de la mujer) vgl. den Aufsatz »El humanismo erótico de Gioconda Belli« von Álvaro Urtecho (1996). 10 Dazu gehören neben Gioconda Belli (1948) die mehrheitlich in den vierziger und fünfziger Jahren geborenen Yolanda Blanco, Ana Ilce Gómez, Vidaluz Meneses, Carlota Molieri, Rosario Murillo, Michele Najlis, Carla Rodríguez und Daisy Zamora sowie die 1918 geborenen Maria Teresa Sánchez und Mariana Sansón, die bereits seit den vierziger und fünfziger und zum Teil bis in die achtziger Jahre Gedichte veröffentlichen, weshalb es falsch wäre, von einer Generation von Schriftstellerinnen zu sprechen. Vgl. dazu ausfuhrlich den Artikel »Bajo el signo de Chalchihuitlicue: ser mujer y poeta en Nicaragua« von Ciaire Pailler (Pailler, 1989: 79-102 und 171-176; vgl. auch Palacios, 1998: 51-68; Arellano, 1997d: 219Í, 238-240). Wie Pailler nachweist, schlägt sich die aktive Haltung der Frauen zu ihrer eigenen Sexualität auch in zahlreichen Gedichten im Kontext der Talleres de Poesía nieder: »Así, más allá del juego disfrazado de la coqueta, las muchachas toman ahora la iniciativa y se ofrecen, cándida y llanamente [...] « (Pailler, 1989: 64, vgl. 65f.) " Vgl. dazu ausführlich Pailler (1989: bes. 79, 81-100), die darstellt, dass die beiden weiblichen Elemente Wasser und Erde in der Metaphorik der Gedichte überwiegen, während die männlichen (Feuer und Wind) eher selten sind. Allerdings zitiert sie selbst eine Reihe von Texten,
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Vulkane, zum Ort der weiblichen Lust, wie es in dem Gedicht »A los mártires de Bocay« von Michele Najlis heißt: »Nosotros, los hijos del sol [...] / los que tenemos la sangre poblada de lagunas / y el cuerpo cubierto de volcanes, / los que vimos caer la lluvia sobre la tierra seca [...]/ nosotros rompimos las cadenas y emprendimos el camino.«'2 Auch Gioconda Belli beschwört in ihrem Gedicht »Hasta que seamos libres« den weiblichen Körper als Land der Liebe und Verheißung: »Ríos me atraviesan, / montañas horadan mi cuerpo / y la geografía de este país / va tomando forma en mí, / haciéndome lagos, brechas y quebradas, / tierra donde sembrar el amor / que me está abriendo como un surco, / llenándome de ganas de vivir ... «I3 Die befreite weibliche Erotik und Sexualität münden bei Belli in ein poetisches Manifest über das Verhältnis von Frau und Literatur, weiblichem Körper und Schreiben, wie es in dem bereits zitierten Gedicht »Mi sangre« zum Ausdruck kommt: »Mi sangre acarrea letras / dentro de mi cuerpo. / Ando una sensación extraña en la cabeza, / una sensación de olas reventando, / de presa contenida, de túnel de viento.«'4 In »Poema de abril« kommt das in ihrem Bauch verborgene Gedicht wie ein lang anhaltender Orgasmus hervor, in »La espera« heißt es, die Dichterin müsse sich beim literarischen Schöpfungsakt wie im biologischen Fortpflanzungsprozess vom Rhythmus der Mondzyklen und der Mutter Erde leiten lassen.15 Der Körper der Frau symbolisiert nicht nur die Rekreation der Menschen, sondern auch ihre Fähigkeit zur künstlerischen Kreation. Schließlich wird der weibliche Erd-Körper zum Symbol einer besseren zukünftigen Gesellschaft: »Algún día los campos estarán siempre verdes / y la tierra será negra, dulce y húmeda. / En ella crecerán altos nuestros hijos / y los hijos de nuestros hijos ... //Y serán libres como los árboles del monte / y las aves«, prophezeit Daisy Zamora in ihrem Band La violenta espuma (1982: 117). Und Gioconda Belli antwortet auf die Titelfrage ihres Gedichts »¿Qué sos Nicaragua?« mit der Biologisierung der Nation als weiblichem Geschlechtsorgan, mehr entblößt als
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in denen männliche und weibliche Elemente sich vermischen (vgl. 90, 93, 95-98). Aus dem Gedichtband El viento armado (1982), hier zitiert nach Pailler, 1989: 98. Ähnlich schreibt Rosario Murillo in ihrem Gedicht »Yo miro hondo en mí y siento el universo« in dem Band Amar es combatir (1982): »mi vientre ha sido árbol, manantial y volcán ... «, hier ebenfalls zitiert nach Pailler, 1989: 98. Aus dem Gedichtband Linea de fuego (1978: 11). In dem Gedicht »Nos casaremos en invierno« aus dem gleichen Buch heißt es: »Uniremos la tierra con el agua. / Nos casaremos con el cielo cerrado ... « (ibid.: 87). Aus dem Gedichtband Sobre la grama (1974), hier zitiert nach Moyano, 2000: 183. Vgl. insgesamt zu diesem Aspekt Pilar Moyanos konzisen, gleichwohl aufschlussreichen Aufsatz »Primera poesía de Gioconda Belli y 'écriture féminine' de Hélène Cixous: consideraciones retrospectivas sobre la corporeidad del discurso« (ibid.: 177-188). Beide in Sobre la grama, vgl. Moyano, 2000: 182f. Moyano folgert: »El tipo de escritura que resultará de esta comunicación de la mujer con su cuerpo [...] presenta una subversión poderosa de la economía establecida de la escritura, sujeta a los dictados de una relación racional entre las palabras y el mensaje.« (ibid.: 183)
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verhüllt in einer Erdmetapher - die zehn Jahre zuvor formulierte Gegenthese zu dem männlichen Dialog in Sergio Ramírez' La marca del Zorro, die zu Beginn dieses Kapitels zitiert wurde: »¿Qué sos / sino un triangulito de tierra / perdido en la mitad del mundo?« 16 Ebenfalls ein Jahrzehnt später, also mit einer zeitlichen Verzögerung, die den im ersten Teil der vorliegenden Studie dargelegten Ursachen für die Dominanz der Poesie in der nicaraguanischen Literatur bis in die revolutionäre Periode hinein geschuldet sein dürfte, verschaffen sich diese Stimmen auch in der Prosa, genauer im Roman, Gehör. Auch hier gehört das Werk Gioconda Bellis zu den bahnbrechenden und am meisten beachteten Arbeiten, steht allerdings ebenfalls im Kontext einer Reihe von Texten anderer Autorinnen, die zum Teil bereits vor Belli auf dem Feld der Romanliteratur debütierten und Geschlechterfragen thematisierten (wie Rosario Aguilar), zum Großteil aber ab den neunziger Jahren die literarische Bühne betraten (wie zum Beispiel Milagros Palma).17 Mit La mujer habitada (1988a) knüpft Gioconda Belli auch auf dem Gebiet des Romans an die in ihrer Lyrik in den siebziger Jahren aufgeworfenen Fragen an. Zum ersten Mal in der Geschichte der nicaraguanischen Literatur - und wie Arturo Arias schreibt: in der zentralamerikanischen (vgl. Arias, 1998a: 239) - emanzipiert sich die Frau als Romanfigur vom männlichen Diskurs. Wie in der Poesie werden die befreite weibliche Sexualität und Erotik zur Synekdoche einer allgemeineren Befreiung, der weibliche Körper zur Metapher einer humaneren Welt: »The morphology of the female body, which has erogenous zones all over, anywhere from head to foot, and where erotism is not centered, focalized in a single organ, becomes a metaphor through which to grasp a textuality which is diverse, plural, circular, centrifugal - in fact multi-voiced and dialogic.« (Schwab, 1991: 65; vgl. Craft, 1997: 168) Die zahlreichen zu Gioconda Bellis Romanwerk erschienenen Studien haben vor allem diesen subversiven Aspekt ihres Erotismus in einer vom Patriarchalismus dominierten Kultur betont, für die exemplarisch Arturo Arias zitiert sei: »El erotismo aquí cumple el papel de lenguaje transgresor. El erotismo, marginalizado de las prácticas discursivas de la novela centroamericana, confronta aquí las rigideces ideológicas que informaron el anterior discurso, generando una fusión entre vitalidad erótica y vitalidad política. El discurso erótico en La mujer 16
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Aus dem Gedichtband Línea de fuego (1978: 14). Im gleichen Gedicht heißt es: »¿Qué sos / sino pechos de mujer hechos de tierra, / lisos, puntudos y amenazantes?« (ibid.) Vgl. Palacios, 1998: 68-76. - Ich beziehe mich insbesondere auf die Romane Siete relatos sobre el amor y la guerra (1986) und La niña blanca y los pájaros sin pies (1992) von Rosario Aguilar, La mujer habitada (1988a), Sofía de los presagios (1990a) und Waslala. Memorial del futuro (1996a) von Gioconda Belli sowie Bodas de cenizas (1992), Desencanto al amanecer (1995), El obispo (1997) und Así es la vida (2000) von Milagros Palma.
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habitada enfatiza su energía como elemento de liberación que rompe con el marco de las tradiciones que fosilizan a la sociedad centroamericana.« (Arias, 1998a: 239)" Wie in der Lyrik mündet dieser subversive, gegen die sozialen und kulturellen Traditionen gerichtete Diskurs in eine Subversion des herrschenden Nationendiskurses. Das veränderte Weiblichkeitsbild erhebt Anspruch auf eine Veränderung des Bildes von der Nation. Die neue Weiblichkeit soll an der neuen Nation als vorgestellter Gemeinschaft zumindest teilnehmen. Die sexuelle Befreiung verbindet sich untrennbar mit der nationalen, die Konstruktion des (neuen) weiblichen Subjekts muss in die Konstruktion der (neuen) Nation eingehen. (vgl. Craft, 1997: 177) Dies postuliert, so die US-amerikanische Wissenschaftlerin Amy Kaminsky unter Bezug auf die Studien Doris Sommers zur Konstruktion nationaler Identität in den Foundational Fictions (so der Titel ihres 1991 veröffentlichten Buches) des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika, eine Neudefinition der Geschlechterbeziehungen insgesamt. Während Sommer die nationale Identität des 19. Jahrhunderts auf der Basis einer Versöhnung verschiedener sozialer Gruppen konstruiert sieht, metaphorisch ausgedrückt in den sexuellen bzw. Geschlechterbeziehungen (der Reproduktion, dem Versprechen auf eine nächste Generation als der Frau zugeschriebener Rolle) (vgl. Kaminsky, 1994: 25), sieht Kaminsky bei Gioconda Belli den Anspruch auf ein Neuaushandeln der heterosexuellen Beziehungen im Rahmen der von der Revolution geschaffenen Bedingungen artikuliert: »La mujer habitada, novela de una segunda etapa de fundación, busca otra clase de reconciliación: lo hace desde el lado subordinado, desde lo femenino e indígena - lo cual requiere una reconceptualización de la subjetividad para saber quién ocupa el espacio del sujeto, y con qué criterios. Es la crónica del impulso hacia un nuevo arreglo heterosexual dentro de la revolución. [...] La demanda por
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Ähnlich wie Schwab hebt Arias unter Bezug auf Bachtin und Foucault den Erotismus als zentrales Element des Karnevalesken hervor, der sich zusammen mit dem Lachen in die Manifestation eines freien und kritischen Bewusstseins verwandele. Er mache sich über den Dogmatismus und Fanatismus lächerlich und verbinde sich mit der Rebellion gegen die Rationalität als Ordnungs- und Repressionsfaktor, »volviéndose así hacia una reafirmación de la subjetividad del conocimiento que pasa por la imaginación y la irracionalidad« (Arias, 1998a: 240). Die beiden ersten Romane Gioconda Bellis werden als Herausforderung an den herrschenden humanistischen Diskurs gesehen. Der Mann repräsentiere nicht länger den Sinn, vielmehr werde die Frau zu seinem Träger, indem sie einen antirationalistischen Gegen-Diskurs artikuliere und damit eine neue Kohärenz als Subjekt: »La tradición se convierte en el resabio de la opresión, y el lenguaje novelesco se convierte en la fuente de la constitución del sujeto que habrá de negarla para continuar la tarea liberadora de todos los sujetos oprimidos bajo el yugo humanista.« (ibid.: 246) Zur Rolle der Erotik in Gioconda Bellis Romanen vgl. auch Craft, 1997: 160, 165-175; zu Rosario Aguilars Werk Palacios, 1998: bes. 26-28, 153-200; zu Milagros Palmas Romanen Ainsa et al„ 2000: bes. 9-15, 19-22, 25-29, 85-89, 117-121.
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el placer sexual de la mujer y la negación a la maternidad que ocurre repetidamente en la novela son dos caras del mismo proyecto de reconceptualizar la sexualidad. La reconciliación que fundará la nación en la novela de Belli - escrita durante la consolidación del gobierno sandinista - se basa en una genealogía femenina decididamente no biológica, no familiar, y en una reconfiguración problematizada de las relaciones entre los sexos.« (Kaminsky, 1994: 27) Damit ist das Problem der Geschlechterkonstruktion als umfassenderes aufgeworfen: Nicht Mann oder Frau lautet die Fragestellung, sondern welche Frau und welcher Mann. Die Konstruktion anderer Weiblichkeits- und Männlichkeitskonzepte steht auf der Tagesordnung, neue Manns- und Weibsbilder sind gefragt. Die Nation wird repräsentiert in der Metapher vom weiblichen Körper als Land der Seen und Vulkane.
Weibsbilder und Mannsbilder Neuere Studien zu Geschlechterkonstruktionen in der lateinamerikanischen Literatur, insbesondere zu Weiblichkeitskonzepten in der erzählenden Literatur Mexikos, haben genau diese Fragestellungen in den Blick genommen.19 Jean Franco geht den Geschlechterkonstruktionen in der mexikanischen Literatur im Verlauf der Jahrhunderte (fokussiert an historischen Persönlichkeiten wie der Malinche, Sor Juana Inés de la Cruz, Frida Kahlo und anderen) sowie im Film und der neueren mexikanischen Literatur nach. Cynthia Steele untersucht Geschlechterkonstruktionen im mexikanischen Gegenwartsroman vor dem Hintergrund der Prozesse von politischem und sozialem Wandel, mit denen die Entwicklung des Romans in Mexiko immer eng verbunden gewesen sei (im Besonderen mit der Revolution und ihren Folgen sowie den in den späten vierziger Jahren beginnenden Modernisierungsversuchen). Ihr besonderes Augenmerk gilt der literarischen Verarbeitung der Studentenbewegung von 1968 und ihrer Folgen sowie der neuen, in den achtziger Jahren entstandenen sozialen Bewegungen und der Folgen des Erdbebens von 1985. (vgl. Steele, 1992: 1, 4)20 Ihr Hauptziel ist, in der zeitgenössischen mexikanischen Gegenwartsliteratur, die von einem patriarchalischen Modell durchdrungen sei, die
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Neben der bereits erwähnten Studie von Jean Franco (1989) sind hier vor allem die Arbeiten von Cynthia Steele (1992) und im Kontext der deutschsprachigen Hispanistik die von Margrit Klingler-Clavijo (1987) und Michaela Peters (1999) zu nennen; vgl. auch den von Barbara Dröscher und Carlos Rincón (2001) herausgegebenen Aufsatzband zur Malinche. Das Korpus ihrer Untersuchung bilden vier Texte von Elena Poniatowska (Hasta no verte Jésus mio, 1969), Fernando del Paso (Palinuro de México, 1977), José Emilio Pacheco (Las batallas en el desierto, 1981) und José Agustín (Cerca del fuego, 1986).
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narrativen Widersprüche zwischen politischer und sozialer Kritik auf der einen Seite und »conceptions of gender roles and relations« (ibid.: 26) auf der anderen zu erforschen. Margrit Klingler-Clavijo untersucht von einer literarsoziologischen Fragestellung aus das Verhältnis der Frauenbilder in der zeitgenössischen mexikanischen Literatur zu dem in der mexikanischen Gesellschaft dominierenden machismo, wobei sie sich insbesondere für die Frage interessiert, ob und in welcher Weise die gesellschaftlichen Bemühungen um Frauenemanzipation zu veränderten fiktionalen Weiblichkeitsbildern gefuhrt haben, (vgl. Klingler-Clavijo, 1987: l) 2 ' Während die Arbeiten von Klingler-Clavijo und Steele auf eine Kritik der Repräsentation gesellschaftlicher patriarchalischer Denk-, Verhaltens- und Machtstrukturen in den literarischen Weiblichkeitsbildern abzielen und stark deskriptiven Charakter haben, geht es Michaela Peters darum zu analysieren, wie weibliche Archetypen, Mythen, Symbole, Stereotype und literarische Typen in der mexikanischen Erzählliteratur verarbeitet werden. Sie untersucht »die weiblichen Genfer-Konzepte in den ausgewählten Werken, um den Prozeß der Konstituierung und Verfestigung dieser Strukturen offenzulegen« (Peters, 1999: 31, vgl. 14f.).22 Ausgehend von Silvia Bovenschens (1980: 40) Konzept der »imaginierten Weiblichkeit« verwendet Peters in ihrer Studie den Begriff »Weiblichkeitskonzept«, mit dem sie nicht darauf abstellt zu untersuchen, »wie sich die konkreten Lebenswelten von Frauen in der literarischen Fiktion manifestieren, sondern [...] welche Muster von Weiblichkeit in der Literatur entstanden sind, welche kulturelle und poetologische Funktion sie übernehmen und wie sie fortgeschrieben werden« (Peters, 1999: 11). Kritisch grenzt sie sich von einigen Grundannahmen der ab Ende der sechziger Jahre sich entwickelnden feministischen Literaturkritik und -Wissenschaft ab, die vor allem die Ausgrenzung der Frau aus dem patriarchalisch dominierten öffentlichen Leben thematisiert habe. Die daraus abgeleitete Schlussfolgerung, dass männliche Identität immer schon unverrückbar feststehe und weib-
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Klingler-Clavijo analysiert Werke von Carlos Fuentes, Rosario Castellanos, Elena Poniatowska, Elena Garro und anderen. Zur Kritik der Arbeiten von Klingler-Clavijo, Steele und Franco vgl. auch Peters, 1999: 30f. Das Korpus der Studie von Peters bilden die folgenden fünf Romane: Pedro Páramo (1955) von Juan Rulfo, Oficio de Tinieblas ( 1962) von Rosario Castellanos, Los recuerdos del porvenir (1963) von Elena Garro, Las muertas (1977) von Jorge Ibargüengoitia und Son vacas, somos puercos (1991) von Carmen Boullosa. Zu Peters' Begriffsbestimmung von Archetyp, Mythos usw. vgl. Peters, 1999: 16-19. Hervorzuheben ist einerseits ihre Unterscheidung zwischen Typen und Stereotypen, die sie dahingehend abgrenzt, »daß die sich in der Literatur manifestierenden Typen (z.B.femme fatale) von sich in der Gesellschaft herauskristallisierenden Stereotypen (z.B. madre abnegada) zu trennen sind« (ibid.: 19); andererseits ihre ausführliche Darstellung abendländisch-europäischer und indigener Weiblichkeitsmuster und ihrer Analogien bzw. ihrer Vermischung in der mexikanischen Kultur, (vgl. ibid.: 13, 31, 33111, 257-266)
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liehe durch den patriarchalischen Diskurs bestimmt werde, sei nicht haltbar. Beide Pole hingen wechselseitig voneinander ab und bedingten sich gegenseitig. Auch der Begriff Frauenliteratur sei zu verwerfen, schließe er doch »Werke von Schriftstellerinnen aus der Gesamtheit des literarischen Schaffens« (ibid.: 21) aus. Von Frauen geschriebene Literatur sei keine »ganz andere« Literatur, wie Peters schreibt, bringe allerdings andere Perspektiven, Interessen, Ausdrucksformen ein, woraus sie folgert: »Es ist unmöglich, eine am biologischen Geschlecht orientierte Ästhetik zu konstituieren. Allenfalls kann es darum gehen, unterschiedliche Verfahrensweisen in der Literatur und in der Verwendung von Sprache herauszuarbeiten. Diese Verfahrensweisen können zwar mit den Attributen weiblich/männlich versehen werden, jedoch nicht im konkret biologischen, sondern im metaphorisch zu verstehenden Sinn, gewissermaßen als Konstrukte einer weiblichen oder männlichen Ästhetik.« (Peters, 1999: 23)
Ansetzend an neueren Arbeiten aus dem Bereich der Geni/er-Studien zu Strukturen, die Geschlechterkonstruktionen in einer Gesellschaft zugrunde liegen, spricht Peters von Gender als sozialem Geschlecht, »das nicht notwendigerweise mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmen muß« (ibid.: 25, vgl. 19f.).23 Genfer-Konstruktionen stellten das Ergebnis, also die existierenden Strukturen, und den Herausbildungsprozess von Repräsentationen der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht oder Gruppe dar. In Übereinstimmung mit Renate Kroll sieht sie als Ziel der Gender-Forschung auch in der Literaturwissenschaft die Untersuchung »bestimmter, historisch tradierter Zuweisungen von Rollen und Verhaltensformen [...], die dem jeweiligen biologischen Geschlecht auferlegt werden« (ibid.: 26). Dies ermögliche eine Differenzierung zwischen sexueller Konstitution und sozialer Rolle und verweise »auf die Vorstellung eines komplexen Beziehungssystems, das das biologische Geschlecht zwar enthält, durch dieses aber nicht unmittelbar definiert ist« (Kroll, 1995: 33, hier zitiert nach Peters, 1999: 26). Aufgabe sei also, so resümiert Peters in Übereinstimmung mit Margarete Zimmermann, eine »Literaturgeschichte als Geschlechtergeschichte« (Zimmermann, 1996: 58, ebenfalls zitiert nach Peters, 1999: 26).24 Wenn man den generalisierenden Anspruch dieser Forderung einmal außer Acht lässt, der meines Erachtens nur auf eine Einengung der Literaturgeschichte und -Wissenschaft hinausliefe, so lässt sich doch für die Untersuchung von Geschlechterkonstruktionen in der Literatur schlussfolgern, dass es um Mannsbilder und Weibsbilder, um Weiblichkeitsund Männlichkeitskonzepte, um von Frauen und Männern geschriebene Lite-
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Peters bezieht sich u.a. auf die Arbeiten von Renate Hof (1995), Renate Kroll (1995), Teresa de Lauretis (1987) und Margarete Zimmermann (1996). Vgl. zu dieser gesamten Passage Peters, 1999: 19-26.
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ratur zu gehen hat.25 Bisher liegen für Zentralamerika und Nicaragua noch keine umfassenden Studien in diesem Sinne vor.26 Am ehesten werden diese Fragestellungen noch bei Ileana Rodríguez berücksichtigt. In ihren Studien House/Garden/Nation: Space, Gender, and Ethnicity in Postcolonial Latin American Literatures by Women (1994)27 und Women, Guerrillas and Love: Understanding War in Central America (1996) untersucht sie Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepte in von männlichen Autoren geschriebenen Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts, in »männlichen« und »weiblichen« testimonios der siebziger und achtziger Jahre sowie in von Frauen geschriebenen Romanen aus den zwanziger, dreißiger, sechziger, siebziger, achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts.28 Im Mittelpunkt der 1994 veröffentlichten Studie steht die Konstruktion der (neuen) Nation als Repräsentation des Männlichen und unter
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Peters selbst beabsichtigt mit ihrer Studie »einen Beitrag zu leisten, um die unfruchtbare Diskussion um das Spezifische der Frauenliteratur zu beenden, zugunsten einer gleichwertigen Berücksichtigung der Werke von Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Die artifizielle Ausgrenzung nach geschlechtsspezifischen Kriterien ist als Sackgasse zu bewerten, die den Blick auf essentiellere Fragestellungen bislang verwehrt hat.« (Peters, 1999: 24f.) In Ihrer Studie Voces femeninas en la narrativa de Rosario Aguilar gibt Nydia Palacios einen panoramaartigen Überblick über die von Frauen geschriebene Literatur in Zentralamerika im 20. Jahrhundert (vgl. Palacios, 1998: 31-91), wobei sie von einem Konzept der »escritura de las mujeres« (ibid.: 89) bzw. »escritura femenina« (ibid.: 91) ausgeht. In den behandelten neunzig Jahren habe diese Literatur einen großen quantitativen und qualitativen Sprung nach vorn gemacht. Die Autorinnen hätten, auch wenn sie in ihren Diskursen oft die Perspektive des männlichen Erzählers angenommen hätten, voller Mut nicht traditionelle Themen wie die Guerilla, die Erotik, die Liebe und die Mutterschaft literarisch behandelt und so einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Literatur Zentralamerikas geleistet, (vgl. ibid.: 89, 91) Vgl. auch ihre in Estudios de literatura hispanoamericana y nicaragüense (Palacios, 2000) enthaltenen Aufsätze zu den Themen: »Rosario Aguilar y sus aportes a la novela nicaragüense« (141-159), »Novela y testimonio: dos obras de Claribel Alegría« (175-187), »El bildungsroman femenino de Gioconda Belli« (189-199), »Las relaciones de poder en La casa de los Mondragón de Gloria Espinoza de Tercero« (201-214). - Zu Honduras liegt ein kurzer Aufsatz der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Maureen E. Shea vor, der sich mit dem 1903 erschienenen Roman Blanca Olmedo von Lucila Gamero de Medina auseinandersetzt und sich an die Thesen Doris Sommers anlehnt: »Blanca Olmedo: el amor erótico como alegoría nacional hondurena«. (Shea, 2000) Ein Teil dieser Studie erschien bereits 1992 in spanischer Sprache unter dem Titel Transición: nación - etnia - género: lo masculino. Zu Rodríguez (1994) vgl. Fußnote 3. Zu den in Rodríguez (1996) untersuchten Texten gehören u.a.: Sergio Ramírez, Castigo divino (1988), Tomás Borge, La paciente impaciencia (1989), Omar Cabezas, La montaña es algo más que una inmensa estepa verde (1982), Gioconda Belli, La mujer habitada (1988a), Charlotte Baltodano Egner, Entre el fuego y las sombras (1988) und Margaret Randall, Todas estamos despiertas. Testimonios de la mujer nicaragüense de hoy ... (1980) sowie Gloria Guardia (Panama/Nicaragua), El último juego (1977), Carmen Naranjo (Costa Rica), Diario de una multitud (1984), Roque Dalton (El Salvador), Pobrecito poeta que era yo (1976), Manlio Argueta (El Salvador), Un día en la vida (1980) und Elizabeth Burgos/Rigoberta Menchú (Guatemala) Me llamo Rigoberta Menchú y así me nació la conciencia (1983).
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Ausschluss des Weiblichen, bestenfalls seines Einschlusses als Anhängsel des Mannes/Guerilleros: »Country, nation, and national subject are constituted simultaneously as ethnicity and as maleness in the history of male representation in testimonial literature.« (Rodriguez, 1994: 39) Die Liebe zum Vaterland wird als homoerotische enthüllt, zentrale Metapher ist die der Frau mit männlichen Attributen (»a ballsy woman«, s.o.). Während hier also die Rolle von Geschlechterkonstruktionen bei der Konstitution der neuen Nation untersucht wird, beschäftigt sich Ileana Rodríguez in ihrer 1996 erschienenen Arbeit mit der literarischen Repräsentation des Scheiterns der Konzepte vom neuen Staat; zentrale Metapher ist der tote Frauenkörper, die Liebe zum Vaterland entpuppt sich als Nekrophilie, insbesondere in den analysierten Texten von Sergio Ramírez (1988) und Tomás Borge (1989). In Abgrenzung von den Argumentationen Doris Sommers und Jean Francos zum Zusammenhang von Geschlechterkonstruktion und Nationbildung schreibt Rodríguez: »I see the deconstruction of the nation-state inextricably linked to the representation of woman (erotics) as dead. The backdrop is Sommer's thesis on nationbuilding as a love story, and Franco's metaphor of woman as nation. My argument is that the casting of woman as corpse, and the gradual exclusion of love from literature, signals the nation-state's deconstruction, and the people's denationalization - the representation of love for women and love for country operating in tandem.« (Rodriguez, 1996: xix)2' Im Folgenden soll ähnlich der Zielsetzung Rodriguez' - »to pinpoint the relationship between the collective and woman, and then between woman and nation-state« (ibid.: xiv) - die Bedeutung des Weiblichen und Männlichen in der literarischen Repräsentation des Nationendiskurses im Nicaragua der acht-
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Rodriguez sieht auch einen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Ende des von den Sandinisten verfolgten Projekts einer revolutionären Nation, das sie Ende der achtziger Jahre mit dem Beginn der Verhandlungen zwischen Sandinisten und Contras in dem kleinen Ort Zapoa für erreicht hält, und dem Erscheinungsdatum von Ramirez' Castigo divino und Borges La paciente impaciencia. Zapoa, wo sich die »two groups claiming to represent the true nation« (Rodriguez, 1996: 3) getroffen hätten, sei zum Symbol der Umkehr und der Realisierung des Undenkbaren geworden, (vgl. ibid.) Der Tod des (revolutionären) Staates habe in den Texten von Borge und Ramirez seine literarische Repräsentation im toten Körper der Frau gefunden: »Tinged with deceptive erotic delight, the two texts speak of the perverse de-eroticization' of woman, centered around the clinical investigation of her body. Woman's clinical discernment occurs symmetrically with the process of dissolution of the revolutionary state. Death of the state and death - murder, or disappearance - of woman occur simultaneously.« (ibid.: 4) Rodriguez folgert: »Dead women, therefore, are available metaphors for the deconstruction of nation-states.« (ibid.: 5)
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ziger und neunziger Jahre erörtert werden. Dabei soll im Vordergrund jedoch nicht eine politische Zielsetzung - »We want to make the personal political, to write our rights to our own bodies into the legislation« (ibid.: xxf.) - stehen, sondern die poetologische Funktion von Geschlechterkonstruktionen im Prozess der Nationenkonstitution, was Michaela Peters als Ziel ihrer Studie formuliert (vgl. Peters, 1999: 266), allerdings ohne ihre Beschränkung auf Weiblichkeitskonzepte, sondern unter Einbeziehung von Männlichkeitskonstruktionen. Vorrangig sollen einige der ideologisch-symbolischen Parameter des angedeuteten Paradigmenwandels und ihre ästhetischen Implikationen, insbesondere im Hinblick auf die Aneignung von außerliterarischer Wirklichkeit im Roman, exemplarisch an einer Reihe von in den achtziger und neunziger Jahren erschienenen Romanen untersucht werden.30 Sowohl die von der eingangs zitierten US-Wissenschaftlerin Mary K. Addis als bekannteste Texte des literarischen Nationalismus in Nicaragua bezeichneten Werke als auch die im Folgenden in die Analyse einbezogenen weniger bekannten Romane entziehen sich jeglicher Definition als »Frauenliteratur«, wie sie schon von Peters kritisiert wurde, (s.o.)31 Es geht um Männer und Frauen in literarischen Texten von Frauen und Männern.
La patria: Ein Liebeslied fiir die Männer In den Gründertexten der sandinistischen Testimonialliteratur sind Frauen allerdings zunächst kaum präsent. Im Männerchor der Guerilla sind weibliche Stimmen nicht zu hören, gesungen wird ein Liebeslied für die Männer. Wie bereits ausfuhrlich dargestellt,32 sind es zunächst einzelne männliche Jugendliche aus der städtischen unteren Mittelschicht bzw. oberen Unterschicht, die diesen Gesang in den Bergen im Norden Nicaraguas anstimmen und Echo bei den alten Kämpfern aus Sandinos Befreiungsheer der zwanziger und dreißiger
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Insbesondere unter diesem Aspekt werde ich bei der Analyse einzelner Werke auf die Arbeiten von Ileana Rodríguez zurückkommen. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Kapiteln der vorliegenden Arbeit ist es hier kaum möglich, eine exakte Zahl der im Korpus enthaltenen Texte anzugeben, die sich auf die Fragestellung dieses Kapitels beziehen, kommen Geschlechterverhältnisse doch in der einen oder anderen Weise in praktisch allen literarischen Werken zum Ausdruck. Angesichts der von Arturo Arias dargestellten Marginalisierung der Frau als Autorin und literarischer Figur in der zentralamerikanischen Literatur noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sind allerdings folgende Daten aufschlussreich und stützen seine These von einem beginnenden Bruch mit dieser Tradition in den achtziger Jahren (vgl. Arias, 1998a: 239, 242): Von den 95 in den achtziger und neunziger Jahren erschienenen Texten (von insgesamt 59 Autoren und Autorinnen), die das Korpus der vorliegenden Untersuchung bilden, sind 31 von Frauen geschrieben (insgesamt 18 Autorinnen), in 39 spielen (auch) weibliche Figuren eine Hauptrolle. Vgl. »Bibliografie a) Quellen: Nicaraguanische Romane und testimonios der achtziger und neunziger Jahre«. Vgl. das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«.
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Jahre finden. In Omar Cabezas, La montaña es algo más que una inmensa estepa verde (1982) lässt der junge Student alles Weibliche in seiner Geburtsstadt León zurück, geht in die Berge, um den bewaffneten Kampf aufzunehmen, und findet dort seine individuelle Identität als Guerillero-Mann, der sich gleichzeitig als Repräsentant - in Rodríguez' Worten als »vanguard, party, leader, and government« (Rodríguez, 1996: xvii) - eines kollektiven Subjekts setzt. Dieses Kollektiv, die nicaraguanische Nation, wird als patriarchalisches konstruiert, interessanterweise unter Rekurs auf die Erzählung des alten Don Leandro von seinen Erfahrungen im Kampf - quasi ein testimonio im testimonio - : Diese alten Mitstreiter in Sandinos Befreiungsheer sind »los padres de la patria« (252)." Erst durch die Entdeckung dieser »paternidad verdadera de nuestra historia« (252) wird die Geschichte des nicaraguanischen Volkes, die Geschichte der Nation (wiederhergestellt. Das männliche Geschlecht, die Tradition der Väter, die auf die Söhne übergeht, konstituiert die nationale Identität. In einer radikalen Umkehrung der biologischen Konstanten wird diese Konstitution als Geburt symbolisiert: »me siento hijo del sandinismo [...] yo estaba siendo alimentado por Sandino, pero no había logrado ver materialmente mi cordón umbilical, y eso me nació, lo descubrí en ese momento.« (252f.) Die Väter sind Zeuger und Gebärende in einem, die Geburt wird zum Symbol der Vereinigung, nicht der Trennung, die Nabelschnur wird nicht zerschnitten, sondern wiederhergestellt und speist die männliche Identität, (vgl. dazu Addis, 1995b: 3f.) Die Frauen bleiben aus diesem mythischen Geburtsakt ausgeschlossen, sie sind bestenfalls als Ort der Zuflucht, der Unterstützung (wie in der novela de caballería, vgl. Zavala, 1990: 283) präsent, ihre Sexualität steht im Dienst der männlichen Reproduktion und Reaffirmation. 34 Bezeichnend für ihre marginalisierte Rolle ist die Reaktion des Protagonisten auf den Brief Claudias, seiner Lebensgefährtin und Mutter seiner Tochter, in dem sie ihm die Trennung mit-
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Hier und im Folgenden zitiert nach der 1987 bei Editorial Nueva Nicaragua erschienenen vierten Auflage von Cabezas, 1982. Ileana Rodriguez hat in Cabezas' Text 59 Erwähnungen von Frauen gefunden: »As family members - wives, girlfriends, daughters, and mothers - they appear twenty times. The rest are anonymous beings: the little old lady, the woman fixing lunch, two despondent bourgeois women whose skin, fingernails, hands, and hair they like to look at, the feminine voters, the compañeras, the woman with an embittred face, 'new girls', 'she whom we told that', 'she who works there', the fat one with an apron', the domestic ones', nurses, teachers, 'the big-bellied woman'. Or they are known by given name and surname: Marta Harnecker, the compañeras Doris Tijerino, Gloria Campos, Maria Esperanza Valle, Tita, Mónica Baltodano. Or as objects and expressions of desire: to be a hero o f , to not say anything like a woman', there it's harder to light a fire than a woman'; the loneliness - they look like little women or faggots'. And as something to forget about - not to think about, more literally. Of all these expressions the only one that shifts is compañera. Like the sign /balls/, the sign /compañera/ shifts, meaning comrade, as in arms, and sexuality, as in mistress, lover, wife.« (Rodriguez, 1994: 41)
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teilt. Er notiert ein Gedicht, in dem es heißt: »Hoy que te he perdido / me doy cuenta / que si no fuera 'plomo' / fuera mierda.« (236) »Plomo« (die Initialen von »Patria libre o morir«) ist das Zentrum - eine (vielleicht unbewusste) treffende Metapher für die geschlossene, patriarchalische, militaristische Konzeption der Nation (plomo = Blei, Bleikugel) und die auch geschlechtsspezifischen Grenzen der beschworenen Repräsentativität des Individuums für das Kollektiv. Wie er beim erwähnten Besuch seines Geburtshauses in León alle Bande zum Mütterlichen endgültig durchtrennt, so kappt er hier im Abschied von der Geliebten jegliche Verbindung zum Weiblichen: eine »ruptura en que tomo conciencia de mi nueva calidad« (247). Frauen sind nur noch Erinnerung, Vergangenheit, für den Kampf um die nationale Befreiung und die Konstruktion der Nation der Zukunft spielen sie keine Rolle, (vgl. dazu Addis, 1995b: 4) Dem korrespondiert - wie schon eingangs dieses Kapitels dargelegt - eine metaphorische Einverleibung weiblicher Züge in die Konstruktion des »hombre nuevo«. Die Berge werden zum Weiblichen, das den »neuen Menschen/Mann« hervorbringt, in das er sich verliebt, das er sich Untertan macht, so wie der »hombre nuevo« aus einer Symbiose von (männlicher) Disziplin und (weiblicher) Zärtlichkeit geboren wird. In der Trauer über den Tod des guerrillero-compañero und Vaterersatzes René Tejada (»Tello«) beschwört der Protagonist diese Liebesbeziehung: »Tello podía ser un símbolo para la montaña, porque vivía con ella. Estoy seguro que vivió con ella, que tuvo relaciones con ella, le parió hijos a Tello, entonces la montaña cogió a Tello como la medida de las cosas y cuando Tello muere, ella siente que se va a acabar.« (151) Fast im gleichen Atemzug wendet er sich voller Aggressivität gegen diese untreue Geliebte, die sich mit der Guardia Nacional verbündet, schweigend zulässt, dass der Kampfgenosse getötet wird: »A veces me salían ganas de decir: mirá montaña, si vos sos piedra y vegetal inanimado, vos aquí no pintás nada, vos aquí no discernís [...] Vos sos aquí vegetal, vos sos roca, vos protegés aquí a quien se te meta; porque yo llegué a pensar que ella protegía a la Guardia [...] « (150) Aus der Unterwerfung der Natur/Frau, aus ihrer Entpersonifizierung (kurz nachdem er sie personifiziert hatte) bezieht der Mensch/Mann seine Bestätigung: »bueno, vos sos aquí un ser inanimado, pero aquí nosotros somos los humanos, los racionales, los que tenemos alma y conciencia, y te mandamos y te dominamos y te gobernamos porque vos sos naturaleza. Vos aquí no mandás nada.« (ibid.) Die Identität des Vaterlandes wird aus der Unterwerfung und Vergewaltigung des Natürlichen/Weiblichen konstruiert: » [...] it is engendered in the Mountain. Over the feminine-masculine body of the Mountain, men deliver men.« (Rodríguez, 1996: 46)35 Wie Liebe hier auf Sex, Gewalt und Vergewaltigung reduziert wird, so nimmt sie im
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Mary K. Addis folgert aus diesem Widerspruch zwischen Personalisierung und Entpersonali-
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Gegensatz dazu unter den Guerilleros die Form einer neuen Zärtlichkeit an. Sie sollen nicht sein wie »unas mujercitas [...] unos maricas« (112) - Symbol jederzeit verfügbarer Wesen, als die sie Tello beschimpft, weil ihre Disziplin vor Hunger und Ermüdung nachlässt, sondern voller Liebe und Unversöhnlichkeit, Disziplin und Zärtlichkeit untereinander. Der »hombre nuevo« schließt diese Widersprüche ein, die Liebe ist frei von Sex, Gewalt und Vergewaltigung, die Liebe zum Vaterland nimmt homoerotische Züge an: »Esa soledad nosotros la tradujimos en fraternidad; nos tratábamos toscamente pero en el fondo nos amábamos con un amor profundo, con una gran ternura de hombres. Un grupo de hombres abrazados, hermanados, éramos un grupo de hombres con un beso permanente entre los mismos. Nos amábamos con sangre, con rabia, pero un amor de hermanos, un amor fraterno.« (105f.) Frauen sind auch hier abwesend, obwohl ab und zu Informationen von kämpfenden Guerilleras unter den Männern kursieren. Der »neue Mann« verleibt sich die weiblichen Züge ein, hierarchisch den männlichen Tugenden untergeordnet. Die Frau erscheint nur - marginal - in dem Maße, wie sie dem Mann gleich wird.36 Auch in seinem (in Nicaragua und auch international viel weniger beachteten) zweiten testimonio - Omar Cabezas, Canción de amor para los hombres (1988a) - gipfelt die Handlung in einem, nunmehr orgastisch empftindenen und massenhaft vollzogenen, Akt der Geburt der Nation durch die Revolution: »La concentración en la Plaza de la Revolución es como un parto. Nicaragua naciendo. La gente, la sociedad, está naciendo. Es cierto que las sociedades nacen, que pueden nacer nuevas sociedades, con nuevos hombres [...] « (336)" Während Sandino die historische Identität des nicaraguanischen Volkes konstituiert, so die siegreiche Revolution die Zukunft, die Identität der sich konstituierenden Nation, vom Protagonisten empfunden als ein »cuento de hadas« (332), als »un gigantesco orgasmo colectivo de las masas « (335). Wie in La montaña es algo más que una inmensa estepa verde spielt für diese Konstruktion die Geschlechterfrage eine wichtige Rolle, sei es im Kampf der Guerilleros um Maskulinität, der Marginalisierung der Frauen in der Guerilla, der Entscheidung zur Eingliederung in die Guerilla ohne Information der Mutter, ja unter Kappung jeglicher Bande zwischen Mutter und Sohn, sei es in der Verfugung des Guerillakommandanten über den Körper der schwangeren Guerillakämpferin Yaosca, der das Recht auf Abtreibung verboten wird (»No
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sierung der Natur: »La representación ambigua de la naturaleza puede leerse como un reflejo del estado ambiguo de la mujer como sujeto. Es sujeto sólo y cuando se subordine a la voluntad del hombre.« (Addis, 1995b: 5) Vgl. zu dieser Passage Rodríguez, 1996: 44-48; Rodríguez, 1994: 38-44; Addis, 1995b: 3-5. Im Titel der deutschen Ausgabe, Die Erde dreht sich zärtlich, Compañera, klingt dieses Thema an, allerdings irreführend auf die im Buch nicht präsente Zärtlichkeit zwischen Männern und Frauen anspielend. Hier und im Folgenden zitiert nach der 1996 erschienenen Ausgabe (Tafalla: Editorial Txalaparta).
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me haga excesos, que si aborta la ahorco«, 273). Wie repräsentativ Cabezas' testimonios für den Diskurs der achtziger Jahre waren, bestätigt ein kurzer Blick auf die beiden anderen zum sandinistischen Kanon gehörenden testimonios. Auch bei Sergio Ramírez, La marca del Zorro (1989) entspringen die mythisch konstituierte Kontinuität und Identität des Comandante Rivera der Tradition der (politischen) Väter. Schon bei einer der ersten persönlichen Begegnungen Riveras mit dem Gründer der sandinistischen Befreiungsfront Carlos Fonseca steht dieses patriarchalische Verhältnis im Vordergrund: »Y me agarró de la mano, como un niño, sin quererme soltar para que no volviera a perderme. Y yo, de su mano, me sentí, de verdad, como un niño.« (71) Es erhält im weiteren Verlauf gar eine religiöse Dimension, als Carlos Fonseca - quasi an Priesters Statt - die Vermählung El Zorros mit der Guerillakämpferin Celestina López vollzieht: »Nos sentó frente a él, y como por dos horas nos estuvo explicando el significado del matrimonio en la guerrilla, lo que debe ser la mujer para los revolucionarios [...] convocó a los demás compañeros a su presencia, para celebrar la ceremonia. Hizo que nos diéramos la mano, después un abrazo, y luego, que le diéramos la mano a él. Y teniéndonos a los dos agarrados de la mano, nos declaró marido y mujer ante la ley de la revolución.« (113f.) Wie diese Vaterfiguren im öffentlichen Raum die Identität konstituieren, so übernimmt im familiären Kontext der ältere Bruder Filemón für El Zorro die Rolle des Vaters, wird er zum Ersatz des Vaters in einer vaterlosen Gesellschaft, auch im Hinblick auf die politische Reifung des Protagonisten (»el ejemplo de mi hermano«, 47). Gegen den verantwortungslosen machismo des leiblichen Vaters, der für weite Teile der subalternen Bevölkerung typisch ist, wird ein »gesunder machismo« konstruiert, für den die Gestalt des Bruders konstitutiv ist - in hohem Maße repräsentativ für die männliche Guerilla, die sich als Kampfgemeinschaft von »hermanos« versteht." Bei Tomás Borge, La paciente impaciencia (1989) schließlich konstituiert
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Vgl. zu diesem Text ausführlich das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«. Sergio Ramírez rekurriert noch in seinem Roman Margarita, está linda la mar (1998a) auf die männlich definierten Organe Hirn (Rubén Darios = Verstand und Poesie) und Hoden (des SomozaAttentäters Rigoberto López Pérez = Männlichkeit und politischer Mut) als konstituierende Symbole der nicaraguanischen Nation im Kampf gegen die Diktatur. Das Weibliche bleibt reduziert auf die Rolle des Adressaten und Objekts männlicher Sehnsüchte und Begierden und männlicher Verse, wie des Gedichts »A Margarita Debayle«, das Rubén Dario einer der beiden Töchter Debayles auf den Fächer schreibt, »unos versos mucho más largos que se sabía de memoria: Margarita, está linda la mar, y el viento lleva una esencia sutil de azahar ... « (193) (aus: Poema del otoño y otros poemas, 1910, in: Darío, 1992: 363-383, hier 374), sowie männlicher Briefe, wie des Abschiedsbriefs Rigobertos an seine Mutter, in dem er sich selbst rühmt, seine höchste Pflicht gegenüber dem Vaterland, »mi más alto deber de nicaragüense«, erfüllt zu haben, und sich als Stifter Nicaraguas als »una patria libre« stilisiert: »de ser yo el que inicie el principio del fin de la tiranía« (178). Vgl. zu diesem Roman ausführlich das Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«.
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sich das Subjekt nicht als männlicher Guerillero in den Bergen, sondern über die Erzählung eines literarisch vermittelten Erziehungsprozesses, der schon im Kindesalter beginnt und schließlich in das politische Engagement in der nationalen Befreiungsfront mündet. 39 Zentrale Initialfiguren dieses Prozesses sind Winnetou und Emma Rouault/Bovary (aus Gustave Flauberts Roman Madame Bovary). Auch in Borges Text sind die beiden für den literarischen Nationendiskurs so typischen Züge präsent: die Nation als Projekt, das auf dem Ausschluss der Frau als Subjekt und auf homoerotischen Beziehungen basiert. Borge konstruiert das autobiografische Subjekt gleich im ersten Teil seines Textes aus der Inspektion der toten Körper der beiden Romanfiguren. »Poco antes de medianoche, durante un verano en Matagalpa, en el escenario de un crepúsculo estupefacto, mientras mi madre creía que yo estudiaba la regla de tres y los modos verbales, murió Winnetou« (11), beginnt das Buch. Doch weder Old Shatterhand noch der junge Tomás wollen das glauben. Winnetou ist zwar gestorben und liegt unter dem Gras der nordamerikanischen Steppe begraben, über das die Hufe wilder Pferde galoppieren, aber er ist einer von jenen Toten, die niemals sterben - wie schon Augusto César Sandino und dann Carlos Fonseca und unzählige sandinistische Märtyrer und Helden. Schon in dieser Eingangsszene ist also die zentrale literarische Figur aus der Taufe gehoben, die im weiteren Fortgang der Erzählung zunehmend zur tragenden Gestalt der neuen nicaraguanischen Nation wird. Der Indianer ist zwar tot, doch nicht sein toter Körper wird inspiziert: Der homoerotische Blick Old Shatterhands/Tomás Borges erinnert - in Anknüpfung an die Beziehung zwischen dem »maskulinen« Old Shatterhand und dem »femininen« Winnetou, wie sie seit Karls Mays Romanen die Darstellung der beiden Figuren in der Literatur und im Kino bestimmt - den makellosen Körper des lebenden Apachen: »Nunca vimos un dibujo aceptable de Winnetou pero no nos cabía otra imagen que no fuera el trazado perfecto de los músculos oblicuos y transversos del abdomen, los cuatro nervios plantares internos que inervaban los extremos de los dedos del pie en las caminatas más largas del mundo. Los molares de mármol que desgarraban las costillas carbonizadas de los bisontes, la cavidad torácica en la que cabía aquel corazón del tamaño de una manada de toros, ¿estarían desintegrándose, comidos de gusanos? No podía ser.« (12) Dieser Evokation des erotisierten lebenden Indianerkörpers folgt wenige Seiten später der begierige Blick auf Emma Rouault. Doch die verliebten Augen des jugendlichen Tomás heften sich an die Leiche der französischen Madame des 19. Jahrhunderts: »Por aquellos días, estuve perdido por Emma Rouault, quien llegaría a ser de Bovary. / Sentí tanta compasión por ella que terminé amándola, sorprendido ante los recursos de su inmortalidad. [...] Vestida con la rosa de su huracán, ella me excitó durante la adolescencia, aunque la sabía desfal-
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Vgl. ausführlich das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«.
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lecida sobre una colcha de espuma, muerta, desquiciada, con el hilo de sangre que yo quería beber, con su cuello inerte, con sus hilachas de oro y la cintura estrecha, a la medida de los desajustes emocionales y de los sustos de sus amantes.« (51)40 Die nekrophile, vampiristische Erotisierung des toten Frauenkörpers steht ganz im Dienst der erotisch-sexuellen Erregung des männlichen Jugendlichen, endet also in der De-Erotisierung der Frau, ihrer Indienststellung als männlichem Sexualobjekt. Eine zweite tragende literarische Figur des Nationendiskurses ist geschaffen: der Ausschluss der Frau als Subjekt, symbolisiert im allzeit verfügbaren - und sei es nur in der männlichen Phantasie - weiblichen Körper. Das (neue) Subjekt, die neue Nation, konstituiert sich aus der (sexuellen) Macht über die Frau, einem Prozess der Distanzierung-Entfremdung und gleichzeitigen Einverleibung durch den Mann/die Nation, in der Verschmelzung von Borge mit Winnetou und der Konstruktion einer Linie »Winnetou in fiction and Che, Fidel, and Borge in reality - a most resonant Christian trinity - [...] making the copula, the narrative I that stands for the male collective us« (Rodriguez, 1996: 9).41 Der Apache mag tot sein, doch auch ein toter Indianer ist ein guter Indianer: »La lealtad, la rectitud, la defensa de los humildes, no se enterraron con Winnetou.« (12) Sie leben weiter in Che, Fidel, Tomás, aber auch in Carlos Fonseca und den Männern der Guerilla, die ihr Leben im Kampf gegen die Diktatur lassen, und werden zu den grundlegenden Werten der neuen Nation: »True erotica is true patriótica - what B o r g e expresses for Winnetou. True erotica is also s e l f - l o v e or self-aggrandizement f u s i n g Borge, the protagonist o f the autobiography, with Winnetou, the protagonist o f fiction. T h e identification introduces a disclaimer o n the text's plea to read s e l f as literary and not as political. B y the s a m e token, E m m a ' s e x a m p l e nourishes our b e l i e f that false erotica is, as m o s t w o m e n have always suspected, just f u c k i n g - in this case, E m m a ' s c o r p s e . « (Rodriguez, 1996: 8) 42
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Wie ausführlich dargestellt (vgl. das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«, Fußnote 68), fehlt dieses für das Verständnis des gesamten Buches bedeutende Kapitel 4, in dem Borge seine Lektüre Madame Bovarys schildert, in der deutschen Ausgabe (Borge, 1990) völligRodriguez hebt in diesem Zusammenhang die unterschiedliche Perspektive und den unterschiedlichen Stil der beiden Lektüren Borges hervor: »In both, the avid reader takes the place of protagonist, or of author, (an) 'other' with whom he exchanges identities. Borge takes the place of, or becomes, the heroic Native American Winnetou or the European bourgeois Charles Bovary. [...] in one [Winnetou/Karl May; W.M.] this identification with the character is epic-symbolic, whereas in the other [Emma/Gustave Flaubert; W.M.] it reproduces precisely the distancing alienation/identification of a gothic horror movie.« (Rodriguez, 1996: 8) Vgl. zu dieser gesamten Passage Rodriguez, 1996: 5-10. Sie interpretiert Castigo divino (1988) von Sergio Ramirez als ein weiteres herausragendes Beispiel für den Ausschluss des
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Die Repräsentation der Nation im sandinistischen testimonio ist rein männlich, sie resultiert, wie Mary K. Addis resümiert, nicht nur in »una nueva identidad masculina sino también [...] la creación de un nuevo discurso en el que el hombre, como sujeto del discurso, ejerce poder sobre la mujer« (Addis, 1995b: 2).
Die revolutionäre Nation: Eine bewohnte Frau? Schon im Jahr des Erscheinens von Cabezas' zweitem Buch, Canción de amor para los hombres, und ein Jahr vor La marca del Zorro von Sergio Ramírez und La paciente impaciencia von Tomás Borge veröffentlichte Gioconda Belli mit La mujer habitada (1988a) eine erste literarische Antwort in Romanform auf den Nationendiskurs der comandantes.43 Zentrales Thema des Romans ist der Ausschluss bzw. die Marginalisierung der Frau im nationalistischen Projekt. (vgl. Rodríguez, 1994: 169, 170; Addis, 1995b: 2) Wie bereits ausfuhrlich dargestellt, versucht der Roman in der parallelen Geschichte der India Itzá aus der Zeit der Conquista und der jungen Architektin/Guerillera Lavinia aus dem revolutionären Kampf der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die magisch verschmelzen, eine Kontinuität weiblicher/feministischer Befreiungsbestrebungen zu konstruieren.44 Beeinflusst wird die Protagonistin jedoch auch von ihrer Tante Inés, einer der weißen, aristokratischen Oberschicht angehörigen Frau, die sich für die Gleichberechtigung der Geschlechter einsetzt, und von der Mestizin Flor, einer in der Guerilla aktiven Krankenschwester, für die der Kampf um die Befreiung der Frau in dem um nationale Befreiung aufgeht. Den Roman bestimmt, wie Ileana Rodríguez schreibt, also ein dreifacher Diskurs: »Indigenism is the speech of indigenous and colonial resistance narrated by Itzá, the tree-woman. Liberalism is the white, oligarchie discourse of Aunt Inés, on gender equality, Liberationism is the discourse of the mestiza Flor, on gender and politicai partieipation in the revolution.« (Rodríguez, 1994: 176, vgl. 172; Addis, 1995b: 7-9; Paredes, 1999: 107f.)
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Weiblichen aus dem Prozess der Nationbildung durch die »de-erotieization of women« (ibid.: 10): »The bodies of women, sites of eroticism and of affections, are not present. They are buried. Their mysterious deaths and the inefficiencies of the state underscore the fading of the epic of the formation and transformation of nation-states.« (ibid.: 13, vgl. insgesamt 10-18) Gleichzeitig hebt sie jedoch hervor, Ramirez (wie Borge) verhöhnten die Mimesis, insbesondere Ramirez verwandle mit seiner Technik des Überschreibens den Text in eine »epic of the absurd« (ibid.: 13). (vgl. dazu und allgemein zu dem Roman ausführlich das Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion« der vorliegenden Arbeit) Ohne Zweifel kannte Gioconda Belli beim Schreiben ihres Romans den Text Cabezas', damals eines der meistgelesenen Bücher in Nicaragua, (vgl. Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«, bes. die Fußnoten 23 und 24). Vgl. das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«.
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Je näher Lavinia Flor kennen lernt und je mehr sie in den bewaffneten Kampf einbezogen wird, umso deutlicher dominiert der Letztere, vermischt mit dem Diskurs Itzás: Der anfängliche bürgerliche Feminismus vom Stil »independencia y cuarto propio Virginia Woolf« (105) wird überlagert und dominiert vom revolutionären Nationalismus Flors, für die »las rebeliones de ella, su rebelión contra destinos casamenteros, padres, convenciones sociales, eran irrelevantes capítulos de cuentos de hadas. Flor escribía historias con 'h' mayúscula [...] «(80; vgl. Addis, 1995b: 8) Sowohl Flor als auch Itzá betonen, die eigene weibliche sexuelle Identität müsse im bewaffneten Kampf (zumindest zeitweise) zurückstehen, wie Flor kurz vor ihrem Abtauchen in den bewaffneten Untergrund formuliert: »en este momento me parece que más bien lo que cabe es suprimir lo femenino', tratar de competir en su terreno, con sus armas. Quizás más adelante, nos podremos dar el lujo de reivindicar el valor de nuestras cualidades ... «(205; vgl. Addis, 1995b: 9). Die Frau erstreitet ihre Partizipation an der Konstruktion der Nation durch den bewaffneten Kampf aber um den Preis der Aufgabe ihrer sexuellen Identität. Nur indem sie sich der männlich dominierten »Organisation« eingliedert und so wird wie die Männer, wird sie zum vollwertigen Mitglied des nationalistischen Projekts. Besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang das Todesmotiv, das heißt die literarische Gestaltung der Hauptparole des antidiktatorischen Widerstands: »Patria libre o morir«. Der Tod der individuellen Körper wird zur Voraussetzung und Bedingung für das Leben des Volkes. Besonders das doppelte Opfer der Frauen, die neben der Diktatur auch gegen den machismo in den eigenen Reihen der Widerstandsbewegung kämpfen müssen, ist konstitutiv für das »freie Vaterland«. Erst im Tod erreicht Lavinia die volle Gleichheit: Sie übernimmt die Rolle ihres von der Nationalgarde ermordeten Geliebten Felipe in einer für die Bewegung strategisch bedeutenden Militäroperation, in der sie ihr Leben opfert, um das ihrer Kampfgefährten zu retten. Wie Itzá und Yarince im Kampf gegen die Eroberer gestorben sind, so sterben auch Lavinia und Felipe. Der Samen Itzás ist jedoch in Lavinia aufgegangen und hat Frucht getragen. Das Leben siegt über den Tod - wie es im Mythos der MakiritareIndianer vom Leben und Sterben und erneuten Leben Yarinces und Itzás, der dem Roman als Motto vorangestellt ist, und im Gesang Itzás, der den Roman beschließt, wiederaufgenommen wird. Diese Beschwörung des Mythos bleibt jedoch eine Utopie, die Konstruktion eines weiblichen Subjekts im Projekt der Nationenkonstruktion bleibt ein Wechsel auf die Zukunft, (vgl. Addis, 1995b: 2) Mary K. Addis kommt gar zu dem Schluss: »Sin el feminismo, el nacionalismo revolucionario representa para la mujer una calle sin salida. (Y sin un discurso feminista parece ser difícil representar a la mujer como sujeto histórico.)« (ibid.: 9)
Aber wurden nicht, wie in diesem Kapitel bereits ausgeführt, in der Darstel-
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lung der weiblichen Erotik und Sexualität bzw. des weiblichen Blickes auf Erotik und Sexualität in Bellis Text eine Vorwegnahme dieses sich konstituierenden weiblichen Subjekts und die Manifestation eines den Roman durchziehenden feministischen Diskurses gesehen? In der Tat ist dieser Zug in vielfältiger Hinsicht bestimmend: Lavinia ist sich ihres attraktiven Äußeren und ihrer Wirkung auf Männer bewusst, und sie genießt ihren Blick auf die eigene Physiognomie (der Roman enthält eine Fülle von erotischen Beschreibungen des Körpers Lavinias, von der Erzählerin in dritter Person erzählt; vgl. Arias, 1998a: 239). Auch Itzá nimmt voller Freude die »andere« sexuelle Form ihres Körpers wahr.45 Gleichzeitig nimmt Lavinia - in Umkehrung des sexualisierten männlichen Blicks auf die Frau - den Körper des Mannes, ihres Geliebten Felipe, in Augenschein. Er wird zum Objekt der weiblichen Lust und des Vergnügens in einer Art von »economía femenina compuesta por la autora, la protagonista y la lectora« sowie von Itzá, wie Amy Kaminsky schreibt (1994: 22). Der Blick Lavinias auf Felipes Körper rufe bei heterosexuellen Leserinnen eine erotische Reaktion hervor, (vgl. ibid.) Doch es geht nicht nur um die Inversion der traditionellen männlichen und weiblichen Stand- und Blikkpunkte. Auch Lavinia wird, von Itzá und von Felipe, beobachtet und genießt gerade diesen männlichen Blick auf ihren Körper. Sie verfugt über ihren Körper und setzt ihn ein, um bei Felipe die von ihr gewünschten Gefühle hervorzurufen. Diese bewusste Herausforderung und das Gefallen am männlichen Blick überwindet zwar die traditionell passive Rolle der Frau und schreibt ihr ein aktives Handeln zu, allerdings - wie Amy Kaminsky bemerkt - »una acción que también amenaza con devolver a la mujer a su papel tradicional de objeto« (ibid.). Der weibliche Körper - wenn auch aktiv, die Augen nicht niederschlagend, sondern den Blick erwidernd - bleibt gefangen im männlichen Sichtfeld. Niemand in diesem Roman kann sich vollständig von den traditionellen Strukturen befreien, die die Beziehungen zwischen den Geschlechtern bestimmen, (vgl. ibid.: 24) Auch in dieser Hinsicht bleibt er zwiespältig und bringt eine Übergangssituation zum Ausdruck, in der die alten Muster in Frage gestellt sind, aber noch das Verhalten der Menschen beeinflussen. Mit La mujer habitada hat Gioconda Belli zwar den Anspruch auf Partizipation
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Auf diesen bisher kaum beachteten Aspekt weist Kaminsky hin: »Itzá se apodera de la mirada, [...] primero, para conocerse a sí misma. [...] Contempla también su propio sexo, reflejado en el agua del río. Allí observa una parte de sí misma, no su totalidad, y en su descripción insiste en la complejidad física, visible, de su vagina y vulva. De esta manera rechaza la falsa representación masculina de los órganos sexuales femeninos como una ausencia, y la metonimia que reduce a la mujer al sexo, o sea a la ausencia, lo cual Itzá asocia con la exigencia de los hombres de su pueblo que se ausente durante los consejos de guerra.« (Kaminsky, 1994: 21) Angesichts des Phallozentrismus der prähispanischen Kulturen ist dies offenbar ein Anachronismus, der von der Autorin bewusst im Dienst der Konstruktion einer weiblichen/feministischen Kontinuität eingesetzt wird.
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der Frau unmissverständlich formuliert, der Roman bleibt jedoch noch befangen im sandinistischen »Meisterdiskurs«: Eine »nación femineizada« durch die »mujer habitada«? Eher eine »mujer ocupada«, eine »mujer nacionalizada«. (vgl. Rodríguez, 1994: 42f., 176, 180f.; Addis, 1995b: 2, 5f.) Bereits zu Beginn der revolutionären Regierungsperiode hatte Claribel Alegría in dem Roman Álbum familiar (1982) eine ähnliche Problematik thematisiert. Die in der Emigration in Paris lebende junge Nicaraguanerin Ximena, die eine in den traditionellen Rollenzuordnungen erstarrte Ehe mit einem Franzosen fuhrt, bricht aus dieser Rolle aus, als sie von den Aktionen der Guerilla in Nicaragua in den Nachrichten und von dem im politischen Exil lebenden Armando, dem Vertreter des FSLN, erfährt.46 Der Titel des Buches der paratextuell auf die zentrale Rolle verweist, die das Fotoalbum Armandos für Ximenas Politisierung spielt - wird zum Emblem des ganzen Romans. Als Armando ihr erzählt, sein Sohn Mario sei in der Guerilla aktiv, stellt sich Ximena in einem Prozess der Selbstreflexion in die Kontinuität dieses Kampfes: »Ximena suspiró mientras recordaba la historia sangrienta de su tierra natal: el tío abuelo Zeledón, papá luchando junto a él y después junto a Sandino, Armando con tres años de cárcel, y ahora Mario.« (21) Ximena sprengt die Ketten der Konvention, die sie passiv und entpolitisiert halten. Sie wird zu einer politisch bewussten, aktiven Mitstreiterin am Aufbau der neuen Nation. Diese Konstruktion einer historischen, individuellen und kollektiven, Kontinuität - auch in diesem Falle in patriarchalischer Tradition konstruiert erlaubt ihr, eine eigene Identität (wiederzugewinnen. Das Fotoalbum wird zur Quelle und zum Symbol ihrer Identität. Doch es ist eine aktive Rolle in den Grenzen des männlich dominierten Projekts der Nation, in ihrem geistigen Familienalbum kleben die Fotos der männlichen Vorfahren, ihres leiblichen Vaters und des politischen Vaters aller Nicaraguaner der neuen Nation, Lichtbilder von Frauen gibt es keine.
Die Geschichte: Ein männlicher Diskurs In der Tat scheinen im gesamten historischen Stammbaum Nicaraguas Namen und Porträts von Frauen zu fehlen, zumindest in herausgehobener Position. Die Geschichte des Landes wird traditionell als eine Geschichte der »großen Männer« geschrieben und gelesen, zum Teil auch noch im historischen Roman der achtziger und neunziger Jahre. Dies ist zweifellos der Fall in dem Roman von demente Guido, El sueño de Tío Billy (1999), dessen historischer Bezugspunkt der »Nationale Krieg« gegen die Einmischung des nordamerika-
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Vgl. zu dem Roman ausfuhrlich das Kapitel
»Diagonale:
Literatur und Revolution«.
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nischen Freibeuters William Walker im Jahr 1856 ist. Die Handlung wird von den damaligen führenden Männern getragen, von Walker selbst und den Generälen und Politikern der Legitimisten und Demokraten (den Vorläufern der späteren als Konservative und Liberale bezeichneten politischen Gruppierungen, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Geschichte des Landes prägten).47 Im ersten Viertel des Romans sind Frauen nahezu abwesend und tauchen fast nur in Form der Erinnerung an verstorbene Geliebte einiger männlicher Hauptfiguren auf. Im weiteren Verlauf gewinnen sie zwar zunehmend Einfluss auf diese historischen Hauptfiguren und damit die politischen und militärischen Ereignisse. Die »guerrillera« Juliana beteiligt sich sogar direkt am militärischen Geschehen, bleibt allerdings eine Ausnahme. Wenn es Frauen gelingt, über ihre traditionellen Rollen hinauszugehen, dann nur um den Preis, dass sie sich die Werte der von den Männern dominierten Gesellschaft zu Eigen machen und sie auf ihrem ureigensten Gebiet (sei es der Intrigen, der politischen Ränke oder des militärischen Kampfes) übertreffen oder ihnen zumindest ebenbürtig sind. Eine eigene Gegenwelt der Frauen entsteht nicht einmal in Ansätzen. William Walkers Gefahrtin Irene O'Hara, die im Moment der von ihm befohlenen Niederbrennung Granadas seinen Sohn zur Welt bringt, trennt sich zwar von ihm, als er an der Entscheidung festhält, die alte Kolonialstadt am großen Nicaraguasee in Schutt und Asche zu legen. Aber selbst dieser Entschluss zur Trennung verbleibt im Rahmen des traditionellen Patriotismus, die nicaraguanische Gesellschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist durch und durch machistisch; für »richtige Männer« ist es eine Ehre, für die Nation zu sterben: »Era un tiempo de hombres« (269), heißt es lakonisch zum Tod durch Erschießung eines »traidor a la causa centroamericana« (268), des honduranischen Hauptmanns José Maria Herrera durch die Truppen der Demokraten. Oder kann die Tatsache, dass es die Frau Irene O'Hara ist, die inmitten des von ihrem Mann William Walker angeordneten Tötens neues Leben gebiert, als Allegorie auf die »wahre«, immer verschwiegene Geschichte des Landes gelesen werden, in der die Frau und Mutter das (Überl e b e n der Nation sichert, trotz des Zerstörungswerks der Männer und abwesenden Väter? Ich werde auf diesen Aspekt, der auch ikonografisch nahegelegt wird, noch zurückkommen (den Umschlag des Buches ziert ein Gemälde von Tito Chamorro, auf dem unter den Arkaden eines Granadiner Kolonialhauses eine Frau mitten im Gemetzel und umgeben von Rauchschwaden der brennenden Gebäude ein Baby zur Welt bringt, Geburtshelfer sind eine andere Frau und bezeichnenderweise ein Soldat mit geschultertem Gewehr und Patronengürtel, der das Neugeborene am Schöpfe packt, kaum dass es den Körper der Mutter verlässt). Dass es im Allgemeinen männliche Figuren sind, in denen die
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Vgl. ausführlich das Kapitel » Vierter Kreis: Geschichte und
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politischen und sozialen Auseinandersetzungen der nicaraguanischen Geschichte literarisch repräsentiert werden, hatten wir bereits auch an dem ein Jahr zuvor erschienenen Roman von Sergio Ramírez, Margarita está linda la mar (1998a), gesehen, in dem die Geschicke der Nation nicht nur im Konflikt zwischen dem Begründer der Diktatur, Anastasio Somoza Garcia, und den Dichtern Rubén Darío sowie Rigoberto López Pérez dargestellt werden, sondern die Identität des gegen die Tyrannei aufbegehrenden Volkes sich in den biologisierten Symbolen der Männlichkeit (Gehirn und Hoden) verbirgt, (s.o., Fußnote 38) Allerdings werden seit Anfang der neunziger Jahre zunehmend historische Romane veröffentlicht, in denen Frauen einen aktiven Part zu spielen beginnen, wenn sie nicht sogar ins Zentrum der Erzählung rücken. Dies gilt exemplarisch für den im gleichen Jahr wie Sergio Ramírez' Buch publizierten Roman von Enrique Alvarado Martínez, Doña Damiano (1998), sowie für die Romane von Ricardo Pasos Marciacq. Die erzählte Zeit des Textes von Alvarado Martínez ist das Jahrzehnt unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung der zentralamerikanischen Staaten von Spanien (1823-1833), als sich die beiden großen Strömungen der zentralamerikanischen politischen Geschichte herauszubilden beginnen. Die Protagonistin, literarische Repräsentation einer authentischen Frauengestalt, wird zum Opfer und zur aktiven Mitgestalterin der Auseinandersetzungen jener Epoche, in der nur begrenzt von der Existenz eines nicaraguanischen Nationalstaates gesprochen werden kann und die von den Interessenkonflikten zwischen den wenigen wohlhabenden und traditionell die politische Macht innehabenden Familien geprägt wurden. Doña Damiana, aus einer kolumbianischen Familie der Provinz Panama stammend, verliebt sich in den Doktor Rafael Ruiz de Gutiérrez, ebenfalls aus Panama, der sich in den Dienst des konservativen Caudillos Nicaraguas, Manuel Antonio de la Cerda, stellt, und heiratet ihn. Gutiérrez, der es bis zum stellvertretenden militärischen Befehlshaber de la Cerdas bringt, wird zum Opfer von Intrigen innerhalb der konservativen Armee und der Konspiration mit dem angeblich auf die Annexion Zentralamerikas abzielenden lateinamerikanischen Freiheitshelden Simón Bolívar verurteilt. Trotz aller Bemühungen Doña Damianas kann sie de la Cerda nicht zu einer Begnadigung ihres Ehemanns bewegen, der (wie der erste Befehlshaber, Juan Francisco Casanova, ebenfalls aus Panama und ehemaliger Gefolgsmann Bolivars) hingerichtet wird. Damiana schwört de la Cerda Rache und widmet von nun an ihr Leben einem einzigen Ziel: de la Cerdas Sturz und seine Hinrichtung herbeizufuhren. Rekonstruiert wird die Geschichte aus der Sicht einer Frau, die gleichzeitig Opfer und aktive Gestalterin war, zwar zu den herrschenden Klassen gehörte, aber als Frau in einer subalternen Position blieb. Nicht um eine weibliche/feministische Neu-Interpretation der Geschichte geht es dem Autor, sondern um die literarische Darstellung einer - einzigartigen - Frau, die in der von Männern geprägten Geschichte Nicaraguas aufgrund ihrer außergewöhn-
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liehen Stärke in dieser Männerwelt bestehen kann und sie dadurch gerade bestätigt.48 Mit seinen in kurzen Abständen veröffentlichten vier umfangreichen historischen Romanen will Ricardo Pasos Marciacq erklärtermaßen einen Schritt weiter gehen. Im Unterschied zu seinem Roman Julia y los recuerdos del silencio (2000) sind die Hauptfiguren in den anderen Texten literarische Darstellungen von Frauen, die in der Geschichte Nicaraguas von der Conquista bis ins ausgehende 19. Jahrhundert eine Rolle spielten.49 Die erzählte Zeit in Julia y los recuerdos del silencio bezieht sich auf die postkoloniale Epoche, genauer das Ende der dreißigjährigen Herrschaft der Konservativen, die in Granada ihr Zentrum hatten, und den Aufstieg des Liberalismus unter dem autokratischen General Zelaya in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Wie in seinen drei anderen Romanen geht es dem Autor darum, die vergessenen Seiten der Geschichte aus dem Dunkel ans Licht zu bringen - wie der Titel des Romans paratextuell unmissverständlich deutlich macht. Erzählt wird aus der Perspektive der erfundenen Figur Clementina, die im Jahr 1944 von Granada aus einen Brief an einen in Paris lebenden Juan Sebastián schickt, der eine Geschichte Nicaraguas schreiben will. In diesem Brief (der das erste Kapitel des Romans darstellt) scheint in den Worten Clementinas die narrative Konzeption des Autors auf, die auch seine anderen Romane prägt: »No busque, pues, Juan Sebastián, la exactitud meridiana de la historia patria, sino que más bien te pido que encuentres los trasfondos de unas vidas extraordinarias y, por lo tanto, fuera de lo común. No necesito recordarte que por no hacerle caso a estos aspectos de la historia es nos estamos quedando sin historia. Una historia sin sus trasfondos no es historia.« (12, vgl. 11) Der restliche Roman besteht aus der Schilderung der Geschichte der authentischen Julia Cabistán und ihrer Familie in Granada und dem benachbarten Ort Diriá, aus der Perspektive der Erzählerin und fiktiven ehemaligen Freundin Julias, Clementina. Im Unterschied zu den anderen Romanen des Autors steht im Zentrum keine der bekannten Frauenpersönlichkeiten der nicaraguanischen Geschichte, auch geht es nicht vorrangig um die Rekonstruktion der äußeren Bedingungen der damaligen Epoche, sondern um das Innenleben der Hauptfigur und die emotionalen Beziehungen in einem privaten Umfeld, das gleichwohl von dem allgemeinen Kontext der damaligen Epoche geprägt wird. Julia kehrt 1889 (dem Beginn der erzählten Zeit) aus Frankreich und den USA, wo sie einige Jahre für ihre Ausbildung verbrachte, nach Granada zurück. Erfüllt
48 49
Vgl. zu dem Roman auch das Kapitel » Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«. Das gilt für seine ersten drei Romane: El burdel de las Pedrarias (1995), Rafaela. Una danza en la coiina.y nada mäs... (1997) und Maria Manuela Piel de Luna (1999). Vgl. zu diesen Romanen und zu Pasos Marciacqs Konzeption des historischen Romans, mit dem er die »wahre« Geschichte rekonstruieren will, das Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«.
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von den Ideen der Aufklärung und den Werten der Freiheit (auch der Frau) stößt sie mit den patriarchalischen Strukturen zusammen, ohne vor ihnen zu kapitulieren. Vielmehr lebt sie ihr Leben »en un medio en donde los hombres y los convencionalismos no le daban espacio a eso que mi entrañable amiga Julia llamaba le mujereidad, es decir, lo que es propio y exclusivo de la mujer, diferencia de la femineidad, que puede pertenecer también a los hombres por diferentes circunstancias« (10f.), wie es in dem Brief Clementinas heißt. Was Clementina hier in einer anachronistischen Konstruktion vorgeblich aus dem Mund Julias zitiert, ist die kaum verhüllt in den Text geschmuggelte Konzeption des Autors von »mujereidad«, mit der er Schönheit, Attraktivität, Liebes- und Genussfahigkeit verbindet (vgl. Salas/Ramírez, 2001: o. S.) - die Frau als erotisches Universum, wie er in einem Interview zusammenfasste: »La mujer es un mundo erótico. Es mi visión de la vida, de rescate de la mujereidad en la historia. En una historia lúdica, de carne y hueso, erótica. Si nos damos cuenta la vida como tal de suyo es eminentemente erótica. La energía vital es erótica. El erotismo, en el sentido griego, viene siendo un amor sensual, sensualista en todos aspectos de la vida.« (Marenco, 2001: o. S.) Nicht von ungefähr erscheinen die Frauen im Roman als strahlende Wesen, voller Schönheit und Jugend, herausfordernd, fast immer dem Feiern und dem Vergnügen hingegeben und die anderen mit ihrer Fröhlichkeit ansteckend, (vgl. Salas/Ramírez, 2001: o. S.) Diese Weiblichkeitskonzeption hebt sich zwar deutlich von den Frauenbildern ab, wie sie noch die Testimonialliteratur bestimmten, und singt ähnlich wie Gioconda Belli ein Loblied der weiblichen Schönheit und Erotik; nicht die De-Erotisierung des toten weiblichen Körpers ist Pasos Marciacqs Anliegen, sondern die »exaltación romántica de la mujer como la otra mitad del mundo, la mujer como receptáculo de la más alta potencialidad anímica que incluye no sólo la liberación erótica positiva y necesaria para acceder a un nuevo estado de conciencia« (Urtecho, 2001: o. S.).50 Die Weiblichkeitskonzeption Julias/Ricardos reklamiert das Recht der Frau auf ihren lebenden und lebendigen Körper, doch noch ist sie eine Kopfgeburt des Mannes, das weibliche Universum eine männliche Phantasiewelt, in der die traditionelle Vorstellung von der Frau als sinnlichem Wesen und Antithese des vernunftgeleiteten Mannes noch keineswegs überwunden ist - »mujereidad« nicht nur als Gegenposition zu »femineidad«, sondern auch zu »feminismo«. Bereits Anfang der neunziger Jahre hatte dagegen Rosario Aguilar in ihrem Roman La niña blanca y los pájaros sin pies (1992) eine andere Art von Weiblichkeit in den historisch-literarischen Diskurs eingebracht. Der
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Urtecho weist darauf hin, dass der Begriff der »mujereidad« auf Heidegger zurückgeht, von Ortega y Gasset ins Spanische übertragen und von dem jesuitischen Philosophen Zubirri, dem Lehrer Ricardo Pasos Marciacqs, benutzt wurde, (vgl. Urtecho, 2001: o. S.)
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Roman erzählt die von der Autorin so genannten »biografías noveladas« von sechs Frauen, die an der spanischen Eroberung Amerikas teilnahmen und zugleich zu ihren Opfern wurden, darunter drei Spanierinnen, zwei Indianerinnen und eine Mestizin: Doña Isabel, Ehefrau des ersten Konquistadors der »Provincia de Nicaragua«, Pedrarias; Doña Luisa, Indianerprinzessin und Tochter des Häuptlings von Tlaxcala, Xicotenga; Doña Beatriz, Ehefrau von Pedro de Alvarado, eines weiteren berüchtigten spanischen Eroberers; Doña Leonor, Tochter von Doña Luisa und Pedro de Alvarado; Doña Ana, Tochter des Kaziken Taugema; Doña Maria, Tochter von Pedrarias und Mutter der Contreras, die angeklagt wurden, an der ersten Erhebung gegen die Spanische Krone in Amerika teilgenommen zu haben. Mit den Mitteln der nueva novela histórica rekonstruiert Rosario Aguilar hier die Geschichte von den Rändern, von der Subalternität her, den Frauen der spanischen Eroberer, ohne dass diese feministische Vision zu einem neuen, widerspruchslosen Zentrum wird. Der Roman ist um eine große Metapher herum organisiert: den Verlust und die Wiedergewinnung der Sehkraft der Journalistin, der Romanfigur, die in einer Art von Rahmenhandlung im Jahr 1990 von ihren Schwierigkeiten beim Schreiben des Romans (im Roman) und von ihrer Beziehung zu einem spanischen Kollegen berichtet, (vgl. Palacios, 1998: 204f.) Sie findet in den spanischen Archiven, in denen sie zu den historischen Frauengestalten recherchiert, nicht nur die Bestätigung ihrer Annahme von der Marginalisierung der Frauen, sondern begreift auch, dass die Frauen (wenn auch von der offiziellen Geschichte verschwiegen) selbst aktiv am historischen Geschehen in durchaus widersprüchlicher Weise teilnahmen. Sich diesen Widersprüchen zu stellen und als öffentlich handelnde Frau (politische Journalistin) in den historischen Prozess einzugreifen, das ist der letzte Schritt der Bewusstwerdung und Identitätsfindung einer selbstbewussten amerikanischen Frau von heute, die sich den aktuellen Herausforderungen stellt, ohne ihre Traditionen zu vergessen, aber auch ohne ein idealisiertes Weiblichkeitsbild zu entwerfen.51
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Vgl. zu dem Roman auch das Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«. - Auch Ricardo Pasos Marciacq erzählt in seinem ersten Roman El bürdet de las Pedrarias (1995) die Geschichte der Conquista aus weiblicher Sicht neu, nämlich aus der Perspektive der Witwe des Konquistadors Pedrarias, Isabel de Bobadilla y Peñaloza, und ihrer Tochter Maria de Peñaloza. Beide Frauen sind Handlanger des machismo und des Rassismus der spanischen Eroberer, indem sie ihren Reichtum durch die erzwungene Prostitution junger Indianerfrauen mehren. Das von ihnen gegründete erste Bordell auf nicaraguanischem Boden (das auf reale Einrichtungen dieser Art schon im 16. Jahrhundert verweist) wird zur Metapher der brutalen Unterwerfung der indianischen Ureinwohner, insbesondere der Frauen, durch die spanischen Eroberer/Männer, aber auch des Komplizentums ihrer Frauen und der Mestizinnen in einer ganz eigenen Art des »Malinchismus«. Indem Pasos Marciacq die in der nicaraguanischen Volkssprache präsente rhetorische Figur »Somos todos hijos de puta« aufgreift und ironisch literarisiert, zielt er auf eine Entmythisierung der heroischen männlichen Geschichte Nicaraguas. (vgl. dazu das Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion« und zum Bordell als »weiblichem Ort« das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«)
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Weibliches Aufbegehren gegen die Fesseln der traditionellen Geschlechterbeziehungen steht auch im Mittelpunkt des Erstlingswerks von Gloria Elena Espinoza de Tercero: La casa de los Mondragón (1998). Schauplatz ist die andere Kolonialstadt, León, wie Granada Zentrum des politischen Geschehens, aber Hochburg des Liberalismus. Die sozialen Verhältnisse sind noch bis in die jüngere Vergangenheit nicht anders als in der Hauptstadt der Konservativen. In nicht zu übersehender Anlehnung an Isabel Allendes Roman Das Geisterhaus wird die Geschichte der Familie Mondragón über drei Generationen hinweg erzählt, vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die sechziger Jahre. Wie bei Allende steht das Haus der Familie im Mittelpunkt, Stammsitz der Mondragóns, die sich ihrer Abstammung von spanischen Konquistadoren, ja sogar ihrer direkten Linie väterlicherseits bis zum »Cid Campeador« rühmen. Wie in Das Geisterhaus ist die Handlung geprägt vom Kontrast zwischen der despotischen, patriarchalischen Herrschaft Don Buenaventuras, des letzten männlichen Vertreters des Familienclans, und den Frauen, die im Haus wohnen: der Ehefrau, den zwei Schwestern und der Adoptivtochter Lucrecia (ihre Mutter, eine weitere Schwester Don Buenaventuras, war kurz nach der Geburt gestorben), außerdem dem Kindermädchen und den Hausangestellten. Solange die auf der kolonialen Tradition beruhende Ordnung unangetastet bleibt, ist auch das Familienidyll ungestört: Der männliche Despot kontrolliert das Haus als »äußeren Raum«, das heißt als Repräsentation der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Stellung der Familie, während die Frauen auf die »inneren Räume« verwiesen sind, aus denen sie nicht ausbrechen können.52 Nur durch das erzwungene zeitweilige Verlassen dieser Räume kann sich Lucrecia, die ihren sexuellen Begierden nachgibt und in der Bibliothek des Hauses von einem unbekannt bleibenden Mann geschwängert wird, vorübergehend aus dieser patriarchalischen Ordnung lösen. Aber erst ihrer aus dieser Verbindung hervorgegangenen Tochter Lidia gelingt der Ausbruch durch die definitive räumliche Trennung, das heißt das Verlassen des den Frauen zugestandenen »inneren Raums«. In dieser äußeren Bewegung kommt ein Entwicklungsprozess zum Ausdruck, der zunehmend die überlieferte Ordnung untergräbt. In einem schmerzhaften, aufgrund des auf ihr lastenden Gewichts der katholischen Religion von Selbstzweifeln und Schuldgefühlen geprägten inneren Kampf gewinnt Lidia die volle Verfügungsgewalt über ihren eigenen Körper und ihre eigene Sexualität als Frau: »El deseo es el elemento disidente contra la moral impuesta y de esta manera ofrece resistencia al sistema ético dominante. El goce sexual femenino es presentado por Espinoza de Tercero en forma franca y abierta y sin mistificaciones de ningún tipo.« (Palacios, 2000: 211)
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Vgl. zu diesem Aspekt der männlichen und weiblichen Räume in der literarischen Geografie des Romans das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«.
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Wie bei Gioconda Belli und Ricardo Pasos Marciacq erhebt die Frau Anspruch auf (auch) sexuelle und erotische Freiheit, im Gegensatz zu Pasos Marciacq werden der Körper der Frau und die weibliche Erotik jedoch nicht idealisiert, es ist ein Diskurs, der die weibliche Sexualität und Sensualität als legitim reklamiert und sich in einem mühsamen Kampf gegen den männlichen Diskurs durchsetzen muss, nicht mehr, aber auch nicht weniger.53 In dem bereits im gleichen Jahr wie Rosario Aguilars La niña blanca y los pájaros sin pies veröffentlichten ersten Roman von Milagros Palma, Bodas de cenizas (1992), ist der Schauplatz ebenfalls León (im Roman heißt die Stadt Gracias und liegt in Teocali, aus zahlreichen Anspielungen ist jedoch unschwer zu erkennen, dass sein außerliterarischer Bezugspunkt Nicaragua und León ist). Der Roman erzählt, beginnend in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, das Leben eines Ehepaares, Don Chicho und Feliza Dolores, das vor allem die Leidensgeschichte der Ehefrau und Mutter von vierzehn Kindern ist. Erzählt aus der Perspektive dieser Frau will der Roman ein Symbol der lateinamerikanischen Frau, ihrer Unterdrückung durch einen jahrhundertealten machismo sowie ihres Aufbegehrens und der ersten mühsamen Schritte ihrer Befreiung entwerfen. Er ist ein Aufschrei gegen die Fesseln eines Schicksal, das der Frau scheinbar unveränderlich in ihren Körper eingeschrieben ist (der weibliche Körper als reines Reproduktionsinstrument) und sie aus der Sicht des Mannes/Gebieters noch unter die Tiere stellt: »Después de todo, los animales son los amigos del hombre, la mujer es su más feroz enemigo« (125), fasst Don Chicho seine Auffassung zusammen.54 Eine Befreiung aus diesem Schicksal scheint nur zu gelingen durch die Aufkündigung jeder Beziehung
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Dazu gehört auch der Kampf gegen sexuellen Missbrauch in der Familie und sein Verschweigen: Obwohl die allwissende Erzählerin die Leser bis zum Schluss im Unklaren über Lidias Vater lässt, weisen viele Indizien daraufhin, dass sie Frucht einer inzestuösen Vergewaltigung Lucrecias durch ihren Adoptivvater Don Venturita ist - die Nicaraguaner nicht nur »hijos de puta« wie in vielen literarischen Texten, sondern Abkömmlinge sexueller Gewalt in der Familie (ein im Nicaragua Ende der neunziger Jahre angesichts der hohen Ziffern von sexuellem Missbrauch der Töchter durch die Väter und des öffentlich gewordenen Verhaltens des ehemaligen sandinistischen Staatspräsidenten Daniel Ortega gegenüber seiner Stieftochter höchst brisantes Thema), (vgl. dazu Mackenbach, 1998e) Trotz zahlreicher Sprünge in der Zeit ist der Roman durchweg traditionell und plan erzählt. Die Personen gewinnen kaum Eigenleben, sondern bleiben ziemlich leblose Figuren, die allzu deutlich als Sprachrohr der Autorin zu erkennen sind. Hinzu kommen zahlreiche Ungereimtheiten und Widersprüche in Ort und Zeit sowie bei der Charakterisierung der Personen. Don Chicho ist gleichzeitig bzw. nacheinander Kämpfer in Sandinos Befreiungsheer, in den USA gefeierter Musiker, Streiter für den Schutz der Tiere, Journalist und Autor und halb wahnsinniger Verfechter religiöser Prinzipien; all diese Wandlungen bleiben seiner Person jedoch äußerlich, deren Hauptcharakterzug in einem gewalttätigen machismo besteht. Wiederholt wird von der feministischen Bewegung gesprochen, der Don Chicho den Kampf ansagt, für die damalige Epoche im sozialen und geografischen Kontext des Romans höchst unwahrscheinlich.
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zwischen den beiden Geschlechtern, die schließlich im einsamen Tod der beiden Protagonisten endet. Einzig die Auswanderung verspricht den jüngeren Generationen eine hoffnungsvollere Perspektive (nach und nach verlässt die Hälfte der Kinder Felizas das Land, um sich in den USA niederzulassen).55 Der männliche Diskurs der Geschichte wird in den Romanen der neunziger Jahre, seien sie von Frauen oder Männern geschrieben, zunehmend in Frage gestellt, allerdings noch von den Rändern her, von unten, aus einer subalternen Position heraus, aus der Perspektive, wie Alvaro Urtecho schreibt, der »intrahistoria, es decir, lo que está al fondo y tras la historia lineal, lo que permanece, como el río que serpentea siempre entre ruinas, caminos olvidados, paisajes abigarrados y después desolados« (Urtecho, 2001: o.S.). Die Versuche, die Frau als literarische Figur auch im historischen Roman zu emanzipieren, häufen sich. Neue - durchaus widersprüchliche - Vorstellungen von Weiblichkeit, die im Kampf mit den alten Konzeptionen stehen, zeichnen sich ab.
Die postrevolutionäre Nation: Eine missbrauchte Frau Die Last der Geschichte scheint jedoch auch noch auf den Geschlechterbeziehungen der neuen, vom Joch der Diktatur befreiten Nation zu liegen. Mag die Revolution auch die politische Umwälzung erfolgreich vollzogen haben, so erweist sich die Veränderung der sozialen Strukturen als ungleich komplizierter. Schlimmer noch: unter der Fahne des »hombre nuevo« scheinen die alten Verhaltensmuster und Strukturen des machismo fröhliche Urständ zu feiern. Als benutzte und missbrauchte Wesen, die zwischen die beiden widerstreitenden männlichen sozialen und politischen Lager (Sandinisten und Contras) geraten, stellt Monica Zalaquett in ihrem Roman Tu fantasma, Julián (1992) die Frauen dar.56 Durchweg sind die Frauen im narrativen Diskurs des Romans den Männern untergeordnet, beziehen sie aus ihnen ihre Funktion und Identität, indem sie das Leben und Weiterleben der männlichen Krieger sichern: » [...] al hijo alzado nada se le ha de negar«, versichert eine Bäuerin: »Esos muchachos no van a perecer por falta de comida no por falta de mujer... « (58) Obwohl Frauenfiguren in diesem Roman sehr zahlreich sind, übernehmen sie im narrativen Diskurs keine bedeutende Rolle, noch nicht einmal die weiblichen Hauptfiguren. Nidia, die zwischen den beiden männlichen Protagonisten steht (dem Contra José Benito, von dem sie geschwängert und verlassen
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In den folgenden Romanen der Autorin, insbesondere in El obispo (1997) und Asi es la vida (2000), wird der machismo die Frauen auch in der Emigration »einholen«, (vgl. dazu weiter unten das Unterkapitel »Die unbewohnte Nation: ein geschlechtsloses Wesen?«) Vgl. zu dem Roman ausführlich das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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wird, den aber sie dennoch liebt, und dem Compa Julián, Bruder Benito Josés, der sie heiratet und damit »ihre Ehre rettet«, obwohl er weiß, dass sie ihn nicht liebt), verkörpert im Gegenteil am schärfsten diese völlige Unterordnung der Frau unter den Mann. Mit Recht wurde in der Hingabe der campesina an die beiden Antipoden der nicaraguanischen Gesellschaft eine Metapher der nicaraguanischen Nation gesehen: » [...] mujer' y 'nación' se vuelven categorías análogas. Ambas representan el territorio sobre el cual pelean los hombres y ambas representan también 'el espacio de la pérdida' puesto que ni los 'compás' ni los 'contras' ganaron la guerra.« (Addis, 1995a: 32) Julián »rettet« die von seinem Contra-Bruder missbrauchte Frau, aber auch er hat ihr nicht mehr zu bieten als paternalistischen Schutz, die Unterordnung unter den Mann in einer traditionellen Geschlechterbeziehung auch nach der Revolution. Am Tag der Hochzeit ihrer Tochter Nidia erinnert sich Cándida an das Trauma ihrer sexuellen Initiation, diese »terrible exigencia: Pagar lo que debía, lo que la ley decía y lo que Dios mandaba« (20). Nein, ruft sie aus, ihre Tochter solle es einmal besser haben: »Con estos cambios de la Revolución, a mi niña no le pasará.« (ibid.) Doch auch die postrevolutionäre Wirklichkeit ist keine andere: Nidia ergibt sich in ihr Schicksal als duldende Ehefrau, die Hoffnungen der Müttergeneration erfüllen sich nicht. Dies wurde als doppelte Repräsentation einer symbolischen Beziehung zwischen Frau und Nation interpretiert: »El fracaso de la Revolución anula el proyecto emancipatorio-político anterior (madre); este proyecto emancipatorio está basado en una idea de salvación (Julián se casa con Nidia). Esta idea se establece en una concepción paternalista con el agravante de que la figura paterna es bicéfala (Julián-José Benito) y está en lucha, lo cual sepulta la vinculación libertad de la mujer-proyecto político.« (Delgado/Ramírez Lazo/Pérez Cuadra, 1995: 16) Mag sich im Schweigen Nidias auch ein Rest von Streben nach Eigenständigkeit und Hoffen auf eine veränderte Wirklichkeit manifestieren, die Frau als Subjekt, als Wesen mit eigenen Bedürfnissen und eigener Identität, ist auch unter (post)revolutionären Vorzeichen im Konzept der Nation nicht vorgesehen." Während sich die (bäuerliche) Frau bei Zalaquett noch stumm in ihr Schicksal zu ergeben scheint, ist der vom Patriarchat und vom machismo dominierte Kampf der Geschlechter in der Stadt unter postrevolutionären Bedingungen Thema der beiden Romane von Orlando Núñez Soto. Besonders
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Vgl. zu dieser gesamten Passage Delgado/Ramírez Lazo/Pérez Cuadra, 1995: 11-18.
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Dritter
Kreis:
G e s c h l e c h t und Nation
sein zweiter Roman, El vuelo de las abejas (1992), lässt sich als Allegorie auf die Verhinderung des Rechts der Frauen auf Selbstbestimmung, auf ihren eigenen Körper, bis hin zu seiner völligen Zerstörung im kannibalischen Sexualakt durch den Mann und das Weiterleben dieser Strukturen und Verhaltensmuster auch nach der Revolution lesen.58 Die von einem Kobold besessene Hauptperson Laura, die sich aktiv für das revolutionäre Projekt engagiert hatte, verlässt aufgrund ihrer zunehmenden Zweifel die Partei, glaubt aber weiter an die Revolution. Diese (in Spanisch: »la revolución«) ist für sie wie eine »madre dulce y complaciente«, die Partei (in Spanisch »el partido«) wie ein »padre autoritario e intolerante« (117): »Confieso que la renuncia al partido significó para mí la renuncia a algo que siempre sospeché que pertenecía a los machos, a pesar de tanta hembra metida en la organización. Después se me ocurrió que todo pasaba como en familia: el partido es el marido de la revolución y se comporta como todos los maridos, la gozan, la traicionan, la vuelven a recuperar, se aburren de ella, pero recurren a ella cuando no tienen donde estar'.« (117) Erst in der weiblichen Solidarität in dem idyllisch geschilderten Leben im Frauenhaus ihres Stadtviertels findet Laura Heilung von ihrer Geisteskrankheit und zeitweise ihre Selbstbestimmung. Doch diese scheitert an den wie ein Fluch auf der Gesellschaft lastenden, vom machismo beherrschten alten Strukturen: Laura wird im Frauenhaus von einer Gruppe von Männern, ehemaligen Contras und Nachbarn, aufgehetzt von der katholischen Kirchenhierarchie, überfallen, vergewaltigt, verstümmelt und stirbt schließlich. Die aus der Revolution geborene »neue« Nation gründet sich wie bei Tomás Borge auf den geschändeten, toten Körper der Frau. Auch Milagros Palma hat in Desencanto al amanecer (1995) keinen anderen Ausweg als den Tod der Frau zu bieten. Der kurze Roman erzählt Episoden aus dem Leben der Schriftstellerin Fernanda Rosales Cantero in einem revolutionären Land in den Tropen in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, dessen außerliterarischer Bezugspunkt aufgrund zahlreicher deutlicher Anspielungen (u.a. auf Somoza, Sandino, das Erdbeben von 1972 in Managua, den Bürgerkrieg in den achtziger Jahren) unschwer als Nicaragua zu entschlüsseln ist. Fernanda ist der Prototyp der engagierten Autorin - exemplarisch für eine ganze Generation von Intellektuellen »im Dienst der Revolution«. Obwohl sie von ersten Zweifeln an der Entwicklung der Revolution gequält wird, verschließt sie sich nicht dem Ruf der Schriftstellergewerkschaft, sich an einer »Kulturbrigade« zu beteiligen, deren Auftrag es ist, ins Kampfgebiet zu gehen und dort die Moral der revolutionären Einheiten in ihrer Auseinandersetzung mit der antisandinistischen Contra zu stärken. Enttäuscht von der politischen Entwicklung, aber auch von ihrer Beziehung zu Gabriel, ihrem
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Vgl. zu diesem und dem ersten Roman des Autors, Säbado degloria das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«.
(1987/1990), ausführlich
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Ehemann und Vater ihrer beiden Kinder, sucht sie ihre eigene Identität als Frau und als politisch engagierte Autorin unter den Kämpfern im tropischen Urwald zu finden. Das gelingt ihr jedoch erst, als sie bei einem Angriff der Contra den Kontakt zu ihrer Einheit verliert und allein durch den Dschungel irrt. Dort entdeckt sie eine neue, üppig wuchernde, traumhafte, erotische Welt und die Erfüllung ihrer sexuellen Bedürfnisse durch den Kontakt mit der Eingeborenen Yawira - jenseits der von den Männern dominierten Sexualität, die die Frau auch nach der politischen Befreiung auf ihre Funktion als Reproduktionsinstrument festlegt. Der Roman besteht aus drei Teilen. In einem Eingangskapitel wird in poetischer Sprache (in erster und dritter Person) der Tod der Protagonistin im Dschungel dargestellt. Der Hauptteil erzählt in dritter Person aus der Perspektive Fernandas die Vorbereitung und Durchführung des Brigadeneinsatzes und enthält Rückblenden in ihr Leben. Der Schlussteil nimmt die fantastischen Elemente wieder auf und schildert die mythisch-lesbische Vereinigung mit Yawira, gefolgt von einem kurzen ironischen Epilog, in dem der Revolutionärin für ihre Verdienste im Kampf postum der Titel »Comandante guerrillera« verliehen wird. Der Hauptteil besteht im Wesentlichen aus Dialogen zwischen den Brigademitgliedern über die Rolle des Schriftstellers in der Revolution, die Funktion der Literatur, das Verhältnis von Sexualität und Herrschaft. Die Autorin dekonstruiert den offiziellen Diskurs von der Befreiung der Frau und der Sexualität, von der Freiheit des Autors und der literarischen Schöpfung durch die Revolution und kritisiert, dass sich auch unter den neuen Verhältnissen die jahrhundertealten Unterdrückungsmechanismen perpetuieren (» ... detrás de los ideales de esta revolución se esconde una gran mentira«, 7). Dabei gelingt es ihr, einen »Gegendiskurs« zu einigen Grundpfeilern und Protagonisten der sandinistischen Kulturpolitik zu entwickeln. So werden die Talleres de Poesía Ernesto Cardenals kritisiert, aber auch die erotische Poesie Gioconda Bellis, die immer noch von der männlichen Vorherrschaft und der Unterwerfung der Frau gekennzeichnet sei. (vgl. 74-99) Ironisiert wird auch eine Literatur, die direkt im Dienste der Revolution steht, etwa die testimonios im Stile von Omar Cabezas' La montaña es algo más que una inmensa estepa verde, (vgl. 105-116) Die Konstruktion der »neuen« Nation endet auch hier in der Ausgrenzung und im Tod der Frau, gleichzeitig scheint jedoch jenseits des revolutionären Nationalismus eine alternative Konzeption der Weiblichkeit auf: die gleichgeschlechtliche Verbindung mit der Indianerin Yawira als Alternative zum heterosexuellen Diktat der Comandantes. Die engagierte Revolutionärin wird vom revolutionären Nationalismus marginalisiert, aber sie findet ihre Erfüllung jenseits seiner Grenzen, ihr Tod ist nicht umsonst, noch ihr toter Körper ist dem männlichen Zugriff entzogen. Die (neue?) Nation erscheint in diesen Romanen als missbrauchter Körper der Frau, der Körper der Frau als Repräsentation der missbrauchten Nation.
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Die revolutionäre Frau: Eine neue Nation? Wo sind die weiblichen (feministischen?) Stimmen geblieben, die sich doch in einer Reihe von Romanen schon in den achtziger Jahren zu Wort gemeldet hatten? Sind die von Gioconda Belli, Claribel Alegría, Rosario Aguilar und anderen erhobenen Ansprüche auf eine neue Beziehung zwischen Frau und Nation von den männlich besetzten Mühen der Ebene aufgesogen worden? Oder zeichnen sich neue Gipfel am Horizont ab? Angesichts der Bekanntheit des zweiten Romans von Gioconda Belli, Sofia de los presagios, der just im Jahr des Regierungsverlusts der Sandinisten erschien und mit dem sie an die Debatte der Achtziger anknüpfte, mögen das rhetorische Fragen sein. Schon Mitte der achtziger Jahre hatte Rosario Aguilar in ihrem Buch Siete relatos sobre el amor y la guerra (1986) grundlegende Fragen des Verhältnisses zwischen der neuen Nation und der am revolutionären Geschehen beteiligten Frau aufgeworfen und literarisch gestaltet.59 Die drei miteinander verwobenen Handlungsstränge des ersten Teils haben die Liebe von drei Frauen (Maria Elena, Leticia und Paula) vor dem Hintergrund der siegreichen Revolution zum Thema. Alle drei kommen mit den ihnen traditionell zugeschriebenen Frauenrollen in Konflikt und versuchen sich daraus zu befreien, was ihnen nur teilweise gelingt. Die aus einer bürgerlichen Familie stammende Maria Elena, die sich nicht für die Revolution interessiert, emigriert mit ihrem ebenfalls bourgeoisen Ehemann Eddy in die USA, als die Revolution siegt. Als dieser sie betrügt, bricht ihr nach traditionellen Mustern entworfenes Weltbild zusammen. Sie treibt ab und trennt sich von ihrem Ehemann, um ein unabhängiges Leben zu beginnen, ermöglicht durch ihren Erfolg als Model in der Kosmetikbranche - das heißt durch ihren Eintritt in die Arbeitswelt erkauft durch eine definitive Entfremdung von ihrer geliebten Heimat Nicaragua. Die beiden kontrapunktisch entworfenen Schwestern Leticia und Paula engagieren sich für die Revolution. Leticia ist in der Alphabetisierungskampagne an der Karibikküste aktiv, wo sie sich in den Miskito Cristy verliebt, den sie heiratet. Paula arbeitet im Innenministerium und sehnt sich nach einer traditionellen
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Das Buch besteht aus zwei Teilen, eigentlich zwei Kurzromanen: Der erste trägt den Titel »Sobre el amor« und den Untertitel »Amándola en silencio« (insgesamt 16 Kapitel), der zweite den Titel »Sobre la guerra« und den Untertitel »Adiós para siempre« (mit sechs Kapiteln, die außer dem fünften die Namen ihrer Protagonistinnen tragen: Maria José, Karla, Lucia, Sonia, Margarita Maradiaga). Gemeinsames Thema der beiden Teile ist die Rolle der Frau in den Zeiten des revolutionären Umbruchs in Nicaragua, dargestellt an der Entwicklung von sieben Frauen aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Die erzählte Zeit umfasst die Monate Mai bis Juli 1979, das heißt Vorbereitung, Durchführung und Sieg der »insurrección final«, des Aufstands gegen die Somoza-Diktatur, mit einem flashback zum September 1978, dem fehlgeschlagenen Aufstandsversuch in León. Orte der Handlung sind Managua, León, die nicaraguanische Karibikküste und Florida.
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Liebes- und Familienbeziehung. Sie verliebt sich in Eddy (den Ehemann Maria Elenas), als dieser nach Nicaragua zurückkehrt, um sein während der Revolution konfisziertes Eigentum zu reklamieren. Während Leticia sich nach langem innerem Kampf dazu entscheidet, ihren Ehemann und ihr gemeinsames Kind zu verlassen, um ihrem Eingeschlossensein in der von Cristy dominierten Beziehung und in einer ihr fremden Region (der Karibikküste) zu entkommen, hängt Paula weiter ihrem Traum von einer Zweierbeziehung zu Eddy nach. Nur mit Hilfe eines anderen Mannes, ihres Vorgesetzten, der ihr eine Reise nach Kuba vermittelt, kann sie sich zumindest räumlich von ihrer schwierigen Lage trennen. Ihr krankes Kind soll dort behandelt werden, nachdem dessen Vater Eddy eine Reise zur Behandlung in die USA verweigert und sie kein Visum bekommen hat. Der zweite Teil thematisiert Krieg und Tod am Schicksal von vier Frauen (Karla ist das Pseudonym von Margarita Madariaga). Alle zeichnet ihr bewusstes Engagement für die Revolution und ihre aktive Teilnahme an ihr aus, wodurch sie aus ihrer traditionellen Rolle ausbrechen. Auch sie kommen mit dieser Rolle - in erster Linie der Frau als Gebärender, als Mutter und als treuer Partnerin ihres Geliebten bzw. Mannes - in Konflikt. Außer bei Karla endet dieser Konflikt im Tod. Allegorisch für die Situation in Nicaragua 1979 opfert die schwangere Guerillakämpferin Maria José im Kampf für ein besseres Leben nicht nur ihr eigenes Leben, sondern sogar das ihres Kindes. Sie wird von der Guardia Nacional in ihrem Versteck in dem Moment erschossen, als sie ihr Baby gebärt. Ihr wie eine reife Mango aufgeplatzter Bauch gibt ein neues Leben frei, das sofort den Tod findet - eine grausame, aber treffende Metapher auf die zum Teil unmenschlichen Opfer, die der Sturz des alten Regimes und die Geburt eines neuen in Nicaragua forderten. Der Text bricht in dreifacher Hinsicht mit traditionellen, patriarchalisch dominierten Weiblichkeitskonzeptionen: Alle Protagonistinnen entscheiden sich gegen die Mutterschaft im traditionellen Sinn, die ihren Kampf um politische und sexuelle Befreiung behindert. (Nur Karla kehrt nach der Revolution zu ihrem Sohn zurück und widmet sich der Erziehung von Kindern, durchaus in Anknüpfung an hergebrachte Rollenverteilungen.) Alle Protagonistinnen fliehen aus ihrem Haus, traditionell der Ort, welcher der Frau vom Patriarchat zugewiesen wurde, und treten als bewusst Handelnde in der »äußeren«, öffentlichen herkömmlicherweise von Männern dominierten Welt auf. Schließlich ist die Darstellung des weiblichen Körpers, seiner Befreiung aus dem patriarchalischen Zwangskorsett, eine Konstante des Textes. Vor allem von Maria Elena und Leticia wird der eigene Körper als Quelle der Lust und der Selbstverwirklichung empfunden, die Protagonistinnen erobern sich ihren Körper zurück, indem sie frei und lustvoll über ihre Erotik sprechen. Damit entwirft Rosario Aguilar in Umrissen eine neue literarische Repräsentation der nicaraguanischen Frau, die in dieser vielfach zerrissenen Welt, in der auch die Revolution keine endgültige Lösung ist, sondern neue Widersprüche schafft bzw.
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alte perpetuiert, nach Identität sucht.60 Erste Risse im Verhältnis zwischen revolutionärer Nation und neuer Frau deuten sich an. Sie vertiefen sich, als Gioconda Belli zwei Jahre nach ihrer ersten literarischen Antwort auf den männlichen Diskurs der comandantes mit Sofia de los presagios (1990a) erneut in die Auseinandersetzung eingreift und definitiv dessen Beschränkungen zu durchbrechen sucht. Im Stil eines Märchens erzählt der Roman von der Tochter fahrender Zigeuner, die im Alter von sieben Jahren in dem Dorf Diriá zurückgelassen wird und unter der Obhut des Gutsbesitzers Don Ramón und der Pflegemutter Eulalia auf einer hacienda aufwächst. Frau zu sein bedeutet in diesem Roman, »to come from an unknown country; it is not to have history or memory« (Rodríguez, 1994: 192). Erst über einen langen Prozess der Auseinandersetzung mit ihrer vom machismo geprägten Umwelt gelingt es der Protagonistin, eine eigene weibliche Identität zu finden. Dafür ist, wie ich bereits dargestellt habe, der Rekurs auf die magischen Traditionen von zentraler Bedeutung.61 Ebenso wichtig sind eine Reihe von weiteren Instanzen, die Ileana Rodríguez mit »The Three C's' of Success: Cara/Cuerpo/Capital« (ibid.) zusammenfasste. (vgl. dazu ibid.: 192-195; Dröscher, 1996b: 16f.) Frausein bedeutet für Sofía Anderssein, gerade wegen ihres anderen Aussehens, ihrer exotischen Schönheit (cara), was dazu führt, dass ihr von den Dorfbewohnern magische Kräfte angedichtet werden. In der traditionellen Rollenverteilung wird sie als Frau erst ihre Position einnehmen können, wenn diese exotische Schönheit zum ausschließlichen Besitz eines Mannes, in der Ehe quasi gebändigt wird. In der Tat willigt sie mehr ihren Pflegeeltern zuliebe in die Heirat mit René ein, der sich bald als gebieterisch und gewalttätig herausstellt. Schon am Tag ihrer Hochzeit demütigt sie ihren Ehemann, indem sie auf dem Pferd aus der Kirche flieht und die Zeremonie ihrer Unterordnung unter die patriarchalische Institution Ehe sprengt. Nach ihrer Rückkehr rächt sich ihr Ehemann und sperrt sie im Haus ein. Die Ehe wird zum Gefängnis, das ihr jegliche Freiheit und Eigenständigkeit raubt, sie aus dem öffentlichen Raum entfernt und im wahrsten Sinne des Wortes im Haus einschließt, der ständigen Vergewaltigung ihres Ehemanns
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Dieser Zerrissenheit und Vielstimmigkeit der möglichen Lebensentwürfe entspricht durchaus die erzählerische Struktur des Werkes, die einen aktiv beteiligten Leser erfordert. Die chronologische Abfolge ist umgedreht, die vier Geschichten des zweiten Teils sind nicht nur zeitliche Voraussetzung des Handelns der drei Frauen im ersten. Erzählt wird mit zwischen den Personen (Ich-Perspektive) und der Erzählerin (dritte Person) wechselnden Fokalisationen. Die Erzählung in erster Person der bürgerlichen, nicht in der Revolution engagierten Maria Elena, mit der das Buch beginnt und die quasi die aktuelle Erzählzeit ist, von der aus zurückgeblendet wird, erzeugt von vorneherein eine Distanzierung des Lesers zur Handlung, verhindert die Identifizierung. Hinzu kommt eine Reihe von intertextuellen Elementen, die sich vor allem aus dem biblischen Geschehen und der reichen poetischen Tradition Nicaraguas speisen. Vgl. dazu das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«.
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ausgesetzt. Doch sie lebt ihre Schönheit (cara) weiter, indem sie sich in einer Art »innerer Emigration« in ihr Zimmer zurückzieht, sich erotischen Phantasien hingibt, über das Telefon ein Liebesverhältnis zu Esteban beginnt, eine geschwisterliche Beziehung zu dem homosexuellen Cousin Fausto eingeht und erotische Abenteuer mit Bediensteten erlebt, (vgl. Rodríguez, 1994: 191) So gewinnt sie - noch in die engen Räume des Patriarchats eingeschlossen die Verfügungsgewalt über ihre weibliche Erotik. Noch ist das jedoch eine relative Eigenständigkeit am Rand der von den machistischen Strukturen beherrschten ländlichen Gesellschaft, eine wirkliche Befreiung kann erst gelingen, indem sie aus dieser Marginalität des Eingeschlossenseins im »inneren Exil« des Patriarchats ausbricht. Zunächst lässt die Autorin die Protagonistin - unter wiederholtem direktem intertextuellen Bezug auf den Roman Castigo divino (1988) von Sergio Ramírez, in dem Oliverio Castañeda seine Ehefrau ermordet - an die Vergiftung ihres Ehemannes als Ausweg aus ihrer Unteijochung denken.62 Diese Befreiung im Privaten würde jedoch nur in einen erneuten Freiheitsentzug im öffentlichen Raum münden, in der doppelten Ächtung als Zerstörerin der heiligen Institution Ehe und Mörderin. Die vom machismo dominierte Kultur lässt für die Frau einen solchen Ausweg nicht zu. Dieser wird vielmehr durch die gesellschaftlichen und politischen Errungenschaften der Moderne ermöglicht. Zuerst entzieht sich Sofía der patriarchalischen Gewalt zumindest teilweise, indem sie sich von ihrer besten Freundin im fernen und doch nahen Managua die Antibabypille besorgen lässt und sich so erfolgreich der ihr aufgezwungenen Rolle als Gebärmaschine widersetzt. Mit dieser Verweigerung, mit der Gioconda Belli auf Verhaltensweisen der Indianerfrauen gegen die Conquista anspielt, gewinnt Sofia die faktische Kontrolle über den eigenen Körper (cuerpo), die scheinbare Kongruenz von biologischem und sozialem Geschlecht wird dekonstruiert. 63 Die definitive Überwindung dieser Konstruktion und ihre end-
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Das ist eine unmissverständliche Umkehrung des Motivs bei Sergio Ramírez: Während bei Ramirez und Borge die männlich bestimmte Nation sich über den toten Körper der Frau konstituiert, spielen Sofía/Gioconda mit dem Gedanken der Konstruktion weiblicher Identität, die sich auf den toten Körper des Mannes gründet, (vgl. dazu oben das Unterkapitel »La patria: Ein Liebeslied für die Männer« und Rodríguez, 1996: 10-14) Dieses Motiv war schon in La mujer habitada (1988a) präsent, wo Itzá davon berichtet, wie sie und die anderen Frauen ihres Stammes sich weigern zu gebären, um den spanischen Eroberern nicht noch mehr Gelegenheiten zur Unterdrückung, Versklavung und Zerstörung von Leben zu geben, (vgl. Kaminsky, 1994: 28) Allerdings wird es in Bellis erstem Roman ebenso wenig zu einem tragenden Element der Erzählung, bestimmt nicht das Verhalten Lavinias, wie in Orlando Núñez Sotos Roman Sábado de gloria (1987, 1990), in dem das Motiv des Gebärstreiks der Indianerfrauen als Widerstand gegen die Conquista in den Erzählungen des alten »maestro Chan« verarbeitet wird, ohne sichtbare Auswirkungen auf das Verhalten der Protagonistinnen des Romans zu haben. Zu Núñez Sotos Roman vgl. ausführlich die Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität« sowie »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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gültige Flucht aus dem Gefängnis Ehe gelingen ihr schließlich unter Berufung auf die vom revolutionären Regime erlassene »Ley del Divorcio Unilateral«, das neue Scheidungsrecht, das die Trennung ermöglicht, wenn einer der beiden Ehepartner den Wunsch dazu erklärt. In der Beziehung zu ihrem ersten wirklichen Geliebten, Jerónimo, können sich dann weibliche Erotik und Sexualität als der männlichen gleichwertig verwirklichen (vgl. Dröscher, 1996b: 16), die Mutterschaft wird zu einer freien und alleinigen Entscheidung der Frau, die den leiblichen Vater aus diesem Verhältnis ausschließt und ihre Tochter Flavia allein erzieht. Schließlich ist die weibliche Selbstfindung nur möglich auf der Basis einer ökonomischen Eigenständigkeit Sofías (capital). Zum ersten Mal wird in der nicaraguanischen Romanliteratur dieses Thema, das bereits Mitte der achtziger Jahre von Rosario Aguilar in ihrem Roman Siete relatos sobre el amor y la guerra problematisiert wurde, zu einer tragenden Säule weiblicher Identitätskonstruktion.64 Sofía erbt die hacienda ihre Pflegevaters und entwickelt sich zur erfolgreichen ländlichen Unternehmerin, womit sie endgültig alle traditionellen Rollenzuschreibungen hinter sich lässt und die letzten Grundlagen der Männlichkeitskonstruktionen - insbesondere im Kontext ihrer bäuerlichen Lebenswelt - in Frage stellt: »Belli [...] makes it clear not only who is in command but that the Subordination
of man is a woman's desire.« (Rodríguez, 1994: 193) Indem sich Sofia die Logik des männlich dominierten modernen Wirtschaftens zu Eigen macht und Land nicht länger als Landschaft, Garten, bestenfalls als Quelle finanzieller Einkünfte aus Pacht versteht (wie es für viele lateinamerikanische Romane typisch ist; vgl. ibid.), sondern als dynamische landwirtschaftliehe Kategorie, schlägt sie die Männer-Unternehmer auf ihrem ureigensten Feld. Dies kann jedoch nicht der ganze Inhalt weiblicher Selbstbestimmung sein. In der Tat kommt zu den »drei C« ein weiteres Element hinzu, das von Ileana Rodríguez weitgehend ignoriert wird und das ich schon im Kapitel über Magie und Realität dargestellt habe: Der entscheidende Schritt in der Schaffung einer neuen Weiblichkeitskonzeption besteht in der Konstruktion einer magisch-mythisch fundierten Kontinuität der Frau in der Geschichte. Sofia und ihre Tochter Flavia werden in einer doppelten Wiedergeburt durch die Kräuterfrau Doña Carmen und die Hexe Xintal zu selbstbestimmten Wesen. Das ist die wahre Antithese zu Cabezas' »Männergeburt« des »hombre nuevo« aus Sandinos Rippe: Die »neue Frau« Gioconda Bellis wird aus einem rein weiblichen Reproduktionsprozess geboren, aus dem der
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Zu diesem Motiv in Rosario Aguilars Roman siehe oben. Auch Maria Gallo greift es später in ihrem Roman Entre altares y espejos (2000) wieder auf. (vgl. zu diesem Roman das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«)
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Mann ausgeschlossen ist.65 Sofía »disavows all gender roles [...]« (Rodríguez, 1994: 170), sie stellt die vom Patriarchalismus bestimmten Geschlechterkonstruktionen in Frage. Weibliche Identität und historische Kontinuität werden nicht über die traditionellen Familien- und Blutsbande hergestellt, wie sie für den nationalistischen Diskurs prägend sind. Die Familie als Kern der Nation wird zerstört: »In Sofia de los presagios,
W o m a n ' s realization is postulated as the absence o f
blood family and the death of social family.« (ibid.: 192)"
Die Ablehnung der Mutterschaft unter den Bedingungen der traditionellen Familie ist das Ergebnis einer bewussten Entscheidung Sofias auf der Suche nach weiblicher Selbstbestimmung, während sie in La mujer habitada eher unbewusst von den politischen und sozialen Umständen erzwungen wurde, in denen es notwendig schien, zu werden und zu kämpfen wie die Männer, (vgl. Kaminsky, 1994: 27f.) Nicht nur die Ehe als Institution, sondern auch die traditionellen Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzeptionen werden untergraben. Im Unterschied zu La mujer habitada sind weibliche Erotik und Sexualität nicht länger auf die Männer fixiert, entziehen sie sich dem Besitz ergreifenden männlichen Blick, erotische und sexuelle Alternativen zum patriarchalisch-heterosexuellen Diktat werden möglich, Männlichkeit wird als konstruierte erfahrbar und so dekonstruiert - wie zum Beispiel in der Parodierung des machismo Renés und der Beziehung Sofias zum homosexuellen Fausto. Das Männliche schließt weibliche Züge ein, das Weibliche nimmt männliche auf (wie bei Sofia gesehen), (vgl. Rodríguez, 1994: 195, Arias, 1998a: 249; Dröscher, 1996b: 16) Frau und Nation trennen sich, eine Weiblichkeitskonzeption jenseits des Nationendiskurses wird möglich, symbolisiert in der vor-staatlichen, vor-nationalen sozialen Einheit der hacienda, die zum Ort der weib-
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Auch dieses Motiv schien bereits in La mujer habitada in der Beziehung zwischen Itzä und Lavinia auf. In der Beziehung Samen-Blüte-Frucht sieht Ramona Lagos eine Art von geistiger Mutterschaftsbeziehung zwischen der indianischen Prinzessin und der jungen Archtitektin ohne männliche Beteiligung. Die Guerillera Lavinia werde aus dem Bewusstsein und der historischen Erinnerung Itzäs geboren. Dagegen steht das Fehlen jeglicher Beziehung Lavinias zu ihrer leiblichen Mutter, (zu Ramona Lagos vgl. Fußnote 41 im Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«) Für Ileana Rodriguez steht dies repräsentativ für eine allgemeinere Tendenz in der von Frauen geschriebenen lateinamerikanischen Literatur, zumindest in den Romanen, die sie untersucht (vgl. Fußnote 3): »In the five narratives that I have selected, the figure of the nuclear family has been displaced. The father and the mother as leading forces and reproducers of social behavior have disappeared and have been substituted by aunts, uncles, grandparents, and servants. Mothers have gone crazy, have prostituted themselves, or are dead, leaving the protagonists in a state of social orphanhood, which serves them as a platform from which to launch their projects of emancipation.« (Rodriguez, 1994: 52) Sie resümiert: »The implosion of the traditional model of the family narrativized by women writers is total.« (ibid.: 23)
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liehen Selbstverwirklichung wird (vgl. Rodríguez, 1994: 189) - ganz im Gegensatz zu La mujer habitada, wo sich weibliche Identität im Zentrum der staatlichen Macht (dem Haus des Generals Vela) herstellen soll, was mit der physischen Vernichtung der Frau endet.67 Weibliche und nationale Identität trennen sich, das Subjekt des Romans entzieht sich dem Nationendiskurs und unterscheidet sich somit grundlegend von den literarischen Subjekten der vorhergehenden Epochen, insbesondere im testimonio - ein Prozess, den Arturo Arias als typisch für den zentralamerikanischen Roman seit Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre sieht: »La transición vivida en torno al sujeto en la novela centroamericana va del hombre dominante burgués (novela criollista), al hombre mestizo revolucionario (novela de los años setenta), a la mujer burguesa revolucionaria (La mujer habitada) a la mujer marginal defendiendo su ser en tanto mujer (Sofia de los presagios). [...] En otras palabras, lo que tenemos aqui es la emergencia de un proceso de afirmación de identidades tradicionalmente marginadas o discriminadas que rompen el mundo mítico al cual estaban condenadas para autoafirmarse como sujetos conscientes capaces de controlar su propio destino.« (Arias, 1998a: 242, vgl. 250) 68
Damit ist nicht nur ein Nationalismus in Frage gestellt, der auch unter der revolutionären Hülle traditionelle patriarchalische Muster birgt, sondern allgemeiner ein Konzept der Nation, das auf Geschlechterkonstruktionen basiert.69 In diesem Sinne kann mit der US-amerikanischen Wissenschaftlerin Mary K.
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Sozialgeschichtlich stellt dieser Rekurs auf die hacienda als Ort weiblicher Identitätsfindung eine Regression dar. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass sich Sofia bei ihrer Bewirtschaftung durchaus moderner Methoden und Prinzipien (Rentabilität, soziale Gerechtigkeit) bedient. Das entworfene Weiblichkeitskonzept ist also keineswegs frei von Widersprüchen. (vgl. auch Rodriguez, 1994: 182f„ 193f., 196) Dröscher argumentiert, dass damit »eine im Kontext der allgemeinen Verhältnisse in Nicaragua durchaus avantgardistische bzw. radikale Frauenposition gestaltet ist« (Dröscher, 1996b: 16), während Arturo Adas Sofia de los presagios unter Bezug auf Michel Foucault als eine Herausforderung an die Prämissen des humanistischen Diskurses begreift: »El hombre deja de representar el sentido, el cual pasa a ser encarnado por la mujer que crea un contra-discurso anti-racionalista y anti-humanista para articular una nueva coherencia en torno a su ser como sujeto coherente.« (Adas, 1998a: 246) Wie dargestellt, vereint das »weibliche Subjekt« Sofia durchaus unterschiedliche, widersprüchliche Züge: »moderne« und »vor-moderne«, »weiblich-emotionale« und »männlich-rationale«, wie symbolisch die Inneneinrichtung ihres Büros: » [...] la oficina de Sofia es una mezcla de antiguo y moderno, de cosas de mujer y cosas de hombre.« (Sofia de los presagios: 123; vgl. Rodriguez, 1994: 189) Vgl. dazu Anas, 1998a: 241f. und das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität« der vorliegenden Studie. Barbara Dröscher weist daraufhin, dass Ende der achtziger Jahre in Nicaragua Frauengruppen, Lesben- und Homosexuellenzentren entstanden, die Anschluss an die internationale Diskussion in der Frauenbewegung über Geschlechterrollen fanden und den herrschenden sexualpolitischen Diskurs des Sandinismus in Frage stellten, (vgl. Dröscher, 1996b: 16)
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Addis davon gesprochen werden, dass »esta novela, escrita a finales de los anos ochenta y publicada en 1990, registra un nacionalismo en crisis« (Addis, 1995b: 2f.). Viele dieser Elemente greift Gioconda Belli dann in ihrem dritten Roman, Waslala. Memorial del futuro (1996a) wieder auf: den Kampf um demokratische Geschlechterbeziehungen, die Dekonstruktion eindeutiger männlicher und weiblicher Rollenzuschreibungen, den Rückgriff auf den Mythos von der Mutter Erde zur Schaffung einer weiblichen Identität in Konfrontation mit dem männlich determinierten Nationendiskurs. Gleichberechtigte erotische und sexuelle Beziehung scheinen fast schon selbstverständlich, wie zum Beispiel zwischen der weiblichen Hauptfigur Melisandra und dem nordamerikanischen Journalisten Raphael oder in der lesbischen Beziehung zweier Holländerinnen; dass der weibliche Körper (auch) Quelle der eigenen Lust ist, steht außer Zweifel. Die ökonomische Unabhängigkeit der Frau ergibt sich zum einen aus ihrer sozialen Herkunft (als Enkelin von Landgutbesitzern, eine bekannte Figur im Werk der Autorin), aber auch aus ihrer professionellen Tätigkeit als Journalistin, ohne dass dieses Motiv eine tragende Rolle bekommt. Wie sich hier wieder »moderne« und »vor-moderne« Elemente vermischen, so auch in der Suche nach dem mythischen Ort Waslala, mit dem sowohl weibliche Identität als auch die Utopie eines zukünftigen Zusammenlebens auf demokratischeren, gerechteren, humaneren Grundlagen konstruiert werden.™ Diese Utopie entsagt endgültig der Verankerung im nationalen Boden, ihr Grund ist mythisch und gleichzeitig transnational.7' Während Gioconda Belli mit Sofia de los presagios die von der Revolution geschaffene neue staatliche und gesellschaftliche Ordnung in Frage gestellt hat, in der noch immer der patriarchalisch-nationalistische Diskurs herrscht, sucht sie in Waslala nach einem Zukunftsentwurf, der die ursprünglichen Ideale dieser Revolution am Leben hält und sie für eine nicht auf eindeutigen Geschlechterkonstruktionen basierende Form des Zusammenlebens öffnet. Im Gegensatz zu La mujer habitada, wo die Protagonistin ihre Identität erringt, indem sie sich als Frau für das Vaterland opfert und quasi auf alles Feminine verzichtet, rekurriert die Autorin in beiden Romanen nicht mehr auf den patriotischen Diskurs, sondern auf eine Identität jenseits von Nation und Staat.
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Vgl. dazu ausführlich das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«. Barbara Dröscher argumentiert unter Hinweis auf die Entstehungs- und Vermarktungsbedingungen des Romans und den veränderten Diskurs um Geschlechterfragen in den neunziger Jahren: »Waslala greift deutlich über die nationalen Themen der Frauenbewegung in Nicaragua hinaus. In diesem Buch wird Globalisierung nicht nur thematisiert, sondern auch praktisch realisiert: Es ist im wesentlichen in den USA entstanden, wo Gioconda Belli seit einigen Jahren lebt. Deutlich ist es von der nordamerikanischen Diskussion um Gender, Kommunitarismus, Globalisierung und Abkoppelung geprägt.« (Dröscher, 1996b: 17)
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Die wahre Nation: Ein männerloses Haus? Aber auf welches Fundament kann sich dieses Zusammenleben gründen, wenn die Männer als verfeindete Brüder mit dem Morden im Krieg befasst sind wie bei Mónica Zalaquett und demente Guido oder im Gemeinwesen Familie, der so oft beschworenen Keimzelle des Staates, abwesend sind wie in zahlreichen der hier besprochenen Romane? Wie kann eine solche Gesellschaft ohne Männer und Väter überleben? Weiter oben hatten wir gesehen, wie in demente Guidos historischem Roman El sueño de Tío Billy schon Mitte des 19. Jahrhunderts fast unbeachtet die Frau als Lebensspenderin, die den Fortbestand der Gemeinschaft sichert, auf dem von den Männern dominierten Kriegsschauplatz ins Bild kommt. Diese Figur der Leben gebenden und Leben erhaltenden Frau tritt in einigen in den neunziger Jahren erschienenen Romanen, deren außerliterarischer Bezugspunkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt, immer deutlicher in den Vordergrund und nimmt bisher nicht gekannte Züge an. Wie bereits dargestellt,72 dekonstruiert Carlos Alemán Ocampo in seinem Roman Vida y amores de Alonso Palomino (1994) einen machismo, der sich seiner direkten Abstammung von den spanischen Konquistadoren rühmt, in Gestalt des Alonso Palomino jedoch von zwei Frauen abhängig ist, die zwei traditionell weiblich dominierte gesellschaftliche Bereiche repräsentieren: der Marktfrau Gertrudis und dem Kräuterweib Clorinda. Diese weibliche Macht gründet sich nicht nur auf ihre mythisch-magischen Wurzeln, die sie mit den prähispanischen Traditionen verbinden,73 sondern auf eine konkrete materielle, ökonomische Basis. Exemplarisch deutlich wird das in einer Szene gegen Ende des Romans: Alonso Palomino hat endlich wieder einmal eine Gelegenheitsarbeit gefunden und freut sich über die reales, die Münzen, die er in der Tasche hat. Aber nicht die eigene Zufriedenheit ist sein höchstes Streben, sondern das Glück seiner aktuellen Gefährtin Gertrudis, wie er in einem inneren Monolog sinniert. Er kauft ihr alles, was sie immer schon einmal haben wollte: Schminke und Armbänder, die sie niemals trägt, aber doch in Reserve hat, falls sich eine Gelegenheit dazu bietet. Das sei der wahre Luxus, für jede Situation gerüstet zu sein, philosophiert Alonso. Aber ganz so selbstlos ist er dann doch nicht; seine (vorübergehende) finanzielle Potenz schlägt um in den Anspruch, ein für alle Mal auch ökonomisch in seiner Beziehung zu Gertrudis die Hosen anzuhaben, angeblich immer noch nur zum Wohl der Frau: »Buscándole la felicidad a la Gertrudis le pedí: -Dejá esa venta del mercado, suficientes reales estoy haciendo para mantenernos como siempre habíamos dicho.« (227) Aber Gertrudis ist sich ihrer durch eigene Arbeit erworbenen finanziellen und
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Vgl. das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«. Vgl. dazu Palma, 1994: 40^4.
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ökonomischen Sicherheit bewusst und nicht bereit, diese aufs Spiel zu setzen: » - M i seguridad está en mi venta, nunca me falla. Que no se te ocurra volverme a decir que la deje. Se te subió la fachentada por los reales, pero eso es pasajero - f u e la respuesta contundente y categórica de la Gertrudis.« (227f.) Während bei Gioconda Belli die ökonomische, eher finanzielle, Unabhängigkeit der Frau aus Schenkung (der Tante Inés an Lavinia) oder Erbschaft (des Pflegevaters Don Ramón an Sofia) resultiert, also kein Ergebnis der eigenen, weiblichen Arbeit ist (erst auf der Grundlage und als Folge der Erbschaft entwickelt Sofia eine eigene produktive Tätigkeit), gründet sich die weibliche Unabhängigkeit in Alemán Ocampos Roman auf die Einkünfte der Frauen aus ihrer Tätigkeit im Handel und in der Medizin bzw. Krankenpflege. Zum ersten Mal in der nicaraguanischen Romanliteratur rückt die arbeitende, von ihrer Arbeit lebende und die Familie (einschließlich des Mannes) ernährende Frau ins Zentrum des narrativen Diskurses, während sie bei Rosario Aguilar und später noch bei Maria Gallo als literarische Randfigur existiert. Mit den Mitteln der Ironie dekonstruiert Alemán Ocampo die traditionelle Männlichkeitskonzeption, in der der Mann als Ernährer der Familie auch noch dann die zentrale Figur ist, wenn dies schon lange nicht mehr mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Gleichzeitig scheint damit eine neue Weiblichkeitskonzeption auf, in der die Frau nicht nur die volle Verfügungsgewalt über ihr eigenes Leben erhält, indem sie ökonomisch unabhängig wird (nachdem sie sich in zahlreichen anderen der in diesem Kapitel analysierten Romane ihre erotische und sexuelle Autonomie erstritten hat), sondern gleichzeitig zur eigentlichen Ernährerin der Gesellschaft und ökonomischen Basis der Nation. Die Ironie des Romans von Carlos Alemán Ocampo bleibt nicht beschränkt auf das sozusagen innerliterarische Verhältnis der beiden Frauen zu Alonso Palomino, sondern nimmt, indem sie auf ihren außerliterarischen Bezugspunkt zurückverweist, eine darüber hinaus gehende Dimension sozialer Kritik an: Längst ist die Denkfigur des Mannes als Stütze der nationalen Wirtschaft und vor allem Ernährer der Keimzelle Familie angesichts der ökonomischen Bedeutung von Frauenarbeit insbesondere im informellen Sektor und der Frau als Haushaltsvorstand zu einer ironischen Gestalt geworden.74 Ansetzend an den traditionellen Frauenfiguren der nicaraguanischen Volkskultur, der Händlerin/Marktfrau und der Hexe/dem Kräuterweib, skizziert Alemán Ocampo Züge eines neuen
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Während der Anteil von Frauen an der ökonomisch aktiven Bevölkerung in Nicaragua 1960 noch bei 18,3 Prozent lag, stieg er bis 1990 auf 34 Prozent. 1995 lag er in den drei wichtigsten Städten der Pazifikregion (Managua, León und Granada) bei über 40 Prozent. Allerdings waren Frauen zunehmend in prekären Arbeitsverhältnissen im informellen Sektor tätig (Schätzungen schwanken zwischen 55 und über 70 Prozent in den neunziger Jahren). 1995 wurden 40 Prozent der Haushalte auf nationaler Ebene von allein erziehenden Frauen geführt (Schätzungen für die Städte liegen bei über sechzig Prozent), (vgl. Instituto Nicaragüense de Administración Pública/Fundación Konrad Adenauer, 1996: 159,261)
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Weiblichkeitsbildes:" Die traditionell den Frauen zugewiesenen und mythisch beladenen Bereiche (und Räume) des Marktes/Handels und der Hexerei/Medizin werden zu Zentren der literarischen Repräsentation der Frau als Trägerin der nationalen Ökonomie und des Überlebens der Gesellschaft. Ein noch ausschließlicher weiblich definierter Bereich/Raum steht im Mittelpunkt des zweiten Romans von Franz Galich, Managua, Salsa City (¡Devórame otra vez!) (2000): die Prostitution und das Bordell.76 Die Handlung des kurzen Romans ist einfach: Pancho Rana, Wachmann, Fahrer und Mädchen für alles im Haus einer wohlhabenden Familie in der nicaraguanischen Hauptstadt, nutzt die Abwesenheit seiner Arbeitgeber (ganz nach dem Motto: »Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch«), um sich mit ihrem von ihm entwendeten Geld und ihrem Auto ins Nachtleben Managuas zu stürzen. In einem einschlägigen Etablissement lernt er die Prostituierte Tamara (»la Guajira«) kennen, Lockvogel einer Bande von Kriminellen (Perrarenca, Mandrake, Paila'epato), die darauf spezialisiert ist, Freier auszunehmen. Im Laufe einer Nacht, die sie tanzend, saufend und hurend in zahlreichen Bars und Nachtlokalen verbringen, verlieben sich die beiden. In den frühen Morgenstunden ziehen sie sich ins das Haus der Herrschaften Pancho Ranas in einem gehobeneren Viertel Managuas an der Carretera Sur zurück, um sich ungestört zu lieben. Beide malen sich eine gemeinsame Zukunft aus, ohne sich jedoch mit dem anderen darüber auszutauschen. Während Tamara davon träumt, über kurz oder lang die Dame des luxuriösen Hauses zu sein, schmiedet Pancho Rana den Plan, am nächsten Morgen zusammen
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Milagros Palma schreibt zur traditionellen Bedeutung der Marktfrau in Nicaragua: »Der Arbeitstag der Marktfrau ist hart, weil sie tagsüber verkauft, was sie nachts besorgt'. [...] / Diese Frau, der allerlei Hexereien unterstellt werden, übernimmt die Verantwortung für ihre Kinder, beschafft auf irgendeine Weise den Lebensunterhalt für ihre Familie. Meine Marktfrau erzählte mir, dass sie aus Rivas stammt und mit dem handelt, was sie mitbringt (Obst und Gemüse), und dem, was sie mitnimmt (Textilien und andere Artikel). Ihre Kinder sind bei ihrer Mutter - die arme Großmutter. Ihre Männer sind 'auf Reisen'. Aber einen Sohn hat sie auf die Universität geschickt, der andere arbeitet in einer Autowerkstatt.« (Palma, 1994:41) Zur Rolle der Frau als Heilerin, deren Tätigkeit sich mit dem Anbau von Nahrungsmitteln verbindet, heißt es: »In der vorkolumbischen Zeit, in einer Gesellschaft männlicher Krieger, spielten die Alten [d.h. die alten Frauen; W.M.] in der traditionellen Medizin eine sehr wichtige Rolle. Sie heilten die Kranken, 'sie versprühten die Medizin durch die Zähne, nahmen den Absud in den Mund'. Während die Männer für den Krieg lebten und starben, bewahrten die Frauen das Leben. Die Bearbeitung der Erde, der Anbau von Nahrungsmitteln ist eine grundlegende wirtschaftliche Tätigkeit, auf die sich die gesamte Kriegswirtschaft stützt. Diese mit der Erde verbundene, peinlich genaue und gut geleitete Tätigkeit, die überaus große Erträge hervorbrachte, muß die Spanier sehr überrascht haben [...] « (ibid.: 110) Für diesen Roman erhielt Franz Galich im April 2000 den von der Universidad Tecnológica de Panamá vergebenen »Premio Centroamericano de Literatura 'Rogelio Sinán' 1999-2000« in der Sparte Roman. Nach der von Editora Géminis/Universidad Tecnológica de Panamá 2000 herausgegebenen Ausgabe erschien im Jahr 2001 eine zweite (Managua: anamá ediciones).
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mit ihr und dem Schmuck seiner Herrschaften das zu Haus zu verlassen und sich ins Ausland abzusetzen. Ihre Pläne werden von den drei Kumpanen Tamaras, die ihrem Handwerk nachgehen wollen, und zwei weiteren Männern (die anonym bleiben) zunichte gemacht. Diese beiden waren in einer Bar auf Tamara und Pancho Rana aufmerksam geworden und hatten sich an ihre Fersen geheftet, weil der eine von beiden der Versuchung nicht widerstehen konnte, die hübsche Tamara ihrem Freier auszuspannen und selbst mit ihr ins Bett zu gehen. In einem langen Showdown, der jedem Kinokrimi zur Ehre gereichen würde, bringen sich die Männer gegenseitig um. Nur der eine der beiden anonymen Verfolger (»cara de ratón« genannt), der das Ganze für eine verrückte Idee seines Freundes hielt und ihn zurückhalten wollte, und Tamara überleben: »AI amanecer, un carrito diesel, viejito, pero bueno, bajaba por la Carretera Sur. Adentro, la Guajira dormitaba una pesadilla que ya no recordaba cuándo había iniciado pero que sabía o creía, concluida. Conduciendo, el cara de ratón, feliz porque al fin había terminado esa noche, y sin joderme mucho, pensaba ... [...] Eran las seis en punto de la mañana.« (91f.) Die Geschichte scheint von Neuem anzufangen, die alten Strukturen scheinen unangetastet, nur Gesicht und Namen des Mannes bis zur Unkenntlichkeit verändert (nicht von ungefähr bleibt er anonym und seine Identität symbolisiert sich in einem Mäusegesicht, das jedem beliebigen Mann-Freier gehören könnte). Doch die Prostituierte Tamara verkörpert nur scheinbar das Bild der vom Mann am meisten erniedrigten, unterdrückten und ausgenutzten Frau. In der Tat steht sie sogar in ihrem Gewerbe auf der untersten Stufenleiter, indem sie als Köder für ein noch lukrativeres Geschäft dient. Noch bis in die sexuellen und sprachlichen Beziehungen zu ihren Partnern hinein ist sie Objekt der Männer, die auch hier noch von der Allgegenwart des Krieges und der Gewalt besessen sind. Perrarenca und seine Kumpane erinnern sich mit Freuden an Vergewaltigungsszenen mitten in den militärischen Auseinandersetzungen; beim Geschlechtsverkehr mit Tamara beginnt Pancho Rana von ähnlichen Erfahrungen im Krieg zu träumen; dieser Traum wird in einer Sprache erzählt, in der sexuelle Handlungen mit militärischem Vokabular dargestellt werden: »el ejército invasor«, »la batalla«, »el caballo de Troya«, »refuerzos contraataca«, »la vanguardia«, »el ejército enemigo« usw. usf. sind Schlüsselwörter dieser Passagen des Buches. (64-70) Schließlich begeht sie den größten Fehler, die eine Frau ihres Berufes machen kann, indem sie sich in einen ihrer Freier verliebt. Das kann nur in der Katastrophe enden. Nur durch Zufall überlebt Tamara, scheinbar nur um den Preis ihrer erneuten Unterordnung unter den einzigen männlichen Überlebenden und der Wiederkehr des ewig Gleichen. Aber just in dem Moment scheint eine neue Eigenständigkeit der Frau auf: Tamara lässt den Schmuck mitgehen, den Pancho Rana seinen Arbeitgebern entwendet hatte, und natürlich knöpft ihr der neue Begleiter diese Beute ab. Doch sie hat sich schon ohne sein Wissen einen wesentlichen Anteil auf die
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Dritter Kreis: Geschlecht und Nation
Seite geschafft. Während der Blick des Mannes von ihren Beinen über das hübsche Gesicht und zu den aufgerichteten, unter ihrem Atem erzitternden Brüsten schweift und er seinem erschossenen Kumpel, der sie vergewaltigen wollte, post mortem beipflichtet, träumt sie an seine Schulter gelehnt: »Tal vez con éste si me salga la cuenta, pues se mira buenote, y hasta baboso, pero por cualquier mate, llevo parte de la herencia que me dejó mi amorcito, Pancho Rana, porque no le di todas las joyas del bolcito, no sea y se me quiera ir arriba el loco éste.« (91)77 Ohne Zweifel kann in dieser Frauenfigur ein Symbol der leidenden nicaraguanischen Nation gesehen werden, vergewaltigt von den jeweils an der Macht befindlichen Herren, von der somozistischen Diktatur und dem großen Bruder im Norden bis zu den Sandinisten und den neuen neoliberalen Herrschern. Gleichzeitig ist sie jedoch das Symbol einer Gesellschaft, in der die Frauen das Überleben sichern - trotz der gewalttätigen Zerstörung durch die Männer-Krieger und in Abwesenheit der Männer-Väter. Da scheint das andere Managua auf: die Leidenschaft, das erotische Sich-Verschlingen, die Möglichkeit, dass sich so etwas wie Liebe entwickelt, der ungebrochene Lebenswillen, wie es im Schlussabschnitt des Romans heißt: »Eran las seis en punto de la mañana. Dios volvía a ponerle la llama a Managua y le amarraba nuevamente las manos al Diablo. [...] El bullicio y la acción se instalaban de nuevo como signo de vida, y eso era lo importante: estar vivos: / /En mi cama nadie es como tú... ¡Devórame otra vez!\« (92) Diese Sexualität und Sensualität sind weiblich bestimmt, die Prostitution wird zur Quelle der Macht und Unabhängigkeit der Frau, aus der die Männer als identifizierbare Individuen ausgeschlossen sind und in der die Nation als männlich dominierter Raum zerstört ist. Franz Galich greift auf die der Frau traditionell von der patriarchalischen Gesellschaft zugewiesene Figur der Hure und die Instanz der Prostitution zurück,78 entbindet sie jedoch ihrer eindeutig negativen, Frauenterdrückung symbolisierenden Konnotation, die sie zum Beispiel bei Ricardo Pasos Marciacq hat (vgl. Fußnote 51). In Managua, Salsa City wird sie im Gegenteil zu einer (möglichen) Quelle finanzieller Selbständigkeit der Frauen, die ihnen und ihren Nachkommen (und damit der Gesellschaft) das Überleben sichern und ihnen zumindest eine - wenn auch prekäre - Identität ermöglichen. Dagegen können die Männer nicht einmal mehr aus ihren sexuellen Vorstellungen
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Zur Sprache des Romans, die vor allem in den Dialogen über weite Strecken den Slang der städtischen Jugendbanden in Managua literarisch verarbeitet, vgl. das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«. Zur Prostitution als einer »unvermeidbare(n) soziale(n) Einrichtung«, die »eine gesamtgesellschaftliche Akzeptanz« genieße und »zur Ausgeglichenheit des Mannes und zur Aufrechterhaltung der patriarchalischen Moralvorstellungen« (Palma, 1994: 146) beitrage, in der Geschichte Nicaraguas (von der präkolumbischen Zeit über die Kolonialepoche bis zur Revolution) vgl. Palma, 1994: 145-151.
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und Allmachtsphantasien, die auf die Vergangenheit gerichtet sind, Sicherheit und Identität beziehen. Die Nation ist reduziert auf den unübersichtlichen, chaotischen Lebensraum - symbolisiert in der Hauptstadt Managua, dieser wohl einzigen lateinamerikanischen Hauptstadt ohne Zentrum. 79 Eine über das Individuelle hinausgehende, weniger prekäre - gar auf Geschlechterkonstruktionen basierende - nationale Identität ist nicht möglich. Ansetzend an traditionellen Frauenfiguren (Marktfrau, Kräuterweib, Hure) und sie umformend, sie von ihren patriarchalischen Mythen befreiend und sie auf einen materiellen Boden stellend (alle drei Bereiche: Markt, Medizin und Prostitution sind Orte der weiblichen Erwerbsarbeit und Grundlage ihrer möglichen Unabhängigkeit), entwerfen Carlos Alemán Ocampo und Franz Galich ein neues Weiblichkeitsbild: die Frau als ökonomisch unabhängige Person, die sich auch von den »Women of Porcelain [...] like 'nacre' and 'alabaster'« unterscheidet, die Ileana Rodríguez als »women from the elite« (Rodríguez, 1994: 178) in den Romanen Gioconda Bellis agieren sieht und die ihr Modell in den Frauengestalten des modernismo Rubén Daríos haben, (vgl. ibid.: 178-181) Gleichzeitig schließt diese Weiblichkeitskonzeption die Frau als Garantin der »wahren« Nation jenseits des patriotischen Nationendiskurses ein, einer Nation »von unten«, deren Zentrum ein männer- und väterloses Haus ist, sofern es um Heim und Herd geht, bzw. ein von den Männern »auf Reisen« (Milagros Palma) frequentiertes, in dem sich schließlich auch die Frau durchgesetzt hat - unabhängig vom patriarchalischen Diskurs des Nationalismus, egal welcher politischen Couleur.
Die unbewohnte Nation: Ein geschlechtsloses
Wesen?
Die Krise dieses Diskurses nimmt in der nicaraguanischen Literatur der neunziger Jahre vielfaltige und zum Teil noch radikalere Formen an. Zweifellos spielt dabei das Datum 1990 eine bedeutende Rolle, als die fast ein Jahrzehnt regierende sandinistische nationale Befreiungsfront durch Wahlen die Macht verlor und sich die Zersetzung des revolutionären Projekts des Sandinismus, das beanspruchte, im Namen einer (homogenen) Nation zu sprechen, offenbarte. Mehr noch als dieses eine politische Datum jedoch finden die heterogenen kulturellen, ethnischen, historischen und sozialen Realitäten des Landes verschiedenartige Formen der literarischen Repräsentation und Präsentation, insbesondere im Roman. Selbst in der Testimonialliteratur, die in den siebziger und achtziger Jahren als Trutzburg des »literarischen Nationalismus« galt, sind die Anzeichen einer
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Vgl. auch dazu und zu dem Roman insgesamt die Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text« sowie »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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Dritter
Kreis:
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Krise des Nationalismus unübersehbar.80 Dies gilt auch für das Verhältnis von Geschlechterkonstruktionen und Nationendiskurs. In dem testimonio über die Erlebnisse eines jungen Angehörigen des Patriotischen Militärdienstes von Ernesto Castillo Guerrero, Algo más que un recuerdo (1997), spielen die nationalen Vaterfiguren für die Konstruktion der neuen, zukünftigen Nation im Gegensatz zu Cabezas' testimonios keine Rolle mehr. Zwar ist auch die Erlebniswelt des Protagonisten bei Castillo Guerrero vom machismo geprägt, es sollen Männer für den Kampf ausgebildet werden, keine »señoritas para que vayan a tejer a sus casas« (28), wie ein Vorgesetzter unmissverständlich deutlich macht, und die Frauen sind als »novias« auf ihre Funktion als »un apoyo, una inspiración, una esperanza« (9f.) festgelegt bzw. dienen dem kämpfenden Mann als Köchin. Eine andere Welt zeichnet sich allerdings kurz in der Passage ab, in der von der Beziehung erzählt wird, die der Protagonist zu einer Bauernfamilie im Norden Nicaraguas entwickelt, in der die Frau zusammen mit ihrer ältesten Tochter für das Überleben sorgt, während die Männer sehr wahrscheinlich in den Reihen der Contra kämpfen. In der allmählichen Entwicklung des Vertrauensverhältnisses zwischen diesen Frauen und dem Protagonisten wird ein Zusammenleben vorstellbar, das auf Solidarität und Verständnis beruht - selbst bis hin zum Verständnis des Protagonisten für die Motive, aus denen heraus sich die männlichen Mitglieder der Familie wie viele Bauern den Contras angeschlossen haben. Dem Text liegt ein Verständnis von Nation zugrunde, das pragmatisch auf ein friedliches Zusammenleben der ehemals Verfeindeten orientiert, nicht auf geschlechtsspezifische Merkmale zur Konstruktion von nationaler Identität rekurriert und auf jede ideologischmythische Überhöhung verzichtet. Nur deshalb erträgt der Protagonist die Entbehrungen und Absurditäten seines Dienstes an der Waffe: »por mi país, por los pobres, por un futuro mejor, para que se acabe la guerra y salgamos adelante« (57f.). Im weiblichen testimonio, wie zum Beispiel in Margaret Randall, Las hijas de Sandino. Una historia abierta (1999), vollzieht sich eine definitive Trennung zwischen dem national-revolutionären Projekt des Sandinismus und dem Feminismus, wie es exemplarisch in dem Interview mit der feministischen Aktivistin Sofía Montenegro heißt: » [...] no estoy satisfecha del nivel de discusión a lo interno del partido. Las discusiones más interesantes han surgido fuera de las estructuras del partido, entre individuos particualers, alrededor de temas específicos. / [...] Y en lo que a mí me concierne, el momento exacto de ofrecer una alternativa es ahora, durante la presente crisis. Necesitamos decir: 'Vean esta mierda, el modelo de izquierda non funcionó. La única ideología que queda en pie en el mundo de hoy es el feminismo. '« (396f.)
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Vgl. das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«.
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Während dies noch auf eine neue Weiblichkeit als Grundlage eines gesellschaftlichen Projekts zielt, hatte María Lourdes Pallais in ihrem die Testimonialliteratur parodierenden Roman La carta (1996) schon drei Jahre vorher jeder nationalen Sinnkonstruktion, selbst unter feministischen Vorzeichen, abgeschworen. Wie der Text architextuell zwischen der Dokumentarliteratur und dem Roman angesiedelt ist, so wurde auch im Hinblick auf seinen narrativen Diskurs und die Position der Erzählerin von einer »Grenzsituation« gesprochen. In der Erzählung vermischen sich das Rationale (soziales und politisches Engagement, identifizierender Rekurs auf historische Frauenfiguren wie Rafaela Herrera und Jean d'Arc) und das Irrationale (Träume, Wünsche, Zweifel der Protagonistin). Die individuelle Wahrheit der Hauptperson ist nur eine von vielen möglichen. Die Erzählerin unternimmt alles, um sich mit einem festen (auch nationalen) Ort zu identifizieren, erreicht dies aber nur vorübergehend und teilweise über ihre Beziehung zu dem Genossen Antonio und in ihrer Zugehörigkeit zur revolutionären Organisation, und auch das erst quasi im Nachhinein und retrospektiv auf ausländischem Boden (in der Zelle eines US-Gefangnisses). Das Nationale bleibt gleichsam in der Luft hängen, noch verstärkt durch ihre Tätigkeit für die »Geheimdienstabteilung« der revolutionären Organisation und ihre Kontakte zur CIA, die sie die inhumanen transnationalen analogen Strukturen und Verhaltensweisen auf beiden Seiten erfahren lassen. Dem revolutionären Nationalismus und der emanzipatorischen Ideologie der Linken wird der Boden entzogen. Die Autorin dekonstruiert jedoch nicht nur einen »revolutionären« machismo - der sich in der Unterordnung und dem Gehorsam gegenüber dem Guerillero-Genossen-Geliebten Antonio manifestiert - , selbst der Versuch, alternative Gender-1dentitäten zu konstruieren, scheitert: Die lesbische Beziehung zu der Mitinhaftierten Manuela ist voller Gewalt. Ihre gleichzeitige Beziehung zu einer lesbischen Partnerin, mit der sie nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis die Wohnung teilt, und zu einem Mann ist nur möglich durch die völlige Abwesenheit ihrer Vergangenheit, das heißt die Kappung jeglicher Wurzeln der Identität in der Zeit, in der eigenen Lebensgeschichte. Wie Maria Lourdes Pallais mit ihrem Roman den testimonio-Disküis in Frage stellt, so auch eine Reihe von Denkfiguren zum Zusammenhang von Geschlechterkonstruktion und Nationendiskurs, wie sie insbesondere im Werk Gioconda Bellis präsent sind: » [...] en La carta se puede advertir la reescritura de ciertos tics de Belli. Se trata de una reescritura que duda y cuestiona la explosión erótica, la identificación nacionalista, la idealizada camaradería entre hombres y mujeres revolucionarios, e, incluso la validez de los textos que triunfan en el mercado (con ironía la narradora dice que tal vez necesite de un editor 'hampón' que le ayude a darle un giro 'sexi' a su texto, para poder entrar al mercado editorial, pág. 62). Por supuesto todas estas diferencias son de fondo: ahí donde Belli pone celebración, Pallais pone abismo.« (Delgado, 2000: o.S.)
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Die Nation ist in diesem Text abwesend, weder nationale noch ideologische oder Geschlechterkonstruktionen stiften feste Identitäten - auch nicht in ihrer utopischen Variante als »neu«, »revolutionär« oder »alternativ».81 Auch in der nueva novela histórica, die in den letzten Jahren in Nicaragua wie in ganz Lateinamerika einen enormen Aufschwung erfahren hat, manifestiert sich die Krise des auf Geschlechterkonstruktionen basierenden Nationalismus. Gloria Guardia konfrontiert in ihrem Roman Libertad en llamas (1999) den traditionellen Nationalismus des Gründervaters der nicaraguanischen Nation, Augusto César Sandino, mit einem feministischen Diskurs vom Ende des zwanzigsten Jahrhunderts.82 Paradigmatisch manifestiert sich diese Konfrontation im vierten und letzten Teil des Romans (»Del rumor de las olas«), in dem von einem Staatsbesuch des US-Präsidenten Herbert Hoover am 27. November 1928 in Nicaragua erzählt wird. Beim Empfang Hoovers soll der Freiheitswillen der nicaraguanischen Nation in einem Abbild der New Yorker Freiheitsstatue symbolisiert werden. Diese Statue soll eine lebende sein, verkörpert von der jungen Clara, die in langen Sitzungen von dem Künstler und Staatssekretär Frutos de Alegría und der Hauptperson Esmeralda mit den Errungenschaften der Aufklärung vertraut gemacht und auf ihre Aufgabe vorbereitet wird. Erklingen soll dazu die Heldenmusik von Telemann. Clara soll zum Symbol der Unabhängigkeit des Vaterlands werden. Aber dieses Symbol der nationalen Freiheit bleibt unbeachtet. Im letzten Moment ändert Hoover seine Pläne. Er geht in Nicaragua nicht an Land, weil ihm die Gefahr eines Überfalls durch Sandinos Guerillaheer zu groß ist. Vielmehr bestellt er ausgewählte Vertreter der nicaraguanischen Politik auf den Kreuzer Maryland ein, der vor der nicaraguanischen Küste ankert. Die Honoratioren passieren die lebende Freiheitsstatue, die auf einer Plattform im Hafen von Corinto angekettet ist, stundenlang unter der unbarmherzigen Sonne brütet, von allen ignoriert und vergessen, und sich nicht befreien kann, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen: »No, nadie menciona, nadie recuerda, no ¿para qué?, a esa Estatua de la Libertad que yace erguida y solitaria, en medio del océano, donde los rayos de un sol tropical hace rato desollan, inclementes, su cuerpo.« (328) Schließlich wird sie ohnmächtig, die Fackel, die sie in der rechten Hand hält, entzündet ihre Gewänder und sie verbrennt. Und mit dem Symbol die
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Vgl. zu dieser Argumentation Delgado, 2000. Zu den beiden Büchern von Randall und Pallais vgl. auch die Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur« sowie »Diagonale: Literatur und Revolution«. Vgl. zu dem Roman ausfuhrlich das Kapitel » Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«. Gloria Guardia ist Tochter eines panamaischen Vaters und einer nicaraguanischen Mutter, sie lebt in Kolumbien. Als Erzählerin, Romanautorin und Essayistin kann sie sowohl der panamaischen wie nicaraguanischen Literatur zugerechnet werden. 1966 erhielt sie für ihren Roman Despertar sin raíces den panamaischen Literaturpreis »Premio Nacional Ricardo Miró«, 1976 in Costa Rica den »Premio Centroamericano de Novela Educa« für ihren Roman El último juego.
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Unabhängigkeit der nicaraguanischen Nation. Die lebende Statue Clara symbolisiert aber nicht nur den nationalen Freiheitswillen, sondern auch den Kampf der Frau um ihre Befreiung: »Y te ha explicado con ejemplos cómo es a tí, sí, a Clara, a quien te toca escoger tu destino« (320), ruft ihr die Erzählerin in den letzten Passagen entgegen, die durch den Wechsel in die zweite Person die direkte metatextuelle Einmischung der Autorin deutlich machen und eine sich steigernde Intensität erhalten. Aber diese reale, konkrete, individuelle Befreiung tritt in Widerspruch zur formalen, symbolischen Aufrechterhaltung der Freiheit der Nation, die Frau Clara stirbt an diesem Widerspruch, auch die - von den Imperialisten und ihren einheimischen Statthaltern ignorierte - neue Konzeption der Nation stößt an ihre Grenzen. Vielleicht liegt in diesem Versuch, einen zeitgenössischen feministischen Diskurs im Nicaragua der zwanziger Jahre mit den Mitteln des Metatexts zu (re)konstruieren, der sich durch das ganze Buch zieht, eine anachronistische Überfrachtung des Romans. Er enthebt ihn jedoch einer historisierenden Immunisierung und verleiht ihm eine zusätzliche politische Aktualität und autobiografische Note. Es ist die Autorin, die aus heutiger Sicht durch den Mund Esmeraldas u.a. den nationalistischen Diskurs und den die (neue) Nation konstituierenden Mythos Sandino in Frage stellt.83 Der Nationendiskurs kann nur noch mit den Mitteln der Farce und der Parodie gefuhrt werden. Auch die neue Nation zeigt ihre geschlechtsspezifischen Grenzen, das Weibliche entzieht sich der Vereinnahmung durch die Nation. Schließlich mag es kein Zufall sein, dass auch in den Romanen Milagros Palmas ähnlich wie bei Maria Lourdes Pallais und Gloria Guardia der Nation der Boden entzogen wird und die Beziehungen zwischen Geschlechterkonstruktion und Nationenkonstitution brüchig werden. Alle drei Autorinnen sind Teil eines Phänomens, das wie in anderen lateinamerikanischen Ländern (vor allem in Zentralamerika, Kuba und Chile) auch in Nicaragua in den letzten Jahren zunehmende Bedeutung erhalten hat. Auch hier ist eine Literatur des Exils in doppeltem Sinn entstanden: eine von im Ausland lebenden Autorin-
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Dieser autobiografische Zug wird zudem durch eine Reihe von Paratexten verstärkt (so die Widmung an die Mutter der Autorin, Olga Zeledön, von der Gloria Guardia viele Elemente der erzählten Geschichte hörte, und die offene Hommage für ihren Großvater, den liberalen Caudillo und Freiheitskämpfer Benjamin Zeledön, vgl. 5, 259; vgl. dazu auch das Interview mit der Autorin: Gonzalez, 2000). Wie schon in dem Roman La casa de los Mondragön von Gloria Elena Espinoza de Tercero wird der aktuelle politische Bezug zusätzlich durch das Inzestmotiv zugespitzt (s.o., Fußnote 53): Clara ist Opfer der häuslichen sexuellen Gewalt. Wie bei Espinoza de Tercero wird die Vergewaltigung der Töchter durch die Väter zum Symbol einer geschändeten Nation, die selbst vor Präsidenten und Generalsekretären von ehemaligen Befreiungsbewegungen nicht sicher ist. Angesichts der massiven gesellschaftlichen Fakten ist es kaum verwunderlich, dass dieses Inzestmotiv im neueren nicaraguanischen Roman fast schon einen festen Platz einnimmt. - Zu den Begriffen Metatextualität und Metafiktion s. das Kapitel » Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«, Fußnote 8.
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nen und Autoren (deren Auswanderung wie insgesamt den Migrationsbewegungen vielfaltige wirtschaftliche, politische, soziale, familiäre usw. Motive zugrunde liegen) geschriebene Literatur und eine Literatur, die das Problem des Exils bzw. der Migration thematisiert, wobei sich oft beide Phänomene verbinden. Letzteres trifft in ausdrücklicher Weise auf einige Romane von Milagros Palma zu: In El obispo (1997) wird die Geschichte des Nicaraguaners Leonardo Ramirez erzählt, der als Sechzehnjähriger seinem älteren Bruder José folgt und in die USA auswandert. Wie aus zahlreichen Anspielungen hervorgeht (vgl. 74, 83,95), spielt die Handlung in den siebziger Jahren, während des großen Erdbebens von 1972, in der Endphase der Somoza-Diktatur und während des sich verallgemeinernden Guerillakampfs. Leonardo arbeitet zunächst im Friseursalon seines Bruders in Chicago. In kurzer Zeit ist er so erfolgreich, dass er das Geschäft seines Bruders kauft und ein gesichertes Leben in relativem Wohlstand fuhren könnte. Aber er verfallt der Spielsucht und beginnt, als Drogendealer und Zuhälter zu arbeiten, um seine Spielleidenschaft zu finanzieren. Außerdem träumt er davon, auf diese Weise schnell zu viel Geld zu kommen und ganze Schuhkartons mit Hundertdollarscheinen zu füllen. Von seiner Gefahrtin, der Hure Susan, an die Polizei verraten, verbringt er fünf Jahre im Gefängnis, wo er beginnt, die Bibel zu lesen. Aus dem Gefängnis entlassen, will er ein neues Leben beginnen, heiraten, Kinder haben, in Ruhe arbeiten. Er lernt die neunzehnjährige Mexikanerin Virginia kennen (er ist inzwischen fünfzig Jahre alt), sie heiraten und bekommen zwei Kinder. Alles scheint wie gewünscht zu laufen. Aber die Schatten der Vergangenheit lasten unheilvoll über Leonardos Leben. Aus dem Gefängnis kehrt er mit tiefen Depressionen zurück, die sich in ständig wiederkehrenden Albträumen äußern und auch von Zauberern nicht geheilt werden können, die er in seiner Heimat Nicaragua aufsucht. Seine depressiven Zustände sind jedoch nur Symptome für tiefer liegende Probleme, Verletzungen und Verstörungen. Leonardo passt sich - zunächst von seinem Bruder dazu gezwungen, der ihm verbietet, Spanisch zu sprechen - ganz an seine neue Umgebung an, verleugnet seine Nationalität und versucht, sich vollständig an die US-amerikanische Gesellschaft zu assimilieren, ohne jedoch eine neue Identität erlangen zu können. Was bleibt, ist der Versuch, seine Identität zu finden, indem er sich an seine durch die Tradition des machismo überlieferte Rolle als Mann und Oberhaupt der Familie klammert, Bestätigung in dieser von seiner jungen, ebenfalls aus einer Latino-Kultur stammenden, Frau zu erduldenden Rollenverteilung sucht. Doch auch dies ist nicht mehr möglich. Die Ehe von Virginia und Leonardo ist ein permanenter Schauplatz der Auseinandersetzung über das Zusammenleben und die Erziehung der Kinder, der gegenseitigen Verletzung und Erniedrigung sowie der Versuche Virginias, aus diesem Gefängnis auszubrechen. Symptomatisch für diese Zerstörung der traditionellen Geschlechterrollen, an deren Stelle keine neuen Identitäten treten, sind die sexuellen Beziehungen. Sex ist
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nur in Form von Abweichung, Verirrung, Zwang, Gewalt, Ware, in Verbindung mit Drogenkonsum und ohne Kommunikation möglich: José ist ein FellatioFetischist, davon besessen, seinen Samen in einen Frauenmund zu ergießen, was ihn schließlich bei Gummipuppen landen lässt; Leonardo ergötzt sich noch in der Hochzeitsnacht an Pornofilmen, unfähig zum Sexualakt mit Virginia; der Bischof seines Heimatortes zwingt den Jungen Leonardo zu geschlechtlichen Handlungen; um sich sexuell zu erregen, streift Leonardo in der Priestersoutane des verstorbenen Bischofs, die ihm ein Schwager mitgebracht hat, durch die Hurenviertel in Chicago (daher sein Spitzname und der Titel des Buches »El obispo«); Susan, die Prostituierte, wurde als kleines Mädchen von ihrem Vater sexuell missbraucht; Virginia lässt sich zweimal ihre verlorene Jungfräulichkeit operativ »wiederherstellen«, um den Anforderungen ihrer potenziellen Ehemänner Genüge zu tun; Virginia und Leonardo haben Probleme beim Sexualakt (Leonardo ist zur Erektion unfähig), und erst als sie auf Vorschlag von Leonardo einen Vertrag abschließen, dass Virginia für jeden Sexualakt bezahlt wird, kommt es zur Penetration; Susan wird wegen ihrer Denunziation Leonardos bei der Polizei von seinen Kumpanen aus der Drogendealerszene vergewaltigt, getötet und ihre Körperteile werden in einem Plastiksack auf eine Müllhalde geworfen. Die männliche Sexualität benutzt und zerstört den weiblichen Körper, ohne daraus jedoch wirkliche Lust und Bestätigung der männlichen Identität ziehen zu können.84 Wie in El obispo erzählt Milagros Palma auch in dem Roman Asi es la vida (2000) von der lateinamerikanischen Emigration, im Unterschied zu dem vorhergehenden Buch allerdings aus der Sicht einer kolumbianischen Frau, die Ende der neunziger Jahre (wie aus zahlreichen tagesaktuellen Bezügen deutlich wird; vgl. 7, 40, 49) in Europa (Frankreich) lebt. Yolanda ist nach Paris gekommen, um in Biologie zu promovieren. Sie lernt Dominique, einen mäßig begabten und noch weniger geschäftstüchtigen Fotografen, kennen. Sie heiraten, leben mit ihrer Tochter Jeanne einige Jahre in Kolumbien und kehren nach Frankreich zurück, wo ihr Sohn Ludovic geboren wird. Yolanda kann sich weder beruflich noch kulturell in das ihr fremd bleibende Land eingliedern. Die Beziehung zu Dominique verschlechtert sich täglich und sie denkt an
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Wie die Vergangenheit ihre Macht bis in die Verhältnisse der Gegenwart ausbreitet (ohne allerdings noch die Konstruktion einer ungebrochenen Identität zu ermöglichen), so ist die Struktur des Romans von ständigen Rückblenden, Rückblenden in der Rückblende in der Rükkblende usw. bestimmt. Die eigentliche Handlung ist sehr einfach: Sie besteht aus der Reise Virginias zu ihren Eltern nach Mexiko, wo sie ihr zweites Kind entbinden will, sowie der Reise Leonardos nach Nicaragua zu seiner Mutter, die angeblich erkrankt ist. Beide Aktionen werden in wenigen Worten geschildert, während die zahlreichen, in kurzen Szenen erzählten Analepsen, hauptsächlich Erinnerungen Leonardos bzw. Schilderungen aus seinem früheren Leben aus der Sicht des allwissenden Erzählers, den Hauptteil des Romans ausmachen. Bis in die Struktur des Romans kommt also das Gewicht der Vergangenheit zum Tragen, aber ebenso ihre Fragmentierung, der Verlust ihrer Fähigkeit zur Identitätsstiftung.
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Dritter Kreis: Geschlecht und Nation
Trennung. Im Gegensatz zu Leonardo, ihrem männlichen Pendant in dem Roman El obispo, leidet Yolanda auch und insbesondere als lateinamerikanische Frau unter der fremden Kultur, die sich sehr bald als ebenso von machistischen Strukturen beherrscht entpuppt. Repräsentant und Prototyp dieses machismo ist Dominique, der sich zwar von seiner Ehefrau aushalten lässt, aber autoritär auf seiner Rolle als Familienoberhaupt (bis hin zum Familiennamen der Kinder) beharrt, sich weigert, Hausarbeit zu verrichten, unfähig ist zur Kommunikation und den Sexualakt als ausschließliche Befriedigung seiner Bedürfnisse praktiziert, ohne Verständnis und Eingehen auf die Sexualität seiner Frau bis hin zur Weigerung, über Sexualität und die Bedürfnisse seiner Partnerin zu sprechen oder auch nur über Unterschiede von weiblichem und männlichem Orgasmus nachzudenken. Das Zusammenleben von Yolanda und Dominique wird so zunehmend zu einem alltäglichen Ehekrieg. Über weite Strecken liest sich der Roman wie ein Lehrstück, in dem alle wichtigen Themen des feministischen Diskurses der letzten Jahrzehnte an der Beziehung von Dominique und Yolanda, aber zum Teil auch der zwischen Dominiques Eltern, durchgespielt werden und in dem sogar die Geburt bzw. die Gebärfähigkeit als Ausdruck der Ungerechtigkeit verstanden wird: »Para Yolanda el parto seguía siendo un acto violento en donde se llegaba al límite de la muerte. 'Esto es una injusticia. Mientras los hombres no participen en la gestación, siempre seguirán abandonando a sus hijos', se decía ella. 'Para las mujeres que los parimos es algo tan importante que sólo pensar que algún día se irán, es ya desgarrador'.« (136) Die weibliche Sexualität wird von den Männern dominiert und deformiert, selbst die Geburt - das Symbol der Weiblichkeit, das im feministischen Diskurs wie zum Beispiel bei Gioconda Belli konstitutiv für eine andere Konzeption der Frau wird - ist nur noch Quelle des Leids und der Gewalt. Die Konstruktion einer das Weibliche einschließenden kollektiven Identität aus diesem Akt heraus ist unmöglich, sie ist nur vorstellbar im Rekurs auf mythisch-magische Konzeptionen weiblicher/lesbischer Sexualität (Yolanda findet erotische/sexuelle Erfüllung erst bei den Indianerinnen am Amazonas)85 unter Ausschluss des Mannes und außerhalb des von ihm beherrschten nationalen Raums (und sei es der Raum der Emigration).
Problemmänner und Problemfrauen oder Vom Geschlecht ohne Nation zur Nation ohne Geschlecht? Es ist offensichtlich, dass sich in der jüngsten nicaraguanischen Literatur endgültig ein Paradigmenwandel im Verhältnis von Geschlecht und Nation voll-
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Vgl. das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«.
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zogen hat. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich das Ende der großen für die Konstruktion der nationalen Identität konstitutiven Metaerzählungen. Nation und Maskulinität sind geschieden, der nationalistisch-patriarchalisch-machistische Diskurs ist in der Krise, der literarische »machismo-nacionalismo« am Ende. Aber an seine Stelle ist keineswegs eine »weibliche Nation« getreten, Feminismus und Nationalismus scheinen inkompatibel. Gender und Nation sind getrennt, möglich scheinen bestenfalls prekäre individuelle Identitäten. Eine »neue Unübersichtlichkeit« bestimmt die narrative Repräsentation und Präsentation der Geschlechterverhältnisse, charakterisiert von Individualisierung, Fragmentierung, Relativierung, Metatextualität und Metafiktion. Gegen Doris Sommers Fundierung der literarischen Nationenkonstruktion im Lateinamerika des 19. Jahrhunderts in der heterosexuell bestimmten Reproduktionsfunktion der Frau wandte bereits Amy Kaminsky ein: »Intentar escribir una ficción fundacional que sea no sólo ginocéntrica (Sommer muestra que casi todos lo son) sino también feminista, puede ser un acto destinado al fracaso ya que la fundación de la fundación es la historia de la heterosexualidad contenida y de la relegación de la mujer a las demandas de sus funciones reproductivas, tanto sexuales como sociales y económicas. En la medida en que el feminismo se niega a estas restricciones, una historia feminista de la construcción de lo nacional centrada en la mujer, definida dentro de este sistema, es un oxímoron.« (Kaminsky, 1994: 26) Die nicaraguanische Romanliteratur der achtziger und in erster Linie der neunziger Jahre, so hat es die Analyse der in diesem Kapitel vorgestellten Romane ergeben, liest sich wie ein Beleg dieser These. Die Diskussion um neue Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder im außerliterarischen Feld hat auf die Literatur zurückgewirkt, wie auch literarische Geschlechterkonstruktionen den Diskurs außerhalb des literarischen Feldes beeinflussen. Dass sich dabei die Bezeichnung »Frauenliteratur« als inoperabel erwiesen hat, zumindest insofern damit mehr als ein Synonym für von Autorinnen geschriebene Literatur gemeint ist, nämlich der Begriff einer Literatur, die auf besonderen, einer rein »weiblichen« Perspektive entspringenden Weiblichkeitskonzeptionen bzw. Geschlechterkonstruktionen beruht, kann kaum verwundern. Schon Michaela Peters kam in ihrer Studie über die mexikanische Erzählliteratur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu dem Schluss, dass »keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Verwendung der Weiblichkeitskonzepte in der Literatur festzumachen« seien und die Autorinnen und Autoren auf »tradierte weibliche Archetypen, Mythen, Stereotype und Genc/er-Merkmale« rekurrierten, »die sie in ihren Werken individuell, auf ihre jeweils eigene Art fortschreiben, variieren, infragestellen oder verfremden« (Peters, 1999: 260): »Ähnlichkeiten und Unterschiede in Gestaltung und Funktion der Weiblichkeitskonzepte lassen sich nicht auf das biologische Geschlecht des Autors oder der
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Autorin zurückfuhren. Im Kanon des sozialen Wissens steht der Literatur ein Reservoir an Weiblichkeitskonzepten zur Verfügung, das Stoff für unendlich viele, verschiedene Übernahmen, aber auch Neuschöpfungen auf der Basis des Vorhandenen bietet.« (ibid.) Dieses Urteil trifft ähnlich auf die nicaraguanische Romanliteratur am Ende des 20. Jahrhunderts zu. Deren Untersuchung verfolgte im vorstehenden Kapitel den Anspruch, Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder, ihre Veränderung und ihren Zusammenhang mit dem Nationendiskurs in der Literatur zu bearbeiten. Über weite Strecken war dies allerdings eine Auseinandersetzung mit Weiblichkeitskonzepten. Das mag unter anderem daran liegen, dass in der nicaraguanischen Romanliteratur Männlichkeitsbilder kaum bewusst thematisiert werden, zumindest im Diskurs um die Nation und den »neuen Menschen« (auch wenn sie da omnipräsent sind). Der Diskurs vom »hombre nuevo« ist weitgehend ein Diskurs um ein neues Weiblichkeitskonzept, der neue Mensch scheint eher als »neue Frau« gedacht zu werden. Jedenfalls ist er abhängig vom Diskurs über neue Konzeptionen von Weiblichkeit. In diesem Zusammenhang mag auch zu erklären sein, dass (insbesondere männliche) Homosexualität bisher in der nicaraguanischen erzählenden Literatur nur zögerlich thematisiert wird. Die in diesem Kapitel untersuchten Romane, in denen die literarische Gestaltung gleichgeschlechtlicher Liebe ins Zentrum des narrativen Diskurses rückt, stellen Ausnahmen dar.86 Wie gesehen, repräsentiert in Gioconda Bellis Sofia de los presagios der homosexuelle Fausto alternative Geschlechterkonstruktionen, die neue Beziehungen zwischen »Männlichem« und »Weiblichem« jenseits der traditionellen Roilenzuschreibung von Mann und Frau möglich erscheinen lassen. In Milagros Palmas Desencanto al amanecer symbolisiert die gleichgeschlechtliche Liebe der Indianerin Yawira einen möglichen Weg zur Befreiung der Frau aus dem heterosexuellen Diktat der comandantes-machos. Auch in Maria Lourdes Pallais' La carta scheint die lesbische Liebe als Gegenentwurf auf, allerdings ohne Rekurs auf mythisch-magische Traditionen und ohne Idyllisierung als heile Welt der weiblichen Selbstfindung. Alfredo Valessi lässt in seinem Roman La casa blanqueada (1993), der ein Porträt der unpolitischen, in geordneten Verhältnissen leben wollenden Angestellten im Managua der dreißiger Jahre, also den ersten Jahren der Somoza-Diktatur, zeichnet, Homosexualität als Metapher der Abgründe und Schattenseiten aufscheinen, die jenseits der scheinbaren gesellschaftlichen Normalität existieren. 87 Hervorzuhe-
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Ähnliches trifft auf die nicaraguanische Erzählung der achtziger und neunziger Jahre zu. Zu den wenigen Werken, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, gehören die Erzählbände von Lizandro Chávez Alfaro, Vino de carne y hierro (1993), und Erick Blandón, Misterios gozosos (1994). Vgl. zu dem Roman das Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«. Alfredo Valessi ist
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ben ist, dass er Homosexualität als gesellschaftliches Phänomen für diese zurückliegende historische Phase thematisiert, die in besonderer Weise von den traditionellen Konzeptionen von »Männlichkeit« beherrscht war. Allerdings ist ihre Darstellung keineswegs frei von den traditionellen Vorurteilen, Homosexualität wird präsentiert als abweichende sexuelle Praxis im außergesetzlichen Bereich. Selbst die genannten Autorinnen, in deren Romanen gleichgeschlechtliche Liebe im Kontext der Diskussion um neue Geschlechterkonstruktionen thematisiert wird, sind keineswegs immun gegen die Übernahme tradierter Klischees, die den beabsichtigten subversiven Diskurs unterlaufen. Das ist zum Beispiel der Fall in Gioconda Bellis Waslala. Memorial del futuro und Milagros Palmas El obispo. Bei Belli sind es ausgerechnet zwei holländische Frauen, die eine gleichgeschlechtliche Beziehung leben. Lesbische Liebe bleibt auf einen (für Zentralamerika) exotischen Bereich außerhalb der eigenen Gesellschaft beschränkt. Bei Palma sind männliche homosexuelle Beziehungen identisch mit sexuellem Missbrauch von Jugendlichen, also ebenfalls im außergesetzlichen Bereich angesiedelt und stigmatisiert, während weibliche Homosexualität sozusagen die magischen Weihen der indigenen Überlieferung erhält. Dass in den Romanen der jüngeren nicaraguanischen Literaturgeschichte immer wieder und vorrangig auf Weiblichkeitsbilder rekurriert und mit weiblichen Archetypen, Mythen, Stereotypen und Gender-Merkmalen operiert wird, insbesondere wenn es um literarische Nationenkonstruktionen geht, dürfte auch mit der Tatsache zu tun haben, dass »die Verwendung weiblicher Metaphern in bezug auf den Konstitutionsprozeß von Literatur [...] aus der Analogiebeziehung zwischen Natur und Weiblichkeit« (Peters, 1999: 260) resultiert. Ähnliches lässt sich für den literarischen Konstitutionsprozess von Nation sagen: Literarische Nationenkonstruktionen basieren in ihrem Versuch, der Nation eine natürliche, gleichsam biologische Grundlage zu geben, vorrangig auf der Analogie zwischen Weiblichkeit und Nation. Allerdings entziehen sich, wie gesehen, die literarischen Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder vor allem in den nicaraguanischen Romanen der neunziger Jahre einer solchen eindeutigen Analogsetzung, insbesondere ihrer biologistischen Reduktion. Die neuen, keineswegs immer »neuen«, Frauen und Männer sind voller Widersprüche, Probleme und ohne eindeutige kollektive Identitäten. Mit diesen (literarischen) Problemmännern und Problemfrauen lässt sich kein Staat machen, schon gar nicht eine Nation.
einer der wichtigsten Theaterschriftsteller Nicaraguas. U.a. schrieb er die Stücke La oscura raíz del grito (1988) und El cepillo y la pelota (1989). 1997 erhielt er den »Premio Nacional 'Rubén Dario«'« in der Sparte Drama. Vgl. auch den Aufsatz »Estructura y sentido en La casa blanqueada de Alfredo Valessi« von Nydia Palacios (2000: 215-220).
Vierter Kreis Geschichte und Fiktion »Elogios / y diatribas / sobre el muy magnífico señor /gobernador de la Provincia de / Nicaragua y Capitán General, / Pedro Arias de Avila, / y sobre otros personajes de esta / historia o máquina de ficción«
Julio Valle-Castillo, Réquiem en Castilla del Oro »¿Quién dice la verdad y quién dice mentira? Acogiéndonos a la ley de imprenta, damos ambas versiones con serenidad y sin temor.«
Sergio Ramírez, Castigo divino » [...] la Libertad no es ni una estatua, ni una heroína de mármol, de bronce o de barro, sino la capacidad de elegir según las opciones que puedes tener frente a ti.«
Gloria Guardia, Libertad en llamas
Historischer Roman und »neuer historischer
Roman«
Auch die Geschichte Lateinamerikas habe keineswegs ein Ende gefunden, polemisierte Sergio Ramírez vor einigen Jahren in einem Vortrag über die Funktion des lateinamerikanischen Schriftstellers gegen eine wohlbekannte These, ohne deren Autor Francis Fukuyama explizit zu nennen. Gerade in Lateinamerika habe die Literatur eine unleugbare Bedeutung für das historische Erinnerungsvermögen, gegen das Vergessen: » [...] los novelistas imaginan ser los historiadores de una historia que necesita no poca imaginación para ser contada, y adivinada«.1 Diese Aussage kann als geradezu paradigmatisch für eine der wichtigsten Tendenzen innerhalb der zeitgenössischen nicaraguanischen Romanliteratur angesehen werden: Von der Conquista bis zur sandinistischen Revolution widmen sich zahlreiche der in den achtziger und neunziger Jahren erschienenen Romane einer Vielzahl geschichtlicher Ereignisse und Themen. Damit schreibt sich der zeitgenössische nicaraguanische Roman in eine in der hispanoamerikanischen wie internationalen Literatur verallgemeinerte Tendenz ein. In Bezug auf die Entwicklung der hispanoamerikanischen Romanliteratur des Postbooms wurde festgestellt, dass der historische Roman »desde fines de
Zit. n. der Homepage von Sergio Ramirez: www.sergioramirez.org.ni; vgl. die Fußnote 35 im Kapitel »Bypass: Roman und Welt«
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los setentas se ha establecido como la tendencia predominante en la novela latinoamericana ya consagrada internacionalmente y que ha producido algunas obras verdaderamente sobresalientes que merecen estar en el listado canónico de 1992 y tal vez en el de 2092« (Mentón, 1993: 66, vgl. 29f.). Karl Kohut bezeichnete den historischen Roman sogar als das hervorragendste und wichtigste Phänomen in der lateinamerikanischen Romanliteratur der letzten Jahre.2 Auch für die zentralamerikanische(n) Literatur(en) wurde von einem ähnlichen Prozess gesprochen und hervorgehoben, dass »uno de los fenómenos más sobresalientes en la narrativa de los ochenta y los noventa es el surgimiento o la intensificación del cultivo de una nueva novela histórica«, die in der Veröffentlichung von »ambiciosas novelas que proponen una nueva interpretación de la historia» (Acevedo, 1998: 3) resultiert habe.3 Für Nicaragua kam Sergio Ramírez in einem Interview zu dem Schluss, geschichtliche Themen bestimmten praktisch die gesamte Romanliteratur der letzten Jahre: »Die Geschichte Nicaraguas ist bisher noch nicht erzählt worden. Es gibt einige große Leerstellen, weiße Flecken. Fast alle diese in Nicaragua in den letzten Jahren veröffentlichten Romane versuchen, die Geschichte des Landes zu erzählen. Es gibt kaum Romane über nur persönliche Probleme und Konflikte oder reine Familien- und Liebesgeschichten. Fast alle basieren auf historischen Szenarien.« (Mackenbach, 2000f.: 63)4
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Vgl. Kohut, 1997: 20 (»Introducción«); vgl. auch Pons, 1996: 15f.; Rössner, 1997: 169. Mentón präsentiert in seiner Studie eine Liste von 367 historischen Romanen, die zwischen 1949 und 1992 in Lateinamerika erschienen sind, davon 173 zwischen 1949 und 1979 (das heißt in einem Zeitraum von dreißig Jahren) und 194 zwischen 1979 und 1992 (das heißt innerhalb von 13 Jahren), (vgl. Mentón, 1993, 11-27; Grinberg Pia, 2001: o.S.) Vgl. Rojas/Ovares, 1995: 231-241; Rodríguez Rosales, 1999: 12f. Die in den achtziger und neunziger Jahren in Zentralamerika erschienenen Romane mit historischer Thematik beziehen sich ebenfalls auf eine Vielzahl geschichtlicher Ereignisse in (den heute existierenden Nationalstaaten) Guatemala, Belize, Honduras, El Salvador, Nicaragua, Costa Rica und Panama, von der spanischen Eroberung und den ersten Jahrhunderten der Kolonialherrschaft über die Auswirkungen der Inquisition und den Aufstand der Borucas in Costa Rica zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die Unabhängigkeitsbewegung und den Befreiungskrieg gegen William Walker Mitte des 19. Jahrhunderts, den Bau des Panamakanals, die Aufstände und die Massaker in El Salvador 1932 und an den Indios in Patzicia, Guatemala, im Jahr 1947, bis zum bewaffneten Kampf in El Salvador und Guatemala in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts (um nur einige der wichtigsten zu nennen). Einige dieser Romane habe ich analysiert in: Mackenbach, 2001a. Von den 95 in den achtziger und neunziger Jahren erschienenen Texten, die das Korpus der vorliegenden Untersuchung bilden, beschäftigen sich ca. 20 im engeren Sinne mit Ereignissen der nicaraguanischen Geschichte. Vgl. »Bibliografie a) Quellen: Nicaraguanische Romane und testimonios der achtziger und neunziger Jahre«. In diese Zahl nicht eingeschlossen sind die 36 der Testimonialliteratur zugerechneten Texte (vgl. das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«, Fußnote 6), die sich ebenfalls auf historische Geschehnisse beziehen. Nimmt man dazu noch die 22 Texte, die sich mit der revolutionären Periode befassen (vgl. das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«, Fußnote 4), so wird trotz einiger Überschnei-
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In den zahlreichen Studien, die hauptsächlich in den neunziger Jahren zu diesem Phänomen erschienen, wurde vor allem eine Veränderung innerhalb der Gattung hervorgehoben, das heißt »la renovación radical del mismo« (Pons, 1996: 19) im historischen Roman zum Ende des 20. Jahrhunderts gegenüber dem traditionellen historischen Roman, insbesondere im Hinblick auf seine ausdrückliche Infragestellung der Geschichtsschreibung und seine unschwer zu erkennenden innovativen erzählerischen Strategien (vgl. ibid.). Dieser Wandel innerhalb der Gattung bzw. Subgattung historischer Roman wurde zunächst an den Unterschieden zu seinen Vorgängern im 19. Jahrhundert und den in dieser Tradition stehenden zeitgenössischen Romanen festgemacht. Er schreibt sich jedoch gleichzeitig, wie Valeria Grinberg Pia zu Recht feststellte, in doppelter Hinsicht in aktuelle Diskurse ein: nämlich den über die so genannte »nueva novela latinoamericana« und den der zeitgenössischen Historiografie. (vgl. Grinberg Pia, 2001: o.S.) Eine Analyse des historischen Romans in Lateinamerika am Ende des 20. Jahrhunderts müsste also sowohl diachronisch wie synchronisch verfahren.5 Um die Dimension des Wandels innerhalb der Gattung hervorzuheben, haben Mentón und andere die Bezeichnung »nueva novela histórica« (Mentón, 1993: 29ff.) vorgeschlagen, gleichzeitig jedoch festgehalten, dass weiterhin historische Romane traditioneller Art geschrieben werden (vgl. ibid.: 15-27). Andere haben die Bezeichnungen »la novela histórica de fines del siglo XX«, »la novela histórica reciente« bzw. »la novela histórica contemporánea« vorgezogen, um darauf hinzuweisen, dass sich die Veränderungen innerhalb der Gattung weder in simultaner noch in homogener Weise vollziehen; der historische Roman am Ende des 20. Jahrhunderts breche nicht völlig mit den Konventionen des traditionellen historischen Romans, sondern zeichne sich durch die Wiederaneignung, Transgression, Negation und »Refunktionalisierung«
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düngen (mehrere Texte werden in verschiedenen Kapiteln untersucht) deutlich, dass die Mehrzahl der Romane des dieser Studie zugrunde liegenden Korpus sich tatsächlich in der einen oder anderen Weise auf historische Themen, Ereignisse und Daten bezieht. Nydia Palacios kam in Bezug auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem ähnlichen Schluss: »En la historia del desarrollo de la novela nicaragüense, durante los primeros cuarenta años de este siglo, predomina la novela de tema histórico y antiimperialista.« (Palacios, 1991b: 1019, vgl. 1020-1025). Allerdings bezieht sie in die etwa fünfzig Romane, die vor den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts erschienen sind, »novelas de diversos temas« ein: »La mayoría de ellos son recreaciones autobiográficas, novelas costumbristas o románticas de fin trágico.« (ibid.: 1020) Unzählige Arbeiten widmen den sich daraus ergebenden Fragestellungen. Polemisch zugespitzt könnte man sogar sagen, dass der Aufschwung des historischen Romans von einer fast ebenso umfangreichen Produktion von Untersuchungen begleitet wird, deren Ende noch nicht abzusehen und die inzwischen kaum noch überschaubar ist. Unter den Studien zum zeitgenössischen historischen Roman in Hispanoamerika sind besonders hervorzuheben: Mentón (1993), Perilli (1995), Pons (1996), Romera Castillo/Gutiérrez Carbajo/ Garcia-Page (1996) und Kohut (1997); diese Arbeiten enthalten auch umfangreiche Bibliografien zum Thema.
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dieser Konventionen aus (vgl. Pons, 1996: 108f., 255).6 Dieser Streit um die Frage, ob sich eine neue (Sub-)Gattung herausgebildet oder »nur« eine Veränderung innerhalb des Genres vollzogen habe, hat sich allerdings als weitgehend unfruchtbar und bedeutungslos erwiesen. Denn unter den verschiedenen Forschern, die sich mit dem Thema beschäftigt haben, besteht eine weitgehende Übereinstimmung über die charakteristischen Züge des (neuen) historischen Romans in Hispanoamerika am Ende des 20. Jahrhunderts. Sich auf eine Definition Anderson Imberts aus dem Jahr 1952 stützend versteht Menton als historische Romane solche, in denen die Handlung in einer Epoche der Vergangenheit spielt, die der Autor nicht selbst miterlebt hat, und die den historisch-sozialen Kontext ihrer Figuren rekonstruiert, (vgl. Menton, 1993: 31-35; Anderson Imbert, 1952: 3)7 Der hispanoamerikanische historische Roman des
Menton zeichnet die Geschichte des Begriffs nach, der laut seinen Studien zum ersten Mal 1981 von Ángel Rama in seiner Arbeit Novísimos narradores hispanoamericanos, ¡964-1980 verwendet und danach von anderen wie Juan José Barrientos (1983), Alexis Márquez Rodríguez (1984) und José Emilio Pacheco (1985a) aufgegriffen wurde (vgl. Menton, 1993: 29f.); auch Pons bezieht sich auf einige weitere Autoren, zum Beispiel Balderston (1986 und 1989) und García Pinto (1986) (vgl. Pons, 1996: 15f.). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit benutze ich die Bezeichnung nueva novela histórica hispanoamericana/neuer historischer Roman in Hispanoamerika (ohne Anfuhrungszeichen), auch wenn ich mich auf Studien beziehe, die sie nicht verwenden. Eine ähnliche Definition ist inzwischen auch im Diccionario de la Real Academia Española (201992) quasi »kanonisiert« worden: »Novela histórica. La que se constituyó como género en el siglo XIX, desarrollando su acción en épocas pretéritas, con personajes reales o ficticios, y tratando de evocar los ambientes, costumbres e ideales de aquellas épocas.« (zit. n. Spang/Arellano/Mata, 1995: 16f.; vgl. ähnlich von Wilpert, 1979: 342-344) Wie Menton betonen auch Carlos Mata (1995: vgl. 15f.) und Kurt Spang (1995: vgl. 81f.) den provisorischen Charakter einer solchen Definition. Der historische Roman (des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts) sei eine hybride (Unter-)Gattung, die den von Aristoteles in seiner Poetik gezogenen Trennstrich zwischen dem Historiker (der erzählen müsse, was geschehen ist) und dem Poeten (der erzählen müsse, was hätte passieren können) wieder verwische (vgl. auch Ainsa, 1996: 9): Das Feld der Geschichte und das Feld der Literatur durchdrangen sich gegenseitig. Zwar gehen sowohl Menton als auch Mata auf den schon klassischen Vorbehalt Georg Lukács' ein, eine Unterscheidung zwischen dem historischen Roman und dem Roman im Allgemeinen sei nicht möglich, da beide die gleichen strukturellen Merkmale kennzeichneten (vgl. Lukács, 1965: 153, 291-294; Mata, 1995: 19f.; Menton, 1993: 32), allerdings sei eine provisorische Definition sinnvoll, um unterschiedliche Tendenzen in der Romanliteratur zu analysieren. Bezug nehmend auf Studien von Alonso (1942), Solís Llórente (1964), Ferreras (1987) und Müller (1988) referieren Mata (1995: 13-20) und Spang (1995: 80-83) die widersprüchlichen Definitionsversuche hinsichtlich der im historischen Roman repräsentierten und präsentierten historischen Epochen. Mit Ferreras (1987: 56f.) beziehen sie Werke in die Untergattung historischer Roman ein, die sich in drei Kategorien fassen lassen: 1) Romane, deren erzählte Zeit weit zurückliegende Epochen sind, 2) Romane, die in der Zeit der Großeltern spielen, 3) Romane mit Bezug zur aktuellen Zeitgeschichte (wobei letztere eine Sonderform darstellten), (vgl. bes. Mata, 1995: 19) Allen historischen Romanen eigne der Versuch, »de presentar una época, de aprovechar la ambientación de la novela para dar a conocer la realidad histórica de un momento determinado« (Solís Llórente, 1964:41 ; zit. n. Mata, 1995: 17), das heißt der Versuch, eine historische Epoche mit den Mitteln der Fiktion zu rekonstruieren. Die Personen des
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19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (sei er romantischer, realistischer, modernistischer oder »criollistischer« Art) habe zur Schaffung eines nationalen Bewusstseins beigetragen, »familiarizando a sus lectores con los personajes y los sucesos del pasado« (Mentón, 1993: 36), also indem er die Geschichte der »großen Männer« und der »historischen Schlüsselereignisse« rekonstruierte oder revidierte, wobei er einen narrativen Diskurs führte, der durch eine lineare Erzählweise und »el final cerrado y unívoco« (Pulgarín, 1995: 203, vgl. 16) charakterisiert sei. Im Unterschied zu diesem traditionellen historischen Roman sieht Seymour Mentón sechs Unterscheidungsmerkmale des neuen historischen Romans, die sich in einer großen Bandbreite von Romanen von Argentinien bis Puerto Rico feststellen ließen: 1) Präsentation philosophischer Ideen anstelle mimetischer Reproduktion der Vergangenheit, 2) Verzerrung der Geschichte durch Auslassungen, Übertreibungen und Anachronismen, 3) Fiktionalisierung historischer Persönlichkeiten anstelle von fiktiven Protagonisten, 4) Metafiktion (das heißt Kommentare des Autors im Text und über den Text selbst), 5) Intertextualität, insbesondere das Wieder- und Überschreiben eines bereits vorhandenen Textes, oft eines historischen Dokuments, der Palimpsest, 6) dialogischer, karnevalesker, parodischer und polyphoner Charakter (in der Definition Bachtins), (vgl. Mentón, 1993: 42-45) Maria Cristina Pons kritisiert zwar einen gewissen Schematismus Mentons und vertritt die Auffassung, dass der Wandel in der Gattung »no debe percibirse sólo en términos de una comparación entre el antes y el después sino también de lo que surge' con lo que 'todavía persiste'« (Pons, 1996: 255). Im Allgemeinen teilt sie jedoch die von Mentón aufgelisteten Unterscheidungsmerkmale des neuen historischen Romans und ergänzt sie um einige weitere: Subjektivität und Nicht-Neutralität der Geschichtsschreibung, Relativität der Historiografie, Ablehnung der Behauptung einer historischen Wahrheit, Veränderungen in den Arten der Repräsentation, Infragestellung des geschichtlichen Fortschritts, Geschichtsschreibung von den Rändern, den Grenzen, dem Ausgeschlossensein her, Aufgabe der mythischen, totalisierenden bzw. archetypischen Dimension in der Repräsentation der Geschichte, (vgl. ibid.: 256-261) Auch Amalia Pulgarín nennt fast übereinstimmend als wesentliche Elemente des neuen hispanischen historischen Romans: heterodoxer Eklektizismus, Marginalität, Diskontinuität, Fragmentierung, Dezentralisierung, Pluralismus, Repräsentation als Scheinbild, Tod der Utopie, diskursive Selbstreferenzialität und Metafiktion. (vgl. Pulgarín, 1995: 203-207)8
historischen Romans, schreibt Mata in Anlehnung an Umberto Eco (1984: vgl. 80f.), müssten - obwohl sie fiktional seien - sich so verhalten, wie sich die realen Personen der dargestellten Epoche verhalten hätten, (vgl. Mata, 1995: 18) Vgl. dazu auch ausführlich Ainsa, 1991b: bes. 18-30, der unter der Überschrift »Caracteres y procidimientos de la nueva novela histórica« ähnliche Unterscheidungsmerkmale präsentiert,
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In den bisher veröffentlichten Arbeiten zum neuen historischen Roman in Zentralamerika wurden ebenfalls »una nueva formulación del género« und das Bemühen, neue Definitionen von nationaler Identität zu finden, (Acevedo, 1998: 3, vgl. 15) hervorgehoben. Unter Bezugnahme auf einen Essay Fernando Ainsas spricht Ramón Luis Acevedo von zehn Charakteristiken des neuen historischen Romans in der Region, darunter: eine Neulektüre der Geschichte, die Infragestellung der Legitimität der offiziellen Versionen der Geschichte, eine Vielfalt von Perspektiven und Interpretationen, die Überlagerung unterschiedlicher Zeiten in der Erzählung, die Intertextualität und der Palimpsest, parodisches Schreiben und das Vorherrschen der Fiktion gegenüber der Geschichte und der mimetischen Repräsentation, (vgl. Ainsa, 1992: bes. 7; Acevedo, 1998:4) Angesichts der großen Zahl von in den achtziger und neunziger Jahren in Zentralamerika veröffentlichten Romanen, die sich auf die eine oder andere Weise mit historischen Themen beschäftigen (vgl. Mackenbach, 2001a), überrascht es, dass bisher sehr wenige Untersuchungen zum Thema publiziert wurden. Die einzige Studie, die eine vergleichende Untersuchung zum Ziel hat, ist der zitierte Aufsatz Acevedos (1998). Diese Arbeit beschränkt sich jedoch auf eine Analyse von nur zwei Romanen: Jaguar en llamas (1989) des Guatemalteken Arturo Arias und Rey del Albor, Madrugada (1993) des Honduraners Julio Escoto.9 Ähnliches gilt für Nicaragua, wo trotz
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wobei er die Infragestellung des offiziellen historiografischen Diskurses und die Dekonstruktion der für die Nation/Nationalität konstitutiven Mythen in den Mittelpunkt stellt. Sowohl Mentón als auch Pulgarin benutzen den Begriff Metafiktion de facto als Synoym fiir die von Gérard Genette als »dritten Typus textueller Transzendenz« (Genette, 1993: 13) bzw. Transtextualität bezeichnete Metatextualität: » [...] dabei handelt es sich um die üblicherweise als Kommentar' apostrophierte Beziehung zwischen einem Text und einem anderen, der sich mit ihm auseinandersetzt, ohne ihn unbedingt zu zitieren (anzuführen) oder auch nur zu erwähnen [...]«(ibid.) In der vorliegenden Arbeit benutze ich die Begriff Metatextualität/metatextuell im genetteschen Sinne, während ich mit Metafiktion/metafiktional die Kommentierung des Aktes des Schreibens bzw. des Charakters eines Textes und der Texproduktion durch den Autor (zum Beispiel durch direkte Präsenz des Autors als Figur im Text) bezeichne, (vgl. dazu Fußnote 31) Vgl. auch meinen Aufsatz (Mackenbach, 2001a) und den von Valeria Grinberg Pia (2001), die beide einen vergleichenden Ansatz verfolgen. Zum zeitgenössischen historischen Roman in Costa Rica vgl. einige kurze Passagen in Rojas/Ovares (1995: bes. 231-245) und den Aufsatz von Bogantes Zamora (1999) über den Roman Asalto al paraíso (1992) von Tatiana Lobo. Magda Zavala beschäftigt sich in der bisher umfassendsten Studie über den zeitgenössischen zentralamerikanischen Roman, obwohl sie auf das enge Verhältnis von Roman und Geschichte anspielt (vgl. Zavala, 1990: 45), nicht explizit mit dem (neuen) historischen Roman. Ihre Untersuchung beschränkt sich auf die folgenden drei nach ihrer Meinung grundlegenden Tendenzen: »a) una primera variante o modalidad de la producción novelística se ajusta a los hallazgos de la llamada 'nueva novela latinoamericana', conocida de manera masiva a partir de los años sesenta con el nombre de 'novela del boom'; / b) una segunda modalidad se expresa como búsqueda que violenta las convenciones tradicionales de la novela, a partir de las características del testimonio (o crónica testimonial) que aparece como género emergente en America Latina y, en especial, en Centroamérica y el Caribe; / c) existe una forma más compleja que se esfuerza por hacer una síntesis de las dos tendencias anteriores, sobre todo de las orien-
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der beachtlichen Zahl von Romanen mit historischer Thematik, die in den letzten beiden Jahrzehnten publiziert wurden (s.o., Fußnote 4), bisher nur vereinzelte Arbeiten erschienen sind, die sich zumindest in Teilaspekten mit dem Thema beschäftigen bzw. sich auf einzelne Werke beziehen.10 Allerdings zeichnen sich diese Studien dadurch aus, dass sie auch für Zentralamerika und Nicaragua die Veränderungen innerhalb des zeitgenössischen historischen Romans gegenüber seinen Vorläufern und die Einbettung des Diskurses über den neuen historischen Roman in den Diskurs um die nueva novela hispanoamericana hervorkehren. Der zentralamerikanische historische Roman am Ende des Jahrhunderts zeichne sich ebenso wie der neue hispanoamerikanische Roman insgesamt (und darüber hinaus die Romanliteratur allgemein) durch den bewussten Einsatz experimenteller Erzähltechniken (wie zum Beispiel den inneren Monolog, dialogische und parodische Elemente, Vielfalt der Erzählperspektiven, Intertextualität, Metatextualität und Metafiktion) und eine Abkehr von dem Realismus-Diskurs des traditionellen historischen Romans aus, wie Valeria Grinberg Pia unter Bezug auf David Bost schreibt: »[...] la novela histórica a finales del siglo X X no recurre a la retórica ni se refugia en los conceptos de la novelística de otra época, sino que se vale de recursos narrativos acordes a sus necesidades expresivas. En este sentido, David Bost aporta una idea fundamental, para comprender por qué y con qué objeto la novela histórica contemporánea se vale de los procedimientos arriba citados. Según este autor, los novelistas contemporáneos perciben la realidad - y a sea presente o pasada- como un todo complejo, problemático, ambiguo y contradictorio que no puede ser aprehendido con certeza y por ende se han visto obligados a abandonar las técnicas y el lenguaje del realismo, que reflejan la creencia en una realidad ordenada, cuyo sentido puede ser traspasado inequívocamente al papel.« (Grinberg Pía, 2001: o.S.; vgl. Bost, 1996: 2)
In diesem Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, ob sich dieses Urteil auch für den historischen Roman in Nicaragua am Ende des 20. Jahrhunderts bestätigen lässt, das heißt ob und in welchen Formen sich die dargestellten
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taciones de las novelas postmodernistas y testimonial.« (ibid.: 23) Dem entsprechen die Kapitel des zweiten, der Analyse einzelner Romane gewidmeten Teils ihrer Studie: »Capítulo I: Ingreso conflictivo de la novela centroamericana a la más reciente modernidad literaria; Capítulo II: Novela, mito y búsqueda de identidad; Capítulo III: La novela testimonial en Centroamérica; Capítulo IV: Postmodernismo, carnaval y testimonio. Una síntesis centroamericana.« (ibid.: 428-430) Dazu gehören Rodríguez Rosales (1999), das Kapitel über Rosario Aguilar »La dinámica de cambio en El Guerrillero« in Souza (1988: 149-164) und die folgenden Aufsätze, die das Thema zumindest streifen: Addis (1995a), Aguirre (2001a), Alvarado Pisani (1998), Bermúdez (1997), Hood (1995), Mackenbach (1997a und 1997b), Francisco Rodríguez (1996), Trusen (1998a), Werner (1995 und 1998).
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Veränderungen innerhalb der Gattung vollziehen und welche Funktion sie haben.
Der Romanautor als Geschichtsschreiber Mit dieser Fragestellung rückt die Beziehung zu dem zweiten Diskurs in den Vordergrund, in dessen Kontext die Entwicklung des neuen historischen Romans zu sehen ist und der ebenfalls in Sergio Ramírez' Eingangszitat von der besonderen Rolle der Literatur und des Romanschriftstellers für das historische Gedächtnis aufschien: der zeitgenössische Diskurs innerhalb der Historiografie im Allgemeinen. Der bewusste Rückgriff auf die beschriebenen veränderten Erzählstrategien und -techniken im historischen Roman der letzten Jahrzehnte ist eng mit der Problematik der Erkenntnismöglichkeit historischer Wirklichkeit und ihrer schriftlichen Fixierung verbunden. Wie jüngere Tendenzen in der Historiografie davon ausgehen, dass geschichtliche Erkenntnis Produkt des Schreibens von Geschichte ist, historischer Sinn also erst in diesem Prozess der Verschriftlichung konstituiert wird, so dienen die Verzerrung der Geschichte durch Auslassungen, Übertreibungen und Anachronismen, die Vorherrschaft philosophischer Ideen über die »objektive« Rekonstruktion von Geschichte, intertextuelle, dialogische, karnevalisierende, parodische und polyphone Strategien im neuen historischen Roman (vgl. den Katalog der Unterscheidungsmerkmale Mentons) dazu, realistische, auf mimetischer Repräsentation beruhende Konzepte der Aneignung außerliterarischer historischer Wirklichkeit in Frage zu stellen und zu unterlaufen. Insbesondere durch metafiktionale Elemente wird außerdem das (literarische) Schreiben als konstitutives Element der Erkenntnis von Geschichte selbst thematisiert. Der neue historische Roman bricht so mit den realistischen Konzeptionen der Referenzialität zur außerliterarischen (historischen) Realität und macht gleichzeitig die Selbstreferenzialität des literarischen Kunstwerks, die einen wichtigen Zug des zeitgenössischen Romans darstellt, einer (literarischen) Problematisierung historischer Sinnkonstruktion dienstbar. Die Veränderung innerhalb der Gattung historischer Roman entspricht also einem Wandel im historiografischen Diskurs selbst, der die traditionelle Geschichtsschreibung in Frage stellt und die Relativität des Objekts der Historiografie unterstreicht: » [...] cabría señalar que algunas de las características que manifiestan las novelas históricas contemporáneas aparecen también como una tendencia de la historiografía más reciente. De hecho, los cuestionamientos de la escritura tradicional de la Historia que plantean las novelas históricas de fines de siglo XX tienen su eco en las posicio-
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Vierter Kreis:
G e s c h i c h t e und Fiktion
nes contemporáneas más radicales respecto d e la práctica historiográfica [...] « (Pons, 1996 : 2 5 8 ) 1 1
Während der historische Roman im 19. Jahrhundert im Kontext einer Geschichtsschreibung entstand, die von den positivistischen und realistischen Parametern einer »objektivistischen« Wissenschaft und dem Glauben an den historischen Fortschritt geprägt war, entwickelt sich der neue historische Roman am Ende des 20. Jahrhunderts im Kontext einer Auseinandersetzung über die Funktion der Geschichtswissenschaft selbst, die die Möglichkeit objektiver historischer Erkenntnis in Frage stellt und dazu beiträgt, Ziele, Methoden und Sprache der Historiografie neu zu definieren. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist es nicht möglich, diesen radikalen Bruch innerhalb der Historiografie nachzuzeichnen, der mit der Gründung der Zeitschrift Annales d'histoire économique et sociale im Jahr 1929 und den Arbeiten von Marc Bloch und Lucien Febvre begann und bis heute den geschichtswissenschaftlichen Diskurs bestimmt (vgl. insbesondere die Arbeiten von Jacques LeGoff).12 Ebenso wenig kann es um eine Auseinandersetzung mit dem Stellenwert der jüngsten Beiträge zur Debatte um die epistemologischen Grundlagen historischen Wissens für die Geschichtswissenschaft selbst gehen, wie sie etwa in den Thesen von Hayden White formuliert sind. Vielmehr soll auf die Konsequenzen hingewiesen werden, die sich daraus für den Roman und speziell den historischen Roman ergeben. Eine der Hauptthesen Whites ist, dass die historischen Ereignisse als solche keinen Sinn haben, dieser Sinn werde erst durch die Erzählung der Ereignisse, durch das Schreiben, die Sprache selbst konstituiert, wobei die rhetorischen Figuren - Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie - eine zentrale Rolle übernehmen. Indem er den Erkenntnisprozess in der Sprache selbst ansiedelt und diese nicht als bloßen Träger eines außerhalb der Sprache existierenden Sinns versteht, also Geschichte als Diskurs und nicht als Geschehen begreift, werden die Grenzen zwischen Historiografie und Literatur in einem noch wesentlich radikaleren Sinne aufgelöst, als weiter oben dargestellt. Die Imagination wird zur Voraussetzung historischen Verstehens und der Repräsentation der Vergangenheit, die als solche (Ereignisse, Fakten, Prozesse, Strukturen) nicht direkt wahrgenommen und erfahren werden kann.13 "
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Für den definitiven Bruch mit einer positivistisch verstandenen Historiografie stehen besonders die Arbeiten von Marc Bloch, Lucien Febvre, Peter Burke, Lynn Hunt, Michel de Certeau, Hayden White, Dominick LaCapra, Jacques LeGoff, Paul Veyne, Louis O. Mink und anderen, (vgl. Ainsa, 1996: 12-14; Pulgarin, 1995: 14f.; Menton, 1993: 54-56; Hutcheon, 1988: 5; Grinberg Pia, 2001: o.S.; zu ihrer Bedeutung für den literarischen Diskurs vgl. u.a. Ainsa, 1996, Ricoeur, 1995. Vgl. den vorzüglichen Artikel von Valeria Grinberg Pia (2001), der ausführlich auf diese Zusammenhänge eingeht. Vgl. insbesondere White (1986 und 1990: bes. 21, 26, 77), Ainsa (1996: 15-17) und Grinberg Pia (2000: 175, und 2001).
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Der neue historische Roman stellt, indem er sich in diesen Diskurs einschreibt, eine doppelte Herausforderung dar: Zum einen macht er der Historiografie das Alleinvertretungsrecht streitig, Geschichte zu erzählen; zum anderen stellt er die Grundvoraussetzung des traditionellen historischen Romans in Frage, Geschichte so zu erzählen, »wie sie wirklich war«, bzw. gar als »offizielle« Geschichte. Fernando Ainsa sieht folgerichtig den Hauptcharakterzug des neuen historischen Romans in Lateinamerika darin: » [...] buscar entre las ruinas de una historia desmantelada por la retórica y la mentira al individuo auténtico perdido detrás de los acontecimientos, descubrir y ensalzar al ser humano en su dimensión más auténtica, aunque parezca inventado, aunque en definitiva lo sea.« (Aínsa, 1991b: 31) Im Falle Zentralamerikas und insbesondere Nicaraguas erhält diese doppelte Herausforderung eine zusätzliche Dimension aufgrund des Zustandes, in dem sich die Geschichte als Wissenschaft noch bis vor kurzem befand. Für Zentralamerika insgesamt wies der costa-ricanische Historiker Víctor Hugo Acuña in einem 1995 erschienenen Aufsatz mit dem Titel »Los desafíos de la Historia en Centroamérica« darauf hin, dass die Geschichtswissenschaft in der Region zwar insofern Fortschritte gemacht habe, als sie den Subjektivismus, die Lobhudelei und den Pamphletismus hinter sich gelassen und sich professionalisiert habe. Noch immer sei sie jedoch auf einige Fortschritte in der Kolonial- und politischen Geschichte beschränkt. Sie kennzeichne eine national begrenzte Perspektive, der vergleichende regionale Ansätze fehlten, und werde nur von einer Handvoll - zumeist nicht zentralamerikanischer - Spezialisten betrieben. Dies führte ihn zu dem Urteil, »que la historiografía de la región era de calidad inferior en relación con la de otros países de América Latina« (Acuña, 1995: 45)14 In Nicaragua muss sogar noch bis weit in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein von einem fast völligen Fehlen einer professionellen Geschichtswissenschaft selbst im traditionellen Sinn gesprochen werden, was seine Ursachen in der besonderen historischen Entwicklun des Landes selbst hat, insbesondere der schier endlosen Aufeinanderfolge von autoritären bzw. diktatorischen Regimes und der damit einhergehenden völligen Indienststellung der »Geschichtsschreibung« für das jeweilige politische Regime. Noch 1995 bilanzierte die nicaraguanische Historikerin Margarita Vannini, Direktorin des Instituto de Historia de Nicaragua y Centroamérica, das Institut sei bei seiner Gründung im Jahr 1988 mit folgender Situation konfrontiert gewesen: »1. muy poca gente valoraba la importancia de la historia;
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Mit der sechsbändigen Historia Generat de Centroamérica (1993ff., San José: FLACSO), an der der Autor beteiligt war, wurden diese Schwächen eindrucksvoll überwunden.
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2. no teníamos suficientes historiadores nicaragüenses con la debida formación académica; 3. parte de la memoria histórica del país, su patrimonio documental, ardía en hogueras improvisadas por todo el país, sumándose este hecho a la destrucción secular causada por la negligencia oficial, las guerras y los desastres naturales.« (in: Kinloch Tijerino, 1995: 20) Angesichts dieser strukturellen Aspekte, angesichts der Lücken, Verfälschungen und Tabus der offiziellen Historiografie in Nicaragua kam Sergio Ramírez, wie eingangs dieses Kapitels zitiert, zu dem Schluss, die Geschichte Nicaraguas sei bisher noch nicht erzählt worden. Noch immer gebe es - an der Wende zum dritten Jahrtausend - große Leerstellen und weiße Flecken. In diesem Sinne sind die Romanautoren in Zentralamerika und Nicaragua noch unausweichlicher mit einer Aufgabenstellung konfrontiert, wie sie in dem ebenfalls bereits zitierten Vortrag des nicaraguanischen Romanciers umschrieben wurde: diese Geschichte neu bzw. zum ersten Mal zu schreiben, um so mehr in einem Land, das auf eine lange literarische Tradition zurückblickt und immer über bedeutende Schriftsteller verfugt hat: »Es gibt also«, so Ramírez, »eine enge Verbindung zwischen diesen Leerstellen in der Geschichte und der Notwendigkeit, sie zu erzählen.« (Mackenbach, 2000f: 63) Der Romanschreiber als Geschichtsschreiber.
Dekonstruktion der offiziellen Historiografie und Suche nach Identität Der Romanschreiber als Geschichtsschreiber? Mag dies ein wichtiger Grund für den »Boom« des historischen Romans in Nicaragua sein, so kann er den Umfang dieses Aufschwungs und seine Bedeutung keineswegs ausreichend erklären. Eine der interessantesten Fragen in diesem Zusammenhang ist die nach der Funktion dieser Literatur im Latein- bzw. Zentralamerika des fin de siècle, das heißt unter Bedingungen der »posguerra« und »posguerrilla« und nach dem Ende des Diskurses vom »literarischen Nationalismus«. Unter den verschiedenen Versuchen, die Gründe für den Aufstieg des historischen Romans in Lateinamerika zu erklären, hat bisher die Position überwogen, darin drücke sich das Bestreben aus, unter veränderten Bedingungen eine lateinamerikanische Identität gegenüber Europa zu konstituieren: » [...] el nuevo interés por la novela histórica tiene todavía que ver con la búsqueda de la identidad continental, que representa un nuevo grado en la emancipación de la intelectualidad latinoamericana, porque en ella se expresa una nueva relación del latinoamericano para con el europeo. [...] Así, se manifiesta una nueva seguridad, un nuevo sentido del valor de los latinoamericanos precisamente en el tratamiento literario de la propia historia.« (Rössner, 1997: 170; vgl. Pons, 1996: 259)
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Diese immer wieder erneuerte Suche nach der »Lateinamerikanität« bzw. regionalen und nationalen Identitäten in Abgrenzung von Europa mag ein wichtiges Motiv für den neuen historischen Roman auf dem Kontinent sein, wie Rössner an den Romanen Noticias del Imperio (1987) des Mexikaners Fernando del Paso und Los perros del paraíso (1983) des Argentiniers Abel Posse ausführt (vgl. Rössner, 1997: 170-172). Er sieht darin Beispiele dafür, dass der neue historische Roman in Hispanoamerika eine Art Dekonstruktion der europäischen Geschichte betreibe, die in der Entwicklung des lateinamerikanischen Intellektuellen immer dominiert habe. Die Lateinamerikaner - die in den Zeiten des realismo mágico/lo real maravilloso Objekt des »hedonistischen« Interesses der Europäer am »Exotischen« gewesen seien - blickten jetzt im historischen Roman bei ihrer Suche nach einer eigenen Identität »a una Europa romántico-mágica a su vez« (ibid.: 171). Allerdings verstellt diese Argumentation eher den Blick auf die Tatsache, dass der neue historische Roman in Nicaragua wie in Lateinamerika sich in einen allgemeinen Aufschwung des historischen Romans weit über die Grenzen des Subkontinents hinaus einschreibt. Gleichzeitig wurde auch auf die Situation der Krise in Lateinamerika verwiesen, »cada día más desesperada [...] entre 1970 y 1992 [que] ha contribuido a la moda de un subgénero esencialmente escapista« (Mentón, 1993: 51; vgl. Pons, 1996: 259), und auf die unter den lateinamerikanischen Intellektuellen, die sich in den siebziger und achtziger Jahren in den Bewegungen der Linken engagierten, verbreitete Konfusion nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der Zersetzung des »kubanischen Modells« und dem Ende des sandinistischen Projekts, (vgl. Mentón, 1993: 52). In der Tat ist der Aufschwung des neuen historischen Romans in Lateinamerika und insbesondere Zentralamerika/Nicaragua auch vor dem Hintergrund dieser politisch-ideologischen Krise zu sehen, steht er in Beziehung zu einem dritten aktuellen Diskurs: dem vom Verlust der großen Utopien gekennzeichneten politischen Diskurs, der in Zentralamerika Ende der achtziger Jahre begann und in Nicaragua mit dem Niedergang des sandinistischen Projekts seinen deutlichsten Ausdruck annahm - symbolisiert in der Wahlniederlage der Sandinisten im Februar 1990. Der neue historische Roman ist also weniger als unmittelbarer Reflex auf konjunkturelle bzw. spezifisch nur lateinamerikanische Befindlichkeiten zu verstehen, sondern im Kontext struktureller Veränderungen. 15 Nicht um eine Flucht des Romanschriftstellers aus der
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Mentón behauptet gar, dass »el factor más importante en estimular la creación y la publicación de tantas novelas históricas en los tres últimos lustros ha sido la aproximación del quinto centenario del descubrimiento de América« (Mentón, 1993: 48). Mir scheint, dass dieser Faktor nur einen zusätzlichen konjunkturellen Stimulus darstellte und dass sich die Einschätzung Mentons eher aus der zeitlichen Nähe seiner Studie zu dieser Konjunktur erklärt. Es muss hervorgehoben werden, dass bereits in den sechziger und siebziger Jahren in Zentralamerika
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immer schnöderen sozialen Wirklichkeit Lateinamerikas geht es, sondern um den Versuch, sich mit veränderten erzählerischen Strategien mit dieser Realität literarisch auseinander zu setzen. Der traditionelle historische Roman des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika entstand im Kontext der Konstitution nationaler Identitäten. Wie die offizielle Historiografie (vermittelt über Archive, Geschichtsbücher, Museen, Nationalfeiertage, Monumente usw.) eine kollektive Erinnerung konstruierte, die auf dem Mythos der großen Persönlichkeiten und der historischen Schlüsselereignisse beruhte, so trug der traditionelle historische Roman durch die literarische (mimetische) Repräsentation dieser Mythen seinerseits zur Schaffung nationaler/kollektiver Identitäten bei. (vgl. Souza, 1988: 18) Während noch bis in die Testimonialliteratur der siebziger und achtziger Jahre eine solche Funktion von Literatur ihren Ausdruck fand - wenn auch nun schon im Dienst einer Konstruktion der Nation »von unten«, von den »vergessenen Helden« und Vätern her - , bricht der neue historische Roman auch in dieser Hinsicht mit seinen Vorläufern. Wie die Historiografie sich zunehmend für die Geschichte der Vergessenen, Subalternen, Unterdrückten, für Alltags-, Mentalitäts-, Sozial- und Kulturgeschichte zu interessieren beginnt (vgl. LeGoff/Chartier/Revel, 1990: bes. 8, 19), so der neue historische Roman: »Las novelas históricas [...] a través de la polifonía, la intertextualidad y la apertura de la narración histórica al ámbito de lo particular, local y cotidiano logran recuperar y formular aspectos del pasado nacional censurados o simplemente no tenidos en cuenta por irrelevantes por los tratados históricos tradicionales.« (Grinberg Pía, 2001: o.S.)'6
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einige Romane veröffentlicht wurden, die Züge tragen, welche später als konstitutiv für den neuen historischen Roman angesehen wurden. Dazu gehören zum Beispiel Romane von Alfonso Chase (Los juegos furtivos, 1968) und Gerardo César Hurtado (Así en la vida como en la muerte, 1975 und Los vencidos, 1977) in Costa Rica sowie die ersten Romane von Sergio Ramírez (Tiempo de fulgor, 1970 und ¿Te dio miedo la sangre?, 1977) in Nicaragua. Mit Ausnahme von Tiempo de fulgor verzeichnet Mentón keinen dieser Romane in seinen beiden Listen »La Nueva Novela Histórica de la América Latina, 1949-1992« und »Novelas históricas latinoamericanas más tradicionales, 1949-1992«. (Mentón, 1993: 12-15, 15-27) In der ersten Liste finden sich unter insgesamt 56 Titeln zwei zentralamerikanische Romane: Castigo divino (1988) von Sergio Ramírez und Jaguar en Ilamas (1989) des Guatemalteken Arturo Arias, (ibid.: 14) In der zweiten sind es 23 von insgesamt 315, davon 8 aus Guatemala, 6 aus Panama, 4 aus Honduras, 3 aus Nicaragua und 2 aus Costa Rica, keiner aus El Salvador und Belize. Valeria Grinberg Pia bemerkt dazu unter Verweis auf LeGoff, auch in dieser Hinsicht existiere eine Koinzidenz zwischen dem neuen historischen Roman und der neuen Historiografie, denn letztere postuliere die Notwendigkeit einer Ausdehnung der traditionellen Konzeption des historischen Dokuments. Texte unterschiedlichster Art, die orale Tradition, Fotos, Filme und andere visuelle Materialien, Münzen und andere archäologische Fundstücke usw. seien einzubeziehen - Elemente die sich auch die nueva novela histórica einverleibt, (vgl. Grinberg Pia, 2001: o.S.; LeGoff, 1990: 16)
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Der neue historische Roman antwortet auf die politisch-ideologische Krise nach dem Verlust der revolutionär-nationalistischen Utopien mit dem Abgesang auf die bis in die achtziger Jahre dominierenden Konzeptionen der Konstruktion nationaler/kollektiver Identität. Weit entfernt von eskapistisehen Tendenzen, nimmt er Stellung in diesem politischen Diskurs, indem er sich explizit auf die beiden aktuellen historiografischen und ästhetischen Diskurse bezieht." Identität ist nur noch als partielle, fragmentierte, individualisierte und im Plural möglich. Wie die Historiografie ihren totalisierenden, zentralisierenden Anspruch verloren hat, so der (historische) Roman. Sein wie ihr Interesse ist die Entmythisierung der offiziellen Geschichte, sein Vorgehen die »Dekonstruktion« auch im post-strukturalistischen Sinne: die Erzählung der Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven, mit unterschiedlichen Stimmen, von unten:18 » [...] a diferencia de las novelas de los años sesenta, que pretendían ser verdaderas summas totalizadoras en lo existencial y fenomenológico y en las cuales debían reconocerse los atributos de la narración, de la epopeya, de la poesía, con el fin de influir y transformar la sociedad - buena parte de la ficción actual propone una relectura demitificadora del pasado a través de su reescritura. [...] Este desarrollo de la 'ficcionalización de la historia' se inscribe en una preocupación más amplia de la actual narrativa: el movimiento centrípeto de repliegue y arraigo, de búsqueda de la identidad a través de la integración de las expresiones más profundas y raigales de la cultura latinoamericana.« (Aínsa, 1991b: llf.)"
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Darin könnte man eine Bestätigung der lukácsschen Forderung sehen, dass »keine einzige Frage des historischen Romans [...] sich an ihm allein, isoliert behandeln« lasse, sondern »die historische und gesellschaftliche Kontinuität der literarischen Entwicklung« (Lukács, 1965: 291) in seine Analyse einzubeziehen sei, allerdings mit dem Unterschied, dass es hier vorrangig um historische und soziale Diskontinuitäten auch im literarischen Feld geht. Darauf weist auch Rössner (1997: 172) hin: »Cuando hablo de de-construcción, utilizo este término en su sentido original y no en aquello del pos-estructuralismo; pero sin embargo, las novelas mencionadas tienen que ver también con este aspecto del 'deconstructivismo' - es decir la suspensión de la validez de ideologías y realidades en el juego de los significantes, en un diálogo lúdico entre muchos textos [...] son también novelas polifónicas, campos de interreacción de varios tipos de discurso histórico y narrativo.« Bost, (1996: 2) zitiert in diesem Zusammenhang aus einem Interview mit dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Philip Swanson über die Entwicklung der nueva novela hispanoamericana im Allgemeinen: »Whereas the order structures of the realist text reflect a faith in an ordered, meaningful reality, the modern novelist feels that reality is much more problematic, contradictory, and ambiguous. It is not something which can be clearly understood and transferred to the written page: therefore fiction must abandon its pretensions to mimesis and/or adopt complex techniques to express a vision of a complex reality. Hence, the subjectivity of reality is put across via with the withdrawal of the narrator, interior monologues, stream of consciousness, multiple viewpoints, inner time scales; similarly, its complexity is stressed through structural fragmentation, chronological inversion, fantastic distortion and multifaced symbolism.«
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Polyphonie, Intertextualität, Parodie, Metatextualität und Metafiktion werden zu literarischen Präsentationen der Geschichte, die auch von der Historiografie nur noch in der Mehrzahl zu erzählen ist:20 Der Romanschreiber als Geschichtenschreiber.
Imagination und Wahrheit: Unmöglich zu erzählen, wie es wirklich war Quasi programmatisch manifestieren sich diese Tendenzen in Nicaragua bereits in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, also noch vor dem »offiziellen« Ende des revolutionären Projekts und kurioserweise im Roman eines der fuhrenden politischen Repräsentanten der sandinistischen Regierung, des damaligen Vizepräsidenten der Republik. Sergio Ramírez rekonstruiert in seinem dritten Roman, Castigo divino (1988), vom Blickwinkel eines zweifelhaften Kriminalfalls aus eine ganze Epoche in der Geschichte der Stadt Léon, wobei er vor allem auf die Mittel der Parodie, der Vielstimmigkeit, der Metatextualität und der Metafiktion zurückgreift. Nicht die detailgenaue historische Rekonstruktion, die der Roman in vielerlei Hinsicht auch präsentiert, ist sein eigentliches Ziel, sondern eine Reflexion über das Verhältnis von Geschichte und Fiktion, wie Ramón Luis Acevedo (vgl. 1991b: 156) in einem Aufsatz hervorhob. Außerliterarischer Bezugspunkt des Romans ist ein authentischer Kriminalfall, der sich Anfang der dreißiger Jahre in León ereignete und Aufsehen in ganz Nicaragua sowie darüber hinaus in Zentralamerika erregte: »El lunes 9 de octubre de 1933, al fallecer de manera repentina Don Carmen Contreras, se abrió en León el proceso criminal más sonado en toda la historia judicial de Nicaragua, a cuyas diversas y complejas incidencias debemos el presente libro.« (217) Oliverio Castañeda, ein Guatemalteke, Anwalt und ehemaliger Diplomat, der mit seiner Ehefrau nach León gekommen ist und dort die Freundschaft der alteingesessenen Familie Contreras (besser gesagt die Liebe der weiblichen und das Vertrauen der männlichen Familienmitglieder) gewonnen hat (in deren Haus er zeitweise zusammen mit seiner Frau und nach ihrem Tod allein wohnt), wird angeklagt, nacheinander seine Frau Marta, die ältere Tochter der Familie Contreras, Matilde, und den Familienvater Carmen Contreras vergiftet zu haben, um den Weg fur seine Vermählung mit der jüngsten Tochter María del Pilar und die Übernahme der Geschäfte des Familienoberhaupts, eines reichen Geschäftsmanns, freizumachen. Außerdem wird er mit weiteren Giftmorden in Guatemala und Costa Rica in Zusammenhang gebracht.21
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Vgl. LeGoff/Chartier/Revel, 1990: 258; Grinberg Pia, 2001: o.S. Ramirez berichtet die Details des realen Prozesses in seiner Biografia de Mariano Fiallos Gil.
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Der fast fünfhundert Seiten umfassende Roman liest sich wie ein gigantischer Text, der über die unzähligen Prozessdokumente geschrieben wurde, auf die sich der Erzähler ausdrücklich als »voluminoso expediente levantado día tras dia a partir del 9 de octubre de 1933, fecha del fallecimiento de Don Carmen Contreras« bezieht: » [...] allí se acumulan incontables declaraciones de testigos, exámenes forenses, actas de exhumación, resultados de pruebas de laboratorio, dictámenes periciales, recortes de periódicos, cartas y muchas otras piezas probatorias y documentos que el Juez consideró de mérito agregar. El 24 de diciembre de 1933, cuando fue suspendido abruptamente el proceso, el expediente constaba ya de mil ochocientos noventa y dos folios útiles.« (92) Das Buch ist jedoch weit davon entfernt, eine wahrheitsgetreue Rekonstruktion des authentischen Falls zu sein, vielmehr benutzt es die Dokumente, um neue Texte über sie zu schreiben. Der gesamte Roman kann so als Palimpsest gelesen werden, der als eines der typischsten Merkmale der nueva novela histórica in Lateinamerika bezeichnet wurde, (vgl. zum Beispiel Mentón, 1993) Seine Makrostruktur scheint zwar einfach und traditionell: In Teil I wird der Tod Martas erzählt, in Teil II der Matildes, in Teil III der Don Carmens und in Teil IV der Prozess gegen Oliverio Castañeda und sein Tod am 24. Dezember 1933, als er von der Guardia Nacional »auf der Flucht« erschossen und der Fall ohne Urteil abgeschlossen wird. (vgl. Wellinga, 1991: 3) Diese übersichtliche und chronologisch geordnete Struktur wird jedoch schon auf der Makroebene von einer Reihe von paratextuellen und intertextuellen Elementen durchbrochen, die insgesamt für den Roman bestimmend sind. Das gilt für die aus der spanischen Literatur stammenden Epigraphen, die jedem Teil vorangestellt sind und ihm eine melodramatische Färbung geben, sowie die Überschriften der vier Teile, die der juristischen Fachsprache entlehnt sind und wie das nachgestellte Inhaltsverzeichnis dem Roman einen dokumentarischen Anstrich verleihen. In seiner Mikrostruktur ist der Roman schließlich gänzlich von einer Fülle von Elementen gekennzeichnet, die als charakteristisch für den neuen historischen Roman in Lateinamerika gesehen wurden: der Vermischung von realen und fiktiven Personen, der Fiktionalisierung historisch authentischer Personen und der Historisierung erfundener Personen, dem Bruch der zeitlichen Einheit durch Anachronismen, Analepsen und Prolepsen, intertextuellen Bezügen, Paratexten und metatextuellen bzw. metafiktionalen Elementen, (vgl. dazu Mentón, 1993: 42-45; Pons, 1996: 256-261; Pulgarin, 1995: 203-207) Neben die historisch verbürgten Personen wie die am Prozess beteiligten
(vgl. Ramirez, 1971: 30f.) Um den Prozess herum kam es sogar zu einer Volksmobilisierung, die nach zeitgenössischen Akten zur Gefahr für die öffentliche Ordnung wurde, (vgl. Salmön, 1993: 209; Wellinga, 1991: 3)
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(darunter auch der Richter und spätere Rektor der Universität in León, Mariano Fiallos, dessen Sekretär Sergio Ramírez war) und wichtige zeitgenössische Persönlichkeiten der nicaraguanischen Geschichte (zum Beispiel der Präsident Juan Bautista Sacasa, Augusto César Sandino, Anastasio Somoza García, der Komponist José de la Cruz Mena) treten fiktionalisierte historische Figuren, die zum Teil gar als wissenschaftliche, juristische und literarische Autoritäten angerufen werden: so etwa »el Señor Miguel Barnet, de nacionalidad cubana, y experto en materia editorial« (37, vgl. 140, 176-178), »el eminente psiquiatra de la Universidad de Chile, el Profesor Ariel Dorfman« (93), »el caballero italiano Franco Cerutti [...] muy conocido en el mundo de los negocios« (167, vgl. 198, 397), der »veterinario F.J. Strauss, [...] el farmacoquímico Kohl [...] los profesores Blüm y Biedenkopf« (289), M. Thatcher, Le Pen und Fraga Irribarne (vgl. 312), Günter Grass als Autor eines 1895 erschienenen medizinischen Handbuchs ebenso wie Théophile Gautier und Mallarmé (vgl.. 357), Bryce Echenique, Skármeta und Monsiváis als Experten in Toxikologie (vgl. 385), aber auch Personen der nicaraguanischen und zentralamerikanischen Literatur wie Luis Armando Rocha Urtecho (vgl. 56), Eduardo Buitrago (vgl. 104f., 106), Carmen Naranjo (vgl. 118, 121, 394), Pedro Joaquín Chamorro Zelaya (vgl. 281, 300), »el joven poeta masayés Julio Valle Castillo [...] fallecido repentinamente en la Estación del Ferrocarril de Managua, en enero de 1930« (299) und Fernando Silva (vgl. 299) sowie Juan Aburto (vgl. 300), Samuel Rovinski (vgl. 303), Abel Pacheco (vgl. 304) und Omar Cabezas (vgl. 316, 396) - und all das in einer Handlung, die in den Jahren 1932 und 1933 spielt, (vgl. dazu Acevedo, 1991b: 160-162) Über diese Anachronismen der einzelnen Figuren hinaus ist der gesamte Roman von einem anachronistischen Aufbau bestimmt. Er besteht durchgehend aus Analepsen und Prolepsen, die mit jeglicher Einheit der Zeit brechen. Durchweg durchziehen Rückblenden in der Rückblende in der Rückblende, dann wieder Prolepsen in der Analepse und Prolepsen in der Prolepse usw. den Roman, Dokumente werden ohne Rücksicht auf die chronologische Reihenfolge intertextuell ineinander montiert, aber auch die von einem allwissenden Erzähler in dritter Person erzählten Passagen gehorchen keiner fortschreitenden zeitlichen Ordnung, (vgl. exemplarisch das 7. Kapitel im Teil I: »Tormenta de celos en el cielo de enero«) An keiner Stelle suggeriert der Autor den linearen Fortgang einer Handlung, sondern betont, zum Teil in direkten Einmischungen in den Text bzw. Ansprachen an den Leser (»querido lector«, 39; »como ya llegaremos a ver«, 64; »pero si el lector nos hace el favor de volver unas páginas atrás«, 91; »es necesario, en este punto, explicar al lector«, 140; »el lector, justamente intrigado, se preguntará: ¿de qué se trata?«, 193; »se acordará el lector«, 235; »debe saber el lector«, 374; um nur einige wenige der unzähligen Beispiele zu zitieren), die Konstruiertheit des Textes, seinen fiktionalen Charakter.22 Auch Wellinga (1991: 3) erwähnt diese traditionellen Elemente wie eine dokumentarische Technik und einen allwissenden Erzähler,
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»muy estilo siglo XIX«. Während er argumentiert, die zahlreichen oft nur in Andeutungen ausgeführten Analepsen hätten wie im Kriminal- und Fortsetzungsroman die Funktion, Spannung aufzubauen und aufrechtzuerhalten, 23 weisen sowohl Acevedo als auch Kozak Rovero auf die »violaciones del código folletinesco« (Kozak Rovero, 2001: 32) hin. Ramírez bediene sich dieser Elemente gerade nicht im Stile des traditionellen Feuilletonromans, er benutze diese, ohne dessen Ideologie zu teilen: » [...] contrario a la novela folletinesca tradicional, no se produce lo que Umberto Eco llama una estructura de consolación, porque no se trata de introducir lo potencialmente escabroso, despertar la curiosidad y conmover al lector para luego tranquilizarlo con la solución de todos los enigmas y la reafirmación consoladora del orden temporalmente interrumpido. La novela no culmina en el restablecimiento del equilibrio, sino que lleva al lector [...] a un cuestionamiento crítico de la realidad histórica que se proyecta hasta el pasado inmediato.« (Acevedo, 1991b: 159)24 Dem korrespondiert die intertextuelle Struktur des Romans: Wie das Buch in seiner Makrostruktur als Palimpsest eines detailliert dokumentierten historischen Ereignisses zu lesen ist, so besteht es in seiner »Binnenstruktur« aus einer Montage unzähliger Texte unterschiedlichen Charakters, die zum großen Teil über bereits existierende Texte geschrieben sind und gegenüber denen die im traditionellen Sinn erzählten Passagen in der Minderheit bleiben: Dazu gehören Prozessakten, historische Dokumente, Briefe, Zeitungsartikel, Protokolle von Zeugenaussagen, Telegramme, transkribierte Tonbandaufnahmen usw. Den Roman kennzeichnet so ein unendlicher Reichtum unterschiedlicher Sprachstile, -färbungen und Fachsprachen - aus dem Rechtswesen, der Medizin, der Kriminologie, dem Journalismus (sowohl der national verbreiteten wie lokalen Presseorgane der Epoche, sowohl der religiösen als auch der nicht-religiösen Presse), dem Militär, der Kirche, der Wissenschaft - und unzähliger individueller Äußerungen (wie zum Beispiel Briefe und Zeugenaussagen), was Wellinga zu dem Urteil führte dass Castigo divino »sobre todo novela de lenguaje(s)« sei (Wellinga, 1991: 3).25 Gisela Kozak Rovero hat in diesem
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Ruffinelli (1993: 207) spricht davon, dass »lo que antes llamé énfasis sobre lo literario, sobre este libro y el contrato de lectura que establece con los lectores, queda abundantemente ejemplificado en las continuas alusiones a un lector presente y actuante en el cuadro [...], es decir, numerosos ejemplos de un estilo cortés y amanerado que el realismo hubiera evitado con denuedo y rigor, pero que también parodia escrituras antiguas al tiempo que nos recuerda que esto es literatura.« In der Tat erschien der Roman j a zunächst in Fortsetzungen im Feuilleton einer nicaraguanischen Tageszeitung, (vgl. unten, Fußnote 35) Acevedo bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Eco, 1971. Vgl. dazu ausfuhrlich ibid. sowie Rodríguez Rosales (1999: bes. 17-20), Rodríguez (1996: 11) und Kozak Rovero (2001: 27-29)
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Zusammenhang von einer Juxtaposition unterschiedlichster »paraliterarischer« Register gesprochen:26 Der Roman bediene sich diverser Register der Massenkultur und »nicht literarischer« Diskurse (wie des Kriminal- und Kitschromans, des Melodrams, des Films und anderer) und untergrabe deren Codes mit den Mitteln des Humors und der Ironie. Die Intertextualität des Textes resultiere in einem Pastiche verschiedener literarischer und nicht literarischer Genres, »para la elaboración de un texto que asume un distanciamiento crítico respecto a dicho estilo« (Kozak Rovero, 2001: 29, vgl. 27f.), dessen Hauptopfer der Kriminal- und Trivialroman seien.27 Alle diese Elemente verdeutlichen die höchst artifizielle literarische Konstruktion des Buches, die noch durch die ironisierende Imitation des journalistischen Stils Manolo Cuadras (1907-1957), eines führenden Vertreters der nicaraguanischen Avantgarde, verstärkt wird, der im Roman den Fall Castañeda kontinuierlich journalistisch begleitet, sowie durch die zahlreichen Bezüge auf Rubén Darío und den Stil des modernismo, (vgl. Wellinga, 1991: 3, 6; Ruffinelli, 1993: 205f.)28 Schließlich stellt der Autor gar einen intertextuellen Bezug zu seinem Roman
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Kozak Rovero (2001: 28) betont unter Verweis auf Solotorevsky (1988: 11-23) den historisch bedingten Charakter der Unterscheidung von Literatur und Paraliteratur, also Texten, die nicht dem Bereich der »hohen« Literatur zugerechnet würden. Sie sei abhängig von dem in einer Epoche vorherrschenden literarischen Diskurs bzw. den von der Literatur als Institution (Wissenschaftler, Kritiker, Schriftsteller, Verlage, gebildetes Publikum) formulierten Kriterien. Der zeitgenössische literarische Diskurs sei in besonderer Weise offen fiir eine Verwischung der Grenzen zwischen Literatur und Paraliteratur bzw. zwischen Kultur der Eliten, Populärkultur und Massenkultur. Kozak Rovero bezieht sich bei der Definition von Pastiche auf Genette (1989: 11); vgl. auch Genette (1993: 32-47, 130-139) und von Wilpert (1979: 590), der den Pastiche als »Nachahmung des Stils e. Autors in Formen- und Phrasenschatz [...] bes. zum Zwecke der Karikatur oder Parodie« bezeichnet. Alle diese Texte und Dokumente sind erfunden (bzw. verändert, »bearbeitet«, verfremdet, verzerrt, so müsste man hinzufügen), wie der Autor selbst in einer Konferenz der Latin American Studies Association (LASA) im September 1992 in Los Angeles erklärte, offensichtlich dadurch dazu veranlasst, dass viele Leser sie als authentisch verstanden. Salmón schreibt unter Bezug auf diese Konferenz, »que el mismo Ramírez declara la insistente necesidad de advertir a sus lectores que lo 'reproducido' en la novela es falso y que no tiene relación con el caso verídico« (Salmón, 1993: 215,216). Wellinga weist darauf hin, dass Ramírez nicht schon während seiner Gespräche mit dem Richter Mariano Fiallos im Jahr 1964 Zugang zu den Prozessakten hatte, wie im Roman insinuiert, sondern erst nach dessen Tod: »El Doctor Ernesto Castellón Barreto, yerno suyo, me obsequió en 1980 una fotocopia íntegra del mismo, la cual me ha servido como una de las bases sustanciales para reconstruir la historia.« (Wellinga, 1991: 3) Wellinga kommt zu dem Schluss, der Roman sei eine »mezcla de verdades, semi-verdades y ficciones, contribuyendo así a un embrollo todavía mayor: las fronteras entre realidad histórica y la obra de ficción basada en esos hechos reales son difusas« (Wellinga, 1991: 3). Insbesondere unterstreicht er zwei wesentliche Änderungen, die Ramírez an den authentischen Daten vornahm: Die in den Prozess involvierte Familie hieß Gurdián (nicht wie im Roman Contreras), bis heute eine der wohlhabendsten Familien Nicaraguas, und der reale Prozess zog sich bis zum Jahr 1936, während er im Roman am 24. Dezember 1933 endet. Für Wellinga ist
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Tiempo de fulgor (1970) her, insbesondere in der Familie Contreras, »descendientes remotos del Cid Campeador y emparentados con la Virgen María, según se establece en Tiempo de Fulgor'« (97), und in der »mesa maldita«, einer Art von Stammtisch in der »Casa Prio«, dessen Mitglieder tragende Rollen im Roman übernehmen; beide haben auch in Tiempo de fulgor wichtige Funktionen. 29 Auch ikonografische bzw. ikonotextuelle Elemente wie Fotos und die über Fotos geschriebenen »Porträts«, die den Prozessakten beigefügt sind (von Oliverio Castañeda, seiner Ehefrau Marta Jerez, den beiden Contreras-Töchtern Matilde und Maria del Pilar sowie ihrer Mutter Doña Flora Guardia de Contreras, vgl. 91-99) sowie der Film liegen dem Text zugrunde. Nicht nur der Paratext des Titels Castigo divino (so der spanischsprachige Titel des 1932 in die Kinos gekommenen US-amerikanischen Films »Payment Deferred« in der Regie von Lothar Mendes mit Charles Laughton und Maureen O'Sullivan als Darstellern) verweist auf eine weitere Quelle, über die der Roman konstruiert ist, dieses Mal nicht ein reales historisches Ereignis, sondern ein weiteres (in diesem Falle nicht dem Printbereich zugehöriges) Produkt der Massenkultur. Dieser Film, so schrieb Ruffinelli, »aparece como telón de fondo a unos acontecimientos que parodian a los mismos hechos ficticios de la película.« (Ruffinelli, 1993: 207). 30 Eine Fülle unterschiedlicher Paratexte unterstützt diese Betonung des konstruierten, erfundenen Charakters des Textes, seine fiktionale Natur. Die der spanischen Literatur entnommenen Zitate in den Epigraphen habe ich bereits erwähnt, ebenso die der juristischen Fachsprache entlehnten Titel der vier Teile sowie das Inhaltsverzeichnis am Ende des Romans. Hinzu kommen die Kapitelüberschriften, die zwischen der älteren literarischen Traditionen entnommenen Zusammenfassung bzw. Vorwegnahme der Geschehnisse und eher allegorischen bzw. anekdotischen Anspielungen schwanken, zum Teil Zitate bzw. Fragmente aus Liedern usw. sind (zum Beispiel: »2. En busca del veneno mortal«, »4. El amor sólo aparece una vez en la vida«, »19. Sus dedos recorren el teclado por última vez«, »35. ¡Cave ne cadas, doctus magister!«, »38. Cuando el río suena, piedras lleva« usw.). Das 38. Kapitel präsentiert sich als Fiktion in der Fiktion. In dem im Untertitel als »Reportaje en XV cuadros, original de
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Ersteres ein Beleg dafür, dass »todo el asunto, aún 50 años después [zum Zeitpunkt des Erscheinens von Castigo divino; W.M.], seguía siendo bastante delicado« (Wellinga, 1991: 3; vgl. auch Ramírez, 1988: 420). Die zeitliche Komprimierung dient nach seiner Ansicht der Politisierung des Romans, (vgl. dazu unten) Letztere wird von Ramírez später in dem 1988 erschienenen Roman Margarita, está linda la mar wieder aufgenommen, (vgl. dazu das nächste Unterkapitel: »Mythos und Parodie: Nicht erzählen, wie es gewesen sein soll«) Vgl. Ruffinelli (1993: 204, 207) und Kozak Rovero (2001: 27, 33). Wellinga (vgl. 1991: 3) weist auf zahlreiche Parallelen zwischen Film und Roman hin.
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Rosalío Usulutlán« bezeichneten Text handelt es sich um einen fiktiven Zeitungsartikel des Journalisten, der den Prozess gegen Castañeda begleitet. In diesem Text wird aus der Sicht des Journalisten eine Version der Ereignisse dargestellt (wobei er Pseudonyme für die bereits mit Pseudonymen belegten handelnden Personen des Romans benutzt, auch hier also Fiktion in der Fiktion), ohne dass der Autor bzw. Erzähler sie sich zu Eigen macht. Die drei Giftmorde werden im Stil eines Melodrams erzählt, als Folge einer heillos verworrenen Geschichte von Liebe, Eifersucht, verletzter Ehre, Doppelmoral, Anerkennungssucht und Besitzgier. (vgl. 339-348) Dieser melodramatische Zug wird zusätzlich verstärkt durch den im Epilog (vgl. 453-456) geschilderten Vulkanausbruch des Cerro Negro am 28. Dezember 1933, der wie eine göttliche Strafe über die Stadt hereinbricht, sie mit einer Schicht aus Asche und Staub überzieht und für die Zukunft nichts Gutes verheißt: »Llueve fuego y todos pagamos el precio del pecado. Castigo divino.« (455; vgl. Wellinga, 1991: 3, 6) Nicht von ungefähr trägt auch der Epilog den allegorischen Titel des Romans »Castigo divino«. Schließlich kennzeichnet den Roman durchweg der Rückgriff auf metatextuelle und metafiktionale Elemente, wie sie insbesondere für die nueva novela histórica in Lateinamerika bezeichnend sind. Die direkten Einmischungen des Erzählers, mit denen er sich an die Leser wendet, wurden bereits erwähnt. Sie durchziehen den ganzen Roman und haben oft zusätzlich eine kommentierende Funktion. Dies gilt umso mehr für die Passagen, in denen der Erzähler den Entstehungs- und Herstellungsprozess des Buches selbst darstellt, kommentiert und zum Teil ironisiert (etwa seine Gespräche mit dem Richter Mariano Fiallos bzw. Interviews mit an den Ereignissen Beteiligten und die Berufung auf seine eigene Erinnerung als wichtiger Quelle des Textes, in denen der Autor Sergio Ramírez als Romanfigur auftaucht und sich als Erzähler zu erkennen gibt; vgl. 400,414-417,419) 31 sowie insbesondere seine Romanhafitigkeit herausstellt: »Algún día van a querer hacer de todo esto una novela«, sagt der Sekretär des Richters Fiallos, Ali Vanegas (fiktionales Alter Ego von Sergio Ramiréz?), zu seinem Chef (455), der antwortet: »Que ponga el que la escriba que todo terminó con una erupción« (456), mit welcher der
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Vgl. dazu auch Wellinga, 1991: 3; Acevedo, 1991b: 159f.; Kozak Rovero, 2001: 34. Kozak Rovero (ibid.: 33) definiert Metafiktion unter Rückgriff auf Arbeiten von Carmen Bustillo und Robert Stam als »the process by which texts [...] foreground their own production, their authorship, their intertextual influences, their reception, or their enunciation«. Sie nehme in der Literatur der letzten Jahre einen prominenten Platz in der Auseinandersetzung mit einer Realität und einer Geschichte ein, die immer mehr als vorläufige, konstruierte wahrgenommen würden. Indem die Literatur in der Erzählung einen Realitätseffekt generiere (»la ilusión de realidad que proyecta un texto«; ibid.), zerstöre sie ihn gleichzeitig mit den Mitteln der Metafiktion durch die Offenlegung und Kommentierung der Strategien der Produktion des Textes als Kunstwerk.
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Roman tatsächlich endet. Für Acevedo (1991b: 156) kennzeichnet den Text die Existenz einer »metanovela« im Roman, »que trata sobre el fenómeno de novelar«. Jorge Ruffinelli hat in einem Essay über den Roman insbesondere mit Bezug auf diese ironischen und metafiktionalen Elemente vom parodischen Charakter des Romans gesprochen: »Castigo Divino es un disfrutable ejercicio en la parodia: parodia de la escritura judicial -actas, testificaciones, acusaciones, correcciones, alegatos de defensa-; también parodia de la escritura periodística -con las crónicas de época y como si la novela misma fuera una crónica de época.« (Ruffinelli, 1993: 205) Hinzuzufügen ist, dass er sich nicht auf eine Parodie des juristischen und journalistischen Schreibens beschränkt, sondern wie gerade gesehen, das literarische Schreiben selbst parodiert, dessen subversive Funktion in einer Zeugenaussage von Matildes Freundin Alicia Duquestrada beschworen und gleichzeitig ironisch kommentiert wird: »Oliverio Castañeda solía aconsejar a Matilde lecturas de libros de su propiedad, los cuales en ocasiones también me facilitaba a mí; libros que, ahora entiendo porque me lo ha explicado mi papá, trataban de pervertir nuestra virtud y nuestras creencias religiosas. / [...] de circulación prohibida por el Santo Papa y perseguido por 'los curas'.« (197) In Anknüpfung an diese Aspekte wurde der Roman als literarisches Panorama der sozialen Verhältnisse im León der dreißiger Jahre interpretiert, einer Gesellschaft, in der die Macht sich seit der Kolonialzeit nahezu unverändert über die staatlichen und religiösen Institutionen und insbesondere die Familie perpetuiert: »Es obvio que la familia se constituye en la forma misma del poder no sólo a través del ejercicio directo de éste, sino a través de sus códigos morales y sus prácticas sociales. Es decir, [...] la familia Contreras está emparentada con el Estado. Pero el parentesco con el Estado no sólo es sanguíneo sino de clase. Por lo tanto, los códigos morales y las prácticas sociales de esta clase son los que oficializa el Estado, apoyado por la Iglesia.« (Salmón, 1993: 211) Wie das Verhalten Castañedas, der offensichtlich intime Beziehungen zu vier Frauen gleichzeitig unterhält, als Untergrabung der Einheit der Familie Contreras sowie der Familie mit dem Staat und somit als Anschlag auf die Macht und die soziale Ordnung verstanden wurde, da er die Falschheit ihrer moralischen Codes offen lege (vgl. Salmón, 1993: 213), so wurde dem Roman ein gegen die vorrevolutionären Verhältnisse in Nicaragua gerichteter subversiver Charakter zugeschrieben. 32 Castañeda wird in dem Moment zur ernsten Gefahr
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Vgl. Salmón (1993: 214), Kozak Rovero (2001: 36) und Rodríguez Rosales (1999: 40). Für
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für die soziale Ordnung, als er im Prozess nicht länger schweigt, sondern seine intimen Beziehungen zu den Frauen der Familie Contreras enthüllt. Gegen diese Untergrabung der heiligen Instanzen und der tragenden Säulen der Macht interveniert die Guardia Nacional, indem sie Zeugen zum Schweigen bringt (zum Teil durch Abschiebung ins Ausland), Briefe verschwinden lässt und schließlich Castañeda »auf der Flucht« erschießt, (vgl. Wellinga, 1991: 3; Salmón, 1993, 211-213; Kozak Rovero, 2001: 30) Das eigentliche Verbrechen Castañedas besteht nicht in dem Anschlag auf das Leben einiger verdienter Mitglieder der Leoneser Oligarchie, sondern in der Attacke gegen den Mythos der Überlegenheit dieser herrschenden Klasse, insbesondere ihrer moralischen Superiorität. (vgl. Acevedo, 1991b: 165) Diese verleiht dem Text zusätzlich zu seinem ironischen und parodischen einen explizit satirischen Charakter, zielt die Satire doch im Unterschied zur Parodie direkt auf einen außerliterarischen Bezugspunkt, in diesem Fall die Leoneser Gesellschaft, die entlarvt und der Lächerlichkeit preisgegeben wird.33 In der Tat bietet das Buch zahlreiche Anhaltspunkte für eine solche Lektüre, die im Übrigen die für die nueva novela histórica konstatierte »Politisierung« bestätigt: Castañeda wird (auch) als politische Person konstruiert, die von dem in seiner Heimat Guatemala regierenden Diktator Jorge Ubico verfolgt und möglicherweise Opfer eines Komplotts Ubicos und Anastasio Somoza Garcías wird, der sich anschickt, die ganze Macht in Nicaragua an sich zu reißen. Privates und Politisches vermischen sich unentwirrbar, (vgl. 38, 294, 441) Castañedas Ermordung »auf der Flucht« durch Angehörige der Guardia Nacional gar kann als Allegorie der Ermordung Sandinos im Jahr 1934 verstanden werden: »Medianoche. Cementerio. El prisionero corre. Conocemos esa historia. ¿Quién no la conoce en la desgraciada Nicaragua?« (436), kommentiert der Erzähler-Journalist Manolo Cuadra in seinem Text (erneut eine Fiktion in der Fiktion) den Ausgang des Kriminalfalls. Die Unregelmäßigkeiten und Formfehler, die diesen begleiten, stehen für die Situation der völligen Rechtlosigkeit, die Nicaragua mit der endgültigen Machtübernahme durch Somoza bevorsteht, wie der Richter Mariano Fiallos resigniert feststellt: »Ellos deciden qué es lo que yo debo averiguar [...]. Deciden exhumar cadáveres, me secuestran testigos, y ahora se roban pruebas del proceso. Esta es la nueva ley que hay en Nicaragua. La que le van a aplicar a Sandino,
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Acevedo (1991 b: 164) ist Castigo divino gar »una novela sobre la Revolución, pero es una narración escrita desde la revolución«, geschrieben von einem ihrer wichtigsten Architekten und Ideologen. Der Roman lasse den Beginn der langen Diktatur der Somozas erstehen, die mit der sandinistischen Revolution ende. Diese Diktatur könne jetzt aus einer neuen Perspektive gesehen werden. Der Text dramatisiere die sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen, die zur Entstehung der Diktatur und ihrer Aufrechterhaltung gefuhrt hätten. Zur Funktion der Satire im Roman von Ramírez vgl. Kozak Rovero (2001: 35), allgemein auch von Wilpert (1979: 714).
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de seguro.« (423) Diese anachronistischen Verzerrungen stehen zweifellos im Dienst der Politisierung des Romans. Die Ermordung Castañedas im Roman am 24. Dezember 1933, also noch vor Sandinos Ermordung am 21. Februar 1934 (der historische Castañeda stirbt erst im Juli 1936), und die Verdichtung der Ereignisse auf die beiden Jahre 1932 und 1933 ermöglichen erst diese allegorische Funktion des Romans: Die Ereignisse um den Prozess werden zur Allegorie auf die Situation des gesellschaftlichen Umbruchs in Nicaragua (Abzug der US marines, Niederlage des Sandinoschen Befreiungsheers und Aufstieg Somozas an die Macht), der gewaltsame Tod Castañedas wird zum Menetekel der Erschießung Sandinos. (vgl. Wellinga, 1991: 6; Acevedo, 1991b: 166) Wellinga weist unter Berufung auf Ramírez selbst auf einen weiteren Aspekt der Politisierung des Romans im Kontext der ausgehenden achtziger Jahre hin, als das sandinistische Regime in die Krise kam und sich zeigte, dass die Revolution keineswegs die alten sozialen Strukturen aufgelöst hatte. Der Skandal, den das Erscheinen des Romans in Nicaragua provozierte, habe gezeigt, so Wellinga, dass sich in den mehr als fünfzig Jahren nicht viel verändert habe. Für Sergio Ramírez sei das Buch auch eine Art von Begleichung alter Rechnungen gewesen, (vgl. Wellinga, 1991: 6) Was María Cristina Pons allgemein für den neuen historischen Roman in Hispanoamerika konstatierte, trifft zweifellos auch auf Castigo divino zu: dass die Vergangenheit keine abgeschlossene, klar definierte Zeit ist, sondern sich verändert und sich mit einer Gegenwart verbindet, die ebenso unabgeschlossen, veränderlich und offen ist, was dem neuen historischen Roman eine Dimension der Reflexion und einen politischen Charakter gebe. (vgl. Pons, 1996: 265f., 268) Dennoch griffe eine solche ausschließliche Lektüre des Romans als politischer Allegorie zu kurz. In dem bereits zitierten Aufsatz hat Salmón auf eine weitere subversive Seite hingewiesen, die seinen narrativen Diskurs kennzeichnet: »El discurso narrativo de la novela es en cierta forma un discurso revolucionario ya que juega con el discurso del poder y lo subvierte. El juego radica en escribir una novela utilizando todos los clichés de 'veracidad' que emplea la burguesía, tales como el discurso jurídico, el religioso, el reportaje periodístico, los telegramas y los discursos científicos sobre el crimen, producidos durante la batalla periodística entre el Dr. Darbishire y el Dr. Salmerón.« (Salmón, 1993: 214) Fiktion und Realität verquicken sich unentwirrbar. Besonders in der Vermischung von Metaroman, historischem Roman, Kriminalroman und Bericht über einen Gerichtsprozess drücke sich eine Auflösung der Grenzen zwischen Geschichte und Fiktion aus, stellt Acevedo (vgl. 1991b: 155, 156, 160-164) fest. Der Rekurs auf die Erzähl Strategien der nueva novela histórica zielt nicht auf die Konstruktion einer (neuen) historischen Wahrheit, sondern mündet in die definitive Unmöglichkeit, so etwas wie Wahrheit zu rekonstruieren, (vgl. Wellinga, 1991: 3) Die breit dokumentierten Zeugenaussagen sind voller
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Widersprüche (zum Teil bei der gleichen Person) und entziehen sich in ihrer Vielstimmigkeit jeder »Wahrheitsfindung«, (vgl. z.B. 103-108) Auch der Versuch, die Geschichte (auch) »von unten«, aus der Sicht der Subalternen, zu erzählen, wie ihn Kozak Rovero (vgl. 2001: 37) fíir Castigo divino noch geltend macht, mündet nicht in einer neuen, alternativen Wahrheit. Selbst wissenschaftliche Untersuchungen, Exhumierungen, Autopsien und Tierversuche bringen keine eindeutigen, verifizierbaren Resultate, (vgl. z.B. 271-274) »¿Inocente, culpable?« heißt es am Ende des Zeitungsartikels Manolo Cuadras mit dem Titel »Los trágicos sucesos de la Nochebuena en León«, und er schließt: »Dejamos estas preguntas al viento que estremece en imprevisto soplo las araucarias de las silentes alamedas del campo santo donde ahora reposa.« (440) Auf der Suche nach der Wahrheit (»En busca de la verdad científica« so der allegorische Titel eines Artikels des Dr. Darbishire, in dem dieser die Ergebnisse der Tierversuche in Frage stellt, mit denen die Giftmorde nachgewiesen werden sollen; vgl. 288) landet der Roman bei der Unmöglichkeit, sie jemals zu finden, und formuliert in einer metafiktionalen Passage in dem bereits erwähnten Artikel Manolo Cuadras en passant ein ganzes erzählerisches Programm: »¿Quién dice verdad y quién dice mentira? Acogiéndonos a la ley de imprenta, damos ambas versiones con serenidad y sin temor. Que el lector juzgue.« (438) In diesem dialogischen, relativierenden und jeglichem Mythos einer historischen Wahrheit abschwörenden Charakter des Romans wurden entscheidende Elemente für einen grundlegenden Wandel im Schreiben Sergio Ramírez', weg von den einem realistischen Paradigma verhafteten und Repräsentativität beanspruchenden Schreibformen »im Namen des Volkes«, gesehen: »La puesta en escena de discursos literarios y no literarios a partir del develar el proceso de construcción del texto y el explícito reconocimiento de su carácter de ficción, desplaza la autoridad enunciativa del narrador y cuestiona la mimesis realista en la cual la narración se presenta a sí misma como una traducción de lo real desde una perspectiva omnisciente, omnipotente y omnipresente.« (Kozak Rovero, 2001: 35; vgl. Rodríguez, 1996: 12, 14-16; Acevedo, 1991b: 160)
Ruffinelli (1993: 202) hat einen Wandel von einer Literatur des »realismo barroco« zu einer multiplen und »postmodernen« Erzählweise ausgemacht, (vgl. ibid.: 203, 204, 206) In einem Interview verwahrte sich Sergio Ramírez selbst gegen eine schematische politische Interpretation des Romans: » [...] lo que yo traté de hacer es crear un universo novelístico que estuviera basado en un hecho real, tomando un hecho ocurrido en los años treinta en Nicaragua y extraer desde allí una lección narrativa más que una lección política, porque nunca fue mi intención reproducirlo políticamente, como si ese mundo enclaustrado de la vieja burguesía en la Nicaragua provinciana necesitara [de] una revisión crítica en la perspectiva de la Revolución.« (Ruffinelli/Corral, 1993: 191)
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Und in einem anderen Interview, das er im April 1988 der spanischen Tagszeitung Diario 16 gab, stellte er klar: » [...] yo no quiero ser comisario, sino testigo de la historia« (zit. n. Wellinga, 1991: 3). Gegen eine einseitige politisch-repräsentative Indienststellung der Literatur beharrt Sergio Ramírez hier auf der Selbstreferenzialität des Romans. Im Text selbst geht er in einer erzählerischen Autoreferenzialität sui generis noch weiter. An mehreren Stellen schildert der Erzähler, dass eine der Quellen des Romans das (am 17. Oktober 1986 vom Autor geführte) Interview mit dem an den Ereignissen beteiligten Capitán Prio sei, das der Autor selbst auf Tonband aufgezeichnet habe und dessen wörtliche Transkription in Auszügen im Text zitiert wird. (vgl. 414-416, 420-422) Wie wir vom Autor selbst wissen, sind alle diese Dokumente rein fiktiv. Der »Wahrheitskontrakt« des testimonios wird aufgelöst, die erzählerische Selbstironisierung durch die Verwendung eines »Pseudo-testimonios« lässt den Charakter des Romans als Allegorie auf die definitive Unmöglichkeit der Konstruktionen einer historischen Wahrheit, auf die unentwirrbare Vermischung von Wahrheit und Erfindung, Geschichte und Fiktion umso schärfer hervortreten. Auch die Widmung, die dem Buch vorangestellt ist, dekonstruiert den iesfi/nowo-Diskurs, indem sie sich gleichberechtigt an die »combatientes, / en todos los frentes de guerra, / que han hecho posible este libro« und seine Ehefrau »Gertrudis, que inventó las / horas para escribirlo« (9) wendet. Nicht nur die Klischees eines »bourgeoisen« Realismus bzw. Wahrheitsanspruches (s.o. den zitierten Aufsatz von Salmón, 1993) werden in Frage gestellt, sondern auch und gerade das Realitätsparadigma des revolutionären literarischen Dikurses par excellence, der im testimonio eine post-bourgeoise Form kultureller Repräsentation entdeckt zu haben glaubte, die sich durch einen ungleich höheren Wahrheitsgehalt auszeichne. Dies ist umso bemerkenswerter, als Sergio Ramírez' bedeutendster testimonio (La marca del Zorro), der nahezu paradigmatisch die kanonisierten Kriterien des fes/i/wow'o-Diskurses erfüllt, im gleichen Zeitraum entstand und sogar nach Castigo divino im Jahr 1989 erschien. Castigo divino stellt also nicht nur im Werk Sergio Ramírez' eine entscheidende Wende dar, sondern für die nicaraguanische Romanliteratur insgesamt.34 Bereits im Jahr 1988 nimmt
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Was das Werk von Sergio Ramírez angeht, so wäre es korrekter, von einem Wiederanknüpfen an frühere Romane zu sprechen, insbesondere an ¿Te dio miedo la sangre? (1977). In seiner Studie über diesen zweiten Roman von Ramírez kommt Arias zu dem Schluss, dass »el texto es una larga meditación sobre la naturaleza de las posibilidades de constituir una memoria histórica, que termina en una meditación sobre la imposibilidad de constituir una historia que no sea un mito« (Arias, 1998a: 142). Der Roman stehe für die definitive Unmöglichkeit, die Nation über den autoritären Staat zu schaffen, markiere aber auch »el fin de novelar la nación con los parámetros totalizantes que intentan constituir la identidad nacional a partir de lo literario« (ibid.: 155, vgl. 131-157).
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der Roman im Grunde die Entwicklung vorweg, die in den neunziger Jahren von zahlreichen Autoren im Zuge des Aufschwungs der nueva novela histórica eingeschlagen wird. In diesem Sinne ist seine Bedeutung mit der von Omar Cabezas' La montaña es algo más que una inmensa estepa verde zu vergleichen, der 1982 definitiv den testimonio-Diskurs zur verbindlichen literarischen Richtschnur machte.35 Mit Castigo divino ist noch vor dem Ende des Jahrzehnts der achtziger Jahre dieser Diskurs überholt, die Weichen sind neu gestellt, die Paradigmen haben sich verändert.
Mythos und Parodie: Nicht erzählen, wie es gewesen sein soll Dies gilt gerade für die beiden in den neunziger Jahren erschienenen Romane des Autors. Wie dem zehn Jahre zuvor publizierten Roman Castigo divino legt Sergio Ramírez auch Margarita, está linda la mar (1998a) reale Ereignisse der nicaraguanischen Geschichte zugrunde: die triumphale Rückkehr Rubén Daríos im Jahr 1907 und seinen Aufenthalt in Nicaragua 1908 sowie seine endgültige Heimkehr und seinen Tod in León im Jahr 1916 auf der einen Seite, den Besuch des Diktators Anastasio Somoza Garcia in León am 21. September 1956, wo er von dem Parteitag der regierenden Liberal-Konstitutionalistischen Partei zum Präsidentschaftskandidaten proklamiert und am Abend des gleichen Tages von dem jungen Dichter Rigoberto López Pérez erschossen wurde, auf der anderen. Die Referenzialität des Romans wird hier also nicht wie in Castigo divino durch die Geschehnisse und Fakten rund um einen realen Kriminalfall bestimmt, sondern von zwei politisch-kulturellen Ereignissen zu unterschiedlichen Zeitpunkten (Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts und Mitte der fünfziger Jahre), die beide als prägend für ihre jeweilige Epoche und als konstituierend für die jüngere nicaraguanische Geschichte insgesamt angesehen werden können. Die beiden zeitlich auseinander liegenden Geschichten werden parallel erzählt, sind allerdings durch zahlreiche Elemente verknüpft. Die handelnden Figuren des Romans (sowohl die auf realen Personen der nicaraguanischen Geschichte basierenden wie die frei erfundenen) sind durch persönliche Beziehungen verbunden, so zum Beispiel durch die freundschaftlichen Bande Rubén Daríos zur Familie Debayle und die Ehe Anastasio Somoza Garcías mit Salvadora Debayle, einer der beiden Töchter der Familie, der Rubén Dario
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Cabezas' wie Ramirez' Buch gehören zu den Büchern mit den höchsten Auflagen und wahrscheinlich meisten Lesern im Nicaragua der achtziger Jahre. Castigo divino erschien zunächst in Fortsetzungen in der Tageszeitung El Nuevo Diario, der Zeitung mit der damals größten Verbreitung in Nicaragua (vgl. Reichardt, 1994: 558); die zweite Auflage des Buches von 1989 bestand aus 10000 Exemplaren. Schließlich wurde das Buch als Serie in sechzehn Teilen von Jorge Ali Triana verfilmt, (vgl. Wellinga, 1991: 6)
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ebenso wie ihrer Schwester Margarita Verse widmete (vgl. dazu unten); aber auch durch die Liebesbeziehung des fiktiven Norberto zu der Enkelin Darios (La Mora Zela) und in Gestalt der fiktiven Personen, die beide Epochen erleben: La Caimana und Quirón. Der erzählerische Faden, der beide Geschichten unmittelbar zusammenbringt, besteht jedoch in den Versuchen des jungen Poeten Rigoberto López Pérez und der Teilnehmer der »mesa maldita«, das Leben Rubén Darios zu rekonstruieren, (vgl. Rodríguez Rosales, 1999: 59) Diese »mesa maldita«, mit der Sergio Ramírez einen intertextuellen Bezug zu Castigo divino herstellt, hat auch hier die Funktion eines »Stammtischs«, dessen Mitglieder (außer dem Poeten noch der Capitán Prio, ebenfalls handelnde Figur in Castigo divino, Norberto, Segismundo und Erwin; vgl. 30f., 32) die Ereignisse kommentieren und gleichzeitig das Attentat auf Somoza vorbereiten.36 Schließlich sind beide historische Ereignisse dadurch verbunden, dass sie für zwei konstituierende Mythen der nicaraguanischen Nation stehen, die überragende Bedeutung in der jüngsten Ideengeschichte des Landes gewonnen haben, insbesondere in dem mit dem Sturz der Diktatur verbundenen revolutionär-nationalistischen Projekt des Sandinismus: Rubén Dario als Symbolfigur der in der Dichtung fundierten nationalen Identität und Rigoberto López Pérez' Tat als Anfang vom Ende der Tyrannei, als Gründungsakt des modernen nicaraguanischen Nationalstaates." In diesem Sinne kann der Roman als Palimpsest verstanden werden, der über diese beiden Gründungsmythen geschrieben wurde. Mit den Techniken der Karnevalisierung und vor allem der Parodie unternimmt der Roman eine Dekonstruktion der mit diesen beiden historischen Schlüsselereignissen verbundenen, für das national-revolutionäre Projekt der siebziger und achtziger Jahre konstituierenden Mythen. Wie für die nueva novela histórica charakteristisch bedient sich Sergio Ramírez einer Reihe von narrativen Elementen und Strukturen, die schon Castigo divino kennzeichneten. In seiner Makrostruktur folgt der Roman einem systematisch durchgehaltenen Schema: Die beiden parallel erzählten Handlungsstränge werden zum Teil ohne Übergänge (mitten im Kapitel und von einem Abschnitt zum nächsten) ineinander montiert.38 Allerdings existiert
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Daneben gibt es eine Reihe weiterer intertextueller Bezüge zu Castigo divino: So wird zum Beispiel auf den »doctor Darbishire«, Oliverio Castañeda, Rosalío Usulutlán und Atanasio Salmerón angespielt, (vgl. 70, 204, 257) Das erfolgreiche Attentat des jungen Dichters auf Anastasio Somoza García gilt in der sandinistischen und dem Sandinismus nahe stehenden Historiografie als Ende einer langen Phase der Resignation und der Ruhe im antidiktatorischen Kampf und als Beginn einer neuen Mobilisierung, die dann zum Sturz der Diktatur führen sollte, (vgl. Mackenbach, 1995a: lOlf.) Der Roman hat insgesamt einen harmonischen Aufbau: Er besteht aus zwei Teilen mit acht bzw. neun Kapiteln und einem als »Intermezzo tropical« bezeichneten Teil zwischen Teil eins und zwei sowie einem Schlusskapitel mit dem Titel »Palabras postreras«. Die Kapitel folgen strikt dem Schema, dass abwechselnd die beiden Handlungsstränge vermischt bzw. nur der von 1956 erzählt wird; nach folgender Logik: Kapitel 1: 1956-1907-1956, Kapitel 2: 1956,
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auch hier innerhalb der Mikrostruktur der einzelnen Kapitel keine chronologische Reihenfolge, sondern ein komplexes Geflecht von Analepsen und Prolepsen. Diese Anachronismen werden wie schon in Castigo divino verbunden durch direkte Eingriffe des Erzählers, mit denen er sich metafiktional an den Leser wendet und die Zeitsprünge kommentiert (z.B.: »permítanme que yo haga volar las hojas del calendario en raudo torbellino«, 93; »Dejo, pues, otra vez, volar bajo esas aspas las hojas del calendario, y ustedes vuelen con ellas. Oigan: [...] « , 186; usw.). Auch intertextuelle Elemente spielen eine - allerdings wesentlich geringere - Rolle: das von Ramírez »überschriebene« Curriculum vitae Anastasio Somoza Garcías und der authentische Abschiedsbrief von Rigoberto Pérez López an seine Mutter vom 21. September 1956, beide im Teil »Intermezzo tropical«, sowie die Zusammenfassung von Informationen über die Lebenswege der handelnden Personen nach dem Attentat im letzten Kapitel (»Palabras postreras«) mit authentischen und fiktiven Daten. Ebenso bedient sich der Autor der Vermischung von authentischen mit historischen Personen. Schließlich übernimmt er wie schon in Castigo divino Techniken aus dem Theater bzw. dem Film, indem an Schlüsselstellen der Handlung die Dialoge wie in einem Theatertext bzw. einem Filmdrehbuch wiedergegeben werden, eingeschlossen Bühnen- bzw. Regieanweisungen, was diesen Passagen eine zusätzliche Dramatik und ein gesteigertes Tempo gibt. Alle diese Elemente verleihen Margarita, está linda la mar seinen Charakter als Palimpsest und reihen ihn architextuell in die nueva novela histórica ein. Allerdings kann von dem Roman noch in einem wesentlich spezifischeren Sinn als Palimpsest gesprochen werden. Der Text beschreibt nicht nur (wie zum Beispiel auch Castigo divino) Produkte, Gebräuche, Orte der jeweiligen Epoche. Er rekonstruiert und überschreibt auch die Sprache Rubén Daríos und des modernismo, seine Poesie und die von ihm beschworenen Mythen. Über den ganzen Text verstreut sind nicht nur Fragmente, Zitate und Anspielungen auf das Werk Darios (vgl. Rodríguez Rosales, 1999: 60f.), Aufbau und Sprache des Romans insgesamt lesen sich wie ein Palimpsest der Sprache Darios: »Los títulos de los capítulos, como de la misma novela, son versos darianos: 'Margarita, está linda la mar...', es el primer verso del poema 'A Margarita Debayle', escrito en la Isla del Cardón, 1908 y dedicado a una de las hijas del Dr. Debayle. 'Los bárbaros, cara Lutecia', primera estrofa del poema 'A Francia', escrito en 1893 y publicado en El canto errante (1907); 'que púberes canéforas te ofrenden el acanto', de 'Responso a Verlaine', escrito en 1896 y publicado en
Kapitel 3: 1956-1907-1956 usw. Ausnahmen stellen die letzten beiden Kapitel, »Fin de fiesta« und »Palabras postreras«, dar, die sich ausschließlich auf Ereignisse von 1956 bzw. danach beziehen. Nimmt man sie als von Teil zwei unabhängige Kapitel, was sie ihrem zusammenfassenden bzw. weiterführenden Charakter nach sind, dann wird der symmetrische Aufbau des Romans noch deutlicher.
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Prosas Profanas. 'Prodigios se han visto', de 'Canto de Esperanza', (Cantos de Vida y Esperanza). 'La princesa está triste', del poema 'Sonatina', (1893), y que aparece en Prosas Profanas; 'Perlas de Bassora', del poema La cabeza del Rawi' (1884), de Epístolas y Poemas (1885).« (Rodríguez Rosales, 1999: 60)
Schließlich tragen nicht nur Figuren des Romans Namen aus zahlreichen Gedichten und Erzählungen Darios (wie La Mora Zela aus dem Gedicht »Ali«, La Reina Mab aus der gleichnamigen Erzählung oder La Rosa Niña aus dem Gedicht mit demselben Titel; vgl. Rodríguez Rosales, 1999: 61). Auch die der griechischen Mythologie entlehnten Gestalten in Darios Werk werden zu Figuren in Ramírez' Roman, insbesondere Qirón (Chiron) aus dem berühmten Gedicht »Coloquio de los centauros« (Prosas Profanas). In einem Interview mit Julio Valle-Castillo äußerte sich Sergio Ramírez zu diesem Aspekt des Romans: »El lenguaje modernista a mí siempre me ha fascinado y en efecto [...] yo he investigado y estudiado para elaborar el modernismo: sedas marchitas, chisporroteos orientales, escritura artística. Es un colorante que no se ha perdido. Es el poder del verbo. Aquí en verdad el verbo se hizo carne y no hemos dejado de convivir con él. Nicaragua sigue siendo modernista. El lenguaje dariano de las revistas, MUNDIAL y ELEGANCIA, me sirvió mucho para la novela; también el lenguaje de los poetas y de los prosistas nicaragüenses del modernismo, como Juan Ramón Avilés director de LA NOTICIA y Francisco Huezo, quien llevó un detallado diario de los últimos días de Rubén Dario.« (Valle-Castillo, 1998: 2)
Mit Bezug auf Studien zum modernismo in Spanien, insbesondere zum Werk Ramón Maria del Valle Incláns, hat Isolda Rodríguez Rosales von »esperpento« gesprochen, der den Roman Ramírez' wie das Werk Valle Incláns kennzeichne, das heißt eine Stilisierung, die systematisch die Realität deformiere und lächerlich mache. Als »esperpéntico« sieht sie auch die direkten Hinwendungen des Erzählers an den Leser, mit denen der Stil des modernismo des 19. Jahrhunderts kopiert werde, die Theaterdialoge mit Regieanweisungen, »recurso estilístico que está a caballo entre la narración y la obra teatral« (Rodríguez Rosales, 1999: 65), und eine Reihe von deformierten bzw. »komischen« Figuren, wie Quirón, den Albino Tirso, den vom Kampf entstellten Boxer El León de Nemea, das Mannweib bzw. die Transsexuelle La Caimana usw. (vgl. ibid.: 61-64).39 Julio Valle-Castillo hat in einem Interview mit Sergio Ramírez (vom April 1998) in diesem Zusammenhang von einer zunehmenden Karnevalisierung im Werk des Autors seit Castigo divino gesprochen.
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Vgl. dazu auch den aufschlussreichen Aufsatz »Héroes y esperpentos de la historia. El general en su laberinto y la nueva novela histórica nicaragüense« von Erick Aguirre (2001a), der den Roman von Gabriel García Márquez mit dem von Sergio Ramírez vergleicht.
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(vgl. Valle-Castillo, 1998: 2)40 In einem Essay über dessen Roman Réquiem en Castilla del Oro (1996) wurde unter Bezug auf Bachtin konstatiert, dass »el comportamiento paródico opera a partir de la memoria, de los trazos del texto (en el caso del género) originales, una vez que la risa surge justamente del contraste de ahí resultante« (Trusen, 1998: 3). In der Tat lässt sich unter Rekurs auf die schon klassische Unterscheidung Genettes zwischen Hypotext und Hypertext (vgl. Genette, 1993: 14-21) festhalten, dass der Roman Sergio Ramirez' über ältere Texte geschrieben ist, und zwar in doppelter Weise: Was im Falle Valle-Castillos (1998) auf der einen Seite der in der kollektiven Erinnerung lebendige Mythos der Conquista und der Kolonisierung ist, verkörpert in Ramírez der Mythos des »principe de las letras castellanas« und Begründers der Nationalkultur, Rubén Dario, sowie der Mythos vom Gründungsakt des Tyrannenmords durch Rigoberto López Pérez. Und was auf der anderen Seite für Valle-Castillo die Chroniken Oviedos und vieler anderer sind, ist für Ramírez das Werk Rubén Darios (sowie der Brief Rigoberto López Pérez'). Wie dargestellt, rekonstruiert Ramírez das Ambiente zu Beginn des 20. Jahrhunderts und imitiert den Stil des modernismo bis in Anspielungen und wörtliche Zitate Darios. Diese stilistische Transposition, dieses Neu- und Überschreiben in vulgärem Stil einer edlen Tat bzw. eines edlen Textes (voller Anachronismen, Doppeldeutigkeiten, Ironisierungen und Deformationen), verleiht dem Roman seinen burlesken und parodischen Charakter, (vgl. Trusen, 1998a: 3) Diese Parodierung hat eine klare Funktion: die Dekonstruktion der beiden für die Konstitution der nicaraguanischen Nation so bedeutenden Mythen. Die beiden Gründerheroen werden sozusagen auf ein durchschnittliches menschliches Maß zurechtgestutzt, mit all ihren Schwächen, wie der Autor in einem Interview ausführte: »Hablo de estas personas de carne y hueso sin miedo, aunque hasta ahora muchos tratan de ocultar algunos datos de su vida. Todo el mundo sabe que Darío era dipsómano, pero está como prohibido decirlo a nivel oficial. [...] Rigoberto y los demás conspiradores [...] tenían 25-26 años. [...] nadie que tiene esa edad lleva adelante acto de heroísmo con una conciencia de héroe y la bandera por delante. Eran unos muchachos locos, que se propusieron una locura: pretender matar a Somoza. Pero ésas son las locuras que hacen historia. Por lo tanto, yo concibo a estos personajes como muy bromistas, que conservan sentido del humor hasta el final.« (Ramos, 1998: 6)
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Vgl. auch Aguirre, 2001a. Rodríguez Rosales (1999: 64) bemerkt dazu: »Carnaval o circo, con personajes disfrazados, que representarán la Judea; la misma tía Bernarda tiene la sensación de que "... un circo de atracciones hubiera acampado dentro de su casa' (lbid: 91). Carnavalesca es la manifestación somocista el día de su llegada a León: gente llegada a pie de los barrios con sus gorras rojas, y marchantas nalgonas, fresqueras ensombreradas, barrenderos municipales de zapatones ... empleados públicos de corbatas lánguidas' (Ibid: 15).«
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Der Roman geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er die Bedeutung der darioschen Poesie für die Nicaraguaner relativiert. Wie einen Heiligen verehre man den großen Poeten, versichert der Capitán Prío in einem der vielen Stammtischgespräche der »mesa maldita«: »Nicaragua entera se sabía de memoria sus poesías de tanto leerlas.« Dem widerspricht Rigoberto: »Casi no las habían leído, vea que extraño, Capitán [...] . Los libros importados en 1906, según los registros de aduana, fueron mil trescientos veinte en total. ¿Cuántos de ésos eran de Rubén? No se sabe. Tal vez ni cincuenta. Y aquí no se imprimió ninguno.« Und Erwin kommentiert abschließend: »Lo adoraban los demás borrachos [...] . Un país de analfabetos no se preocupa de la poesía.« (280) Indem er Figuren, Themen und Topoi der griechischen Mythologie, wie sie die poetische Welt Rubén Darios durchziehen, direkt in seinen Roman transponiert und sie zum Teil zu tragenden Personen der Handlung macht (vor allem Chiron, einen der Kentauren), (vgl. Midence, 1998: o.S.) bedient sich Sergio Ramírez schließlich einer weiteren parodischen Strategie: Welttheater im Stil der griechischen Tragödie auf der Provinzbühne der tropischen Kolonialstadt. Auch in dieser Hinsicht offenbart sich der Roman als Palimpsest: Die Tragikomödie in der Provinz ist über das klassische Drama und die griechische Mythologie geschrieben. Der Tyrannenmord - zentrales Thema des Romans, wie schon paratextuell in dem vorangestellten Epigraph von Aristophanes zum Mord an Diagoras evoziert (vgl. 11) - wird aus den lichten Höhen des Olymps in die tropischen Niederungen der von Vulkanen durchzogenen Weiten des nicaraguanischen Westens (wo damals gerade die Baumwollproduktion im großen Stil Einzug hielt) transponiert. Damit gelingt Ramírez nicht nur eine weitere parodische Dekonstruktion der mythenbeladenen Geschichte Nicaraguas, er fügt auch dem in Lateinamerika so verbreiteten Diktatorenroman eine neue Variante hinzu.41 Nicht von ungefähr kommt der aus der griechischen Mythologie wie aus der poetischen Welt Darios entlehnten Figur
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Midence (1998: o.S.) schreibt in diesem Zusammenhang: » [...] se nota la presencia dictatorial vista desde dos puntos de vista: el maravilloso carpentariano y el cotidiano increíble abordado desde la contraposición objetiva. Es decir [...] en todo el desarrollo de la novela [...] sentimos la mezcla de lo cotidiano y lo increíble narrado con matices de maravilla, fábula y mito.« Gisela Kozak Rovero (2001: 37) hatte bereits zu Castigo divino angemerkt, dass sich die Darstellung des Diktators durch Ramírez deutlich von den mythischen Figuren in zahllosen lateinamerikanischen Romanen (von García Márquez, Roa Bastos, Uslar Pietri, Asturias u.a.) unterscheide, in denen vor allem auf den »poder unipersonal« abgezielt werde. Ramírez interessiere es dagegen, die Tyrannei als Produkt sozialer Verhältnisse darzustellen, aus denen Verantwortlichkeiten, Opfer und Henker, Machtverhältnisse unterschiedlichster Art resultierten, die sich in gebrochener Weise in den Leben der Individuen fortsetzten. Dieser Entzauberung des Diktatorenmythos durch seine soziale Verortung fugt Ramírez mit Margarita, está iinda la mar eine weitere Entmythisierung durch Karnevalisierung und Parodierung hinzu. Zum lateinamerikanischen Diktatorenroman allgemein vgl. Alcántara Almánzar, 1981.
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Chiron/Quirón in dieser Parodierung der Geschichte Nicaraguas eine tragende Rolle zu. Dies wird insbesondere an zwei zentralen Stellen des Romans deutlich: Der Gelehrte Debayle hat sich in Absprache mit der Witwe Darios das Recht gesichert, nach dessen Tod das Gehirn aus der Leiche zu entfernen, um so dem Geheimnis des Genies der hispanoamerikanischen Literatur wissenschaftlich auf den Grund zu gehen. Es landet jedoch zunächst nach einem Streit mit dem Bruder der Witwe, der seinen Anspruch auf die Hirnmasse geltend macht, bei dem US-Kommandanten der Polizei in León, Cyril Appleton. Auf Befehl des sterbenden Somoza werden dem erschossenen Attentäter Rigoberto López Pérez von Mitgliedern der Guardia Nacional die Hoden abgeschnitten. Auch sie finden sich zunächst im Hauptquartier der Guardia Nacional, im Büro des US-Kommandanten Van Wynckle. Beide Organe werden von Quirón aus den Büros entwendet und ins Bordell von La Caimana gebracht. Indem diese Symbole der Intelligenz und des Muts des nicaraguanischen Volkes zunächst in den Händen der US-Invasoren enden, um schließlich in einem Bordell zu verschwinden, wird die parodische Strategie des Autors auf die Spitze getrieben: Mut und Intelligenz als Spielball ausländischer Militärs und käuflicher Frauen, das nicaraguanische Volk eine Mischung aus Paria des großen Bruders im Norden und Hurenkind. Paradoxerweise werden diese oft beschworenen Nationaltugenden jedoch noch in ihrer parodischen Dekonstruktion als Volkstugenden rekonstruiert und bestätigt. In Nicaragua habe es schon immer eine große Bewunderung für »cabezones« und »huevones« gegeben und beide hätten immer ein tragisches Ende genommen, führte Sergio Ramírez in dem bereits zitierten Interview aus und fuhr fort: »Rubén Dario fue cabezón desde chiquito, allí está la foto a los tres años, un niño cabezón, un niño prodigio, precoz, genio y Rigoberto López Pérez, un muchacho resuelto, decidido, valiente, heroico, que va a ajusticiar al dictador casi solo y bailando, gran admirador de Darío, es decir, del cerebro, del genio nacional y ambos tienen una muerte horrible. A Darío preparándolo para sus honras fúnebres lo despedazan y por último le sacan el cerebro y a López Pérez lo acribillan aún después de muerto y le cortan los testículos. El valor y la inteligencia aquí en Nicaragua han ido juntos, pero, lamentablemente, terminan confrontados, opuestos. Sus símbolos: cerebro y huevos arrancados terminan ante un juez de policía, en una oficina pueblerina. En Nicaragua, los sicarios, los guardias siempre le han cortado los huevos a los conspiradores, es decir, a los valientes y estos valientes, al menos en el caso de la novela, son los inteligentes. Todos los muchachos implicados en el complot son asesinados y castrados.« (Valle-Castillo, 1998: 1)
Aus den Höhen des daríoschen Olymps der Poesie (von dessen Aura auch Rigoberto López Pérez beseelt ist) gelangen die symbolischen Organe auf einem Umweg über die von den USA kontrollierten Repressionsinstanzen hinab in
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die Halb- und Unterwelt des Bordells. 42 Hirn (= Intelligenz und Poesie) und Hoden (= Männlichkeit und politischer Mut) leben in populärer Gestalt weiter, sie haben endgültig den Sieg über die Macht errungen, auch wenn sich das erst Jahrzehnte später bestätigen sollte. Der Roman lässt sich also auch als eine Allegorie des Verhältnisses von Macht und Poesie und des Sieges der Letzteren über die Erste lesen, als populäre Rekonstitution des Mythos von Rigobertos Gründerakt (»der Anfang vom Ende der Tyrannei«) und des Mythos von Darios Poesie als identitätsstiftender Instanz eines ganzen Volkes.43 Mit diesem Roman habe sich Sergio Ramirez auf das Territorium des nicht Geschriebenen, nicht schriftlich Dokumentierten, das heißt nicht in den offiziellen Geschichtsbüchern Vermerkte begeben, schrieb Erick Aguirre in seinem bereits erwähnten Aufsatz in Anlehnung an Carlos Fuentes. Diese literarische Gestaltung des Ungeschriebenen sei jeder offiziellen wie nicht offiziellen Biografie und auch der Fülle und Nüchternheit der historischen Informationen in den offiziellen wie den alternativen historiografischen Texten weit überlegen. 44 Gerade indem sich Ramirez nicht wie traditionelle Biografen nur für das öffentliche Leben und die Grammatik der Reden bzw. die Titel der Bücher der »großen Männer« der Geschichte interessiere, argumentiert Aguirre, Marcel Schwöbs Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichte Vidas imaginarias (vgl. 1972: 8) zitierend und an Jorge Luis Borges' Historia universal de la Infamia (1935) erinnernd, sondern für ihre unbekannten, menschlichen, alltäglichen, körperlichen Seiten, könne er höhere historische Glaubwürdigkeit beanspruchen als die Geschichtsschreibung. Die ehrfurchtslose Imagination der alltäglichen Züge und Verhaltensweisen der von der Geschichtsschreibung mythisierten historischen Persönlichkeiten resultiere in ihrer Vermenschlichung, in der Überschreitung rein positivistischer Datensammlung und der Auflösung der Grenzen zwischen dem Realen und dem Fantastischen, zwischen Geschichte und Fiktion. Die Entfernung von einer positivistisch verstandenen »wahren Geschichte« mit den Mitteln des Witzes, der Komik und der Ironie münde in die Suche nach einer »zweiten Geschichte« und einer »anderen Sprache«. Dies entspreche dem fortdauernden Interesse der hispanoamerikanisehen Schriftsteller, neue Definitionen der eigenen Identität in einer im Umbruch befindlichen Welt zu suchen, die nicht länger in bipolaren oder gar unipolaren Dimensionen zu begreifen sei, sondern
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Auch hier zeigen sich die karnevalesken Züge des Romans im Sinne Bachtins, der den grotesken Modus »der Darstellung des Leibes und des leiblichen Lebens« über Jahrtausende hinweg als bestimmend für die mündlich überlieferte wie die schriftlich fixierte Literatur begriff. (Bachtin, 1990: 18, vgl. 19; Bachtin, 1985: 177) Nicht von ungefähr sind, wie ich ausführlich im Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« dargestellt habe, beide Symbole männlich determinierte Organe, werden noch in ihrer populären Version die Gründermythen der nicaraguanischen Nation als maskuline konstruiert. Vgl. Aguirre (2001a) und Fuentes (1995: 13)
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längst multipolare Züge angenommen habe. Je mehr sich diese Suche nach innen kehre, introspektive Strategien verfolge, umso vielfältigere, gebrochene und komplexe Identitäten kämen zum Vorschein, (vgl. Aguirre, 2001a) Der neue historische Roman hat seine Bindung an die großen, mythisch beladenen historischen Meistererzählungen aufgekündigt. In dieser Hinsicht ist Margarita, está linda la mar repräsentativ für zahlreiche hispanoamerikanische und zentralamerikanische historische Romane, die in der Repräsentation der zerrissenen, gebrochenen und komplexen Realität der Region in ihren Romanwelten und in der narrativen Präsentation auf nicht mimetische Formen der Aneignung und Darstellung von außerliterarischer Wirklichkeit rekurrieren, insbesondere auf die Parodie und die Karnevalisierung.45 Bereits drei Jahre vor Margarita, está linda la mar hatte Sergio Ramírez schon im Titel seines Romans Un baile de máscaras (1995) einen unmissverständlichen Bezug zu Bachtins Begriff der Karnevalisierung der Literatur hergestellt. Auch hier steht die Karnevalisierung ganz im Dienst der Dekonstruktion des Mythos von der Geschichte der »großen Männer« bzw. der gesellschaftlichen und kirchlichen Autoritäten.46 Wie bereits dargestellt, umfasst die erzählte Zeit einen Tag, den 5. August 1942, Tag der Geburt des Autors, in dessen Geburtsort Masatepe.47 In diesem Roman praktiziert Ramírez, wie Valeria
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Vgl. dazu meinen bereits erwähnten Aufsatz (Mackenbach, 2001a), in dem ich mich u.a. mit folgenden in den letzten Jahren in Zentralamerika erschienenen Romanen auseinandersetze: Jaguar en Ilamas von Arturo Arias ( 1989, Guatemala: Editorial Cultura, Ministerio de Cultura y Deportes) und El misterio de San Andrés von Dante Liano (1996, México, D.F.: Editorial Praxis) - beide aus Guatemala-, Rey del Albor, Madrugada von Julio Escoto (1993, San Pedro Sula: Centro Editorial S.R.L.) - Honduras - , Tierra von Ricardo Lindo (1992, San Salvador: Cenitec) - El Salvador - , Asalto al paraíso von Tatiana Lobo (1992, San José: Editorial FARBEN) - Costa Rica - und Manosanta von Rafael Ruiloba (1997, Panama: Editorial Mariano Arosemena, Instituto Nacional de Cultura). Als »karnevalisierte Literatur« versteht Bachtin die »Literatur, die - direkt und unmittelbar oder indirekt, über eine Reihe vermittelnder Glieder - dem Einfluß der (antiken oder mittelalterlichen) karnevalistischen Folklore in der einen oder anderen Form unterlag [...] . Der gesamte Bereich des Ernsthaft-Komischen ist ein erstes Beispiel für diese Literatur.« (Bachtin, 1985: 120; vgl. Trusen, 1998: 3) Neben der grotesken Darstellung des Leibes sieht Bachtin die Profanierung und die Parodie als karnevalistische Kategorien, die einen »gewaltigen formalen, gattungsbildenden Einfluß auf die Literatur haben«, darunter »die karnevalistischen Lästerungen, das ganze System karnevalistischer Degradierungen und Erniedrigungen, die karnevalistischen Obszönitäten, die mit der Zeugungskraft der Erde und des Körpers verbunden sind, die karnevalistischen Parodien auf heilige Texte und Aussprüche u.ä.« (Bachtin, 1985: 138; vgl. 139-143; Bachtin, 1990: 49-55) Wie aus dem Lehrbuch Bachtins entsprungen erscheint die Figur des Padre Misael Lorenzano, der »concursos de miembros viriles« durchfuhrt »y él mismo toma las medidas« (109), allerdings ganz diszipliniert: »veía y media, pero no tocaba« (113). (vgl. zur grotesken Darstellung von körperlichen, besonders Geschlechtsorganen Bachtin, 1990: 15-23) Vgl. das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«. Offensichtlich ist Un baile de máscaras kein historischer Roman in dem engen traditionellen Sinn, wie er von Anderson Imbert und Mentón verwendet wird. (vgl. dazu oben, u.a. Fußnote 7) Seine Handlung ist nicht gänzlich
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Grinberg Pia (vgl. 2001: o.S.) schrieb, in Abgrenzung von der offiziellen bzw. offiziösen politischen Geschichte eine Geschichtsschreibung von unten, in der das private, alltägliche Leben und die Gewohnheiten der Dorfbewohner das Zentrum bilden. Sie werden zu ebenso bedeutenden historischen Fakten wie die großen politischen Ereignisse, in die der Autor den Roman durch die vollständige Wiedergabe der Ausgabe der Tageszeitung La noticia. Diario de la vida nacional vom Mittwoch, dem 5. August 1942, einbettet, (vgl. 9-12) In diesem Text vermischen sich Nachrichten über den Fortgang des Krieges in Europa, ein vermutlich antisemitisch motiviertes Attentat in Argentinien gegen einen jüdischen Intellektuellen, den Freispruch einer »bella dama« in Matagalpa, die des Mordes am Mörder ihres Ehemannes angeklagt war, mit kommerziellen Anzeigen (für Reifen, Strohhüte, Gummistiefel u.a.), dem Hinweis auf eine bridge party im Club Managua zur Feier des Geburtstages einer Dame der höheren Gesellschaft, dem Bericht über den angeblichen Tod eines bekannten Baseballspielers von der Karibikküste, der Agenturmeldung über die Hinrichtung einer Frau in Holland durch die Nazis wegen angeblicher Sabotageakte und dem Kinoprogramm. Wird mit diesem intertextuellen Verfahren bereits eine Konzeption von Geschichte als einer Abfolge der Taten großer Männer subversiv unterlaufen, indem der Vormarsch der Wehrmacht im Süden Russlands mit der Reklame des Textilgeschäftes »La casa de los botones« für Le dernier cri de la mode américaine gleichgestellt wird, so stellt die »große« Geschichte im weiteren Verlauf nur noch ein Randereignis dar, vor dessen Hintergrund sich das eigentliche Geschehen abspielt. Diese Relativierung der offiziellen Historie mündet in eine Rekonstruktion des Populären, Provinziellen, Subalternen. Sie bedient sich der Mittel der Tragikomödie und kennt keinen Helden im traditionellen Sinn. In diesem Roman gibt es, wie Isoida Rodriguez Rosales anmerkte, eine Vielzahl von »Helden«, ein jeder in seiner eigenen kleinen Welt. Allerdings gibt es keine »Hauptrolle«, das Subjekt der Erzählung ist die Bevölkerung Masatepes, dieses von glaubwürdigen und unglaubhaften Gestalten bevölkerten Dorfes, (vgl. Rodriguez Rosales, 1995: 6; Rodriguez Rosales, 1999: 51f.; Mackenbach 1997a: 4)
oder auch nur überwiegend in einer Vergangenheit angesiedelt, die der Autor nicht selbst erfahren hat, vielmehr ist die erzählte Zeit zumindest teilweise eine Zeit, die vom Autor miterlebt wurde. Der Roman präsentiert jedoch eine Reihe von Charakteristiken der nueva novela histórica, ähnlich wie andere in den letzten Jahren in Zentralamerika veröffentlichte Romane, die sich mit den politischen und sozialen Ereignissen der letzten dreißig Jahre als inzwischen historisch gewordenen beschäftigen. Dazu gehören zum Beispiel die Romane Tu fantasma, Julián (1992) von Ménica Zalaquett, Huracán corazón del cielo (1995) von Franz Galich, Vuelo de cuervos (1997) von Erick Blandón, Un sol sobre Managua (1998) von Erick Aguirre und auch schon Cuzcatlán donde bate la mar del sur (1986, Tegucigalpa: Editorial Guaymuras) von Manlio Argueta. Zu den Romanen von Zalaquett, Blandón und Aguirre vgl. das (Capitel »Diagonale: Literatur und Revolution« bzw. »Fünfter Kreis: Raum und Text«, zu dem von Galich das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«.
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Sergio Ramirez erzählt diesen Roman unter Verwendung einer Reihe von Erzähltechniken, mit denen er vielfaltige Verfremdungseffekte erreicht. Dabei vermischt er traditionelle Erzähltechniken mit modernen.48 Den Roman kennzeichnet eine durchgehend ironische, humoristische Grundhaltung. Es ist kein Zufall, dass einer der »Helden« des Romans, Pedro Ramirez, der Krämer, sich als Beduine verkleidet und als solcher im größten Teil des Romans agiert (bereits ab dem zweiten Kapitel). Das Leben ist nichts anderes als ein Maskenball; die Personen werden nicht nur mit ihren Namen und Vornamen bezeichnet, sondern von wesentlich größerer Bedeutung sind ihre jeweiligen Spitznamen; Person und Maske werden andauernd verwechselt, vermischen sich - es gibt kaum Personenbeschreibungen, die Charaktere befinden sich in ständigem Wandel, je nachdem, welche Rollen sie in bestimmten Aktionen und Situationen spielen.49 Diesen Elementen entspricht die Struktur des Romans: Die Erzählzeit ist anscheinend linear, aber die historische Zeit, die erzählte Zeit der Geschichten in der Geschichte, weist eine multidimensionale Struktur auf. Nicht zufallig ist der Roman von einem ständigen Wechsel in der grammatischen Zeit, zwischen dem Präsens und dem »preterito indefinido«, gekennzeichnet. Der Roman ist voller Vorgriffe und Rückblenden, obwohl er nur an zwei Stellen offen den erzählerischen Faden zerreißt: am Anfang des Romans mit der wortgetreuen Reproduktion der Ausgabe der Tageszeitung La Noticia. Diario de la vida nacional und fast genau in der Mitte mit dem »Ser-
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Offensichtlich beabsichtigte der Autor ursprünglich, eine Erzählung zu schreiben, als er mit der Arbeit an Un baile de máscaras begann, wie er selbst in einem Interview andeutete: »Cuando hice el primer esquema de Un baile de máscaras pensé en escribir un relato autobiográfico. Lo titulé Retrato de familia con volcán' [...] « (Pacheco, 1995: 7) In einem anderen Interview stellte er fest: » [...] comencé con un relato de 60 páginas que fui nutriendo de otros relatos yuxtapuestos, que iban a desembocar a su vez en otros, sabiendo de antemano que no podía ser un plano infinito« (Espinoza, 1995: 16). So nahm der Roman die Form von schier unzähligen Erzählungen in der Erzählung an. Dabei ist nicht zu übersehen, dass der Roman vielfältige intertextuelle Bezüge zu einigen Erzählungen aufweist, die in dem Erzählband Clave de Sol (1992) veröffentlicht wurden, insbesondere zu den Erzählungen »Volver« (vgl. Ramírez, 1995: 157ff„ 171, 175, 177) und »Ilusión perdida« (vgl. ibid.: 166f.). Was auf den ersten Blick wie eine unbewusste Art des Erzählens anmuten könnte, bei welcher der Autor/Erzähler von der Fülle der Themen und seiner Erinnerungen überwältigt wird, muss vielmehr als eine ausdrückliche Entscheidung des Autors für diese Form des Romans verstanden werden. Ramírez selbst hat den Roman, in dem das Ende einer Erzählung/einer Passage den Beginn einer anderen darstellt, »como una composición musical donde una frase va dando pie a la que sigue [...] « (Espinoza, 1995: 16) bezeichnet und dabei auf die musikalische Tradition seiner Familie und den Titel des Romans angespielt. Gleichzeitig, so muss hinzugefügt werden, basiert diese Form der Erzählung in der Erzählung auf der Struktur der arabischen Märchen. Leonel Delgado sieht in diesem Karneval eine Metapher: »Y esta metáfora se hace sobre la supuesta consistencia monolítica (ya no teleológica) de la masa social, pero ante todo, y es lo subrayable, sobre la ambigüedad de quienes padecen la historia y a la vez luchan en ella' (García Canclini, 1990: 260).« (Delgado, o.J.: o.S.)
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món del Padre Misael Lorenzano acerca del match de boxeo entre Quevedo y Jesucristo«, als eigenständiger Text zwischen dem vierten und fünften Kapitel eingeschoben. Einen weiteren Verfremdungseffekt erreicht der Autor schließlich durch die Erzählperspektive, aus der heraus dieser Roman erzählt wird: »Sergio Ramírez, narrador le cuenta a Sergio Ramírez 'no nato', una serie de micro-relatos, algunos relacionados con su familia, reales y fantásticos, no importa, que sucedieron al día que Luisa Mercado [...] daría a luz un niño, a quien Pedro, el beduino, su padre, le había escogido de antemano el nombre [...] [Sergio Ramírez Mercado; W.M.] ¿Quién es el dador del relato? [...] éste es emitido por una persona que es el autor en quien se mezclan la personalidad y el arte de un individuo que escribe una historia, en este caso Sergio Ramírez. El relato no es entonces más que la expresión de un yo exterior a la narración.« (Rodríguez Rosales, 1995: 6; vgl. Rodríguez Rosales, 1999: 46f.)50
Mit all diesen Elementen gelingt es Sergio Ramírez nicht nur, eine Identifizierung zwischen Leser/in und Protagonist/in zu verhindern. Gleichzeitig lässt er keinen Zweifel daran zu, dass Autor, Erzähler und Adressat der Erzählung - obwohl alle drei »Sergio Ramírez« sein mögen - nicht identisch sind, dass die Erzählung Fiktion ist, dass Wirklichkeit und Erzählung zwei verschiedene Dinge sind. Im Roman selbst bezieht sich Sergio Ramírez in Worten, die er dem Großvater Teófilo in den Mund legt, auf dieses Verhältnis zwischen Realität und Fiktion - und zwar in einer überaus ironischen Weise: »Porque se mostraba tu abuelo Teófilo precavido de gente dedicada a fantasear, como esos escritores de novelas donde corren desbocadas las aventuras imposibles, y lo que corrientemente no sucede, por virtud de sus ardides suele suceder [...] opiniones que tu abuela Luisa [...] con tu tía Victoria [...] bien sabía que la vida era como las novelas de los novelistas, y más.« (46f.) Dieses Schreiben der Geschichte von unten, aus der vielfaltigen Sicht unterschiedlicher »Helden« dehnt nicht nur das Verständnis dessen, was als Historie verstanden wird, auf das Alltags- und Privatleben deijenigen aus, die in den offiziellen Geschichtsbüchern keine Erwähnung finden (und folgt damit den beschriebenen Tendenzen in der Historiografie selbst; s.o., Fußnote 11; vgl. Grinberg Pia, 2001). Es verwischt nicht nur die Grenzen zwischen
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Sergio Ramirez entzieht durch diese komplexe Erzählperspektive den Roman gleichzeitig einer autobiografischen Interpretation: Ein homodiegetischer-extradiegetischer Erzähler erzählt einem heterodiegetischen-intradiegetischen Leser, der noch nicht geboren ist, die Geschichte seiner Geburt (der Roman ist als langer »Dialog« in der zweiten Person Singular geschrieben, in dem allerdings nur die Stimme der einen Seite zu hören ist, während die andere noch gar nicht »antworten« kann). Erzähler, Autor, impliziter Leser haben ihren außerliterarischen Referenzpunkt in der realen Person Sergio Ramirez, diese löst sich in drei Instanzen der literarischen Repräsentation
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Fiktion und Geschichte, sondern kündigt auch den Glauben an die identitätsstiftende Macht der historischen »Meistererzählungen« auf. Die Nation erscheint nur im Titel der Tageszeitung, mit der die Nachrichten aus der Hauptstadt ins Dorf kommen, die »großen Männer« und »historischen Ereignisse« verblassen vor den alltäglichen Sorgen der Dorfbewohner, ihre Identität gründet im vor-staatlichen und vor-nationalen Bereich. Der (moderne) Mythos Nation ist (noch) machtlos gegenüber der (überlieferten) Magie des Dorflebens. 5 ' Der Roman erzählt von den Vorbereitungen eines Maskenballs am Tag der Geburt des Autors. Während am Ende das Kind geboren wird, sind die Vorbereitungen zu dem Tanzvergnügen vergeblich. Der Ball fällt wegen höherer Gewalten - unter anderem eines einsetzenden tropischen Regens - buchstäblich ins Wasser. In dieser Frustration des sozialen Ereignisses und in der ungewissen Zukunft des Neugeborenen wurde eine Allegorie der jüngsten Geschichte Nicaraguas, das heißt des kulturellen Projekts des Sandinismus der Schaffung einer demokratischen Massenkultur - gesehen. Leonel Delgado sprach gar von einem neuen Weg, den die postrevolutionäre Literatur in Nicaragua mit diesem Roman von Sergio Ramírez eingeschlagen habe: »Un baile de máscaras acerca el futuro desde una posibilidad inesperada: la crisis cultural de Nicaragua en los noventa se vuelve interrogación sobre acciones y actuaciones sociales, juegos de voces de subalternos y 'autor', pregunta sobre una 'política posible' en que la seducción mass-mediática y tragicómica ofrece un nuevo escenario a una generación 'por nacer'.« (Delgado, o.J.: o.S.) Damit erlebe das mythisch-revolutionäre und zentralisierende nationale Projekt der siebziger und achtziger Jahre seinen Schwanengesang. 52
Geschichte und Mythos: Erzählen, wie es gewesen sein soll Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass Sergio Ramírez innerhalb der nicaraguanischen erzählenden Literatur der neunziger Jahre eine Avantgardefunk-
51 52
Vgl. dazu auch das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«. Leonel Delgado kritisiert, dass der Dezentralisierung der Stimmen im Roman keine dezentralisierte Schreibweise entspreche. Vielmehr ziele er darauf ab, die Autorität der Stimme des Autors im Kontext der nationalen kulturellen Krise zu behaupten: »A esto responde la estructura cerrada de la obra y su narrador de eficiencia inusitada para conocer, fluir y vincular, pero idéntico en toda la novela. Un baile de máscaras interpela una realidad social y cultural híbrida desde un lenguaje constante, capaz de alcanzar (y vulnerar) la totalidad social.« (Delgado, o.J.: o.S.) Aber unterläuft nicht die oben (vgl. Fußnote 50) dargestellte komplexe und gebrochene Beziehung der Erzählinstanzen Autor, Erzähler und impliziter Leser untereinander und zu ihrem außerliterarischen Referenzpunkt gerade einen solchen totalisierenden Anspruch?
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tion zukommt, die keineswegs repräsentativ für einen Großteil dieser Literatur ist. Der Mythos Nation spielt noch oder vielleicht auch gerade wieder nach dem Ende des sandinistischen nationalen Projekts eine bedeutende Rolle in einer Reihe von historischen Romanen. Alle diese Romane kennzeichnet die Rekonstruktion historischer Gründungsakte und Gründerpersönlichkeiten der nicaraguanischen Nation. Thema des ein Jahrzehnt nach Sergio Ramírez' Castigo divino erschienenen Romans von demente Guido, El sueño de Tío Billy (1999), sind die historischen Ereignisse, die in die Geschichte Nicaraguas als »Guerra Nacional« gegen den nordamerikanischen Freibeuter William Walker (»Tío Billy«, »Onkel Billy« genannt) eingegangen sind und eine zentrale Rolle bei der Konstruktion der nicaraguanischen nationalen Identität und Souveränität spielten. Die erzählte Zeit umfasst den Zeitraum vom 16. Juni 1855, als William Walker mit 56 Gefolgsleuten erstmals mit dem Ziel in Nicaragua landete, das Land als neuen Staat der Vereinigung der amerikanischen Sklavenstaaten im Süden der USA zu annektieren, um die Kräfteverhältnisse gegenüber den die Sklaverei ablehnenden Nordstaaten zu beeinflussen, bis zu seiner endgültigen Kapitulation und Hinrichtung durch die honduranische Armee am 3. September 1860. Dazwischen liegen Walkers Wahl zum nicaraguanischen Präsidenten (12. Juli 1856), die erste bedeutende Niederlage gegen die vereinten nicaraguanischen Streitkräfte in der Schlacht von San Jacinto (12. September 1856), die Niederbrennung Granadas durch Walkers Truppen (22.123. November 1856), Walkers erste Kapitulation und sein Abzug aus Nicaragua (1. Mai 1857) sowie seine Rückkehrversuche 1857 und 1860. In diesen fünf Jahren war Nicaragua Schauplatz heftiger innenpolitischer Auseinandersetzungen, Intrigen und Scharmützel zwischen Legitimisten und Demokraten, die sich die Macht streitig machten und deren Bruderkampf erst den Aufstieg Walkers ermöglichte, wie ihr zeitweiliger Zusammenschluss den Sieg über Walker (zusammen mit Truppen der anderen zentralamerikanischen Staaten) erlaubte. Gleichzeitig war es Schlachtfeld und diplomatische Bühne der unterschiedlichen regionalen Interessen und Kämpfe um die politische und militärische Hegemonie auf dem Isthmus (insbesondere der Gebietsansprüche Costa Ricas) sowie der wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen der Regierung der USA und nordamerikanischer Geschäftsleute (vor allem in Bezug auf die Verkehrsverbindung zwischen dem Atlantik und dem Pazifik und erste Projekte eines interozeanischen Kanals). Außerliterarische Bezugspunkte für die Orte der Romanhandlung sind daher in erster Linie Nicaragua (vor allem die Städte León, Granada, Managua, Masaya und Rivas), aber auch Zentralamerika insgesamt und Nordamerika (Kalifornien, New Orleans, New York). Erzähltechnisch greift der Autor zwar auf zahlreiche Elemente zurück, die als typisch für die nueva novela histórica gelten: Authentische historische Personen werden mit erfundenen Figuren vermischt. Intertextuelle Techniken (Montage, Zitat, Paraphrase und Palimpsest von historischen Dokumenten,
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Briefen, Zeitungsartikeln, historischen Studien) spielen eine wichtige Rolle.53 Von geringerer Bedeutung sind Anachronismen, Analepsen und Prolepsen. Ein wesentliches Element stellt schließlich die metatextuelle, metafiktionale und paratextuelle Einmischung des Erzählers/Autors in den Text dar, insbesondere in Form von Kommentaren zum Geschehen und Fußnoten (»notas del autor«). Auch Elemente der Ironie, Parodie (zum Beispiel bei der Darstellung des costa-ricanischen Präsidenten Joaquín Mora) und der Symbolisierung von Handlungen (etwa das Schachspiel Walkers als Allegorie seiner Militärstrategie, ganze Partien werden in heutiger Schreibweise notiert) sind präsent. Allerdings steht der Roman zumindest in dreierlei Hinsicht in der Tradition des herkömmlichen historischen Romans. Seine Grundstruktur ist linear. Die Ereignisse werden in ihrer historischen Abfolge von 1855 bis 1860 erzählt (wobei die beiden Jahre 1856 und 1857 am ausführlichsten geschildert werden), orientiert an den Daten der wichtigsten politischen und militärischen Geschehnisse. Dagegen spielen die wenigen Analepsen und Prolepsen keine tragende Rolle in der Romanstruktur. Dem entspricht die Aneinanderreihung der Handlungsorte je nach den Ereignissen in der linear fortschreitenden Zeit. Erzählt wird durchgehend aus der Sicht eines allwissenden Erzählers in dritter Person, eine dialogische bzw. vielstimmige Struktur kommt dadurch nicht zustande. Im Gegensatz zur nueva novela histórica nehmen die erfundenen Nebenfiguren keinen zentralen Raum ein. Perspektivierung und Fokalisation sind auf die bekannten historischen Persönlichkeiten, das heißt die »großen Männer« der nicaraguanischen Geschichte, orientiert, von denen ausfuhrliche Personenbeschreibungen in traditionellem Stil gegeben werden. Zwar versucht der Autor, sich in die Psychologie dieser Männer zu versetzen, und lässt sie zum Teil als »normale« menschliche Wesen aus Fleisch und Blut - auch mit privaten Interessen und Schwächen - erscheinen. Die politische und militärische Ereignisgeschichte bleibt jedoch das Zentrum des Romans. Die Sicht der Dinge wird von den bekannten historischen Persönlichkeiten bestimmt. Im Gegensatz zum neuen historischen Roman wird so die Geschichte, bzw. die Geschichtsschreibung, nicht von den Rändern, von unten, aus der Sicht der Vergessenen und Unterdrückten erzählt. Die offizielle Historiografie behält ihren zentralen Platz, wird bestenfalls ergänzt und in einigen Punkten präzisiert und korrigiert. Dem entspricht die Bekräftigung zahlreicher Mythen der nicaraguanischen
53
Bezug genommen wird zum Beispiel auf Walkers Buch La Guerra de Nicaragua (San José 1924), das Buch Filibusteros y Financieros. La historia de William Walker y sus asociados (Managua 1974) des US-Autors William O. Scroggs, Jerónimo Perez' Memoria para la Historia de la Revolución de Nicaragua y de la Guerra contra los Filibusteros, 1854-1857 (1865, Managua 1975) und Biografia de Martínez (Managua 1975), das 1958 in Mexiko erschienene Buch Buena y mala vecindad von Isidro Fabela und die Poesie Rubén Darios.
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Geschichtsschreibung, wofür gerade die metatextuellen Kommentare des Erzählers/Autors eine wichtige Funktion haben. Wiederholt werden die Kühnheit, der Mut, die Einheit und die Vaterlandsliebe der Nicaraguaner bei der Verteidigung gegen die Invasion Walkers besungen. So heißt es zum erfolglosen Angriff William Walkers auf die Stadt Rivas im Jahr 1855: »La astucia y el valor nicaragüenses habían derrotado a las fuerzas del Tío Billy, superiores en la tecnología des sus armas.« (38) Bei der Darstellung der Hinrichtung des Generals Ponciano Corral (von den Demokraten), der einen Pakt mit Walker geschlossen hatte, durch die Legitimisten, wird eine Art mythischer patriotischer Initiation beschworen: »Muchos se acercaron y mojaron sus dedos con la sangre del general y juraron morir en la pelea por expulsar a esos filibusteros de Nicaragua. [...] / [...] el hombre muerto era peligroso porque sería de inspiración a su pueblo.« (143) Wiederholt werden die Bündnisse und zeitweiligen gemeinsamen militärischen Aktionen der verfeindeten nicaraguanischen Parteien als konstituierend für Vaterland und Nation dargestellt: »¡Era el segundo pacto patriótico que firmaban Martínez y Jerez a despecho de sus respectivos partidos! / El primero fue el del 12 de septiembre de 1856 en León. / Ambos salvaron a la nación. / ¡Dos pequeños gigantes se dieron la mano y juntaron esfuerzos en el momento más indicado para salvar a la patria.« (373, vgl. auch 333) Trotz aller dargestellten innenpolitischen und regionalen Interessenkonflikte, Widersprüche, Verrätereien, Pakte, Wortbrüche und Auseinandersetzungen im Namen des Patriotismus stellt der Roman also eine Affirmation einiger für die (Re)Konstruktion der nicaraguanischen nationalen Souveränität und Identität grundlegenden Mythen dar, einer Art zweiten nationalen Gründungsmythos nach der Unabhängigkeit von Spanien 1821 bzw. der Loslösung von der zentralamerikanischen Konföderation 1832 im »Nationalen Krieg« gegen William Walker, symbolisiert insbesondere im Sieg in der Schlacht von San Jacinto am 12. September 1856 - bis heute der wichtigste nationale Feiertag in ganz Zentralamerika. 54 Noch bei der Darstellung des Todes Walkers, der mit der Erklärung »Muero como nicaragüense y me siento orgulloso de ello« (393) auf den Lippen stirbt, wird in einer symbolischen Erschießungszene der Geburtsakt der
54
Als Indiz für die Persistenz dieser Mythen und eine entsprechende Rezeption des Romans kann die Rezension gelesen werden, die der Schriftsteller Bayardo Tijerino Molina kurz nach Erscheinen des Buches veröffentlichte und in der es heißt: »Y aunque tuvimos en esta Guerra Nacional' vergonzosas derrotas, también hubo claras y resonantes victorias como la de San Jacinto, considerada por algunos, debido a su significación histórica, como el 'Maratón' de América Central.« (Tijerino Molina, 1999: o.S.) Ästhetisch konsequent lobt der Rezensent auch die »extraordinaria amenidad« des Romans, die dem Fehlen von Analepsen und Prolepsen, »niveles narrativos metadiegéticos « und vor allem »'hipodiegéticos'« sowie seinem »estilo sobrio y claro« geschuldet sei (ibid.), der ein Ereignis nach dem anderen erzähle.
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nicaraguanischen Souveränität beschworen. Im Moment der Hinrichtung hat Walker die folgende Erscheinung: »Súbitamente, un niño salió de la carta de ella que guardaba en el bolsillo de su chaleco, y se dirigió al pelotón de fusilamiento. / Walker notó que aquel niño era su viva imagen. / [ . . . ] y el niño se puso frente al pelotón de fusilamiento ordenando en español: / ¡Pelotóóóón, preparen armas! / ¡ A P U N T E N ! / j F U E G O ! / Era el 12 de septiembre de 1860.« (393f.) Der nationale Mythos wird aus dem Vatermord geboren (der Junge ist Walkers eigener Sohn, von dem er durch einen Brief der Mutter Irene O'Hara erfahren hatte).55 Allerdings stellt der Roman ganz im Stil der nueva novela histórica in einem metatextuellen Eingriff diesen Mythos und seine Perpetuierung selbst in Frage. In direkter Anspielung auf die leidvolle Geschichte bis in die achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts heißt es zu einem blutigen Kampf zwischen Legitimisten und Demokraten am 11. Oktober 1855: »¡Cuánta sangre derramada entre hermanos por ambiciones personales a través de la historia de este infortunado país merecedor de mejor suerte! / ¡Cuánta ferocidad demostrada en estos combates, como si enemigos de diferentes razas fueran los que combatieran! / ¡Cuánta ferocidad demostrada en estos combates, como si enemigos de diferentes países fueran los combatientes! / ¡Cuánta sangre derramada en nombre de la patria, cuando en realidad se luchaba por intereses de grupo o de partido o de clase o incluso de un individuo! / ¡Dios de las Naciones! / [...] ¿Por qué no les has dado a sus hijos tolerancia con la opinión de los otros? / ¿Por qué no les diste la facultad de arreglar las cosas por medio de la discusión de altura entre hermanos que se comprenden? / [...] ¡Oh Dios de las Naciones !«(79) Mit dieser Aktualisierung und Politisierung tritt der Erzähler/Autor in Distanz zum Text und enthebt den Roman einer bruchlosen Vereinnahmung durch die offizielle Historiografie, allerdings ohne deren tragende Mythen grundsätzlich in Frage zu stellen.
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Wir erinnern uns: Auch in zwei kanonisierten Texten des sandinistischen testimonios, La montaña es algo más que una inmensa estepa verde (1982) von Ornar Cabezas und La marca del Zorro (1989) von Sergio Ramírez, wurde die nationale Identität unter Ausschluss des leiblichen Vaters und durch die Konstruktion eines mythischen »Ersatz«-Vaters (im einen Fall des alten sandinistischen Kämpfers Don Leandro, im anderen des Bruders und sandinistischen Aktivisten sowie des Führers der nationalen Befreiungsfront, Carlos Fonseca) konstituiert, (vgl. dazu die Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur« sowie »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«) Während bei Cabezas und Ramírez die Nation ihre Kontinuität auf diese mythischen Vaterfiguren gründet, entspringt sie bei Guido einem erstmaligen Gründungsakt: Der Mord an dem Vergewaltiger-Vater, der die Mutter (= die Nation Nicaragua) geschändet hat, wird zur Erstgeburt der nicaraguanischen Nation. Der patriarchalische Zeugungsakt der Nation ist vollzogen - in einer symbolischen Symbiose von Geburt und Tod (Mord).
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Geschichte und Wahrheit: Erzählen, wie es wirklich war Einen Schritt weiter in der Auseinandersetzung mit der offiziellen Geschichtsschreibung geht Ricardo Pasos Marciacq. Mit seinen vier Romanen, El bürdet de las Pedrarias (1995), Rafaela. Una danza en la colina, y nada más... (1997), María Manuela. Piel de luna (1999) und Julia y los recuerdos del silencio (2000), zielt er darauf ab, wieder zum Leben zu erwecken, »cómo habría sido, en realidad, la realidad vivida por los hombres y las mujeres de otro tiempo en Nicaragua, más allá de los juegos de palabras y bellas mentiras (¡que tanto se parecen a la verdad!) de los historiógrafos« (Alvarado Pisani, 1998: 5), in den ersten Jahren der Kolonie, im Kontext des Kampfes gegen die Engländer gegen Ende der Kolonialzeit, in der Geschichte der nicaraguanischen Karibikküste und im Granada des neunzehnten Jahrhunderts nach dem Ende der dreißigjährigen Herrschaft der Konservativen und in den Jahren der heraufziehenden liberalen Revolution 1893, wobei er die kanonisierte Version der offiziellen Geschichtsschreibung revidiert. Ricardo Pasos Marciacq erzählt in seinem ersten Roman, El bürdet de las Pedrarias (1995), die Geschichte der Conquista in Nicaragua aus einer neuen Perspektive: aus der Sicht Isabel de Bobadilla y Peñalozas, der Witwe des ersten Konquistadors der »Provincia de Nicaragua«, Pedrarias, und ihrer Tochter Maria de Peñaloza, die nach dem Tod des Ehemanns und Vaters skrupellos ihren Interessen in der nicaraguanischen Pazifikregion nachgehen, sowie der Bediensteten Doña Isabels, Maria Fernanda. Als Palimpsest über einige Briefe geschrieben, die Isabel de Bobadilla y Peñaloza im 16. Jahrhundert an die spanische Krone richtete, in Form von frei erfundenen Dialogen zwischen den drei weiblichen Hauptpersonen sowie in den langen Ausführungen und Monologen der Dienerin rekonstruiert der Roman die Eroberung nicht als ein Projekt der Kolonisierung und der Konstruktion einer neuen Gesellschaft oder gar der Begegnung zweier Welten und Kulturen, sondern als ein im wahrsten Sinne des Wortes schamloses Unternehmen der persönlichen Bereicherung und Befriedigung der beiden Erbinnen des ersten Konquistadors. Zielstrebig verfolgen die zwei nach der Rückkehr Doña Isabels aus Spanien von León aus ihr Projekt, das Erbe von Pedrarias zu reklamieren und im Hafen El Realejo ein Bordell mit den Indias ihrer encomiendas zu etablieren. Ziel dieses »persönlichen« Projekts der Conquista ist die sexuelle Ausbeutung der ihnen untergebenen indígenas und die ökonomische Ausschöpfung der reichen landwirtschaftlichen Ressourcen in den ihnen vererbten Besitztümern. Den beiden Frauen gelingt es, die religiösen und weltlichen Mächtigen des jungen Kolonialsystems durch ein Netz von Intrigen, Korruption und Geheimabsprachen in einem Nicaragua in ihre Abhängigkeit zu bringen, das damals Drehscheibe für die Conquista in anderen Teilen Zentralamerikas und Pizarras in Peru war. Der Roman lässt ein Bild dieser frühen Kolonialgesellschaft als Welt der Korruption, der Sklaverei, des Rassismus und der grenzenlosen (insbesondere
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sexuellen) Perversion der kirchlichen und weltlichen Hierarchien entstehen. Pasos Marciacq versucht, die »historischen Leerstellen« im Leben der Witwe von Pedrarias zu füllen, indem er eine Lebensgeschichte voller Perversion erfindet. Damit zielt er nicht nur auf eine Rekonstruktion dieser historischen Persönlichkeit ab, sondern auf eine Neubewertung der »sociedad española de la Nicaragua posterior a la conquista« (Francisco Rodríguez, 1996: 3). Das Bordell wird zur Metapher der machistischen Gewaltherrschaft: »Aquí la brutalidad machista es patente, la vejación de las mujeres indias, víctimas de la ambición desmedida de la viuda del bárbaro conquistador, resulta una metáfora despiadada y ya que no deja de denunciar la complicidad de los caciques traidores a su pueblo, la participación de muchos indígenas que gozan de la situación, la degradación humana en general.« (Bermúdez, 1997: 5)56 Indem der Roman diese Geschichte aus der Sicht der Subalternen, insbesondere der drei weiblichen Hauptpersonen, erzählt, dekonstruiert er die offizielle Historiografie als Mythos der Eroberer-Männer und ihrer Nachfolger. An seine Stelle tritt ein neuer Mythos: der von der Frau als aktivem, bestimmendem Subjekt der Geschichte. Allerdings resultiert er nicht in einer ungebrochenen alternativen Zentralität der Subalternen, sind die Subalternen »ersten Grades« (die Witwe und die Tochter des ersten Konquistadors) doch selbst Teil des von der machistischen Conquista geschaffenen Systems, agieren sie ganz im Rahmen seiner Koordinaten und sind darüber hinaus durch unterschiedliche Interessen entzweit, während die Subalterne »zweiten Grades« (die Bedienstete María Fernanda) ein - wenn auch kritisch bewusstes - Opfer des historischen Prozesses bleibt. Die offizielle Geschichtsschreibung wird dekonstruiert, ihre Lücken werden gefüllt, alternative Interpretationen scheinen auf, doch all das schließt sich nicht zu einem neuen historischen Gesamtbild.
56
In einem detailliert dokumentierten Aufsatz zum historischen Kontext des Romandiskurses hat der in Nicaragua lehrende US-Historiker Patrick Werner Hinweise auf die reale Existenz von Bordellen zur damaligen Zeit in Nicaragua gegeben: » [...] Ricardo Pasos no usa simplemente la historia, sino que realmente recrea la historia de Nicaragua. El autor, al mencionar el primer burdel en la naciente Nicaragua no estaba escribiendo mera ficción, sino recreando o reproduciendo reportes verdaderos encontrados en la COLECCION SOMOZA", compilados por el Dr. Andrés Vega Bolaños, en los años 50, cuando trabajaba como embajador de Nicaragua en España. Vega Bolaños pasó varios años buscando documentos en los 'ARCHIVOS DE INDIAS', en Sevilla, y produjo esta obra maestra de 17 tomos. Entre los documentos se encuentran dos menciones de burdeles manejados por españoles durante la colonia de Nicaragua en el siglo XVI.« (Werner, 1995: 4) Auch in dieser Hinsicht bedient sich der Roman also der Technik des Palimpsests wie der Verzerrung bzw. Übertreibung (das für das gesamte 16. Jahrhundert an zwei Stellen belegte Bordell als Synekdoche der Kolonialherrschaft). Vgl. zum Bordell als weiblichem Ort das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«.
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Auch in Rafaela. Una danza en la colina, y nada más... (1997) rekurriert Ricardo Pasos Marciacq auf eine der legendären Frauengestalten der nicaraguanischen Geschichte und ein historisches Schlüsselereignis. Auch hier geht es ihm darum, die Lücken der offiziellen Historiografie zu schließen, die in diesem Fall noch absichtlicher sein dürften als in Bezug auf die Ereignisse, die den außerliterarischen Referenzpunkt seines ersten Romans bilden. Historischer Bezugspunkt seines zweiten Romans sind die Ereignisse um die von den Engländern im Jahr 1762 angedrohte Invasion Nicaraguas über den Rio San Juan von seiner Mündung in den Atlantik aus und die Einnahme Granadas. Über die Festung El Castillo auf dem Rio San Juan kontrollieren die Spanier den Zugang nach Nicaragua auf diesem Weg. Als der schwer erkrankte Kommandant der Festung, Pedro Herrera, kurz vor dem Angriff der Engländer stirbt und der spanische Unteroffizier seine Bereitschaft zur Übergabe der Festung an die Briten erklärt, ernennt sich die Tochter des verstorbenen Kommandanten, die neunzehnjährige Rafaela de Herrera y Sotomayor y Uñarte, zur Oberbefehlshaberin und stellt sich an die Spitze des erfolgreichen Widerstands gegen die Engländer, die in die Flucht geschlagen werden. Anfanglich in Granada als Heldin verehrt, wird Rafaela dann zum Objekt der Machenschaften der spanischen Kolonialoffiziere, die den heroischen Akt fiir sich reklamieren. Rafaela stirbt in großer Armut und fallt weitgehend dem Vergessen anheim. Bis heute wird zwar der heroische Verteidigungsakt in der offiziellen Historiografie beschworen, doch gilt er sozusagen als männliche Tat in Vertretung des verstorbenen Vaters. Rafaela Herreras Leben ist weitgehend unbekannt, nicht einmal der Ort ihrer letzten Ruhestätte kann mit Sicherheit benannt werden.57 Wie in seinem ersten Roman orientiert sich Pasos Marciacq darauf, auf der Basis einer Fülle von historischen Dokumenten und Informationen die Lükken der offiziellen Historiografie zu füllen, die Geschichte neu zu schreiben und die »Vergessenen« wieder in die Erinnerung zu heben. Der Mythos der offiziellen Geschichtsschreibung wird in doppelter Weise herausgefordert: Zum einen rekonstruiert er Rafaela als konkrete weibliche Person mit individuellen Zügen, mit eigenem Körper, eigener Sexualität und im Kontext ihrer Beziehungen zu anderen Personen, »describiendo con ternura los hallazgos eróticos de la joven y transcribiendo textualmente sus conversaciones con Jacinta y María del Mar sobre el amor y la carne, el olvido y la tristeza, la muerte y la esperanza« (Alvarado Pisani, 1998: 5). Zum anderen ist das Verhalten Rafaelas mehr als die mutige Reaktion einer jungen Frau auf die englische Bedrohung. Noch während der Belagerung der Festung La Inmaculada
57
Vgl. Alvarado Pisani (1998: 5), Palma (1994: 18f.) und Werner (1998: o.S.). Werner kritisiert das Fehlen eines Denkmals für Rafaela in Granada als Indiz für das Verdrängen ihrer historischen Bedeutung, (vgl. ibid.)
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Concepción de la Concha durch die Engländer kommentiert ihre mulattische Freundin María del Mar - ein metatextuelles Echo der Stimme des Autors/Erzählers - die historische Bedeutung des Widerstandes von Rafaela: »-Rafaela, no sé si ya lo sabes, si eres consciente de lo que hiciste, porque desde hace dos días tú cambiaste el destino de esta Provincia de Nicaragua tal vez para siempre. No creo que de ahora en adelante se pueda volver a hablar de rendición en esta Fortaleza de La Inmaculada Concepción de la Concha. ¡Tú fuiste y serás la fortaleza en el río San Juan, Rafaela, a pesar de Granada ... y a pesar de Inglaterra!« (502) Und als die junge Tochter des toten spanischen Kommandanten (und der Mestizin Ernestina aus Cartagena de Indias) nach einigen Minuten in sich versunkenen Schweigens zurückgibt, ob ihre Tat nicht selbstverständlich sei, ihr Vater nicht genauso gehandelt hätte, da die Spanier hier in diesen Breiten seien, »para defender con la vida misma lo que pertenece a España« (ibid.), bekräftigt die Mulattin: »-No, Rafaela de Herrera y Sotomayor, tú ya no eres solamente España, y tú bien lo sabes. Desde hace dos días ya eres, además, mucho más de lo que eras antes. [...] Deja que pase un poco de tiempo y entenderás mejor lo que te estoy diciendo.« (ibid.) Pasos Marciacq dekonstruiert den Mythos der offiziellen Geschichtsschreibung, aber deutlicher als in El burdel de las Pedrarias tritt an seine Stelle ein alternatives Zentrum, wird die Tat der Tochter eines Spaniers zum heroischen Akt der Schaffung der nicaraguanischen Nation lange vor der Unabhängigkeitserklärung: »Raphaela es la historia novelada del nacimiento de un país contradictorio, crucificado entre dos océanos, y con una herida abierta -el Río- en el costado. Raphaela es el Río San Juan y es Nicaragua naciendo en Río San Juan. Nuestra historia oficial podrá decir, y dice, que Nicaragua nació como nación soberana en el siglo XIX, pero Don Ricardo ha descubierto, y cuenta, que Rafaela Herrera dió a luz la patria criolla, sesenta años antes de 1821, un día de pólvora y bravura.« (Alvarado Pisani, 1998: 5)
Ein neuer Mythos ist geboren: In einer Epoche, in der sich Spanien, Frankreich, England und Holland die Macht und die Reichtümer in der »Neuen Welt« streitig machen, entsteht die nicaraguanische Nation aus dem Gründungsakt einer bewussten Frau, die sich auf die Mobilisierung von Schwarzen, Mulatten, Mestizen und Frauen - der Subalternen der nicaraguanischen Geschichte - stützt, denn sie sind es, die im Roman die Engländer in die Flucht schlagen. Die Dezentralisierten sind zum neuen Zentrum geworden. Wie weit diese Nation jedoch davon entfernt ist, homogen zu sein, ist Thema des dritten Romans von Ricardo Pasos Marciacq, Maria Manuela. Piel de luna (1999), dessen historischer Bezugspunkt Geschehnisse im Kontext des gleichen Spannungsverhältnisses von Engländern und Spaniern nur zwanzig Jahre später sind, das heißt im Umfeld des Kampfes um die Hegemonie in der nicaraguanischen Karibikregion und über die dort lebende größte
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Gruppe von indígenas, die Miskitos.58 Die Spanier versuchen, Widersprüche unter den Miskitos auszunutzen, um die Vorherrschaft in der Region gegenüber den britischen Siedlern zu erringen (die im Jahr 1786 aufgrund eines Vertrages zwischen Großbritannien und Spanien die Karibikküste verlassen müssen). Als im Jahr 1780 der zum katholischen Glauben bekehrte Miskitoindianer Carlos Matías beschuldigt wird, Beziehungen zu den Engländern zu unterhalten, sein Eigentum beschlagnahmt, er verhaftet und nach Guatemala verbracht wird, wo er stirbt, hat das eine Welle von Angriffen der Miskitos auf von den Spaniern kontrollierte Städte zur Folge. Bei einem Überfall auf die Stadt Juigalpa im Jahr 1782 wird die zehnjährige Tochter spanischer Adliger, Maria Manuela Rodríguez, gefangen genommen und gerät in die Auseinandersetzungen zwischen Spaniern und Miskitos. (vgl. Palma, 1994: 20) Mit den bereits aus seinen beiden vorhergehenden Romanen bekannten Mitteln versucht Pasos Marciacq, diese in den offiziellen Geschichtsbüchern nicht existente bzw. an den Rand gedrängte Geschichte der jungen Spanierin und ihre Bedeutung für die Historie Nicaraguas zu rekonstruieren, indem er die Lücken der offiziellen Geschichte schließt und sie neu schreibt.59 Während die junge Spanierin in der »offiziellen« Legende aufgrund ihrer Weigerung, den zum katholischen Glauben bekehrten und zum Zusammenleben mit den Spaniern bereiten Miskitogouverneur Briton zu heiraten, eine Versöhnung zwischen Spaniern und Eingeborenen verhindert, obwohl sie die katholischen Instanzen dazu drängen (vgl. ibid.), und deshalb eine Mitschuld an seiner Ermordung trägt, wird sie in Pasos Marciacqs Roman zur Trägerin der Hoffnung auf Versöhnung des ethnisch zerrissenenen Nicaragua in einer gemeinsamen Nation. Nur widerwillig trennt sich die Romanfigur Maria Manuela auf dessen Drängen von Colvil Briton, bevor dieser von den mit den Engländern paktierenden Miskitos (»Zambos«) wegen »Verrats« getötet wird. Die von Briton schwangere Maria Manuela kehrt nach Juigalpa zurück, wo sie den lokalen Statthaltern der katholischen Kirchenhierarchie, dem Bischof Villegas, und der spanischen Kolonialbehörden, dem Gobernador Intendente, vorwirft, durch unterlassene Hilfeleistung für Briton dessen Tod verursacht und nichts zur Beilegung der ethnischen Konflikte beigetragen zu haben. Doch sie selbst trägt die Hoffnung auf eine ethnisch harmonisierte Nation in sich. In einer allegorischen Schlussszenze umarmen sich die junge Spanierin und ihre mulattische wie mestizische Freundin und weinen, »para luego, volviéndose a
58 59
Vgl. dazu Meschkat/von Oertzen/Richter/Rossbach/Wünderich, 1987: bes. 48-52. Eleonore von Oertzen weist in ihrem Aufsatz »Indianer am Rande des Britischen Empire. Kolonialismus in der Mosquitia 1635-1860« in dem in Fußnote 58 zitierten Buch auf die Unsicherheit der historischen Daten zu diesen Ereignissen und die Tatsache hin, dass sie Gegenstand einer Sage der Miskito-Indianer sind, die von Missionaren der Herrnhuter Brüdergemeine niedergeschrieben wurde, (vgl. Meschkat/von Oertzen/Richter/ Rossbach/Wünderich, 1987:49)
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ver entre ellas, sonreír y mirar al recién nacido con alegría« (421). Auch hier konstruiert Pasos Marciacq die nicaraguanische Identität in mehrfacher Hinsicht von den Rändern her, aus einer Position der Subalternität: der Frau, die in den von Männern gemachten historischen Konflikten aufgerieben wird, der Frucht einer Verbindung zwischen einem Miskito und der Tochter einer spanischen Familie, schließlich im subalternen sozialen und ethnischen Umfeld von Mestizen und Mulatten. Auch hier wird der Rand zum Zentrum, der offizielle Mythos ersetzt durch einen alternativen. Wie bereits dargestellt,60 bezieht sich Ricardo Pasos Marciacq schließlich in seinem vierten Roman, Julia y los recuerdos del silencio (2000), ebenfalls auf eine Schlüsselepoche der nicaraguanischen Geschichte an der Schnittstelle des Endes der Herrschaft der Konservativen und des Aufstiegs des Liberalismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Wie im Titel und in der Widmung des Romans (»Dedicada sin permiso / al irreverente lado oculto / de las cosas«, 5) paratextuell präsentiert, geht es dem Autor in diesem Roman erneut darum, die Erinnerungen an die dunklen, vergessenen Seiten der Geschichte aus dem Schweigen der offiziellen Historiografie zu lösen. Dabei zielt er im Gegensatz zu seinen anderen Romanen vor allem auf das Innenleben der einen weiblichen Hauptfigur des Romans, die auf eine historisch authentische Frauengestalt aus der direkt von den Spaniern abstammenden Oligarchie in Granada verweist. Die von der offiziellen Geschichtsschreibung negierte, aber doch im Verborgenen - sozusagen im nicht offiziellen Gedächtnis der Bevölkerung Granadas präsente - Geschichte der Familie Cabistán wird in die öffentliche Erinnerung platziert, wie der Autor in einem Interview ausführte: »Una historia que pertenece a la familia. Yo decidí sacarlo a la luz [...] Eso ya pertenece al público, a la literatura, a la historia. [...] Mi interés es reivindicarlas - no tanto exclusivamente a las Cabistanas como tal - sino aprovercharme de ese garbo Cabistán que realmente existió para mostrar una índole de lo que pudo haber sido la vida de estas mujeres a finales del siglo XIX [...] Yo me dije, esto hay que llevarlo a la nación entera por medio de la literatura [...] « (Marenco, 2001: o.S.)
Das Alltägliche, Familiäre, Private wird gleichrangig mit der politischen Geschichte von Präsidenten und Generälen, Kriegen und Staatsgründungen. Mithilfe einer anachronistischen Erzählstruktur (erzählt wird aus der Sicht der erfundenen Figur Clementina retrospektiv vom Jahr 1944 aus) reklamiert Pasos Marciacq für die ewige Subalterne der nicaraguanischen Geschichte, die im patriarchalischen, machistischen Kontext marginalisierte Frau, einen zentralen gesellschaftlichen Ort auch hier in doppelter Weise: bezogen auf die
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Vgl. dazu das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«.
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sozialen Verhältnisse Ende des 19. Jahrhunderts und in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts - und mit seinem Verständnis der »mujereidad« auch im Kontext des Jahres 2000: Dieser Subtext des Romans verleiht ihm den Charakter einer aktuellen, politischen Positionsbestimmung in den Auseinandersetzungen um Feminismus, Patriarchalismus und machismo Ohne Zweifel bedient sich Ricardo Pasos Marciacq einer Reihe von Elementen, wie sie im Allgemeinen als typisch für die nueva novela histórica betrachtet wurden: Vermischung bekannter, authentischer historischer Personen mit erfundenen Subalternen, Anachronismen, über historische Dokumente geschriebene Palimpseste, Auslassungen, Verzerrungen Übertreibungen, Karnevalisierung, Politisierung. All dies mündet in eine »(re)escritura de la Historia« (Pons, 1996: 263) aus der Sicht von unten, der Subalternen, der Frauen in mehrfacher Hinsicht (Frauen der Konquistadoren und ihre Dienerinnen, vergessene Heldinnen wie Rafaela, Frauen als individuelle Wesen und neue mythische Figuren), und in einer Entmythisierung der Geschichte. Wie die nueva novela histórica allgemein brechen auch Ricardo Pasos Marciacqs Romane definitiv mit einer mythischen, totalisierenden, homogenisierenden und zentralisierenden Vision der Geschichte. Allerdings sind die Unterschiede zu vielen anderen Texten hinsichtlich der Aneignung von Realität und ihrer Repräsentation in den erzählten Welten nicht zu übersehen. Ricardo Pasos Marciacq beabsichtigt »presentarle al lector, en la manera más honesta posible, lo que realmente ocurrió« (Werner, 1998: o.S.), indem er die weißen Flecken, die von der offiziellen Geschichtsschreibung gelassen wurden, mithilfe der mimetischen Fiktion füllt, das heißt mittels einer Beziehung der Ähnlichkeit/Wahrscheinlichkeit: » [...] Pasos ha elegido por la creación de la historia tal como es (o fue, o pudo haber sido) [...] « (ibid.).62 In einem Vortrag fasste der Autor 1998 seine Konzeption des »ficto correctivo« im historischen Roman folgendermaßen zusammen: »El ficto se inscribe entre la aprehensión y el logos ... el 'seria'. El 'seria': es búsqueda de verdad ... (más allá de la simple aprehensión). [...] Por eso el ficto es 'correctivo' ante una historia mal contada.«"
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Vgl. auch dazu ausführlich das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«. Vgl. auch Francisco Rodríguez (1996: 3), der zu El burdel de las Pedrarias schreibt: » [...] la ficción se apropia del pasado e intenta llenar los vacios, sin más objeto que sus propias reglas de verosimilitud antes que confesiones de veracidad referencial, la cual, en este caso, resulta imposible.« Das belegen auch die El burdel de las Pedrarias und Rafaela. Una danza en la colina, y nada más... beigefügten Karten, die den Romanen eine zusätzliche historische Authentizität geben sollen, sowie die Widmung des zweiten Romans: »Dedicada a / todos aquellos momentos / de la historia que aún permanecen / en la ambigüedad«. Der Vortrag mit dem Titel »Anotaciones para una posible teoría de la novela histórica« und einem Anhang zur »Teoría del ficto 'correctivo '« wurde auf dem »Cuarto Congreso Centroamericano de Historia« gehalten, der vom 15. bis 17. Juli 1998 an der Universidad Centroame-
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Damit erreicht Pasos Marciacq eine Dekonstruktion der Mythen der offiziellen Historiografie.64 An ihre Stelle treten jedoch - im Gegensatz etwa zu den Romanen von Sergio Ramírez, in denen historische Erkenntnis bezweifelt wird - neue Mythen. Das Alternative, Marginale wird zum neuen Zentrum, die Erkenntnismöglichkeit geschichtlicher »Wahrheit« wird nicht prinzipiell in Frage gestellt. Eine Reihe weiterer in den achtziger und neunziger Jahren erschienener Romane haben sich wie die Pasos Marciacqs der Aufgabe verschrieben, die Geschichte »von unten« zu erzählen.65 Chuno Blandón widmet sich in Cuartel general (1988) einem Schlüsselereignis der Geschichte Nicaraguas im 20. Jahrhundert: dem Kampf des Generals Augusto César Sandino und seines Ejército Defensor de la Soberanía de Nicaragua (EDSN) gegen die US-Invasion in den zwanziger und dreißiger Jahren. Die erzählte Zeit des Romans umfasst vor allem die Jahre von 1927, als der Bürgerkrieg zwischen Konservativen und Liberalen im »Pakt von Espino Negro« beendet wird und Sandino
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ricana in Managua, Nicaragua, stattfand, (unveröffentlicht, zit. n. einer vom Autor zur Verfügung gestellten Kopie, Anhang: 1) In ihrer Studie über Mythen der Weiblichkeit in Nicaragua stellt Milagros Palma dar, welchen Platz die drei zentralen Frauengestalten der ersten Romane Pasos Marciacqs in den Legenden der offiziellen bzw. offiziösen Geschichtsschreibung einnehmen: Die mythische Lobpreisung María de Peñalozas »diente der Glorifizierung der Religion und der Zivilisation, die sie verteidigte, ungeachtet der Leichen der Kirchenväter« (Palma, 1994: 18), sie wird gar zur Gegenthese des »humanen Christentums« Bartolomé de las Casas' hypostasiert (vgl. ibid). Rafaela Herrera verkörpert noch als heroische Frau die überlegenen männlichen Tugenden, indem sie an die Stelle ihres Vaters tritt. Maria Manuela bleibt ein unbewusstes Werkzeug der Spanier im Kampf um die Macht, einem Kampf der zwischen spanischen, englischen und indigenen Männern ausgefochten wird. (vgl. dazu ibid.: 17-22) Wie im Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution« dargestellt wird, bedient sich René Quesada in En el umbral de los sueños (1998) einiger Mittel des neuen historischen Romans, um die (vergessene) Institutionenengeschichte der »Escuela de Ingeniería« in Managua im allgemeinen historischen Kontext der fünfziger Jahre zu verorten. Alfredo Valessi enwirft in seinem 1988 beendeten Kurzroman (vgl. 48) La casa blanqueada (1993) aus der Perspektive des homodiegetischen-intradiegetischen Ich-Erzählers, eines kleinen Bankangestellten, ein Bild des sozialen Lebens im Managua der dreißiger Jahre. Aufgrund seiner klar erkennbaren Bezüge zur nicaraguanischen Geschichte (der Putsch Somozas gegen den gewählten Präsidenten Sacasas im Jahr 1936, mit dem Somoza die ganze Macht im Staat übernimmt, die Geburtsstunde der über vierzigjährigen Diktatur) und seiner Beschreibung des Lebens in der nicaraguanischen Hauptstadt nach dem Erdbeben von 1931 kann der Text als Parabel des Verhältnisses von politischen Machenschaften und privaten Angelegenheiten, von politischer Klasse und Durchschnittsbevölkerung gesehen werden. Angesichts der politischen Manöver und der Korruption der Politiker erscheint es dem unpolitischen kleinen Angestellten als das Beste, sich ins Privatleben zurückzuziehen, das allerdings von sozialen Vorurteilen geprägt ist, vor allem von der Unterwerfung der Frau (was in Bezug auf das Managua der dreißiger Jahre zweifellos realistisch erscheint) - eine zu Ende der achtziger Jahre (als der Roman beendet wurde) durchaus politische Botschaft, (vgl. zu dem Roman auch die Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« sowie »Fünfter Kreis: Raum und Text«)
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mit seinem Guerillaheer den Kampf auf eigene Rechnung weiterführt, bis zur Ermordung Sandinos 1934 auf Befehl Somozas bzw. bis zur Wiederbelebung der Oppositionsbewegung und den gefälschten Wahlen im Jahr 1947. Hauptschauplatz der Handlung sind das Dorf San Rafael del Norte, wo Sandino nach dem Friedensschluss sein Hauptquartier (span. »cuartel general«, daher der Titel des Romans) aufschlägt (gleichzeitig der Geburtsort des Autors), sowie eine Reihe von anderen Orten im nördlichen Bergland Nicaraguas, den Segovias: Jinotega, la Concordia, Yalí, Zinica, Río las Waní, Siuna und andere. Blandón entwirft ein Bild der sozialen und kulturellen Bedingungen des Widerstandskampfes Sandinos, das nicht einen Mythos vom genialen General und Politiker konstruiert, wie er für die jüngere Geschichte Nicaraguas konstitutiv ist, sondern auf den vielfaltigen alltäglichen Gewohnheiten, Traditionen, Verrichtungen und magischen Erzählungen der einfachen Bevölkerung auf dem Land beruht. Gleichwohl entsteht daraus der Mythos (man beachte: eine der Hauptpersonen heißt »Mito«) eines besonders entwickelten und verbreiteten antiinterventionistischen, gegen die US-Besatzung gerichteten, und dann antidiktatorischen, auf den Sturz der Somoza-Regierung abzielenden, Widerstandsgeistes in den nördlichen Regionen Nicaraguas, den Segovias ein Mythos, der für die Entwicklung der Oppositionsbewegung und des bewaffneten Kampfes ab Ende der fünfziger Jahre eine bedeutende Rolle spielte (worauf auch der in den sechziger Jahren spielende Anhang des Romans Bezug nimmt).66 In dieser Hinsicht - der Rekonstruktion der Geschichte von unten, aus der Sicht der Unterdrückten und der Konstruktion eines alternativen Mythos - ist der Roman im Kontext der nueva novela histórica zu sehen.67
Geschichte und Erinnerung: Erzählen, wie es gewesen sein kann Als wichtiger, aber bisher wenig beachteter, Vorläufer des neuen historischen Romans in Nicaragua kann der bereits 1970 geschriebene, 1982 zum ersten Mal und dann erst wieder vierzehn Jahre später veröffentlichte Roman von
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Allerdings stellt Blandón diesen Volksmythos nicht in den Dienst der Aufrechterhaltung einer gesellschaftlichen Groß-Utopie nach dem Scheitern des Sandinismus, wie es Gioconda Belli in Waslala. Memorial delJüturo (1996a) mit der Re-Mythisierung des Nordens tut. Vielmehr reduziert er den Mythos vom großen »kleinen General« auf seine alltäglichen, menschlichen Ursprünge in einer Welt, die kaum dem Mittelalter bzw. der Kolonialzeit entkommen zu sein scheint, in der sich aber mit dem ersten Auto, einem »Jeep Willys«, dem ersten Radio, dem ersten von einem Generator erzeugten elektrischen Licht und dem ersten Kino die Vorboten der Moderne unmissverständlich ankündigen. Der Norden Blandóns hat mit dem mythischen Ort Waslala in Bellis Roman nichts zu tun. (vgl. zu letzterem das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«) Vgl. zu dem Roman auch das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«.
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Jorge Eduardo Arellano, Timbucos y calandracas (1996) gesehen werden.68 Räumlicher und zeitlicher außerliterarischer Bezugspunkt dieses als »narravela« (also als Mischung von »narración«, Erzählung, Bericht, und »novela«, Roman) bezeichneten Buches verweisen auf die Geschichte und die Geografie Nicaraguas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die Haupthandlung ereignet sich im Jahr 1850, in zahlreichen Rückblenden wird bis auf die Jahre 1780, die dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurückgegangen; Orte der Handlung sind Granada, León, Rivas, San Juan del Norte und Managua, das als »poblado« (82) bezeichnet wird. Die beginnende Auseinandersetzung zwischen den Konservativen (»timbucos« genannt) und den Liberalen (»calandracas«) und damit auch die Rivalität zwischen Granada und León stellen den realen Hintergrund der Handlung dar. Dazu kommen eine Reihe von realen historischen Ereignissen wie die Ankunft der Briten an der nicaraguanischen Karibikküste, die Ernennung eines Königs der Moskitoküste durch die Engländer und die beginnende Einflussnahme der USA auf die Geschicke Nicaraguas, dargestellt in der Figur des US-Ministers Edward Higman, der eine Mischung aus Ephraim George Squier69 und William Walker - für eine politische Beruhigung im Land und damit die Herstellung von für die USInteressen (in erster Linie am Bau eines interozeanischen Kanals und am Aufbau von Handelsbeziehungen) günstigen Bedingungen sorgen soll. In diesen zum Teil authentischen, zum Teil fiktiven historischen Hintergrund eingearbeitet ist die fiktive Geschichte einer Rebellion von Bauern und Besitzlosen, angeführt von Inocente Gallardo, die sich gegen die Macht der Großgrundbesitzer und der Kaufleute richtet und den Rahmen der üblichen bewaffneten Interessenkonflikte zwischen Konservativen und Liberalen sprengt, indem sie im Namen der Interessen des Volkes agiert. Folgerichtig wird sie von den herrschenden Klassen und ihren politischen Fraktionen, die sich zur Verteidigung ihrer Interessen verbünden und sich eines Söldnerheers unter Führung eines guatemaltekischen Generals bedienen, unter aktiver politischer Mitwirkung des US-Gesandten niedergeschlagen. Offensichtlich stützt sich Arellano, der sich zum Zeitpunkt der endgültigen
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Zur Entstehungsgeschichte vgl. den Aufsatz »Timbucos y calandracas: La novela corta de Arellano« von Nydia Palacios, der in der Ausgabe des Romans von 1996 abgedruckt ist (V). Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe zitiert. Seymour Mentón verzeichnet den Roman in seiner Liste der »Novelas históricas latinoamericanas más tradicionales, 1949-1992« als einen von drei genannten nicaraguanischen Romanen, neben Los conquistadores (1966) von José Román Orozco und Tiempo de fulgor (1970) von Sergio Ramírez. (Mentón, 1993: 22) Ephraim George Squier (1821 -1888), US-Diplomat, Archäologe, Journalist und Schriftsteller, bereiste 1849-1850 Nicaragua und veröffentlichte im Jahr 1852 in New York sein bis heute als Standardwerk geltendes Nicaragua: its people, scenery, monuments, and the proposed interoceanic canal (D. Appleton & Co.). Er bereiste auch El Salvador und Honduras und war Geschäftsträger der US-Regierung bei den zentralamerikanischen Regierungen sowie Generalkonsul von Honduras in New York.
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Niederschrift des Romans ausführlich mit Sandino beschäftigte,™ bei der Charakterisierung Gallardos auf wichtige Züge des nicaraguanischen Nationalhelden, vor allem seine Bescheidenheit und Unbestechlichkeit, sein Kampf gegen die ausländische Intervention und sein Eintreten für die Rechte der Armen gegen die herrschende Oligarchie und ihr Paktieren mit dem nordamerikanischen Imperialismus.71 Deutlich schlägt sich der in den ersten Jahren nach der Revolution in Nicaragua dominierende politische Diskurs nieder: Ähnlich wie zum Beispiel Jaime Wheelock, einer der führenden sandinistischen Guerillakommandanten, in seinem 1981 erschienenen Buch Raíces indígenas de la lucha anticolonialista en Nicaragua, de Gil González a Joaquín Zavala (1523 a 1881) versucht der Text sozusagen rückwirkend eine Kontinuität des sandinistischen Kampfes herzustellen, die mit dem 19. Juli 1979 ihre vorläufige Erfüllung findet. Ohne Zweifel dient die Schaffung eines »protoSandino« (Cohen, in Arellano, 1996: 108) der Konstruktion des Mythos Sandino, wie er für die nationale Vorstellungswelt im Nicaragua der sechziger bis neunziger Jahre so bedeutend war und zum Teil bis heute noch ist. Dazu gehören eine Reihe von historischen Anspielungen, die sich vor allem auf die zahlreichen ausländischen Interventionen und die Kapitulationspolitik der herrschenden Oligarchie beziehen. Wie Squier plündert Higman zum Beispiel schamlos das Land und schickt Hunderte von archäologischen Fundstücken und historischen Dokumenten an das Nationalmuseum in den USA. Die nicaraguanische Oligarchie berauscht sich an der grandiosen Zukunft, die dem Land und vor allem Granada nach dem Bau des geplanten intereozeanischen Kanals blühen soll. Auf einer sekundären Handlungsebene präsentiert der Roman zahlreiche pittoreske Nebenfiguren und beschreibt Szenen des damaligen Alltagslebens: Da ist zum Beispiel Higinia de la Paz Castillo, die sich zu Tode frisst, oder Justo Pastor Rosales, der 79 uneheliche Kinder hat, oder Ventura Pasos, die Giftschlangen hypnotisiert und Wasseradern ausfindig macht; da werden der Markt in Granada, der Volkstanz »Baile de la Yegüita« und die üppige Natur beschrieben - ein von kostumbristischen Traditionen beeinflusstes Panorama der nicaraguanischen Wirklichkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts, das voller magischer bzw. karnevalistischer Elemente ist. Unter Rückgriff auf eher traditionelle Mittel versucht der Autor also, einen Mythos vom Kampf des nicaraguanischen Volkes zu konstruieren, wie er vor allem in der Person Sandinos symbolisiert ist. Allerdings ist sein Held nicht wie im traditionellen Roman üblich - eine der großen historischen Figuren. Wie in der nueva novela histórica wird die Geschichte aus der Sicht der Ver-
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1983 erschien sein Buch Lecciones de Sandino. Vgl. dazu den im Anhang des Romans abgedruckten Aufsatz »La novela como mitopoesis y concientización (Timbucos y calandracas)«. von Henry Cohen. (Arellano, 1996: 109)
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gessenen, Unterdrückten, Marginalisierten rekonstruiert. Die anachronistische Konstruktion, den fiktiven Volkshelden Gallardo und seine Rebellion vorausgreifend bereits mit den Attributen Sandinos und seines Kampfes auszustatten, zielt auf die Intervention in den aktuellen politisch-kulturellen Diskurs der achtziger Jahre. Dieser Politisierung des historischen Romans dient auch die vielfaltig »gebrochene« Erzählstruktur des Textes, die von der Sprengung der zeitlichen Einheit, der Montage einzelner Szenen, ohne klaren Anfang und klares Ende, der Mischung von dokumentarischen historischen Texten, magischen Passagen und Sozialsatire sowie der Vermischung unterschiedlicher Sprachebenen (vor allem der Integration der nicaraguanischen Volkssprachen) gekennzeichnet ist. Mit ähnlichen erzählerischen Mitteln arbeitet Enrique Alvarado Martínez in seinem Roman Doña Damiano (1998), der sich ebenso auf die Ereignisse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezieht. Thema ist das von Liebe, Leidenschaft, Intrigen und Krieg gekennzeichnete Leben der Doña Damiana im historischen Kontext der sich herausbildenden beiden großen politischen Parteien, die bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein die zentralamerikanische Geschichte bestimmten: die Konservativen und die Liberalen (die allerdings wenig mehr als den Namen von ihren europäischen Vettern übernahmen und sich in ideologischer Hinsicht oft nur wenig unterschieden). Nachdem ihr wie sie selbst aus Panama stammender Ehemann, der bis zum stellvertretenden Militärbefehlshaber des Chefs der Konservativen, de la Cerda, aufgestiegen war, einer Intrige zum Opfer fallt, greift sie selbst zum Mittel der Verschwörung, um ihn zu rächen. Sie umwirbt den Minister-General Francisco Argüello in de la Cerdas Regierung und veranlasst ihn, gemeinsame Sache mit der Opposition gegen Cerda zu machen, die von Politikern aus Costa Rica und einer Widerstandsbewegung in Guanacaste unterstützt wird. De la Cerda wird gestürzt und auf Betreiben Doña Damianas öffentlich hingerichtet. Damit hat sich ihr Lebensziel verwirklicht und sie kann im Moment der Erschießung de la Cerdas ausrufen: »¡Cerda, se me ha cumplido la venganza!« (161) Allerdings war es dazu notwendig, eine Beziehung zu dem von Argüello in Villa de Nicaragua (der heutigen Stadt Rivas) als Regierungsvertreter eingesetzten Minister Narciso Arellano herzustellen, was Doña Damiana zielstrebig tut, um die Entscheidung der Regierung in Granada zugunsten einer Hinrichtung de la Cerdas zu beeinflussen. Im Verlauf dieser Beziehung verlieben sich Damiana und Arellano jedoch ineinander und aus dieser Verbindung geht ein Kind hervor, Rosaura. Nach einem Massaker an gefangenen Gefolgsleuten de la Cerdas wendet sich die politische Situation erneut und Arellano muss zurücktreten. Doña Damiana wird von der Bevölkerung als angebliche Verursacherin des ganzen Unheils verfolgt und muss unter Zurücklassung ihrer Tochter Nicaragua Hals über Kopf verlassen und nach Panama zurückkehren, wo sie später den Hauptmann Napoleón Benítez heiratet. Von Sehnsucht nach ihrer Tochter getrieben, die von Verwandten Arellanos großgezogen wird,
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kehrt sie schließlich nach Nicaragua zurück, erblindet allerdings im Moment der Ankunft im Land. Für immer von diesem gescheiterten Wiedersehen mit ihrer Tochter gezeichnet, geht sie wieder nach Panama, wo sie zehn Jahre später stirbt. Dieses Jahrzehnt verbringt sie, einsam in ihrem schwarzen Schaukelstuhl sitzend, mit einem Brett über den Armlehnen, das ihr der Ehemann anfertigt, damit die Blinde schreiben kann, mit der Abfassung von Briefen und Papieren. Kurz vor ihrem Tod bittet sie ihren Ehemann, ihrer Tochter in Nicaragua nach dem Tod ihr weniges Hab und Gut zu schicken: ihre Rosenkränze, ihren spanischen Fächer, ihr Gebetbuch, ihren schwarzen Schaukelstuhl und den Köcher aus Zink, in dem sie die beschriebenen Papiere aufbewahrt - mit der Auflage, dass die Geschichte mit den Kindern ihrer Tochter enden und die Papiere für immer verschwinden sollten. Hervorzuheben ist die Konstruktion des Romans: Er besteht aus der Rekonstruktion/Wiedergabe dieser Aufzeichnungen in der Erzählung Doña Pepas, der Enkelin Doña Damianas, durch einen Erzähler (den Autor?, Enkel von Doña Pepa?), basierend auf den Berichten mehrerer Erzähler/Zeugen über Doña Damiana, die in der Widmung genannt werden: »A la memoria de don Alberto Martínez, / hijo de doña Pepa Montiel, del profesor / Carlos A. Bravo, y del poeta y maestro / de poetas Enrique Fernandez Morales, / quienes me iniciaron en el conocimiento / de esta historia. / E.A.M.« Mit Doña Pepa, die sich in dem schwarzen Schaukelstuhl sitzend der Lektüre der Papiere hingab und sich erinnerte, wird schließlich auch der Zylinder aus Zink mit den Papieren beerdigt, die die Geschichte ihrer Großmutter erzählten. Mit dieser vielfach gebrochenen Erzählperspektive, der Vermischung verschiedener Erzählzeiten und erzählter Zeiten, der Montage von verschiedenen historischen Dokumenten in den Text reiht sich das Buch in die Tendenz des neuen historischen Romans in Zentralamerika ein. Geschichte wird aus der Sicht der im historischen Prozess an den Rand Gedrängten erzählt, wie sie gewesen sein kann. Ihre sichere Rekonstruktion aber ist schon nicht mehr möglich. Wie bei Ricardo Pasos Marciacq melden sich die »Subalternen« zu Wort, ohne dass sie allerdings zu einem neuen Zentrum der Geschichte werden. Der historische Prozess bleibt nur teilweise rekonstruierbar.
Diachronie und Synchronie: Erzählen, wie es nicht (mehr) sein sollte Fünfhundert Jahre nach der spanischen Eroberung schreibt Rosario Aguilar in La niña blanca y los pájaros sin pies (1992) die Geschichte der Conquista und der ersten Jahre der Kolonialherrschaft aus einer dezentralisierten/marginalisierten und mehrfachen weiblichen Perspektive (neu), das heißt aus der Sicht historisch authentischer Personen: der spanischen, mestizischen und indigenen Frauen der spanischen Konquistadoren sowie ihrer subalternen Bediensteten, wobei sie die Techniken der Intertextualität, insbesondere des
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Palimpsests, des Anachronismus, der Metatextualität und der Metafiktion benutzt. Wie der Titel des Romans stammt ein großer Teil des Textmaterials aus den von Spaniern bzw. Indianern verfassten Chroniken der Eroberung.72 Dieser intertextuelle Charakter des Romans wird verstärkt durch die Collage von unterschiedlichen Textsorten wie Gedichten, Liedern, königlichen Erlassen, Briefen und indigenen Legenden und somit unterschiedlicher Sprachen wie dem Spanischen der damaligen Epoche, dem Latein, Fragmenten aus dem náhuatl und dem heutigen in Spanien und Nicaragua gesprochenen Spanisch.73 Dieser Vielstimmigkeit des linguistischen Materials korrespondiert eine Polyphonie hinsichtlich der Erzählerstimmen und der Fokalisation. Der Roman besteht aus zwölf Teilen bzw. Kapiteln: sechs mit den Namen der historischen Frauenfiguren betitelten74 und sechs dazwischen geschobenen, als »Introducción«, »Intermedio« (viermal) und »Epílogo« bezeichneten Texten. In den erstgenannten wird die Geschichte der sechs Frauen mit einer Ausnahme (vgl. dazu unten) im Allgemeinen von einem extradiegetischen-heterodiegetischen Erzähler erzählt. Dabei entsteht (wie schon im Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« dargestellt) ein vielstimmiges und vielschichtiges Bild der Conquista und der ersten Jahre der Kolonialherrschaft aus der Sicht
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Vgl. dazu das Kapitel»Zweiter Kreis: Magie und Realität«. Im Text wird die guatemaltekische Volkslegende, die dem Roman den Namen gab, folgendermaßen zitiert: »A media noche fueron los indios y el capitán hecho águila de los indios llegó a querer matar al Adelantado Tonatiuh, y no pudo matarlo porque lo defendía una niña muy blanca; ellos harto querían entrar, y así que veían a esta niña luego caían en tierra y no se podían levantar del suelo, y luego venían muchos pájaros sin pies, y estos pájaros tenían rodeada a esta niña, y querían los indios matar a la niña y estos pájaros sin pies la defendían y les quitaba la vista. No podían matar a Tonatiuh que tenía la niña con los pájaros sin pies.« (114) Die Legende dient als Metapher für die Vermischung der Kulturen. Dem intertextuellen Charakter des Romans entspricht die ikonografische Gestaltung des Umschlags, für die historische Stiche der Begegnung von Spaniern und Eingeborenen verwendet wurden. Vgl. dazu Rodríguez Rosales (1999: 100-102), Palacios (2000: 154) und Hood (2000: 194). Hood zitiert ein Interview, das er mit der Autorin führte: »Para ambientarme leí las crónicas españolas, los documentos sobre la historia de Nicaragua de los primeros cincuenta años de la conquista, para ver las cartas que iban y las que venían, y cuáles eran los problemas. También leí la literatura náhuatl y maya, porque quería encontrar la esencia de los personajes americanos. Y no hallé entonces dónde buscarlos. Leí el Popol Vuh y me puse a leer la poesía, y allí encontré la esencia del personaje americano antes de la llegada de los españoles. También he leído diferentes ensayos y las crónicas indígenas de Guatemala, más que nada para saber las costumbres, los problemas y los conflictos ... « (ibid.) Doña Isabel, Ehefrau des ersten Konquistadors der »Provincia de Nicaragua«, Pedrarias; Doña Luisa, Indianerprinzessin und Tochter des Häuptlings von Tlaxcala, Xicotenga; Doña Beatriz, Ehefrau von Pedro de Alvarado, eines weiteren berüchtigten spanischen Eroberers; Doña Leonor, Tochter von Doña Luisa und Pedro de Alvarado; Doña Ana, Tochter des Kaziken Taugema; Doña Maria, Tochter von Pedrarias. (vgl. dazu das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«)
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der vielfaltigen weiblichen Subalternität. Doch der Roman zielt auf mehr als eine Rekonstruktion der Geschichte, indem er den vergessenen und unterdrückten Stimmen der historischen Frauen Gehör verschafft. In den sechs anderen Kapiteln erzählt eine nicaraguanische Journalistin als intradiegetische-homodiegetische Erzählerin im Jahr 1990 von ihrer Beziehung zu einem spanischen Journalisten, der zur Berichterstattung über die historischen Wahlen im Februar jenes Jahres und dann wieder zur Übergabe der Macht an die neu gewählte Präsidentin Violeta Barrios de Chamorro ins Land kommt. Die Journalistin berichtet von den Problemen beim Schreiben eines Romans über die erwähnten historischen Frauengestalten und über die politischen Ereignisse, die sie und ihr spanischer Kollege erleben. Dieses metafiktionale Element verleiht dem Roman eine aktuelle, politisierte Dimension der »re-escritura de la historia«, die weit über eine bloße historische Rekonstruktion der Geschichte von den Rändern her hinausgeht und das Problem der nicaraguanischen Identität unter den Bedingungen der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts aufwirft, fünfhundert Jahre nach den damaligen Ereignissen (der Eroberung) und zeitgleich zu den aktuellen (dem Ende des Sandinismus an der Regierung). Die anachronistische Struktur des Romans (der schon von seiner Anlage her mit einer chronologischen Linearität bricht und zusätzlich durch wiederholte Analepsen und Prolepsen in den Kapiteln gekennzeichnet ist), die Vermischung von historischen Ereignissen und Fiktion dienen der Verortung des Erzählten in der Aktualität.75 Die Erforschung des Lebens der historischen Persönlichkeiten gleicht der Suche der Journalistin nach einem Verständnis der historischen Situation, die sie gerade erlebt, ihrem Verhältnis zu dem spanischen Kollegen und ihrer eigenen Identität. Die Journalistin (mit Doña Ana die einzigen nicht auf authentische Personen zurückgehenden Romanfiguren), die nach einem Autounfall teilweise erblindet, geht mit ihrem Kollegen nach Spanien, wo sie von spanischen Ärzten geheilt wird;76 dann kehrt sie nach Nicaragua zurück, ihr Kollege reist nach Saudi-Arabien zur Berichterstattung über den Golfkrieg. Aufgrund ihrer Erfahrungen, der Beziehung zu dem Spanier, des Schreibens des historischen Romans und der Reise nach Spanien, findet sie ihre Identität - in der Sprache, in der Literatur: »Tenía yo que volver a la normalidad, a mi normalidad. Reincorporarme al periódico, a mi trabajo como reportera ... escribir. / [...] escribir constituía para mí una de las razones principales de vivir. / A lo mejor el castellano peninsular en vez de enriquecerme me había confundido. El que nosotros hablamos es en cierto modo antiguo, herencia de cinco siglos,
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Vgl. zu dieser gesamten Passage Rodriguez Rosales (1999: 94-96, 98, 99f.), Palacios (2000: 153f., 155) und Hood (2000: 194). Vgl. zu dieser den Roman bestimmenden Metapher das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«.
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y al mismo tiempo renovado ... Sí, renovado, modernizado, por Rubén Darío, que nacido en Nicaragua, había devuelto a la Península un lenguaje lleno de vigor y giros nuevos. / Con el viaje me había encontrado a mí misma de manera afirmativa, positiva. Sabía quien era ... Ya nunca nadie me hará perder la identidad. / Una especie de orgullo me invade desde entonces ... Desde que sentí en lo más profundo, una fuerza, algo, que hace a mi raza única, nueva.« (142) Bewusst distanziert sich die Erzählerin in den metafiktionalen Passagen von den Kommentaren und Einmischungen des spanischen Journalisten, der ihr in einem ihrer Gespräche über den Roman - während einer Autofahrt kurz vor dem Unfall, der sie vorübergehend erblinden lässt - vorschlägt, wie eine der Hauptpersonen sein solle: »El me sugería una protagonista sin mezcla de culturas. Una india pura, auténtica. [...] Yo no lo veía así y no lográbamos ponernos de acuerdo. / En las crónicas, en los libros de historia, en las calles, comencé a buscar. No podía encontrarla.« (84) Die endlich gefundene Identität ihrer »einzigartigen, neuen Rasse« konstituiert sich aus der Vermischung von prähispanischem Erbe mit spanischem Einfluss. Nicht von ungefähr wird nur das Kapitel über Doña Luisa wie die »Rahmenhandlung« in der ersten Person (von einer intradiegetischen-homodiegetischen Erzählerin) erzählt, eine unmissverständliche Identifizierung der Erzählerin/Journalistin (der Autorin?) mit dieser historischen Figur (einer weiteren Version der Malinche):77 Von ihrem Vater dem spanischen Eroberer Pedro de Alvarado geschenkt, beginnt sie, diesen zu lieben, und hilft ihm bei der Unterwerfung der Azteken, um dann von ihm verlassen zu werden, verdrängt von einer Spanierin. Sie versucht erfolglos, an den Traditionen und dem Glauben ihrer Vorfahren anzuknüpfen, und stirbt einsam. Erst ihre Tochter, die sie gemeinsam mit Pedro de Alvarado hat, die Mestizin Leonor, trägt die Entfaltung einer neuen Identität im Keim in sich: »¿Quién era ella? ¿A cuál de las dos razas pertenecía realmente? ¿Cuál de las dos sangres que corrían por sus venas la dominaba? ¿Era su raza tan nueva que ni siquiera existía? [...] ¿abría acaso el camino de una raza?« (121) Aber diese Identität ist nicht aus einer einfachen Wiedergewinnung des Vergangenen zu konstruieren, nicht aus einem Wiederanknüpfen an die prähispanische Tradition herzustellen, wie Edward W. Hood in seinem bereits erwähnten Aufsatz zum Roman kommentierte: »Es interesante notar que las protagonistas representadas por Aguilar ya habían perdido su esencia original de españolas e indígenas casi desde los primeros momentos de la conquista. El contacto entre las dos culturas las alteró tanto que ya habían dejado de ser lo que eran antes; ni las españolas ni las indígenas pudieron recuperar sus raíces culturales.« (Hood, 2000: 194)
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Vgl. dazu das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«, Fußnote 19.
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Den Roman interessiert nicht die historisch-glaubwürdige Repräsentation der Diskurse seiner Protagonistinnen, sein Ziel ist nicht die Mimesis der geschichtlichen Ereignisse. In der Erzählung der Journalistin vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart in der Suche nach einer individuellen und kollektiven Zukunft, die sich auf eine Interpretation der Geschichte ausgehend vom Hier und Jetzt stützt. Geschichte als vergangenes Geschehen ist nicht als solches rekonstruierbar, wie Nydia Palacios mit Linda Hutcheon konstatiert: Wir können es nur noch über Texte erschließen, daher seine Verbindung zur Literatur, zur Fiktion. Die historiografische Metafiktion ist selbst historisch, sie selbst erkennt an, dass die Geschichte keine einmal gefundene Wahrheit ist.78 Die unauflösbare Verbindung von Diachronie und Synchronie und ihre metafiktionale Kommentierung resultieren in einer Politisierung des Romans. Rosario Aguilar will nicht Geschichte erzählen, wie sie wirklich war, auch nicht, wie sie gewesen sein kann, sondern wie sie nicht (mehr) sein sollte. Auch Julio Valle-Castillo wählt als hauptsächlichen außerliterarischen Bezugspunkt seines Romans Réquiem en Castilla del Oro (1996) die ersten Jahre der Kolonialherrschaft in Nicaragua. Wie bereits im Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität« dargestellt, zeichnet Julio Valle-Castillo mit Hilfe einer Rekonstruktion der ersten Jahre der Kolonialherrschaft, verkörpert in der authentischen Gestalt des ersten Konquistadors der »Provincia de Nicaragua«, Pedro Arias de Avila (genannt Pedrarias), eine Allegorie der Geschichte der Gewalt, der Unterdrückung und des Todes in Nicaragua in den letzten fünfhundert Jahren, wobei er sich des ganzen Spektrums der für den neuen historischen Roman charakteristischen Techniken bedient, insbesondere der Karnevalisierung, der Parodie, des Palimpsests, des Anachronismus und der Metatextualität bzw. Metafiktion. Es geht ihm jedoch um mehr als eine neue Lektüre der Conquista in Nicaragua und der Rolle, die Pedrarias dabei spielte, bzw. der verschiedenen Epochen, die der Roman evoziert. Die Zeitstruktur des Romans wird nicht von einer diachronen Entfaltung des Handlungsablaufs charakterisiert, sondern von der synchronen Koexistenz der verschiedenen Epochen. Der Roman ist voller Vor- und Rückblenden, kontinuierlicher Brüche im Handlungsablauf und plötzlicher Zeitsprünge, (vgl. Rodríguez Rosales, 1997: 4) Dem entsprechen eine schier endlose Zahl von Orten, an denen sich die Handlung des Romans entfaltet: León, Granada, Managua, Spanien, Panama, Costa Rica, Dominikanische Republik, Vereinigte Staaten, Vatikanstadt usw., und seine räumliche Struktur. Die Szenarien auf dem alten Kontinent wie in der »Neuen Welt« sind unentwirrbar ineinander verwoben. Fast genau in der Mitte des Romans befindet sich die paradigmatischste Passage dieser
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Vgl. Palacios, 2000: 154f.; Hutcheon, 1988: 128f. Für Nydia Palacios ist Aguilars Román »un ejemplo muy logrado de metaficción historiográfica en la que predomina la parodia y la ironía« (Palacios, 1998: 245; vgl. Palacios, 2000: 153, 158).
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Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion
Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen: die Regeln für die simulierte Totenfeier des Gouverneurs und Generalkapitäns der Provinz Nicaragua am 25. April 1530, der er bei lebendigem Leib beiwohnt - ein Brauch, den er alljährlich zum Dank Gottes wiederholen lässt, seit er, noch in Spanien, am 25. April 1460 einen Anfall von Starrsucht überlebte.79 Bezeichnenderweise präsentieren sich in diesem überhistorischen Leichenzug nicht nur die weltlichen und geistlichen Persönlichkeiten und Autoritäten sowie die Untergebenen jener Epoche. Vielmehr sind da auch versammelt: die Nicaraguanische Luftwaffe (FAN), Blumengebinde, die von dem Generalissimus Rafael Leónidas Trujillo Molina, Präsident der Dominikanischen Republik, und dem Präsidenten Haitis, François Duvalier, geschickt wurden, Vertreter der somozistischen Nationalgarde, eine nordamerikanische Delegation des Präsidenten und Generals Eisenhower, eine Delegation des Generals Stroessner aus Paraguay, eine Delegation aus der Dominikanischen Republik mit dem Generalleutnant Antonio Leyva Pou und dem General Julio E. Tejeras, Staatsminister, das gesamte diplomatische Korps, Ehefrauen von Offizieren der Nationalgarde, der Generalstab des Präsidenten und eine Einheit des Roten Kreuzes - »instalado desde temprano para cualquier emergencia: desmayos, asfixia, insolación, síncopes y accidentes entre el pueblo que se volcará a participar de la procesión fúnebre« (161f.). In dieser Passage kommt exemplarisch zum Ausdruck, dass die Perspektive des Romans keine historische ist, sondern dass er von einem aktuellen Blickwinkel aus geschrieben wurde, von einem »Ich« des Jahres 1995 nach Christus, einem Ich, das darüber hinaus als Person im Roman selbst präsent ist - und schließlich einem Ich, das sich nicht nur mehr für die Aktualität interessiert, sondern an erster Stelle für die Literatur selbst, wie Julio Valle-Castillo in einem Interview ausführte: »A mí no me importa tanto la historia, me interesa la escritura. Aquí no es el cuento que me interesa a mí, me interesa el canto. Me preocupa hacer literatura con el pretexto de la historia. Historia que es un pretexto para un texto literario.« (Sánchez Delgado, 1997: 12)
Folgerichtig hat Valeria Grinberg Pía (2001: O.S.) von dem Roman als »una puesta en escena del lenguaje como estructurador de la realidad« gesprochen und seine Vielstimmigkeit hervorgehoben. Diese drückt sich in einer Juxtaposition unzähliger und unterschiedlichster Textarten, Sprachen, Stilebenen, intertextueller Bezüge sowie verschiedener Arten von Erzählern und Wechseln der Erzählperspektive sowie der Fokalisation aus.80 Diese polyphone Struktur
79 80
Der reale historische Pedrarias starb im Jahr 1531 in Leon, Nicaragua. Vgl. dazu das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«.
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d e s R o m a n s resultiert in e i n e r V i e l d i m e n s i o n a l i t ä t der Perspektiven, aus d e n e n G e s c h i c h t e erzählt, konstruiert w i r d : 8 1 »A nivel simbólico, la novela codifica la realidad del pasado desde diferentes discursos (el de los indígenas, el de los conquistadores, el de los contemporáneos) que encarnan maneras alternativas - y a veces contrarias- de entender dicha realidad, creando por lo tanto versiones propias de la historia de dicho pasado. A su vez, la orquestación de todas las voces en una 'maquina de ficción' (pág. 15) o novela es una propuesta de escribir la historia con todos los lenguajes que han participado y participan de la aprehensión y estructuración de la realidad.« (Grinberg Pía, 2001: o.S.) 82 D i e s e D i s k u r s e w e r d e n z u e i n e r » F i k t i o n s m a s c h i n e « orchestriert durch d i e M u s i k - d i e Struktur d e s Requiems
v o n M o z a r t - u n d die k a t h o l i s c h e Liturgie,
i n s b e s o n d e r e i m dritten Teil d e s R o m a n s mit d e m Titel » S a n t a M i s a E x e q u i a l « , der streng d e m A u f b a u e i n e r T o t e n m e s s e folgt. 8 3 In dieser K o n z e r t i e r u n g ragen
81
82
83
Auf die Bedeutung der »eingeschobenen Genres« für die Vielstimmigkeit des Romans hatte schon Bachtin in seinen Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans hingewiesen: »In das Romangefüge können verschiedene Genres einbezogen werden, sowohl künstlerische (eingeschobene Novellen, lyrische Stücke, Gedichte, dramatische Szenen u. dgl.) als auch nichtkünstlerische (dem Alltag entnommene, rhetorische, wissenschaftliche, religiöse u.a.). [...] / Die in den Roman integrierten Genres sind von derartigem Gewicht, dass es den Anschein haben könnte, der Roman verfuge über keinen eigenen primären sprachlichen Zugang zur Wirklichkeit und sei davon abhängig, dass die Wirklichkeit bereits von anderen Genres aufbereitet wurde; ihm bleibe nur die sekundäre Aufgabe, diese primären sprachlichen Genres synkretistisch zu vereinigen. / Alle diese Genres bringen in den Roman ihre eigenen Sprachen ein und spalten damit die sprachliche Einheit des Romans auf, vertiefen auf neue Weise seine Redevielfalt.« (Bachtin, 1986c: 147f., vgl. 149-159; vgl. auch Bachtin, 1979: 209f.; Trusen, 1998a: 3) Valeria Grinberg Pia argumentiert, dies korrespondiere mit der tropologischen Konzeption des historischen Diskurses Hayden Whites, für den die Erklärung der Vergangenheit nicht einseitig unter die Kategorie des Wahren oder des Imaginären zu subsumieren sei, sondern »einzig und allein nach der Reichhaltigkeit der Metaphern, die die Äußerungsfolge bestimmen, beurteilt werden kann« (White, 1986: 57f.). Es gehe nicht darum, »zwischen Objektivität und einer verzerrten Sicht zu wählen, sondern vielmehr zwischen verschiedenen Strategien für die Konstituierung von 'Realität' im Denken, um dann mit dieser Realität in verschiedener Weise umzugehen, wobei jede ihre eigenen ethischen Implikationen besitzt» (ibid.: 34; vgl. Grinberg Pia, 2001: o.S.). Zum Begriff der Tropologie vgl. White, 1986: 7-9. Der dritte Teil des Romans gliedert sich in folgende Unterkapitel: »1. Introibo ad altare dei«, »2. Confíteor«, »3. Kyrie«, »4. Credo«, »5. Ofertorio«, »6. Sanctus, sanctus, sanctus ... «, »7. Conmemoración«, »8. Responso«, (vgl. 181-290; Grinberg Pia, 2001: o.S.) Durch das ganze Buch ziehen sich in den Text einmontierte Auszüge aus der Partitur des Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart. Diese Technik lehnt sich an Alejo Carpentiers Roman La consagración de la primavera (1978) an, dessen erstem Teil allerdings nur ein Auszug aus Igor Strawinskys Partitur als Epigraph vorangestellt ist. Hinzuweisen ist auch auf die vier Abbildungen von Gemälden des nicaraguanischen Künstlers Alejandro Aróstegui im Text (vgl. 36f., 190f., 308) und auf dem Umschlag. Diese ikonografischen Elemente unterstreichen die Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart. Sie zeigen einige der für das Werk des Malers charakteristi-
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zwei Stimmen heraus, die im dialogischen Widerstreit die Geschichte Nicaraguas seit der Conquista unter dem Zeichen Pedrarias', das heißt im Zeichen des Todes, erzählen: die Stimmen der Eroberer, die in der Sprache der katholischen Kirche sprechen, und die Stimmen der Eroberten, die sich mit der Liturgie vermischen, sie unterwandern und sich von ihr distanzieren. Die Eingeborenen folgen wie die Spanier dem simulierten Totenmarsch für Pedrarias. Einige antworten wie ein Echo auf die Litanei zu Ehren des Konquistadors aus dem Mund seiner Tochter Maria Peñalosa (» -Omnes Sancti et Sanctae Dei / -Interced por él / -Por el magnífico señor gobernador y capitán general Pedro Arias de Avila, mi padre ... «, 175) in Spanisch: » - D e todo mal / -Líbralo señor / - D e tu ira / -Líbralo señor / - D e una muerte repentina / - D e las asechanzas del demonio / -Líbralo señor [...] .« (176) Andere fordern in diesem kakophonen Gesang den Diskurs der Kirche und der Conquista direkt heraus: » - E l camino es muy largo, peligroso y lleno de asechanzas. No llegará. Va tendido. No se acurruca en la olla, no vuelve al vientre de la tierra, no va muerto, es falso muerto. Es muerto en mentira. / - L a muerte no es tenderse, nunca es tenderse en un zurrón de cuero. Nuestra muerte no es esta muerte. La muerte de los castellanos no es nuestra muerte. La muerte es un viaje a la tierra. / - E l viaje no es a la iglesia de su Dios y volver a Casa del gobernador y seguir siendo altivo y tronante. / [...] -El gobernador es vivo y va muerto. [...] El difunto no es difunto. El descarnado tiene carnes. Nada es verdad entre los señores principales. Todo es mentira entre los cristianos.« (179) Zwar vermischen sich die beiden Diskurse in einem Synkretismus der Wahrnehmung etwa von Naturphänomenen (Blitz, Sturm und Gewitter), unüberhörbar ist jedoch die Distanzierung der Indianer vom Gott der Christen, dem »señor«, der in ihrem Diskurs klein geschrieben ist, von diesem Tod (des Pedrarias) und »unserem« Tod. Die Erfahrungen sind unterschiedlich, christlicher und indigener Glaube difFerent, spanisches und indianisches Universum zwei Welten. Die Geschichte wird als je andere, unterschiedliche konstruiert. Die Stimmen der Eroberten, Unterdrückten und Vergessenen werden hörbar, aber sie werden nicht zum neuen Zentrum der Geschichte. Der Anspruch der Historiografie der Sieger auf (die einzige) historische Wahrheit wird dekonstruiert, an seine Stelle tritt jedoch kein neuer zentraler Diskurs. Der Roman Valle-Castillos zielt darauf ab, »que los silencios irrecuperables de la Historia no se olviden«, wie Pons (1996: 266) es als charakteristisch für den historischen Roman in Hispanoamerika am Ende des 20. Jahrhunderts bezeichnet, aber er beansprucht nicht, im Namen dieser »Anderen«, »Subalternen« spre-
schen Bilder, auf denen Darstellungen des Vulkans Momotombo und des Lago Xolotlän, des Managuasees, mit Abbildungen von im Abfall gefundenen Gegenständen (wie verbeulten Blechbüchsen) ineinander montiert sind - unverkennbare Symbole für die Geschichte (die Stadt Leon Viejo) und die Aktualität, (vgl. dazu Ayerdis, 1999: 4)
Vierter Kreis:
Geschichte und Fiktion
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chen zu können. Nicht von ungefähr antworten die Eingeborenen dem Latein der Kirche/Conquista in Spanisch, sich so von dem Diskurs der Herrscher distanzierend und sich gleichzeitig synkretistisch mit ihm verbindend.84 Die offizielle Geschichte wird dezentriert, aber an ihre Stelle tritt keine neuer Anspruch auf allumfassende historische Wahrheit. Die sich widersprechenden Diskurse bleiben als solche bestehen, Historie und Fiktion vermischen sich. Die Möglichkeit der Erkenntnis einer historischen Wahrheit erfahrt eine definitive Relativierung. Wie zahlreiche andere neue historische Romane bedient sich auch Réquiem en Castilla del Oro, um diese Relativierung zu erzielen, der Technik des Palimpsests und des parodischen Schreibens. Der Roman, der zu großen Teilen über historische Texte geschrieben ist, präsentiert diese zwar, als seien sie authentische Dokumente, doch sie sind nichts als pure Fiktion, selbst die verschiedenen Sprachen sind »erfunden«, wie der Autor selbst anmerkte: »Advierto que ninguno de los documentos son reales.« Der Roman stelle eine Art scheinbarer Wirklichkeit dar, »una especie de realidad virtual, que nos lleva a leer la realidad presente con entes y personajes del pasado« (Ruiz, 1997: IB). Auch hier überlagern sich Diachronie und Synchronie: So vermischt sich die Vernichtung der Eingeborenen während der Conquista mit der ganzer Indiogemeinschaften unter der Somoza-Diktatur: »Yo«, sagt der Indianer Comogre zur Zeit der Conquista, »recibí a Pedrarias con presentes de oro y comidas y los aposenté en mi casa; pero ellos [...] nos robaron a las mujeres [...] y nos echaron a los perros que nos agarraron y nos desguazaron las carnes.« (232) Ein anderer, Pocorosa, fügt hinzu: »Yo me refugié en la selva [...] Todo se perdió. Todos nuestros reinos se perdieron. Todo es desolación. Todo quedó asolado. Todos nuestros reinos, nuestros reinos todos quedaron comidos.« (ibid.) Und die von der Guardia Nacional über vier Jahrhunderte später Verfolgten klagen an: »Aquellos son los caminos por donde antes íbamos a servir a los cristianos y volvíamos a nuestras casas y a nuestras mujeres e hijos; pero hoy vamos sin la esperanza de volver. / [...] Prósperos repartimientos, ricas encomiendas que hoy son campos de concentración en la región norte y atlántica del país. / [ . . . ] Nos trasladaron a esos campos bajo el cargo de pertenecer a la guerrilla [...] / [...] En Río Blanco existe un laboratorio de torturas, con la asesoría de los expertos [...] « (233) Der Roman funktionalisiert die historische Figur Pedrarias als Metapher der anscheinend ewigen Aktualität Nicaraguas, der politischen Struktur des Landes, das von einer historischen Erbschaft dominiert wird, in der sich zivile und militärische Macht, Kirche und Staat, Nepotismus und machismo, Gewalt und Repression, Hunger
84
Vgl. dazu das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«, in dem ich die Bedeutung dieser Absenz der indigenen Sprache im Roman Valle-Castillos dargestellt habe. Vgl. zu dieser gesamten Passage auch Grinberg Pia (2001), der ich wichtige Anregungen verdanke.
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und Tod vermischen. Es ist keineswegs zufällig, dass der gesamte Roman sich in seinem Aufbau um ein Requiem für den Prototypen dieser despotischen Erbschaft gruppiert, um einen (simulierten) Leichenzug, bei dem sich alle Protagonisten dieses Erbes der Geschichte des Landes versammeln: von den Eroberern im Zeichen von Kreuz und Schwert bis zu den Offizieren der somozistischen Nationalgarde und den Bürokraten jüngeren Datums. Im Unterschied zum traditionellen historischen Roman dient hier die Vergangenheit dazu, die Gegenwart zu analysieren und zu verstehen. Mit gutem Recht kann dieser Roman als ein politischer Roman im wahren Sinne des Wortes bezeichnet werden, das heißt, er versucht eine Interpretation der nicaraguanischen Gesellschaft an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. In gewissem Sinne reiht er sich auch in die lange Tradition des zentral- bzw. lateinamerikanischen Präsidenten- bzw. Diktatorenromans ein, wobei er ihr neue Elemente hinsichtlich der hier analysierten Erzählstruktur und seines Inhaltes hinzufügt, nämlich »la estremecedora metáfora del tirano muerto que sigue viviendo en el centro mismo de todos los nicaragüenses«, wie der nicaraguanische Schriftsteller Lizandro Chávez Alfaro in einer Besprechung des Romans schrieb (1997: l). 85 Doch noch in einer weiteren Hinsicht wird der simulierte Pedrarias zur Metapher, zum Zeichen für den Roman selbst, wie Sylvia Trusen schreibt: »Del mismo modo que la muerte de Pedrarias se convierte en signo, la historia también abandona las fronteras de la novela a que ella se dedica. Muda de ropaje, se traviste en otra cosa, se torna discurso paródico doblado sobre sí mismo. Pedrarias convertido en difunto-vivo, erguiéndose de la tumba para exigir una Coca-Cola o saltando de la computadora no se toma en serio (o lo hace de otro modo) y no permite a sus lectores, incluso al propio Julio Valle-Castillo lector de la pantalla, aprehender como historia la materia narrada.« (Trusen, 1998a: 3) Diese metafiktionale Funktionalisierung wird unterstützt durch die direkte Einmischung des Autors in den Text: Er selbst ist als Person im Text präsent: als »Escribano Real« im Jahr 1530 zu Beginn des Romans (11), als nicht weiter definiertes »Ich«, zum Beispiel im neunten Kapitel des ersten Teils, und am Ende des Romans, wo der Autor mit Pedrarias selbst spricht, der plötzlich, am 25. April 1995, exakt 465 Jahre nach den Exequien des Gouverneurs von »Castilla del Oro«, auf dem Bildschirm des Computers Marke Samsung des Autors erscheint - in Gestalt einer Mischung aus »tortuga-macho, dinosaurio e iguanodonte« (314), eine Art Antiheld, der keinerlei Identifikation zwischen dem Autor bzw. den Lesern und dem Protagonisten bzw. der Geschichte zulässt. Was durch die Zeugenschaft des »Königlichen Schreibers« dem historisch Dokumentierten Autorität und Glaubwürdigkeit verleihen könnte, wird zur definitiven Parodie dieser Authentizität: »Es una farsa todo esto« (148),
85
Zum Diktatorenroman vgl. oben, u.a. Fußnote 41.
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resümiert schon in der Mitte des Romans der Konquistador und große Rivale des Pedradas, Francisco de Castañeda. Nicht einem Kult des Vergangenen hat sich dieser Roman verschrieben, einer Rekonstruktion der Geschichte, »wie sie wirklich war« - und sei sie von den Rändern her erzählt - , die »reescritura del pasado« zielt, wie Valeria Grinberg Pia (2001: o.S.) zusammenfasst, darauf, eine Debatte über den Ort, von dem aus Geschichte geschrieben wird, und über ihre ethischen und politischen Konsequenzen zu eröffnen:86 Geschichte nicht als vergangene erzählen, sondern wie sie nicht (wieder) sein sollte, als veränderbare.
Geschichte als Anachronismus: Erzählen, wie es nicht hätte sein dürfen Während Sergio Ramírez und Julio Valle-Castillo, die zweifellos einige der wichtigsten Texte der nicaraguanischen nueva novela histórica vorlegten, auf eine Dekonstruktion der offiziellen Historiografie vom Diskurs der Conquista bis zu dem der Somoza-Diktatur abzielten und nur auf einige Parallelen und Kontinuitäten über diese hinaus anspielten, stehen für Lizandro Chávez Alfaro und Gloria Guardia einige der Grundpfeiler der sandinistischen Geschichtsschreibung im Mittelpunkt des Interesses. Der dritte Roman von Lizandro Chávez Alfaro, Columpio al aire (1999), dreißig Jahre nach seinem ersten, Trágame tierra, veröffentlicht, der gemeinhin als Gründertext der nueva novela in Nicaragua gilt,87 verweist in seiner Erzählung auf einige Ereignisse
86
87
Dies gilt auch für den Roman von Gloria Elena Espinoza de Tercero, auf den ich bereits im Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« eingegangen bin: La casa de los Mondragön (1998). Architextuell knüpft der Roman am traditionellen historischen Roman an, insbesondere an der Familiensaga. Wie die nueva novela histórica unterzieht er allerdings die vom kolonialen Diskurs geprägten historischen, sprachlichen und kulturellen Räume, in dem die Klassenzugehörigkeit, die Ethnie und vor allem das Geschlecht Kriterien des Ausschlusses sind, einer kritischen Revision. Sein Anliegen ist jedoch nicht die Geschichte, sondern die Zukunft des Landes. Seine Perspektive ist nicht die Rekonstruktion einer vergangenen Epoche, sondern die Gestaltung der Gegenwart. Geschichte wird zum Vorwand der Fiktion, diese zur Voraussetzung der Zukunft. Dies verleiht dem Roman seinen politischen Charakter, wie die costa-ricanische Literaturwissenschaftlerin Maria Amoretti Hurtado in einem Essay schrieb: »La novela de Gloria Elena Espinoza se ha encargado de describirnos esa compleja y contradictoria forma en la que todavía nuestros pueblos viven su antepasado y de la que no sabemos si salimos o entramos. Pero sobre todo, la contradictoria vivencia de la identidad en las castas que la han foijado a base de mitos patrimoniales en los que ya se ha dejado de creer. Porque no se vaya a pensar que la casa de los Mondragón es la casa del nicaragüense, sino la metáfora de una fantasía política que ha sido desenmascarada por la historiografía critica de los últimos tiempos al desentrañar los agenciamientos simbólicos que hicieron posible la ficción de la nación como un todo, como una comunidad homogénea y continua. [...] / Hoy, la derrota de los límites y las barreras de la antigua cartografía, nos obliga, nos urge a construir una nueva casa y una nueva identidad.« (Amoretti Hurtado, 2000: 129f., vgl. 122) Vgl. das Kapitel »Bypass: Roman und Welt«.
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in der Geschichte der nicaraguanischen Karibikküste und ihre Beziehungen zum nicaraguanischen Staat. Die erzählte Zeit sind ein paar Monate im Jahr 1896, also zwei Jahre nach der militärischen Besetzung und der Erlassung des »Dekrets der Wiedereingliederung« der Karibikregion in den nicaraguanischen Staat durch die 1893 in Managua an die Macht gekommene liberale Regierung des Generals José Santos Zelaya; in zahlreichen flashback greift die Handlung immer wieder auf Ereignisse in der Geschichte der Karibikküste seit dem 17. Jahrhundert zurück. Im Mittelpunkt steht der Versuch der Zwangsassimilation der Karibikküste und ihrer Bewohner, die von den Führern des Liberalismus in Managua im Namen der Zivilisierung der aus dem Ausland beherrschten Stämme betrieben wird (so das Selbstverständnis der Besatzer). Dagegen steht das Beharren auf der eigenen Identität, genauer den eigenen Identitäten, der Bewohner der Karibikküste. Der Widerstand gegen die Überstülpung der herrschenden Identität und Kultur durch die Besatzer aus dem »el interior« (120) genannten Teil des Landes, »la auténtica y real Nicaragua lacustre y volcánica« (129), endet nicht in der Positionierung der Marginalisierten, Subalternen im Zentrum an Stelle der Eroberer, sondern mündet in einer weiteren Relativierung der Identitäten. Wie für viele neue historische Romane kennzeichnend, setzt auch Chávez Alfaros Text nicht einfach die Peripherie als neues Zentrum, sondern mündet in eine generelle Abkehr von einer - und sei es alternativen - historischen Wahrheit. Dies verleiht dem Roman, der mit historischen Fakten und Personen arbeitet und sich auf eine klar definierte historische Epoche bezieht, seinen gleichzeitig literarischen und aktuellpolitischen Charakter. Es ist nicht zu übersehen, dass seine Dekonstruktion des Avantgardeanspruchs der liberalen Modernisierer und Reformer der Jahrhundertwende (in den Worten der Romanfigur des Generals Migloria: »Somos los liberales la vanguardia, y aquí yo soy el capitán de esa vanguardia«, 83) gleichzeitig auf die Reformer/Revolutionäre über achtzig Jahre später zielt, die unter der rot-schwarzen Fahne des Sandinismus die nicaraguanische Karibikregion in die Moderne eingliedern wollten und in vielem doch nur die Assimilationsversuche ihrer Vorgänger fortsetzten. Die »modernen« Modernisierer sitzen einem erneuerten Anachronismus von der angeblichen Homogenität der nicaraguanischen Nation und ihrer Geschichte auf, der schon das Assimilationsprojekt ihrer Vorgänger scheitern ließ.88 Noch expliziter ist die Referenzialiät der Erzählung zu einer als Gründungsepoche der modernen (sandinistischen) Nation geltenden Phase der nicaraguanischen Geschichte, welche die panamaisch-nicaraguanische Autorin Gloria Guardia in ihrem Roman Libertad en llamas (1999) herstellt.89 Der Hauptstrang der Romanhandlung erzählt von der Rückkehr Esmeralda Reyes-
88 89
Vgl. zu dem Roman ausführlich das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«. Zu Gloria Guardia vgl. die Fußnote 82 im Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«.
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Mannings, Tochter einer wohlhabenden nicaraguanischen Familie (die früh verstorbene Mutter war Nicaraguanerin, der Vater ist Spanier) nach Nicaragua. Sie kommt im Jahr 1927 von Spanien zurück, wo sie mit ihrem Vater lebte und Philosophie (u.a. bei Ortega y Gasset) studierte, und schließt sich dem Kampf Augusto César Sandinos an. Ihre Aufgabe besteht darin, in den höheren Kreisen der nicaraguanischen Gesellschaft und Politik Informationen für die Guerilla zu sammeln und die internationalen Verbindungen mit Sympathisanten des nationalen Befreiungskampfes zu pflegen (insbesondere mit Sandinos Repräsentanten in Honduras und Mexiko, Froylan Turcios und Pedro José Zepeda). Ein Jahr lang widmet sie dieser Aufgabe ihr ganzes Tun, bis sie sich schließlich immer mehr von Sandinos Politik entfernt und sich zurückzieht. Außerliterarischer Bezugspunkt des Romans ist also die für die jüngere Geschichte Nicaraguas und die Konstruktion einer nationalen Identität so bedeutende Phase von der Erklärung Sandinos im Juli 1927, den Kampf gegen die US-Invasoren auch nach dem Ende des Konstitutionalistischen Krieges und dem Pakt von Espino Negro (vom Mai 1927) zwischen den nicaraguanischen Generälen und dem US-Repräsentanten Stimson über einen Verbleib der US-Truppen in Nicaragua weiterzuführen, bis zum Amtsantritt des neu gewählten Präsidenten Moneada im November 1928 (die erzählte Zeit des Romans umfasst die Zeitspanne von August 1927 bis zum 27. November 1928). Wie für viele in den neunziger Jahren erschienene Romane mit historischer Thematik ist auch für diesen Text der Rekurs auf zahlreiche Erzähltechniken des neuen lateinamerikanischen, insbesondere historischen Romans kennzeichnend: die enge Vermischung von authentischen historischen Personen mit fiktiven (die Hauptfigur, Esmeralda, ist frei erfunden), die Erzählung des historischen Geschehens aus der Sicht der fiktiven Gestalten, die Überblendung verschiedener Zeitebenen durch zahlreiche Rückblenden, die Verwendung intertextueller Verfahren, die Vermischung von authentischen und erfundenen »Dokumenten«. So werden Fragmente von Texten aus Sandinos Feder, wie Briefe, Proklamationen und Berichte, und aus Büchern über Sandino in den Text montiert, paraphrasiert und in Form des Palimpsests überschrieben, wobei diese letztere Technik überwiegt. 90 Neben diesen Elementen bezieht der Roman seine dialogische Struktur und seine Vielstimmigkeit aus den unterschiedlichen Perspektivierungen und Fokalisationen seiner vier Teile. Im ersten Teil wird in der dritten Person das Engagement Esmeraldas für die Guerilla Sandinos (und ihre beginnende Liebe
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Die Autorin bedient sich dabei insbesondere der von Sergio Ramírez herausgegebenen Auswahl der Schriften Sandinos El pensamiento vivo (1981 und 1984), des Buches Banana Gold (1932) des US-Joumalisten Carleton Beals, das von Begegnungen mit Sandino berichtet, und der ersten wissenschaftlichen Studie über Sandino, The Sandino Affair (1967) des nordamerikanischen Historikers Neill Macaulay.
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zu einem der wichtigsten Generäle Sandinos, Miguel Angel Ortez) erzählt. Hauptperson des (ebenfalls in der dritten Person erzählten) zweiten Teils ist der Künstler Frutos de Alegría, der vom noch amtierenden Präsidenten Adolfo Díaz zum »Secretario Nacional de Festejos« ernannt und mit der Organisation der Feierlichkeiten zum Empfang des designierten US-Präsidenten Herbert Hoover in Nicaragua betraut wird. Ausführlich wird die Vorbereitung dieser Feierlichkeiten geschildert. Der dritte Teil besteht aus sich abwechselnden Auszügen aus den Tagebüchern von Esmeralda und Frutos (in der ersten Person geschrieben) über die Vorbereitung des Empfangs für Hoover, die politische Situation und Intimes (Esmeraldas Liebe zu Ortez, Frutos' unerwiderte Liebe zu Esmeralda). Der vierte Teil schließlich erzählt den Tag des Staatsbesuchs, zunächst aus der Perspektive einer allwissenden Erzählerin (in dritter Person), schließlich direkt (in zweiter Person) an Clara gewandt, eine Bekannte Esmeraldas aus einer ihr nahestehenden Familie aus einfachen Verhältnissen, die bei dem Empfang Hoovers eine Freiheitsstatue verkörpern soll." Die ironische Grundstruktur des Romans ist nicht zu übersehen: Ausgerechnet der aus einer liberalen Familie stammende, nach wie vor auf seine liberale Überzeugung stolze und für die Unabhängigkeit Nicaraguas von den USA eintretende Frutos de Alegría, der seine in der Tradition der Aufklärung stehende Ausbildung in Frankreich erfahren hat, und die ebenfalls in Europa erzogene Esmeralda, die für Sandinos Befreiungsheer tätig ist, verwenden einen Großteil ihrer Energien und Fähigkeiten darauf, einen Empfang für den höchsten Repräsentanten der US-Invasionsmacht und die Schaffung einer Freiheitsstatue zu seinen Ehren vorzubereiten. Dieses parodische Erzählen führt zu einer Dekonstruktion der offiziellen nicaraguanischen Geschichte, die noch dadurch verschärft wird, dass sie von den Rändern und von unten her erzählt wird: aus der Sicht einer der Oberschicht angehörenden Frau, die Philosophie studiert hat und sich für die Kunst bis in ihre aktuellsten Tendenzen (Frida Kahlo, Tina Modotti u.a.) interessiert, jedenfalls im damaligen Kontext nichts in der Politik verloren hat, aus der Perspektive eines Künstler-Bohemiens, der bestenfalls als karnevaleskes Element am Rande der politischen Entscheidungszentren akzeptiert wird, und schließlich gar mit den Augen einer jungen Frau aus einfachen Verhältnissen, die kaum des Lesens mächtig ist. Mit dem Wiederlesen, Interpretieren und Überschreiben der offiziellen historiografischen Texte, aber auch der Erklärungen Sandinos, von Presseartikeln, Briefen und Gedichten sowie Erzählungen der Epoche, mit dieser Dekon-
"
In der Konzeption Genettes gibt es in diesem Roman also die folgenden Erzählerinstanzen: Teil I - extradiegetisch-heterodiegetisch, Teil II - extradiegetisch-heterodiegetisch, Teil III intradiegetisch-homodiegetisch, Teil IV - extradiegetisch-heterodiegetisch und intradiegetisch-heterodiegetisch.
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struktion der Sprache sucht die Autorin den kolonialen Diskurs subversiv zu unterlaufen und einen authentischen Diskurs der nicaraguanischen Identität zu konstruieren - aus der Sicht der Vergessenen, Marginalisierten und Unterdrückten. Bei dieser Suche nach dem authentischen Nicaragua rekurriert sie zum einen auf den subversiven politischen Diskurs Sandinos, zum anderen auf den poetischen Diskurs Rubén Darios, wie die Autorin in einem Aufsatz zu ihren beiden Romanen El ultimo juego (1976) und Libertad en llamas erläuterte: »He dicho - y quisiera reiterarlo - , que en LIBERTAD EN LLAMAS presenté la historia desde los márgenes, desde la periferia y desde el límite. Ahora, así lo hice fue porque esto me permitió no sólo ficcionalizar y, en cierta medida, bajar del pedestal a los personajes consagrados por la historiografía oficial, sino también presentar la voz del otro, de aquel hombre y de aquella mujer anónimos en quienes desde hace casi un siglo se han reflejado - y distorsionado, también - , una y otra vez, los múltiples rostros y las tantas aristas del pensamiento fecundo de Sandino y de Darío: los dos pilares - el político y el poético - , donde, a mi parecer, descansa el meollo del ser nicaragüense.« (Guardia, 2000: 10)'2
Aber auch der Versuch dieser Konstruktion einer authentischen nicaraguanischen Identität von unten und »von innen« (durch das poetische Wort) gelingt nur zum Teil: Im dritten Teil wird eine fiktive Begegnung Esmeraldas mit Sandino (vermittelt von Carleton Beals) erzählt, in der Esmeralda dem General ihren Rückzug vom politischen Engagement für die Guerilla ins Gesicht sagt. Zwar werden in der dargestellten fiktiven verständnisvollen Reaktion Sandinos einige Züge seines für die nicaraguanische Nation konstituierenden Mythos bekräftigt, wie seine Bereitschaft, über einen Kompromiss mit dem gewählten Präsidenten Moneada nachzudenken, und sein unbeugsamer Antiimperialismus. Gleichzeitig wird jedoch mit der offenen Benennung der fehlenden taktischen Flexibilität in innenpolitischen Fragen und dem offen autoritären Zug gegenüber seinen Untergebenen (er gestattet Esmeralda und Ortez nur noch ein letztes Treffen, quasi unter seiner Kontrolle), der Esmeralda vor Zorn am ganzen Körper zittern lässt, der Mythos Sandino quasi von der Flanke her aufgerollt. Durch das ganze Buch ziehen sich kritische Bewertungen der Politik des Generals (etwa in Bezug auf terroristische Auswüchse und sein ablehnendes Verhalten gegenüber den Wahlen von 1928), die auf der Höhe der Erkenntnisse der neuesten Geschichtsschreibung über Sandino sind.93
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Das Manuskript dieses unveröffentlichten Essays wurde mir von der Autorin freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Vgl. dazu insbesondere die vorzügliche Studie Volker Wünderichs: Sandino. Eine politische Biographie (1995).
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Ähnliches gilt für den Versuch der (Re)Konstruktion der nicaraguanischen Nation und Identität durch die Poesie bzw. die Kunst. Wie Sandino ist Rubén Dario im ganzen Roman omnipräsent. Kurz nach seiner Ernennung zum Staatssekretär besucht Frutos de Alegría, das Alter Ego Darios, den Parque Central in Managua, wo ihm vor dem von ihm selbst geschaffenen Denkmal des Poeten und Freundes die Erleuchtung kommt, beim Empfang Hoovers den Freiheitswillen der nicaraguanischen Nation unter Berufung auf Darios Begriff von »libertad« in einem Abbild der New Yorker Freiheitsstatue zu symbolisieren. Erst am Tag des Staatsbesuchs selbst lüftet Frutos das Geheimnis, dass diese Statue eine lebende sein wird, verkörpert von der jungen Clara. Wie bereits ausfuhrlich geschildert, 94 geht diese Statue schließlich in Flammen auf - unbeachtet vom Präsidenten der USA und den Vertretern der einheimischen politischen Klasse der criollos, aber auch vom einfachen Volk. Auch dieses nimmt keine Notiz von der Freiheitsstatue, besäuft sich an den für den Empfang Hoovers aufgebauten Ständen, tanzt und schreit »Viva Sandino«. Alles ist wie vorher: »Nada ha cambiado.« (331) Mit diesem Satz endet der Roman. Die aus dem Vergessen gerettete Geschichte der Unterdrückten und Marginalisierten schließt sich nicht zu einer neuen Hegemonie, der Rand wird nicht zu einem neuen Zentrum erklärt, die neue Identität bleibt brüchig. Nicht nur der offizielle historiografische Diskurs wird dekonstruiert, auch die alternativen Diskurse werden einer Relativierung unterzogen, wie die Autorin in dem bereits zitierten Aufsatz formulierte: » [...] al emprender la faena de la búsqueda de la identidad nacional [...] a través de la desconstrucción del discurso colonial, no sólo descatolicé y desmembré la historia oficial sino que politicé mi propio discurso. Y esto fue así porque al introducir la relatividad en el trato de la historia, esto me encaminó necesariamente a la aceptación de múltiples puntos de vista - incluso de los míos propios - , y, como consecuencia, el acogimiento y revalorización de las visiones alternas. Es más, debo decir que dentro esta nueva visión, tanto de la novela, como de la historia, me atuve a reflejar algunos eventos históricos específicos pero presenté, al mismo tiempo, diversas interpretaciones y múltiples temporalidades, para poder darle otras lecturas a los acontecimientos registrados por la historiografía conocida.« (Guardia, 2000: 11) Diese Widersprüchlichkeit und Politisierung resultieren aus mehrfachen Anachronismen und insbesondere aus dem feministischen Diskurs des Buches: Die hehren Freiheitsideen der französischen Revolution und des individuellen Ästhetizismus bleiben in einem historischen und sozialen Kontext ohne realen Boden, in dem die einheimische Elite ihre Interessen durch den »Verkauf« der Nation an den »großen Bruder« im Norden zu sichern sucht, während die
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Vgl. das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«.
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unteren Klassen noch in der Guerillavariante Sandinos in der jahrhundertelangen Tradition des machismo-caudillismo befangen sind. Die in den Idealen der europäischen Aufklärung erzogene Tochter aus gutem Hause bleibt im wahrsten Sinne des Wortes ein Fremdkörper in der von Männern und dem kolonialen Diskurs dominierten nicaraguanischen Gesellschaft. Der metatextuell eingeschmuggelte feministische Diskurs der Autorin vom Ende des 20. Jahrhunderts legt sich quer zu einer Geschichte - erzählt als Abfolge von Gründungsakten heroischer Männer.95 Die Freiheit ist keine Statue, kein Held und auch keine Heldin aus Marmor, Bronze oder Ton, »sino la capacidad de elegir según las opciones que puedes tener frente a tí« (320), Geschichte wird im Hier und Jetzt und im Plural konstruiert. Erstmalig und einzigartig in der nicaraguanischen bzw. zentralamerikanischen Literatur wird der nationale Mythos Sandino aus weiblich-feministischer Perspektive hinterfragt. Die in Flammen aufgehende Freiheitsstatue wird zur Allegorie für das Scheitern der nationalen Unabhängigkeit im Zeichen von Aufklärung und Poesie, aber auch in der alternativen Variante des bewaffneten Kampfes des kleinen Generals »de Hombres Libres« und seines »pequeño ejército loco«.96 Die Anachronismen stehen im Dienst einer Literatur, die Geschichte erzählt, wie sie nicht hätte sein dürfen.
Der Romanautor als Geschichtenschreiber oder Wahre Lügen und verlogene Wahrheiten Der überwiegende Teil der seit Ende der achtziger Jahre in Nicaragua immer zahlreicher veröffentlichten Romane mit historischen Thematiken, so hat die in diesem Kapitel unternommene Analyse ergeben, folgt den Paradigmen des Diskurses der nueva novela histórica hispanoamericana sozusagen aufs Wort. Wenn es gerechtfertigt ist, von einem Paradigmenwandel in der nicaraguanischen Romanliteratur der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert zu sprechen, dann auch und in besonderer Weise im Hinblick auf den neuen historischen Roman. Während es in der novela testimonio darum ging, die historische Wahrheit zu (re)konstruieren, indem die Geschichte aus der autobiografischen/individuellen Perspektive in Repräsentation eines neuen kollektiven/ nationalen Subjekts (der Subalternen und Marginalisierten) erzählt wurde, und während in anderen Romanen (wie wir zum Beispiel bei La mujer habitada von Gioconda Belli gesehen haben) bei der Konstruktion einer
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Vgl. dazu das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«. So die Titel zweier Bücher des argentinischen Schriftstellers Gregorio Selser, die wesentlich zur Konstruktion des Mythos Sandinos auch in Nicaragua beigetragen haben: El pequeño ejército loco. Sandino y la operación México-Nicaragua (1958) und Sandino, General de Hombres Libres (1960). Vgl. dazu Wünderich (1995: bes. 9-13) und Mackenbach (1995a: bes. 66-80).
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kollektiven/nationalen Identität auf die Rekonstruktion eines Mythos rekurriert wurde, brechen viele der in den letzten Jahren veröffentlichten Romane mit diesen Traditionen, indem sie sich der wesentlichen zu Beginn dieses Kapitels unter Rekurs auf die Arbeiten Seymour Mentons, María Cristina Pons', Fernando Aínsas, Amalia Pulgarins, Ramón Luis Acevedos (für Zentralamerika) und anderer zusammengefassten Elemente des neuen historischen Romans in Hispanoamerika bedienen.97 Die Mehrheit der hier vorgestellten Romane bedient sich der vielfaltigen für den zeitgenössischen (auch lateinamerikanischen) Roman charakteristischen narrativen Techniken und Figuren - wie Intertextualität, Anachronismus, Polyphonie, Parodie, Hypertextualität, Metatextualität, Metafiktion u.a. - mit dem Ziel der »Enthistorisierung« des Historischen, das heißt der Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart, oder wie es Ramón Luis Acevedo in seinem bereits zitierten Essay über den neuen historischen Roman in Guatemala und Honduras schrieb: » [...] el libre entrejuego entre pasado y presente ocupan un lugar privilegiado« (Acevedo, 1998: 15). Das Vergangene ist nichts Festes, Unveränderliches, Abgeschlossenes, sondern verbindet sich mit der nicht abgeschlossenen, offenen, veränderlichen Gegenwart. Geschichte ist also veränderlich in Abhängigkeit von der Position, aus der sie heute mit Sicht auf ein Morgen geschrieben wird. Dies resultiert auch in Nicaragua in einer Politisierung des zeitgenössischen historischen Romans, einer Tendenz, die Maria Cristina Pons für Hispanoamerika im Allgemeinen konstatierte: »La (re)escritura del pasado desde los márgenes y desde abajo en relación (y en oposición) con la Historia escrita desde el centro y desde arriba, le da a la novela latinoamericana contemporánea una dimensión reflexiva y un carácter político, y no meramente filosófico.« (Pons, 1996: 268, vgl. 262f., 265f.) Diese Aktualisierung und Politisierung stehen, wie dargestellt wurde, im
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Mentón konstatiert, dass »en la década de los ochenta la producción de estas obras testimoniales bajó notablemente como reflejo del ocaso de los movimientos guerrilleros revolucionarios en toda América Latina« und dass sie »nunca alcanzó la alta productividad, la gran variedad y la calidad artística sobresaliente de la Nueva Novela Histórica« (Mentón, 1993: 55). Sich auf eine Studie von Yúdice stützend weist Maria Cristina Pons auf die enge Beziehung zwischen Testimonialliteratur und zeitgenössischem historischem Roman hin, insbesondere in Bezug auf das Schreiben und Neuschreiben der Geschichte im testimonio »como una práctica política y como una forma de afectar la memoria histórica colectiva y el proceso de redefinición de la identidad, a partir de una proyección de un mundo cultural distinto y del cuestionamiento de los modos hegemónicos de representación de la realidad histórica y de la alteridad« (Pons, 1996: 265f.). Dabei berücksichtigt sie jedoch nicht den entscheidenden Unterschied zwischen testimonio und neuem historischem Roman, das heißt den Anspruch des fésíi'monío-Diskurses auf metonymische bzw. synekdochische Repräsentation von Wirklichkeit/Geschichte und die Relativierung, Fragmentierung, Individualisierung jeder historischen »Wahrheit« in Letzterem.
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Spannungsfeld vielfältiger zeitgenössischer Diskurse, darunter der historiografischen, ästhetischen und politisch-ideologischen. Wie gesehen verlagern die Autoren diese Beziehung zur Aktualität in die Texte selbst, sei es indem sie sich unter die Personen des Romans mischen, wie zum Beispiel Julio ValleCastillo als »Escribano Real« oder Sergio Ramírez als »niño por nacer«, sei es durch mehr oder weniger direkte Anspielungen auf zeitgenössische außertextuelle Diskurse und Ereignisse mithilfe von Paratexten, Metafiktion oder anderen narrativen Verfahren.98 Die Autoren bedienen sich der Vermischung der Untergattung historischer Roman mit anderen Subgattungen, wie etwa dem Kriminalroman, dem Liebes- bzw. Kitschroman , dem Diktatorenroman und der »novela de costumbres« mit dem Ziel, die Geschichte zu »de-zentrieren«.'" Gleichzeitig sprengen die Romane allzu enge Definitionen des historischen Romans, wie sie sich etwa in der Festlegung der erzählten Zeit auf eine Epoche, die der Romanautor nicht miterlebt hat, oder gar in dem Postulat manifestierten, die Romanpersonen müssten sich so verhalten, wie sich reale Personen in der erzählten historischen Epoche verhalten hätten oder hätten verhalten können.100 Viele der analysierten Romane brechen nicht nur auch in dieser Hinsicht auch innertextuell mit der strikten Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart bzw. einer Chrono-Logik der erzählten Zeit, sondern ebenso mit der Forderung nach historischer Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit, u.a. indem sie auf nicht bzw. antimimetische Formen der narrativen Repräsentation und Präsentation von Geschichte rekurrieren. Darüber hinaus hat das Panorama des historischen Romans in Nicaragua am Ende des Jahrhunderts ein facettenreiches und durchaus widersprüchliches Bild ergeben, nicht nur unter dem Aspekt, wie der beschriebene Wandel innerhalb der Gattung - vom traditionellen historischen Roman mit seiner »función legitimadora de un poder hegemónico« (Pons, 1996: 256) zum zeitgenössischen historischen Roman, der die Geschichtsschreibung von alternativen Perspektiven her in Frage stellt - realisiert wird, sondern auch in Bezug auf das Verhältnis zwischen außerliterarischer Wirklichkeit und erzählten Welten. Der zeitgenössische historische Roman in Nicaragua bewegt sich in einem Kraftfeld, dessen Pole Francisco Rodríguez in seinem Aufsatz über den Roman El
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Diese Tendenz ist in unterschiedlicher Intensität auch präsent in zahlreichen in Zentralamerika veröffentlichten Romanen wie etwa in Jaguar en llamas (1989) von Arturo Arias und El misterio de San Andrés (1996) von Dante Liano - Guatemala Rey del Albor, Madrugada (1993) von Julio Escoto - Honduras - , Tierra (1992) von Ricardo Lindo - El Salvador Asalto al paraíso (1992) und El año del laberinto (2000) von Tatiana Lobo sowie Las estirpes de Montánchez (1993) von Fernando Durán Ayanegui und Historia de un testigo interior (1990) von Rosibel Morera - Costa Rica - und Manosanta (1997) von Rafael Ruiloba - Panama. Vgl. dazu Mackenbach, 2001a. Vgl. dazu bes. Kozak Rovero (2001: 37) und Wellinga (1991: 3). Vgl. dazu oben (bes. Fußnote 7) die Positionen von Mentón in Anlehnung an Anderson Imbert sowie von Mata in Anlehnung an Eco.
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burdel de las Pedrarias von Ricardo Pasos Marciacq beschrieb: »En consecuencia, entre la historia y la literatura existe una relación de complementariedad que se evidencia con mayor claridad en la novelística histórica, donde está presente la convención ficticia a partir de las fuentes históricas, ya sea para respetarlas, para desacralizarlas o para deconstruirlas e inventarlas, en lo que se ha llamado 'el revisionismo paródico de la nueva novela histórica'.« (Francisco Rodríguez, 1996: 3) María Cristina Pons' Kritik an Seymour Mentón bestätigend, der allzu schematisch von einer Ablösung des traditionellen historischen Romans durch die nueva novela histórica als zeitlicher Abfolge sprach, kann die Situation auch in dieser Hinsicht mit Carlos Rincóns Äußerung von der »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen« (vgl. Rincón, 1995: 220) beschrieben werden:101 Das Spektrum der in Nicaragua am Ende des 20. Jahrhunderts geschriebenen und veröffentlichten Romane mit geschichtlicher Thematik reicht von Texten, die den Parametern des traditionellen historischen Romans des 19. Jahrhunderts folgen, bis zu Texten, die sich aller innovativen und gar experimentellen Techniken des zeitgenössischen Romans bedienen. Selbst die Romane, die sich die für die nueva novela histórica als typisch erachteten Elemente zu Eigen machen (und das ist die Mehrheit der in diesem Kapitel untersuchten), weisen große Unterschiede hinsichtlich der Funktion dieser Elemente für die Repräsentation und Präsentation von Geschichte bzw. Realität im Roman auf. d e mente Guido bedient sich zum Beispiel einiger dieser Elemente, um - ganz im Stil des traditionellen historischen Romans - schon in der offiziellen Historiografie sanktionierte nationale Gründermythen literarisch zu gestalten und zu bekräftigen. Ricardo Pasos Marciacq rekurriert auf Techniken des neuen historischen Romans, um Geschichte von unten und den Rändern her zu erzählen, »wie sie wirklich war«, und damit ein neues, alternatives Zentrum zu schaffen. Andere, wie Jorge Eduardo Arellano und Enrique Alvarado Martínez, erzählen Geschichte ebenfalls aus der Sicht der Vergessenen und Subalternen, ohne dass sie noch den Anspruch auf totalisierende historische Erkenntnis erheben. Bei Sergio Ramírez, und in geringerem Maße auch bei Rosario Aguilar, Julio Valle-Castillo und Gloria Guardia, wird die Rekonstruktion geschichtlicher Wahrheit - auch von den Rändern her, in ihrer alternativen Form - grundsätzlich in Frage gestellt. Während Erstere mimetische Formen der Repräsentation privilegieren (gar eine Beziehung der Korrespondenz postulieren), überwiegen bei Letzteren nicht bzw. explizit antimimetische und die literarische Repräsentation ironisierende Formen.
IOI vgl. dazu auch das Kapitel »Ausfahrt: Literarischer Nationalismus und neue Unübersichtlichkeit«.
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Für die Mehrheit der zeitgenössischen nicaraguanischen historischen Romane trifft zu, was Luis Ramón Acevedo für die von ihm analysierten zentralamerikanischen Romane von Arturo Arias und Julio Escoto feststellte: »En ambos casos se construyen vastos murales encaminados a revisar la versión oficial de la historia y a construir nuevas definiciones de la identidad nacional en las cuales los sectores populares, los vínculos internacionales [...] ocupan un lugar privilegiado. La multiplicidad discursiva y el libre manejo de la diversidad de técnicas narrativas también son comunes.« (Acevedo, 1998: 15) Was die Mehrheit der von mir untersuchten Romane angeht, kann eine weitere Schlussfolgerung gezogen werden. Das Urteil von María Cristina Pons über die Suche und die Konstruktion neuer Identitäten im hispanoamerikanischen Roman scheint auch für Zentralamerika bzw. Nicaragua zu gelten: dass es schon nicht mehr um eine nationale und von einer hegemonialen Machtposition aus aufgezwungene Identität gehe, sondern »de una identidad de la diferencia y/o de identidad regional de resistencia al efecto homogeneizador del proceso de globalización en el que se enclavan« (Pons, 1996: 264). Diskutiert werde eine Konzeption von Lateinamerika, und in unserem Kontext ist zu präzisieren: Zentralamerika bzw. Nicaragua, »heterogénea y plural en que [...] el sujeto pueda reconocerse no en uno sino en varios rostros« (ibid.) - oder wie es Sergio Ramírez formulierte: »Arguedas me enseñó [...] que la identidad que perseguíamos era múltiple, y que en esa diversidad, hermosa y complicada a la vez, estaba también su razón de ser. Diversidad, multiplicidad, allí debíamos reconocernos mientras prosiguiera la búsqueda. Eramos todas las sangres, todas las voces, todos los caminos.«102 Der neue historische Roman verweigert sich der Vereinnahmung für die Konstruktion einer nationalen Identität, er sträubt sich gegen den Nationalismus, zunehmend rückt die Rede von kultureller Heterogenität und postnationalen Identitäten in den Mittelpunkt des literarischen Diskurses. Das hier vorgestellte Panorama hat auch gezeigt, dass der Wandel in der Gattung in entscheidender Weise das Verhältnis zwischen Geschichte und Fiktion beeinflusst. In Bezug auf die hispanoamerikanischen Literaturen im Allgemeinen hat Maria Cristina Pons konstatiert, dass sie in ihrer Infragestellung der offiziellen Versionen der Geschichtsschreibung nicht die Möglichkeit des Wissens über die Vergangenheit und insbesondere der Schaffung von gültigen alternativen Versionen negierten. Der jüngste historische Roman stelle zwar
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Aus der Dankesrede bei der Verleihung des kubanischen »Premio Latinoamericano José Maria Arguedas« für Margarita, está linda la mar am 20. Januar 2000 in Havanna; hier zitiert nach der Homepage von Sergio Ramírez: www.sergioramirez.org.ni.
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die Beziehung zwischen Fiktion und Geschichte in Frage, er identifiziere aber Geschichte nicht mit Fiktion und umgekehrt, und noch weniger zerstöre er die Grenzen zwischen Fiktion und Geschichte/Realität, (s. Pons, 1996: 266f.) Das scheint nur bedingt auf Zentralamerika bzw. Nicaragua zuzutreffen. In seinem 1996 erschienenen historischen Roman El misterio de San Andrés schreibt der guatemaltekische Autor Dante Liano in dem Paratext »Deudas y reconocimientos« unter Rückgriff auf eine Maxime Peter Handkes: »a mayor ficción, mayor verdad. Si esta novela parece realista, se debe a que no lo es en absoluto.« (399f.) In Un baile de máscaras erkennt der Autor Sergio Ramírez in der Stimme der Tante Victoria seines Romans an, dass »la vida era como las novelas de los novelistas, y más« (45), um in seinem letzten Roman Margarita, está linda la mar ein Loblied auf den Triumph der Poesie über die Macht (des Tyrannen) anzustimmen.103 In seinem bereits erwähnten vergleichenden Aufsatz zu Gabriel García Márquez' El general en su laberinto und Sergio Ramírez' Margarita, está linda la mar resümiert Erick Aguirre: »Ambos nos dicen, entre líneas, que para llegar al profundo conocimiento de la verdad, la mejor ruta es la construcción de 'mentiras' noveladas, es decir, esa mentira sin mácula que sin duda constituye la gran verdad de toda buena novela.« (Aguirre, 2001a: o.S.)104 Gilt das nicht für den jüngsten historischen Roman in Nicaragua insgesamt, der sich mehrheitlich der Verbreitung »wahrer Lügen« gegen die »verlogenen Wahrheiten« der offiziellen, in politisch-ideologischen Diensten stehenden Historiografie verschrieben hat? In der Tat scheint er den Maximen Hayden Whites zu folgen, die Imagination sei unabdingbar, um historische Wirklichkeit zu repräsentieren, da ohne ihre Hilfe eine Rekonstruktion der Vergangenheit im Bewusstsein und im Diskurs nicht möglich sei, da wir die historischen Fakten, Prozesse und Strukturen nicht mehr direkt wahrnehmen bzw. erleben könnten, (vgl. White, 1990: 77; Grinberg Pia, 2001: o.S.) Jedenfalls legt das hier dargestellte Panorama nahe, nicht in neue kategorische und ausschlie-
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Ähnliches wurde in Bezug auf den Roman Las estirpes de Montänchez (1993) des Costa-Ricaners Fernando Duran Ayanegui geschrieben, der »no sólo replantea de manera novedosa el problema de la identidad latinoamericana sino que, además, transgrede los límites tradicionales entre historia y literatura [...] Los hechos políticos y los protagonistas de la historia continental aparecen unificados bajo la figura de un personaje literario que abiertamente se confiesa como un falsificador de su propia identidad. Al hacer esto, la novela le resta veracidad al discurso histórico y se la confiere al literario.« (Rojas/Ovares, 1995: 234f.) Für den Roman Historias de un testigo interior (1990) von Rosibel Morera, ebenfalls aus Costa Rica, wurden seine »reflexión sobre el quehacer literario y las fronteras entre la literatura y la realidad«, seine »contusión entre realidad y ficción«, die Vermischung von »la historia social de una época y el diario íntimo de la aventura moral« (Rojas/Ovares, 1995: 240,241) hervorgehoben. Nicht von ungefähr betitelte Sergio Ramiréz sein 2001 (México, D.F.: Alfaguara) erschienenes Buch mit Essays über Literatur und literarisches Schreiben: Mentiras verdaderas.
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ßende Urteile zu verfallen. Auch im Hinblick auf die Beziehung zwischen Geschichte und Fiktion ist der zeitgenössische nicaraguanische Roman auf der Suche. Die Situation bleibt unübersichtlich, das Ende ist offen. Die Mehrheit der Autoren entzieht sich der Anmaßung, Geschichte im Singular und von einem neuen Zentrum aus bzw. mit dem Anspruch auf die eine Wahrheit zu schreiben. Das verwundert nicht in einer Situation, in der wie gesehen selbst die Historiografie von Geschichten (das heißt im Plural) spricht. Nicht Historiografie (Imagination im Dienst der Geschichte), sondern Fiktion (Geschichte/n im Dienst der Imagination) ist ihre Prämisse: Geschichte als Vorwand für Literatur, wie es Julio Valle-Castillo in einem Interview formulierte (vgl. Sánchez Delgado, 1997: 12) und wie es schon bei Cervantes heißt: »Uno es escribir como poeta y otro como historiador; el poeta puede contar o cantar las cosas, no como fueron, sino como debían ser; y el historiador las ha de escribir, no como debían ser, sino como fueron, sin añadir ni quitar a la verdad cosa alguna.« (El Quijote, II, 3)105 Nochmals und definitiv: der Romanschreiber als Geschichtenschreiber.
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Zit. n. Spang/Arellano/Mata, 1995: 13. Selbst Hayden White hat, um noch einmal den historiografischen Diskurs in die Überlegung einzubeziehen, bei aller Verwischung der Grenzen zwischen Historiker und Künstler gefordert, »daß der Historiker ein gewisses Fingerspitzengefühl im Gebrauch seiner leitenden Metaphern zeigt: daß er sie weder überfrachtet mit Daten noch es versäumt, sie bis an ihre Grenzen auszuschöpfen; daß er die in der von ihm gewählten Diskursform implizit enthaltene Logik beachtet; und daß er, wenn sich zeigt, daß die Metapher nicht mehr bestimmte Arten von Daten zu integrieren vermag, diese Metapher aufgibt und sich um eine andere, reichere und umfassendere Metapher als die, mit der er begonnen hat, bemüht - in der gleichen Weise, wie ein Wissenschaftler eine Hypothese aufgibt, wenn sie sich erschöpft hat.« (White, 1986: 59) Eine der Funktionen des Künstlers wäre es dann gerade, dieses Fingerspitzengefühl bewusst zu verletzen.
Fünfter Kreis Raum und Text »La montaña [...] es una gran escuela, adonde formamos hombres también, y luego inyectamos la ciudad de hombres sólidos que ayuden a desarrollar la ciudad.« Ornar Cabezas, La montaña es algo más que una inmensa estepa verde »Hemos nacido en dos mundos lejanos. Nuestros orígenes, nuestra educación, los países que han rodeado nuestra niñez, todo es diferente [...] Por siempre seremos extraños el uno al otro.« Rosario Aguilar, Siete relatos sobre el amor y la guerra »Por supuesto que el Bording House San Antonio quedaba en el centro de Managua y no era sólo eso, sino que era el centro, como punto de fuga de todo el circulito donde se movía la pelota gruesa de Managua.« Carlos Alemán Ocampo, Bording House San Antonio
Vom Raum im Kopf zum Raum im Text Die alte (kulturelle) Kartografie sei an ihre Grenzen gestoßen, schlussfolgert die costa-ricanische Literaturwissenschaftlerin María Amoretti Hurtado in einem Essay über den Roman La casa de los Modragón (1998) von Gloria Elena Espinoza de Tercero. Dringend notwendig sei es, ein neues Haus und eine neue Identität zu konstruieren: »Estamos actualmente en un proceso histórico que requiere de una especie de expatriación. En vez del limitado colectivo idílico se busca un nuevo colectivo capaz de albergar a toda la humanidad con su multicultural diversidad. Se busca una casa onírica en la que quepan todos, sin exclusiones territoriales o de dominio; una casa de claros y espaciosos aposentos donde la imaginación se regodee en su intimidad sin culpas.« (Amoretti Hurtado, 2000: 130)
Was hier in nahezu hymnischem Ton eher beschworen als klar formuliert wird, enthält gleichwohl im Kern einige für die literarische Geografie der jüngeren lateinamerikanischen und auch speziell zentralamerikanischen Erzählkunst beziehungsreiche Anspielungen: die Bedeutung von Raumvorstellung, Raumwahrnehmung und Raumdarstellung, ihre Verbindung mit dem Problem der Suche nach (individuellen, nationalen, ethnischen, geschlechtsspezifischen, regionalen usw.) Identitäten, die Verwendung von literarischen Raummetaphern zur Repräsentation außerliterarischer Denkfiguren und physischer Realitäten, schließlich den Hinweis auf Veränderungen und Brüche in der literarischen Raumdarstellung in Latein- bzw. Zentralamerika. Schon für den quali-
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tativen Wandel innerhalb der hispanoamerikanischen Romanliteratur seit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts sah Marina Gálvez Avero in ihrer Studie La novela hispanoamericana contemporánea als einen von drei entscheidenden Faktoren »la aparición de un nuevo espacio geográfico« (Gálvez, 1987: 69).' Parallel zu den massiven demographischen Prozessen der Urbanisierung habe sich damals eine ähnliche Entwicklung im Roman vollzogen: »En la novela, esta situación se traduce en la necesidad de enfatizar el nuevo espacio urbano. La ciudad, a partir de ahora (y naturalmente los problemas del hombre que la habita), pasa a ocupar el lugar que la Naturaleza y las preocupaciones sociales tenían en la novelística anterior.« (Gálvez, 1987: 70) Diese Veränderung der literarischen Geografie habe sich jedoch nicht nur und vorrangig in thematischer Hinsicht manifestiert, sondern ihre Bedeutung erst durch die neue Art der narrativen Repräsentation und Präsentation von Raum erhalten, als »proceso de modernización de las formas literarias que en él se registra« (ibid.: 71). Kann, wie es Maria Amoretti Hurtado andeutet, Ende des 20. Jahrhunderts von einem neuerlichen Wandel der literarischen Geografie insbesondere in Zentralamerika gesprochen werden? Seit den ersten Briefen und Berichten der Chronisten und Reisenden, die im Zuge der Conquista in die »Neue Welt« kamen, spielt die Erfahrung des Raums in der Literatur über Lateinamerika bzw. in der lateinamerikanischen Literatur eine herausgehobene Rolle. In ihrer im Jahr 2000 erschienenen Untersuchung Literarische Geographie Lateinamerikas hebt Andrea Mahlendorflf hervor, dass in den lateinamerikanischen Literaturen der Raum, genauer die Entwicklung eines Raumbewusstseins, eng mit der Suche nach eigener Identität/eigenen Identitäten verbunden gewesen sei, insbesondere ausgehend von den Unabhängigkeitsbestrebungen seit Mitte des 18. Jahrhunderts und der Gründung unabhängiger Staaten Anfang des 19. Jahrhunderts, (vgl. Mahlendorff, 2000: 10) Allerdings, so konstatiert MahlendorfF, sei in der Literaturwissenschaft »der Themenkomplex des Raumbewußtseins als Ausdruck räumlicher Identität« (ibid.) kaum berücksichtigt worden. Inzwischen liegt eine Fülle von kenntnis- und aufschlussreichen Studien zu der Frage vor, »wie die neue Welt in die alte kam« (so der Titel des viel beachteten, erstmals 1986 veröffentlichten Buches von Frauke Gewecke), das heißt
Vgl. Gálvez, 1987: 69-74. Die beiden anderen für die Entstehung der nueva novela hispanoamericana entscheidenden Faktoren sieht Gálvez in »un nuevo compromiso« und »un nuevo instrumento«, das heißt weg vom traditionellen sozialen und politischen Engagement, hin zu einer »Literarisierung« des Romans und weg vom traditionellen realistischen Paradigma zu neuen und experimentellen Erzähltechniken, (vgl. ibid.: 74-95, 120-123) Vgl. dazu auch die Kapitel »Bypass: Roman und Welt« sowie »Ausfahrt: Literarischer Nationalismus und neue Unübersichtlichkeit« der vorliegenden Arbeit.
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welche (auch räumlichen) Wahrnehmungskonzeptionen die Begegnung der Europäer mit dem lateinamerikanischen Kontinent bestimmten (und zum Teil bis heute bestimmen), wie das Bild des neuen Kontinents (das heißt auch seines Raums) in der europäischen Vorstellung und literarischen Darstellung konstruiert wurde und wie es wieder auf die lateinamerikanische (auch und vor allem literarische) Eigenwahrnehmung und -darstellung zurückwirkte.2 Auch zu einzelnen Denkfiguren, literarischen Figuren und Epochen sind verschiedene (zum Teil vergleichende) Arbeiten erschienen, darunter Rössners Untersuchung zur Denkfigur des verlorenen Paradieses und Ainsas Studien zur utopischen Konstruktion des lateinamerikanischen Raums durch die Europäer sowie den Zentripetal- und Zentrifugalbewegungen der literarischen Figuren und ihren Funktionen für die Konstruktion eines »espacio literario americano« (Ainsa, 1977: 14) auf der Suche nach der Identität »del hombre americano« (ibid.), außerdem eine Reihe von Arbeiten zu Einzelaspekten.3 In den letzten Jahren sind schließlich einige wenige Arbeiten zur Raumproblematik in den zentralamerikanischen Literaturen hinzugekommen, die sich insbesondere auf die literarische Wahrnehmung und Darstellung der Stadt und der Grenze sowie mit geschlechtsspezifischen und ethnischen Fragestellungen befassen.4 Der Aussage Mahlendorffs ist also nur bedingt zuzustimmen. Für die Mehrheit der Studien gilt allerdings ihr allgemeines Urteil, dass die Literaturwissenschaft sich in ihren Untersuchungen der hispanoamerikanischen Literatur mit der Frage der lateinamerikanischen Identität hauptsächlich unter kulturkritischem Blickwinkel beschäftigt habe. Dagegen zielt ihre Studie (die den Untertitel »Zur Entwicklung des Raumbewußtseins in der lateinamerikanischen Literatur« trägt) auf »die literarische Auseinandersetzung um das Mensch-Raum-Verhältnis und seine Auswirkungen auf die Identitätsbildung in Lateinamerika« (Mahlendorff, 2000: 10), das heißt sie »setzt sich mit den verschiedenen Ausdrucksformen räumlicher Identität auseinander und versucht, die gängigen Bilder, Topoi und Metaphern herauszustellen, die in einem bestimmten Zeitraum die Deutung des geographischen Raumes geprägt haben« (ibid.). Mahlendorff geht von einem Begriff des Raums aus, der sich nicht auf eine mathematisch-physische oder geometrische Kategorie beschränkt, sondern
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Neben Gewecke (1992) ist hier vor allem die grundlegende Studie vonTodorov (1985) zu nennen, ebenso die Arbeiten von Siebenmann (1992a und 1992b) und Siebenmann/König (1992) zur Imagologie (vgl. dazu auch Rall, 1996: bes. 418, 420) Vgl. Rössner (1988), Ainsa (1977 und 1986) sowie z.B. die Arbeiten von Bremer (1982), Ette (1986 und 1995), Rodriguez-Monegal (1989), Daus (1992), Nitschack (1992), Montaldo (1994), Cziesla (1996), Andermann (2000) und jüngst die umfangreiche Studie von Ette (2001), auf die ich weiter unten in diesem Kapitel ausführlich eingehe. Dies sind die folgenden Arbeiten: Garcia (1998), Escuela de Estudios Generales (1998), C6rdoba (1999) und Rodriguez (1994 und 1996). Auf sie komme ich weiter unten zurück.
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Raum als wesentliche Bedingung bzw. Bestandteil des menschlichen Lebens begreift, das heißt von einem Konzept, das die Beziehung zwischen dem Menschen und seiner räumlichen Umwelt einschließt. Unter Bezugnahme auf Arbeiten aus dem Bereich der Philosophie, insbesondere der Ontologie, und der Psychologie bzw. Psychopathologie spricht sie von dem Orts- und Raumbezug als einer Grundkategorie menschlicher Identität, von der »Räumlichkeit« als einem Wesenszug menschlichen Daseins und einem Raumbewusstsein des Menschen, das abhängig vom Ort und der Zeit seiner Existenz sehr verschieden sein kann.5 Gleichzeitig hebt sie den Paradigmenwandel hervor, den die Geografie - also die Wissenschaft, die sich schlechthin mit der Erkundung des Raums beschäftigt - seit den sechziger Jahren beeinflusst von der Anthropologie und der Psychologie erlebt hat. Sich auf Studien über environmental perception stützend, hat sich insbesondere die Wahrnehmungsgeografie auf einen »kognitiven Raum« konzentriert, das heißt nicht auf den »Raum an sich«, sondern auf die Wahrnehmung, Erfahrung und Bewertung des Raums durch den Menschen, die sein Handeln im Raum bestimmen. In diesem Kontext wurde von dem Geografen Roger M. Downs und dem Psychologen David Stea von »maps in minds«, »kognitiven Karten«,6 gesprochen, um die Raumbilder bzw. -Vorstellungen des Menschen zu bezeichnen, die in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt über einen Prozess der Interaktion, Selektion und Strukturierung entstehen. Mahlendorff betont, dieser Prozess beziehe »Maßstabsveränderungen, Perspektivenwechsel, Abstraktion und Symbolisierung in den Transformationsprozeß der Umwelt mit ein« (Mahlendorff, 2000: 16f.). Ausgehend davon wurde unter Einbeziehung psychologischer und psychoanalytischer Untersuchungen, insbesondere über Prozesse der Identifikation, die Bedeutung des kognitiven Raums für die Konstruktion von subjektiven und kollektiven Identitäten in den verschiedensten menschlichen Kulturen hervorgehoben, wie zum Beispiel in der von Mahlendorff angeführten Studie Peter Weichharts über räumlich-soziale Kognition und Identifikation:
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Sie stützt sich dabei vor allem auf die Arbeiten von M. Heidegger, O. F. Bollnow und M. Merleau-Ponty sowie von E. Minkowski, L. Binswanger und K. Lewin. (vgl. Mahlendorff, 2000: 13-15; zum Raumbegriff in der Philosophie vgl. auch Ströker, 1965) So die Übersetzung des Begriffs durch Robert Geipel in der deutschen Ausgabe des gleichnamigen Buches der beiden US-Wissenschaftler. Sie definieren den Begriff folgendermaßen: »Kognitives Kartieren ist ein abstrakter Begriff, welcher jene kognitiven oder geistigen Fähigkeiten umfaßt, die es uns ermöglichen, Informationen über die räumliche Umwelt zu sammeln, zu ordnen, zu speichern, abzurufen und zu verarbeiten. [...] Vor allem aber bezieht sich kognitives Kartieren auf einen Handlungsproze/?: es ist eher eine Tätigkeit, die wir ausfuhren, als ein Objekt, das wir besitzen. Es ist die Art und Weise, wie wir uns mit der Welt um uns herum auseinandersetzen und wie wir sie verstehen. [...] / Eine kognitive Karte ist ein Produkt, ist eines Menschen strukturierte Abbildung eines Teils der räumlichen Umwelt. [...] Sie spiegelt die Welt so wider, wie ein Mensch glaubt, daß sie ist [...] « (Downs/Stea, 1982: 23f.)
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»In einer ersten Teilbedeutung beziehen sich die Begriffe 'Raumbewußtsein' oder 'raumbezogene Identität' auf die kognitiv-emotionale Repräsentation von Raumausschnitten (qua erfahrbaren Ausschnitten der Wirklichkeit) in Bewußtseinsprozessen eines Individuums bzw. im kollektiven Urteil einer Gruppe. [...] Bei der zweiten Begriffsbedeutung [...] steht nicht die als kognitiv-emotionale Struktur repräsentierte Einheit eines Raumausschnittes im Vordergrund, sondern die Selbst-Identität eines Individuums oder das Wir-Gefuhl einer Gruppe. [...] Auf der Ebene sozialer Systeme verweist der Begriff auf die Identität einer Gruppe, die einen bestimmten Raumausschnitt als Bestandteil des Zusammengehörigkeitsgefiihls wahrnimmt, der funktional als Mittel der Ausbildung von Gruppenkohärenz wirksam wird und damit ein Teilelement der ideologischen Repräsentation des 'Wir-Konzepts' darstellen kann.« (Weichhart, 1990: 20, 23) Folgerichtig wurde der kognitive Raum als ein symbolischer, Identität(en) generierender Text gelesen, für deren Konstruktion einige binäre bzw. bipolare Beziehungen eine wesentliche Rolle spielen: so zum Beispiel der Gegensatz zwischen außen und innen sowie zwischen fremd und eigen. Schließlich hat Mahlendorff darauf verwiesen, dass sich im Raumbewusstsein des Menschen räumliche und zeitliche Dimensionen vermischen, das heißt dass die Interaktion des Menschen mit seiner räumlichen Umwelt einem historischen Prozess unterworfen ist, der Veränderungen in der Entwicklung von Konzeptionen der räumlich-kulturellen Identität einschließt. 7 Mahlendorff zielt in ihrer Studie darauf, die hier kurz zusammengefassten Ergebnisse philosophischer, anthropologischer, psychologischer und geografischer Untersuchungen für die Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen. Sie kritisiert, dass sich die Mehrheit der bisher vorliegenden Studien zum Raum in der Literatur vor allem mit stilistisch-funktionalen Aspekten unterschiedlicher Typen von Raum befasst habe, insbesondere im Hinblick auf die für die einzelnen literarischen Gattungen charakteristischen Räume. Im Mittelpunkt habe die Analyse der das literarische Werk strukturierenden und sich in seiner Rezeption konstituierenden Räume gestanden. 8 Dagegen sollen in ihrer Studie die Manifestationen von außerliterarischen Raumvorstellungen in literarischen (und nicht explizit literarischen bzw. fiktionalen) Texten untersucht werden. Auf dem Unterschied zwischen einem in diesem Sinne verstandenen literarischen Raum, dem realen, physischen Raum und außerliterarischen Raumvorstellungen menschlicher Individuen oder Gruppen beharrend, interessiert
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Vgl. zu dieser gesamten Passage Mahlendorff (2000: 15-23). Neben den zitierten Studien von Downs/Stea (1982) und Weichhart (1990) stützt sie sich vor allem auf Arbeiten von K. Lynch, Y.-F. Tuan, Gould/White, Fichtinger/Geipel/Schattenbrunner, Saarinen/Seamon/Sell, I.-M. Greverus, A. Ramin u.a. Allerdings bezieht sich Mahlendorff hier ausschließlich auf ältere Studien, insbesondere Ritter (1975), während sie neuere wie Bronfen (1986) und Ette (1986, 1995 und 1997) nicht berücksichtigt; vgl. dazu auch die nächsten beiden Unterkapitel.
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Mahlendorff gerade die Referenzialität zwischen dem Letzteren und dem Ersteren, das heißt, es geht ihr darum, wie außerliterarische kognitive Räume, die sich aus der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner physischen Umwelt konstituieren, in der literarischen Geografie repräsentiert werden. Unter ausdrücklichem Bezug auf Gaston Bachelards bereits 1957 erschienenes und lange Zeit als Standardwerk geltendes Buch La poétique de l'espace (dt. Poetik des Raums, 1975) schreibt sie: »Es wird [...] nicht mehr nach der Funktion gefragt, die der Raum innerhalb des literarischen Kunstwerks erfüllt, sondern danach, was man in einem literarischen Text über das Verhältnis des Menschen zum Raum erfahren kann. [...] Die vorliegende Untersuchung [...] versucht, anhand von Texten Aussagen über die darin dargestellten kognitiven Räume zu treffen. Es geht hier also nicht um den literarischen Raum und seine Bedeutung innerhalb des literarischen Textes, sondern darum, den literarischen Text unter Anwendung hermeneutischer Verfahren auf seinen räumlichen Gehalt hin zu befragen und die Vorstellungsbilder aufzudecken, in denen sich die Raumbindung des Menschen ausdrückt.« (Mahlendorff, 2000: 25, vgl. 17) Ausgehend von diesem referenzialistischen Ansatz, der vom Raum im Text Rückschlüsse auf den Raum im Kopf ziehen will und so auch der Frage nachgeht, wie der Raum im Kopf in den Text gerät, präsentiert Mahlendorff ein material- und aufschlussreiches Panorama der so verstandenen literarischen Geografie in verschiedenen Perioden der Geschichte der lateinamerikanischen Literaturen von Dokumenten der prähispanischen Kulturen bis zu »postmodernen« Zeiten. Sie konzentriert sich auf einige »Schlüsselphasen« bzw. »kulturelle Wendezeiten« der lateinamerikanischen Geschichte, das heißt auf Perioden fundamentalen kulturellen und sozialen Wandels, die in Transformationen und Neuordnungen des kulturellen Lebens und Schlüsseltexte münden, die von diesen Wandlungsprozessen hervorgebracht werden und sie gleichzeitig mit generieren. 9 Sie macht drei dieser Wendezeiten aus, in denen sich die Interdependenz zwischen sozialen und kulturellen Wandlungsprozessen und politisch-kulturellen Raumkonzeptionen in der Suche nach konstitutiven Parametern neuer kollektiver Identitäten besonders deutlich gezeigt habe: die »Phase der Konquista im 15. und 16. Jahrhundert, die naturwissenschaftliche Durchdringung Lateinamerikas im 18. Jahrhundert und die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Staaten im 19. Jahrhundert sowie deren Folgen der nationalen Identitätsfindung im 20. Jahrhundert« (ibid.: 23, vgl. 11). Für die Raumwahrnehmung in den prähispanischen Kulturen weist Mahlendorff auf die enge Verbindung zwischen Mythos und Raum hin, in der der
Die beiden Begriffe entlehnt sie zwei Arbeiten von Thum, 1985 und 1990. (vgl. Mahlendorff, 2000: 22f.)
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Erdraum als aktivster, geordneter und göttlich beseelter Teil des Universums gilt und in dem der Mensch in Harmonie mit seiner Umwelt lebt. Diese spirituelle Raumerfahrung und -perzeption als identitätsstiftender »Heimatraum« des Indios wurde von den Raumvorstellungen der europäischen Konquistadoren überlagert und schließlich zerstört, die ihn zunehmend als »Fremdraum« wahrnahmen. Während anfangs der Versuch der Integration in ihre Vorstellungen durch die Projektion antiker Mythen und die mythisch-utopisch-bezauberte Idealisierung des Raums der »Neuen Welt« (zum Beispiel als Eldorado und locus amoenus) überwogen, steht dem später zunehmend eine negative Sicht entgegen. Die wilden Landschaften Lateinamerikas werden als ein gegnerischer Raum wahrgenommen, das Paradies wird zur Hölle (zum Labyrinth und locus terribilis). Der Aufstieg der Naturwissenschaften im 18. Jahrhundert bringt einen erneuten Wandel der Raumperzeption und eine Kritik an den Raummythen in Lateinamerika mit sich. Das Interesse richtet sich jetzt auf die Erforschung, Vermessung und Strukturierung des Raums auf der Basis »objektivierter« Kriterien. Der »Naturraum« wird zu einem Objekt der ökonomischen Ausbeutung und zur Quelle des Reichtums, aber auch der ästhetischen Betrachtung. Mit der »Entdeckung« der Schätze und Schönheiten des lateinamerikanischen Raums wird dieser Raum zu einem grundlegenden Element der Konstruktion lateinamerikanischer Eigenständigkeit bzw. Identität, seine Beschreibung, Eingrenzung und Strukturierung wird zur Basis für die Konstruktion nationaler Territorien. Diese Raumvorstellungen nehmen einen herausragenden Platz in den verschiedenen Visionen der Unabhängigkeitsbewegungen von den zukünftigen Nationalstaaten ein, Raum wird wahrgenommen als »Zukunftsraum«. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts schlägt sich diese Wahrnehmung der amerikanischen Welt, ihrer Landschaften und Menschen zunehmend in den lateinamerikanischen Literaturen nieder. Mahlendorff stellt schließlich, ihre bisherige chronologische Darstellungsweise aufgebend, dar, wie sich unterschiedliche Raumauffassungen in verschiedenen literarischen Tendenzen und Strömungen im 20. Jahrhundert äußern: von der novela de tierra oder novela criolla, die den lateinamerikanischen Raum als locus terribilis wahrnehmen, über den Indigenismus, der die mythischen Raumwelten wiederentdeckt, bis zur städtischen Literatur, für die die großen Urbanen Agglomerationen als locus terribilis an die Stelle des Urwalds, der Ebenen und der Berge treten. Sie stellt auch einige der literarischen Motive, Topoi und Bilder dar, die der narrativen Repräsentation und Präsentation des Raums in der lateinamerikanischen Literatur dienen, wobei sie insbesondere die Bewegungsfiguren der Reise und der Flucht betrachtet. Schließlich arbeitet sie heraus, wie sich ab etwa Mitte des 20. Jahrhunderts die engen Beziehungen zwischen dem Menschen und seinem geografischen Raum in der Literatur immer mehr auflösen, das Streben nach kollektiver Identität an die zweite Stelle rückt und die imaginären Räume und die Suche nach individuellen Identitäten immer mehr »Raum einnehmen«.10
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Es ist offensichtlich, dass in dieser hier gerafft zusammengefassten Darstellung nicht nur eine Reihe von Aspekten fehlt, die in den latein- und gerade auch zentralamerikanischen Literaturen des 20. Jahrhunderts, insbesondere am Ende des Jahrhunderts, von großer Bedeutung sind: so zum Beispiel der Gegensatz zwischen Stadt und Land im neuen Kontext, der »ethnische« Raum, die Beziehungen zwischen Gender und Raum, die Rolle des europäischen Raums für den kognitiven Raum in Lateinamerika. Insbesondere fiir die Literaturen Zentralamerikas, aber auch großer Teile des Subkontinents, wäre es notwendig, die Raumkonzeptionen in der Literatur der achtziger und neunziger Jahre zu untersuchen, die aufgrund der vielfaltigen politischen, sozialen und kulturellen Wandlungsprozesse jener Epoche ohne Zweifel eine weitere »Wendezeit« in der Geschichte gerade der zentralamerikanischen Region darstellen (man denke nur an die Revolutionen, Kriege und Bürgerkriege, Naturkatastrophen, aber auch an die Rückwirkungen der mit dem Schlagwort »Globalisierung« bezeichneten Entwicklungen)." Mahlendorff behandelt diese Fragen nicht, wie sie insgesamt nur marginal auf die zentralamerikanischen Literaturen eingeht, was umso bedauerlicher ist, als Zentralamerika eine Region ist, die als »Drehscheibe« von einer großen Varietät von kulturellen, ethnischen und räumlichen Diversitäten und Divergenzen geprägt wird und in der Raumvorstellungen und -darstellungen in der Literatur eine herausragende Bedeutung haben.12 Einigen dieser Aspekte soll in diesem Kapitel in einer Reihe von nicaraguanischen Romanen nachgegangen werden.
Der Text als Raum Eine solche Erkundung der literarischen Geografie im zeitgenössischen nicaraguanischen Roman kann sich allerdings nicht auf die enge referenzialistische Vorgehensweise Mahlendorffs beschränken. In einer Besprechung des Buches wurden von Arnold Rothe nicht nur einige grundlegende Mängel hinsichtlich der Chronologie und Systematik kritisiert." Der Kern seiner Kritik
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Vgl. zu dieser Zusammenfassung Mahlendorff, 2000: bes. 278-283. A m Ende ihrer Studie postuliert Mahlendorff die Notwendigkeit zukünftiger Untersuchungen über die Tendenzen der Regionalisierung in der lateinamerikanischen Literatur seit den siebziger Jahren sowie die Entdeckung neuer Räume fiir die Literatur wie den Cyberspace, (vgl. Mahlendorff, 2000: 283) Von den Literaturen Zentralamerikas beschäftigt sich Mahlendorff nur mit dem Popo! Vuh und Miguel Ángel Asturias' Roman Maladrón (1969), während sie die Literaturen der Karibik und Mexikos »aufgrund mangelnder Zeit und aus Gründen des Umfangs einer solchen Arbeit« (Mahlendorff, 2000: 12) unberücksichtigt lässt. Rothe merkt an, dass sich das Buch weder durch eine klare chronologische Abfolge noch durch eine Systematisierung auszeichne, obwohl Mahlendorff in der Einführung behaupte, die Glie-
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bezieht sich auf den methodologisch-theoretischen Ansatz: Obwohl die Autorin in der Mehrheit Romane analysiere, mache sie keinen prinzipiellen Unterschied zwischen deren literarischem Raum und dem kognitiven Raum der neueren Geografie als Wissenschaft. Dies liege wahrscheinlich, worauf ich weiter oben schon hingewiesen habe, an ihrer ausschließlichen Auseinandersetzung mit einigen bereits überholten Untersuchungen zum literarischen Raum. Dies rechtfertige jedoch nicht, sich nur auf den kognitiven Raum zu kaprizieren und so die Singularität und Autonomie des literarischen Raums außer Acht zu lassen. Während der kognitive Raum sich auf einen realen, konkreten, physischen Raum beziehe und als Zweck die Orientierung des Menschen im realen Raum habe, verorte der literarische Raum ein fiktionales Ereignis. Während der kognitive Raum also pragmatischen Zielen diene und die Aspekte der Empfindung und Ästhetik vernachlässige, privilegiere der literarische Raum gerade diese. In Bezug auf (literarische) Traumwelten schließlich versage das Konzept des kognitiven Raums völlig, (vgl. Rothe, 2001: 269f.) Damit ist explizit die Frage nach der Besonderheit des literarischen Raums und des Textes als Raum aufgeworfen. In ihrer bereits 1986 erschienenen, von Mahlendorff nicht berücksichtigten, Studie zu dem Romanzyklus Pilgrimage der britischen Schriftstellerin Dorothy M. Richardson wandte sich die Anglistin Elisabeth Bronfen der Thematik mit dem expliziten Ziel zu, »allgemeine Eigenschaften des literarischen Raums zu erörtern, die nicht auf DMRs Werk allein beschränkt sein müssen« (Bronfen, 1986: 7f.).14 Bronfen unterscheidet drei Ebenen des literarischen Raums: »die textuellen Beschreibungen von begehbaren Räumen [...], die auf eine textexterne materielle Welt verweisen«, den »Einsatz von räumlichen Metaphern, die keinen begehbaren Raum der Protagonistin beschreiben« und die »räumliche(n) Semantisierung von abstrakten Begriffen«, schließlich den »textuellen Raum« (ibid.: 5). Auf der ersten Ebene widmet sie sich vor allem dem »Aspekt der Entsprechung zwischen menschlichem Dasein und Raum« (ibid.), das heißt - ähnlich wie Andrea Mahlendorff - der Referenzialität von Romanwelt und außerliterarischer Raumwelt. Sie sieht eine Analogie zwischen der Darstellung der begehbaren Räume im Roman, die »als Ordnungsinstanz den Gesamttext strukturieren« (ibid.: 165), und der Ordnungsfunktion
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derung des Textkorpus sei systematisch. Rothe stellt dagegen nur eine offene Aneinanderreihung von Themen fest. Insbesondere kritisiert er, dass es nicht möglich sei, etwa den Popol Vuh und den Roman Los ríos profundos von José María Arguedas unter chronologischen Gesichtspunkten in einem Kapitel zu behandeln. In systematischer Hinsicht zeichne die Studie eine Gleichsetzung von Repräsentationen indigener, mythischer Welten in fiktiven Texten des 20. Jahrhunderts mit authentischen Zeugnissen dieser Kulturen aus. (vgl. Rothe, 2001: 169) Sie untersucht in ihrer Studie das zwischen 1915 und 1967 erschienene Romanwerk, das in seiner endgültigen Fassung von 1967 aus vier Bänden mit insgesamt dreizehn Romanen besteht, (vgl. Bronfen, 1986: X, 367)
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der gelebten Räume für das wahrnehmende Subjekt in der außertextlichen Wirklichkeit. Dieser gelebte Raum konstituiert den »Begriff vom eigenen Dasein, von der eigenen Identität« (ibid.: 166) wesentlich mit. ls Auf der zweiten Ebene setzt sie sich damit auseinander, wie räumliche Metaphern auf verschiedene Weise benutzt werden, um Nicht-Räumliches zu beschreiben bzw. auszudrücken, das heißt mit Raummetaphern und räumlicher Semantisierung, »die den Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozeß begleiten« (ibid.: 7). Während auf der ersten Ebene die Raumsituation bzw. -Wahrnehmung direkte Voraussetzung »für bestimmte geistige Erlebnisse wie Einsamkeit, Ekstase, Kommunikation oder schöpferische Kontemplation« (ibid.: 311) sind, so geht es hier darum, wie solche Erlebnisse »räumlich semantisiert« (ibid.) werden, ohne dass eine direkte Entsprechung zwischen wahrgenommenem außerliterarischem Raum und Raumsemantisierung existiert." Auf der dritten Ebene schließlich rückt der textuelle Raum bzw. die räumliche Textualität im eigentlichen Sinn in den Mittelpunkt: »Damit kann festgestellt werden, daß der literarische Raum etliche Ebenen des Textes umfaßt. Er beinhaltet nicht nur die Darstellung einer räumlichen Ausdehnung, wie dies für die begehbaren und metaphorischen Räume gezeigt wurde; er beinhaltet auch jene formale Ebene, die den Text in und durch eine räumliche Ausdehnung durchführt und die von mir im folgenden als räumliche Textualität (im Unterschied zu dem gesamten literarischen Raum) bezeichnet wird.« (ibid.: 317f.)
Ziel ist also zu analysieren, »wie Sprache auf vielfältige Weise nicht nur begehbare und metaphorische Räume darstellt, sondern auch selbst Raum bildet« (ibid.: 5), wie Raum im sprachlichen Kunstwerk hergestellt wird bzw. wie das literarische Kunstwerk sich als Raum konstituiert. Dies geschieht nach Bronfen, die dabei auf Erkenntnisse der Rezeptionsästhetik (insbesondere Wolfgang Isers Begriff der »Leerstelle«) zurückgreift, durch zwei Prozesse: zum einen durch das im Spannungsfeld von narrativer Chronologie und Syn-
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Auch das ist eine Parallele zu MahlendorfFs Auffassung von der identitätsstiftenden Funktion des kognitiven Raums. Bronfen unterscheidet verschiedene strukturierende Verhaltensweisen im gelebten Raum: den gestimmten Raum, den Aktions- und Anschauungsraum, außerdem unterschiedliche Semantisierungen von gelebten Räumen: den »bedeutsamen Raum«, den neutralen Raum sowie den erinnerten und vorgestellten Raum. (vgl. Bronfen, 1986: bes. 109115, auch 115-164) Bronfen rekurriert hier u.a. auf Arbeiten von Ludwig Binswanger, Martin Heidegger, Mircea Eliade und Elisabeth Ströker sowie Gaston Bachelard, Jurij Lotman und Michail Bachtin. Allerdings weist sie unter Rekurs auf Gérard Genette auch auf eine Verbindung zwischen Metapher und Raumwahrnehmung hin. (vgl. Bronfen, 1986, 309) Außer auf Genette bezieht sie sich in diesem Teil ihrer Arbeit vor allem auf Studien von Nelson Goodman, Jurij Lotman, John Lyons und David Lodge.
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chronie sich vollziehende Erkennen von Querverweisen und die Herstellung von Bezügen, das heißt durch die »Zusammenfuhrung zweier textuell gesetzter Beschreibungen durch den Leser« (ibid.: 328) und die Konstruktion einer diese Bezüge einbeziehenden Bedeutung, zum zweiten durch die Ergänzung von Andeutungen und die Hinzufügung nicht direkt benannter Bedeutungen im Text durch den Leser, das heißt die Bedeutungskonstruktion durch die Einsetzung der Aussparungen im Text, »indem der Leser eine textuell gesetzte Beschreibung mit eigenen Vorstellungen ausfüllt, also in der intersubjektiven Berührung zwischen Text und Leser« (ibid.). Der Text wird so zu einem »dynamischen Raum«, zum Ort der Realisierung vielfältiger Bedeutungsmöglichkeiten (vgl. ibid.: 330). Gleichzeitig konstituiert er sich aber auch durch die »schöpferische Tätigkeit des Lesers« bzw. die »Neuschöpfung des Textes« durch den Leser als »nicht nur dynamischer, sondern auch [...] generativer Raum« (ibid.: 331).17 Elisabeth Bronfen begreift also im Gegensatz zu Andrea Mahlendorff den literarischen Raum als eine Einheit von drei Dimensionen, die vielfältig verknüpft sind und sich gegenseitig bedingen. Während Mahlendorff ihre Untersuchung auf die erste Dimension (die Darstellung von außerliterarischer Raumwahrnehmung im Text) beschränkt, lässt Bronfens Studie keinen Zweifel daran, dass für das Problem der Aneignung außerliterarischer (räumlicher) Wirklichkeit und ihrer narrativen Repräsentation und Präsentation - also die grundlegende Fragestellung der vorliegenden Arbeit - die beiden anderen Dimensionen ebenso bedeutend sind und sich keineswegs auf eine falsch verstandene »werkimmanente«, stilistische Ebene reduzieren lassen, die von der ersten Dimension isoliert ist, wie es Mahlendorff tut. Dies hat auch Ottmar Ette in seinem 1995 erschienenen Aufsatz zur Biografíe Genio y figura de José Enrique Rodó (1966), geschrieben von Mario Benedetti, in seinem Begriff des »literarischen Raums« insbesondere für das Verhältnis von Intertextualität und literarischem Raum exemplarisch ausgeführt. In Anküpfung an einen früheren Aufsatz (Ette, 1986) schlägt er vor, den im Sinne der Rezeptionsästhetik verstandenen Horizont des Werkes (»horizonte de alusiones«; Ette, 1995: 18) als literarischen Raum zu verstehen und zu analysieren. Der Text - selbst als rein schriftliches Produkt verstanden - sei Ergebnis und Ort vielfaltiger Verfahren und Vorgehensweisen, die den eigentlichen Text mit von anderen Autoren
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Bronfen stützt sich hier neben Wolfgang Iser insbesondere auf Arbeiten von Joseph Frank, Gérard Genette, Umberto Eco und Roland Barthes. Auch die wissenschaftliche Lektüre bzw. Analyse von literarischen Werken sieht sie nicht als rein zweckdienliches Lesen, sondern als »eine eigenständige Neuerzählung«, als »Neuschöpfung des Romans, die einem Verstehen und einem Erstellen eines Sinnmusters dient, als Konkretion und Begegnung zweier Welten, nämlich der des Autors und der des Wissenschaftlers in dem dritten gemeinsamen Raum, dem Text« (Bronfen, 1986: 334).
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geschriebenen Texten in Verbindung setzten und die Intertexte zu einem Textgeflecht machten, das für ein »volles« Verständnis des gerade gelesenen Textes unabdingbar sei: »Este espacio literario explícito puede ser reconstruido independientemente del género literario o del tipo discursivo utilizado, permitiendo así la comprensión de ciertos procedimientos a los que el autor ha ocurrido para orientar o desorientar a sus lectores.« (ibid.) Ette unterscheidet zwischen einem explizit vom Autor geschaffenenen literarischen Raum mit seinen offensichtlichen intertextuellen Bezügen und einem »espacio literario implícito« (ibid.: 19) mit verhüllten, »unterirdischen« bzw. unbewussten intertextuellen Verweisen. Unter Anknüpfung an Silvain Arouxs Begriff »Horizont der Retrospektion« nimmt er implizit die Vorgehensweise Mahlendorffs vorweg, den literarischen Raum in Bezug auf die in einem historischen Moment gegebenen und einer Gruppe von Autoren verfügbaren Kenntnisse zu analysieren (bei Mahlendorff die außertextlichen Konzeptionen des kognitiven Raums bzw. die in einer Epoche herrschenden Raumwahrnehmungen). Dies erfordere jedoch ebenfalls die Analyse vielfaltiger intertextueller Beziehungen, verweise also wieder auf den Text selbst und die textuellen Strategien des Autors zurück, (vgl. ibid.: 19f.) Der Text wird also als vieldimensionaler Raum begriffen, als Ort multipler intertextueller Strategien, sowohl hinsichtlich seiner Produktion wie seiner Rezeption. Das trifft schließlich zweifellos auch auf das Werk Gérard Genettes zu, das in weiten Teilen ausgehend von einem solchen Begriff des literarischen Raums gelesen werden kann. Insbesondere in seinem inzwischen zum »Klassiker« der Literaturwissenschaft avancierten Buch Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe wird der Text als dynamischer Raum einer vielfaltigen »Transtextualität«, das heißt dessen, »was ihn in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt« (Genette, 1993: 9), begriffen." In dem ebenso zum »wissenschaftlichen Kanon« gehörenden Buch Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches wird der Text als Raum quasi als ein Ensemble von Orten verstanden, die den Textraum konstituieren, also der Texte, die vom »eigentlichein) Text« (Genette, 1993: 11) zu unterscheiden sind, aber »im Rahmen des von einem literarischen Werk gebildeten Ganzen« (ibid.) zu diesem in Beziehung stehen. Unter diesem »Paratext« versteht Genette »jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt« (Genette, 2001: 10). Genette unterscheidet dabei, wie
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Genette unterscheidet, wie bekannt und wiederholt in die in der vorliegenden Arbeit vorgenommenen Analysen einbezogen, fünf Typen derTranstextualität: Intertextualität, Paratextualität, Metatextualität, Hypertextualität und Architextualität. (vgl. Genette, 1993: bes. 9-18)
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bereits dargestellt, zwischen dem eigentlichen Raum des Buches, das heißt dem »Peritext«, und dem ursprünglich außerhalb des Textes existierenden »Epitext«. Nicht von ungefähr widmet Genette den unterschiedlichen Paratexten'9 eigene Überlegungen zu ihren Orten im Buch und ihren jeweiligen Bedeutungen bzw. Funktionen, ein Vorgehen, das ebenso auf die unterschiedlichen Orte verschiedener Textarten im »eigentlichen Text« angewendet werden könnte und angewendet worden ist.20 In diesem Sinne kann von der »Räumlichkeit« als einer Grundkonstante des Textes gesprochen werden, einer Bedingung, die einen literarischen Text - und nicht nur diesen21 - erst konstituiert. Der (literarische) Text stellt nicht nur Raum bzw. Raumauffassungen dar, er bedient sich nicht nur der Semantisierung von Räumen, sondern er ist selbst Raum.
Texträume,
Kopfräume
Einer Erkundung der verschiedenen Orte in diesem Raum des »eigentlichen Textes« widmet sich Ottmar Ette in seinem Buch Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Zunächst fokussiert auf die Reiseliteratur orientiert er sich bei seiner Exploration des literarischen Raums auf eine Inspektion textinterner Orte. Er kritisiert, dass die Orte des Reiseberichts bisher »vorwiegend unter ihrem referentialisierbaren, textexternen, also auf die außersprachliche Wirklichkeit bezogenen Aspekt untersucht worden« (Ette, 2001: 48) seien, also im Sinne
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Erinnern wir uns an die unterschiedlichen von ihm besuchten paratextuellen Orte (die zum Teil auch in der vorliegenden Arbeit an verschiedenen Texten inspiziert wurden): den verlegerischen Peritext, den Namen des Autors, den Titel, den Waschzettel, die Widmungen, die Motti, die Vorworte, die Zwischentitel, die Anmerkungen, den öffentlichen und den privaten Epitext. Vgl. dazu auch das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«, Fußnote 26. Kann nicht Genettes Buch Palimpseste selbst, in dem er zum Beispiel »Weiterführungen«, »Enden«, »Supplement«, »Fortsetzung«, »Epilog« und ähnliche Textorte untersucht, unter diesem Blickwinkel gelesen werden? Magda Zavala zum Beispiel widmet in ihrer bereits wiederholt zitierten grundlegenden Studie den Titeln, Untertiteln, Anfangen und Enden der von ihr untersuchten zehn zentralamerikanischen Romane ein eigenes Kapitel (vgl. Zavala, 1990: 113137), das ihr erhellende Hypothesen und Schlussfolgerungen im Hinblick auf Thematiken, archtitextuelle Einordnung und narrative Strukturen der analysierten Werke erlaubt (vgl. ibid.: bes. 137). Genette stimmt explizit der Behauptung zu, »daß es keinen Text ohne Paratext gibt oder je gegeben hat« (Genette, 1993: 11), und spricht von Texten und nicht Werken »im edlen Sinn des Wortes: Alle Arten von Büchern, auch solche ohne jeden ästhetischen Anspruch, sind auf einen Paratext angewiesen, selbst wenn sich unsere Untersuchung hier auf den Paratext der literarischen Werke beschränkt.« (ibid.) Ließe sich Ähnliches nicht für den Text als Raum insgesamt sagen, wobei allerdings besonderer Wert auf die Unterscheidung von illokutorischer und rein informativer Funktion zu legen wäre, auf die Genette selbst eingeht? (vgl. ibid.: 17f.)
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eines sich auf die Genettsche Unterscheidung stützenden Verständnisses der Reiseliteratur als diktionalen Texten.22 Dagegen orientiert Ette auf einen »Lektüremodus [...] , der zwischen dem 'Realitätskonformen' und dem 'Fiktiven' ständig pendelt, um die Polysemie des untersuchten Textes nicht durch textexterne Referentialisierung oder innerliterarische Fiktionalisierung zu vermindern und zu fixieren«(ibid.: 49). Er versteht den Reisebericht als »friktionale« Literatur, als »Hybridform«, die nicht nur unterschiedliche Gattungen und eine Vielfalt der Reden integriere, sondern auch die Grenzlinien zwischen fiktionaler und diktionaler Literatur verwische, (vgl. ibid.: 48, 43-47)23 Diese »Friktionalisierung« stelle wiederum ein Grundmuster dar, von dem ausgehend die damit zusammenhängenden Fragestellungen auch auf eine Literatur übertragen werden könnten, die Ette als eine »Literatur in Bewegung« (ibid.: 62) bezeichnet. Es geht ihm darum, »die Dynamik von Räumen und Raumbeziehungen auf verschiedenen Ebenen ebenso in konkreten Einzeltexten wie innerhalb größerer zeitlicher Entwicklungen« (ibid.: 12) zu untersuchen, insbesondere »Literaturen jenseits eindeutiger nationalstaatlicher, kontinentaler und territorialer Grenzziehungen [...] , [...] Literaturen, die bislang gültige Grenzen national literarischer, literargeschichtlicher, gattungsgeschichtlicher oder kultureller Art überschreiten und queren« (ibid. 17, vgl. 10, 11, 13, 16).24 Nach den Stellen fragend, »an denen der Reiseschriftsteller seinen Bericht in besonderer Weise auflädt und markiert« (ibid.: 49), macht Ette vier paradigmatische textinterne Orte aus: den Abschied, den Höhepunkt, die Ankunft und die Rückkehr. Die Inszenierungen dieser Orte entsprechen oft, wie Ette an Beispielen deutlich werden lässt, der Bewusstmachung, Infragestellung, Konfrontation, Vergewisserung, Bestätigung bzw. Völlendung des Eigenen in der Begegnung mit dem Fremden, des Bekannten mit dem Neuen, und ihrer The-
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Zur Unterscheidung von diktionaler und fiktionaler Literatur bzw. faktualer und fiktionaler Erzählung vgl. Genette (1992: 11 f., bes. 31f„ und 65ff., bes. 65-68, 92-94) und das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur« der vorliegenden Arbeit (bes. Fußnote 105). Zu Ettes Begriff von friktionaler Literatur vgl. auch das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur« (Fußnote 105). In Anlehnung an Claude Lévi-Strauss' Tristes Tropiques (1955) und ihn weiterführend entwickelt Ette neun Dimensionen des Reiseberichts, die nur mit den folgenden Schlagwörtern kurz benannt werden sollen: Linie, Fläche, der Blick von oben, die Zeit, die soziale Dimension, Imagination und Fiktion, der literarische Raum, genrespezifische Bezüge, der kulturelle Raum. (vgl. Ette, 2001: 25-36) Er weist auch daraufhin, dass »weitere Dimensionen des Reisebrichts wie von Literatur insgesamt« (ibid.: 36) untersucht werden könnten: »etwa eine politische oder eine geschlechterspezifische Dimension, aber auch jene der Theorie beziehungsweise Epistemologie oder der Virtualität vom Lesepublikum realisierbarer Räume« (ibid.). Ette interessiert sich insbesondere für Grenzziehungen bzw. -Überschreitungen hinsichtlich der physischen Geografie, der Nationalstaaten, der gesellschaftlichen Schichtung, der verschiedenen Medien, der Künste und der Natur, aber auch der wissenschaftlichen Disziplinen, der literarischen Gattungen, der Landschaften, der Mythen, der Geschlechter und der Lebensalter, (vgl. ibid.: 17)
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oretisierung - häufig indem die »Theorie der Landschaft« umschlägt in eine »Landschaft der Theorie« bzw. Landschaft »zum Ausgangspunkt und mehr noch zur Inszenierung von Theorie« (ibid.: 52) wird.2S Zweifellos könnten und sollten diese vier reiseliterarischen Orte ergänzt werden durch weitere, die Raum für semantische Schlüsselstellen eines Textes bieten, wie zum Beispiel Aufstieg und Abstieg oder Grenzübertritt, und ebenso könnten sie in Verbindung mit räumlichen Metaphern wie Haus, Ebene, Berg, Stadt, Land, Meer, Bordell, Höhle, Innenraum, Labyrinth usw. untersucht werden, was Ette zum Teil tut, wie er es auch für wünschenswert hält, seine Darstellung der reiseliterarischen Orte zu differenzieren, um ihre multiplen Funktionen umfassend zu verstehen, (vgl. ibid.: 62) Relevanter für die Zwecke seiner Untersuchung wie für die hier vorliegende Studie ist Ettes Versuch, die textinternen Orte mit textinternen Bewegungen in Verbindung zu setzen, sozusagen ihrer Dynamik nachzugehen bzw. sie zu begleiten: »Wir dürfen jedoch nicht bei der Analyse der jeweiligen reiseliterarischen Orte eines Textes - mag es sich dabei um einen Reisebericht, einen Roman, eine Autobiographie oder andere narrative Texte handeln - stehenbleiben, sondern sollten danach fragen, innerhalb welcher Dynamik und Bewegung sich diese Orte ansiedeln und welche Bewegung ihre eigene Modellierung selbst wiederum auslöst.« (ibid.: 62) Ette erkennt fünf paradigmatische »Grundtypen« (ibid.: 63), die einen ganzen Text durchziehen oder sich nur auf Teile des Textes beschränken können: den Kreis, das Pendeln, die Linie, den Stern und das Springen.26 Diese Ortswechsel bzw. Begehungen und Durchquerungen von Räumen werden aus der Perspektive einer hermeneutischen Bewegung im Text als »Bewegungen des Verstehens im Raum« (ibid.) gedeutet, deren Analyse »die Raum- und Verstehensstruktur« (ibid.: 77) des Textes freilegt.27 Als eine solche für den lateinamerikanischen Roman des 20. Jahrhunderts wie die Literatur »in der Postmoderne« besonders charakteristische Raum- und Verstehensbewegung
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Vgl. dazu ausführlich Ette, 2001: 48-62. Vgl. ausführlich Ette, 2001: 63-80. Hier schließt Ette implizit an Bronfens Begriff vom Text als »dynamischem« bzw. »generativem« Raum an. Wo bei Bronfen die Synchronie der unterschiedlichen Textorte in der Rezeption durch den Leser den (einen) Gesamtsinn des Textes konstituiert (neu schöpft), ermöglicht für Ette der Reisebericht - ähnlich wie der Roman - dem Lesepublikum »die Verfügungsgewalt über eine Reise in ihren Wegplänen und Abweichungen, aber auch bezüglich ihres Anfangs wie ihres Endes« (Ette, 2001: 79). Die Faszination und den Erfolg des Reiseberichts führt er besonders auf »die libidinöse Besetzung der Verfügungsgewalt über Gedankenbewegungen zurück, die unbegrenzt wiederholt« (ibid.) und, so müsste man hinzufugen, variiert, weitergeführt, in Frage gestellt werden können. In diesem Sinne wird der literarische Text zum scheinbar von der narrativen Chronologie unabhängig existierenden Raum.
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begreift Ette das Pendeln, das auf der »quasi-simultanen Existenz an räumlich und zeitlich voneinander getrennten Orten« (ibid.: 70) basiere, bei der sich also verschiedene Strukturen - Ungleichzeitiges im Gleichzeitigen, Heterogenes und nicht miteinander Vereinbares - in einer diskontinuierlichen Raum/Verstehensstruktur überlagerten, die »ohne Zentralperspektive auskommt, ja auskommen will« (ibid.: 71).28 Insbesondere in diesem Bewegungsmodell mit seinen Formen, »die nicht mehr als kohärente und abgeschlossene Bewegungen verräumlicht werden können« (ibid.: 80), sieht er ein Paradigma des Textes als offenem Kunstwerk. Die Texträume werden zu/sind Kopfräume, die wiederum auf außerliterarische Verstehensmuster und -bewegungen zurükkverweisen bzw. nur in ihrem Kontext zu entschlüsseln sind, also in einem komplexen Sinn das Problem der Repräsentation außerliterarischer bzw. außertextlicher Wirklichkeit und Raumvorstellungen aufwerfen. 29 Natürlich könnten auch diese textinternen/hermeneutischen Bewegungen ergänzt werden durch Figuren wie die Zickzack-Bewegung, die Auf- und AbBewegung, die Spirale, den Sprung (als einmaligen, nicht das Hin- und Herspringen) usw., um weitere Grundformen literarischer Raum- und Verstehensstrukturen herauszuarbeiten. Vereinzelte in den letzten Jahren zur zentralamerikanischen Literatur erschienene Studien haben sich mit einigen wenigen dieser Fragestellungen, vor allem aus dem Bereich der von Bronfen so genannten ersten und zweiten Dimension des literarischen Raums (textuelle Beschreibung von außertextlichen Räumen, Raummetaphern und Raumsemantisierung) auseinandergesetzt und zum Teil auch reiseliterarische Orte bzw. Grenzüberschreitungen im Sinne Ettes thematisiert. Hervorzuheben sind hier die im Kontext einer Reihe von wissenschaftlichen Symposien und Kongressen entstandenen Arbeiten, die von der Universidad de Costa Rica mit internationaler Beteiligung organisiert wurden. Sie widmen sich der literarischen Darstellung der Stadt und der Grenze insbesondere unter dem Aspekt des kulturellen und sozialen Raums sowie der Konstitutionsprozesse kollektiver und individueller Identität(en).30 Exemplarisch für die Fragestellung dieser Studien heißt es in
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Als Prototyp einer solchen Literatur führt Ette - seine Übertragung der aus der Analyse von Reiseberichten gewonnenen Erkenntnisse auf die Literatur im Allgemeinen bestätigend - Julio Cortäzars Roman Rayuela an. (vgl. Ette, 2001: 70f.) Ette selbst weist auf diesen Zusammenhang im Rahmen seiner Forderung hin, nach einer »Grundform [...] des Reiseberichts in der Postmoderne« (ibid.: 71) zu forschen. Er vermutet, die dort auszumachenden Verstehensbewegungen ließen sich den Verstehensprozessen internationaler wissenschaftlicher Kongresse gleichsetzen, könnten also Formen wissenschaftlicher Theoriebildung analog gesetzt werden. Er folgert daraus, es sei möglich, einige kulturtheoretische Arbeiten der achtziger und neunziger Jahre als Reiseberichte zu lesen. Kann nicht umgekehrt auch von der Möglichkeit gesprochen werden, zahlreiche Romane der letzten Jahrzehnte als literarischen Ausdruck wissenschaftlicher Theoriebildung zu rezipieren? Vgl. die in Fußnote 4 genannten Veröffentlichungen. Besonders zu erwähnen sind die folgenden in diesen Bänden enthaltenen Arbeiten: Bernal Herrera zeichnet in seinem Aufsatz »Lite-
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einem Aufsatz Fernando Ainsas: »Para nosotros se trata, sobre todo, de un proyecto de lectura. Porque hay que aprender a leer una ciudad en el 'texto/textura' de su tejido urbano y darle al conjunto simbólico resultante un 'sentido común', un mundo de significaciones suficiente para permitir tanto la reconstrucción de espacios de origen, como la recuperación de un lugar privilegiado del 'habitar'.« (Aínsa, 1999: 50f.) Wie ebenfalls bereits eingangs des Kapitels erwähnt, setzt sich Ileana Rodríguez in ihren beiden Büchern mit den Untertiteln »Space, Gender, and Ethnicity in Postcolonial Latin American Literatures by Women« und »Understanding War in Central America« mit der Semantisierung von Räumen bzw. der Verwendung von räumlichen Metaphern und ihren ethnischen sowie geschlechtsspezifischen Implikationen bzw. Determinanten auseinander.31 Allerdings gibt es bisher weder für die zentralamerikanischen Literaturen noch für die nicaraguanische eine umfassende oder gar systematische Untersuchung zum Problem des literarischen Raums. In diesem Kapitel soll daher ausgehend von den bisher aufgeworfenen Fragestellungen eine Lektüre einiger Romane des Textkorpus der vorliegenden Arbeit vorgenommen werden, die sich auf die verschiedenen Dimensionen der literarischen Geografie bzw. des literarischen Raums bezieht. 32 Ausgangspunkt sollen dabei einige binäre bzw. bipolare
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ratura y geografia: Divertimento fronterizo« (in: Garcia, 1998: 151-167) Parallelen zwischen geografischen und literarischen Grenzen nach. Fernando Ainsas Essay »Del espacio mitico a la utopia degradada. Los signos duales de la ciudad en la narrativa latinoamericana« (in: Cördoba, 1999: 23-43) und Maria Salvadora Ortiz' Aufsatz »La ciudad como espacio social de la literatura« (in: Cördoba, 1999: 195-206) untersuchen die Stadt als Thema bzw. literarische Figur und Metapher in der lateinamerikanischen Literatur. Die Beiträge in dem von der Escuela de Estudios Generales (1998) herausgegebenen Band widmen sich der Bedeutung von geografischen, kulturellen, ethnischen, linguistischen, geschlechtsspezifischen, literarischen und anderen Grenzziehungen für die Konstruktion von Identitäten im Kontext der kulturellen »Globalisierung«. Die meisten der Beiträge in den drei genannten Publikationen beziehen sich auf Lateinamerika insgesamt, nur wenige fokussieren auf Zentralamerika. Auf einige werde ich weiter unten in diesem Kapitel im Kontext der Analyse einzelner nicaraguanischer Romane zurückkommen. Auch auf diese beiden Studien (Rodriguez, 1994 und 1996), die eine Reihe von nicaraguanischen Romanen in die Analyse einbeziehen, werde ich weiter unten zurückkommen. Im Gegensatz zu den anderen Kapiteln der vorliegenden Arbeit, in denen ich versuche, alle für die jeweilige Problemstellung wesentlichen Tendenzen bzw. Texte des Korpus zu berücksichtigen, trägt dieses einen selektiven und exemplarischen Charakter. Wenn der Begriff des literarischen Raums nicht auf die Darstellung von außerliterarischen Räumen/Landschaften im Text beschränkt wird (eine, wie ich dargelegt habe, ungenügende Fragestellung), sondern die anderen Dimensionen einbezieht, zeichnet sich der literarische Text generell durch seine Räumlichkeit aus. Gegenstand der Untersuchung müssten dann theoretisch alle 95 Texte des Korpus sein, was praktisch und epistemologisch offensichtlich sinnlos ist und den »Raum« der vorliegenden Arbeit aus den Fugen geraten lassen würde. Ich beschränke mich also auf einige für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit und im Kontext der anderen Kapitel wesentliche
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Beziehungen sein, die für die literarische Darstellung von Raumwahrnehmung, für die Semantisierung von Räumen bzw. die Verwendung von Raummetaphern und die Strukturierung des »textuellen Raums« konstituierend sind.
Stadt und Land 1: Profaner und mythischer Raum Seit den Auseinandersetzungen um das Verhältnis zwischen »la sierra« und »el llano« im kubanischen Movimiento 26 de Julio in den Jahren 1957 bis 1959 und verstärkt seit dem Sieg der kubanischen Revolution wurde der politischkulturelle Diskurs in Lateinamerika in weiten Teilen und über lange Strecken von den Beziehungen zwischen Stadt und Land bestimmt. Die strategische Rolle des bewaffneten Kampfes in den Bergen und der antidiktatorischen Bewegung in den Städten war in den Guerillabewegungen seit den siebziger Jahren eine der am meisten diskutierten und kontroversen Thematiken, gerade auch im nicaraguanischen Frente Sandinista de Liberación Nacional,33 Dies hatte unmittelbare und deutliche Rückwirkungen im literarischen Feld, vor allem im testimonio, der - wie im Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur« ausführlich dargestellt - seit der kubanischen Revolution und besonders im Kontext der Guerillabewegungen in Zentralamerika einen ungekannten Aufschwung erfuhr und lange Zeit den literarischen Diskurs dominierte. In den frühen nicaraguanischen testimonios und dann insbesondere in dem für die damalige Epoche wichtigsten »Gründer«-Text der Testimonialliteratur, La montaña es algo más que una inmensa estepa verde (1982) von Omar Cabezas, werden die Berge (»la montaña«) zu einem mythischen, ja heiligen Ort für die Erziehung und Selbsterziehung der »neuen Menschen«, die den Kampf gegen das diktatorische Regime aufnehmen. Die Berge sind das Zentrum, von dem aus eine historisch-politische Kontinuität mit dem Kampf Sandinos gegen die nordamerikanischen Invasoren im nördlichen Bergland der Segovias in den zwanziger und dreißiger Jahren und eine Option für die Zukunft der (neuen) nicaraguanischen Nation konstruiert wird. Im Gegensatz dazu ist in einer Reihe von Romanen, die vor bzw. parallel zu den testimonios geschrieben und (zum Teil erst später) veröffentlicht wurden, allerdings aufgrund der Dominanz des testimonio-Paradigmas kaum Beachtung fanden, die Stadt nicht nur Ort der Handlung, sondern das Zentrum des gesamten politisch-kulturellen Lebens und gleichzeitig Embryo der (zukünftigen) Opposition bzw. des Widerstandes gegen die Diktatur, wie auch zentrale Figur inner-
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Fragestellungen und Texte, darunter viele, die bereits ausführlich behandelt wurden und hier noch einmal im Hinblick auf ihre Räumlichkeit untersucht werden. Vgl. dazu Mackenbach, 1995a: 126-128, 222.
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halb des literarischen Raums. Dies trifft besonders zu auf den Roman Bording House San Antonio (1985a) und das schon Ende der sechziger Jahre erschienene Buch En esos días ... (1969) von Carlos Alemán Ocampo wie auf den Roman Como piedra rodante (1981) von Krasnodar Quintana. In für den damaligen herrschenden anti-US-amerikanischen politisch-literarischen Diskurs ungewöhnlicher Weise rekurrieren diese Autoren auf Elemente der damals sich von den USA aus verbreitenden Beatnik-, Hippie- und flower pcwer-(Sub-) Kultur; der Titel des Romans von Quintana greift sogar den Titel eines der berühmtesten Songs von Bob Dylan, »Like a rolling stone«, auf. Bereits 1969 und 1970 begann Carlos Alemán Ocampo die Erstfassung seines Romans Bording House San Antonio (1985a), der erst 1982 zu Ende geschrieben und 1985 veröffentlicht wurde.34 Er schildert das Leben der (vor allem studentischen) Jugend im Managua der sechziger Jahre, vor dem großen Erdbeben von 1972 und vor dem Höhepunkt der revolutionären Bewegung in den siebziger Jahren. Im Zentrum des Textes steht die billige Pension »Bording House San Antonio«, in der Carlos, der Ich-Erzähler, sein orientierungsloses Leben zwischen Nachtklubtänzerinnen, Zuhältern, Prostituierten, Handelsreisenden und Nichtstuern verbringt. Zwar gibt es zahlreiche Anspielungen auf die politischen Verhältnisse, wie zum Beispiel die Auseinandersetzung zwischen der Guardia Nacional und der verbotenen sandinistischen Befreiungsfront oder die gefälschten Wahlen und das Massaker an der Opposition im Jahr 1967. Auch bekommt der Ich-Erzähler Kontakte zur im Untergrund operierenden Guerillaorganisation, in der Universität und vor allem durch seine Beziehung zu dem »el poeta« genannten Intellektuellen (eine Anspielung auf den Autor selbst?).35 Dennoch organisiert er sich (zunächst) nicht politisch. Im Zentrum des Textes stehen nicht die Aktionen des revolutionären Kampfes, sondern ganz offensichtlich vom französischen Existenzialismus beeinflusste (in Monologform erzählte) Reflexionen des Protagonisten, die sich mit der Lebenshaltung der Beat- und Hippie-Generation vermischen. Nicht die Zukunft zählt (vgl. 107), sondern das Leben im Hier und Jetzt: »Qué otra cosa me importaba sino vivir. Es decir, levantarme tarde, dejar de emborracharme cuando quiero. [...] Acostarme con mujeres limpias o sucias; pero mujeres que abren las piernas y hacen el amor bien o mal; pero lo hacen. [...] Encerrarme en este cochino, repugnante, asfixiante y polvoso cuarto. Salir a la calle y
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In der »Presentación« von Gilberto López y Rivas, die dem Text vorangestellt ist, heißt es, Carlos Alemán Ocampo sei im September 1970 von Agenten der somozistischen Staatssicherheit verhaftet worden, die offensichtlich einen Großteil des Manuskripts mitgenommen hätten. Deshalb habe er 1982 wesentliche Teile des Romans neu schreiben müssen, (vgl. Alemán Ocampo, 1985a: 8) Am Ende des Romans steht folgende Datumsangabe: »Febrero 1 9 6 9 - S e p tiembre 1970 - Octubre 1982« (ibid.: 127). Laut »Presentación« war Carlos Alemán Ocampo in Nicaragua noch in den achtziger Jahren als »el poeta« bekannt, (vgl. Alemán Ocampo, 1985a: 8)
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tocarle las tetas a las mujeres. Luego emborracharme y dormir.« (110) Denn nur darin sieht der Protagonist den Sinn eines Lebens, in dem jeder Tag wie der vorherige ist und alle gleich sind. (vgl. 81) Es entsteht ein Bild der marginalisierten Jugend in Managua, ihres Lebens zwischen Sex, Drogen und Ekel an der Welt, auf den ersten Blick unpolitisch, im Kontext der militärischen Repression der Somoza-Diktatur jedoch voll subversiver Sprengkraft - in vielerlei Hinsicht repräsentativ für die gesellschaftliche Gärung am Vorabend der revolutionären Ereignisse. Viele das städtische Leben Managuas vor dem Erdbeben prägende Orte vor allem der jugendlichen Subkultur werden zum Leben erweckt, wie die Bars und Diskotheken »El Tropicana«, »La Tortuga Morada«, »la Discoteque a Gogö«. Diese Subkultur findet ihren Ausdruck auch in der starken Präsenz des Jugendjargons, die zum Teil die Form von Wortspielen annimmt: »La china que no tiene chino, ni chinea en chinela al chigüin que chilla con el chorizo del chancho chocho que se desmochö un carnicero, fiero, medio melero de que al chancho no le pudo pelar el cuero.« (82) Aufgesetzt wirkt das letzte (XIX.) Kapitel: Der Protagonist heiratet, lebt eine harmonische Ehe, intensiviert seine Kontakte zu dem »poeta« und zum sandinistischen Widerstand und kehrt an die Universität zurück (während er noch am Ende des vorletzten Kapitels wie gehabt darüber nachsinnt, am nächsten Tag müsse er sich wohl doch aufmachen, um Arbeit zu suchen) - eine unglaubwürdige revolutionäre Idylle, die ohne Beziehung zum Rest des Textes bleibt.36
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Die Vermutung liegt nahe, dass dieses Kapitel erst nach dem Sieg der Revolution 1982 bei der Vollendung des Romans verfasst wurde und den damaligen politisch-ideologischen Diskurs widerspiegelt. - Noch vor diesem Roman hatte Carlos Alemán Ocampo den Kurzroman En esos días... (1969) veröffentlicht, der wie Bording House San Antonio das Leben der Jugend im Managua der sechziger Jahre zum Thema hat. Das im Klappentext als »Relato de Carlos Alemán Ocampo« und »crónica« bezeichnete Erstlingswerk des Autors erzählt die Geschichte der kurzen Liebe zwischen der US-Amerikanerin Linda und dem Nicaraguaner Luis (dem Alter Ego des Autors?). Der Ich-Erzähler kann wie in Bording House San Antonio durchaus als Repräsentant einer Generation verstanden werden, deren Leben sich zwischen Universität, Diskotheken, Cafés und auf der Straße abspielt und die in der Beatmusik, der Poesie und bildenden Kunst, Alkohol- und Drogenkonsum sowie Reisen ins Ausland (am Ende geht der Erzähler nach Paris, »zu den Dichtem«, wie es im Text heißt) Zuflucht vor dem von der Diktatur und der allgegenwärtigen Guardia Nacional eingeengten Leben in Managua sucht. Typisch für diese Jugend ist eine Pose der Rebellion, ohne dass sie schon klare Vorstellungen von politischer Opposition oder gar bewaffnetem Widerstand gegen das diktatorische SomozaRegime hätte, die dann erst zu Beginn der siebziger Jahre zu gesellschaftlichen Bewegungen werden. Bezeichnend dafür ist die zentrale Rolle, die »la hierba« (das Gras = Marihuana) im gesamten Text spielt: »Si hombre, yo creo que este país necesita cambios. [...] Fijáte qué con un alto porcentaje de juventud fumando marihuana botás un gobierno. Y lo hacés socialista, fi'ate que el quemón se siente igual a todos.« (25) Im Gegensatz zu Bording House San Antonio steht am Ende keine konstruierte Idylle des bewussten Engagements im revolutionären Kampf, sondern der Abschied von der Geliebten Linda vor der Reise des Ich-Erzählers »a los poetas«: »Yo estaba borracho y creo llorábamos.« (30)
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Die Raummetapher Hotel bzw. Pension und Bordell (als Ort der gesellschaftlichen outcasts bzw. der Subkultur) wird zur Metonymie der Stadt, der gesellschaftlichen Verhältnisse im Land, die von einer schleichenden Zersetzung der tragenden Säulen der Diktatur von unten und von den Rändern her gekennzeichnet sind. Der Politisierungsprozess des Protagonisten vollzieht sich in einer Sternbewegung innerhalb der Stadt, die ihr Zentrum im »Bording House San Antonio« hat. Allerdings kehrt er trotz der vielen Erfahrungen, die er auf diesen hermeneutischen Reisen vollzieht, keineswegs mit signifikant reicheren Erkenntnissen zurück. Wo der strategische literarische Ort des Romananfangs bzw. Ausgangspunkts der narrativen Bewegung bereits die in Monologform erzählte Philosophie des Protagonisten vom In-den-Tag-hineinLeben als Form des Protests gegen das Ungemach der Welt präsentiert, wiederholt sich ein ähnlicher Monolog am ebenso bedeutenden Ort der Ankunft in einer cuartería, einem der traditionellen, von mehreren Familien bewohnten Wohnblocks in Managua vor dem Erdbeben, am Ende des Kapitels XVIII (also dem Romanende, bevor das Kapitel XIX hinzugefügt wurde). Über die Bemühungen des Arbeiters und Gewerkschafters Dagoberto sowie des oppositionellen »poeta« räsonierend, die ihn für den Widerstand gewinnen wollen, kommt er zu dem Schluss: »Lo que sucede es que me falta voluntad. Y lo peor es que al poeta lo veía como superior a mí y que definitivamente me iba a quedar por debajo y ahora éste que me dice las cosas más directas que son igualmente válidas y los dos me echan en cara que sepa historia e me quede tranquilo. Lo que pasa es que yo sólo me refundo y me entierro. Esto es una verga de la que no me puedo capear. Espera que llegue el día. [...] Mañana sí voy a salir a buscar trabajo, la cuestión es que no sé nada. Sólo podría meterme a vendedor. Bueno, a lo mejor, algo me sale.« (121) Erst der im Nachhinein besetzte strategische Ort des Romanendes (Kapitel XIX) mündet in eine politische Bewusstwerdung und in ein - wie gesehen, idyllisch verbrämtes - Engagement in der Widerstandsbewegung. Dieser textinterne Ort tritt in Widerspruch zum textuellen Raum der restlichen Kapitel, der sich dem Leser in mehrfacher Hinsicht als offener, dynamischer Raum präsentiert und zur aktiven Semantisierung herausfordert - sei es durch die vielfältigen Anspielungen, die Sprachspiele, die Aufnahme des Volksjargons in die Literatur, sei es durch die Abweichung der »hermeneutischen Bewegung« des Protagonisten von dem Erwartungshorizont des nachrevolutionären Lesepublikums, der zum Zeitpunkt des Erscheinens des Romans von der offiziellen Revolutionshermeneutik bestimmt, zumindest beeinflusst wurde. Der Roman Alemán Ocampos ist also auch hinsichtlich seiner Raumstruktur ein höchst widersprüchliches Gebilde. Auch Krasnodar Quintana schildert in seinem Roman Como piedra rodante (1981) das Leben im kulturell und politisch bewegten vorrevolutionären Managua. Im Unterschied zu Alemán Ocampo ist es jedoch nicht das studentische Milieu, in dem sich die Handlung entfaltet, sondern das der unteren
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Büroangestellten. Dargestellt wird der zögernde und widersprüchlich verlaufende Entwicklungs- und Formationsprozess des Protagonisten, der ihn schließlich dazu bringt, »a abandonar todas sus preocupaciones personales y a reflexionar seriamente en la necesidad de entregarse por completo a la búsqueda de la liberación del pueblo y se entrega a ella« (Comandante Bayardo Arce Castaño in der »Presentación«, 8f.). In einem von der Beat- und Hippiekultur geprägten Kontext entscheidet sich der Protagonist mit Hilfe seiner Geliebten, mit dem Frente Sandinista de Liberación Nacional zusammenzuarbeiten. Im Gegensatz zu Carlos Alemán Ocampo versucht Quintana, im Nachhinein exemplarisch und repräsentativ die folgerichtige politische Bewusstwerdung und das Engagement einer ganzen städtischen Generation darzustellen, die zum Hauptträger des sandinistischen Projekts wurde." In diesem Sinne steht der Text in der Tradition der offiziösen sandinistischen Geschichtsschreibung und wird folgerichtig in dem bereits zitierten paratextuellen Ort der »Presentación« in die »arte revolucionaria« eingeordnet, die sich dadurch auszeichne, dass sie von der Revolution spreche, ohne das Künstlerische zu opfern, und die in höchstem Maße künstlerisch sei, indem sie über die Realitäten der Revolution nachdenke. (10)38 In der Tat zeichnet den Text der Rekurs auf zahlreiche Erzähltechniken der literarischen Moderne aus, wie die Collagetechnik, den inneren Monolog, den Wechsel der Erzählperspektiven, die der chaotischen Situation der marginalisierten städtischen Jugend am Vorabend der Revolution entsprechen. Sie stehen jedoch im Widerspruch zu dem linearen und monokausalen Erzählinhalt, der Roman bleibt unter dem Gesichtspunkt der ideologisch-symbolischen Repräsentation im Rahmen des damals herrschenden literarisch-politischen Diskurses. 39 Ähnlich wie in Alemán Ocampos Roman formen sich die textinternen Bewegungen zu einem Stern, allerdings vollzieht sich diese Bewegung als ein sukzessiver Formations- und Verstehensprozess, an dessen Ende das bewusste politische Eingreifen des Protagonisten steht. Das Haus als Ort des Austauschs mit der Geliebten und die Stadt werden semantisiert zu Metaphern der stetig voranschreitenden Politisierung. Wie sie sind die textinternen Orte des Romans geschlossene Systeme (trotz der verwendeten »modernen« Erzähltechniken). Die Romane Alemán Ocampos und Quintanas scheinen das Urteil zu bekräftigen, zu dem Marina Gálvez im Kontext der nueva novela hispanoamericana kam: dass der Prozess der »Urbanisierung« des Romans, der in den vierziger und fünfziger Jahren in Argentinien begonnen und sich über Mexiko fortgesetzt habe, in einigen Regionen Hispanoamerikas mit einer gewissen,
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Vgl. dazu Mackenbach, 1995a: 177-180, 233-235. Der Roman wurde vom Departamento de Propaganda y Educación del FSLN veröffentlicht, das auf die Herausgabe von Propagandaschriften und testimonios spezialisiert war. Vgl. dazu ausführlich das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«.
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aber bedeutenden Verspätung angekommen sei. (vgl. Gálvez, 1987: 70f.) Für Zentralamerika und gerade Nicaragua ließe sich in diesem Sinne von einer umso signifikanteren Verzögerung sprechen, als die hier an zwei Beispielen dargestellten Anfange einer städtischen Literatur bzw. des Stadtromans überlagert wurden von der Testimonialliteratur, die in den ersten Jahren nach der Revolution ihren (staatlich geforderten) politischen und literarischen Höhepunkt erlebte.40 Wie gesehen, bleiben auch die beiden Romane Alemán Ocampos und Quintanas von dem neuen Diskurs nicht unberührt (bis hin zu Brüchen in der narrativen Struktur). Allerdings verschieben sich die Koordinaten der literarischen Geografie im testimonio dieser Epoche grundlegend. Dies gilt in prononcierter Weise für den bereits unter verschiedenen Aspekten analysierten testimonio von Omar Cabezas, La montaña es algo más que una inmensa estepa verde (1982). Wie ausführlich dargestellt, wird die literarische Geografie des Textes von dem Widerspruch zwischen der Stadt und den Bergen/dem Land bestimmt. Die Berge werden von Anfang an als etwas Mythisches, aber auch Bedrohliches wahrgenommen. Der erste Aufstieg in die Berge ist ein Schock; nur unter großen Mühen, mit vielen Widersprüchen und unter Selbstzweifeln gelingt es dem Protagonisten, sich den Bedingungen dieses »infierno inconcebible e inimaginable para nosotros« (96) anzupassen. Das Motiv der bedrohlichen Natur (als locus terribilis) ist allgegenwärtig. Erst in der Reflexion über eine kurzzeitige Rückkehr in seine Geburtsstadt akzeptiert der Protagonist den Mythos Berg als »garantía del futuro« (29). Diese Selbstfindung, diese Projektion der eigenen Identität - und der des nicaraguanischen Volkes - in die Zukunft nimmt metaphorische Gestalt in dem Gegen-
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Parallel zu den beiden erwähnten Romanen von Alemán Ocampo vollzog sich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre auch in der Erzählung (dem cuento) eine Hinwendung zu städtischen Themen und zur narrativen Gestaltung des Urbanen Raums. In den beiden Erzählbänden Narraciones (1969) und Se alquilan cuartos (1975) von Juan Aburto steht das Leben der unteren und mittleren Klassen in den Elendsvierteln bzw. den Stadtteilen und Vororten Managuas im Mittelpunkt. Carlos Alemán Ocampo selbst veröffentlichte eine Erzählsammlung unter dem Titel Tiempo de llegada (1973), in der die psychischen Auswirkungen des Zusammenstoßes von ländlichem und städtischem Leben in den Individuen thematisiert werden. Am urbansten auch in der Verwendung narrativer Figuren ist der Band Familia de cuentos (1969) von Mario Cajina Vega, dessen Zentrum Managua mit der Metapher des Autos semantisiert und mit den Techniken des Kinos dargestellt wird. Vgl. zu diesem letzten Buch den exzellenten Aufsatz von Delgado (1996); insgesamt zur Entwicklung der Erzählung in diesem Zeitraum vgl. Arellano, 1997d: 109-112, und Mondragón, 1989: 272f. Auch für den Roman ist Ende der sechziger und in den siebziger Jahren eine ähnliche Tendenz zu verzeichnen. Zwar ist die literarische Geografie von Lizandro Chávez Alfaros Roman Trágame tierra {1969) und auch noch von Sergio Ramírez' ¿Te dio miedo la sangre? (1977a) ländlich geprägt, doch schon in Ramírez' Tiempo de fulgor (1970), Chávez Alfaros Balsa de serpientes (1976), Fernando Silvas El vecindario (1976) und Pedro Joaquín Chamorro Cardenals Richter 7(1976) besetzen die Städte den literarischen Raum: León, Mexiko-Stadt, Managua, (vgl. dazu Arellano, 1997d: 133-136)
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satz von »la casa«, dem Geburtshaus des Protagonisten in León, und »la tierra«, dem Urgrund des bäuerlichen Lebens und damit der nicaraguanischen Nation, an. Das Haus, sein Leben in der Stadt, ist - obwohl präsent - Vergangenheit, die angestrebte bessere Zukunft einer gerecht(er)en Gesellschaft wird zur Gegenwart, vorweggenommen im Kampf und solidarischen Leben der (männlichen) Kämpfer in den Bergen/auf dem Land: »Entre nosotros no había egoísmo. Como que la montaña y el lodo, el lodo y la lluvia, también, la soledad, como que nos fueron lavando un montón de taras de la sociedad burguesa. Nos fueron lavando una serie de vicios.« (106). Auch hier sind die messianischen Züge des Textes unübersehbar. Die Hölle Berg wird vermenschlicht, wird zur Geliebten. Die Raummetapher Berg symbolisiert das neue, aus großen Entbehrungen und harten Kämpfen sich formierende Nicaragua: » [...] en el campo, un temple de hierro, de acero, un contingente de hombres con una solidez granítica entre ellos, una indestructibilidad del núcleo de hombres en lo moral, en lo psíquico, que fue capaz de mover a toda la sociedad contra la dictadura [...] « (105)."' Dagegen steht die Raummetapher Haus/Stadt für eine unschuldige Vergangenheit, in der die Zeit stehen geblieben ist: » [...] había pasado el tiempo, había pasado un año y habían pasado muchas cosas. ¡Sin embargo la casa era la misma casa! y entonces eso a mí me confundía, me desubicaba en el espacio y en el tiempo [...] Y no sé por qué de repente sentía los propios habitantes de mi casa, o a mi propia casa, como angelical, ¿ya? como inocente ... como en otra dimensión. ¡Qué sabían ellos de tantas cosas que habían pasado, de tantas cosas que uno sufre, de tantas cosas que uno ha vivido! Vos pensás: ¿qué saben ellos ?« (245)42 Der Gegensatz zwischen den beiden wird dem Erzähler zur Allegorie einer »sociedad del absurdo« (247), die verhindert, dass er dahin zurückkehrt, wo er hingehört, und die einen dazu zwingt, »hacer o no hacer cosas absurdas« (ibid.).
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Ileana Rodriguez sieht in dieser Semantisierung der Natur/Berge einen.Unterschied zwischen der Testimonialliteratur und nationalen literarischen »Gründertexten« in Kolumbien und Venezuela im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts (sie zitiert insbesondere José Eustasio Rivera, La voràgine, 1924), in denen die wilde Natur die Grenzlinie der sich konstituierenden Nation darstellte und nur durch einen Prozess der Inbesitznahme und Kultivierung bzw. ökonomischen Nutzbarmachung der Nation eingegliedert werden konnte. Dagegen ersetzten die Berge im testimonio die wilde Natur und seien »the space that comes to define an initial national moment« (Rodriguez, 1994: 36; vgl. 165f.) Das »algo mas«, das im Titel des Buches von Cabezas ausgedrückt werde, stehe für eine veränderte Naturwahrnehmung und -semantisierung: »What is added to the natural definition is that the mountain is not only an immense green steppe, nature, but something larger. That 'something larger' could, in the first instance, be a myth, the myth of power, of the unknown and of the mysterious, a symbol of the new nation and of the constitution of the new nation-state and revolutionary power.« (ibid.: 37) Auf die geschlechtsspezifischen Aspekte dieser Raummetaphern habe ich im Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« aufmerksam gemacht.
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Nicht von ungefähr wird dieser Ort, dem er sich zugehörig fühlt, am strategischen textinternen Ort des Buchanfangs zelebriert als Heimat und Ursprung seiner politischen Reifung in den Volkskämpfen der Indios und Studenten seiner Geburtsstadt, in denen er sich zum Anfuhrer entwickelt und für die »Reise« in die Berge vorbereitet. Daran schließt sich der textinterne Ort des Abschieds an, der mit dem ersten Aufstieg in die Berge zusammenfallt und zur semantischen Aufladung durch allgemeine Betrachtungen über die Bedeutung der revolutionären Moral und die Notwendigkeit der bevorstehenden Entbehrungen genutzt wird. Ihm folgen zahlreiche Höhepunkte, aber auch Rückschläge beim ersten Sich-Orientieren in den Bergen, in der politischen und sozialen Arbeit mit den Bauern und im Aufbau der bewaffneten Guerilla, bis zum endgültigen Höhepunkt am strategischen Ort des Textendes im Zusammentreffen mit den alten Kämpfern aus Sandinos Guerillaheer und dem Finden der eigenen Geschichte und Kontinuität, die schließlich der langen zurückgelegten Reise ihren wahren Sinn geben. Die textinterne Bewegung vollzieht sich linear, genauer: in Form einer aufsteigenden Linie.43 Allerdings ist es keine gerade Linie, sie wird verbogen und deformiert durch Abstiege und Rückwärtsbewegungen, also eine Auf- und Ab-Bewegung, die letztlich aber doch eine aufsteigende Zickzack-Linie ergibt und insofern den geschlossenen Charakter des Textes im Hinblick auf seine politisch-didaktische Konzeption44 durch die geschlossene Struktur seines literarischen Raums unterstreicht. Dennoch findet die Linien-Bewegung keinen wirklichen Endpunkt und noch weniger schließt sie sich zum Kreis. Nur die historische Kontinuität wird geknüpft, aus der sich eine Option für die Zukunft ergeben soll. Doch diese Option bleibt offen. Am strategisch bedeutenden und semantisch aufgeladenen Textende fuhrt der Autor bewusst eine weitere Figur der textinternen Bewegung ein, ihre Negation: den Abbruch bzw. die Unterbrechung. Die Räumlichkeit des Textes im Sinne der von Elisabeth Bronfen herausgearbeiteten dritten Dimension, des textuellen Raums, fordert ihr Recht. Nicht nur ist die Rückkehr in die Stadt als nostalgische Denkfigur im Text immer präsent, wird die hermeneutische Bewegung des Protagonisten entlang der entbehrungsreichen topografischen Reise implizit immer als ein in der Zukunft zu schließender Kreis erkennbar, auch das Lesepublikum des wenige Jahre nach dem Sieg der Revolution veröffentlichten Buches kennt das eigentliche Ende, das Cabezas nicht (bzw. erst in seinem zweiten Buch sechs Jahre später) erzählt: den siegreichen Einzug der Revolutionäre in die Hauptstadt, die Verschmelzung von Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart des revolutionären Regimes. Der Textraum des ersten testimonios von Cabezas erweist sich als offener, dynamischer, genera-
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Zum christlichen Hintergrund der Aufstiegsmetapher vgl. das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«. Vgl. dazu ebenfalls das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«.
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tiver Raum, der vom Leser mit Bedeutung gefüllt werden kann und korrespondiert so der Offenheit seiner ebenfalls bereits dargestellten fragmentarischen und dialogischen Struktur.45 Ähnlich wie bei Cabezas sind in Sergio Ramírez' testimonio La marca del Zorro (1989) für den Reifungsprozess des Jugendlichen und späteren Guerillakommandanten Francisco Rivera die Berge der zentrale Erfahrungsraum. Auch El Zorro nimmt sie als wilde Natur wahr, wo » [...] la vida del ser humano poco se diferencia de la vida del animal de la selva« (87). Er erfahrt die Einsamkeit als größte Herausforderung und nicht die Gefahr und die physische Ermüdung. Im Gegensatz zu Cabezas ist diese Begegnung jedoch frei von sozialromantischen Zügen. Nicht von ungefähr beginnt sein Aufstieg in die Berge erst nach einer einjährigen Guerillaausbildung in Kuba, aus der er als gereifte Persönlichkeit hervorgeht: »Ahora, yo me sentía otra persona, más civilizado, menos inexperto, ya nadie iba a volver a agarrarme de la mano para que no me perdiera en una multitud.« (72) Der Eintritt in die Berge ist kein Schock, der ländliche Raum wird vielmehr - trotz der schwierigen Bedingungen und trotz der Tatsache, dass die Guerilla im Gegensatz zu seinen Erwartungen gar nicht präsent ist und er von null beginnen muss - pragmatisch als militärisches Operationsgebiet wahrgenommen, das dem politischen Ziel des Sturzes der Diktatur zugeordnet ist. Auch der Führer der nationalen Befreiungsfront, Carlos Fonseca, geht aus dem Grund in die Berge, ein Treffen der führenden Guerillakommandanten zu organisieren und damit die Bedingungen für eine Vereinigung der zersplitterten und gespaltenen Befreiungsfront zu schaffen, (vgl. 144f.) Ähnliches gilt für die zahlreichen Räume, die El Zorro im Laufe seiner »Guerillareise« betritt: León, Managua, Granada, Costa Rica, Honduras, Panama, Mexiko, Chile sind funktionale Räume, die den strategischen politischen und militärischen Zielen untergeordnet sind. Die Berge bleiben vor allem Rückzugsgebiet bei den drei Versuchen, den Aufstand in Esteli zu organisieren und die Macht in dieser (ländlich geprägten) Stadt zu übernehmen. Die Geburtsstadt des Protagonisten und ihr sozialer Kontext bleiben sein eigentliches Zentrum. Die textinterne Verstehensbewegung vollzieht sich als zirkuläre, auch wenn die topografische Bewegung zahlreiche andere Figuren (wie den Stern, den
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Vgl. auch dazu das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«. Diese Möglichkeit der »Neuschöpfung« des Textes mag die Faszination des nicaraguanischen Lesepublikums erklären, dessen Erwartungshorizont von der Revolutionssemantik geprägt war, aber über je eigene Erfahrungen in der erzählten Zeit verfügte und bereits erste Widersprüche zwischen Rhetorik und gelebter Realität gemacht hatte; ebenso seinen internationalen Erfolg, erlaubte Cabezas' Text doch eine Semantisierung auf der Basis der unterschiedlichsten sich mit der sandinistischen Revolution und besonders ihrer Vorgeschichte verbindenden Vorstellungen. Nicht von ungefähr war dem zweiten Buch des Autors, Canciön de amor para los hombres (1988a), ein solcher Erfolg nicht beschieden, (s.u.)
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Zickzack, das Auf und Ab) einschließt. In einer nahezu idealen Anordnung semantisiert der Text die strategischen Orte: Textanfang und erste Kapitel Herkunft und Identität, Kapitel 4 - Abschied und Aufstieg in die Berge, Höhepunkte in den weiteren Kapiteln - Auf und Ab im Guerillakampf, besonders in den drei Schlachten um die Stadt Esteli, Textende - siegreiche Rückkehr und Bestätigung der Identität. Während die Kinder- und Jugendzeit in einfachen proletarischen Verhältnissen semantisch hoch aufgeladen wird, vollzieht sich der Abschied, sozusagen der Grenzübertritt in den neuen Erfahrungsraum Berge, nahezu nebenbei, gehorcht pragmatischen Überlegungen: »Una tarde, mientras trabajaba con mi papá en la carpintería, aproveché para comunicarle que me había llegado la hora y que me iba. / -Papá, ahora sí voy de viaje -le dije. / El puso a un lado el escoplo y me miró, sin mostrarse sorprendido, porque bien sabía a lo que me refería. / -Está bien - m e contestó después de un momento, con un nudo en la garganta-. Lo único que te pido es que no te dejés matar como pendejo. / Y eso fue todo. El resto de la tarde, seguimos trabajando. / Mi situación, ya para entonces, se había vuelto difícil en Estelí. La guardia, que andaba detrás de mis pasos, no me dejaba en paz.« (59) Während das Land bei Cabezas mythisch besetzt wird, unterziehen es Ramírez/Rivera einer Profanierung. Die Rückkehr nach Esteli am Tag nach dem siegreichen Einzug der Revolutionäre in Managua wird dagegen zum still zelebrierten Wiedereintauchen in die Identität der Herkunft, (vgl. 276f.)46 Diese traditionelle Bewegungsfigur stützt die geschlossene politisch-ideologische Konzeption des Buches, insbesondere wenn man seine paratextuellen Orte berücksichtigt, die ich bereits ausfuhrlich analysiert habe.47 Die Darstellung der Raumwahrnehmung im Text dient der Legitimation der »korrekten« Position in den Tendenzauseinandersetzungen über die Rolle von Stadt und Land im bewaffneten Kampf (unaufhaltsamer Aufstieg der Bewegung in den Städten, die Berge als Hinterland) a posteriori, vom Sandinismus an der Macht aus. Der topografische, kulturelle, politische und textinterne Ort der Subalternen ist die dem Machtzentrum Managua untergeordnete Provinzstadt: Subalterner bleib bei deinem Leisten, will sagen: an deinem Ort.
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Vgl. dazu ausführlich das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«. Das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur« widmet sich hauptsächlich dem Raum des Peritextes. Die von Holstein zusammengestellten epitextuellen Dokumente lassen eine weitere Dimension des sich der Rezeption öffnenden literarischen Raums sichtbar werden, (vgl. Holstein, 1998: Anhang) Die darin zutage tretende Identifizierung mit dem authentischen Kämpfer aus dem Volk und der »heroischen« Phase des Sandinismus vor der Regierungsausübung können eine Erklärung für die weite Verbreitung und den Erfolg des Buches (in der Endphase dieser Regierung, als sich bereits breite Teile der Bevölkerung nicht mehr von ihr repräsentiert sahen) jenseits aller staatlichen Unterstützungsmaßnahmen liefern - ganz im Gegensatz zu dem kaum beachteten zweiten testimonio von Omar Cabezas, der bereits im Jahr vor Ramirez' Buch erschien.
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Verlagern sich schon bei Ramírez das eigentliche Ziel und das Zentrum der Textbewegung auf die - allerdings noch weitgehend ländliche - (Provinzhaupt-)Stadt, obwohl die Berge in der erzählten Zeit über weite Strecken im Vordergrund stehen, so ist die Verschiebung der geografischen Koordinaten im zweiten testimonio von Omar Cabezas, Canción de amor para los hombres (1988a), wesentlich radikaler und definitiver. Bewusst zerstört der Autor den in seinem ersten Buch konstruierten Mythos von den Bergen als Zentrum des Kampfes, um ihm im zweiten die Bedeutung der städtischen Guerilla entgegenzusetzen. Das Epizentrum der Erzählung verschiebt sich vom Land in die Stadt: »Cada vez es más obvio que el desvergue se va a dar en la ciudad.« (275)48 Darin drückt sich die reale Entwicklung der jüngeren nicaraguanischen Geschichte aus (die Revolution basierte im Wesentlichen auf einer Mobilisierung der städtischen Massen), aber auch eine Stellungnahme des Autors im Rahmen der damaligen Fraktionsauseinandersetzungen im FSLN: Als Mitglied der für das Land als Zentrum des Kampfes eintretenden Tendenz Guerra Popular Prolongada ergreift er (im Nachhinein) Partei für die auf den Aufstand in den Städten orientierende Tendencia Insurreccionista. Auch der veränderte politische Diskurs der zweiten Hälfte der achtziger Jahre (der größte Teil des Buches wurde 1988 geschrieben) findet hier zweifellos seinen Niederschlag: Die Contra hatte insbesondere auf dem Land, unter den armen Bauern, eine breite soziale Basis gefunden, der campesino war nicht per se »revolutionär«, was innerhalb des FSLN ein Umdenken hervorrief.49 Wie das Buch den Mythos von den Bergen dekonstruiert, so konstruiert es einen neuen: den von der unaufhaltsam und siegreich voranschreitenden Bewegung in der Stadt unter Führung des FSLN (insbesondere der Insurreccionistas). Für den Protagonisten wird die Stadt, das heißt zunächst einmal seine Geburtsstadt León, zum Zentrum, zum nationale Identität stiftenden Ort: » [...] para mí León es la primera referencia de la palabra Patria.« (309) Hier kommt der Stolz zum Ausdruck, dass León die erste befreite Stadt Nicaraguas war, ein Regionalismus, der bis heute in der nicaraguanischen Gesellschaft existent ist, obwohl er mit dem Einmarsch der Revolutionäre aus allen Landesteilen in der
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Auf diese Zusammenhänge weist auch Ileana Rodríguez (1994: 168f.) hin: »Toward the end of the decade of the eighties, in 1989, a year before the electoral defeat of the FSLN, testimonial literature leaves records of a march from the country toward the city. The mountain has ceased to be the space from which the new country will be built [...] / The march toward the city cannot be stopped. [...] Nicaraguan literature as a narrative of nation-state had to recognize the strength of urbanization and of the city's organization as the precondition for nation building. / [...] / The dreamed country, the national sphere, is displaced once more in this literature of horizons to the city, where the new social type will incorporate the masses into himself [...] « Vgl. dazu das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur« (bes. die Passagen zu Alejandro Bendaña Rodríguez, Una tragedia campesina: testimonios de la resistencia, 1991, und Ernesto Castillo Guerrero, Algo más que un recuerdo, 1997).
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Hauptstadt schließlich in eine Konstitution der Nation mit dem Zentrum Managua mündet. Die Linie, die am Ende des ersten testimonios unterbrochen wurde, wird weitergeführt, der Kreis, der offen gelassen wurde, scheint sich zu schließen. Zwar kehrt der Protagonist zeitweise an den Ausgangspunkt und Ursprung seine Geburtsstadt León - zurück, aber diese »Heimkehr« bleibt ein »Abstecher«, die »Rückkehr« aus den Bergen vollzieht sich als Ankunft in einer neuen Umgebung: der Hauptstadt Managua, die von nun an das Zentrum und die Heimat der neuen Nation ist. Die Kreisbewegung bleibt zwar als Denkfigur präsent, aber sie fällt nicht mit der hermeneutischen Bewegung des Textes zusammen, eher schon kann diese als offenes Dreieck dargestellt werden: León-Berge-Managua. Die Stadt wird also auch in der Testimonialliteratur wieder zum Mittelpunkt.50 Aber es ist ein mythisch entrücktes Zentrum, Kern einer neuen Meistererzählung: der von der institutionalisierten Revolution, die bereits ihre Widersprüche offenbart. Im Gegensatz zu Francisco Rivera in Ramírez' testimonio findet Omar Cabezas nicht seine durch den Sieg der Revolution bestätigte Identität im subalternen Kontext der Provinzstadt, sondern im Zukunftsraum Managua, das - wie wir gesehen haben - die neue Nation aus einem kollektiven Geburtsakt hervorbringen soll." Die textinterne
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Vgl. dazu William Agudelos El ángel de San Judas (1997) über die Guerillabewegung in den westlichen Stadtteilen Managuas. Selbst in dem explizit sich nicht in die sandinistische Tradition stellenden testimonio von Roger Mendieta Alfaro, Olama y Mollejones (1992), sind zunächst das Land und die Berge Schauplatz des Kampfes, die Koordinaten der literarischen Geografie sind die gleichen wie bei Cabezas. Es geht darum, » [...] buscar el interior de la montaña [...] seguir adelante, enmontañarse, acostumbrarse a las condiciones y a las ejemplares durezas de la guerrilla« (63). Der Mythos Berge und des militärischen Trainings ist allgegenwärtig: Nur indem sie durch diese entbehrungsreiche Erfahrung gehen, können die städtischen Jugendlichen der Konservativen Partei für den Kampf gegen die Diktatur gestählt werden. Allerdings bleiben das soziale Subjekt, die Bauern, und die Besonderheit der Lebensbedingungen auf dem Land in dieser mythischen Überhöhung weitgehend unberücksichtigt. Die Berge dienen als strategisches Aufmarschgebiet einer städtischen politischen Elite, der eigentliche Kampf soll in den Städten stattfinden. Nicht von ungefähr scheitert die Aktion daran, dass die geplanten Aktionen in den Städten nicht zustande kommen, der Generalstreik ein Traum bleibt. Auf einen längeren Kampf in den Bergen, gar auf eine auf soziale Veränderungen auf dem Land ausgerichtete Tätigkeit sind die Rebellen nicht eingestellt. Die Bauern stehen ihrem Kampf fremd gegenüber, wie der Autor wiederholt feststellt: »Considero que para los campesinos, es difícil digerir eso de que un grupo de extraños les caiga del cielo de sorpresa, sin que existiera un contacto previo que los hubiese obligado a apreciar la dimensión real del problema desde su propio punto de vista campesino [...] « (112) Die Rebellen bleiben Fremdkörper und ohne Unterstützung durch die Bauern: »En verdad, el apoyo de los campesinos, especialmente en Olama y Mollejones se puede decir que fue nulo.« (111) (vgl. zu beiden Texten auch das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«) Vgl. das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«. Dieser Zukunftsraum reproduziert unter veränderten Bedingungen durchaus Denkfiguren, wie sie Mahlendorff als charakteristisch für die lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen Anfang des 19. Jahrhunderts
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Verstehensbewegung ermöglicht weder die Rückkehr des gereiften Revolutionärs zu den Wurzeln (der Kreis schließt sich nicht), noch das Aufgehen der Subalternen im neuen Machtzentrum (das Dreieck bleibt offen). 52 Der Zukunftsraum Hauptstadt = Nation ist bereits besetzt. Erst nach dem Ende des revolutionären Projekts werden diese Widersprüche auch in der Testimonialliteratur direkt thematisiert, zunächst - wie wir gesehen haben - in Bezug auf das Verhältnis zwischen Stadt und Land, schließlich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre mit dem Blick auf die Stadt selbst. Ähnlich wie bei Cabezas erfahrt der Protagonist bei Ernesto Castillo Guerrero, Algo más que un recuerdo (1997) auf dem Land, in den Bergen eine Entwicklung, kommt er verändert, geläutert zurück.53 Es sind die gleichen Orte im Norden Nicaraguas, die beide durchlaufen: Matagalpa, San Rafael del Norte, Estelí, Yalí, Wiwilí, Bocay, Kilambé, Río Coco ..., aber die Koordinaten der kulturellen und politischen Geografie haben sich verschoben. Während Cabezas in einem langen Entwicklungsprozess die Berge bestenfalls als Hinterland für die entscheidenden Auseinandersetzungen in den Städten zu sehen beginnt, entwickelt Castillo Guerrero - als mestizischer Bewohner der nicaraguanischen Pazifikregion zunächst von den unterschiedlichen natürlichen, ethnischen und kulturellen Gegebenheiten des ländlichen nördlichen Nicaragua überrascht und sich bedroht fühlend - in einem ebenso schmerzhaften Prozess ein Verständnis von den Lebensbedingungen der Menschen auf dem Land und ihrem Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an der Zukunft der Nation, auch und gerade weil sie sich nicht (mehr) von der sandinistischen Regierung in Managua repräsentiert sehen. Die Entwicklung bei Cabezas und Castillo Guerrero ist gegenläufig: Während bei Cabezas der Mythos Berge langsam dekonstruiert wird und einem neuen Mythos vom Kampf in den Städten weicht, verliert die Hauptstadt Managua bei Castillo Guerrero ihre fast mythische Anziehungskraft, je mehr er das Land und die Berge kennen lernt, ohne dass allerdings das Land bzw. die Berge erneut mythisch verklärt werden. Die bei Cabezas nicht wirklich vollendete Kreisbewegung findet bei
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sah: der Raum als »Projektionsfläche für fremde Utopien und Ideale« (Mahlendorff, 2000: 134), der »kulturelle Gegensatz zwischen Hauptstadt und Hinterland« als »Dichotomie von civilización und barbarie« (ibid.: 167). Dies mag den geringen Erfolg des Buches beim nicaraguanischen Lesepublikum erklären (im Gegensatz zu dem sehr erfolgreichen ersten Buch Cabezas' und dem testimonio Ramirez'/Riveras). Weder ist eine Identifizierung mit dem Helden wie bei El Zorro möglich, noch ermöglicht die Verstehensstruktur von Una canción de amor para los hombres die aktive Besetzung der »Leerstellen« des Textes: Die Revolution hat gesiegt, in diesem Sinne hat sich ein Kreis geschlossen, aber ohne die subalternen Akteure einzubeziehen - eine im Gegensatz zu Cabezas' erstem testimonio durch und durch konservative narrative Struktur. Der textuelle Raum bleibt fiir die Leser tabu. Vgl. zu dem Text das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«.
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Castillo Guerrero ihren Abschluss, deutlich manifestiert in den semantisch aufgeladenen textinternen Orten des Anfangs und des Endes des Buches. Die Rahmengeschichte stellt den folgenden testimonio in den Kontext des Jahres 1990, in dem der Autor/Erzähler sich in seinem Universitätsstudium mit der (juristischen) Zukunft des Landes beschäftigt und seinem Bruder die Hausaufgabe für den Spanischunterricht abnimmt (nämlich einen testimonio zu schreiben). Die hermeneutische Bewegung durch alle Höhen und Tiefen des obligatorischen Militärdienstes endet mit der Rückkehr ins zivile Leben und dem Nachdenken über die persönliche Zukunft und die Zukunft des Landes. Der Protagonist ist reicher an Erfahrungen und reifer, aber keineswegs sicher, ob diese gut oder schlecht waren. Ob die Mühen und Entbehrungen sich gelohnt haben, muss jeder für sich entscheiden. Nur eines scheint ihm gewiss: »Ojalá y no volvamos a cometer el mismo error y entendamos que nadie tiene la verdad absoluta y que debemos tolerarnos como hermanos y como compatriotas.« (217) Der textuelle Raum ist offen für die Leser, erfordert ihre Beteiligung - wie die Zukunft der Nation ohne diese nicht möglich ist. Die Stadt ist ein Zukunftsraum, der erst noch zu gestalten und mit Bedeutung zu füllen ist und zwar mit aktiver Partizipation der bisher Verfeindeten, von Stadt und Land gleichermaßen. Dagegen verliert dieser städtische Raum in dem bereits Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre entstandenen Text von Danilo Guido, Testimonios de aquella década (1993), seinen Charakter als positiv semantisierter Zukunftsraum. Eine besondere Spannung verleiht dem Text die Gegenüberstellung der Erfahrungen der Jugendlichen im obligatorischen Militärdienst SMP und des Erzählers/Autors in der Stadt: »Afortunadamente logré estar cerca de las familias de los dirigentes sandinistas y de ellos mismos sin que notaran por no ser yo de importancia y pude conocer diversas situaciones que expongo para los demás, insertando la experiencia de uno de mis hermanos que cumplió su servicio militar, como muestra fiel y efectiva de la inyección ideológica en sus cerebros.« (2) Während die Jugendlichen im Militärdienst an der Front ihr Leben für die Verteidigung des Vaterlandes und eines politischen Projekts aufs Spiel setzen, leben die neuen politischen Führer und ihre Angehörigen in der Stadt ein privilegiertes Leben, wie es der Erzähler aufgrund seiner Arbeit in verschiedenen staatlichen Institutionen aus eigener Erfahrung erlebt: »En 1983 después de recibir un curso de Educación Física empecé a laborar en el Instituto Nicaragüense de Deportes, por primera vez trabajaba en una institución y conocí el cuerpo desnudo de la burocracia, la hipocresía en los jefes, el servilismo. Me empezaba a manchar.« (13) Die Stadt wird zum Fremdraum, der von den Vertretern des neuen herrschenden Regimes zunehmend kontrolliert und reglementiert wird. Dies ist eine wichtige Quelle der wachsenden Entfremdung und Enttäuschung des Erzählers/Autors gegenüber dem anfangs geteilten politischen Projekt. Wie bei Castillo Guerrero wird die Stadt profaniert, ohne dass die Berge bzw. das
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Land erneut mythisiert werden. Beide kennzeichnet eine pragmatische Haltung zu den repräsentierten Räumen. Während Castillo Guerrero allerdings an einem aus den Erfahrungen besser zu gestaltenden Zukunftsraum festhält, ist dies bei Guido schon nicht mehr möglich. Die Verstehensbewegung seines Textes vollzieht sich nicht als Kreis, sondern als Zickzack-Bewegung, als Hinund Herspringen von einem (negativen) »Höhepunkt« zum anderen. Wie gesehen, werden diese textinternen Orte semantisch besetzt mit unzähligen Intertexten, die dem Autor/Erzähler zur metatextuellen Kommentierung der Erzählung dienen. Der textuelle Raum ist ein vielstimmiger, ohne eindeutige Sinnzuschreibung durch den Autor und offen für unterschiedliche Sinnkonstruktionen durch den Leser.54 Die Entwicklung des literarischen Raums in den Texten, die im Kontext der Testimonialliteratur entstehen, durchläuft also in gewisser Hinsicht ebenfalls eine Kreisbewegung: Der profane Raum Stadt als Zentrum der (offenen) gesellschaftlichen Entwicklung wird ersetzt vom mythischen Raum Berge, der wiederum der Stadt als nahezu mythisch überhöhtem Zentrum weicht, für das die Berge nur profanes Hinterland sind. Erst nach dem Ende des revolutionären Projekts kommt es erneut zur »Profanierung« der Stadt im testimonio - als pragmatisch zu schaffendem Zukunftsraum, aber auch und damit parallel zu Tendenzen in der nicaraguanischen Romanliteratur insgesamt als nachrevolutionärem Fremdraum.
Stadt und Land 2: Zukunftsraum oder locus terribilis? Viele dieser Romane übernehmen allerdings, beeinflusst von der Testimonialliteratur, zunächst deren Denkfigur von den Bergen/dem Land als Zentrum, gerade auch in ihrer mythischen Semantisierung der Berge als Ort des »Guten« und der Stadt als Ort des »Bösen«. So äußert zum Beispiel in dem Roman von Gioconda Belli, Sofia de los presagios (1990a) die Hexe Xintal: » [...] la ciudad no es buena para el espíritu.« (109) Das Gute wird vom Dorf, vom Land, von der Erde repräsentiert, wie die Erzählerin kommentiert: Für Xintal ist die Erde die höchste aller Gottheiten, Mutter allen Lebens (vgl. 110), für die Protagonistin Sofía » [...] la tierra es una materia viva. [...] La tierra le hace sentirse poderosa cual si su cuerpo fuera el eje del péndulo que la hace rotar.« (171) Der Kontakt mit ihr verleiht Stärke und Identität. Dagegen ist die Stadt - Managua, Masaya, Granada - Synonym für Ferne, Fremde, Entfremdung, Sitz anonymer Gewalten. Dies trifft ebenfalls zu auf die Romane von Chuno Blandón, Cuartel
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Auch in diesem Sinne sprengt der Text also den traditionellen testimonio-Diskurs; vgl. dazu und ausführlich zu dem Buch das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«.
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general (1988), Gioconda Belli, La mujer habitada (1988a) und Monica Zalaquett, Tu fantasma, Julián (1992). Bei Chuno Blandón ist das nördliche Bergland Nicaraguas die Urquelle, aus dem sich die soziale Basis des Widerstandskampfes Sandinos speist und aus der eine Volksidentität hervorgeht, die ihre Wurzeln in den bäuerlich-magischen Traditionen hat. Ähnlich wie im Guerilla-Diskurs der Testimonialliteratur ist der ländliche Raum, sind die Berge, bei Gioconda Belli der Ort, an dem der »neue Mensch« geboren wird, wo Solidarität, Freundschaft, Zärtlichkeit und Übereinstimmung mit der Natur herrschen, symbolisch repräsentiert in der militärischen Initiation der Protagonistin Lavinia auf einem Landgut. Die städtischen Räume sind okkupiert von der herrschenden Oligarchie, die ihre innere Leere durch rauschende Feste und Prunk zu übertünchen sucht, metaphorisch dargestellt am großen jährlichen Ball im Social Club der Hauptstadt und dem Kontrapunkt, der ärmlichen Hütte, in der Lucrecia, die Hausangestellte Lavinias, zu leben gezwungen ist. Bis in die Beschreibung der Architektur ist diese Romantisierung des Landes und des einfachen Lebens zu verfolgen: »En las casas coloniales de las ciudades, las viviendas cerradas sobre sí mismas, se abrían solamente hacia un interior de patio y corredores. La casa hacienda, concebida para la vida del campo obedecía a otra concepción de diseño; un interior solamente para el descanso y el corredor orientado hacia el campo donde se desarrollaba la actividad cotidiana [ . . . ] « (226f.) Der Widerstand bezieht seine Kraft aus den äußeren, offenen Räumen des Landes und im Kampf mit den inneren, geschlossenen der Stadt (symbolisiert im Eindringen der Guerilleros in das Innere des Hauses des Generals Vela, das die Architektin Lavinia entworfen hat, während der Einweihungsfeier, um mit dieser Militäraktion politische Gefangene freizupressen). Obwohl das Zentrum der Aktionen sich in die Stadt verlagert, bleibt der Mythos von der Verbundenheit mit dem Land lebendig. Monica Zalaquett nimmt dann Elemente dieser Denkfigur auf, um den Widerspruch zwischen Stadt und Land nach dem Sieg der Revolution zu gestalten, verkörpert in dem gegensätzlichen Bruderpaar Julián und José. Der Rekurs auf diese im literarischen und kulturellen Diskurs Nicaraguas präsente Dualität mündet in dem Roman Monica Zalaquetts in die implizite Denunziation eines städtischen (sandinistischen) Zentrums, das sich verständnislos über das mehrheitlich ländliche Nicaragua erhebt.55 Allerdings rückt die Stadt in den achtziger und noch stärker in den neunziger Jahren in den Romanen, die sich explizit vom testimonio-Diskurs abwenden, zunehmend in den Mittelpunkt. Die Romanwelten werden zum Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen der Moderne, die vor allem von der Hauptstadt Managua aus über das Land hereinbricht, und den jahrhunderteal-
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Vgl. das Kapitel
»Diagonale:
Literatur und Revolution«.
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ten Traditionen auf dem Land, ohne dass jedoch die dichotomische Denkfigur Land = authentisch, gut / Stadt = verdorben, schlicht reproduziert wird. Carlos Alemán Ocampo in Vida y amores de Alonso Palomino (1994), Sergio Ramírez in Un baile de máscaras (1995) und auch Chuno Blandón in dem bereits erwähnten Roman Cuartel general (1988) repräsentieren diese Dichotomie in unterschiedlichen Perioden des 20. Jahrhunderts als ein Nebeneinander zweier Welten, die typisch für die Zerrissenheit der nicaraguanischen Gesellschaft sind, ohne Partei für eine Seite zu ergreifen. Bei Blandón wird dieser Zusammenstoß als Schock bzw. Erstaunen über das Auftauchen der ersten Vorboten der Moderne auf dem Land in den zwanziger und dreißiger Jahren in Form eines »Jeeps Willys«, des elektrischen Lichts und des Kinos dargestellt. Bei Ramírez koexistieren im ländlich-dörflichen Raum in den vierziger Jahren die Errungenschaften der Moderne - wie die Eisenbahn und die Tageszeitung - , die aus der Hauptstadt Managua kommen, mit den magischen Gebräuchen der Dorfbewohner. Bei Alemán Ocampo pendelt der (Anti)Held Alonso Palomino in den sechziger und siebziger Jahren zwischen der hauptstädtischen Welt, die einem Prozess der Urbanisierung und Modernisierung unterliegt, und der magischen Welt des Dorfes Diriá - anthropomorphisiert in den beiden Frauengestalten Gertrudis und Clorinda - , ohne sich für eine von beiden zu entscheiden. Für eine kurze Zeit scheint schließlich auch in den Romanen der achtziger und neunziger Jahre die Darstellung der Stadt zur Repräsentation des Zukunftsraums zu werden, aus dem heraus sich die zukünftige (neue) Nation gestaltet. Selbst in dem erwähnten ersten Roman von Gioconda Belli, La mujer habitada (1988a) ist die Stadt nicht nur zum faktischen Zentrum der Aktion, zum Handlungsraum geworden. Die Schaffung der zukünftigen Nation, die ihre Identität aus der ländlich-indianischen Vergangenheit bezieht, zeichnet sich ab in der Besetzung des städtischen Raums durch diese ländliche Tradition - einer Art von literarischer Umsetzung der Guerilla-Denkfigur von der Einkreisung der Städte durch das Land. Der städtische Raum wird semantisiert als zukünftiger Heimatraum der neuen Nation, der die indianisch-ländlichen Traditionen in sich aufnimmt und sich so selbst umgestaltet. In der literarischen Geografie der Romane von Blanca Rojas, La noche de la basura grande (1991), Alfredo Valessi, La casa blanqueada (1993), René Quesada, En el umbral de los sueños (1998) sowie Sergio Ramírez (1988 und 1998a) rückt der städtische Raum schließlich definitiv ins Zentrum, sowohl im Hinblick auf die Repräsentation außerliterarischer, faktischer Räume in den Romanwelten, die Semantisierung von Räumen und die Anwendung von Raummetaphern, als auch die Bedeutung des textuellen Raums. Valessi fokussiert auf die Darstellung des städtischen Raums der kleinen Angestellten in Managua nach dem Erdbeben von 1931, der von der Präsenz der beginnenden Somoza-Diktatur okkupiert ist und noch keine Projektionsfläche für Zukunftsvisionen bietet. Dagegen repräsentiert die nicaraguanische Hauptstadt bei
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Quesada den Ort des Fortschritts, im Gegensatz zu dem in der Rückständigkeit verharrenden Land. Die räumliche Bewegung ließe sich in zahlreichen Linien (bzw. Pfeilen) darstellen, die sternförmig auf Managua gerichtet sind: Viele der Studierenden der im Mittelpunkt der Erzählung stehenden »Escuela de Ingenieria« kommen aus den ländlichen Räumen wie Chinandega (im Nordwesten) und San Carlos (im Südosten), aber auch aus Granada, das als Ort des Schulbesuchs einiger Studierender quasi eine »Zwischenstation« auf dem Weg vom Land in die Stadt ist. Es ist das Managua des Baumwollbooms, der zweiten Kapitalisierung des Landes, mit der die Mechanisierung und der Aufbau erster Industrien (vor allem im agrochemischen Bereich) nach Nicaragua kommen. Die mit vielen Mühen geschaffene »Escuela de Ingenieria« wird zur Metapher für den Glauben an den technischen Fortschritt, die industrielle Entwicklung des Landes, seinen Anschluss an die Moderne: seine Zukunft (so der Titel En el umbral de los sueños).56 Die Arbeit der Schule trägt Früchte: Schon bald rücken einheimische, in ihr ausgebildete Ingenieure auf die Stellen in Ämtern und Behörden, die vorher mit ausländischem Personal bzw. mit im Ausland ausgebildeten Nicaraguanern besetzt waren. Diese allgemeine Aufbruchstimmung findet ihre Entsprechung in der persönlichen Lebenssituation der Studenten:57 Für sie fallt das Studium mit einer Phase zusammen, in der sie Pläne für die Zukunft entwerfen und die ersten Schritte in dieses zukünftige eigenständige Leben machen, Familien gründen, Arbeit finden, sich vom Elternhaus trennen (auch hier hat der Paratext des Romantitels symbolische Bedeutung). Trotz einiger Rückschläge (Krankheit und Tod einiger Studenten) überwiegt auch und gerade in der Darstellung dieser persönlichen Entwicklungswege die Idylle. Die textinterne Verstehensbewegung vollzieht sich linear, zunächst vom Land in die Stadt, dann in der Stadt als aufsteigende. Zentrum des Romans von Rojas ist der städtische Raum der nicaraguanischen Kapitale unmittelbar vor der Revolution von 1979, seine textinterne Bewegung kennzeichnet ein ständiges Pendeln zwischen den verschiedenen scheinbar verbindungslos nebeneinander existierenden sozialen Schichten und politischen Lagern, das sich erst am Ende in eine Linie verwandelt, die alle im Blick auf den beginnenden Aufstand gegen die Diktatur zusammenführt, in dem sich die Zukunftsperspektiven der Nation abzeichnen.58
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Paratextuelle und ikonografische Elemente stützen diese Aussage, so die Fotos und Bildunterschriften von Julio Padilla Méndez und dem Gebäude der »Escuela de Ingeniería« (vgl. 4, 6) und das Epigraph zu Beginn des Buches, ein Zitat Victor Hugos: »El espíritu humano tiene una / cumbre. Esa cima es el ideal. / Dios desciende a ella; el hombre / sube. El alma humana tiene más / necesidad de ideal que de / realidad. Por lo real se vive. Por / lo ideal se existe.« (3) Zu ihnen gehörte auch der Autor, wie aus folgender Bildunterschrift hervorgeht: »A mis compañeros de clase de la Escuela de Ingenería de la Calle Colón. Ellos vivieron conmigo la gran aventura entre 1957 y 1962.« (5) Zu den Romanen von René Quesada und Blanca Rojas vgl. ausführlich das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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Sergio Ramírez präsentiert in Castigo divino (1988) mit der Semantisierung des städtischen Raums der alten Kolonial- und Universitätsstadt León eine Metapher nicht nur der politischen und sozialen Verhältnisse in Nicaragua, sondern im Zentralamerika der dreißiger Jahre, wie Carlos Fuentes in einem Paratext der zweiten Auflage feststellt: »Ramírez extiende la técnica flaubertiana a una sociedad entera, verdadero microcosmo de la América Central, pues aunque situada en León, la acción reverbera en Costa Rica y Guatemala. [...] Sociedad de linderos invisibles, donde los hombres de negocios citadinos tienen todavía fincas lecheras y llegan y trabajar a sus oficinas con botas embadurnadas de vaca, y donde la importación apresurada, casi angustiosa, de los objetos de la modernidad, no logra disfrazar el imperio del capricho y la violencia más arcaicas.« (Ramírez, 1988: 4. Umschlagseite)'"
Wie bereits ausführlich dargestellt, besetzt Ramírez die strategischen textinternen Orte mit den Mitteln des Paratextes und des Intertextes und konstruiert so den textuellen Raum des Romans als dynamischen und generativen Raum, der das Lesepublikum ohne sichere Wahrheiten zurücklässt und zur aktiven Bedeutungskonstruktion herausfordert - noch unterstützt durch die zahlreichen metafiktionalen Elemente.60 Wie schon in Castigo divino ist der städtische Raum Leons für Sergio Ramírez auch in Margarita, está linda la mar (1998a) mehr als die Darstellung des Ortes, an dem sich die historischen Ereignisse abspielen, auf die sich die Erzählung bezieht. Wie in Castigo divino muss die Entscheidung des Autors, die beiden Geschichten (die Rückkehr Rubén Darios nach Nicaragua im Jahr 1907 und die Ermordung des Diktators Somoza durch den jungen Dichter Rigoberto López Pérez im Jahr 1956) aus der Perspektive und im jeweiligen historischen Kontext der alten Kolonialstadt zu erzählen, als bewusste Erzählstrategie verstanden werden: Welt-, zumindest Regional- und Nationalgeschichte erzählt im Prisma der nicaraguanischen Provinzmetropole,
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Vgl. auch Kozak Rovero, 2001: 36f. In der Tat bietet der Roman in dieser Hinsicht viele Belege. Unter Berufung auf Ramirez selbst verweist Wellinga darauf, wie der städtische Raum von der detaillierten Beschreibung der Gebräuche, sozialen Verhältnisse, Speisen, Getränke, Kleider, Straßen und Plätze usw. der damaligen Zeit in Zentralamerika belebt werde, die auf einem akribischen Studium der Zeitungen, Filme, Musik und der Reklame der Epoche durch den Autor beruhten. Wellinga spricht in diesem Sinne gar von einer »novela de costumbres« (Wellinga, 1991: 3; vgl. Acevedo, 1991b: 160). Leon ist das städtische, gleichwohl von den sozialen Verhältnissen einer Agrargesellschaft, wie sie aus der Kolonialzeit überliefert sind, dominierte Zentrum der Handlung. Der ideelle und zum Teil praktische Bewegungsraum des Romans jedoch ist viel weiter: Es ist das Zentralamerika der damaligen Epoche. Insbesondere Costa Rica und Guatemala sind Schauplätze der Handlung. Der zentralamerikanische Raum ist einer. Vgl. das Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«.
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deren koloniale Züge noch im 20. Jahrhundert an allen Ecken und Enden (im wahrsten Sinne des Wortes) zu Tage treten, aber gleichzeitig den Ort darstellen, an dem sich die Zukunft der Nation entscheidet.61 Die beiden parallelen Erzählstränge des Romans sind nicht nur dadurch verbunden, dass sie sich auf reale Ereignisse in León beziehen, wie Isolda Rodríguez Rosales (vgl. 1999: 59) richtig anmerkt. Sie konstituieren einen gemeinsamen Denkraum, in dem sich die Fundamente einer zukünftigen Nation nach dem Ende der Diktatur abzeichnen (wie gesehen, symbolisiert im Hirn Darios und in den Hoden López Pérez ). Und indem die textinterne Bewegung zwischen den beiden Erzählungen ständig hin- und herpendelt, konstruiert Ramírez einen textuellen Raum, der die narrative Chronologie zugunsten der Synchronie permanent durchbricht. Die Lektüre des Romans erfordert die unablässige Unterscheidung der ohne Übergänge ineinander montierten Erzählungen, um sie wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen und so die Bedeutung der Gesamterzählung zu generieren. Metaphorische Semantisierung und Dynamisierung des literarischen Raums bedienen sich der Darstellung des städtischen Raums als Zukunftsraum, der sich zwischen der kolonialen Architektur der traditionsreichen Stadt im Westen Nicaraguas mehr erahnen als deutlich erkennen lässt. Dieser städtische Zukunftsraum der Nation verliert jedoch im Laufe der neunziger Jahre zunehmend seine positiven Konnotationen, die literarische Geografie wird - wie sich schon bei Ramírez zeigte - immer komplexer, insbesondere in den Texten, die nach dem Ende des reolutionären Projekts veröffentlicht wurden. Mit dem Sieg der Revolution ist zwar das Zentrum der Ereignisse unweigerlich in die Städte - eigentlich die Hauptstadt Managua verlagert, die (post-)revolutionäre Kapitale generiert jedoch keinen Heimatraum, wird vielmehr zu einem neuen Fremdraum. In dem Roman von Orlando Núñez Soto, El vuelo de las abejas (1992), bleiben die Kinder der Revolution unbehaust, ohne Eigenraum. Weder die Stadt (Managua) noch das Land (La Mocuana, der Geburtsort der Protagonistin Laura) lassen ein Entkommen aus den Zwängen einer auf den Menschen lastenden Vergangenheit und Gegenwart zu. Während die nicaraguanische Hauptstadt, die immer noch vom Erdbeben 1972 zerstört ist, zunehmend zu einem unbewohnbaren Ort wird, in dem die Utopien schwinden, die Beschwerlichkeiten des alltäglichen Lebens und Überlebens überhand nehmen und die Folgen des Krieges weitere, auch innere, Zerstörungen anrichten, bleibt das Land, das Dorf La Mocuana, ein Ort der Vergangenheit, der Mythen und Legenden, der angesichts der Veränderungen keine Zuflucht mehr bietet: »En aquellas comarcas el tiempo no parecía
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Wie Wellinga in Bezug auf Castigo divino hat Helena Ramos (1998: 6) in diesem Zusammenhang von einem »cuidadoso costumbrismo« von Sergio Ramírez gesprochen, der das historische Ambiente Leons wie schon in Tiempo de fulgor (1970) bis in kleinste Details rekonstruiere, einschließlich der Marken von Spirituosen, Maschinen und Hüten der damaligen Epoche.
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moverse. Todo parecía igual desde que la familia de Aquileo abandonó el lugar. Ni siquiera la guerra alteraba el ritmo natural del pueblo o las costumbres de la gente.« (135) Die Revolution hat zwar den Schrecken der Diktatur ein Ende gesetzt, einen bewohnbaren Ort, eine neue Identität und Heimat hat sie (noch) nicht geschaffen. Mit den beiden Romanen von Erick Aguirre (1998) und Franz Galich (2000) erreicht diese Entwicklung einen vorläufigen Höhepunkt. Der städtische Raum ist nicht nur der Ort, an dem die Erzählung sich entfaltet, die Stadt wird zum thematischen Zentrum des Romans: ein Managua zerstört vom Erdbeben 1972, tödlich verwundet vom Bürgerkrieg, eine Stadt ohne Gedächtnis und ständig auf der Suche nach ihrer Identität. Erick Aguirre erzählt in seinem Roman Un sol sobre Managua (1998) die Geschichte von Carlos Vargas und Joaquín Medina, zwei jungen Journalisten der Tageszeitung La Noticia, die sich an irgendeinem Nachmittag in den neunziger Jahren im Barrio Monseñor Lezcano, einem der volkstümlichsten Stadtviertel der nicaraguanischen Hauptstadt, treffen und begleitet von anderen Journalisten und Schriftstellern den Rest des Tages und der Nacht in der Kneipe »La Chalía« diskutierend und Unmengen von Alkohol konsumierend verbringen. Beide haben von ihrem Chefredakteur den Auftrag erhalten, die wichtigsten Ereignisse in der Geschichte des Landes im 20. Jahrhundert zu recherchieren und eine Dokumentation darüber vorzubereiten. Sie erledigen diesen Auftrag allerdings weniger in ermüdenden Sitzungen in Archiven und Bibliotheken (obwohl Carlos voller Begeisterung alte Artikel aus den Zeitungsarchiven ausgräbt), sondern in beständigen Streifzügen durch die Stadt, ihre Kneipen und Bordelle, in Gesprächen mit Zeitzeugen, illustren Persönlichkeiten und Bewohnern der armen Stadtviertel, vor allem aber in nicht enden wollenden Sauf- und Streitgesprächen in der literarischen Szene Managuas, in der jeder, der auch nur einen Artikel veröffentlicht hat, »Poet« genannt wird. Die topografische Bewegung der beiden Journalisten, die der Generation der (inzwischen enttäuschten) engagierten Intellektuellen der achtziger Jahre angehören, 62 bildet einen Stern: Immer wieder schwärmen sie von der Bar aus und kehren stets zu ihr zurück. Allerdings vollzieht sich die hermeneutische Bewegung des Textes nicht in einer entsprechenden Figur: Es bleibt beim Hinund Herspringen - geradezu einem Sich-Verlieren - im Raum, der im vorletzten Kapitel des Romans als Labyrinth semantisiert wird (vgl. 297-306), ohne dass sich daraus ein fortschreitender Prozess der Erkenntnis ergibt. Der Verstehensprozess vollzieht sich nicht in einer Bewegung im äußeren Raum, sondern als Eindringen in innere bzw. imaginäre Räume, die gleichzeitig und paradoxerweise von Erinnern und Vergessen gekennzeichnet sind. Zwar scheint bei ihren Reisen durch die hauptstädtische Topografie trotz
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Vgl. zu diesem Aspekt des Romans das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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der aktuellen Trostlosigkeit noch ihr ehemaliger Zauber auf, wie der intradiegetisch-homodiegetische Erzähler Joaquín räsoniert: »En esta fértil pero peligrosa ribera meridional, los nahuas fundaron la ciudad de Managua, principal poblado del señorío de Tipitapa, que según el cronista español Oviedo, alardeó de poseer un ejército compuesto por diez mil nativos con arco y flecha que velaban por más de cuarenta mil ánimas indígenas. / Sin embargo, para Carlos, y por supuesto para mí, sólo se trata de nuestra inhóspita y vieja ciudad natal, llena de crueles y sórdidos paisajes, postrada casi inerme junto a un lago sucio, color caca, al pie de un enorme volcán azul cuyo nombre resonante, Momotombo, inspira en los managuas un temor ancestral. [...] y cuyo onomatopéyico nombre asoció Víctor Hugo con la eternidad.« (31) Aber die äußeren Räume der Stadt bieten schon keine Möglichkeit mehr zur Orientierung und Identitätsstiftung, wie der Poet Raúl Calero in einer der unzähligen alkoholträchtigen tertulias deklamiert:63 »Fíjense bien, muchachos: el managua de hoy es un ser sin identidad que anda en busca de algo que le de a su hábitat una estructura corporal de verdadera ciudad, una estructura sentimental, histórica, filosófica. Pero como no la encuentra se siente frustrado, y descarga su frustración contra sí mismo en forma de bromas negras y chistes crueles que por lo general también lesionan a quienes lo rodean ... « (48) Angesichts dieser Unbehaustheit bleibt den beiden nur eine doppelte Fluchtbewegung. Zum einen dringen sie in die Erzählungen der Alten von der Stadt vor dem Erdbeben ein, ein Managua mit einer klar erkennbaren räumlichen Struktur, reich an Traditionen und Gebräuchen, mit einer eigenen Urbanen Physiognomie: »En aquel tiempo se podía hablar de una Managua en su integralidad« (237), heißt es im Rückblick auf die Stadt noch vor dem ersten großen Erdbeben im 20. Jahrhundert, das bereits 1931 Teile Managuas zerstört hatte.64 Die Erinnerung an das Managua vor dem zweiten Erdbeben zieht sich durch den gesamten Roman als ständiger (nicht mehr real existierender) Bezugspunkt auf der Suche nach der verlorenen Identität.65 Zum anderen bleibt angesichts von »esta
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Diese Romanfigur spielt unmissverständlich auf den zeitgenössischen Schriftsteller Rául Orozco an, der einige Gedichtbände veröffentlichte. In einem Interview mit Juan Sobalvarro merkte Erick Aguirre dazu an: »Yo crecí escuchando a mis mayores añorar constantemente, casi hasta el llanto, la Managua de ese tiempo. Hoy lo que queda son sus cimientos mezclados entre hierros retorcidos y los esqueletos de algunos edificios. Quedan también las viejas direcciones o los viejos referentes de su desaparecida urbanidad [...] En realidad son direcciones fantasmas que perduran en la memoria de la gente y que son evocadas con una recóndita nostalgia, la del amor colectivo a una ciudad postrada. Y es a ese amor, a ese espíritu colectivo tan persistente, al que pretendo acicatear y a la vez hacer homenaje en esta novela.« (Sobalvarro, 1998: D l ; hier zitiert nach Ugarte, 2000: o.S.) Vgl. zu der gesamten Argumentation den aufschlussreichen Aufsatz von Ugarte. Aguirre lässt den Raum der Stadt vor dem Erdbeben als literarischen Raum entstehen, indem er diesen mit unzähligen Intertexten besetzt: Fragmenten aus literarischen Texten anderer Autoren, darunter Sergio Ramírez, Mario Vargas Llosa, Ernesto Cardenal und Julio Valle-
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mierda de ciudad que se llama Managua« (50) nur das (zumindest zeitweilige) Vergessen durch den Alkohol. »Si habían dos palabras que retrataran su ánimo en aquella época«, kommentiert der Erzähler Joaquín über seinen Kollegen Carlos, »esas eran sin duda Alcohol y Desencanto.« (281) Nicht von ungefähr wird die Bar »La Chalía«, dieser Ort im zerstörten Zentrum des alten Managua, an einer der ehemaligen kommerziellen Hauptstraßen, der Calle Quince de Septiembre, gelegen, zur Metapher der doppelten Fluchtbewegung des nostalgischen Erinnerns und Vergessens. Das Managua Ende des 20. Jahrhunderts jedoch bleibt ein locus terribilis, der weder individuelle noch kollektive Identitätsfindung erlaubt, wie der Poet Raúl in dem bereits zitierten Gespräch voll Bitterkeit zusammenfasst. (s.o.) Nach einer Revolution und einem Krieg vor, während und nach dieser Revolution, so heißt es in einem intertextuell in Aguirres Roman montierten Text des Schriftstellers Julio Valle-Castillo, sei Managua irreal und trotzdem existent: »Managua no existe y es real. Una capital inhabitable y sin embargo, destino final de casi dos millones de almas desempleadas o burocráticas, la mitad de los habitantes de un país inundado cuando no en sequía. Precarismo nacional. Fea antes, horrible después y peor ahora. Temblando siempre. La ciudad más fea de América.« (257) Aber zugleich, so lässt Franz Galich in seinem Roman Managua, Salsa
Castillo, sowie der Wiedergabe von mündlichen Erzählungen, Gedichten, Chroniken, Interviews, Zeitungsartikeln, Agenturmeldungen, Briefen und einem bischöflichen Hirtenbrief. Der textuelle Raum wird zum generativen Raum, offen für die Zusammenfügung der Textfragmente zu einem Bild des Managua vor, während und kurz nach dem Erdbeben durch die Leser. Diese narrative Repräsentation und Präsentation des Erdbebens von 1972 ist bisher einzigartig in der nicaraguanischen Romanliteratur. Bereits 1973 hatte Ernesto Cardenal mit dem berühmten Poem Oráculo sobre Managua ein »testimonio tràgico, profético, del último terremoto« vorgelegt, »desnudando el rostro perverso y corrupto de su país, para plantear la construcción de una nueva ciudad y un nuevo futuro« (Arellano, 1997d: 227). Schon drei bzw. vier Jahre nach dem Ereignis erschienen auch zwei Romane, in denen die Naturkatastrophe das Hauptthema ist. Rosario Aguilar stellt in ihrem Kurzroman Las doce y veintinueve (1975) die Auswirkungen der Erschütterung auf das Leben der Individuen dar. Pedro Joaquín Chamorro Cardenal entwirft in dem Roman Richter 7 (1976), aus dem Aguirre intertextuell Fragmente in seinen Roman montiert (vgl. 157-159), ausgehend von der Katastrophe ein Bild der schönen und schrecklichen, realen und irrealen Hauptstadt wie der politischen und sozialen Situation des Landes und der Psyche seiner Bewohner, (vgl. Arellano, 1997d: 136) Erstaunlich ist allerdings, dass die literarische Repräsentation des Erdbebens, das so einschneidende auch politische Folgen für die jüngere Geschichte nicht nur Managuas, sondern Nicaraguas insgesamt hatte, erst wieder in den neunziger Jahren im Roman eine Rolle spielt. Noch vor Erick Aguirre greift Carlos Alemán Ocampo in einem - allerdings allzeit präsenten - Nebenstrang der Erzählung seines Romans Vida y amores de Alonso Palomino (1994) das Thema auf. Seine Darstellung ragt durch den Verzicht auf einen pathetischen und dramatisierenden Stil hervor, wie er für die genannten Werke charakteristisch war und sich alljährlich als Ritual in den Erinnerungsdiskursen wiederholt, und provoziert durch eine bezogen auf dieses Ereignis zuvor ungekannte Lakonik der literarischen Sprache, (vgl. dazu Mackenbach, 2000b: bes. 114f.)
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Fünfter
Kreis:
R a u m u n d Text
City (¡Devórame otra vez!) (2000) deutlich werden, ist es eine Stadt nach dem Zusammenbruch der großen Utopien, über die nicht nur pünktlich um sechs Uhr abends die Finsternis hereinbricht, sondern über der auch noch die Schatten des vergangenen Bruderkrieges liegen. »A las seis en punto de la tarde, Dios le quita el fuego a Managua y le deja la mano libre al Diablo« (1), lautet der erste Satz des Romans. Es sind die dunklen Seiten dieser Stadt, seit den Verwüstungen der beiden großen Erdbeben im 20. Jahrhundert auch am Tag von Gott verlassen und - einmalig in Lateinamerika - eine Hauptstadt ohne Zentrum, die in dem Roman zum Vorschein kommen: »Managua se oscurece y las tinieblas ganan la capital [...] Managua empieza a gozar y sufrir. Dios y el Diablo sobre Managua. Y si no creen, miren Managua de día: quedó así desde el terremoto cuando Dios y el Diablo se echaron una tercia y como Dios perdió, se retiró a sus alturas y el Diablo se quedó gobernando en Managua, porque ya hacía años, en el otro terremoto, el Diablo también había ganado [...] « (1) Der Streifzug, den die Prostituierte Tamara und ihr Freier Pancho Rana durch die Vergnügungsviertel und -lokale unternehmen,66 lassen eine nahezu lückenlose Karte, eine literarische Geografie dieses nächtlichen Managua entstehen, die sich fast wie die Rubrik night life in den einschlägigen Touristenführern liest. Erzählt wird diese Geschichte einer Nacht wie ein Filmdrehbuch, in kurzen Kapiteln und mit harten Schnitten, wie eine der Romanfiguren selbst ausruft: »¡Están locos, se están matando! ¡Parece cosa de película!« (80) Dabei bedient sich Franz Galich zahlreicher moderner (oder auch »postmoderner«) Erzähltechniken. Dazu gehören ständige Wechsel in der Erzählperspektive (zum Teil ohne Übergang): Erzählt wird in der ersten Person sowohl aus der Sicht Pancho Ranas wie auch Tamaras, die sich in ihren Dialogen beständig gegenseitig in Gedanken kommentieren, aber auch in der dritten Person aus der Sicht eines allwissenden Erzählers und der anderen Figuren. So kennzeichnet den Roman eine dialogische, vielstimmige Struktur, ganz im Bachtinschen Sinne. Hinzu kommt die intertextuelle Durchdringung mit Sequenzen aus populären boleros und salsas, insbesondere Textfragmente aus dem Lied ¡Devórame otra vez! des puertoricanischen Sängers Lalo Rodríguez (daher der Untertitel des Romans), die sich mitunter leitmotivartig, bisweilen ironisierend und kommentierend durch das ganze Buch ziehen. Die eigentlich tragenden Elemente dieses Romans, seine wahren Protagonisten sind jedoch seine Sprache und die nicaraguanische Hauptstadt Managua. Den Personen dieses Romans zuzuhören, sei, so Gioconda Belli in einer Besprechung des Buches, »recorrer el paisaje lumpen de Managua con su semántica y símbolos propios« (Belli, 2000: o.S.). In für die zeitgenössische nicaraguanische Literatur einzigartiger Weise (wenn wir die »cuentos del mer-
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Zur erzählten Handlung des Romans vgl. das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«.
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cado« desselben Autors einmal außer Acht lassen, die bisher nur verstreut in Zeitschriften veröffentlicht wurden) gelingt es Franz Galich, diese Sprache der unteren und untersten Schichten im sozialen Gefuge der nicaraguanischen Metropole für die Literatur fruchtbar zu machen, ihr literarischen Rang zu verleihen. Polemisch zugespitzt könnte man sagen, dass sich hier mehr als in jedem testimonio mit seinem Anspruch, die Unterdrückten, Marginalisierten und Vergessenen sprechen zu lassen, die subalternen Stimmen zu Wort melden, zum tragenden Element der Handlung werden. Denn diese Sprache ist Träger von verschütteten, dennoch weit verbreiteten Vorstellungen über die Welt, »la novela no cesa de bombardearnos con los fuegos artificiales de su consistencia lingüistica que compone o propone otra manera de ver el mundo« (ibid.), es ist ein Roman, »donde la noche y el lenguaje borran el paisaje conocido de la ciudad, para hacer surgir esos hombres y mujeres forzados por las circunstancias y la pobreza a devorarse entre si« (ibid.). Es ist eine Sprache der sexistischen Stereotypen, unpersönlich, voller Gewalt und Utilitarismus in den zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch voller lexikalischer Nuancen und Besonderheiten, ironischer Konstruktionen, bis hin zum Weiterleben indigener Elemente in der heutigen Umgangssprache. 67 Die topografische Bewegung im narrativen Diskurs dieses Romans ähnelt durchaus der bei Erick Aguirre: Sie vollzieht sich als ständiges Hin- und Herspringen von einem Ort zum anderen innerhalb des (bei Galich allerdings nur nächtlichen) Urbanen Raums Managuas. Auch die textuellen Räume entsprechen sich: Konstituiert er sich bei Aguirre wesentlich aus einem intertextuellen Verfahren, so bei Galich aus der dialogischen, polyphonen Struktur des Textes sowie der tragenden Rolle der Jugendsprache, die zur permanenten Bedeutungsgenerierung herausfordern. Auf der Zeitachse beschreiben die Protagonisten eine halbkreisförmige Bewegung: Der Roman beginnt um sechs Uhr abends und endet um sechs Uhr früh mit der Rückkehr Tamaras und ihres neuen Gefährten in die Stadt. Nicht zufällig sind die beiden strategischen textinternen Orte, Romananfang und Romanschluss, semantisch aufgeladen: als Beginn der Herrschaft des Teufels und Gottes. Doch der Kreis schließt sich nicht, der fehlende Halbkreis bleibt außerhalb der Erzählung, scheint nur kurz als Verlängerung der Macht des Teufels noch bis in den Tag hinein auf. Die Verstehensbewegung der handelnden Personen vollzieht sich als Spirale, eine sich ständig steigernde Dynamik, die schließlich im Tod fast aller endet und nur Tamara und den mit dem Mäusegesicht zurücklässt, denen nichts anderes
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Inzwischen liegt eine Studie zu einem wichtigen Segment dieser Sprache, dem Jargon der städtischen Jugendbanden, vor: El lenguaje del pandillero en Nicaragua von Roger Matus Lazo (1997), die im zweiten Teil ein ausführliches Wörterverzeichnis enthält (nebenbei gesagt, ein wichtiges Hilfsmittel zum Verständnis von Galichs Roman für nicht-nicaraguanische Leser).
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übrig bleibt, als sich nach einer kurzen Verschnaufpause im Managua des Tages erneut in den nächtlichen Strudel zu stürzen und sich verschlingen zu lassen: »¡Devórame otra vez!« Die Spirale dreht sich weiter, Gewalt, Misstrauen, Kommunikationslosigkeit setzen sich scheinbar unendlich fort. Die Stadt hat jede Semantisierung als Zukunftsraum verloren, sie verharrt im Hier und Jetzt, abgelöst von allen Großentwürfen kollektiver und individueller Identität, ein locus terribilis, der mehr schlecht als recht nur noch zum Überlebensraum dient und in dem bestenfalls der zähe Lebenswillen der geschundenen und übervorteilten Prostituierten eine prekäre Zukunft verheißt.68
Pazifik und Karibik 1: Mestizischer versus indigener Raum Seitdem im Zuge der Conquista die ersten europäischen Reisenden in die »Neue Welt« kamen, betrat und durchreiste man den zentralamerikanischen Isthmus vom Osten her, das heißt von der Weltregion aus, die heute als Karibik bezeichnet wird.69 Im Falle Nicaraguas allerdings konnte sich die spanische Herrschaft ausschließlich in der Region auf der Seite des anderen großen Weltmeeres, des Pazifischen Ozeans, als dauerhafte etablieren. Diese beiden großen Regionen des Landes entwickelten und bewahrten ihre eigenen Traditionen, Identitäten und Idiosynkrasien.70 Seit der Eroberung und noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts dienten die nicaraguanische Karibikküste und -región zahllosen Legionen von Invasoren, Reisenden, Abenteurern, Piraten, Händlern und Wissenschaftlern als Einfallstor und Durchgangskorridor. Literarisches Ergebnis dieser topografischen, machtpolitischen, hermeneutischen u.a. Reisen ist eine Unzahl von reiseliterarischen Texten wie Tagebüchern, Briefen, Berichten, (pseudowissenschaftlichen Darstellungen, in denen oft die Reise selbst zum zentralen Motiv
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Vgl. dazu die Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« sowie »Diagonale: Literatur und Revolution«. Wie bekannt, erreichte Kolumbus auf seiner vierten Reise am 16. September 1502 die Stelle an der karibischen Küste, an der heute die Stadt Bluefields liegt. Erst zwanzig Jahre später, 1522, drang der Capitán Gil González de Ávila im Auftrag des spanischen Statthalters in Panama in das Gebiet der großen Seen des heutigen Nicaragua vor, wo es zu der legendären Begegnung mit dem Kaziken Nicarao kam. Erst danach (und nach der Niederschlagung indianischen Widerstands unter Führung des Kaziken Diriangén) kam es zur Kolonisierung durch Francisco Hernández de Córdoba und Pedro Arias de Avila, (vgl. Dietrich, 1988: 22-24) Das gilt auch für die dritte große Region: das nördliche Bergland, das zwar einem direkteren Einfluss der Spanier unterlag, wo deren Macht jedoch auf die Städte beschränkt blieb und sich eigene indigene Traditionen und Gemeinschaften erhielten. Vgl. dazu die hervorragende Studie von Gould (1997), El mito de 'la Nicaragua mestiza 'y la resistencia indígena, 1880-1980. Zur Karibikküste vgl. insbesondere Meschkat/von Oertzen/ Richter/Rossbach/Wünderich, 1987.
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bzw. eine Bewegungsfigur zum Ausdruck der Verstehensprozesse bzw. eines Prozesses anhaltenden Nichtverstehens wird. Einige ihrer Züge wirken bis in die nicaraguanische Romanliteratur Ende des 20. Jahrhunderts nach." Gioconda Belli schickt die Protagonisten ihres Romans Waslala. Memorial del futuro (1996a), Melisandra und Raphael, auf ein Teilstück der traditionellen Reiseroute von der Karibikküste bis zur Pazifikregion und zu »Abstechern« ins Landesinnere. Die topografische Bewegung, die der Roman schildert, beginnt an den Ufern des Rio San Juan bei San Carlos und fuhrt über den großen Nicaraguasee und die städtischen Räume in der Pazifikregion (Granada, Masaya, León) bis zu dem Ort Waslala im zur Region Atlántico Norte gehörenden Bergland.72 Bei der Semantisierung dieser Räume rekurriert Belli auf einige der seit den ersten Reisen der europäischen Eroberer bekannte Denkfiguren wie die Bewunderung und Idealisierung der unermesslichen Reichtümer und sagenhaften Schönheit der Natur (immer wieder begleitet von einem gewissen Gefühl der Bedrohung durch die Naturgewalten - locus amoenus mit einem »Schuss« locus terribilis) und die Suche nach dem Ort des Paradieses im Dschungel. Nicht von ungefähr lauten die Titel der vier Kapitel des Romans: »Viajeros en el rio«, »Rio arriba«, »Tierra adentro« und »Waslala«. Beide Räume werden metaphorisch semantisiert: Der Fluss symbolisiert nicht nur die Bewegung durch den geografischen Raum, sondern auch durch die verschiedenen Epochen der nicaraguanischen Geschichte und ihr Zusammenfließen in einer mythischen Raum-Zeit: »El rio era su memoria.« (11) Dabei bedient sich Belli der aus der mesoamerikanischen Mythologie bekannten Figur der gefiederten Schlange (Kukulká in der Maya-Kultur) als Metapher: »El rio era reconfortante, un gran manso animal doméstico, pero también era su criatura mítica: la serpiente con alas verdes sobre cuyo lomo cabalgaría muy pronto, cuando al fin saliera a descifrar los acertijos, rodeán-
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Eine Untersuchung dieser »Literatur in Bewegung«, wie sie Ette (2001) in seiner gleichnamigen Studie für einige der Reiseberichte über Lateinamerika allgemein unternimmt, ist für Zentralamerika bzw. Nicaragua bisher meines Wissens nicht erfolgt. Sie ist besonders im Hinblick auf ihre Einflüsse auf die zeitgenössische nicaraguanische Literatur und die Konstruktion eines europäischen/deutschen Bildes von Zentralamerika/Nicaragua ein Desiderat. Dass es eine solche »deutsche Tradition« der Reiseliteratur zu Zentralamerika/Nicaragua gibt, habe ich exemplarisch in meinem Aufsatz über zwei Reiseberichte des 19. Jahrhunderts dargestellt: Wilhelm Heine, Wanderbilder aus Centrai-Amerika. Skizzen eines deutschen Malers (1857, Leipzig: Hermann Costenoble) und Wilhelm Marr, Reisenach Centrai-Amerika, 2 Bde. (1863, Hamburg: Otto Meißner), (vgl. Mackenbach, 1998c; vgl. auch von Houwald, 1993) Eine besondere Untersuchung verdienten die zahlreichen (reise)literarischen Veröffentlichungen, die im Zuge der Begeisterung für das revolutionäre Projekt des Sandinismus in den achtziger Jahren entstanden (darunter Texte von Julio Cortázar, Salman Rushdie, Günter Grass, Franz Xaver Kroetz) und lange Zeit das europäische Bild dieser Revolution mitbestimmten. Vgl. zu dem Roman auch ausführlich die Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«, »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« sowie »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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dola desde la infancia. ¡ Ah! Si tan sólo se dejara montar, ella le pondría bridas, y juntos se abrirían paso hacia las tierras del interior.« (1 lf.) Der Urwald im Landesinneren, »Tierra adentro«, wird metaphorisiert als terra incógnita, irdischer Ort des sagenhaften Eldorado, letztes Ziel aller Reisenden.73 Auch die textinterne hermeneutische Bewegung nimmt bereits existierende Bewegungsfiguren auf. Sie verläuft als Linie (wenn auch mit einigen Rückschlägen und Zickzacks) nach vorne, vom Ausgangspunkt am Fluss bis zum endlich gefundenen Ort Waslala, und gleichzeitig rückwärts in der Geschichte, das heißt in eine mythische Vergangenheit. Dieser textinterne Ort der Ankunft wird semantisch aufgeladen als Wiedergewinnung des Eldorados der gesellschaftlichen Utopie. Aber wie bei den Reisenden durch die Jahrhunderte der paradiesische Ort des Goldes sich immer wieder verflüchtigt, nie wirklich gefunden wird, dennoch als Obsession weiter existiert, so sind von der ehemaligen idyllisch-paradiesisch-utopischen Gemeinschaft Waslala nur die äußeren Formen geblieben, die von ihren Bewohnern verlassenen Häuser. Die Utopie ist nicht mehr physisch präsent, nur noch ideell als Verheißung für die Zukunft. Der indigene Mythos wird funktionalisiert für eine zukünftige Realisierung der gesellschaftlichen Utopie, die sich nicht auf den Ort Waslala beschränkt, sondern das ganze Land erfasst. Nicht in die Wahrnehmung der Traditionen und Bedürfnisse der indigenen Bevölkerung dieser Zone mündet die hermeneutische Bewegung der Protagonisten, sondern in ihrer Überblendung durch einen erneuerten revolutionären Mythos, der wieder auf die dominierenden Parameter des revolutionär-nationalistischen intellektuellen und politischen Diskurses der achtziger Jahre in der Pazifikregion zurückverweist.74 Bereits Mitte jenes Jahrzehnts der Achtziger, das heißt zehn Jahre vor Erscheinen des Romans von Gioconda Belli, hatte Rosario Aguilar in Siete relatos sobre el amor y la guerra (1986) ein ähnliches Thema gestaltet. Im ersten dieses aus zwei Kurzromanen bestehenden Buches (»Sobre el amor«)75 wird ebenfalls die Reise einer Frau von der Pazifikregion in die Karibik erzählt. Leticia unternimmt diese Reise in der Absicht, sich für immer dort niederzulassen und in der Ehe mit dem Miskito Cristy, den sie kennen gelernt hatte, als sie während der Alphabetisierungskampagne als Instruktorin an die Karibikküste kam, eine neue Heimat zu finden. Doch die in der Pazifikregion geborene und in den dortigen Traditionen und Gewohnheiten erzogene Frau
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Vgl. 17f. und Coronel Urtecho, 1985: 11. Zur Metaphorisierung des Raums unter Rückgriff auf die Mythologie sowie zu den vielfältigen intertextuellen Bezügen zu José Coronel Urtechos 1953 erschienenem Essayband Rápido Tránsito (Al ritmo de Norteamérica) (1985), dessen erster Aufsatz den Titel »Viajeros en el río« trägt, vgl. den ausgezeichneten Aufsatz von Barrientos, 2000: bes. 252-257. Zum Anachronismus dieser Konstruktion vgl. ausführlich das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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hört nicht nur nicht auf, die allgegenwärtige Macht der Natur in der Karibik als ständige Bedrohung wahrzunehmen (ein bekannter Topos seit den frühen Reiseberichten). Die Liebe zu ihrem Mann und zu ihrem Kind ist nicht stark genug, um die jahrhundertealte Zerrissenheit in zwei Kulturen zu überbrücken: »Hemos nacido en dos mundos lejanos. Nuestros orígenes, nuestra educación, los países que han rodeado nuestra niñez, todo es diferente, pero sobre todo nuestros anhelos, las ilusiones. / Por siempre seremos extraños el uno al otro. Ni que vivamos un siglo de noches juntos, amándonos, llegaremos a comprendernos.« (107f.) Die als Linie beabsichtigte hermeneutische Bewegung wird zum Kreis: Die kulturelle Verwurzelung Leticias in der Pazifikregion ist immer präsent, ihre Rückkehr (unter Zurücklassung von Ehemann und Kind) findet aus der Überzeugung heraus statt, nur dort ihre wahre Identität (wieder) finden zu können. Die beiden Welten bleiben unvereinbar, im Gegensatz zu Gioconda Bellis Roman findet aber auch kein Versuch der Vereinnahmung der einen durch die andere bzw. der harmonisierenden Vereinigung in einem politisch-ideologischen Mythos statt. Die fortdauernde Spaltung in zwei Kulturen kennzeichnet auch die in den neunziger Jahren publizierten Romane von Erick Blandón und Bayardo Tijerino Molina, deren erzählte Zeit sich auf die Ereignisse seit dem Sieg der Revolution 1979 bezieht. Das Buch von Bayardo Tijerino Molina, El Reino Moskito (La novela de la Costa Atlántica) (1991), ist einer der ersten und wenigen Texte der zeitgenössischen nicaraguanischen Romanliteratur, in deren Diegese die Karibikregion nicht nur der geografische Schauplatz, sondern auch zentrales Thema ist. Zeit der Handlung sind die achtziger Jahre, die Orte der Erzählung sind Managua, Nandaime, Juigalpa, der Río Coco, Puerto Cabezas, Bluefields, Rama, Bonanza und andere Orte der Karibikregion sowie Miami. Im Mittelpunkt steht der Versuch der Lösung der »cuestión costeña« (56) in der Periode der sandinistischen Regierung und des revolutionären Projekts.76 Ausgangspunkt ist die Entstehung einer konterrevolutionären Kraft an den Grenzen und »el surgimiento otra vez del problema moskito que se creyó resuelto desde la reincorporación de la costa del Caribe durante el régimen liberal de don José Santos Zelaya« (18). Geschildert werden die zahlreichen von der Regierung unternommenen Schritte, die zu einer Überwindung der Schwierigkeiten bei Aufrechterhaltung der nationalen Einheit beitragen sollen, von Zwangsmaßnahmen wie der Umsiedlung ganzer Indianergemeinschaften aus ihren angestammten Wohngebieten am Río Coco ins Landesinnere (innerhalb von 72 Stunden), in ein »Tasba Pri« (Freies Land) genanntes Territorium, bis zum Entwurf eines Autonomiegesetzes, das den ethnischen Minderheiten
75
76
Vgl. das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«, besonders die Fußnote 59, zu dem Buch allgemein vgl. auch das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«. Vgl. dazu auch das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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der Karibikregion ihre Rechte, Kultur, Gewohnheiten und Sprachen sichern und sie von einem Zusammenleben in einem nicaraguanischen Nationalstaat überzeugen soll (unternommen in der Endphase der sandinistischen Regierung, im achten Jahr nach der Revolution). Dargestellt werden auch die vielfaltigen Formen des Widerstands und alternative Lösungsvorschläge von Seiten der indigenen Gemeinschaften gegen die Maßnahmen, die »los de Managua« (29) ihnen aufzwingen wollen. Schon nach einem knappen Drittel des Buches spricht ein Angehöriger des Geheimdienstes, der zur Informationssammlung in die Karibikregion geschickt wurde, bei seinem Rapport vor hohen Regierungsfunktionären angesichts dieser Widersprüche resümierend von »este insoluble problema de la autonomía del país mosco« (61). Wie zur Illustration dieser Aussage zieht sich durch den ganzen Roman ein Wirrwarr von Hypothesen, Theorien und Projekten über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Karibikregion. So wird zum Beispiel über die Herkunft der Miskitos spekuliert, dieser »mezcla racial, integrada por caribes, negros y aventureros de las Antillas, sobre todo corsarios ingleses, que primero tuvieron asiento en la isla de Providencia y luego en Jamaica y Belice. El producto explosivo de esta mescolanza, fue el mosco o moskito.« (59, vgl. 60) Thematisiert werden auch die babylonische Sprachenverwirrung und die Unterschiede in der Physiognomie: »Aquello parece una torre de Babel. [...] Son como veinte dialectos [...] Los rostros van desde el simiesco de los xicaques de la montaña, hasta el achatado de los lencas y caribes del litoral, pasando por el desencajado de los sumos y el sonriente de los zambos, sin contar la expresión estólida de los moskitos y la poca amistosa de [...] los mestizos de Punta Gorda y el Rama.« (198) Diesem Durcheinander entspricht ein unentwirrbares Knäuel von politisch-religiös-ideologischen Projekten der unterschiedlichen ethnischen, sozialen und politischen Akteure, die von den Integrationsversuchen der sandinistischen Regierung über Unabhängigkeitsprojekte wie dem »estado libre asociado«, und der »república autónoma« bis zum »nuevo reino de los Moscos« (65) reichen. Die Autonomie ist Streitobjekt von Sandinisten, Befreiungstheologen, evangelischen Pastoren, Contras, Exil-Nicaraguanern, US-Politikern, indianischen Magiern und anderen, deren Interessen sich über die ethnischen und kulturellen Differenzen legen und sie überdeterminieren. Jede ethnische Gruppe, jede religiöse Gemeinschaft, jede politische Instanz verfolgt ihr eigenes Autonomieprojekt. In einem dem Text nachgestellten Epigraph wird ein (fiktives) unbekanntes Ereignis als »realer« Ausgangs- und Bezugspunkt des Romans konstruiert: »La presente novela se refiere a un suceso desconocido, cuando ciertos 'ideólogos' de la 'utopía moskita' pretendieron al amparo del decreto de autonomía de las etnias indígenas, restablecer en la Costa la monarquía del fabuloso 'Oíd Man'.« Eine wie auch immer geartete Vereinigung dieser unterschiedlichen Traditionen und Interessen ist nicht möglich. Vielmehr bleibt die literarische Geografie des Romans gespalten in zwei voneinander getrennte Welten. Da ist auf
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der einen Seite die Welt der mestizischen Hauptstadt, bevölkert von in Marxismus-Leninismus geschulten Funktionären, Kubanern, Befreiungstheologen, machistas, »sociólogos de la Vanguardia« (80) - »el poliburó de Managua« (72). Auf der anderen Seite stehen die Bewohner der Karibikregion, »diferentes de los demás del país; más próximos al ideal religioso de la comunidad primitiva, unos primitivos en cierta manera, que no quieren saber nada de las costumbres del interior ni de los españoles, como llaman a los del Pacífico« (68). Die gegenseitige Wahrnehmung dieser Bevölkerungsgruppen perpetuiert die Spaltung und macht sie unüberwindlich: Während die Bewohner der Karibikregion die aus der Pazifikregion mit den spanischen Eroberern gleichsetzen und glauben, dass Nicaragua »una nación aparte« (110) ist, von der sie nichts wissen wollen, sehen die Mestizen der Pazifikregion in den Indios der Karibik nur Unwissende, Faulenzer, rassisch Minderwertige, von den US-Imperialisten ausgenutzte, bestenfalls von evangelischen Pastoren verführte undankbare Barbaren, die nicht verstehen, was die Bewohner der Pazifikküste an Gutem und Fortschrittlichem für sie tun, und an übernatürliche Dinge glauben. Ähnlich wie in Erick Blandóns Roman Vuelo de cuervos (s.u.) werden also alle Anstrengungen (seien sie gut gemeint oder in böser Absicht unternommen) ad absurdum geführt, die beiden Welten in einer Nation, einem Staat und einem kulturellen Rahmen zu vereinigen, der die unterschiedlichen kulturellen Traditionen und Lebensweisen integrieren könnte. Während Blandón diese Versuche hauptsächlich mit den Mitteln der Karnevalisierung dekonstruiert, bedient sich Tijerino Molina der Ironie. Beiden haftet allerdings eine vom mestizischen Nicaragua der Pazifikküste bestimmte Sichtweise an. Erzählt wird bei Tijerino Molina aus der Perspektive des Ich-Erzählers Félix Flores, eines Angehörigen der regierenden Bürokratie in Managua, Assistent des »coordinador« (3) Remigio Gómez (eine Karikatur Tomás Borges?) und von der Regierung mit der Regelung der Autonomie der Karibikküste beauftragt »una delicada misión« (3), wie er selbst bereits in den ersten drei Zeilen des Buches kommentiert. Durchweg bestimmt diese Perspektive des intradiegetisch-homodiegetischen Ich-Erzählers (der nur an einigen Stellen von einem extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler in dritter Person abgelöst wird, ohne dass sich die Sichtweise ändert) den Blick auf das »andere« Nicaragua der Karibikregion und zementiert die Spaltung. Nicht die Stimme des »Anderen«, das heißt der anderen (im Plural) indigenen Bewohner der Karibikregion, wird hörbar, nur die derjenigen, die vorgeben, in ihrem Namen zu sprechen, in erster Linie Angehörige verschiedener protestantischer Kirchen und Sekten. Die Perspektive des Romans bleibt trotz allen Stimmengewirrs und der beschriebenen Sprachenvermischung im Grunde einstimmig. Die Karibik bleibt etwas Äußerliches, Unverstandenes, nicht in die nicaraguanische Nation zu Integrierendes. Die zahlreichen topografischen Reisen, bei denen die Bewohner der beiden Regionen sich und die kulturellen Grenzen unablässig
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kreuzen, formen sich nicht zu einer Bewegung des gegenseitigen Verstehens, führen nicht zu den dafür notwendigen Perspektivwechseln. Die hermeneutische Bewegung des Protagonisten besteht zwar aus einem ständigen Hin- und Herspringen, das Erkenntnis- und Machtzentrum bleibt jedoch das pazifische Managua. Erick Blandón greift in seinem ersten Roman, Vuelo de cuervos (1997),77 das Reisemotiv auf und macht es gleich in mehrfacher Weise zum strategischen Moment der Bewegung im literarischen Raum. Die Handlung entwickelt sich entlang dreier »Reisen«: Eine von der sandinistischen Regierung in Managua eingesetzte Brigade wird mit der Aufgabe in die Karibikregion geschickt, dort ganze Miskito-Gemeinschaften umzusiedeln, um der Contra das Wasser abzugraben. Die Miskitos werden gezwungen, aus ihrem traditionellen Siedlungsgebiet in ein fremdes Territorium zu »reisen«, das in einer Art von tropischer newspeak »Tasba Pri« (Freies Land) genannt wird. Der Intellektuelle Laborío, Mitglied der Brigade, dem die Aufgabe übertragen wurde, eine Chronik der Aktion zu schreiben, kehrt mit dem Bericht in der Tasche aus der Karibikregion in die Hauptstadt Managua zurück. Diese drei topografischen Reisen werden semantisiert als drei zentrifugale bzw. zentripetale Erfahrens- und Verstehensbewegungen durch die disperse soziale und kulturelle Geografie Nicaraguas: Die Reise der Brigade vom Zentrum Managua an die karibische Peripherie geschieht in der Überzeugung, die Lebensbedingungen dieses Randes durch die Zwangsumsiedlung und Integration in die revolutionäre Nation zu verbessern. Für die indianischen Gemeinschaften ist diese Aktion ein schmerzhafter Trennungsprozess von ihrem identitätsstifitenden Zentrum, der nur ihre Wahrnehmung der Bewohner der Pazifikregion als Invasoren und direkte Nachfahren der spanischen Eroberer bestätigt. Für Laborío, der sich selbst Hermes nennt, resultiert die zentrifugale Bewegung von Managua in den Dschungel in einer zunehmenden kritischen Distanzierung von der Art und Weise, wie die Revolution mit dem »anderen« Nicaragua umspringt. Seine zentripetale Bewegung zurück in die Hauptstadt, an dessen Ende er die führenden Funktionäre zu einem Kurswechsel zu bewegen hofft, findet aber nur äußerlich einen Endpunkt. Niemand interessiert sich für seinen Bericht, das Zentrum verharrt in seiner Ignoranz, die Peripherie bleibt marginalisiert, selbst der »Götterbote« kann daran nichts ändern, in diesem Sinne bleibt Laboríos letzte Reise ohne Ankunft. Die drei Reisen verdichten sich zu einer Allegorie des Unverständnisses der Revolutionäre gegenüber den indigenen Kulturen und der Weiterexistenz der kulturellen Spaltung des Landes nach und trotz der Revolution und damit zu einer allgemeinen Kritik am revolutionären
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Blandón war zuvor als Lyriker und Verfasser von Erzählungen hervorgetreten. Er veröffentlichte die Gedichtbände Aladrarivo (1975), Juegos prohibidos (1982), Las maltratadas palabras (1990) und den Erzählband Misterios gozosos (1994)
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Projekt, die sich vor allem der Mittel der Tragikomödie und der Karnevalisierung bedient.78 In einem Essay über den Roman urteilte die nicaraguanische Journalistin Sofía Montenegro: »La heroica saga revolucionaria en la medida en que se pierde en el verde laberinto de la metafórica selva, deviene una tragi-comedia. Sin la brújula de una ética humanista, la búsqueda de la felicidad y el bien común que fue la razón fundamental en que tantos nos embarcamos en la revolución, se convierte en desorientación del espíritu, en incertidumbre vital, en ley del más fuerte, en actitud predatoria.« (Montenegro, 1997: C-2) Eigene Interessen, kulturelle Traditionen und Identitäten der indigenen Bewohner der Karibikregion scheinen auf, aber sie werden weiterhin aus mestizischer Perspektive, aus der Sicht eines in der Pazifikregion sozialisierten und politisierten Intellektuellen, wahrgenommen und erzählt. Immer zwischen der ersten und dritten Person alternierend wird die Geschichte von drei Erzählperspektiven aus entwickelt: vom intradiegetisch-homodiegetischen Standpunkt der Mitglieder der sandinistischen Brigade, aus der intradiegetischhomodiegetischen Perspektive Laboríos, schließlich aus der Sicht eines allwissenden anonymen extradiegetisch-homodiegetischen Erzählers. Die Stimmen der indígenas haben keine eigene Erzählinstanz, sie werden durch den Filter der anderen wiedergegeben. Paradigmatisch reproduziert sich diese Stimmlosigkeit auch paratextuell, in den Motti der einzelnen Abschnitte des Romans. Während die Zitate von Rubén Dario, aus der Bibel, von Francisco Pérez Estrada und Joaquín Pasos individualisiert bzw. genau identifiziert werden, bleiben die beiden einzigen indigenen Stimmen anonym: » ... ya verá usted cuando la reina de / Inglaterra se dé cuenta de lo que nos / están haciendo. / Indígena miskito anónimo« heißt es zu Beginn des Romans (1) und im zweiten Teil: »Ay, dalin dupali /dalinki mainiri. /Canción miskita de autor anónimo« (137). Auch in den drei unterschiedlichen Erzählperspektiven des Romans bleiben die Miskitos, ihre Kultur und ihre Traditionen, weiter marginalisiert. Die Widersprüche zwischen den beiden Kulturen spiegeln sich als Widersprüche innerhalb der Gruppen von mehr oder weniger überzeugten Revolutionären aus der Pazifikregion. Das eigentliche soziale Subjekt - die Indios - ist nicht mehr als ein Objekt des »innerpazifischen« Diskurses. In dieser Hinsicht verbleibt der Roman innerhalb der Grenzen des »literarischen Nationalismus« der achtziger Jahre, der allerdings »von innen heraus« mit kritischen Augen gesehen wird.
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Vgl. zu diesen Aspekten und ausführlich zu dem Roman das Kapitel und Revolution«.
»Diagonale:
Literatur
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Pazifik und Karibik 2: Mestizischer und indigener Raum? Auch in einigen weiteren im Verlauf der neunziger Jahre erschienenen Romanen dringt der karibische bzw. indigene Raum in den literarischen Raum vor. In dem Ende des Jahrzehnts von Roger Mendieta Alfaro publizierten Buch La zarza y el gorrión (1999) wird der andere Teil Nicaraguas, die Karibikregion, weiterhin im Wesentlichen als Aufmarschgebiet der kriegführenden Parteien repräsentiert, bleibt in der »äußeren Handlung« die pazifische Sicht auf die Karibik dominierend.79 Allerdings taucht in der »inneren Handlung« (in den Dialogen und Monologen des Protagonisten, des Kommandanten Cero) der mythische, beseelte Raum der Indios als eigenständige Größe auf, die von der Revolution nie begriffen, sondern mit Füßen getreten wurde: »Se ha tenido problemas con los indios por falta de tacto. Tienen costumbres, creencias y valores muy suyos. El suelo en que nacieron forma parte de su existencia. No los podrás desarraigar. Cuando esto acontece se sienten desnudos, como si les quitaran la piel.« (102f., vgl. 197) Auch hier wird die Revolution im Namen der indigenen Kulturen aus der Sicht eines Angehörigen der mestizischen Kultur kritisiert, der - ehemaliger führender Guerillakommandant - inzwischen auf Distanz zum revolutionären Regime gegangen ist. Wie bereits ausführlich dargestellt, inszeniert Milagros Palma in El pacto (1996) den Zusammenstoß zwischen den von magischen Substraten geprägten Raumvorstellungen der Inselbewohner auf der »isla del Caimán« und der Raumwahrnehmung der aus der nicaraguanischen Hauptstadt bzw. europäischen Städten auf die Insel gekommenen Revolutionäre, die dort ein Museum zum Gedenken an die Revolution errichten und die von der Revolution eingeleiteten sozialen Veränderungen umsetzen sollen, als einen der zentralen Widersprüche, an denen das revolutionäre Projekt scheitert.80 Der Raum wird unter Rückgriff auf magische Denkfiguren semantisiert als eine Welt, die sich dem utilitaristisch-erzieherischen Zugriff der Funktionäre und Internationalisten entzieht. Die Reise der Revolutionäre auf die Insel endet mit ihrem Rückzug, ohne dass sich eine Vermischung der beiden Kulturen auch nur ansatzweise vollziehen würde. Weder verändern sich die Denkstrukturen der Inselbewohner, noch setzt bei den Städtern ein Verstehensprozess der anderen Kultur ein. Der Abzug von der Insel ist ein offenes Eingeständnis ihrer Niederlage. Zwar behauptet sich bei Milagros Palma im Gegensatz zu den vorher angesprochenen Romanen der indigene Raum als eigenständiger Ort, der den Versuchen der Einverleibung, sei es in Form der Unterwerfung oder der Harmonisierung, trotzt. Dennoch bleibt er ein sich gegen die Übergriffe des Zentrums
79 80
Vgl. ausführlich zu dem Roman das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«. Vgl. das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität« und insgesamt zu dem Roman auch das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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defensiv abgrenzender Ort am Rande. Erst mit dem dritten Roman von Lizandro Chávez Alfaro, Columpio al aire (1999), etabliert sich der indigene Raum der Karibik definitiv im Zentrum des literarischen Raums. Seit Tijerino Molinas zu Anfang des Jahrzehnts erschienenem Text ist Chávez Aliaros Roman nicht nur der erste in den neunziger Jahren, in dem die nicaraguanische Karibikküste, insbesondere die Stadt Bluefields, das diegetische Hauptthema und den zentralen Ort der Handlung darstellen, sondern in dem der Gegensatz zwischen Pazifik und Karibik noch in einer weiter gehenden Art und Weise konstitutiv für den literarischen Raum wird. In zwei ineinander verschachtelten Haupterzählsträngen entwirft der Roman ein allegorisches bzw. symbolisches Bild der Geschichte der nicaraguanischen Karibikküste und ihrer Beziehungen zum nicaraguanischen Staat: Auf Befehl des Generals Migloria, des Kommandanten der militärischen Besatzer aus der nicaraguanischen Pazifikregion und lokalen Statthalters der Regierung des liberalen Generals José Santos Zelaya in Managua, soll der Friedhof der Stadt, auf dem verstorbene Könige und Prinzessinnen des ehemaligen »Reino Miskitu« ruhen, verlegt werden, um dem Bau einer Straße Platz zu machen. Über Wochen hinweg laufen die Vorbereitungen der Bevölkerung von Bluefields unter Anleitung von Priestern der Herrnhuter Brüdergemeine, um zum ersten Mal Händeis Messias in der Stadt aufzufuhren - Symbole für die vielfaltigen, eigenständigen (von England und Deutschland beeinflussten) multikulturellen Traditionen der nicaraguanischen Karibikregion sowie für die Zerstörung dieser Traditionen im Zuge ihrer militärischen Annexion durch das Regime in Managua im Namen des Fortschritts und der Moderne.81 Mit einer Fülle von Metaphern und Parabeln thematisiert der Roman diese beiden Aspekte, etwa in der Vergewaltigung einer jungen Schwarzen durch einen Angehörigen der Besatzerarmee, im Beharren des Generals Migloria darauf, dass der Fortschritt auch nicht vor verstorbenen Heiligkeiten Halt mache, und vor allem in der systematisch betriebenen Namensänderung von öffentlichen Straßen, Plätzen und ganzen Städten. Die »Albert Street« wird zur »Avenida Zelaya«, die »Calle del Rey« zur »Calle del Comercio«, der »Rio Bluefields« zum »Rio Escondido«, die Stadt Greytown zu San Juan del Norte. Wie mit diesen Namensänderungen die Erinnerung an die eigene Geschichte, Voraussetzung der eigenen Identität, langsam ausgelöscht wird, so zerstört das ehrgeizige Programm der Errichtung öffentlicher Einrichtungen wie eines zentralen Platzes, eines Krankenhauses, neuer Straßen, eines Leuchtturms und vor allem einer »Escuela Normal« (»pieza clave en el proyecto de asimilación«, 75), in der auf Spanisch unterrichtet wird, die gewachsenen Strukturen: Zehn Schulen der Herrnhuter Brüdergemeine, die
81
Zu dem Roman als nueva novela histórica vgl. das Kapitel» Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«. Zur Rolle der Herrnhuter Brüdergemeine bei der Missionierung der Mosquito-Küste ab Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. den Aufsatz von Rossbach, 1987.
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über einen Zeitraum von einem halben Jahrhundert das Erziehungswesen getragen hatten, werden geschlossen, die Versuche der Einheimischen, ein geheimes privates Schulwesen zu schaffen, um die eigenen Traditionen und Sprachen zu erhalten, scheitern bald. Zum ersten Mal in der Geschichte des nicaraguanischen Romans wird der Versuch des Widerstands gegen diese Zwangsassimilation aus der Sicht der Bewohner der Karibikküste, des alten »Reino Miskitu«, das bereits auf eine 180-jährige Geschichte zurückblicken konnte, als die Republik Nicaragua gegründet wurde, erzählt. Wie bereits im Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion« gesehen, endet diese Verteidigung der eigenen, anderen Identität und Geschichte nicht in einer einfachen Behauptung der Homogenität und (neuen) Zentralität der (bisher) Marginalisierten gegenüber dem (alten) Zentrum. Nicht nur existieren unter den Sternen des ehemaligen Königreichs der Moskitoküste vielfaltige Sprachen und Kulturen: miskitu, rama, sumu, kukra, creóle, ist selbst ihr Name unklar: mosquita, móskita, muskita, mosqueta, miskitu ... und kommen viele ihrer Bewohner selbst aus anderen Teilen des Landes jenseits der willkürlich gezogenen Grenzlinie bei der Stadt El Rama, aus Überresten anderer, antiker indigener Reiche. Auch die »Inkorporation« der Karibikregion in die mestizisch bestimmte nicaraguanische Republik mit ihren spanischen Traditionen führt zur weiteren Vermischung und Verwischung der Identitäten: Die Umbenennung Greytowns in San Juan del Norte ist nicht eine Namensgebung, die einer anderen übergestülpt wird, wie es in den Kolonien gemeinhin der Fall war, sondern »la viva ambigüedad«: »En sus alegatos de reclamación al gobierno de los Estados Unidos, aquella asociación de comerciantes franceses, españoles, sardos, ingleses, alemanes y estadounidenses, no sabían expresar con certeza si los marinos del presidente Pierce habían quemado Greytwon o San Juan del Norte.« (124) Und was für die Karibikregion gilt, ist nicht minder zutreffend für den Rest des Landes: »Granada, llamada así por que su fundador español quiso sobreponer el nombre de su Granada andaluza al poblado autóctono de Xalteva.« (124f.) Angesichts dieser Diversität, Ambiguität und Heterogenität ist jeder Versuch der Überstülpung einer einzigen und eindeutigen Identität bzw. der Harmonisierung der verschiedenen Identitäten zum Scheitern verurteilt. Wo in Erick Blandóns Vuelo de cuervos (1997) die - gut gemeinten Bestrebungen sandinistischer Politkader fehlschlagen, ein multikulturelles Festival unter Beteiligung aller ethnischen, kulturellen und religiösen Minderheiten zu organisieren, um die Einheit zu befördern, so bei Chávez Alfaro der Versuch der katholischen Invasoren, mit der Organisierung der »Fiestas de San Jerónimo« ihre kulturellen und religiösen Traditionen in die Karibikregion zu verpflanzen. Wie bei Blandón mit den Mitteln der Karnevalisierung der zentralistische Machtanspruch dekonstruiert wird, so dienen in Chávez Alfaros Roman zahlreiche Erzähltechniken - von den Brüchen in der Zeit in Form von flashbacks und Prolepsen über Metatexte des Erzählers/Autors, die die Hand-
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lung kommentieren, bis zu parodischen und ironischen Elementen - dazu, diese Dekonstruktion zu unterstützen. In einem scheinbar ohne direkten Zusammenhang zum Rest des Buches stehenden Schlusskapitel entzieht sich der Roman definitiv einer rein historisierenden Interpretation. Die schwarze Viola Hendy, Schwester des letzten Königs des »Reino Miskitu«, die den Messias singen soll, wird in einer Art von sexuellem Ritual vom Chorleiter, Safá Kubrik, ermordet - der Mestize triumphiert so auch physisch. Aber ihre Stimme erscheint wieder im Körper von Ocelin Willis, die ihren Part bei der Aufführung übernommen hat - eine weitere Allegorie des Weiterlebens der alten Traditionen, die sich mit den neuen vermischen und vielfaltig gebrochen werden. Das Fest des Heiligen Hieronymus endet in Aufruhr und Plünderung, der General Migloria rebelliert gegen seinen Herrscher Zelaya, Idol des nicaraguanischen Nationalstaates. Nichts ist sicher, alle Identitäten schwinden. Die Ambitionen einer zentralistischen Staatsmacht werden zunichte gemacht, gleichzeitig treten an ihre Stelle jedoch keine neuen Gewissheiten. Die Identitäten sind fragil und brüchig. Die narrativ repräsentierten Orte der nicaraguanischen Geografie werden vielfach ethnisch semantisiert. Der »ethnische« Raum bietet jedoch keine festen Identitäten mehr, er ist ein Ort des Zusammentreffens, der Koexistenz und der Überlagerung vielfältiger und gegensätzlicher Identitäten, der Gleichzeitigkeit des Ungleichen und Ungleichzeitigen. Der textuelle Raum des Romans wird bestimmt von diesem Spannungsverhältnis zwischen narrativer Diachronie und Synchronie: Die Leser stehen nicht nur vor der Herausforderung, die beiden Geschichten und Welten als solche wahrzunehmen, sie aus ihrer Verschachtelung zu lösen und sie wieder zusammenzusetzen. Gleichzeitig sind sie, wie bereits ebenfalls im Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion« dargestellt, mit zahlreichen Anspielungen auf Parallelen zwischen dem politischen Hegemonismus der Liberalen 1896 und der Sandinisten nach 1979 konfrontiert - »Leerstellen«, deren Füllung mit einer Vorstellung von Nation jenseits ethnischer Ausschlusskriterien ihnen der Roman nahe legt, einer Nation, in der unterschiedliche ethnische Identitäten gleichzeitig und gleichberechtigt nebeneinander existieren. Dies war Ende der neunziger Jahre - zum Zeitpunkt des Erscheinens des Romans - in Nicaragua trotz der schließlich Mitte des Jahrzehnts verfassungsmäßig gesicherten Autonomierechte der Region Autónoma del Atlántico Norte (RAAN) und der Región Autonoma del Atlántico Sur (RAAS) nicht nur immer noch ein Tabu,82 sondern auch einzigartig in der nicaraguanischen Lite-
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Mit der »Ley No. 28« (»Estatuto de la Autonomia de las Regiones de la Costa Atläntica de Nicaragua«) erlangten im Oktober 1987 die Autonomierechte der beiden Regionen Verfassungsrang; sie wurden dann endgültig mit den konstitutionellen Reformen von 1995 bekräftigt. (vgl. Region Autönoma del Atläntica Norte, 1998: bes. 317-319, 341-353; vgl. auch die Aufsätze von Cunningham, 1995: bes. 499, und Green, 1995: bes. 513f.).
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ratur spanischer Sprache, waren die Koordinaten der literarischen Geografie doch bis dahin nahezu ausschließlich von einer Konzentration auf die Pazifikregion bestimmt.83 Wie bereits ausgeführt, hatte Julio Valle-Castillo bereits drei Jahre vorher in seinem Roman Requiem en Castilla del Oro (1996) mit einer ähnlichen Gestaltung des textuellen Raums die ethnische Zerrissenheit der nicaraguanischen Gesellschaft und die komplizierte Suche nach nationaler und historischer Identität gerade für die Pazifikregion thematisiert.84 Auch in diesem Roman konstituiert sich der textuelle Raum aus dem Spannungsverhältnis von narrativer Diachronie und Synchronie. Die Stimmen der von den Konquistadoren in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts misshandelten und enteigneten Ureinwohner werden mit den Klagen der Bewohner von Indianerdörfern über die Foltermaßnahmen und die Übergriffe der somozistischen Guardia Nacional in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts übergangslos ineinander montiert.85 Auch hier ist das Lesepublikum mit einer räumlichen Textualität konfrontiert, die sich als generative präsentiert: Ein Verständnis des Romans setzt die Differenzierung und Separierung dieser ineinander verwobenen Textstellen voraus, um sie in ihrem jeweiligen diachronischen (historischen) Kontext zu verorten, sowie ihre erneute »Zusammenfügung« im syn-
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Wie dargestellt, nimmt die Karibikküste nur in wenigen zeitgenössischen Romanen einen meist marginalen - Platz im literarischen Raum ein. Lizandro Chávez Alfaro selbst hatte in seinem »Gründerroman« Trágame tierra (1969), der die jüngere politische Historie Nicaraguas in der Geschichte von zwei Familien und zwei Generationen erzählt, die Karibikregion (die Städte Rama, Bluefields, Puerto Cabezas, das nordöstliche Grenzgebiet zu Honduras, den Rio Escondido usw.) in die literarische Repräsentation der nicaraguanischen Geografie einbezogen. (vgl. dazu Arellano, 1997d: 133-135) Die nicht spanischsprachigen literarischen (zumeist mündlich überlieferten) Traditionen der unterschiedlichen Indiogemeinschaften der Karibikregion mit ihren verschiedenen Idiomen (Miskito, Sumu, Rama, Garif und creóle usw.) sind bisher in Nicaragua kaum beachtet und allgemein noch weniger erforscht worden, (zu den Sprachen vgl. den Aufsatz von Norwood, 1987) Dies hat zweifellos mit dem herrschenden literarischen/literaturwissenschaftlichen Diskurs zu tun, der die wenigen frühen Zeugnisse vorhispanischer Literatur einer »cultura primitiva« (Arellano, 1997d: 15) zurechnet und den Beginn einer »literatura culta« (ibid.: 17) mit der Niederlassung spanischer Geistlicher ansetzt. Die »'escritura' de los indios«, so Arellano (ibid.: 16), sei keine Lautschrift gewesen: »Esta vino con el español que sustituyó a las lenguas aborígenes durante la colonia, quedando al margen de este proceso las tribus Sumo-mísquitas y otras del litoral atlántico - en estado casi salvaje - que conservaron sus dialectos primitivos.« (ibid.) Arellano weist auf Gedichte der Sumus, Lieder der Miskitos sowie Texte anderer Indianerstämme hin, die erst später - ab dem 19. Jahrhundert - gesammelt worden seien, (vgl. ibid.: 16, 23, 194; kritisch dazu: Zavala/Araya, 1995: 86f., 192) 1997 erschien mit finanzieller Unterstützung des norwegischen Staates und Schriftstellerverbandes eine zweisprachige Sammlung von Prosa und Lyrik zeitgenössischer Miskito-Autoren (in Miskito und Spanisch): Silva Mercado/Korten, 1997. Sie enthält Texte von zehn zwischen 1940 und 1967 geborenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Vgl. zu dem Roman ausführlich die Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität« sowie » Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«. Vgl. dazu besonders das Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«.
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chronen (textuellen) Raum des Romans, das heißt die Semantisierung der inhaltlichen Bezüge zwischen den beiden zusammenmontierten Textteilen zu einer (vom Autor intendierten, aber nirgends »erklärten«) Interpretation der Geschichte und Aktualität Nicaraguas, die auf der gleichzeitigen Existenz auch ethnisch heterogener Kulturen und Traditionen und auf dem Ausschluss der nicht von der Erobererkultur abstammenden Seite aus dem offiziellen Diskurs der Nation beruhen. Bei Valle-Castillo ist auch für die weitgehend von den Spaniern geprägte Pazifikregion eine homogene - gar ethnisch fundierte - nationale Identität ein Trugbild, wie bei Chávez Alfaro scheint die Vision eines Zusammenlebens der unterschiedlichen Welten jenseits eindeutiger Festlegungen auf. Die Bindungen zwischen Nation und ethnischem Raum lösen sich auf.
Nation und Region: Eigenraum und Fremdraum Was aber bleibt von der nationalen Identität, wenn ihr im wahrsten Sinne des Wortes jeglicher feste Boden entzogen wird? Traditionell die Abgrenzung des eigenen Raums nach außen, die Grenzziehung zwischen innen und außen, zwischen Eigenraum und Fremdraum - im literarischen Raum die Semantisierung der physischen Umwelt zur Konstituanten der individuellen und vor allem kollektiven (politischen und staatlichen) Identität. In der Tat nimmt in der politischen und Ideengeschichte Zentralamerikas der Topos der Einheit des zentralamerikanischen Raums traditionell einen herausragenden Platz ein. Seit den Unabhängigkeitsbestrebungen und bis in die jüngste Vergangenheit ist er eine feste Denkfigur in der Idiosynkrasie der zentralamerikanischen Gesellschaften, trotz des wiederholten Scheiterns und der Misserfolge, in die nahezu alle Versuche mündeten, eine dauerhafte zentralamerikanische Einheit - sei sie politischer, sozialer, wirtschaftlicher oder kultureller Natur - zu schaffen. Wie in der lateinamerikanischen Geschichte im Allgemeinen (vgl. Mahlendorff, 2000: 234f., 166-168) spielten die Bemühungen, den politisch-geografischen Raum zu beschreiben, zu definieren und abzugrenzen, eine bedeutende Rolle bei der Loslösung Zentralamerikas von der Spanischen Krone und bei der Proklamation von Nationalstaaten. 86 Von Anfang an waren alle diese Bestrebungen allerdings auch von dem Spannungsverhältnis bzw. Widerspruch zwischen Regionalismus und Nationalismus geprägt, das heißt zwischen einer Konzep-
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Wie bekannt mündete diese Loslösung zunächst in die Unabhängigkeitserklärung der zentralamerikanischen Föderation im Jahr 1821, die schon bald (u.a. nach dem Scheitern der mexikanischen Annexion) aufgrund unterschiedlicher Interessen auseinander fiel. 1838 wurden die Nationalstaaten Guatemala, Honduras, EI Salvador, Nicaragua und Costa Rica konstituiert, (vgl. Pérez Brignoli, 1988: 13-17, 79-90; Mackenbach, 1995a: 30f.)
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tion der zentralamerikanischen Einheit als Staatenföderation und dem Konzept des Nationalstaates. Es kann daher kaum verwundern, dass dieses Verhältnis in der zentralamerikanischen Literatur zahlreiche Repräsentationen gefunden hat. Die nicaraguanische Romanliteratur - insbesondere auch der letzten zwanzig Jahre - hat sich dieser Problematik des Verhältnisses zwischen Region und Nation hauptsächlich im Zusammenhang mit »Schlüsselereignissen« in der Geschichte des Landes angenommen.87 Noch zu Ende des 20. Jahrhunderts greift demente Guido in seinem Roman El sueño de Tío Billy (1999) die Denkfigur der zentralamerikanischen Einheit in der Periode des Krieges gegen William Walker auf. Der Roman zeichnet sich, wie ausfuhrlich im Kapitel » Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion« dargestellt, durch die literarische Repräsentation einiger für die nationale/nationalistische Historiografie konstituierender Gründermythen aus: der Geburt der nicaraguanischen Nation aus dem Kampf gegen den nach Spanien zweiten Eroberer, den US-Imperialismus in Gestalt des Freibeuters »Tío Billy«. Dieser wirkliche (militärische) Kampf um die nationale Unabhängigkeit (die Unabhängigkeit von Spanien war den zentralamerikanischen Staaten kampflos »zugefallen«) ist allerdings keineswegs auf das nationale Territorium Nicaraguas beschränkt. Im Gegenteil: Die Koordinaten der literarischen Geografie sind einerseits von den lokalen Gegensätzen zwischen León, Granada und Managua bestimmt, deren Überwindung zur Grundbedingung der nationalen Einheit mythisch stilisiert wird; andererseits von den regionalen zentralamerikanischen Verflechtungen zwischen Nicaragua, Costa Rica, El Salvador, Honduras, Guatemala, bis hin zu Kuba. Wie kommunizierende Röhren wirken die zentralamerikanischen Länder in ihrer historischen Entwicklung aufeinander ein. Wie selbstverständlich und in offenem Widerspruch zu dem beschworenen »Gott der Nationen« bewegen sich die Akteure in diesen geografischen, politischen und kulturellen Räumen - Ausdruck einer Epoche, in der die Nationalstaatsbildung in Zentralamerika formal zwar abgeschlossen war, de facto aber keine stabilen, lebensfähigen Gebilde hervorgebracht hatte und in
87
Vgl. dazu auch das Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«. Im Falle Nicaraguas kommt ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen inneren lokalen bzw. regionalen Widersprüchen hinzu, die für die Jahrzehnte nach der Unabhängigkeitserklärung nur bedingt von der Existenz bzw. der Entstehung eines Nationalstaates sprechen lassen und die noch bis weit ins 20. Jahrhundert wirksam waren, (vgl. dazu Mackenbach, 1995a: 25-30) Eine umfassende Untersuchung der literarischen Repräsentationen dieser Verhältnisse, etwa für die Frühphase der nicaraguanischen Romanliteratur Ende des 19. Jahrhunderts, steht noch aus. Wichtige Vorarbeiten dazu hat Amelia Mondragön unternommen. Sie widmet sich vor allem der Präsenz Europas in der literarischen Repräsentation der nicaraguanischen Romane Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, dem Verhältnis von Literatur und Nationalismus in den zwanziger und dreißiger Jahren sowie der »novela regional« in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts (vgl. Mondragön, 1989: bes. 76-179, 218-232; Mondragön, 1991; vgl. auch weiter unten in diesem Kapitel)
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der sich sogar ein US-Freibeuter zeitweise unter Zustimmung eines Teils der einheimischen politischen Kräfte zum Präsidenten der nicaraguanischen Nation erklären konnte. Die Entscheidung des costa-ricanischen Kongresses, mit der der Staatspräsident autorisiert wird, eine bewaffnete Streitmacht gegen die Invasion Walkers nach Nicaragua zu schicken, wird zum Symbol des gemeinsamen Widerstandes der zentralamerikanischen Brüder gegen die Übergriffe aus dem Norden: »Jamás se dijo, ni por equivocación, que la guerra era contra Nicaragua, sino que siempre estuvo claro que era contra los filibusteros y para libertar a Nicaragua. / ¡Los hermanos acudían a libertar a sus hermanos!« (172f.) Die zentralamerikanische Einheit wird - trotz aller realen Konflikte und Differenzen - zum Mythos, der seinerseits den nationalen Mythos stützt. Nation und Region feiern eine mythische Symbiose. Diese harmonisierende Denkfigur, die den zentralamerikanischen Raum in den Dienst des nationalen/nationalistischen Projekts stellt, ist in den achtziger und neunziger Jahren in zahlreichen Texten, insbesondere auch in der Testimonialliteratur, präsent. Als paradigmatisch dafür kann Omar Cabezas, Canción de amor para los hombres (1988a) gelesen werden. Ich habe bereits ausgeführt, wie zunehmend die Stadt den literarischen Raum dieses testimonios (im Gegensatz zu den frühen »ländlichen« Texten der Testimonialliteratur) bestimmt.88 Gleichzeitig findet eine Ausdehnung der Koordinaten der literarischen Geografie über den nationalen Rahmen hinaus statt. Der diegetische Handlungsraum weitet sich aus auf Zentralamerika: Honduras und Panama werden zu Räumen, die für den Erfolg der Aufstandsbewegung als Hinterland, Ausbildungsort und Nachschublinie von Bedeutung sind. In dieser »Zentralamerikanisierung« der Guerilla scheint der Mythos der Einheit Zentralamerikas auf. Allerdings bleibt die Guerillabewegung grundlegend national und nationalistisch, das Spannungsverhältnis zwischen Regionalismus und Nationalismus wird eindeutig zugunsten des Letzteren entschieden, Zentralamerika funktionalisiert für das nationale Projekt Nicaraguas. Der zentralamerikanische Raum wird semantisiert als integraler Bestandteil dieses Projekts. Die topografische Bewegung des Hin- und Herspringens bzw. des Pendeins zwischen verschiedenen zentralamerikanischen Orten resultiert nicht in einer hermeneutischen Bewegung der Auflösung fester nationaler Identitätskonstruktionen zugunsten vielfaltiger Bezugspunkte, sondern in ihrer weiteren Festigung. Noch in dem Roman von Georgina Lupiac, Debió llamarse libertad (1996), dessen Erzählung das Motiv der Reise bzw. der Flucht und Verfolgung von einem zentralamerikanischen Ort an einen anderen zugrunde liegt, präsentiert sich ein ähnliches Verhältnis von Zentralamerika und Nicaragua,
88
Vgl. zu dem Roman ausführlich das Unterkapitel »Stadt und Land 1: profaner und mythischer Raum« sowie das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«.
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Region und Nation. Die topografische Bewegungsfigur dieser Flucht ist linear: Die aus einer gläubigen katholischen Familie stammende Protagonistin Sabina flieht vor den politischen und sexuellen Nachstellungen eines sandinistischen Funktionärs »im Namen der Revolution« ins Nachbarland Honduras. Dort findet sie nicht nur ihren Geliebten, einen überzeugten Sandinisten, den sie aufgrund der politischen Repression verlassen hatte und der ihr gefolgt war, sterbend und zum katholischen Glauben zurückfindend in einem Flüchtlingslager, sondern auch ihre ebenfalls geflohene Familie wieder." Die Linie findet ihr Ende an diesem Ort eines neuen Zuhauses - sowohl in der familiären Geborgenheit als auch im Aufgehobensein im christlichen Glauben. Der zentralamerikanische Raum (des Nachbarlandes Honduras) ermöglicht es der Protagonistin, ein Leben nach ihren Vorstellungen und Überzeugungen und in Würde zu fuhren, was im nationalen Raum verhindert wird. Die hermeneutische Bewegung bleibt jedoch immer zurückbezogen auf den Ausgangspunkt: das unter einem autoritären Regime leidende Heimatland. Die Rückkehr in ein von dieser Geisel befreites Land bleibt als Denkfigur immer existent. Der zentralamerikanische Raum, semantisiert als Identität stiftender Ort, steht auch hier noch im Dienst einer Wiedergewinnung der nationalen Heimat, die Region wird in Funktion der Nation gesehen (wenn auch unter veränderten Vorzeichen, nämlich als Zufluchtsort und Ausgangspunkt für eine Überwindung des nationalistisch-revolutionären Projekts des Sandinismus und eine Rückkehr zu den »wahren« Fundamenten der Nation). Allerdings vollziehen sich im Laufe der neunziger Jahre auch in der literarischen Repräsentation dieses Verhältnisses nicht zu übersehende Veränderungen. Bezeichnenderweise manifestiren sie sich wiederum auch in der Testimonilalliteratur selbst in dem Text von Ernesto Castillo Guerrero, Algo más de un recuerdo (1997), den ich schon wiederholt als Antithese zum kanonisierten testimonio-Diskurs dargestellt habe.90 Im Gegensatz zu Cabezas' harmonisierender Semantisierung des zentralamerikanischen Raums werden bei Castillo Guerrero die »Ausflüge« des jugendlichen Protagonisten bei seinen militärischen Einsätzen gegen die Contra zu einer Erfahrung der ständigen Bedrohung. Der zentralamerikanische Raum präsentiert sich als Aufmarschgebiet der konterrevolutionären Kräfte, als Fremdraum und im wahrsten Sinne des Wortes tödliche Gefahr, wie er bei Einsätzen jenseits des Río Coco auf honduranischem Gebiet hautnah erfahrt.91 Diese topografischen Bewegungen
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Vgl. zu dem Roman ausfuhrlich das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«. Vgl. dazu das Unterkapitel »Stadt und Land 1: profaner und mythischer Raum« sowie insbesondere das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«. Der Text reflektiert so auch die veränderten politischen und militärischen Bedingungen der achtziger Jahre (Aufmarsch der von den USA unterstützten und finanzierten antisandinistischen Kräfte von den zentralamerikanischen Nachbarländern aus und dann zunehmend auch in Nicaragua) gegenüber denen der siebziger, die den Referenzpunkt der Texte von Omar
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münden in die Erkenntnis, auf die eigenen Kräfte innerhalb der nicaraguanischen Nation zurückgeworfen zu sein. Die mythischen Bande zwischen Region und Nation lösen sich auf, die Zukunft der Nation wird sich nur aus der pragmatischen Rückbesinnung auf die dem nationalen Raum innewohnenden Ressourcen gestalten lassen: »Tal vez un día podamos estar unidos para desarrollar nuestra sociedad que está en las cavernas en comparación con el resto del mundo. [...] Entonces, todo el coraje, el temple, la valentía, la seguridad, la terquedad, la entrega incondicional, el orgullo y el amor por el prójimo y por la patria tendrán razón de ser.« (217) Gloria Guardia unternimmt, wie ebenfalls bereits gesehen, in Libertad en llamas (1999) bei ihrem Versuch, die nationale Identität nach außen, gegen die Umarmung durch den mächtigen Koloss im Norden zu behaupten, eine Reise in den inneren Raum: in die Erinnerung an die für die Konstruktion der (neuen) nationalen Identität konstituierenden Diskurse, den politischen Sandinos und den poetischen Darios. Wir haben bereits gesehen, dass diese Reise ins Innere keine Entsprechung im äußeren Raum findet, der inneren Bewegung entspricht keine äußere.92 Paradigmatisch wird dies in der kurzen Schiffsreise der Vertreter des nicaraguanischen Staates zu dem im Hafen von Corinto ankernden US-Dampfer semantisiert, wohin sie der US-Präsident Hoover zitiert, der aus Furcht vor dem Heer Sandinos bei seinem »Staatsbesuch« keinen Fuß auf nicaraguanischen Boden setzt: Nicht der US-Präsident erweist der nicaraguanischen Nation seine Hochachtung, die nicaraguanischen Honoratioren legen diesem die nationale Würde zu Füßen: » [...] y, en el Maryland, Hoover, Díaz y Moneada, los tres presidentes, posan ante la prensa, alzan la copa y brindan, una y otra vez, por la Amistad, por la Paz, por la Libertad y por la exterminación de Sandino. [...] / Nada ha cambiado.« (331). Dabei passieren sie das eigens zu diesem Anlass »errichtete« Symbol der nationalen Eigenständigkeit, die lebende Statue Clara, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Diese Statue - in ihrer Erstarrung auf einer Plattform im Hafen die Negation jeglicher topografischen Bewegung und Metapher der von den äußeren Bedingungen losgelösten Konzeption der nationalen Identität und Eigenständigkeit - stürzt unter den von der Sonne entfachten Flammen in einer endgültigen »Bewegung« in sich zusammen und versinkt im Meer. Die nationale Unabhängigkeit, die nicaraguanische Identität, finden keinen äußeren Raum. Bestenfalls existieren sie in den inneren - hauptsächlich weiblichen - Räumen der politischen Überzeugungen, die direkt den aufklärerischen, demokratischen Ideen des europäischen Kontinets entstammen. (Nicht von ungefähr will die Hauptperson, Esmeralda, von den Zuständen und auch den - geschlechts-
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Cabezas darstellen (die aus den zentralamerikanischen Nachbarländern und im Innern Nicaraguas operierende antidiktatorische Guerillabewegung). Vgl. das Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«.
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spezifischen - Beschränkungen des damals fortschrittlichsten nationalen Diskurses in Nicaragua, der Vorstellungen Sandinos, enttäuscht, nach Europa zurückkehren und dort ihr Studium fortsetzen.) Nur der europäische Raum Hort der Kultur, der Zivilisation und der Aufklärung - scheint neue Zukunftsräume zu eröffnen, der nationale Raum bietet dafür in Nicaragua keinen Platz.93 Der Eigenraum stiftet keine nationale Identität. Noch in einer anderen Weise löst sich das Verhältnis von Eigenraum und Nation in der literarischen Repräsentation einiger Romane der achtziger und neunziger Jahre auf. Dies trifft ganz besonders auf die drei letzten Romane von Sergio Ramírez zu, in denen sich Identitäten aus dem lokalen Raum konstituieren, der sich der Vereinnahmung durch die Nation sperrt. Im Gegensatz zur Tradition des Regionalismus und des Kostumbrismus, die sozusagen ausgehend von den lokalen, einheimischen Eigenheiten zu einer Semantisierung des Nationalen aufsteigen wollen,94 semantisiert er in Castigo divino (1988) das Lokale (die Stadt León) zur Metapher ganz Zentralamerikas, in Margarita, está linda la mar (1998a) zur Bühne des Welttheaters, und in Un baile de máscaras (1995) zur Chiffre der existenziellen Grundbedingungen menschlichen Zusammenlebens - Geburt, eitles Leben auf Erden, Tod - jenseits der Nation und sich ihrem modernisierenden Zugriff entziehend, ihn zumindest unterlaufend. Nicht der nationale Großraum ist der Identität stiftende Ort, es sind die lokalen, überschaubaren Räume, die gleichwohl die ganze Welt in sich bergen. Der Eigenraum ist kleiner als die Nation und gleichzeitig unendlich viel größer.
Haus und Welt: Weiblicher und männlicher Raum Stellen angesichts dieser Auflösungserscheinungen wenigstens die geschlechtsspezifischen Semantisierungen bei der literarischen Repräsentation des Raums im zeitgenössischen nicaraguanischen Roman noch einen festen Boden unter den Füßen dar? So könnte man mit einem nicht zu überhörenden ironisch-polemischen Unterton und die Antwort zum Teil schon vorwegnehmend fragen. Wie weiter oben bereits ausfuhrlich erörtert, spielen Ge/jder-Konstruktionen eine bedeutende Rolle für die Konstitution kollektiver/nationaler Identitäten und ihre narrative Repräsentation und Präsentation. Dabei wurde auch immer wieder auf die Relevanz und Funktion der geschlechtsspezifischen Semantisierung von Räumen hingewiesen.95 Zwar lie-
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Auch dies ist eine Denkfigur, die über eine lange Tradition in Lateinamerika verfügt, vgl. dazu weiter unten das Unterkapitel »Europa und Amerika: Fremdraum und Eigenraum«. Vgl. das letzte Unterkapitel dieses Kapitels: »Vom Raum im Text zum Text ohne Raum?« Vgl. insbesondere das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«.
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gen mit den Studien von Ileana Rodríguez (1994 und 1996) theoretisch fundierte und aufschlussreiche Untersuchungen zu dieser Thematik vor, das Korpus der von ihr analysierten nicaraguanischen Romane ist jedoch relativ klein; 96 eine umfassende Arbeit zum literarischen Raum im nicaraguanischen Roman des Jahrhundertendes unter geschlechtsspezifischen Fragestellungen steht noch aus. Eine solche Untersuchung ist auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht möglich, sie würde einen eigenen wissenschaftlichen Textraum erfordern. Im Folgenden soll vielmehr eine zusammenfassende Lektüre einiger bereits ausführlich analysierter Romane im Hinblick auf die geschlechtsspezifische Semantisierung von Räumen und die Verwendung von Raummetaphern im Kontext der Konstruktion nationaler Identität unternommen werden. In der Tat, so kann eine erste Antwort auf die zu Beginn dieses Unterkapitels gestellte Frage lauten, scheinen die Semantisierung von Räumen und die Funktionalisierung von räumlichen Metaphern auch noch im nicaraguanischen Roman der achtziger und neunziger Jahre zumindest in geschlechtsspezifischer Hinsicht klare Zuordnungen zu erlauben. Die in diesem Buch untersuchten Romane bestätigen über weite Strecken die Schlussfolgerungen Ileana Rodríguez' für die Testimonialliteratur, die sie in geschlechtsspezifischer und ethnischer Hinsicht als Fortsetzung neo-positivistischer Denkfiguren des liberalen Nationenprojekts zu Beginn des 20. Jahrhunderts begreift: »In the Neo-Positivistic order, then, land, cattle, rubber, and also women and the labor forcé, are enclosed, fenced in, and bound, tied by the law. Placing women and laborers on the same semantic plane as land, cattle, and rubber [...] de facto denationalizes them, for they are not written into the Constitution as subjects of laws.« (Rodríguez, 1994: 13) Die neue, von der siegreichen Guerilla geschaffene Nation ersetze die neopositivistischen Schlüsselwörter Zivilisation und Fortschritt durch Souveränität und Unabhängigkeit als Voraussetzungen sozialer Gerechtigkeit, dem obersten Ziel der neuen Nation, dessen zentrales Rechtssubjekt die arbeitende Klasse sei. Diese Konzeption schließe jedoch gleichermaßen die Frau aus der »offiziellen Nation« aus. (vgl. ibid.: 15) Dieser /ÍMsschluss vollzieht sich paradoxerweise in Form des £7«schließens, insbesondere in der literarischen Repräsentation: Den Frauen sind die inneren, privaten Räume zugewiesen, während die Männer in den äußeren, öffentlichen agieren, allerdings gleichermaßen ihre Kontrolle über die inneren Räume aufrechterhalten. In den testimonios und Romanen der achtziger und neunziger Jahre wird dieses Verhältnis von »Frauenzimmern« und »Herrenräumen« in einer Reihe von räum-
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Vgl. dazu die Fußnoten 3 und 28 des Kapitels »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«.
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liehen Metaphern semantisiert. Die weiblich konnotierten Räume in den Texten von Enrique Alvarado Martínez, Charlotte Baltodano Egner, Gioconda Belli, Omar Cabezas, Gloria Elena Espinoza de Tercero, Franz Galich, María Gallo, Gloria Guardia, demente Guido, María Lourdes Pallais, Milagros Palma, Ricardo Pasos Marciacq, Sergio Ramírez und anderen" sind vor allem die geschlossenen bzw. abgegrenzten Orte Haus, Kirche, Garten, Hazienda, Bordell, Gefängniszelle und Leichenschauhaus. Die männlich konnotierten Räume - Berge, Schlachtfeld, öffentliche Plätze, Bars, Gericht, Parlament, politische Institutionen - bleiben ihnen weitgehend verschlossen. Wichtigste Metapher in zahlreichen dieser Romane ist das Haus. In ihr konzentrieren sich das Ausgeschlossensein der Frauen aus der nationalen res publica als ein Einschließen in die inneren männlichen Machtbereiche und die Kontrolle durch den Mann, dessen Herrschaft in der öffentlichen Sphäre sich in der patriarchalischen Haus- und Familienordnung fortsetzt. Bis weit ins 20. Jahrhundert perpetuiert sich die patriarchalische Struktur des kolonialen Herrenhauses, selbst noch bis in die sich ausdehnenden und das Zentrum der entstehenden Nationen besetzenden Städte. Offensichtlich lebt noch in dieser zeitgenössischen Romanliteratur die Raummetapher Haus als nationale Metapher par excellence fort, die für die lateinamerikanische Literatur, besonders im Familien- und Generationenroman, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts charakteristisch war, wie die costa-ricanische Literaturwissenschaftlerin Maria Amoretti Hurtado in einem Aufsatz zu dem Roman La casa de los Mondragón (1998) von Gloria Elena Espinoza de Tercero schrieb: »La casa ha sido, por lo demás, el cronotopo fundante de la metáfora de la nación, mediante la cual en muchos de estos pueblos, especialmente los latinoamericanos, se elaboraron las ficciones de su identidad a finales del siglo pasado. Pero igualmente, la casa reaparece en la literatura contemporánea que revisa y cuestiona esas identidades.« (Amoretti Hurtado, 2000: 126)98
Die nationale Geschichte werde in dem Roman der nicaraguanischen Autorin in der Geschichte des Hauses als Metonymie der Familie und der Stadt erzählt, (vgl. ibid.: 125) In der Tat bedient sich die im Kontext des Projekts von der neuen Nation am Ende des 20. Jahrhunderts geschriebene Literatur in Nicaragua dieser rhetorischen Figur und bekräftigt sie gleichzeitig in ihren narrativen Repräsentationen und Präsentationen. Auf dieser Grundlage kann der mutmaßliche Frauenmörder und guatemaltekische politische Oppositionelle Oli-
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Vgl. vor allem die Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« sowie »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«. Vgl. für Costa Rica die unter dem Titel La casa paterna. Escritura y nación en Costa Rica erschienene Studie von Ovares/Rojas/Santander/Carballo, 1993, die Bedeutung und Funktion dieser Metapher an bedeutenden Stationen der Literaturgeschichte des Landes untersucht.
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veno Castañeda in Sergio Ramírez, Castigo divino (1988) im öffentlichen Raum agieren und seine Macht über die drei im Haus eingeschlossenen Frauen (seine Ehefrau Marta, die beiden Töchter Matilde und María del Pilar sowie die Ehefrau Flora seines Freundes Carmen Contreras) ausüben. Selbst der Alkoholiker und Gelegenheitsarbeiter Marcos Rivera, Vater des späteren Guerillakommandanten El Zorro, kann in Sergio Ramírez, La marca del Zorro (1989) die Ehefrau und Mutter Virginia Quintero Alaniz in einer Existenz zwischen Arbeit im eigenen Haushalt und für andere Familien und der Kirche einschließen. Das gleiche Schicksal teilt Feliza Dolores, Ehefrau von Don Chicho, der sie noch unter die Tiere positioniert, in Milagros Palma, Bodas de cenizas (1992). In Gloria Elena Espinoza de Tercero, La casa de los Mondragón (1998) ist es Don Buenaventura, der letzte Patriarch des Familienclans, der die Frauen in das Gefängnis der »inneren Räume« des Hauses verbannt, symbolisiert in dem völligen Rückzug seiner beiden Schwestern in ein Zimmer, in dem sie fast ihr ganzes Leben mit Beten verbringen. Selbst bei Gloria Guardia, Libertad en llamas (1999) bleibt der Wirkungskreis der aus Europa zurückkehrenden, gebildeten jungen Frau Esmeralda Reyes-Mannings, die sich in den öffentlichen politischen Raum einmischt, auf die inneren städtischen Räume der wohlhabenden Familien beschränkt, wo sie Spionagedienste für die Guerilla Sandinos ausübt. Und noch in Gioconda Belli, La mujer habitada (1988a) wird die junge Architektin Lavinia zunächst auf das Haus und die traditionelle Rolle als Geliebte und moralische - »private« - Stütze des in der politisch-militärischen Sphäre agierenden Guerillero Felipe festgelegt. Ähnliche Einschließungen finden in der Semantisierung anderer Räume als der den Frauen zugewiesenen, dennoch von den Männern kontrollierten und zu ihrem finanziellen Vorteil genutzten statt, so der Garten bzw. die Hazienda/das Landhaus in Gioconda Belli, Sofia de los presagios (1990a) und das Bordell in Ricardo Pasos Marciacq, El bürdet de las Pedrarias (1995), Sergio Ramírez, Margarita, está linda la mar (1998a) und Franz Galich, Managua, Salsa City (2000). Als extremste Metaphern dieser Einschließung der Frauen in von den Männern zugewiesene Räume bei gleichzeitiger Ausschließung aus dem Raum Nation hat Ileana Rodríguez in ihrer Analyse von Sergio Ramírez, Castigo divino (1988) und Tomás Borge, La paciente impaciencia (1989) das Leichenschauhaus bzw. das Totenbett ausgemacht, semantisiert als Orte der finalen männlichen Verfügungsgewalt über die Frauen, sei es in Borges bewundernder Inspektion des toten Körpers von Emma Rouault in Gustave Flauberts Madame Bovary, sei es in der klinischen Inspizierung der vergifteten Frauen in Sergio Ramírez' Roman, zu dem Rodríguez schreibt: »Sex, knowledge, and power (from Foucault) constitute the subject of conversation among the all-male groups of doctors and lawyers who carry on discussions in every masculine stronghold - prison, city hall, morgue, autopsy room, bar. Men discuss the act of seduction and determine whether it is necessarily com-
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plete possession - absolute seizure - of the eroticized body of woman.« (Rodriguez, 1996: 11)" Allerdings scheinen die Tage dieser männlichen Allmachtphantasien gezählt: Mit der Verschiebung der Koordinaten der literarischen Geografie vom Land in die Stadt sind die Frauen nicht länger aus allen öffentlichen Räumen auszuschließen. Die Verheißung des »neuen Landes«, einer anderen, besseren Gesellschaft, so Ileana Rodríguez (vgl. 1994: 169), basiere auf einer neuen Topografie von der Stadt als Nation, mit der die Frau in die Dikussion einbezogen werde. Selbst in der Testimonialliteratur, in der die Frau im Wesentlichen nur Erinnerung sei - als »words in a letter, images on the glossy, printed paper of a photograph« (ibid.: 40) - und sich im Textraum nicht als mit dem »hombre nuevo« gleichberechtigte »neue Frau« bewegen könne, sei ihre Präsenz nicht länger zu verhindern. Sie sei Adressat des feierlichen Diskurses der Guerilla und sogar bewunderte Mitstreiterin in dem Maße, wie sie sich in dem bislang den Männern vorbehaltenen bewaffneten Kampf durch Geschicklichkeit hervortue, (vgl. ibid.) Diese Beteiligung der Frau insistiere, so schreibt Rodríguez zu Gioconda Bellis La mujer habitada, darauf, dass die Frauen einen Platz auch in dem sich neu konstituierenden Staatsraum haben müssten: »at home and in the senate« (ibid.: 19). Allgemein eigneten sich die Frauen in der Romanliteratur immer mehr Räume an: »'House', 'garden', and 'nation', then, constitute some of the terms a disenfranchised majority employ to enter the ongoing struggle and to signal the appropiation by women of ever-larger social spaces in the organization and reorganization of privatized spaces and in the territorial administration of the globe.« (ibid.) Zwar vollziehen sich diese Schritte in neue, bisher verschlossene Räume quasi noch unter männlicher Anleitung und Kontrolle, sind sie den Frauen zunächst nur zugänglich, wenn sie sich wie Männer bewegen oder an deren Stelle treten, ihre »Plätze« einnehmen. So wird die Frau noch in Sergio Ramírez, La marca del Zorro (1989) der Gemeinschaft der Brüder/Männer im Kampf subsumiert, aus der sich die neue Nation formt. Aus (Männer)Freundschaften werden Gefährten und Brüder im Kampf, schließlich Kader des männlich semantisierten Raums der neuen Ordnung: » [...] hay que hacerse amigo de la gente«, zitiert der Protagonist Francisco Rivera den sandinistischen Übervater Carlos Fonseca, »porque con la amistad, podemos hacer compañero al amigo, y después que el amigo se vuelva compañero, lo podemos convertir en un hermano de lucha; y de ese hermano de lucha podemos sacar un cuadro militante
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Vgl. das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«, besonders die Fußnote 29.
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del Frente Sandinista de Liberación Nacional« (41).100 In Gioconda Belli, La mujer habitada (1988a) geht die Protagonistin Lavinia buchstäblich einen Schritt weiter, indem sie die durch den Tod Felipes entstandene männliche »Leerstelle« besetzt und einen zentralen Platz in der Guerillaaktion in dem die diktatorische Herrschaft symbolisierenden Raum der herrschaftlichen Villa des Generals Vela einnimmt, allerdings unter dem Kommando der männlich geführten »Organisation«. Ähnlich okkupiert bei Ricardo Pasos Marciacq, Rafaela. Una danza en la colina j nada más... (1997) die junge Rafaela Herrera die durch den Tod ihres Vaters, des Festungskommandanten, entstandene Lücke im Kampf gegen die englische Invasion, wie der Roman die weißen Flecken in der offiziellen Historiografie mit der zentralen Positionierung der Frauengestalt im Textraum zu füllen sucht. Aber die »raumgreifende« Bewegung der Frauen ist ein unaufhaltsamer Prozess, der nicht nur in der Transgression der ihnen traditionell zugeschriebenen Räume, sondern auch der ihnen in den männlichen Räumen auferlegten Bewegungsmuster mündet. Bei Gioconda Belli, La mujer habitada (1988a) schöpft die Protagonistin Lavinia gerade aus dem Rückzug in den inneren Raum ihres Hauses und Gartens und des Dialogs mit der den Orangenbaum bewohnenden indianischen Kämpferin Itzá eine eigene Identität, die sich aus den Mythen der Vergangenheit speist und eine Zukunft jenseits des männlich dominierten Konzepts der Nation aufscheinen lässt. In ihrem Roman Sofia de los presagios (1990a) besetzt die Protagonistin nicht nur den traditionell den Männern vorbehaltenen (Wirtschafts- und Herrschafts-)Raum der Hazienda, sondern macht ihnen auch ihre Herrschaft streitig, indem sie als Frau auf diesem ureigensten Terrain der Männer erfolgreicher ist als diese, wobei auch sie auf die magischen Kräfte der Hexe Xintal und anderer rekurriert, also ein Raumbewusstsein jenseits männlicher Dominanz entwickelt. Die Hazienda wird nicht länger utilitaristisch verstanden als Grundeinheit der staatlichen Macht (die immer der kolonialen Männerordnung verhaftet ist), sondern als (postkolonialer) Raum weiblicher Selbstverwirklichung jenseits nationalistischer und ökonomistischer Denk- und Herrschaftsmuster. In Waslala. Memorial del futuro (1996a) schließlich bestimmt die Protagonistin Melisandra endgültig die topografische und hermeneutische Bewegung durch Raum und Zeit - auch hier eine Reise ins Innere (des Landes), den Urwald, und seiner jüngsten, mythisch semantisierten, Geschichte. Bei Ricardo Pasos Marciacq, El bürdet de las Pedrarias (1995) wird das Bordell - einer der traditionellsten
100 v g l . dazu a u c h Rodriguez, 1994: 169: » T h e d r e a m e d country, the national sphere, is displaced o n c e m o r e in this literature o f horizons to the city, where the new social type will incorporate the masses into himself, and in a m o n g them, w o m e n , although the organizing slogan is all male.«
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»Innenräume«, der den Frauen in der von Männern beherrschten Gesellschaft zugestanden und von ihnen kontrolliert wird - zum Raum (partieller) weiblicher Macht und zur Metapher für die in der offiziellen Geschichte ausgeblendete zumindest mittragende Rolle der Frau am historischen Geschehen.101 Auch in Franz Galich, Managua, Salsa City (¡Devórame otra vez!) (2000) steht der weibliche Ort des Bordells im Zentrum, wird gar semantisiert zu einem Raum, aus dem sich nach dem Zusammenbruch der männlich-kriegerisch definierten Versuche, einen Zukunftsraum zu konstruieren, eine wenn auch prekäre Zukunft entwickeln kann, die auf dem Überlebenswillen und der Liebesfähigkeit der Frau beruht. Bei Maria Gallo, Entre altares y espejos (2000) betreten die Frauen fast schon wie selbstverständlich die öffentlichen Räume der Stadt: Fabrik, Büro und Kino, die mit dem Einbruch der Moderne entstehen und den Frauen den (wenn auch noch lange nicht gleichberechtigten) Zugang zum gesellschaftlichen Leben eröffnen. 102 Als exemplarisch für die Versuche der Befreiung der Frau aus den ihnen von den Männern zugeschriebenen Räumen kann auch der Roman von Gloria Elena Espinoza de Tercero, La casa de los Mondragón (1998), gesehen werden. Das Haus der Mondragóns wird zur symbolischen Repräsentation nicht nur der Familienchronik, sondern der (immer noch von kolonialen Zügen geprägten) Geschichte der Stadt León und des Landes Nicaragua: »En la casa de los Mondragón vamos a encontrar todos los elementos característicos del cronotopo idílico: el paisaje y la localidad natal, la casa natal, algunos elementos de la vida laboral-agrícola y el aspecto ideológico que se vincula con la localidad: la lengua, las costumbres, las creencias, la moral. Pero lejos de la sublimación característica del relato costumbrista, esta novela dirige una crítica al esquema familiar-patrimonial, sin dejar, no obstante, de valorar algunos de sus aspectos.« (Amoretti Hurtado, 2000: 114) Diese Ordnung gewährt (scheinbar) ein harmonisches Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher sozialer, ethnischer und kultureller Herkunft, allerdings nur solange die Unterdrückung und Ausschließung nicht in Frage gestellt werden, auf der diese Ordnung basiert: Das Haus ist für die Frauen (wie für die Untergebenen) wie ein Gefängnis, sie sind gefangen in den »inneren Räumen« ihrer ihnen traditionell zugewiesenen Funktionen: der Hausar-
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Das gilt ähnlich für zwei andere Romane von Ricardo Pasos Marciacq: In Maria Manuela. Piel de luna (1999) bestimmt die Protagonistin die topografische und hermeneutische Bewegung in dem von ethnischen Spannungen durchzogenen Raum Ende des 18. Jahrhunderts, in Julia y los recuerdos del silencio (2000) wird der Raum des Privaten - des Alltäglichen und der Familie - semantisiert als ebenso bedeutend wie die »große« politische Geschichte. Vgl. zu beiden Romanen das Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«. Vgl. dazu das Kapitel »Vierter Kreis: Geschlecht und Nation«, in dem ich unter geschlechtsspezifischen Fragestellungen ausführlich auf die hier genannten Romane eingehe.
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beit, der Reproduktion und der Überlieferung (von Tradition, Moral und Religion). Bestenfalls das völlige Aufgehen in diesen geistigen »inneren Räumen« erlaubt ihnen eine gewisse Eigenständigkeit, selbst da jedoch dominiert von der Allmacht der religiösen und moralischen Codes, wie sie von der Tradition diktiert sind, und bewacht vom Patron, der noch die Gedanken seiner Untergebenen bestimmen will. Die Zeit dieser inneren Räume ist die Vergangenheit, bewohnt von der christlichen Tradition und vorchristlichen magischen Elementen - repräsentiert von den beiden Schwestern des Hausherrn und den zahlreichen verschlossenen Räumen früherer Bewohner des Hauses, die angeblich von deren Geistern heimgesucht sind. Erst als Lucrecia diese Räume als inneres Exil und als Möglichkeit zu begreifen beginnt, sich einen eigenen geistigen, magischen Raum zu schaffen, in dem sie der despotischen Herrschaft entfliehen kann, wird der idyllische Chronotopos nachhaltig gestört. Die inneren Räume ihrer Träume und vor allem der Bibliothek erschließen der Heranwachsenden Bereiche, die den Frauen traditionell verschlossen sind (nicht von ungefähr verschlingt sie die Reiseabenteuer von Odysseus, Marco Polo und anderen). Ihr sorgsam im Verborgenen gehaltenes Eintauchen in die fiktiven Welten u.a. der Bibel, der griechischen Mythologie, der klassischen europäischen Literatur und der nicaraguanischen Poesie lassen sie eine eigene Persönlichkeit entwickeln, die gegen die traditionelle Rollenzuschreibung rebelliert und auch das Recht auf den eigenen Körper und die eigene Sexualität reklamiert: »El mundo de la casa de los Mondragón era ajeno a las fantasías de Lucrecia que iban creciendo con ella. La alfombra turca, la biblioteca, junto a todo el cachivachero de mama Marcelina, eran únicos testigos de su metamorfosis.« (80) Sie gibt sich schließlich in der Bibliothek einem Mann hin (dessen Name bis zum Schluss nicht preisgegeben wird) und wird schwanger.103 Diese doppelte Penetration (das Eindringen des Unbekannten in ihren Körper und das Eindringen der Außenwelt in die Innenwelt des Hauses) lassen sie (gezwungenermaßen) die inneren Räume verlassen. Don Venturita (wie er wegen seiner geringen Körpergröße abschätzig genannt wird) verbannt sie wegen der Schande aus dem Haus. Der Chronotopos Weg/Reise tritt an die Stelle des Chronotopos Haus und ermöglicht Lucrecia zum ersten Mal, die Außenwelt real (nicht nur fiktiv in ihrer Lektüre der Romanwelten in der Bibliothek) kennen zu lernen: »Se adentraba a un mundo lejano que no había existido para ella.« (114) Auf ihrer Suche nach einer Bleibe lernt sie die Behausungen der Armen kennen und lebt schließlich bei der Wahrsagerin Domitila, gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Doch schon bald kehrt sie auf Wunsch ihrer sterbenden Adoptivmutter ins Haus der Mondragóns zurück und schickt sich in ihr vorheriges Leben, jetzt sogar als
103
Vgl. zu dem Roman auch das Kapitel » Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«.
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unverheiratete Mutter doppelt geächtet. Die Reise in die Außenwelt hat sie wie im Bildungsroman zwar reicher an Erfahrungen und reifer werden lassen, dennoch ist sie für sie keine positive Entwicklung, eher ein umgekehrter Prozess zu dem des traditionellen Bildungsromans. Ihre Entwicklung wird von einem Monster mit vielen Köpfen verhindert: der Religion, der Moral, der Gesellschaft, den Pflichten, den Prinzipien und der Familienehre - symbolisiert in ihrem erneuten Einschließen im Haus. Die »geschlossene Gesellschaft« hat abermals gesiegt, selbst wenn sich in den »äußeren Räumen« zunehmend die Ideen des Liberalismus durchsetzen, denen auch Don Venturita nahe steht. Die kolonial geprägte Ordnung scheint sich ewig fortzusetzen. Als Lidia, die Tochter Lucrecias, abgöttisch geliebt vom Hausherrn, gegen dessen Willen einen »Emporkömmling« aus einer unbekannten Familie heiratet, müssen sie erneut das Haus verlassen und werden enterbt. Auch Lidia kehrt jedoch nach dem Tod Lucrecias auf Wunsch einer auf dem Sterbebett liegenden Schwester Don Venturitas mit Ehemann und Sohn ins Haus zurück. Allerdings nicht für lange: Auf Druck ihres Ehemanns, der nicht länger bereit ist, sich der despotischen Herrschaft des Patrons zu unterwerfen, verlassen sie das Haus und die Stadt Leon und ziehen in die Kleinstadt Jinotepe in den Bergen südlich von Managua. Diese erneute Ersetzung des Chronotopos Haus durch den Chronotopos Weg/Reise ist zwar gleichbedeutend mit einem sozialen Abstieg. Der Gang aufs Land wird - in der literarischen Geografie Nicaraguas einmalig als Katastrophe erlebt, obwohl die Reise auch hier das Kennenlernen nicht nur neuer geografischer, sondern auch kultureller und ethnischer Landschaften einschließt. Gleichzeitig wird sie jedoch für Lidia zur definitiven Möglichkeit der Befreiung aus dem auf den Pfeilern der kolonialen Ordnung ruhenden despotischen Regime im Haus der Familie Mondragön. Diese Selbstfindung vollzieht sich vor dem Hintergrund des Einzugs der Moderne in Leon wie in ganz Nicaragua (die in vielen Details - vom mit industriellen Mitteln betriebenen Baumwollanbau über die Einführung des Fernsehens bis zu Elvis Presley und der Massenkultur - geschildert wird), die in Gestalt des Ehemanns Lidias auch über die Familie Mondragön kommt. Aus einfachen Verhältnissen stammend, steigt er aus eigener Kraft in die städtische Mittelschicht auf, geht einem ganz und gar nützlichen Beruf nach (er ist Buchhalter) und nimmt sogar einen Kredit beim Banco Nacional de Nicaragua auf, um seiner Familie Haus und Heim errichten zu können. Die Macht der Oligarchie zerfällt: »Una calle bien empedrada enmarcaba su majestuosa presencia. La casa solariega de los Mondragön estaba en el centro de la ciudad. [...] Era esbelta, maciza, grande [...] « (3) - »Una calle asfaltada, enmarcaba su vetusta presencia. La casa de los Mondragön lucia derruida y sola.« (421) So lauten die bewusst semantisch aufgeladenen textinternen Orte des Romananfangs und des Romanschlusses. An die Stelle der kolonialen Ordnung ist eine neue - postkoloniale - Logik getreten. Doch auch diese neue Ordnung ist keineswegs frei von Widersprü-
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chen: Ausführlich schildert der Roman die dramatischen Veränderungen, denen die Stadt mit dem Einzug der Moderne unterzogen ist, zum Beispiel die ökologischen Schäden, die aus der im großen Stil betriebenen Baumwollproduktion resultieren, die Verarmung großer Teile der Bevölkerung, die prekären Wohnverhältnisse der Armen in den als »las gavetas« bezeichneten Wohnblocks, den für Nicaragua so typischen »cuarterías«.104 Und es ist eine neue Ordnung, die sich nicht auf die scheinbare Sicherheit ihrer Abstammung stützen kann. Lidia als uneheliches Kind, dessen Vater bis zum Schluss abwesend und unbekannt bleibt, repräsentiert diese Unsicherheit, dieses Suchen nach Identität, die nur in einer ungewissen Zukunft zu finden ist. Die Autorin erzählt diesen Roman unter Rückgriff auf Elemente des Kostumbrismus (vor allem in den ausführlichen deskriptiven Passagen der Menschen, Häuser und Sitten im Nicaragua der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts), der magisch-mythischen Überlieferung, des Marienkults und des Volksglaubens, aber auch mit einer Fülle von paratextuellen und intertextuellen Elementen, wobei sich die allwissende Erzählerin oft direkt kommentierend einmischt und sich mit den Frauen, vor allem mit Lucrecia, solidarisiert. Auch in sprachlicher Hinsicht - das heißt im Hinblick auf die Verwendung der unterschiedlichen Soziolekte - kennzeichnet diesen Roman eine dialogische Struktur: Durchweg vermischen sich der gehobene Erzählstil mit dem gebildeten Jargon der städtischen Oligarchie, dem von Latein durchsetzten religiösen Diskurs und dem nicaraguanischen Spanisch der unteren Schichten, dessen Wortschatz vom náhuatl der Ureinwohner geprägt ist und dessen Phonetik zahlreiche Eigentümlichkeiten aufweist (zum Beispiel die Ersetzung des s durch ein fast nicht zu hörendes j = ch im Deutschen). Der Textraum wird zum Ort des gleichrangigen Nebeneinanders unterschiedlicher Stimmen und unterläuft auch so die koloniale Hierarchie. María Lourdes Pallais schließlich rückt in ihrem Roman La carta (1996) mit der Gefängniszelle die extremste Metapher des Gegensatzes zwischen innerem und äußerem Raum sowie für das Einschließen der Frau ins Zentrum des Textes. In Charlotte Baltodano Egners Gefangnistagebuch Entre el fuego y las sombras (1988) war die Zelle noch in mehrfacher Hinsicht ungebrochene Metapher für die männliche Macht über die Frau: als Ort, in den die rebellische Frau von der Diktatur des »el hombre« genannten Despoten weggeschlossen wird, als Ort der permanenten Erniedrigung und Vergewaltigung der Frau durch die männlichen Schergen des Regimes, aber auch noch als Ort der Erziehung der Frau zu einer Kämpferin, die gestärkt aus dem Gefängnis hervorgeht und in der Guerilla »ihren Mann steht«. Auch die Protagonistin in Pallais' Roman wird aus politischen Gründen inhaftiert. Dieses Eingeschlossen-
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Vgl. Amoretti Hurtado, 2000: 18f.
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sein wird jedoch auch zur Metapher für ein Eintauchen in ganz andere innere Räume: die der Erinnerung der Protagonistin an die Erfahrungen im politischen und bewaffneten Kampf in der Außenwelt und ihre Beziehung zu ihrem Kampf- und Liebesgenossen. Sie wird zum Ort der kritischen Reflexion aus weiblicher Sicht und zur Quelle weiblicher Identität jenseits der utopischen Großentwürfe der männlichen Guerilla, ohne dass dabei auf mythisch-magische Elemente zurückgegriffen wird (wie etwa bei Gioconda Belli). Die hermeneutische Reise durch die Innenwelt erlaubt es der Protagonistin ähnlich wie der in Baltodano Egners Buch, in einer Kreisbewegung wieder in die Außenwelt zurückzukehren, allerdings ohne sich »mannhaft« und gestählt wieder in den Kampf einzureihen, sondern in dem Bewusstsein, ihren eigenen Weg gehen zu müssen und zu können, dessen Markierungen noch nicht klar zu erkennen sind und der nicht im Schutz männlicher Kollektive verläuft.'05 Wie bereits gesehen, wird in dem hervorgehobenen Ort des nachgestellten Paratextes »Epilogo del editor« diese Rückkehr in die Außenwelt dramatisch semantisiert mit der Nachricht vom Tod der Protagonistin durch Ertrinken.106 Der Text selbst wird im Bronfenschen Sinn zum Raum, dessen Bedeutung erst durch die »Zusammenführung zweier textuell gesetzter Beschreibungen« (Bronfen, 1986: 328) sowie die Füllung von »Leerstellen« im Text durch den Leser konstruiert werden kann - die Nachricht vom Selbstmord als eine weitere Metapher, hier der Unmöglichkeit des Ausbrechens aus dem der Frau zugeschriebenen Ort (auch innerhalb der lateinamerikanischen Linken)? Dennoch: Die Transgression der den Frauen traditionell zugeschriebenen Räume, das Ausbrechen der Frauenfiguren aus diesen geschlechtsspezifisch zugeordneten Räumen bzw. ihre Semantisierung aus weiblicher Sicht sind im nicaraguanischen Roman insbesondere der neunziger Jahre unübersehbar. Diese Transgression mag sich über das immer massivere Eindringen der Frauen in den männlichen (Groß-)Raum, über den Rückzug in kleinere, »intimere« Räume oder die erneute Besetzung des öffentlichen Raums, nunmehr aber schon, ohne nur den Platz der Männer einzunehmen, vollziehen. Immer ist jedoch die Herausforderung an Raumvorstellungen, welche die Frau als Subjekt ausschließen, existent. Und zwar in mehrfacher Hinsicht, sei es als Vordringen der Frau als Autorin in den männlich dominierten literarischen
105
Vgl. dazu Mahlendorff, 2000: 228-230. Unter Bezug auf Bachelard (1975: 144-150) analysiert sie im Roman des Chilenen Manuel Rojas, Hijo de ladrón (1951), das Gefängnis, die Zelle, den Zellenwinkel als Sinnbild der Geschlossenheit in Gegenüberstellung zum Meer als Sinnbild der Offenheit, aber auch als Ort der Erinnerung, der Selbstfindung des Menschen und seiner (erneuten) Hinwendung zur Außenwelt. Die Zelle wird zum metaphorisch semantisierten Ort des Wendepunkts, »an dem der Erzähler die Richtung seiner Reise umkehrt und von innen, aus der Mitte des Selbst heraus, die Reise nach außen antritt« (Mahlendorff, 2000: 230). 106 v g l . dazu und insgesamt zu dem Buch das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur« sowie ebenfalls das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«.
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Raum insbesondere des Romans (wie gesehen, vollzieht sich dieser Prozess bereits vorher in der Lyrik), sei es als Romanfigur an strategisch zentraler Stelle, sei es in der Semantisierung des Raums.
Europa und Amerika: Fremdraum und Eigenraum Selbst die traditionelle »Bastion« der Raumsemantisierung in der lateinamerikanischen Literatur - das Verhältnis Europa-Amerika bzw. Amerika-Europa wird geschleift. Für die Konstruktion von Identität in der lateinamerikanischen Literatur sind im Allgemeinen zwei hermeneutische Bewegungsfiguren vorherrschend: die Reise ins Innere und die Vergangenheit der prähispanischen Kulturen und die Reise nach Europa (bzw. Nordamerika), wie Magda Zavala in Anlehnung an Fernando Ainsas grundlegende Studien zum Thema ausfuhrt: »Para los héroes cosmopolitas y citadinos, dice Fernando Aínsa, el viaje iniciático (viaje en búsqueda de identidad que se expresa psicológicamente como necesidad de desplazamiento por el espacio [...] tiene dos direcciones distintas. Van hacia las metrópolis que se encuentran fuera del continente (París, Madrid, Roma o New York), los que padecen del 'mal de Europa'; hacia el centro o corazón de la naturaleza y las culturas autóctonas, en cambio, quienes buscan su identidad en unos orígenes anteriores y remotos.« (Zavala, 1990: 212, vgl. 213, 218-220) 1 0 7
Wie ich in diesem Kapitel bereits dargelegt habe, fuhrt die Reise in die indigenen, ethnisch konnotierten Traditionen im nicaraguanischen Roman der letzten beiden Jahrzehnte kaum noch zu stabilen und eindeutigen Identitätskonstruktionen. 108 Wie aber verhält es sich mit der anderen Identität stiftenden Reise in die Zentren auf der Nordhalbkugel? Haben die europäischen (und nordamerikanischen) Städte ihre Bedeutung als Fixpunkte in der literarischen Repräsentation und Präsentation von Raum im in mehrerlei Hinsicht zunehmend Urbanen Roman im Nicaragua der achtziger und neunziger Jahre bewahrt bzw. in welcher Form wirken sie auf diesen ein?
107
Vgl. Aínsa, 1986: bes. 191, 201, 215, 224, 232; s. auch Aínsa, 1977. Amelia Mondragón hat sich ausführlich mit der Bedeutung der Darstellung des europäischen Raums in den ersten nicaraguanischen Romanen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Kontext der Übernahme europäischer Denkmuster durch die kreolischen Oberschichten auseinandergesetzt, für welche die Romane Gustavo Guzmáns paradigmatisch sind, wie zum Beispiel Escenas de Londres (1891), En Paris (1893), En España (1895) und En Italia (1897). (vgl. Mondraón, 1989: 5999, bes. 71-76; Mondragón, 1991: bes. 97-102) ios Vgl. dazu die Unterkapitel »Pazifik und Karibik 1: Mestizischer versus indigener Raum« und »Pazifik und Karibik 2: Mestizischer und indigener Raum?« sowie das Kapitel»Zweiter Kreis: Magie und Realität«.
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Es wurde bereits ausgeführt, wie sich Orlando Núñez Soto in seinem Roman Sábado de gloria (1987,1990) auf seiner Suche nach Identität und historischer Kontinuität beider »Initiationsreisen« bedient.109 Während die Rückwärtsbewegung in die magisch-mythische Vergangenheit jedoch dem hermeneutischen Prozess der Romanfiguren weitgehend äußerlich (und auf den ersten Teil des Romans beschränkt) bleibt, tritt an ihre Stelle im zweiten Teil der Rekurs auf Europa. Durchaus einmalig für die nicaraguanische Romanliteratur Ende der achtziger Jahre bezieht der Roman hier seine Dynamik aus der literarischen Geografie, insbesondere der binären Beziehung EuropaLateinamerika. In Anlehnung an dieses für lange Phasen der lateinamerikanischen Literatur dominierende Muster, aber auch in Abgrenzung davon, lässt Núñez Soto eine literarische Repräsentation sozialer, politischer und persönlicher Beweggründe der Revolution entstehen, die insbesondere in der Testimonialliteratur weitgehend unberücksichtigt blieben. Die Reise nach Europa und ihr jahrelanger Aufenthalt dort stellen für die Protagonistin Claudia ganz in der Tradition der von der europäischen Ideengeschichte geprägten lateinamerikanischen Intellektuellen die Möglichkeit dar, aus der provinziellen Enge auszubrechen, Anschluss an die fortschrittlichsten Bewegungen des alten Kontinents (symbolisiert im Pariser Mai 68) zu finden und davon ausgehend eine Zukunft für das eigene Land zu entwerfen. Doch durch die Begegnung mit Eduardo, der ihr vom Vöranschreiten des Kampfes in der Heimat (ganz im Gegensatz zu den endlosen und im Endeffekt ergebnislosen Diskussionen der europäischen Intellektuellen) berichtet, wendet sich Claudia wieder ihrem Land zu und kehrt zurück, um diese Diskussionen hinter sich zu lassen und sich in den bewaffneten Kampf einzureihen. Ihre Rückkehr wird - trotz und gerade wegen der Schwierigkeiten, mit denen sie anfangs als Tochter einer wohlhabenden Familie in der Guerilla konfrontiert ist - zum symbolischen Akt des nicaraguanischen, mestizischen, in den Traditionen der kreolischen politischen Klasse erzogenen Intellektuellen, der die autochthonen Wurzeln des Befreiungskampfes des nicaraguanischen Volkes erkennt und sich bewusst in diese Traditionen einreiht. Erst dieses doppelte Spannungsverhältnis zu Europa macht eine eigene lateinamerikanische bzw. nicaraguanische Identität denk- und gestaltbar, die ihre Muster nicht länger aus Europa bezieht. Die hermeneutische Bewegung des Romans vollzieht sich in Form einer Spirale: vom Eindringen in die mythische Vergangenheit über die Verlagerung in die europäische Aktualität wieder zurück in die in der Tradition ihrer indigenen Vorfahren stehende Guerilla - also hin zu einer Symbiose dieser Elemente auf einer höheren Ebene. In der Zusammenführung dieser beiden Teile des
io9 Vgl. dazu das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität« sowie ausfuhrlich zu dem Roman auch das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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Romans durch den Leser realisiert sich der Text als dynamischer, generativer Raum, in dem die Revolution als außergewöhnliche Vereinigung unterschiedlichster Kräfte und Tendenzen konstruiert wird." 0 Auch Gloria Guardia lässt in Libertad en llamas (1999) die Protagonistin Esmeralda aus Europa, hier Madrid, wo sie eine Erziehung in der Tradition der Aufklärung erhielt, nach Nicaragua zurückkehren, um sich dem dortigen Kampf anzuschließen, der nicht nur in Sandino eine eigene mythische Führerfigur hat, sondern sich ähnlich wie bei Orlando Núñez Soto als Verbindung von Vergangenem und Gegenwärtigem präsentiert. Die Verstehensbewegung der weiblichen Hauptfigur mündet jedoch nicht in eine (postulierte) Vereinigung der beiden Geschichts-, Kultur- und Erfahrungsräume, sondern in die erneute (enttäuschte) Rückkehr nach Europa. Sich auf den honduranischen Dichter Froylán Turcios, einen wichtigen Verbindungsmann Sandinos, und dessen Bruch mit dem nicaraguanischen General beziehend, notiert Esmeralda in ihrem Tagebuch: »Durante todo este tiempo hemos compartido experiencias y responsabilidades muy serias; hemos trabajado, convencidos de la validez de la causa; hemos soñado con la liberación del país [...] Lo que sí nadie sabe es que, de unos días acá, yo había tomado en secreto la decisión de que esperaría a que Moneada tomara posesión de su cargo para desligarme de la causa por la que ahora milito. Mis planes son regresar a Europa, muy posiblemente a París, inscribirme en la universidad y seguir ahí cursos de postgrado un par de años, al menos.« (251) Für die im Geist der europäischen Aufklärung erzogenen Intellektuellen der kreolischen Oberschichten behalten die europäischen Metropolen ihre traditionelle Bedeutung. Paradigmatisch erinnert sich der Dichter Frutos de Alegría an die Weltausstellung in Paris im Jahr 1889: »Aquello era la síntesis misma de un siglo que se estrenaba ante nosotros [...]
110
Ähnlich verlaufen die Koordinaten der literarischen Geografie auch in dem Roman von Martine Dreyfus, El viaje de la vida (¡997): Die beiden Hauptfiguren unternehmen zwei Reisen, die zunächst zu völlig unterschiedlichen Erfahrungen führen, jedoch zur Voraussetzung eines weiteren gemeinsamen Lebensweges werden: Bianca geht - wie für eine ganze sich politisierende Generation in der Endphase der Somoza-Diktatur üblich - in »die Berge«, die sie zunächst als Schock wahrnimmt, aus denen sie jedoch als überzeugte und erfahrene Revolutionärin zurückkommt. Erst im weiteren Verlauf setzt angesichts der zunehmenden Degeneration der Revolution (symbolisiert im Verhalten ihres Lebensgefährten, der sie betrügt und von ihr dabei überrascht wird) ihre zunehmende Distanzierung vom politischen Regime ein, und sie kehrt aus der Hauptstadt immer wieder in ihre Geburtsstadt zurück. Miguels Horizont weitet sich auf die »Erste Welt« aus, die er zunächst als perfekte wahrnimmt. Parallel zu seiner Heilung (er wurde von der Guardia Nacional im Kampf schwer verletzt) nimmt er jedoch eine kritischere Haltung ein, sowohl gegenüber den dortigen Lebensbedingungen, als auch gegenüber den Ereignissen in seiner Heimat, das heißt den nachrevolutionären Auseinandersetzungen. Beide entscheiden sich bewusst für das Leben in ihrer Heimatstadt - eine idyllisch geläuterte Symbiose ihrer unterschiedlichen »Reise«-Erfahrungen. (vgl. zu dem Roman das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«)
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Y aquello era, también, la grandeza y la gracia, la gallardía y el genio de Francia. En aquel emporio de sortilegio, estupefacción y encanto, erigido dentro de los muros de aquella hermosa metrópolis, franqueamos el misterio del tiempo y fuimos contemporáneos de todos los hombres. [ . . . ] / Mucho de lo que viví y vi durante aquellas jornadas todavía perdura conmigo: [...] el viaje veloz en aquel tren subterráneo que recorría diez kilómetros de la ciudad de Paris sin que nadie, desde la periferia, lo viera; el fulgor de la luz eléctrica; el descubrimiento de las aceras movedizas que transportaban a cientos de personas en pocos minutos; y la aventura de poder realizar un viaje relámpago en un simulacro del Transiberiano que, en esa época, inauguraba su insólita ruta. [...] fue entonces cuando yo descubrí [...] que en la capacidad de evocación, inspiración, transmutación y creación de cada individuo, se halla la clave para descifrar el drama nuestro y del otro.« (244f.) Der inszenierte Raum der europäischen Metropole behält seinen Stellenwert als Symbol des Fortschritts, der Moderne und der Freiheit des Individuums. Die Symbiose von europäischem Fortschrittsgeist und indigenen Traditionen scheitert, wie wir gesehen haben, insbesondere daran, dass der Raum der Sandinoschen Guerilla männlich semantisiert wird und im wahrsten Sinne außerhalb der traditionellen weiblichen Räume kein Platz ist für die Verwirklichung der Persönlichkeitsrechte der Frau. Die hermeneutische Bewegung des Romans vollzieht sich als zirkuläre, zurück nach Europa - eine literarische Bewegungsfigur, die seit den Reisen des Kolumbus dominiert.111 Gegenüber Gloria Guardias Text haben sich ein Jahr danach (wenn wir die Erscheinungsdaten der beiden Romane zugrunde legen) bzw. über hundert Jahre später (was die erzählte Zeit der Erinnerung des Dichters an die Pariser Weltausstellung in Guardias Roman angeht) die Koordinaten der literarischen Geografie bei Milagros Palma, Así es la vida (2000) völlig verändert. Wie bereits dargestellt," 2 erzählt der Roman von der Beziehung zwischen der aus Kolumbien stammenden Yolanda und ihrem französischen Ehemann Dominique, die in Paris leben. Nach achtzehn Jahren Ehe verschwindet Dominique plötzlich und ohne Erklärung. Nach drei Monaten kündigt er telefonisch seine Rückkehr an. Er wird jedoch am Tag seiner angekündigten Ankunft tot in der Toilette eines Zuges gefunden. Ähnlich wie in ihrem Roman El obispo (1997) beschränkt sich die unmittelbare Handlung auf wenige Ereignisse und Passagen des Buches: Yolanda in der Metro, in ihrer Wohnung bei der Hausarbeit und der Kindererziehung, im Leichenschauhaus, wo sie ihren toten Ehemann identifizieren muss. Die eigentlichen Geschehnisse werden in Form von Erinnerungen Yolandas (in dritter Person) erzählt. Wie der 1997 erschienene
111 1,2
Vgl. dazu ausführlich Ette, 2001: bes. 63-70. Vgl. das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«.
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Roman besteht Así es la vida aus einer Fülle von kürzeren und längeren Rückblenden, Analepsen und Analepsen in der Analepse, Träumen, Auszügen aus den Tagebüchern Yolandas, erinnerten Briefen von Dominique und Yolanda. Die erzählte Zeit der äußeren Handlung sind drei Tage (von der telefonischen Ankündigung der Rückkehr bis zur Identifizierung des toten Ehemanns im Leichenschauhaus und der Vorbereitung der Beerdigung) im Jahr 1998, »cuando el mundial de fútbol« (7), während die erzählte Zeit der Erinnerung das ganze Leben der Hauptperson umfasst. Diesen beiden Zeiten entspricht die Dichotomie der beiden Räume, in denen sich Handlung und Erinnerung vollziehen, und ihrer Semantisierung. Der äußere Raum ist das Paris Ende der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Diese Welt des alltäglichen Lebens in Frankreich ist die reinste Hölle, eine Aneinanderreihung traumatischer Erfahrungen, geprägt vom Verlust der Kommunikation (vor allem zwischen den Geschlechtern), der permanenten Verfolgung und Bedrohung der Frau durch den Mann, der Gewalt gegen Kinder, der Arbeitslosigkeit, dem Autofahren als Folter, von Krankheit und Tod. Selbst die Verschmutzung der Straßen in der französischen Hauptstadt durch Hundekot wird für Yolanda zum Trauma: »Los perros en Paris regaban diariamente toneladas de excrementos y centenares de personas entraban al hospital después de una caída.« (108) In diesem Sinne stellt der Roman Milagros Palmas eine Transgression der traditionellen Koordinaten der literarischen Geografie Europas und insbesondere der Stadt Paris innerhalb der lateinamerikanischen Literatur dar. Die französische Hauptstadt, bis weit ins zwanzigste Jahrhundert zentrales Objekt der Begierde und kulturelle Projektionsfläche der lateinamerikanischen Intelligenz, wird zu einem unbewohnbaren, kulturlosen Ort semantisiert, zu einem locus terribilis gerade für die aus Kolumbien stammende Intellektuelle aus gutem Hause. Die Rollen sind vertauscht: Während sie den Glauben an die traditionellen humanistischen Werte verkörpert, repräsentiert ihr Ehemann die Verrohung und den Verlust des Vertrauens des Alten Kontinents in sich selbst. Paris ist eine Stadt der Eile, der Dunkelheit, der Bettler, der Bedrohung, des Todes und der Zerstörung der alten Werte, eine Stadt der Entfremdung, ein Ort, dem man zu entfliehen sucht. Dagegen steht der innere Raum der Erinnerungen und der Träume Yolandas. Obwohl Yolanda fast allein das alltägliche Leben meistert und voller praktischem Lebenssinn für ihre Familie sorgt (wozu ihr Ehemann unfähig ist), lebt sie in ihrer Gefühlswelt in der Vergangenheit. Nur in wenigen Augenblicken gelingt es ihr, das Gefühl der kulturellen und individuellen Entwurzelung als lateinamerikanische Frau in Europa zu überwinden: »Eso es lo que nos separa. Los recuerdos son muy diferentes. Nosotras no podemos exponer nuestros recuerdos. Cuando nos juntamos los latinoamericanos es para hablar de nuestros países. [...] Eso sólo lo podemos compartir con la gente exiliada, por cualquiera que sea la razón.« (74) Ihre sporadische Tätigkeit für eine lateinamerikanische Exilzeitung verschafft ihr als Ausländerin, die keinen Zugang
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zur französischen Arbeitswelt findet, und als Intellektuelle, die von Gelegenheitsarbeiten weit unter ihrer Qualifikation leben muss, zumindest ansatzweise die Möglichkeit, eine eigene Identität zu finden: » [...] trabajaba de manera voluntaria en el periódico semestral latinoamericano, lo que le proporcionaba mucha satisfacción porque se sentía valorada [...] . / Todo aquello le permitía existir psicológica y socialmente, porque se mantenía en contacto con un medio bastante próximo al de sus orígenes.« (123) Und im immer weiteren Eindringen in diesen inneren Räume der Ursprünge in einem noch viel weiteren Sinn gelingt es der Protagonistin, trotz der äußeren Anfeindungen eine eigene Identität zu bewahren. Die innere Reise in die Vergangenheit, die von einer äußeren Reise zu den Amazonas-Indianern begleitet wird, lässt sie ihre eigenen - gerade auch weiblichen - Wurzeln in der mythisch-magischen Tradition der indigenen Gesellschaften finden,113 die ihr gleichzeitig einen möglichen Zukunftsraum eröffnen - jenseits des Fremdraums europäische Gegenwart.114 Während die Semantisierung des äußeren Raums als Fremdraum in eine Dekonstruktion des Mythos Paris mündet, entsteht aus der Re-Semantisierung des inneren Raums als Heimatraum ein neuer/alter Mythos der eigenen lateinamerikanischen indigenen Identität. Wie bereits erwähnt, setzt sich diese Dichotomie bis in die Struktur des Textraums fort: Die Handlung im äußeren Raum vollzieht sich linear fortschreitend, die Bewegung im inneren Raum in Form von Analepsen und Analepsen in der Analepse sowie intertextuellen Verfahren. Die topografische Bewegungsfigur hat die Form einer Linie: Die Reise der Protagonistin geht von Lateinamerika nach Europa, wo sie am Ende fremd und perspektivlos verharrt: »Yolanda despertó. Sólo entonces entendió la fugacidad de la memoria de los breves instantes de felicidad. / Su jornada
113 114
Vgl. das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«. Schon Claribel Alegría hatte in ihrem Roman Album familiar (1982) dem Mythos von der europäischen Metropole erste Kratzer verpasst. Paris, das für die Protagonistin Ximena lange Zeit ein behaglicher, zumindest nicht bedrohlicher Raum für ihr bequemes Leben in der Emigration war, wird wie schon vorher für ihren in der Sandinistischen Befreiungsfront organisierten Vetter Armando (»esta maldita Ciudad Luz«, 51) zur »ciudad de porquería« (55), im besten Falle zum Hinterland für die Unterstützung der Guerilla in Nicaragua. Der Chronotopos Zentralamerika, vorher nur in den Erinnerungen Ximenas an ihre Kindheit und Jugend und in den Nachrichten (als Vergangenheit und Fremdraum) präsent, wird zur Gegenwart, der europäische Raum zur Vergangenheit und zum Feindraum, der bestenfalls eine instrumentelle Dimension hat. Nicht zufällig beschließt den Roman ein Paratext, in dem unter der Überschrift »Epílogo« die Nachricht von Somozas Flucht aus Nicaragua am 18. Juli 1979 wiedergegeben wird - eine Prolepse, die keinen Zweifel an den verschobenen Koordinaten der literarischen Geografie lässt. Die lineare topografische Bewegung der Emigration wird überlagert von der zirkulären hermeneutischen Bewegung des politischen Engagements, (vgl. zu dem Roman auch die Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« sowie »Diagonale: Literatur und Revolution«)
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estuvo enteramente dedicada a conseguir el dinero para el ataúd y los gastos del funeral [...] .«(175) Dagegen verläuft die hermeneutische Bewegung als Kreis: Nur in ihrer fortwährenden Rückbeziehung auf Lateinamerika kann sich Yolanda als Person mit eigener Identität definieren, bei jedem ihrer Schritte im äußeren Fremdraum der französischen Hauptstadt ist der Heimatraum Lateinamerika als innerer Raum präsent. Allerdings lässt der Roman offen, ob dieser innere Raum schließlich wieder seine Entsprechung im äußeren findet, indem Yolanda auch in den physischen Raum Lateinamerika zurückkehrt. Diese Leerstelle des offenen Romanendes versieht diesen textinternen Ort nicht nur mit einer herausgehobenen Bedeutung, sondern lässt den gesamten Textraum des Romans zum offenen, vom Leser mit Bedeutung zu füllenden werden. Milagros Palmas Text steht in diesem Zusammenhang paradigmatisch für eine Reihe von Romanen, die als Literatur der Migration bzw. des Exils bezeichnet werden können." 5 Für viele dieser Romane gilt, dass die hermeneutische und oft auch topografische Bewegungsfigur des Kreises die bestimmende ist, in manchen Fällen auch das Pendeln. In zahlreichen Romanen wird die Handlung (zumindest zum Teil) als Reise bzw. vielfaltige Reisen erzählt, die oft bis in die Romantitel paratextuell präsent sind."6 In dem ersten Roman von Hermán Ríos, Las burlas de la vereda infinita (1996), verlässt der Protagonist Abel Condesoto aus politischen Gründen das vorrevolutionäre Nicaragua, um nach der Revolution auf der Suche nach der im Exil verloren gegangenen Identität in das sandinistisch regierte Nicaragua zurückzukehren, wo er angesichts der tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen ebenfalls ein Fremder bleibt. Der topografische Kreis schließt sich, nicht so jedoch der hermeneutische. Dagegen finden seine beiden Söhne und die geschiedene Ehefrau in einer linearen Bewegung einen neuen Heimatraum in den USA, während seine Tochter Isabel in einer inner-nicaraguanischen Kreisbewegung von der Stadt über die Guerilla in den Bergen wieder in die Stadt als Präsidentschaftsministerin der neuen Regierung ihren Platz im neuen Heimatraum/Zukunftsraum findet. In Milagros Palma, El obispo (1997) versucht der Protagonist Leonardo Ramírez, der in die USA emigriert ist, sich ohne Wenn und Aber an die neuen Bedingungen zu assimilieren. Aber seine Vergangenheit ist immer präsent, sei
115
Vgl. Arellano (1997: 139f.), der von »la novela del exilio« spricht, allerdings seine kurzen Bemerkungen auf einige wenige Texte und die Migration aus politischen Gründen (während der sandinistischen Regierungszeit) beschränkt. Wie schon im Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« dargelegt, sind die Gründe für die Migrationsbewegungen wesentlich vielfältiger, wie sich auch ihre literarischen Repräsentationen nicht auf politische Aspekte eingrenzen lassen. 116 vgl. auch oben (Fußnote 110) den Roman El viaje de la vida (1997) von Martine Dreyfus.
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es in den Zahlungen, die er monatlich an seine Mutter in Nicaragua leistet, oder in den Telefongesprächen mit ihr, sei es in den nie abreißenden Erinnerungen an Kindheit und Jugend in Nicaragua, die sich durch das ganze Buch ziehen. Im Gefängnis wird ihm für eine kurze Zeit die Herkunft wieder zu einer möglichen Quelle seiner Identität: » E n la cárcel Leonardo descubrió la importancia de su lengua materna que tanto había querido olvidar en aquellos años de su adolescencia cuando pisó tierra norteamericana [...] . Hablaba en español con los latinos que eran menos que los negros. Esto le permitió sentirse perteneciendo a una comunidad porque encontró una hermandad que alivió un poco su orfandad.« (129) Wieder in die Freiheit und das US-amerikanische Alltagsleben zurückgekehrt, wird diese Identitätsfindung
erneut
unmöglich. Auch in seinem topografischen Pendeln zwischen den U S A und seinem Geburtsland scheint diese Rückbeziehung auf die verlorene Identität auf; der Kreis schließt sich jedoch nicht, er bleibt ein Fremder in der Fremde USA."7
Der Protagonist in Roger Monge Zelaya, El viaje (1998), wandert aus privaten Gründen (die allerdings einen politischen Hintergrund haben) in die U S A aus, wird in die US-Armee eingezogen, kämpft im Zweiten Weltkrieg in Taiwan und Japan und im Koreakrieg und verliebt sich in die Taiwanesin Min Lu, die er heiraten will, deren Eltern jedoch als Spitzel im Dienst der chinesischen Revolution enttarnt werden, was zur Deportation der Familie nach Hongkong führt. Immer wieder wird im Text das schon im Titel des Romans angesprochene Motiv der Suche aufgenommen. Der Erzähler/Protagonist, offensichtlich dem Alkohol verfallen, von seiner Geliebten getrennt, von seiner Heimat entfernt, ist auf der Suche nach sich selbst: »Iba en busca de mí mismo, como el soldado desconocido, al encuentro de lo ignoto, solo, buscando una respuesta ... Repuesta que aún no he encontrado, y menos aquí, tendido, olvidado y queriendo olvidar ... « (42) A m ehesten findet er diese Identität in den Erinnerungen an das ländliche Nicaragua, das Matagalpa seiner Kinder- und Jugendtage. Hier zeichnet der Erzähler ein liebevolles, fast idyllisches Bild des Lebens auf dem Lande im Nicaragua der dreißiger und vierziger Jahre, von der Schönheit der Natur und dem friedlichen Zusammenleben der multikulturellen Gemeinschaft der aus Indios, Mestizen und europäischen Einwanderern bestehenden Bevölkerung Matagalpas - eine, wie der Erzähler nicht ohne Stolz hervorhebt, für das damalige Nicaragua einzigartige Vermischung von Kulturen, Traditionen und Gewohnheiten. Die zirkuläre Rückbeziehung auf einen idealisierten Raum der Vergangenheit bleibt omnipräsent, einziger Heimatraum bei der Reise durch die unterschiedlichen Fremdräume
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Im Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« habe ich dargestellt, wie er Restbestände seiner ursprünglichen Identität zu retten versucht, indem er auf den machismo seiner Herkunftsgesellschaft rekurriert - auch das eine Art von (regressiver) Kreisbewegung.
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der Gegenwart." 8 Schließlich überlagern sich in Bayardo Tijerino Molina, Crönica de Fin de Siglo. La novela de los conflscados (1998) zwei topografische und hermeneutische Kreisbewegungen. Die beiden Protagonisten des Romans, Rafael Suärez und Macario Vargas, fliehen aus politischen Gründen aus dem sandinistischen Nicaragua in die USA, von wo aus sie an der Organisierung der Contra mitarbeiten. Nach dem Ende der sandinistischen Regierungszeit nach Nicaragua zurückgekehrt, scheitern sie in ihrem Bemühen, die Rückgabe ihrer enteigneten Ländereien bzw. Häuser zu erreichen, an den veränderten gesellschaftlichen Strukturen und den nachrevolutionären Machenschaften. Geschlagen und enttäuscht kehren beide in einer erneuten Kreisbewegung nach Miami zurück. In der ersten Kreisbewegung Nicaragua-Miami-Nicara-
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In einem dem Haupttext vorangestellten Paratext mit dem Titel »La historia« werden die historischen Fakten geschildert, auf die sich der Hauptstrang der Handlung bezieht - »los Hechos tal y como realmente sucedieron« (7): die Ermordung eines Mannes und die Rache seiner Ehefrau, die den Mörder ihres Ehemannes während der Gerichtsverhandlung tötet, sowie die Veränderungen, die diese Ereignisse im Leben eines Dorfes in den Bergen im Norden Nicaraguas »hace unos cincuenta y tantos años« (7) hervorrufen. Scheinbar als persönliche Erinnerung erzählt, weist der Autor jedoch in diesem Paratext auf den fiktionalen Charakter des Buches hin: Über die geschilderten Fakten hinaus sei die Erzählung Produkt der Imagination des Autors, der sich auf die orale Oberlieferung stütze, denn zum Zeitpunkt der Ereignisse sei er ein Kind gewesen und habe sie noch nicht bewusst erlebt. Diese orale Tradition sei aber keineswegs so objektiv, wie oft angenommen werde, »dependiendo de si el narrador había sido de los unos o de los otros« (7). Die Vorbemerkung schließt mit der Feststellung: »Cualquier parecido o similitud con personas o sucesos narrados, es mera coincidencia.« (7) In dem aus dreißig Kapiteln bestehenden Haupttext wird die Geschichte dieses doppelten Mordes in dem aus vielen Hinweisen unschwer als Matagalpa zu erkennenden Ort im Norden Nicaraguas (in dem der 1932 in Esteli geborene Autor aufwuchs) in den vierziger Jahren aus der Sicht des Sohnes (= der Erzähler/Autor) des ersten Toten erzählt (durchweg in der ersten Person). Diese Ereignisse, die offensichtlich einen nicht näher erklärten politischen Hintergrund hatten (der Vater wird als »Conservador« und sein Mörder als »Liberal« bezeichnet), münden in eine jahrzehntelange Spaltung des Dorfes in zwei verfeindete Lager, die erst durch eine im letzten Kapitel geschilderte Flugzeugkatastrophe in der Nähe des Dorfes überwunden wird. Sie führen aber auch zu einer Solidarisierung von Frauen und der feministischen Bewegung in Nicaragua und auf internationaler Ebene mit der Mörderin des Mörders ihres Ehemannes (= die Mutter des Erzählers/Autors), die schließlich im August 1942 vor Gericht freigesprochen wird: »un acontecimiento que haría historia en mi pequeña Patria: la Emancipación de la Mujer« (116), kommentiert der Erzähler. Vermischt mit dieser Geschichte wird die Auswanderung des Erzählers. In zahlreichen Rückblenden werden außerdem Ereignisse aus der Geschichte des Dorfes erzählt, von der Conquista über den Indioaufstand 1881 bis in die jüngere Vergangenheit, aber auch aus der Geschichte Nicaraguas, wie zum Beispiel vom Kampf Rafaela Herreras gegen die englische Invasion im Jahr 1762 und von der zweiten englischen Invasion unter Nelson im Jahr 1780. Hinzu kommen die Erinnerungen eines Nicaraguaners aus Boaco, den der Erzähler als Passfälscher in Hongkong trifft, an seine Zeit in der französischen Fremdenlegion und an das Boaco seiner Kindheit und Jugendzeit. Schließlich finden sich Reflexionen des Erzählers über das Soldatentum, die Demokratie, die Auseinandersetzung zwischen den USA und der Sowjetunion und den Kalten Krieg.
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gua ist Miami Zufluchtsort zum Schutz vor der Revolution, strategischer Ausgangspunkt des Kampfes gegen die revolutionären Ungerechtigkeiten und Durchgangsstation auf dem Weg der Rückkehr in den nachrevolutionären Zukunftsraum des Vaterlandes Nicaragua. Die zweite Kreisbewegung MiamiManagua-Miami vollzieht sich umgekehrt: Die US-amerikanische Stadt wird zum letzten Zufluchtsort gescheiterter Existenzen, ohne Hoffnung auf Wiedergewinnung ihrer einstigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Stellung - eine durchweg düstere Perspektive fur das »alte Nicaragua« am Ende des Jahrtausends, wie es der Titel des Romans paratextuell beschwört.'" Es ist offensichtlich, dass in allen diesen Romanen die traditionellen Raumwahrnehmungen und -darstellungen ihre Identität stiftende Kraft verloren haben, sowohl in individueller als auch in kollektiver Hinsicht. Weder die traditionelle Zuflucht im europäischen Raum, noch die enttäuschte Rückkehr in den (oft erneut mythisch belebten) lateinamerikanischen Raum oder die Besetzung des nordamerikanischen Zukunftsraums, der in vielen Fällen (insbesondere in der Literatur der Migration) den europäischen Raum ersetzt, sind sichere Orte fur die Herausbildung einer fixen Identität.
Vom Raum im Text zum Text ohne Raum? Die in diesem Kapitel unternommene Reise durch die literarische Geografie einer Reihe von in den achtziger und neunziger Jahren erschienenen nicaraguanischen Romanen, die sich vorrangig entlang des Studiums einiger binärer Beziehungen vollzogen hat (Stadt und Land, Pazifik und Karibik, Nation und Region, Haus und Welt/Mann und Frau, Europa und Amerika), lässt den Schluss zu, dass der geografische Raum seine eindeutige und unbestrittene Rolle bei der literarischen Konstruktion kollektiver und individueller Identitäten verloren hat. Die engen Bande zwischen kognitiv-literarischen Räumen und Identitätskonstruktionen lösen sich auf, der literarische Raum präsentiert sich als fragmentierter, voller Zweideutigkeiten und Unsicherheiten. Auch in der narrativen Repräsentation von Raumwahrnehmung und der Semantisierung von Räumen ist das Ende der großen für die nationale Identität konstitutiven »Meistererzählungen« zu konstatieren. Es ist offensichtlich, dass das Land/die Berge die führende Rolle, die sie für lange Perioden der nicaraguanischen Literatur (vom Kostumbrismus und Regionalismus über die vanguardia bis zur Testimonialliteratur) bei der literarischen Konstruktion kollektiver und individueller Identitäten innehatten, ver-
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Vgl. zu diesen Romanen auch die Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« sowie »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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loren haben. Die Stadt scheint das Zentrum zu sein, in dem die nationale Identität verhandelt wird, wie die salvadorianische Literaturwissenschaftlerin Beatriz Cortez in einem Essay über die jüngste zentralamerikanische Erzählliteratur schrieb: »En la actualidad, el corazön de la cultura centroamericana parece ser la ciudad.« (Cortez, 2000: 5)120 Gleichzeitig hob die Autorin den doppelgesichtigen und doppeldeutigen Charakter der Stadt hervor: Sie ist auch ein locus terribilis, der die Herausbildung eigener, unverwechselbarer Identitäten einschränkt, erschwert und gar verhindert, ein Ort, der den Individuen nur erlaubt, bruchstückhafte Versionen ihrer Identität zu entwickeln, (vgl. ibid.) Auch was die Dichotomie der großen ethnisch-kulturellen Räume der Pazifikregion und der Karibik angeht, die in der Geschichte Nicaraguas höchste Bedeutung für die Konstruktion von Identitäten hatten (vor allem über Prozesse des erzwungenen und oft gewaltsamen Ausschlusses/Einschlusses), kann festgestellt werden, dass sich in der jüngsten Romanliteratur die engen Bindungen zwischen dem geografisch-ethnisch-kulturellen Raum und der Konstitution von Identität aufzulösen beginnen. Mit Blick auf die konfliktreiche Beziehung zwischen der Nation/dem Nationalismus und der Region/dem Föderalismus bzw. Unionismus in der Geschichte Zentralamerikas ist deutlich geworden, dass die großen nationalistischen Projekte für die zeitgenössische nicaraguanische Romanliteratur besonders ab den neunziger Jahren ihre strategische Bedeutung eingebüßt haben. Allerdings stellt sich auch der zentralamerikanische Raum in der narrativen Repräsentation als ein fragmentierter, widersprüchlicher, polyvalenter dar. An die Stelle der nationalistischen Erzählungen ist bisher kein »postnationalistisches« Projekt getreten, das den alten Diskurs von der nationalen Befreiung und vom Nationalstaat ersetzen würde. Ebenso wenig bieten die traditionellen geschlechtsspezifischen sowie die auf der dichotomisch-symbiotischen Wechselbeziehung von Europa und Amerika beruhenden Wahrnehmungen und Semantisierungen von Räumen im jüngsten Roman eine Garantie für sichere literarisch-geografische Orte, ihre überlieferten Festlegungen und Grenzziehungen werden vielfach transgrediert. Auch unter dem Aspekt des Verhältnisses von Raum und Text kann also von einer Individualisierung der Raumwahrnehmung und des Raumbewusstseins gesprochen werden. Zunehmend gewinnen die inneren und imaginären Räume in der Aneignung außerliterarischer Wirklichkeit und ihrer narrativen Repräsentation und Präsentation an Bedeutung. Es scheint, als ob die Suche nach einem Identität konstituierenden Raum unter den postkolonialen Bedingungen und denen der Globalisierung - die für einen Teil der zentralamerikanischen Staaten, insbesondere ja auch für Nicaragua, Nachkriegsverhältnisse
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Vgl. zu dieser Arbeit die Fußnote 5 im Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«.
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sind - ihren einzigen, zumindest vorrangigen Ausweg in einer Reise durch die inneren/intimen, imaginären, anonymen Räume und die Orte des Traums sind. Behält der Begriff des Raums angesichts dieser Entwicklung überhaupt noch einen Stellenwert für die (nicaraguanische) Literatur bzw. die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihr? Erleben wir nicht, wie Ethel Garcia im Vorwort zu dem von ihr herausgegebenen Sammelband Fronteras: espacios de encuentros y transgresiones schreibt, eine »desterritorialización de la idea de cultura« (García, 1998: 7)? Kommt uns nicht, wie Ottmar Ette in seiner Studie Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika fragt, angesichts von »immer rascheren Modernisierungsschüben« der Raum immer mehr abhanden, muss nicht gar von einem künftigen »Verschwinden des Raumes« (Ette, 2001: 13) gesprochen werden? Für die nueva novela hispanoamericana hatte Andrea Mahlendorff unter explizitem Verweis auf die Romane Juan Carlos Onettis und Julio Cortázars eine »Ablösung der literarischen Figuren von ihrer konkreten geographischen Umwelt durch den Übertritt in eine imaginäre Welt des Traums« (Mahlendorff, 2000: 282) festgestellt und gefragt, ob damit Räumlichkeit und Raumbindung für die Literatur ihre Bedeutung verlören: »Dem ist jedoch keineswegs so [...] Der Übertritt bzw. die Flucht der Figuren in eine von ihnen selbst geschaffene Welt der Imagination zeugt von dem [...] problematischen Raumbewußtsein der Figuren, die nach einer dauerhaften Bindung an den Raum suchen. Ein Heimatraumbezug [...] wird von den Autoren surrealistischer Provenienz ins Irreale und in die Innerlichkeit überführt. Das geographische Element tritt damit zwar in den Hintergrund, ohne jedoch die Bedeutung der Räumlichkeit und der Suche nach Raumbindung für die Literatur Lateinamerikas herabsetzen zu können.« (ibid.: 282f.)
Etwas Ähnliches scheint für die lokalen, regionalen, individuellen, alltäglichen, entfremdeten Räume in den hier untersuchten nicaraguanischen Romanen Ende des 20. Jahrhunderts zuzutreffen. Ottmar Ette spricht in Antwort auf seine Frage von einer - nur scheinbar - paradoxen Gleichzeitigkeit zweier Entwicklungen: Auf der einen Seite werde der Raum durch die ständige Ausdehnung unserer Bewegungsmöglichkeiten immer kleiner und tendiere der empirische Raum durch die Verbindung der unterschiedlichsten Räume der Erde in der virtuellen »Beinahe-Gleichzeitigkeit via Internet oder Satellit« (Ette, 2001: 14) gegen null. Auf der anderen Seite eröffneten sich dadurch neue Räume: »Doch simultan zu dieser seit Ende des 18. Jahrhunderts beschleunigten Entwicklung [einer Homogenisierung des Raums; W.M.] haben sich neue kulturelle Räume herausgebildet, die nicht im Zeichen wachsender Ent-Differenzierung, sondern neuer Differenzierungsphänomene stehen. [...] Daher scheint mir die Problematik von Raumbildungsprozessen nicht zuletzt auch für die derzeit sich entfaltenden und künftig geschriebenen Literaturen und die Wissenschaften, die
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sich ihnen zuwenden und von ihnen lernen wollen, von so entscheidender Bedeutung.« (ibid.: 15)
Diese Tendenz, so hat die in diesem Kapitel unternommene hermeneutische Reise ergeben, manifestiert sich im jüngsten nicaraguanischen Roman in einem Bedeutungsverlust der Darstellung physisch begehbarer, geografischer Räume und ihrer semantischen Funktionalisierung für die literarische Konstruktion nationaler Identität. Dagegen rücken die Semantisierung individualisierter, fragmentierter, innerer, imaginärer Räume und die Räumlichkeit des Textes selbst ins Zentrum. Darin drückt sich ein bedeutender Wandel innerhalb der erzählenden Prosa Nicaraguas aus. Die Verstehensreise dieses Kapitels, die auf das Verhältnis von Raum und Text im zeitgenössischen nicaraguanischen Roman abzielte, vollzog sich im Wesentlichen synchron. Der Wandel in diesem Verhältnis tritt umso deutlicher zutage, wenn wir diesem synchronen Verfahren einen kurzen diachronen Blick folgen lassen und einige literarhistorische Aspekte einbeziehen. Für die Frühphase des nicaraguanischen Romans im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts waren, wie bereits kurz erwähnt,121 die Darstellung und Semantisierung der europäischen Räume bestimmend. Noch bis ins 20. Jahrhundert prägte diese Literatur des Kostumbrismus die Übernahme europäischer Verhaltensmuster und ästhetischer Kriterien, die der so ganz anderen einheimischen Wirklichkeit übergestülpt wurden; die ländliche tropische Welt wurde semantisiert als ein Reich des Fremden und Romantischen, als idyllisches Arkadien, gesehen »von oben« aus der Sicht der herrschenden Schicht der criollos.l22 Erst mit der Entwicklung des Regionalismus ab den zwanziger Jahren rückte diese bäuerliche Welt ins Zentrum der Erzählung (insbesondere des cuento und der novela criollista). Mit der Entdeckung des Raums der Region einher ging die Wahrnehmung des bäuerlichen Raums und seine Semantisierung als konstituierend für eine zentralamerikanische bzw. nicaraguanische Identität, wobei weiterhin die Idylle überwog.123 Noch im sozialkritischen
121 122 123
Vgl. das Unterkapitel »Europa und Amerika: Fremdraum und Eigenraum«. Vgl. dazu Ramírez, 1985: 45-49; Arellano, 1997d: 95f„ 120-124; Mondragón, 1989: 59-76. Sergio Ramírez (1985: 50f.) spricht von einer »larga y viciosa peregrinación hacia la choza campesina y los poblados indígenas, duelos a machete, fiestas religiosas, velorios, rogativas, como parte de un folklore que arrastra consigo las leyendas de aparecidos y los cuentos de camino y trata de recrearlos [...]«. Diese ländliche Welt werde seit damals und noch für lange Zeit »desde el palco de arriba« (ibid.: 48) gesehen. Dem entspricht, wie im Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität« ausgeführt, die Sicht »von außen« auf die indigenen Traditionen und Kulturen, (vgl. dort das Unterkapitel »Innensicht und Außensicht«) Jorge Eduardo Arellano sieht den Einfluss des Regionalismus, der um eine Konstante kreise: »el submundo del campesino, propio de una sociedad predominantemente rural como la nicaragüense« (Arellano, 1997d: 98), noch bis in die fünfziger Jahre in der nicaraguanischen Literatur als dominierend. Noch in den neunziger Jahren sind kostumbristische und regionalistische Elemente
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Roman, der sich ab den dreißiger Jahren entwickelte und eine nationalistische, gegen die US-Interventionen gewendete Stoßrichtung annahm, blieb der jetzt mit seinen sozialen Widersprüchen, ökonomischen und politischen Gewalt-
der Repräsentation und Präsentation von Raum im nicaraguanischen Roman festzustellen, worauf ich schon bei dem Roman des gerade genannten Autors Jorge Eduardo Arellano, Timbucosy calandracas (1996) hingewiesen habe. (vgl. das Kapitel » Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«) Julio Centeno Gómez schildert in Atentado en el río (2000) in ausführlichen kostumbristisch-regionalistischen Beschreibungen die Landschaft am Rio San Juan und des großen Nicaraguasees, Flora und Fauna, aber auch die Menschen der Region und ihre Sitten und Gebrauche. Diese Passagen werden in der Form von Reisebeschreibungen auf dem Fluss und dem See und zum größten Teil als Erinnerungen (Analepsen) der beiden Hauptpersonen, aber auch anderer Romanfiguren, an ihre Kindheit und Jugend erzählt. Sie lassen ein idyllisches Bild der Landschaft, ihrer Bewohner und der sozialen Verhältnisse der Region entstehen, etwa in einem Loblied auf die Arbeit der Bootsleute auf dem See und der die Brechwurz anbauenden »raicilleros«, oder den schwärmerischen Erinnerungen an die jungen Mädchen am See und die ersten Liebesabenteuer sowie das familiäre Leben. Dieser traditionellen Erzählweise entsprechen auch die zahlreichen ausführlichen Personenbeschreibungen. Die Region des Rio San Juan, zentraler Schauplatz der Handlung, ist also im Wesentlichen ein idyllischer Raum der Vergangenheit, dessen Jungfräulichkeit und Schönheit erinnert werden. In der Gegenwart jedoch wird er von einem Regime der sozialen Ungerechtigkeit und der politischen Unterdrückung sowie von der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch einheimische Großgrundbesitzer und ausländische Mächte vergewaltigt und wird zum Kriegsgebiet im Kampf zwischen der Guerilla und der Diktatur. Nicht von ungefähr findet Marco Antonio, der eine der beiden Protagonisten, auf seinem geliebten Fluss (nicht zufällig ist sein Familienname »del Rio«) den Tod - daher der Titel des Romans - , der seine Unschuld endgültig verliert, als er sich mit dessen Blut und dem seines Begleiters tränkt: »Marco Antonio se encontró de subito en las aguas del río, solo, aturdido, desorientado, a su lado flotaba a la deriva sobre un pedazo de casco destrozado, el cuerpo ensangrentado de Leonardo con los ojos volteados [...]« (182) / »El disparo tronó por toda la selva levantando bandadas de aves de las riveras y los llanos. / La cabeza de Marco Antonio del Río se sacudió con violencia y una rosa roja estalló en su frente destiñéndose lentamente en la correntada.« (185) (vgl. zu dem Roman auch das Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«) Auch Luis Favilli rekurriert in seinem Roman Aquí estoy (1997) auf kostumbristisch-regionalistische Erzählmuster. Die erzählte Zeit des Romans, so ergibt es sich aus zahlreichen politischen Anspielungen (Sandinismus, Contra etc.), bezieht sich auf eine nicht näher bestimmte Zeitspanne in den achtziger und neunziger Jahren. Hauptschauplatz der Handlung ist die nicaraguanische Region Chontales, gelegentliche Reisen führen in die Karibikregion, die Hauptstadt Managua, nach Mexiko, Costa Rica und Europa. Erzählt wird die Geschichte des »mulato Karonte Luna, Médico y Cirujano« (11). Karonte Luna ist eine Art prototypischer Figur, die Züge des Landarztes mit denen eines dörflichen Originals im nicaraguanischen Hinterland verbindet und nicht frei von Klischees ist: Leibesfülle, Bauernschläue, Trinkfestigkeit, Hang zur Faulheit, machismo sind Eigenschaften, die im Allgemeinen dem Durchschnittsnicaraguaner zugeschrieben werden. Das Buch besteht im Wesentlichen aus einer zum Teil zusammenhanglosen (und nur durch die Hauptpersonen verbundenen), zum Teil fortlaufenden Aneinanderreihung von Geschichten aus dem Leben Karonte Lunas. Im Stil von Anekdoten werden ausführlich die oft ungewöhnlichen medizinischen Behandlungsmethoden des Arztes und die Sitten, Gebräuche und täglichen Leiden wie Freuden der armen und ärmsten Landbevölkerung geschildert, bis hin in die für ein kleines nicaraguanisches Dorf typischen Autoritätsbeziehungen: Das »Petit Comité« aus Pfarrer, Kommandant, Bürgermeister, Arzt und anderen hat die Fäden fest in der Hand und bestimmt
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Verhältnissen dargestellte bäuerlich-ländliche Raum wichtigste Quelle bei der Suche nach einer eigenen Identität.124 Die Region wurde, wie Amelia Mondragón schreibt, zum Schauplatz und zur Vermittlungsinstanz zwischen dem Traditionellen und dem Modernen, Natur und Zivilisation, dem Autochthonen und dem Fremden.125 Erst ab Ende der sechziger Jahre zeichnen sich grundlegende Veränderungen ab: Insbesondere mit den Romanen Trágame tierra (1969) von Lizandro Chávez Alfaro und Tiempo de fulgor (1970) sowie ¿Te dio miedo la sangre? (1977a) von Sergio Ramírez kommt zunehmend die Stadt in den Blick, Raumwahrnehmung und Raumdarstellung entziehen sich der Funktionalisierung für eine eindeutige kollektive/nationale/ nationalistische Semantisierung, der Text selbst wird zum dynamischen, generativen Raum einer Literatur, die bewusst mit den traditionellen Koordinaten der literarischen Geografie bricht.126 Wie in diesem Kapitel dargestellt, wird diese
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die Geschicke des Dorfes. So entsteht trotz der geschilderten harten Bedingungen, unter denen die Bevölkerung lebt, ein idyllisches Bild des Landlebens, wie es aus der Tradition des Regionalismus bekannt ist. Dem entspricht auch eine Fülle von Begriffen aus dem Wortschatz des ländlichen Nicaragua, der immer noch stark von aus den Indianersprachen (vor allem dem náhuatl) stammenden Elementen geprägt ist. (Ein Glossar mit der Erklärung der wichtigsten Wörter und Konstruktionen ist dem Buch als Anhang beigefügt.) Wie in der regionalistischen Erzähltradition durchzieht das Buch ein Unterschied bzw. Gegensatz von Stadt und Land. Nicaragua ist das Leben auf dem Land, trotz der schwierigen Bedingungen ein Leben voller Harmonie und im Einklang mit der Natur. Selbst die gelegentlichen Reisen in die Berge und in die Karibikregion mit ihren überwältigenden, ja bedrohlichen Naturgewalten reihen sich in die idyllische Schilderung des ländlichen Lebens ein, ethnische und kulturelle Differenzen werden nicht sichtbar. Die nicaraguanische Identität liegt auf dem Land, dagegen wird die Stadt, insbesondere Managua, als fremd empfunden; sie gehört einer anderen Welt an, einer Welt der Politiker, Diebe und Prostituierten. Eigentliches positives Gegenbild zum nicaraguanischen Land sind dagegen die europäischen Städte, die von einer Abordnung der durch Goldfunde reich gewordenen Dorfbewohner (darunter Dr. Karonte Luna) bereist wird, unter anderem um dort Teile des Goldes zu verkaufen. Die Bewunderung für die technische und kulturelle Entwicklung in den industrialisierten Städten des Nordens ist bei den Reisenden schier unendlich und Vorbild für die eigene Zukunft. Das Buch reproduziert also auch in diesem Zusammenhang eine Reihe von Stereotypen, die für die kostumbristische Literatur typisch waren. Vgl. dazu Acevedo, 1982: 273-278 (zu Zentralamerika allgemein) und 295-341 (zu Nicaragua); Osses, 1986: 72-93. In Abgrenzung von Arellano und von der verbreiteten Verwendung des Begriffes Regionalismus in Zentralamerika für literarische Produktionen, in deren Zentrum die bäuerliche Welt steht, spricht Amelia Mondragón von der Entstehung des Regionalismus in der nicaraguanischen Literatur erst ab der bewaffneten US-Intervention in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre und in Verbindung mit der Veröffentlichung von literarischen Texten, die in einem engen Zusammenhang mit der Herausbildung eines intellektuellen Nationalismus stehen, (vgl. Mondragón, 1989: 57) Vgl. Arellano, 1997d: 98-100, 124-129; Mondragón, 1989: 38-41, 100-147 und bes. 147-178. Vgl. Mondragón, 1989: 233, 257-293. Dies trifft in höchstem Maße zu auf Sergio Ramírez' Roman ¿ Te dio miedo la sangre? (1977a), der bis in seine Textstruktur aus der simultanen Präsenz vielfaltiger ineinander montierter Räume besteht, die sich erst in der Rezeption des
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Entwicklung in den siebziger und vor allem den achtziger Jahren zunächst überlagert vom testimonio-Diskurs, der erneut das Land als Heimatraum der (neuen) Nation konstruiert und zu traditionellen Formen der Raumdarstellung und -semantisierung zurückkehrt.127 Mit der Abenddämmerung des testimonio-Diskurses im Niedergangsprozess des revolutionär-nationalistischen Projekts zeichnet sich wie gesehen die Stadt immer deutlicher als zentraler Ort der literarischen Geografie ab, werden die engen nationalistischen Semantisierungen der Räume transgrediert und wird der Text selbst zu einem vielfaltig genutzten und besetzten Raum. Offenbar erlebt die nicaraguanische (Roman-)Literatur Ende der Achtziger und insbesondere in den Neunzigern eine politisch-kulturelle Wendezeit, die sich auch in veränderten Formen der Raumwahrnehmung bzw. des Raumbewusstseins und ihrer literarischen Repräsentation und Präsentation niederschlägt.128 Das Eigene und das Fremde vermischen sich, der geografische Raum taugt nicht mehr zur Konstruktion fester Identitäten, Raumsemantisierung und räumliche Metaphern verweigern sich der Vereinnahmung durch national(istisch)e Großprojekte. In einem beachtenswerten Aufsatz hat Fernando Ainsa als Kern der kulturellen Identität ausgemacht, sie sei »el producto del 'cultivo' de un territorio que genera comportamientos e imprime 'señas' en la que se reconocen los miembros de una comunidad, conciencia de semejanza (lo idéntico y compartido)« (Aínsa, 1998: 20). Dieser traditionelle Begriff von Identität, verstanden als autonomes, kohärentes Universum, das sich äußeren Einflüssen verschließt, könne nicht mehr aufrechterhalten werden:
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Lesers zu einem Raum- und Bedeutungsganzen schließen, (vgl. dazu Rauße, 1995: bes. 147156; Mondragön, 1989: 293-330) Es gilt aber auch, zumindest was die zunehmende Urbanisierung des literarischen Raums angeht, für zahlreiche andere Romane dieser Zeit. (vgl. dazu die Unterkapitel »Stadt und Land 1: Profaner und mythischer Raum«, bes. die Fußnote 40, sowie »Stadt und Land 2: Zukunftsraum oder locus terribilis?«) Vgl. das Unterkapitel »Stadt und Land 1: Profaner und mythischer Raum«. Aus heutiger Sicht lässt sich diese Phase des politisch-kulturellen Umbruchs am Ende des 20. Jahrhunderts in Zentralamerika in ihrer Bedeutung kaum auf eine Stufe mit den drei historischen Wendezeiten stellen, die Andrea Mahlendorff ihrer Studie zugrunde legt (die Conquista, die naturwissenschaftliche Durchdringung Lateinamerikas sowie die Unabhängigkeitbewegungen und die Nationalstaatsbildung). Erst spätere Generationen werden erkennen können, ob diese Umbruchsituation in der Region (mit ihren sozialen Umwälzungen, Naturkatastrophen und den Folgen der Globalisierung) von ihrer Tragweite und historischen Dimension her ein »Zeitalter« ist, in dem »gewaltige ökonomische und gesellschaftliche Bewegungen entstehen, die die Menschen dazu zwingen, ihr kulturelles Leben neu zu ordnen und zu definieren«, wie Bernd Thum schreibt (1990: 163; zit. n. Mahlendorff, 2000: 23). Dasses in der Geschichte der Region eine Epoche ist, in der »bedeutende themenreiche Texte entstehen«, die »helfen, das vielschichtige und komplexe Erbe ihrer Zeit zu erkennen« (ibid.), dafür dürfte die vorliegende Studie einen Beleg erbringen.
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»Lo distintivo ya no es siempre sinónimo de homogeneidad y no coincide necesariamente con un territorio determinado. [...] Las identidades no son impermeables las unas a las otras. [...] Una reformulación de los parámetros identitarios se impone, pues, a partir de la pérdida de esa igualdad fundamental y de la crisis de las nociones de organicidad y de pertenencia.« (ibid.: 20f., vgl. 28)12® D e r z e i t g e n ö s s i s c h e n i c a r a g u a n i s c h e R o m a n p r ä s e n t i e r t s i c h als O r t d e r u n b e w o h n t e n U t o p i e , in d i e s e m S i n n e lässt e r s i c h j e n e n » L i t e r a t u r e n o h n e f e s t e n W o h n s i t z « z u r e c h n e n , d i e O t t m a r E t t e ( 2 0 0 1 : 10) als p r ä g e n d f ü r d i e E r z ä h l k u n s t d e s 2 1 . J a h r h u n d e r t s v o r a u s s i e h t . V o m R a u m i m Text z u m Text o h n e R a u m ? Ja, w e n n R a u m als e i n d e u t i g e Identität s t i f t e n d e I n s t a n z v e r s t a n d e n wird, a b e r a u c h h i n z u m Text als O r t v i e l f a l t i g e r R ä u m e , z u m Text als R a u m .
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Der Aufsatz wurde in dem von der Escuela de Estudios Generales der Universidad de Costa Rica herausgegebenen Band Fronteras e identidades (1998) publiziert. Dort finden sich weitere aufschlussreiche Arbeiten zumThema, insbesondere die Aufsätze von Alain Sicard, Nelly Arenas und Néstor García Canclini.
III - Carretera Sur
»Ich möchte deshalb meine These dahingehend präzisieren, daß die Neue Unübersichtlichkeit zu einer Situation gehört, in der eine immer noch von der arbeitsgesellschaftlichen Utopie zehrende Sozialstaatsprogrammatik die Kraft verliert, künftige Möglichkeiten eines kollektiv besseren und weniger gefährdeten Lebens zu erschließen.« Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit
Diagonale Literatur und Revolution »Si hombre, yo creo que este país necesita cambios. [...] Fijóte qué con un alto porcentaje de juventud fumando marihuana botas un gobierno. Y lo hacés socialista, fi'ate que el quemón se siente igual a todos.« Carlos Alemán Ocampo, En esos días ... »Nos propusimos crear la ilusión de un lugar cuya belleza, armonía y perfección, quedaran grabadas de forma indeleble en aquellos que, en los caprichos del tiempo y sus ranuras, lograran encontrar el paso por el Corredor de los Vientos. [...] Waslala existe. El ideal existe. Fueron sus sueños los que hicieron realidad la existencia de Waslala. Sus aspiraciones la mantuvieron y mantendrían viva.« Gioconda Belli, Waslala. Memorial del futuro »Ahora sí, no tenia dudas del rumbo que había tomado la revolución y ella no sería capaz de cumplir su promesa de hundirse con el barco si éste venía a pique. Y se va a ir al carajo, no por la fuerza de sus enemigos, sino porque el barco esta corroído por dentro, se dijo a sí misma.« Erick Blandón, Vuelo de cuervos
Die Revolution als Roman, der Roman der
Revolution?
Wie eine Zeugin Jehovas mit der Bibel unter dem Arm sei sie zu den Bauern gegangen und habe ihnen ihre revolutionäre Überzeugung gepredigt, bilanzierte die nicaraguanisch-chilenische Schriftstellerin Mónica Zalaquett Mitte der neunziger Jahre in einem Interview ihre Erfahrung des revolutionären Jahrzehnts, (vgl. Hood, 1996: 4) Dabei muss irgendwo auf dem Weg von der Stadt aufs Land die Utopie verloren gegangen sein. Schon 1991 hatte derpuertoricanische Literaturwissenschaftler Ramón Luis Acevedo in fast vorwurfsvollem Ton geschrieben, die Nicaraguaner hätten noch immer nicht den Roman über die sandinistische Revolution hervorgebracht, »que todos esperamos« (Acevedo, 1991b: 163). Und noch 1998 bemängelte der nicaraguanische Literaturkritiker Napoleón Chow in einem Leitartikel der Tageszeitung La Prensa unter dem Titel »Esperando a la gran novela sandinista«, zwar gebe es eine Reihe von sozialwissenschaftlichen Studien zum Thema, » [...] pero la revolución vista con ojos subjetivos, con ojos nicaragüenses de escritor creativo, preferiblemente de alguien que se entregó o sigue entregado a ella: eso está por verse« (Chow, 1998: 11 A). Ist auf dem Weg vom Land zurück in die Stadt auch die literarische Erinnerung der Revolution abhanden gekommen? Noch zu Beginn der neunziger Jahre führte Acevedo als Hauptgrund für das behauptete Fehlen von Romanen über die sandinistische Revolution die Dominanz der Lyrik und des testimonios an:
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»Los nicaragüenses se han dedicado más bien a escribir muy logrados textos líricos, como los de Ernesto Cardenal, Gioconda Belli y Julio Valle-Castillo; e impresionantes testimonios narrativos que, en cierta medida, sustituyen la novela [...] «(Acevedo, 1991b: 163)'
Für Chow verhinderte selbst Ende des Jahrzehnts eine Art von fortdauernder sandinistischer Meinungsführerschaft und Selbstzensur das Entstehen von Romanen über die erst kurz zurückliegenden Ereignisse mit klar als Personen der Zeitgeschichte erkennbaren Figuren. Solche Texte zu veröffentlichen sei noch immer höchst gefahrlich, weil fast alle wichtigen Kommandanten und führenden Persönlichkeiten der sandinistischen Vergangenheit am Leben und weiterhin mächtig seien. Deshalb müsse man in Nicaragua, so seine Bilanz kurz vor der Jahrhundertwende, noch immer auf Romane über die sandinistische Epoche warten, »de su inicio empecinado y aún heroico, de su victoria extática, de su gobierno sin rumbo cierto, y, como casi todos los experimentos sociales, de su inevitable ocaso« (Chow, 1998: 4). Man mag dem nicaraguanischen Kritiker darin Recht geben, dass noch immer »la gran novela sandinista« (ibid.) fehle, quasi eine kritische literarische Gesamtsicht der Revolution. Es darf allerdings bezweifelt werden, ob dieser Roman jemals geschrieben wird. Keineswegs ausgemacht ist, dass sich innerhalb der nicaraguanischen Literatur etwas Ähnliches herausbildet wie die Tradition des Revolutionsromans in Mexiko. Dazu fehlten den Geschehnissen in Nicaragua die historische Wucht und die kontinentale Bedeutung des Jahrhundertereignisses der mexikanischen Revolution.2 Nicht von ungefähr haben
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Erstaunlich ist, dass er dieses Urteil in einem Essay fallt, der dem 1988 erschienenen Roman Castigo divino von Sergio Ramírez gewidmet ist, nach Einschätzung Acevedos »una de las mejores novelas centroamericanas e hispanoamericanas de la década del '80 [...] « (Acevedo, 1991b: 169). Im gleichen Aufsatz nennt er den Roman La insurrección (1982; dt. Der Aufstand, 1981) des Chilenen Antonio Skármeta den bis dahin am meisten gelungenen Roman über die nicaraguanische Revolution, (vgl. ibid.: 163) Fernando Alegría spricht in seiner Nueva historia de la novela hispanoamericana von der mexikanischen Revolution als einem »proceso de transformación que compromete no sólo su vida económica sino hasta las bases mismas de su cultura y de su organización social«, der Romancier sehe sich von einer Kette von Ereignissen umgeben, »que exigen su testimonio« (Alegría, 1986: 129). Ein Begriff des mexikanischen Revolutionsromans sei nur als historischer zu gewinnen: »¿Qué ha de entenderse por Novela de la Revolución Mexicana? ¿Qué obras han de incluirse como representativas de tal denominación, y qué autores pueden considerarse típicamente revolucionarios? Aparentemente estas preguntas no requieren sino una respuesta histórica. Tal respuesta, no obstante, no correspondería a la verdad literaria ni tampoco serviría para una interpretación ideológica del problema.« (ibid.: 129f.) Denn zum einen seien die Autoren, die im Allgemeinen als Repräsentanten der mexikanischen Revolution angesehen würden, alles andere als revolutionär; sie seien vielmehr pessimistisch, negativ und in manchen Fällen dekadent, antitheoretisch, episodisch, sentimentale Freunde des Volkes, des
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sich die bedeutendsten Prosa- und Lyrikautoren des Landes, Ernesto Cardenal, Sergio Ramirez und Gioconda Belli, in Form von Autobiografien bzw. Erinnerungen mit der revolutionären Epoche auseinandergesetzt.3 Dennoch ignorieren die zitierten Urteile der beiden Literaturkritiker offensichtlich die wichtigsten Tendenzen, die sich seit dem Ende der achtziger Jahre und verstärkt in den neunziger Jahren innerhalb der nicaraguanischen Literatur entwickelten, denen die vorliegende Untersuchung gewidmet ist. Wie ich insbesondere in den fünf zentralen Kapiteln dieser Studie dargestellt habe, emanzipiert sich die Literatur in Nicaragua in diesem Zeitraum zunehmend von der Bevormundung durch die Revolution. Das heißt aber keineswegs, dass die revolutionäre Dekade aus den Texten verschwindet. Ganz im Gegenteil: Die Revolution wird zunehmend zum außerliterarischen Bezugspunkt vieler Romane, die ab Ende der achtziger und vor allem in den neunziger Jahren erschienen und sich in der Tat den verschiedenen Facetten und Phasen des revolutionären Projekts widmen, von denen Chow sprach.4 Bisher waren diese Romane kaum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen. Magda Zavala, die sich in ihrer umfassenden Untersuchung zum zentral-
Bauern wie des Indios, aber auch Bewunderer »del caudillaje populär« (ibid.: 130), ohne blind gegenüber seinen negativen Seiten zu sein, sie seien fatalistisch, desillusioniert und im Allgemeinen verbittert. Zum anderen seien in der Chronik der Revolution zwei Aspekte zu berücksichtigen, die beide gleichermaßen wichtig, aber grundlegend verschieden seien: »uno lo constituye la narración de las campañas propiamente revolucionarias, y el otro, la narración de los hechos que anticipan o siguen a la Revolución en ambientes de ciudades de provincia o del campo mexicano« (ibid.). Entsprechend weit ist Alegrías Begriff des mexikanischen Revolutionsromans, der alle diese Elemente einschließt und in Widerspruch zu Chows engem Verständnis des Revolutionsromans als der Gesamtsicht der Revolution steht, (vgl. ibid.: 130f.) Vgl. auch Carola Gründlers Aufsatz »La Novela de la Revolución Mexicana« (in: Dill et al., 1994), in dem sie als außerliterarische Bezugspunkte des Revolutionsromans vorrevolutionäre, revolutionäre und nachrevolutionäre Ereignisse nennt und vier Grundformen des mexikanischen Revolutionsromans in der Zeit von Ende der zwanziger bis in die vierziger Jahre vorstellt: »memorias« (Gründler, 1994: 204), »la novela política« (ibid.: 207), die »literatura revolucionaria« (ibid.: 208), darin die »novela de tendencia proletaria« (ibid.: 209) und »el indigenismo mexicano« (ibid.), schließlich einen vierten Typ, charakterisiert durch die Suche nach »mexicanidad« sowohl als »nacionalidad« wie im »hombre interior« (ibid.: 210). - In seinem bereits zitierten Aufsatz schreibt Acevedo, auch in Kuba sei etwas Ähnliches wie in Nicaragua passiert, das heißt, bisher sei noch nicht der Roman der kubanischen Revolution geschrieben worden, (vgl. Acevedo, 1991b: 163) Er bedient sich also eines ähnlich engen Begriffs wie Chow. Vgl. dazu das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«. Sergio Ramírez arbeitet allerdings, wie er in einem Interview im März 2000 sagte, an einem Roman über die Revolution, (vgl. Mackenbach, 2000f: 64) Von den 95 in den achtziger und neunziger Jahren erschienenen Texten, die das Korpus der vorliegenden Untersuchung bilden, beschäftigen sich 22 direkt mit der revolutionären Periode, nimmt man die Vorgeschichte der Revolution dazu, sind es etwa 30. Vgl. »Bibliografie a) Quellen: Nicaraguanische Romane und testimonios der achtziger und neunziger Jahre«.
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amerikanischen Roman diesem Thema nicht widmete, schrieb am Ende der Studie, es sei notwendig, »estudiar el ciclo de novelas sobre la revolución en Nicaragua (nicaragüenses y otras) en su relación con la producción testimonial del período« (Zavala, 1990: 390). Noch immer, mehr als zehn Jahre später, ist dies ein Desiderat innerhalb der Studien zur zentralamerikanischen Literatur. Erst in den letzten Jahren hat eine zaghafte Auseinandersetzung mit dem Thema begonnen. Die in den U S A lehrende salvadorianisehe Literaturwissenschaftlerin Beatriz Cortez hat sich der erzählenden Literatur Zentralamerikas unter den neuen Nachkriegsbedingungen, insbesondere in El Salvador und Guatemala, gewidmet (also ohne Nicaragua einzubeziehen) und dargestellt, wie sich die Koordinaten von der Testimonialliteratur mit ihrer Denunzierung der Ungerechtigkeit im sozialen Raum vor allem auf dem Land zu einer Literatur verschieben, in deren Mittelpunkt die Intimität und die Subjektivität im städtischen R a u m stehen. Diese Literatur entferne sich von den revolutionären Projekten und erkunde die dunklen Seiten der Individuen, ihre Leidenschaften, ihre Enttäuschung über den Verlust der utopischen Projekte, die ihrem Leben vorher Sinn verliehen und ihnen im Kontext von Gewalt und Chaos Orientierung gegeben hätten: »Sin embargo, en contraste con el testimonio, la ficción de posguerra carece del espíritu idealista que caracterizó a la literatura centroamericana durante la guerra civil. La posguerra, en cambio, trae consigo un espíritu de cinismo. En consecuencia, esta ficción retrata a las sociedades centroamericanas en estado de caos, corrupción y violencia. Presenta sociedades pobladas por gente que define las normas de la decencia, el buen gusto, la moralidad y la buena reputación, y que luego las rompe en su espacio privado.« (Cortez, 2000: 2)Der Zynismus als ästhetisches Projekt sei jedoch nicht völlig negativ, sondern widme sich der Suche nach einer Strategie des Überlebens des Individuums in einem sozialen Kontext, der von der Erbschaft der Gewalt und des Krieges und dem Verlust fester Orientierungspunkte gezeichnet sei. Die Nachkriegsliteratur sei eine Literatur der Enttäuschung, aber auch eine Möglichkeit, neue Formen der Repräsentation von Intimität und der Konstruktion von Subjektivität zu erforschen.
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Zitiert nach dem bisher unveröffentlichten Text eines Vortrages auf dem Vo Congreso Centroamericano de Historia, der vom 18. bis 21. Juli 2000 an der Universidad de El Salvador in San Salvador stattfand. Die hier wiedergegebene Argumentation bezieht sich auf diesen Vortrag, (vgl. Cortez, 2000: bes. 1 ff., 20) Auch in dem Aufsatz »La verdad y otras ficciones: visiones críticas sobre el testimonio centroamericano« setzt sich die Autorin mit dem Thema auseinander. (vgl. Cortez, 2001) In beiden Arbeiten werden erzählende Texte (Romane und Erzählungen) von Salvador Canjura, Claudia Hernández und Rafael Menjlvar Ochoa aus El Salvador, des honduranisch-salvadorianischen Schriftstellers Horacio Castellanos Moya und des Guatemalteken Rodrigo Rey Rosa untersucht.
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Während sich Beatriz Cortez mit der erzählenden Literatur Zentralamerikas beschäftigt, die nach Krieg und Bürgerkrieg erschienen ist, und sich dabei auf die Repräsentation und Präsentation dieser Nachkriegswelt in den erzählten Welten konzentriert, widmet sich der US-Literaturwissenschaftler Seymour Menton unter der Bezeichnung »postsandinistischer Roman« im Rahmen eines umfassenderen Projekts zu »postrevolutionärer erzählender Literatur« in Lateinamerika den Romanen, deren außerliterarischer Bezugspunkt die Jahre der Revolution, des Krieges und des Bürgerkrieges selbst sind. Im Besonderen untersucht er die Darstellung der Enttäuschung über die sandinistische Revolution in einigen Romanen nicaraguanischer, aber auch nicht nicaraguanischer Autoren. 6 Offensichtlich ist, dass weder die Bezeichnung »Ästhetik des Zynismus« noch »postsandinistischer Roman« (oder »postrevolutionäre erzählende Literatur«) beanspruchen können, einen Begriff von der Literatur Zentralamerikas in den neunziger Jahren zu entwickeln. Sie sind eher beschreibender Natur, was unter anderem an der geringen zeitlichen Distanz und der Tatsache liegt, dass die Welt der zentralamerikanischen erzählenden Literatur dieser Epoche noch kaum erforscht ist. Im Folgenden soll daher am Beispiel Nicaraguas versucht werden, einen Überblick über den Roman der Revolution zu geben, insofern die Revolution zum Roman, das heißt fiktional gestaltet wird, ohne mit einem Begriff von »Revolutionsroman« zu operieren. Die Bezeichnung »Roman der Revolution« heißt hier zunächst also nur, dass die untersuchten Texte ihre außerliterarischen Bezugspunkte in den revolutionären Ereignissen haben und sich im Unterschied zum testimonio (der thematisch kaum Unterschiede zu ihnen aufweist) erklärtermaßen als Fiktion präsentieren. 7 Dabei sollen die wichtigsten Tendenzen, Autoren und Werke vorgestellt und gleichermaßen Texte einbezogen werden, die vor, während und nach der sandinistischen Regierungszeit geschrieben wurden und die revolutionäre Dekade sowie ihre unmittelbare Vorgeschichte und ihre direkten Folgen als außerliterarischen Referenzpunkt haben. Insbesondere sollen ihre Unterschiede zur Testimonialliteratur hinsichtlich der Aneignung von Wirklichkeit und ihrer narrativen Repräsentation und Präsentation dargestellt werden.
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Ich beziehe mich hier auf seinen Text »Sol y sombra: la novela postsandinista«, der als Vortrag auf dem VIIIo Congreso Internacional de Literatura Centroamericana, 1.-3. März 2000, in Antigua, Guatemala, präsentiert wurde, (vgl. Menton, 2000) Menton untersucht dort die Romane Un sol sobre Managua (1998) von Erick Aguirre und La lotería de San Jorge (1995) des mexikanischen Autors Alvaro Uribe. Erste Ergebnisse meiner Beschäftigung mit diesen Texten erschienen in dem Aufsatz »La utopía deshabitada. La década sandinista' en tres novelas nicaragünses de los años noventa«, (vgl. Mackenbach, 2000d; vgl. auch Mackenbach, 1999, 2000g und 2001b) Zu zwei salvadorianischen bzw. guatemaltekischen Autoren vgl. Mackenbach, 2000a und 2000h.
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Die Revolution in der Literatur: Eine (fast) unbekannte Vorgeschichte Wie die Geschichte des sandinistischen testimonios beginnt auch die der explizit fiktionalen Beschäftigung mit den (vor)revolutionären Ereignissen in literarischen Texten weit vor der Revolution von 1979, sowohl was die erzählten außerliterarischen Wirklichkeiten, als auch zum Teil die Veröffentlichung der Texte angeht. Diese fiktionale Vorgeschichte der Revolution ist inzwischen zu einer weitgehend versunkenen Erinnerung geworden, offensichtlich durch die jahrzehntelange Dominanz des íesíí/wo/no-Paradigmas ins Vergessen gedrängt. Wie bereits im Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text« ausgeführt, zeichnen Carlos Alemán Ocampo in seinen beiden Romanen En esos días... (1969) und Bording House San Antonio (1985a) sowie Krasnodar Quintana in Como piedra rodante (1981) ein Bild von der vorrevolutionären Situation in der nicaraguanischen Hauptstadt in den sechziger und siebziger Jahren aus der Sicht der studentischen Jugend bzw. der kleinen städtischen Angestellten, das voller Widersprüche ist und sich nur mit Mühe - wie wir gesehen haben, auch hinsichtlich der narrativen Strategien - für die Legende der offiziellen bzw. offiziösen sandinistischen Historiografie vom quasi linearen Aufstieg der antidiktatorischen Kräfte und einer sich kontinuierlich verbreiternden und stärkenden Widerstandsbewegung vereinnahmen lässt. Ebenfalls die sechziger Jahre sind das Zentrum der erzählten Handlung in Jaime Morales Carazo, La noche del presidente (1991), in dem ein Panorama des Versuchs und Scheiterns einer zivilen Regierung und ein kritisches Porträt ihres somozatreuen Präsidenten, René Schick Gutiérrez, der von 1963 an vier Jahre lang an der Macht war, entfaltet werden, vermischt mit metatextuellen Interventionen des Autors, in denen die sandinistische Revolution wegen ihres Triumphalismus, ihrer Korruption, ihrer Arroganz und ihres elitären Avantgardismus verurteilt wird.8 Noch weiter zurück in der Vorgeschichte der revolutionären Bewegung geht René Quesada in En el umbral de los sueños (1998). Hauptschauplatz des Buches, das im Paratext der dritten Umschlagseite als »ficción con un fondo de realidad« bezeichnet wird, ist die »Escuela de Ingenieria« in der Calle Colón im Managua der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, seine Protagonisten sind die Lehrer und Schüler dieser ersten Hochschule für Ingenieurswesen in Nicaragua. Über weite Strecken liest sich das Buch wie eine Chronik dieser (Anfang der vierziger Jahre gegründeten) Einrichtung bzw. wie das Erinnerungsbuch an sein lehrendes und lernendes Personal, einschließlich vieler Anekdoten aus dem Privatleben der einzelnen Schüler und Lehrer. Der erste Teil besteht vor allem aus einem liebevollen, fast schon verklärenden Bild der autoritären Persönlichkeit Julio Padilla Méndez', des Gründers der Institution, »aquel hombre, profesional exitoso que regresaba a la patria con 8
Vgl. zu dem Roman auch Arellano, 1997d: 139f.
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un brillante historial acumulado en Chile, país donde había llegado a estudiar Ingeniería con una beca del gobierno del general José Santos Zelaya« (8). Der Hauptteil erzählt zumeist in nostalgischer und idyllischer Form (zum Teil in Analepsen) Szenen aus dem Studium in der Ingenieurshochschule und aus dem Privatleben der Schüler, von ihren Familien, Freundinnen, Ehefrauen, ihren Sorgen und Problemen wie ihren Vergnügungen, insbesondere in den Bars und den »lugares de muchachas alegres« (120) in der Nähe der Institution im Zentrum des alten Managua. Dabei entsteht ein Bild vom Managua der fünfziger Jahre als einem Raum der Bildung, des Fortschritts, der beginnenden Moderne, gerade in Abgrenzung von den ländlichen Räumen. Doch dieses Managua ist auch, und insbesondere zu Ende des Jahrzehnts, eine Stadt, in der sich die ersten Anzeichen politischer Gärung abzeichnen, der Widerstand gegen die Diktatur im Gefolge der Ermordung Anastasio Somoza Garcías im Jahr 1956 in León sich langsam formiert, Namen wie Che Guevara und Carlos Fonseca auftauchen - die ersten Vorboten der revolutionären Bewegungen, die ab den sechziger Jahren die Geschicke des Landes entscheidend prägen sollten. Diese Realität bricht auch über das idyllische Leben der »Escuela de Ingenieria« herein. Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird im Roman (neben zahlreichen Hinweisen und Anspielungen auf politische Ereignisse wie die Präsidentschaftskandidatur Somozas 1936 und die Wahlen 1944) vor allem in zwei Ereignissen präsentiert und repräsentiert. Ausfuhrlich geschildert wird ein Besuch des Gründervaters der Somoza-Dynastie in San Carlos am Rio San Juan: »Era el primer viaje de Somoza a esos lugares fronterizos, y si bien había visitado la región en el pasado, entonces lo había hecho por el río San Juan invitado por el joven poeta José Coronel Urtecho que en un arranque de ardiente convicción política había exclamado: 'Somoza forever'.« (178) Dieser Besuch ist eng mit dem Schicksal des Studenten Renato Quintero von der »Escuela de Ingeniería« verbunden. Der Vater seiner Braut Martha ist ein aktiver Oppositioneller, der bei einem Attentatsversuch auf den Diktator von der Nationalgarde ermordet wird. Dieses Ereignis hat tragische Auswirkungen auf das Leben der beiden Familien, die sich über Jahre hinweg feindlich gegenüberstehen und eine Heirat von Renato und Martha unmöglich machen (der Vater Marthas ist überzeugter Gefolgsmann Somozas). Wie hier mit einigen Mitteln der nueva novela histórica (Darstellung historischer Ereignisse aus der Sicht von - fiktiven - Randpersonen, Vermischung von historischen Personen und erfundenen Figuren, Vermischung von realen und fiktiven Ereignissen) operiert wird, so auch bei dem zweiten wichtigen historischen Geschehen, den Ereignissen im Juli des Jahres 1959 in León, als bei einem Massaker vier Studenten von der Nationalgarde ermordet wurden, (vgl. 201)9 Auch dieses Geschehen hat direkte Auswirkungen auf die Studenten der »Escuela de Ingenieria«. Zum einen stehen einige von ihnen in 9
Vgl. dazu ausführlich Mackenbach, 1995a: 104, 217-219.
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direkter Beziehung zu den Akteuren in León, zum anderen wird auch die Ingenieurshochschule wie die Bildungsinstitutionen im ganzen Land von der Welle des Protestes gegen das mörderische Vorgehen der Diktatur erfasst. Auch in diesem Sinne kann die »Escuela de Ingenieria« als Symbol der politischen Entwicklung Ende der fünfziger Jahre verstanden werden. Denn dieser Protest war seinerseits nur Teil eines viel umfassenderen Prozesses der politischen und gesellschaftlichen Veränderung, der insbesondere mit der kubanischen Revolution in ganz Lateinamerika begann und starke Rückwirkungen wie eigene Wurzeln in Nicaragua selbst hatte: » [...] se había dado el derrocamiento de Batista en Cuba y comenzaría para Nicaragua una experiencia nunca vivida antes con la presencia de la naciente revolución Castrista, que poco a poco extendería sus tentáculos de violencia por todo el continente. Conocería Nicaragua estupefacta la aparición del 'Coctel Molotov' y las intrigas de embajada en la persona del embajador de Cuba Quintín Pino Machado. El país entró poco a poco en la vorágine de la actividad revolucionaria y de la subversión. El Ché Guevara empezaba a convertirse en una leyenda.« (203) Insbesondere das Jahr 1959 markierte einen tief gehenden Einschnitt in der Geschichte des Landes: » [...] un año de acontecimientos importantes [...] el triunfo de Fidel Castro, [...] el movimiento del Chaparral. [...] movimiento mal organizado pero altamente patriótico de Olama y Mollejones encabezado por Pedro Joaquín Chamorro Cardenal [...] . Entre 1959 y 1961 los Somoza Debayle hijos del dictador muerto recibían el acoso de unos 23 levantamientos diferentes, todo lo cual parecía indicar, cuando no justificar, el nerviosismo en que se mantenía el gobierno y sus aparatos de represión. [...] Luis Somoza [...] su período presidencial de cinco años, al final del cual haría su aparición oficial el F.S.L.N. conducido por Carlos Fonseca Amador, apoyado ampliamente por Cuba y el comunismo internacional.« (205) Dieses Bild der beginnenden politischen und sozialen Gärung im vorrevolutionären Nicaragua wird ergänzt durch den Optimismus der jugendlichen Studenten, die entschlossen sind, mit ihren technischen Kenntnissen dem Aufbau ihres Landes zu dienen, sich gleichzeitig den Vergnügungen des städtischen Lebens hingeben, ins Kino und ins Baseballstadion gehen, aber auch Romane lesen wie Renato, der bereits während seiner Schulzeit die traditionelle Jugendlektüre von Ivanhoe über Schneewittchen, Gulliver, Jean d'Arc bis Tarzan verschlungen hatte. Noch ist es ein im Großen und Ganzen unschuldiges städtisches Leben, das erst im Managua der sechziger Jahre von der Beat- und Hippiekultur erfasst werden sollte, wie sie zum Beispiel in den Romanen Carlos Alemán Ocampos (1969 und 1985a) und Krasnodar Quintanas (1981) repräsentiert ist. Zwar erleidet auch der Glaube an die unbegrenzten Möglichkeiten des technischen Fortschritts einen ersten Schock, als eine große Überschwemmungskatastrophe Brücken und Straßen zerstört und die Grenzen des Ingenieurswesens deutlich macht. Noch überwiegt jedoch die Idylle: Renatos Vater stellt sich als heimlicher Oppositioneller und Freund des
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ermordeten Vaters der Braut Renatos heraus. Der Hochzeit Renatos und Marthas steht nichts mehr im Wege. Der Vater Renatos verliebt sich gar in die Witwe des Ermordeten und Mutter Marthas, und beide heiraten ebenfalls. Die Versöhnung im Privaten ist perfekt, allerdings angesichts der Schatten, die von der Zukunft im Gesellschaftlichen und Politischen vorausgeworfen werden, eine trügerische und allzu unglaubwürdige Idylle. Ein Panorama der nicaraguanischen Gesellschaft am unmittelbaren Vorabend der Revolution von 1979 entwirft dagegen Blanca Rojas in ihrem bereits Ende der siebziger bzw. zu Beginn der achtziger Jahre geschriebenen Roman La noche de la basura grande (1991)}" In vierzehn Kapiteln erzählt er abwechselnd vom Leben in verschiedenen sozialen Schichten und politischen Lagern in Managua, insbesondere vom oppositionellen Schuhmacher Alberto Aragón, den verurteilten Mitstreitern der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront Jorge, Sergio, José Antonio, Francisco, Rosendo, Maria Luisa, Ärzten, Priestern, aber auch vom General Anás Segundo (Anastasio Somoza Debayle, Sohn des Gründers der Somoza-Dynastie Anastasio Somoza Garcia), der 1967 durch Wahlbetrug ins Präsidentenamt kam und 1979 gestürzt wurde, sowie von seinen untergebenen Militärs. Ohne falsches Pathos und ohne Anleihen bei der Testimonialliteratur lässt er den Prozess der Abwendung von und des Aufbegehrens gegen die Militärdiktatur, der das ganze Volk ergreift, lebendig werden. Die ohne Verbindung erzählten unterschiedlichen Handlungsstränge und -orte (in denen die Personen vor allem in ihren alltäglichen Verrichtungen gezeigt werden) fließen im letzten (fünfzehnten) Kapitel zusammen, in dem »un vasto crepitar de indignación invadía el país« und der »General Anás Segundo [...] jugaba su última partida« (147), wobei im Roman - wie aus verschiedenen Anspielungen hervorgeht - der gescheiterte Volksaufstand vom September 1978 und der im Mai 1979 beginnende allgemeine Aufstand, der in die Revolution vom Juli 1979 mündete, ineinander verwoben sind. Er nimmt ausführlich Bezug auf verschiedene Etappen der nicaraguanischen Geschichte, von der Conquista bis zu den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Insbesondere rekonstruiert er die politisch-ideologischen Auseinandersetzungen am Vorabend der Revolution: die Diskussion zwischen Christentum und Marxismus, die Wiederentdeckung der Tradition Sandinos und des liberalen Reformers Zelaya, die Rolle der US-Außenpolitik (unter Präsident Carter), aber auch Einflüsse der Beatkultur und der Ereignisse in Lateinamerika (zum Beispiel in Chile). Hervorzuheben ist die mit vielen Sprachspielen und onomatopoetischen Konstruktionen durchsetzte Sprache des Romans, wie sie in folgendem Absatz zum Ausdruck kommt: »El horror de somos-ismo en el ejército, el somos-ismo en el Congreso, somos-ismo al descubierto, el
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Aus den Angaben am Ende des Romans geht seine Entstehungszeit hervor: »Managua - 1979 / V i e n a - 1982« (154).
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somos-ismo en los poderes, pero somos-istmo centro americano que busca y rebusca encontrar su ruta ... [...] El somos-ismo ofrecía la alternativa de prisión o muerte.« (59) Der somocismo (Somozismus, Sammelbezeichnung für die Militärdiktatur der Somozas) wird zum somos-ismo (wörtlich: Wir sind ismus, eine Anspielung auf die Dominanz der ideologisierten »-ismen« im damaligen politischen Diskurs) und zum somos-istmo (wörtlich: Wir sind Isthmus, eine Anspielung auf die zentralamerikanische Landenge). Das verleiht dem Roman seinen ironischen, völlig unpathetischen Ton, der ihn aus dem Hauptstrom der damaligen politisierten, ideologisierten Kampfliteratur (die vorrangig mit den Mitteln des testimonios arbeitete) heraushebt." Wie in dem Buch von Blanca Rojas ist in dem Roman von Julio Centeno Gómez, Atentado en el río (2000), der erst zwei Jahrzehnte nach der Revolution veröffentlicht wurde, das vorrevolutionäre Nicaragua, das heißt die Endphase der Somoza-Diktatur, der außerliterarische Bezugspunkt.12 An den unterschiedlichen Lebenswegen zweier Brüder werden retrospektiv Kernfragen der politischen Strategie der damaligen Epoche, das heißt des Widerstandes gegen das Willkürregime, diskutiert. Marco Antonio del Río, angesehener Rechtsanwalt in der Hauptstadt, der sich für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzt und insbesondere vom Regime verfolgte oppositionelle Studenten vertritt, wird eines Tages als Nachrücker auf der Liste der regierenden Partei für einen verstorbenen Abgeordneten als Vertreter der Region San Carlos Mitglied der »Cámara de Diputados«. Dort engagiert er sich für die Rechte der Kleinbauern und Landarbeiter, insbesondere der »raicilleros«, die den Anbau und die Vermarktung der Brechwurz betreiben, einer der wichtigsten Nutzpflanzen der Region, und ergreift die Initiative zur Gründung der »Cooperativa de Raicilleros de San Carlos«. Sein jüngerer Bruder Sergio hat sich schon vor Jahren der Guerilla angeschlossen und ist in dieser Region am Rio San Juan im Untergrund aktiv. Unter anderem nimmt er an der Vorbereitung des Überfalls auf die Kaserne der Guardia Nacional in San Carlos im Oktober 1977 teil, eine in der Vorgeschichte der Revolution vom Juli 1979 bedeutende Aktion, die inzwischen fast schon zum Mythos in der sandinistischen Geschichtsschreibung geworden ist.13 Auf diese Aktion wird im Roman mehrere Male angespielt (vgl. 131, 152-154), ohne dass Sergios Rolle näher aus-
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Das mag u.a. den späten Erscheinungstermin des Romans erklären. Er wurde erst im März 1991 veröffentlicht, nach der Ablösung der sandinistischen Regierung durch die erste nachrevolutionäre Regierung unter der Präsidentin Violeta Barrios de Chamorro, in der die Autorin zeitweise das Amt der Kulturministerin innehatte. Auf der vierten Umschlagseite heißt es allerdings, der Roman sei bereits in den siebziger Jahren konzipiert worden, als die Dynastie der Somozas herrschte. Der Volksaufstand von 1979 habe seine Handlung entscheidend beeinflusst. Vgl. dazu das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«, insbesondere das Buch El asalto a San Carlos. Testimonios de Solentiname (1986) von William Agudelo.
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geführt wird. Marco Antonio gerät aufgrund seines furchtlosen Auftretens im Parlament und seines Eintretens für die Interessen der Bewohner der Region Rio San Juan zunehmend in Konflikt mit den Autoritäten seiner eigenen Partei, insbesondere mit ihren örtlichen Statthaltern. Er wird schließlich von einem Killerkommando im Auftrag der »Junta Local de San Carlos« und unter Mitwissen des Diktators, »el hombre« genannt, bei einem »Unfall« während einer Bootsfahrt auf dem Rio San Juan, just auf dem Weg zur Gründungsversammlung der Kooperative, zusammen mit dem designierten Vorsitzenden der Vereinigung getötet, während sein Bruder weiter im Guerillakampf aktiv ist. In den vom Inhalt und vom formalen Aufbau her zentralen Passagen in der Mitte des Romans treffen sich die beiden Brüder auf einer Insel des im Süden des großen Nicaraguasees gelegenen Solentiname-Archipels und diskutieren über ihre unterschiedlichen Auffassungen vom Widerstand gegen die Diktatur. Dieser Dialog besteht eigentlich aus zwei sich abwechselnden Monologen, denn die beiden gehen nicht aufeinander ein, ihre Aussagen bleiben hölzern, wirken wie aus den Lehrbüchern für den bewaffneten Kampf bzw. die liberale Demokratie entnommen und den Romanfiguren von ihrem Autor in den Mund gelegt. Diese Auseinandersetzung über die beiden grundlegenden politischen Optionen im Nicaragua in der Endphase des autoritären Regimes, Dialog oder bewaffneter Aufstand, ist seltsam leblos: »-Y si se dieran las bases para un diálogo?; un diálogo positivo y sin subterfugios, donde pudieran establecerse garantías previas, como la libertad de expresión y otras?- preguntó Marco. / -Crees poder dialogar con quien trata la Patria como su hacienda y a los ciudadanos como sus peones?, ese es el mal de los dictadores, su egocentrismo, digamos su vanidad de dioses de barro. Hay que tumbarlos- dijo Sergio.« (102) Während Sergios Diskurs propagandistisch bleibt, ist der Marco Antonios anachronistisch, da er bereits damals lange vor der Revolution alle Übel der Revolutionäre an der Macht voraussieht - in beiden Fällen sind die Protagonisten nichts anderes als papierene Konstruktionen, die dazu herhalten müssen, die politischen und ideologischen Überzeugungen des Autors, seine politischen Sympathien und Antipathien, zu verkünden. Dies trifft auch auf eine Reihe von Passagen zu, in denen der Autor unverhüllt seine Analyse der politischen, sozialen und familiären Struktur der Somoza-Dynastie und gar ein ganzes alternatives Regierungsprogramm (in einem Selbstgespräch Marco Antonios) darlegt, (vgl. 68f., 69-89, 1 lOf, 115f., 168) Allerdings hat der Dialog doch seine Nachwirkungen auf die Psyche, das Unterbewusstsein der zwei Brüder. Beide haben Träume vom Sieg der Revolution und sehen überdeutlich die damit verbundenen Gefahren und Schrecklichkeiten: Verrat, Bereicherung, Enteignungen, politische Unterdrückung, Hinrichtungen, Zwangsaushebungen für den Militärdienst, wirtschaftliches Chaos usw. Auch hier ist die direkte Einmischung des Autors nicht zu übersehen: »Lo que más agitaba al soñador y le hacía quejarse en su hamaca«, heißt es zu Sergios Traum, »fue cuando aparecieron los propios dirigentes disponiendo para su uso personal de los bie-
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nes confiscados. Los palacios y las mansiones de los Somozas y hasta su estilo de vida pasaron a la nueva cúpula política. [...] / Pero lo más trágico del sueño y lo que más hacía quejarse al soñador, fue la gran traición a la revolución agraria, se veía como un gran mar de sangre y fuego devorando a los campesinos.« (135) Das ist eine für einen engagierten Guerillakämpfer der damaligen Epoche, als die revolutionäre Erregung ihrem Höhepunkt entgegenging und noch nichts von Ernüchterung zu spüren war, sehr unwahrscheinliche Reflexion, das heißt ein anachronistischer Eingriff des Autors aus der Sicht des Jahres 2000. Obwohl die Sympathien des Autors also klar sind, bleibt der Ausgang dieser Auseinandersetzung offen. Während Sergio, zumindest im Traum, am Sinn des bewaffneten Kampfes und der Revolution zu zweifeln beginnt, fragt sich Marco Antonio, ob seine Perspektive der Reform des Systems Aussicht auf Erfolg hat, um dann kurz vor seinem Tod zu der Einsicht zu kommen: »-Tenía razón Sergio- se dijo, todos son iguales.« (185) Mit dem Tod Marco Antonios und seines Begleiters geht auch das politische Projekt eines Dialogs mit der Diktatur für immer unter. Die Schlussszene verwandelt den Roman in eine Allegorie der Notwendigkeit und Legitimität des bewaffneten Kampfes als einzigem Ausweg, möglicherweise überraschend für den Autor selbst und ganz im Gegensatz zu seinen eindeutigen Stellungnahmen und Sympathien, die auch durch den autobiografischen Hintergrund nahe gelegt werden.14 Die Revolution wird quasi zum Naturereignis, das nicht aufzuhalten ist, dem der Autor allerdings weiterhin skeptisch entgegensieht. In einem seiner Träume sieht Marco Antonio, wie sich ein Wirbelwind erhebt, durch die auf den Plätzen versammelten Menschen fegt, Bäume ausreißt und Dächer mit sich fortträgt: » [...] y una voz tronó en la inmensidad del cielo diciendo: Soy el viento de la revolución, vengo desde las heladas estepas siberianas y las cumbres de los urales, azoté las misteriosas pagodas chinas, penetré las abigarradas urbes de Europa Oriental y el vasto territorio de los Aztecas; sacudí el Continente negro en sus largas y misteriosas noches tribales; estremecí el Caribe barriendo los garitos de las Islas Antillanas, estoy en Nicaragua azotando sus lagos y volcanes, derribando dinastías y cacicazgos.« (159) Die Revolution ist eine Naturgewalt, die auch vor den revolutionären Akteuren selbst nicht Halt macht: »El viento seguía tronando, llevándose todo por los aires, los papeles volaban sobre las ruinas de las casas y un gran remolino envolvió a los caudillos de la revolución y los hizo volar muy alto como hojas secas, tan alto que quedaron por momento brillando frente al sol para después precipitarse a tierra en vertiginosa picada [...] « (ibid.)
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Der Autor gehört einer aus der Region Rio San Juan stammenden Familie an, ist Anwalt, war in der gemäßigten Opposition gegen Somoza aktiv, stand dem sandinistischen Regime kritisch gegenüber und bekleidete in den neunziger Jahren hohe Posten im nicaraguanischen Justizwesen.
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Wie eine unverstandene Gewalt brechen die vorrevolutionären und revolutionären Ereignisse auch über das Leben des Protagonisten in dem Roman von Hermán Ríos, Las burlas de la vereda infinita (1996), herein. Er erzählt die Lebensgeschichte von Abel Condesoto zwischen 1963 und 1980. Es ist ein Leben geprägt von Flucht, Verlust und Suche nach der eigenen Identität in einer sich dramatisch verändernden Gesellschaft, in der die überkommenen, noch von der Kolonialgesellschaft bestimmten Werte ihre Bedeutung verlieren. Es sind dies entscheidende Jahrzehnte in der jüngsten Geschichte Nicaraguas, angefangen von den ersten Guerillakämpfen gegen die Diktatur Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre bis zum Sieg der Revolution im Jahr 1979 und der Etablierung eines neuen politischen Systems. Der Roman schildert diese Jahre aus der Sicht von Abel Condesoto, Doktor der Rechte und Rechtsanwalt, geachtetes Mitglied der dörflichen Gemeinschaft und gemäßigter Anhänger der liberalen Opposition, der aus politischen Gründen die Flucht ergreifen muss, als die ersten Guerillakämpfe die dörfliche Idylle zerstören. Über weite Strecken erzählt der Roman die Flucht des Protagonisten über Honduras und Mexiko in die Vereinigten Staaten, den Verlust seiner Ehefrau María Gracia und seiner Familie sowie die Suche nach ihnen, die nur zum Teil gelingt (er findet seinen ältesten Sohn Miguel in New York, wo er Karriere gemacht hat, und seinen zweiten Sohn Martin, der als Schiffskoch arbeitet; seine Ehefrau hat, da sie von seinem sicheren Tod ausging, einen ehemaligen Professor in den USA geheiratet, seine Tochter Isabel ist zur Guerilla in den Untergrund gegangen). Zurückgekehrt nach Ocotal im Norden Nicaraguas verliert er auch seine zweite Ehefrau Tina Gallo bei militärischen Vergeltungsaktionen der Armee gegen die Guerilla und macht sich auf den Rückweg nach Lóvago, seinen Geburtsort in der Region Chontales, wo er - an seinem Leben verrückt geworden - als Dorfnarr geduldet und versorgt wird. Isabel, inzwischen zur Präsidentschaftsministerin der neuen Regierung aufgestiegen, findet ihn schließlich in einem verspäteten Versuch der Rückkehr in den Schoß der Familie im Todeskampf. Ohne Stellung für oder gegen seinen Protagonisten zu beziehen, schildert der Autor am Schicksal dieses dörflichen Honoratioren, wie die tiefgreifenden sozialen und politischen Veränderungen im Nicaragua der sechziger und siebziger Jahre die Grundfesten der alten Gesellschaft untergraben. Allerdings ist der Roman traditionell (linear) erzählt und steckt voller Klischees, seine Personen bleiben sehr schematisch, gewinnen kaum Eigenleben - ein Melodram ohne Happyend. Der Gang der Geschichte bleibt unverstanden - eine »burla de la vereda infinita« (so der Titel des Romans). Bereits zu Beginn der achtziger Jahre hatte Claribel Alegría in Costa Rica mit Album familiar (1982) einen Kurzroman veröffentlicht, der sich auf die unmittelbare Vorgeschichte der Revolution aus der Sicht der Emigration bezieht. Die erzählte Zeit dieser Handlung erstreckt sich auf wenige Wochen im Sommer 1978, Schauplatz ist Paris. Die Haupthandlung besteht im Wesent-
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lichen aus Gesprächen zwischen Ximena, Marcel und Armando, insbesondere aus einem langen Dialog zwischen Ximena und Armando. Ximena, die in Nicaragua geboren wurde und in El Salvador aufwuchs (hier sind autobiografische Elemente der Autorin nicht zu übersehen), lebt mit ihrem französischen Ehemann Marcel ein durchschnittliches Leben ohne besondere Höhepunkte in der französischen Hauptstadt, angefüllt mit der alltäglichen Routine, aber auch ihren Erinnerungen an Kindheit und Jugend in Santa Ana, El Salvador. Die eigentliche spärliche Handlung wird vermischt mit Rückblenden in ihr früheres Leben und mit Nachrichten von den Ereignissen in Nicaragua, wo im August 1978 ein sandinistisches Kommando den Nationalpalast besetzte und sechzig politische Gefangene freipresste. Vermittelt über ihren Vetter Armando, einen Nicaraguaner, der aus politischen Gründen in Paris im Exil lebt, bricht diese Wirklichkeit plötzlich in ihr ereignisloses und im Grunde behagliches Leben in der Emigration ein und verändert es: »-¿Has visto las noticias? / - N o ¿Algo malo? / -Al contrario, fantástico. Los sandinistas han tomado el Palacio Nacional en Managua.« (19) Gegen innere Widerstände und vor allem äußere von Seiten ihres gegenüber den nicaraguanischen Ereignissen verständnislosen Ehemanns entschließt sich Ximena, ihren Vetter zu unterstützen und seine Nachfolge anzutreten. Sie leiht ihm Geld (das sie ihrem Ehemann unter einem Vorwand entlockt) für den Flug nach Panama, wo Armando seinen Sohn Mario treffen will, einen der befreiten politischen Gefangenen, die nach der Aktion in dieses Land ausgeflogen wurden. Und sie übernimmt von ihm die Funktion der Repräsentantin des FSLN in Paris, die Armando vorher innehatte, ohne dass sie es wusste, obwohl sie seit drei Jahren engen Kontakt zu ihm hatte: »-¿Cómo puedo serte útil, Armando? / - N o te aflijás [...] , anoche te recluté. Aquí en este maletín encontrarás toda la información necesaria.« (54) Auch in dieser Beziehung stellt sie ihren Ehemann vor vollendete Tatsachen: » [...] adivina quien es el nuevo representante de la FSLN en Paris. / / -Yo.« (57) Beeinflusst von Armando stellt sie sich bewusst in den Dienst der Revolution. Eine entscheidende Rolle spielen dabei Armandos Erzählungen über seine Erfahrungen im Gefängnis, Folter und Flucht, die im Stile eines testimonios geschrieben sind (vgl. 40-42), und das Fotoalbum, das er Ximena zeigt. Sie lässt sich von seiner Auffassung überzeugen, ein Engagement für die Revolution sei gleichbedeutend mit religiöser Hingabe, vergleichbar dem Eintritt einer Novizin ins Kloster, mit all seinen Riten: »Lo mismo pasa cuando uno entra al FSLN, sólo que no hay toda esa pompa. Igual que la monja tenés que hacer tu voto y casarte con la muerte. Sabés que estás poniendo tu vida en el altar y que de ahí en adelante no te importa tu pellejo; lo has dejado de antemano como una ofrenda a los que sobrevivan la lucha para gozar de un futuro mejor. [...] Sé que la decisión de casarse con la muerte de pronto lo deja uno libre. Descartás la cobardía y el miedo por tu preciosa vida y te incorporas a un organismo invencible y audaz.« (49) In einer quasi rituellen Zeremo-
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nie zeigt Armando ihr sein Fotoalbum, in dem auf mysteriöse Weise die Gesichter deijenigen verschwunden sind, die im Guerillkampf gegen die Somoza-Diktatur fielen. Die Frage Ximenas, ob Armando selbst diese Gesichter herausgeschnitten habe, lässt dieser unbeantwortet. Ebenso unklar bleibt, ob ihr plötzliches Wiedererscheinen nach Armandos Abflug dadurch erklärt werden kann, dass er sie selbst in der Nacht zuvor wieder hineinklebte. Ungläubig blättert sie das ihr von Armando zurückgelassene Album durch, und alle Gesichter sind wieder da, nur das von Armando fehlt auf jedem seiner Fotos - eine Vorahnung seines Todes nach der Rückkehr in den Guerillakampf. Zwar unterscheidet sich dieser Kurzroman in seiner Erzähl struktur (zum Beispiel durch die verwendete Montagetechnik) insgesamt von dem bei seinem Erscheinen herrschenden teri/'/wowo-Diskurs und thematisiert zum Beispiel Jahre vor Gioconda Belli und anderen die Rolle der Frau im revolutionären Kampf.15 Wie deren erster Roman, La mujer habitada (1988a), allerdings ohne dessen mythische Konstruktion, schreibt sich Claribel Alegrías Text von der ideologisch-symbolischen Repräsentation her jedoch noch ganz in den Diskurs der Literatur im Dienst der Revolution ein. Mitte der achtziger Jahre problematisierte Rosario Aguilar in Siete relatos sobre el amor y la guerra (1986) dann schon eine Reihe von Themen, die innerhalb der nicaraguanischen Romanliteratur ab Ende der achtziger und vor allem in den neunziger Jahren eine bedeutende Rolle spielten. So werden in ihren widersprüchlichen und zum Teil kontrapunktischen Romanwelten bedeutende Widersprüche der nicaraguanischen Wirklichkeit präsentiert und repräsentiert. In politischer Hinsicht zeichnet diesen Text (dessen Haupthandlungsstränge als außerliterarischen Bezugspunkt die Phase unmittelbar vor dem Sturz der Somoza-Diktatur haben) durchweg eine kritische, wenn auch im Grunde zustimmende, Haltung zur Revolution aus. Erzählt wird zum Teil aus der Ich-Perspektive Maria Elenas, einer aus dem bürgerlichen Milieu stammenden Frau, für die der Krieg zunächst nichts anderes als das romantische Ambiente für ihre intensiv gelebte Liebe ist, die dann jedoch wie die der anderen Frauen durch die Folgen des Krieges zerstört wird.16 Als für die damalige nicaraguanische Literatur einmalig und im dominierenden literarischen Diskurs der Epoche unerhört muss auch die kaum verhüllte Warnung der Autorin vor dem Verrat an den Idealen der Revolution gesehen werden, die sie Margarita Madariaga, einer weiteren der sieben tragenden Frauengestalten des Buches, im Moment des Triumphs in den Mund legt: »Virgen Santísima, ayudálo para que el triunfo no se le suba a la cabeza, para que no se vuelva creído, para que no traicione sus ideales juveniles.« (153) Das sind deren letzte
15 16
Vgl. dazu das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«. Zu den beiden in diesem Buch enthaltenen Kurzromanen vgl. ausfuhrlich das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« sowie das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«.
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Gedanken an ihren für immer verlorenen Geliebten, der sich mit Leib und Seele in den Dienst der Revolution stellt, die keinen Raum für etwas Anderes lässt - eine politische Vorahnung, die Mitte der achtziger Jahre auf dem Höhepunkt der sandinistischen Regierungsmacht in Nicaragua weitgehend ungehört blieb.17 Runden wir dieses Panorama der literarischen Darstellung des vorrevolutionären Nicaraguas in den Romanen der achtziger und neunziger Jahre mit dem Hinweis auf zwei in dieser Studie bereits ausführlich behandelte Texte ab: Gioconda Belli fokussiert in La mujer habitada (1988a) auf die Rolle der Frau im Prozess der revolutionären Mobilisierung, die sie nur spielen kann, indem sie die Züge des »hombre nuevo« annimmt, also die männlichen Attribute des bewaffneten Guerillero übernimmt, und sich in die konstruierte Kontinuität einer ununterbrochenen Tradition vom Widerstand der Indios, inbesondere der Indias, bis zum Kampf der Sandinisten gegen die Diktatur stellt.'8 Sergio Ramírez erzählt die Vorgeschichte der Revolution (anhand des Attentats gegen den alten Somoza 1956) in Margarita, está linda la mar (1998a) als Identitätsfindung des kämpfenden nicaraguanischen Volkes im Mut Sandinos und des Attentäters Rigoberto López Pérez auf der einen Seite und im Intellekt Rubén Darios auf der anderen, verkörpert in den Hoden des jungen Poeten und im Gehirn des alten.19 Im Gegensatz zur Testimonialliteratur der siebziger und achtziger Jahre kennzeichnet die Romane, die sich mit der Vorgeschichte der Revolution befassen, kein idealistischer, mythisch bzw. ideologisch überhöhter Ton. Von wenigen Ausnahmen abgesehen erheben sie keinen Anspruch darauf, repräsentativ die Wurzeln des revolutionären Projekts zu erzählen. Der innere Chronotopos der Romanfiguren und der äußere Chronotopos der Ereignisse sind nicht kongruent. Selbst bei den Texten, die sich in ihrer narrativen Repräsentation und Präsentation der revolutionären Ereignisse am engsten an den literarisch-politischen Diskurs des Sandinismus anlehnen, treten die Erzählstrukturen zum Teil in Widerspruch zu den ideologischen Prämissen. Das hier präsentierte Panorama lässt ein Bild von der Vorgeschichte der Revolution entstehen, das von einer Diversität persönlicher und sozialer Entwicklungs- und Gärungsprozesse bestimmt wird, die Revolution selbst entsteht aus einem Chaos vielfältiger menschlicher Beziehungen und Lebensumstände, aus einem
17
Nicht von ungefähr erschien die Erstausgabe des Romans 1986 im zentralamerikanischen Universitätsverlag EDUCA in San José, Costa Rica; eine nicaraguanische Ausgabe wurde erst nach dem Regierungsverlust der Sandinisten publiziert, (vgl. Hood, 1996: 100f.; Souza, 1991 : 65f.) 18 Vgl. auch dazu ausführlich die Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität« sowie »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«. " Vgl. dazu ausführlich das Kapitel »Vierter Kreis: Geschichte und Fiktion«.
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Wirrwarr von Anlässen und Motiven heraus, ihre innersten Beweggründe bleiben oft im Dunkeln.
Die Revolution: Ein unversöhnlicher
Bruderkampj?
Das Blickfeld wird keineswegs übersichtlicher, wenn es um die Darstellung des Jahrzehnts des Sandinismus an der Macht geht. Einer der ersten nach dem Regierungsverlust der Sandinisten erschienenen Romane, der sich mit grundlegenden Fragen des revolutionären Projekts selbst auseinandersetzt, ist das Buch von Monica Zalaquett, Tu fantasma, Julián (1992). Dieser Roman kann wie der »Fall« der 1954 in Chile geborenen Autorin durchaus als symptomatisch für die ersten von Intellektuellen aus dem Umfeld des Sandinismus geschriebenen literarischen Werke angesehen werden, die einen kritischen Blick auf die revolutionäre Dekade werfen. Monica Zalaquett gehört jener Generation von Intellektuellen an, die sich in den achtziger Jahren mehrheitlich aktiv für das sandinistische Gesellschaftsprojekt engagierten. Nach dem Sturz der Regierung Allende im September 1973 aus Chile geflohen, kam sie Ende der siebziger Jahre (kurz vor der Revolution) nach Nicaragua und schrieb bis zum Ende der achtziger Jahre als Reporterin der sandinistischen Tageszeitung Barricada über die militärischen Auseinandersetzungen auf dem Land. (vgl. Hood, 1996: 103ff.) Ziel ihrer Aktivitäten auf dem Land sei es gewesen, die von der berüchtigten Contra betrogenen Bauern für die revolutionäre Utopie zu gewinnen und sie von ihren niederen, kleinbürgerlichen Besitzinstinkten (eine Kuh, eine Hütte) zu befreien, äußerte sie Mitte der neunziger Jahre in einem Interview, (vgl. ibid.: 104) Die Probleme der Revolution unter den Bauern, insbesondere der Krieg der Contra gegen die sandinistische Regierung, stehen auch im Zentrum des Romans. In einer modernen Version von Kain und Abel, in der es weder Gute noch Böse gibt, erzählt er (unter Verwendung der Technik des flashback) das Schicksal der beiden Brüder Julián und José Benito. Der eine, Julián, identifiziert sich als lokaler sandinistischer Funktionär mit der Revolution, der andere wird zum Führer einer antisandinistischen Contra-Gruppe, die den Bruder ermordet. Beide verbindet außerdem eine Dreiecksbeziehung zu Nidia. Während des Krieges mit der Contra heiratet Julián die frühere Geliebte José Benitos. Nidia liebt beide und leidet unter ihrem gespaltenen Gefühlsleben: Während ihre Liebe für José Benito körperlich ist, überwiegt in ihrem Verhältnis zu Julián das Geistige. Das Unheil nimmt seinen Lauf, als Julián von den Contras gefangen genommen und ermordet wird. Dieser Vorfall macht die Rückkehr José Benitos nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Land in den Schoß der Familie unmöglich. Sowohl seine Eltern als auch Nidia machen ihn für den Tod des Bruders verantwortlich. Die Familie wird, gleichsam stellvertretend für das ganze Land, durch den Konflikt zerstört.
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Der besondere Wert des Romans liegt darin, dass er sich für keine der beiden Seiten entscheidet, den Konflikt als ungelöst darstellt und das Interesse der armen Bauern in den Mittelpunkt rückt, nicht gezwungen zu werden, eines der beiden Lager, Sandinisten oder Contras, zu unterstützen, sondern von beiden in Frieden gelassen zu werden. Mit diesem kritischen Blick auf die Auswirkungen der sandinistischen Revolution und des Conira-Krieges auf eine Bauernfamilie zielt die Autorin auf eine grundsätzliche Infragestellung des revolutionären Projekts: Nicht die vielbeschworene Einmischung von außen durch den »großen Bruder« im Norden ist für das Scheitern der Revolution verantwortlich (obwohl auch dieser Aspekt ausführlich gewürdigt wird), sondern ihre inneren Widersprüche, das Unverständnis des durch und durch städtischen Sandinismus und seiner führenden Funktionäre gegenüber dem ländlichen Leben und den bäuerlichen Interessen, (vgl. Hood, 1996: 105)20 Der Roman kann so als eine Allegorie des grundlegenden Widerspruchs der sandinistischen Revolution und der Gründe ihres Scheiterns verstanden werden, veröffentlicht in einer Situation, als im politischen und sozialwissenschaftlichen Diskurs Nicaraguas zaghaft erste Stimmen laut wurden, die ähnliche Fragen aufwarfen und ihre Spuren auch in der Testimonialliteratur hinterließen (vgl. vor allem das 1991 veröffentlichte Buch Una tragedia campesina: testimonios de la resistencia von Alejandro Bendaña Rodríguez), und lange bevor das Thema Ende der neunziger Jahre in den Erinnerungen führender Sandinisten wieder aufgenommen wurde (vgl. bes. Sergio Ramírez' 1999 publizierten Text Adiós muchachos. Una memoria de la revolución sandinista).21 Im Gegensatz zu Bendaña Rodríguez geht es Mónica Zalaquett jedoch nicht nur darum, den vom revolutionären Projekt selbst unterdrückten Stimmen Gehör zu verschaffen und somit eine neue Subalternität und Repräsentativität zu konstruieren, obwohl auch dies ein Anliegen des Textes ist. (vgl. dazu Delgado/Ramírez Lazo/Pérez Cuadra, 1995: 25-27) Vielmehr bestimmt den Roman eine Reihe von binären Beziehungen bzw. Oppositionen: zwischen Stadt und Land, Männern und Frauen, Geschlecht und Nation, magisch-mythischem Denken und politischer Zweckrationalität, die im Verhältnis der beiden Brüder gipfeln und eine Repräsentation der Revolution jenseits tagespoliti-
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In einem Interview mit Edward W. Hood bezieht sich Mónica Zalaquett explizit auf diese Zielsetzung und auf die autobiografischen Hintergründe des Romans: »Yo llego (al campo), y la vida con ellos (los campesinos) me enseñó a respetar las tradiciones y los valores de la gente, y a conocer mi realidad y respetar mi realidad y darme cuenta de que realmente nosotros no podemos llegar a imponer algo a la gente porque creemos que va a ser bueno, sino que la gente tiene que pedirlo, y desearlo y necesitarlo. [...] / Nuestra revolución no entendió el problema de las tradiciones y los valores del campesino porque nuestra revolución no era una campesina; era una revolución urbana, y el problema es que Nicaragua es un país rural.« (Hood,
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Vgl. dazu die entsprechenden Passagen im Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«.
1996: 104)
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scher Aktualität und Interessen suchen.22 Julian und José Benito, die beiden verfeindeten Brüder, sind noch in ihrem unversöhnlichen Bruderkampf untrennbar und auf immer miteinander verbunden: »¿Quien soy entonces?« fragt sich Benito gegen Ende des Romans, und antwortet sich selbst: »Tu fantasma, Julián ... , un fantasma desgraciado.« (184) Nicht nur verschlingt das Monster Revolution beide gleichermaßen: »Nos jodieron -tragó con dolor- y nosotros nos dejamos«, fugt José Benito hinzu, (ibid.) Beide verbindet in ihrer Dualität eine weiter zurückliegende und tiefer gehende Identität, die sich aus der mythisch überhöhten Geschichte ihrer Stadt speist: In einem Gespräch mit einer Frau sagt José Benito, »que una vez, hacía muchas lunas, los piratas habían invadido el pueblo, que era en aquel entonces una gran ciudad« (96), in deren Flüssen mehr Gold als Wasser geflossen sei. Julián erzählt dem Kommandierenden seiner Milizeinheit »la historia de ese pueblo que había sido una gran ciudad, antes que llegaran a destruirla unos piratas desalmados«, damit sie »entiendan a esta gente y sepan por qué se alzaron« (193f.). Delgado/Ramírez Lazo/Pérez Cuadra haben in ihrem bereits erwähnten Aufsatz auf diese grundlegende Identität hingewiesen: »La narración remarca, tanto en la historia como en el discurso, la identidad - en el sentido etimológico idem (lo mismo) - entre los dos hermanos. Se trata de una identidad basada en la misma historia, el mismo origen, ciertas concepciones idénticas, como la del origen legendario de la ciudad.« (Delgado/Ramírez Lazo/Pérez Cuadra, 1995: 18, vgl. 10) Zu dieser mythisch beschworenen gemeinsamen Vergangenheit kommt schließlich die mythische Konzeption eines »doppelten Ich«, einer metaphysischen Dualität als Wesenszug der Nicaraguaner hinzu, die sich an die Konzeption von »el nicaragüense« des nicaraguanischen Poeten Pablo Antonio Cuadra, eines der Gründerväter der nicaraguanischen literarischen Avantgarde und prominenten Gegners des Sandinismus, anlehnt. In seinem Aufsatz »Los hijos de septiembre« beschreibt er den nicaraguanischen Menschen unter Rekurs auf die prähispanischen Skulpturen auf der Insel Zapatera im Nicaraguasee im Süden des Landes als »un ser dual con dos mitades dialogantes y beligerantes« (Cuadra, 1997: 16) und sieht die Geschichte Nicaraguas, insbesondere die Tradition der Bürgerkriege bis hin zur sandinistischen Revolution und zum Cowira-Krieg, als Ausdruck einer »concepción mítica y misteriosa del doble yo' o alter ego vital' [...] que produjo Nicaragua« (ibid.: 16f., vgl. 15-18; vgl. Delgado/Ramírez Lazo/Pérez Cuadra, 1995: 19-22). Dieser Rekurs auf den prominentesten intellektuellen Gegner der Revolution im Roman einer
22
Vgl. zu diesen Aspekten die jeweiligen Passagen in den Kapiteln »Zweiter Kreis: Magie und Realität«, »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« und »Fünfter Kreis: Raum und Text«.
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auch damals noch erklärten Sandinistin (vgl. dazu Hood, 1996: 104) musste kurz nach dem Ende der sandinistischen Regierungsperiode wie eine literarisch-politische Provokation wirken. Es ist einer der ersten literarischen Versuche, Widersprüche und Scheitern der Revolution aus einer quasi ontologischen Argumentation zu verstehen, jenseits aller tagespolitischen Debatten über Fehler und Versäumnisse des revolutionären Projekts, die den damaligen politischen Diskurs bestimmten. Gleichzeitig kann die literarische Repräsentation der Revolution unter Rückgriff auf die dualistische Konzeption des nicaraguanischen Wesens als Vorahnung der Möglichkeiten und Bedingungen zur Versöhnung der verfeindeten Brüder begriffen werden, die sich dann tatsächlich in den neunziger Jahren vollzog. Ähnlich wie die Figuren Rosario Aguilars in ihrem Innenleben ausgeleuchtet werden, das von schwierigen Entscheidungen über ihren weiteren Lebensweg in einer Zeit der sozialen und menschlichen Umbrüche aufgewühlt wird (vgl. zum Beispiel Siete relatos sobre el amor y la guerra; vgl. Souza, 1991: 75), interessiert sich auch Conny Palacios in ihrem Erstlingsroman En carne viva (1994) für die Auswirkungen der äußeren revolutionären Ereignisse auf das Seelenleben ihrer Protagonistin. Abgesehen von einer kurzen Rahmenhandlung besteht der Roman, eher eine lange Erzählung, aus einem einzigen inneren Monolog einer namentlich nicht genannten Frau. Von Schlaflosigkeit geplagt, wacht sie jede Nacht fast immer genau um drei Uhr auf und wird von Erinnerungen an die Vergangenheit heimgesucht. Dabei bleibt unklar, ob es Albträume sind, die ihr zu schaffen machen, ob sie in einem von den eingenommenen Beruhigungstabletten herbeigeführten Halbschlaf liegt oder ob es Erinnerungen an reale Ereignisse ihrer Kindheit in Matagalpa sind. Wie Monica Zalaquett greift Conny Palacios das Motiv des Bruderkampfes auf: Es sind die Gräuel, die unzähligen Opfer dieses in Nicaragua ewigen Konfliktes - zwischen Oriente und Occidente, Liberalen und Konservativen, Land und Stadt, Somozisten und Sandinisten, Sandinisten und Demokraten - , die der Protagonistin den Schlaf rauben. In einem nicht enden wollenden Lamento beklagt die Erzählerin diese anscheinend nie abreißende Kette der Gewalt in der Geschichte des Landes, wobei sie keinen Unterschied macht zwischen den Missetaten, die von der Somoza-Diktatur verübt wurden, und denen, die von den Anhängern des revolutionären Regimes begangen wurden, den Schwerpunkt aber eindeutig auf die letzteren legt. Offensichtlich vor einem autobiografischen Hintergrund geschrieben, evoziert das Buch die Leiden der nicaraguanischen Bevölkerung in der jüngsten Geschichte des Landes, ohne politisch Partei zu beziehen.23 Dies, wie auch der lyrische Ton des Buches, der auf 23
Die Autorin wurde 1953 in Matagalpa im Norden Nicaraguas geboren und emigrierte 1981 in die Vereinigten Staaten, wo sie als Universitätsdozentin arbeitet, (vgl. García-Obregón, 1999a: 86; García-Obregón, 1999b: 108) 1999 veröffentlichte sie in einem Buch die beiden Gedichtbände Percepción fractal und Exorcismo del absurdo (Ediciones de PAVSA).
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jeden Anspruch auf Zeugnishaftigkeit verzichtet, hebt den Roman deutlich von der politisch engagierten, ideologisch festgelegten Testimonialliteratur der siebziger und achtziger Jahre ab.24
Die Revolution: Eine unaufhaltsame
Naturgewalt?
Mit den Ereignissen in den ersten, noch »unschuldigen« Tagen der Revolution, kurz vor dem Einzug der Revolutionäre in die Hauptstadt und dem endgültigen landesweiten Sieg, beschäftigt sich Orlando Núñez Soto in seinem ersten Roman Sábado de gloria (1987, 1990).25 Zwar spielt sich der Hauptteil der Handlung in einer nicht weiter definierten »Ciudad-Catedral«, der »primera ciudad liberada« (5), ab, aus zahlreichen Anspielungen ist jedoch unschwer zu erkennen, dass der außerliterarische Bezugspunkt Nicaragua am Vorabend der sandinistischen Revolution ist (zum Beispiel: »Ciudad-Catedral« = León; »Comando Central del Frente Norte«, 6; »Frente Nacional de Liberación« = FSLN, 223). Der Roman vermischt verschiedene Geschichten und wird aus unterschiedlichen Perspektiven und mit wechselnden Fokalisationen erzählt. Im Mittelpunkt steht die politische und persönliche Geschichte von Claudia (Laura) und Marcos (Rodrigo), die beide im »Comando Central del Frente Norte« aktiv sind. Erzählt wird auch von den letzten Mitgliedern der Guardia Nacional und ihrem Kommandanten Coronel Pancho Ruiz, die in ihrem Hauptquartier »La Fortaleza« bis zuletzt Widerstand gegen die Revolution leisten. Dazwischen sind Legenden aus dem Leben der Indiogemeinschaft der »caribises« in der Entstehungszeit des Dorfes Cuajiniquilapa, dem Geburtsort Claudias und Marcos', und während der Conquista montiert, die von dem »maestro Chan« erzählt werden. Außerdem wird vom Werdegang Eduardos,
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In einer wenig überzeugenden, weitgehend unverständlichen kurzen Rahmenhandlung wird unter Rekurs auf ein in der erzählenden Literatur altbekanntes Mittel dargestellt, wie eine nicht weiter charakterisierte männliche Figur, José Gerson, aus den Händen einer unbekannten Frau ein umfangreiches Manuskript erhält, in dem sie aufgezeichnet hat, was eine andere weibliche Person, offensichtlich die lange gesuchte Mutter des Mannes, vor ihrem Tod äußerte. Diese Äußerungen stellen dann den Hauptteil des Buches dar. In einer abschließenden Note bemerkt der Erzähler José Gerson, der Wunsch seiner Mutter sei es gewesen, dass dieses Manuskript, das er aus den Händen der unbekannt bleibenden Vagabundin erhalten hatte, veröffentlicht werde. Die Erstausgabe des Romans erschien bereits 1987 (vgl. Núñez Soto, 1992: vierte Umschlagseite). Diese Ausgabe war mir nicht zugänglich. Ich beziehe mich im Folgenden also auf die 1990 vom Centro de Documentación y Ediciones Latinoamericanas in Managua publizierte Ausgabe. Núñez Soto hatte vorher eine Reihe von soziologischen Studien zur nicaraguanischen Gesellschaft und zum revolutionären Prozess veröffentlicht, darunter El Somocismoy el modelo agroexportador (1980), La fuerzas clasistas de la revolución popular sandinista (1983), Transición y lucha de clases en Nicaragua (1987) und La insurrección de la conciencia (1988).
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eines Revolutionskaders, und seiner Beziehung zu Laura (Claudia) berichtet, sowie von zahlreichen anderen Personen (u.a. der Mutter Claudias, Chabela). Diese dialogische Struktur des Romans wird verstärkt durch zahlreiche Rückblenden, in denen insbesondere Kindheit und Jugend von Claudia und Marcos sowie die Europaaufenthalte Lauras (Claudias) und Eduardos geschildert werden, ebenso durch die unterschiedlichen Schauplätze der Handlung: die »Ciudad-Catedral«, das Dorf Cuajiniquilapa und Europa (vor allem Spanien/Madrid und Barcelona, Frankreich/Paris, Italien). Vermischt werden die politischen Ereignisse der Revolution und die persönliche, familiäre Geschichte von Claudia und Marcos. Wie eine Naturgewalt bricht die Revolution über das Leben der Dorf- und Stadtbewohner herein und wirft alle bestehenden Verhältnisse über den Haufen, gleichzeitig jedoch liegen die Lasten der Vergangenheit weiter wie ein Albdruck auf ihnen. Der Tag der Befreiung erscheint wie ein »corto y largo sábado de gloria« (189), ein Ostersamstag (so der Romantitel), das Leben in der Stadt wie eine Serie von Osterprozessionen (eine besonders in León noch immer sehr lebendige Tradition): »Las calles parecían procesiones de Semana Santa con dibujos de aserrines de colores para la pasada del Santo [...]. «(186) Die Freude über die Befreiung der Stadt und den Sturz des verhassten Diktators ist allgegenwärtig: »Todo mundo cantaba y bebía en honor de la derrota del dictador y la alegría se producía y se consumía colectivamente [...] . « (189) Die Revolution macht alle gleich, hebt die alten sozialen Schranken auf, löst die Familienbande und Geschlechterverhältnisse auf und zerstört die Machtverhältnisse: »Todo mundo se confundía con todo mundo, igual que las lenguas en la torre de Babel. No se distinguía al campesino del obrero, el estudiante del tendero, [...] el profesor de la empleada, [...] el cura patriota del chavalo vago, el médico de la enfermera, el chivo de la virgen [...] La vida cotidiana se detuvo por algunas semanas y el día de la victoria se paró por completo, el poder estaba diseminado por las calles y barrios de la Ciudad-Catedral [...] «(89) Für einen Moment steht die Zeit still und alles scheint möglich: »El tiempo se había detenido en todo el espacio de la victoria, el horario se cambió por las circunstancias de la lucha [...] No había oficinas públicas, ni casas privadas, la diferencia entre lo uno y lo otro estaba más cerca que la distancia de un beso o que el apretón de una mano, sin partidas de nacimiento o certificados de estudio, sin impuestos a propiedades que dejaron de existir, sind escasez ya que todo se consumía colectivamente. Todo mundo hacía de todo, los hombres el café y las mujeres la limpieza del camión [...] « (91) Die Gesellschaft erlebt ihre Stunde Null, ihre Zukunft scheint offen und nur vom Willen ihrer Mitglieder abzuhängen. Doch schon am Tag des Sieges mischen sich Unsicherheit und Bedrohung in die allgemeine Freude. Wie Naturkonstanten machen sich Kräfte und Verhältnisse bemerkbar, die hinter dem Rücken der Menschen wirken. Fast alle Häuser sind zerstört, die Kirchen beherbergen Tausende von Kindern, die im
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Feuerhagel der Schlussoffensive geflohen sind und Zuflucht suchen, die Türen der Kathedrale sind geschlossen und dennoch strömt aus ihnen Leichengeruch, der die ganze Stadt überzieht, (vgl. 5, 8, 28) Noch in der Zerstörung des Herrschaftsapparates der Diktatur legen sich die Schatten des alten Regimes wie Fesseln über die siegreichen Revolutionäre: »Esta es la primera herencia de la victoria, pensó Claudia; tanto que nos jodimos para destruir todo el aparato que mantenía vivo al dictador y ahora que ya no manda, el cabrón empieza a vengarse de nosotros.« (220) Der Prozess der gesellschaftlichen Um- und Neugestaltung hat gerade erst begonnen, ein neuer Krieg kündigt sich an, der noch schwerer und langwieriger als der Kampf zum Sturz des Diktators zu werden scheint: »En ese momento ya la cara de la dictadura dejaba de ser la Guardia Nacional, para tomar cuerpo en toda la historia de sus propias vidas, y la lucha contra los cuarteles parecía desdoblarse en una lucha mayor contra un ejército de fantasmas y culpas que hasta entonces no habían presentado armas contra la chavalada insurrecta [...] « (85) Doch so wenig die Menschen auf die Revolution vorbereitet waren, so unbewusst werden sie mit den Aufgaben des gesellschaftlichen (Wieder-)Aufbaus nach dem Umsturz konfrontiert. »Decime una cosa, Rodrigo, ¿por qué te metiste en ese asunto de la revolución?« wird Rodrigo/Marcos von seiner Tante Concha gefragt, und er antwortet: »—Realmente no lo sé, son cosas de la vida.« (69) Wie er sich ohne viel zu überlegen in den bewaffneten Kampf stürzte, seine Studien, seine Arbeit und alles andere aufgab, sich in den Krieg verliebte und nichts anderes lernte als das Kriegshandwerk (vgl. 29), so kann er sich keine Gesellschaft ohne Feinde, ohne Guardias, ohne Großgrundbesitzer, ohne Wucherer und politische Vertreter der Diktatur vorstellen - repräsentativ für eine Generation, die auf den Frieden und den Aufbau einer neuen Gesellschaft nicht vorbereitet ist: »No tener contra quien conspirar o abandonar la clandestinidad, constituyó el primer momento de aburrimiento asestado a la alegría desatada la noche anterior de aquel día; no estaban listos para gozar sin delinquir o pecar, la imaginación en el poder se quedó sin poder de imaginación, la conquista de lo imposible se hizo posible.« (88) Bis in die intimste Geschichte der beiden Hauptpersonen Claudia und Marcos hinein wirken diese Kräfte. Claudia, wesentlich älter als Marcos und seine Vorgesetzte im »Comando Central del Frente Norte«, verliebt sich in ihn, und ihre Liebe wird erwidert - eine Beziehung, die den traditionellen Mustern widerspricht, aber von den revolutionären Zeiten ermöglicht wird. Doch auch über diese Beziehung legen sich die Schatten der Vergangenheit. Von Claudias Mutter und vom Pfarrer des Dorfes, dem Padre Mora, erfahren die beiden, dass Marcos Claudias Sohn ist, Folge einer Vergewaltigung Claudias durch den Kommandanten der Nationalgarde, Coronel Pancho Ruiz, der - so wird angedeutet - bereits deren Mutter Chabela vergewaltigt hatte, also auch Vater Claudias ist. Mit diesem Motiv der doppelten Vergewaltigung und des Inzests gelingt dem Autor eine Allegorie des Weiterlebens der alten Verhältnisse bis in
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die intimsten Beziehungen der handelnden Personen hinein. Die Revolution hat sie wie eine Naturgewalt erfasst, aber auch die vorrevolutionären Gewalten wirken unabhängig von ihrem Willen weiter und schränken ihre Entscheidungsfreiheit ein. Bis zum Schluss bleibt unklar, ob die beiden Liebenden sich bewusst über das Inzesttabu hinwegsetzen, ob die Revolution selbst diese von alters her überlieferten Traditionen aufbrechen kann und soll. (Der Autor ergreift hier keine Partei, sondern überlässt dem Leser die Entscheidung.) Wie Nüfiez Soto hier bereits Ende der achtziger Jahre (als die Erstausgabe des Romans erschien) Probleme und widersprüchliche Tendenzen des revolutionären Prozesses thematisiert, die in der nicaraguanischen Romanliteratur erst ab den neunziger Jahren breiten Raum einnehmen sollten,26 so sind auch zwei weitere Aspekte hervorzuheben, mit denen er die unterschiedlichen Wurzeln und Beweggründe der Revolution literarisch zu gestalten versucht. Quasi kontrapunktisch werden im ersten und letzten Teil des Romans die prähispanischen Traditionen als historischer Urgrund der Revolution beschworen und die Einflüsse der sozialen Bewegungen und politischen Ideen im Europa der sechziger und siebziger Jahre auf die nicaraguanischen Revolutionäre dargestellt.27 Mit all diesen Elementen gelingt dem Autor eine literarische Repräsentation der unterschiedlichen Beweggründe und Wurzeln der nicaraguanischen Revolution, deren besonderer Charakter sich gerade aus diesen vielfaltigen Tendenzen speiste - auch in diesem Sinne hat der Roman eine dialogische, vielstimmige Struktur. Die scheinbar unverständlichen Naturgewalten, die hinter dem Rücken der Menschen wirksam sind, werden in den magisch-mythischen Traditionen und den politisch-ideologischen Einflüssen auf die Ereignisse in ihren sozialen Dimensionen zumindest teilweise erklärbar. Im Mittelpunkt des zweiten Romans von Orlando Nühez Soto, El vuelo de las abejas (1992) steht das Nicaragua nach dem Sieg der Revolution und der Konsolidierung des revolutionären Regimes, als sich das Land den »Mühen der Ebene«28 konfrontiert sieht. Erzählt wird die Geschichte Lauras, die sich schon seit Kindertagen von einem Kobold bewohnt fühlt. Dieses lange verdrängte Gefühl der Besessenheit kehrt zurück, als sie als reife Frau - verheiratet und Mutter eines halbwüchsigen Sohns und einer Tochter, bekannte Journalistin und anerkannte Revolutionsaktivistin - vor der Entscheidung über ihren zukünftigen Lebensweg steht. Sie fühlt sich zunehmend gefangen in den familiären, beruflichen und politischen Zwängen: Der Vater, Don Aquileo, ist Alkoholiker und trotz seines hohen Alters sexbesessen, die Mutter, Dona
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Er übt unter anderem auch unverhohlen offene Kritik an bestimmten Maßnahmen der Revolution, wie zum Beispiel den Konfiskationen, (vgl. 35f.) Vgl. dazu die Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität« sowie »Fünfter Kreis: Raum und Text«. Vgl. dazu das gleichnamige Kapitel in Schulz, 1987: 169-174.
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Blanca, gläubige und der Kirchenhierarchie hörige Katholikin, ihr Ehemann Mauro, ein arbeitsloser Ingenieur, geht auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten, aber auch um der gescheiterten Ehe zu entfliehen, in die USA, Laura wird zunehmend von Zweifeln über ihr persönliches, berufliches und politisches Leben geplagt. Zu der Wahnvorstellung vom Kobold, der in ihrem Inneren haust, gesellt sich in immer häufigeren Anfällen von Depression die Zwangsvorstellung, sie werde von Männern verfolgt, die ihr das Blut aussaugen, sie buchstäblich verschlingen und mit Haut und Haaren auffressen wollen. Sie begibt sich in Behandlung bei dem Psychiater Juan José, und in einem langen Prozess kann sie sich von ihrer Geisteskrankheit befreien. Eine wesentliche Rolle spielt dabei, dass sie ihre von politischen Zwängen bestimmte Arbeit als Journalistin aufgibt und als Literaturdozentin an die Universität geht, eine intime Beziehung zu ihrem Psychiater aufnimmt, die ihr die Befreiung aus der gescheiterten Ehe ermöglicht und sie sich wieder als begehrenswerte und geliebte Frau fühlen lässt, und schließlich und vor allem, dass sie sich auch von dieser Beziehung emanzipiert und sich aktiv an der Arbeit eines Frauenhauses in ihrem Stadtviertel beteiligt.29 Diese Geschichte lässt sich als eine Allegorie der sozialen und politischen Verhältnisse und insbesondere ihrer Rückwirkungen auf das Innenleben der Menschen im postrevolutionären Nicaragua lesen. Aus vielen Verweisen und Anspielungen geht hervor, dass die Handlung im Nicaragua zu Ende der achtziger Jahre angesiedelt ist (» ... ya llevamos diez años de revolución ... «, 19). Die nachrevolutionäre Gesellschaft ist geprägt von den Schwierigkeiten, nach der anfanglichen Euphorie über den Sturz der Diktatur neue soziale und individuelle Beziehungen zu schaffen, und insbesondere von den verheerenden Auswirkungen des Krieges auch und gerade auf das Seelenleben der Menschen. Die Mehrheit der jugendlichen Patienten, die sich bei Juan José in Behandlung begeben, ist vom Krieg geschädigt und sucht Beruhigungsmittel, um sich vor dessen Grauen zu retten, (vgl. 27, 30) Der Krieg, die permanente Mobilisierung und Alarmbereitschaft haben zerstörerische Auswirkungen auf die Psyche der Menschen insgesamt: »Las contradicciones y los conflictos que uno tenía con los demás así lo obligaban, igual que cuando andábamos clandestinos en tiempos de la dictadura, no debiendo revelar nuestros secretos frente a los otros, de lo contrario, intuíamos, dejaríamos un flanco débil o una puerta abierta por donde podía entrar el enemigo. Las cosas se empeoraban cuando el mundo clandestino se volvía más grande que el legal, si esto te ocurría durante la lucha, te ibas a la montaña, pero ahora, no había mucho lugar donde irse.« (84) Je mehr die Gesellschaft »zur Normalität« des alltäglichen
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Vgl. zu diesem Aspekt das Kapitel»Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« und zu dem Roman insgesamt auch »Zweiter Kreis: Magie und Realität«.
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Lebens zurückkehrt, um so drückender werden die Lasten der Vergangenheit. Die Ursachen von Lauras Geisteskrankheit müssen also noch tiefer liegen als in den unmittelbaren Alltagssorgen einer vom Krieg heimgesuchten Gesellschaft. Ihr Psychiater reflektiert: »Sobre el escritorio estaban los expedientes de otros pacientes. Se trataba por lo general de jóvenes que habían estado en la guerra y a quienes años después les nacía una fobia asociativa relacionada con la guerra. [...] Todo aquello podía ser comprensible, pero canibalismo en pleno siglo XX. ¡Había que estar loco para creerlo!« (108f.) Wie der erste Roman des Autors kann auch dieser zweite als eine Parabel der Weiterexistenz uralter Verhaltensformen, Instinkte, Traditionen, Tabus etc. gelesen werden, die hinter dem Rücken der Menschen, quasi als Naturgewalten, weiterleben ungeachtet der Veränderungen auf der politischen Oberfläche: »Sentíamos que la revolución había limpiado muchos males de nuestro país, sin embargo, flotaba siempre en el ambiente el fantasma del pasado y la posibilidad de su regreso.« (33) Zu diesem Schluss kommt selbst Lauras Freundin Lucrecia, nach wie vor überzeugte und militante Revolutionsaktivistin. Nicht von ungefähr rekurriert Núñez Soto in weiten Teilen des Romans auf die Geschichte vom Kobold, der die jungen Mädchen in den Arm beißt und die Abdrücke seiner Zähnchen zurücklässt, eine uralte, in Nicaragua vor allem auf dem Land weit verbreitete Volkslegende, (vgl. 108) Der Roman ist von seiner Struktur her dialogisch, ja sogar polyphon angelegt. Erzählt wird abwechselnd aus der Sicht eines allwissenden Erzählers (in dritter Person mit unterschiedlichen Fokalisationen) und der Hauptfiguren des Romans: Lauras, ihrer Freundin Lucrecia, des Psychiaters Juan José, ihres Sohnes Adolfo, ihrer Tochter Bianca und ihres Arbeitskollegen und Chefredakteurs (in erster Person); außerdem sind Auszüge aus Lauras Tagebuch und aus einem Brief an ihre Mutter in den Text montiert (vgl. 88-96). Die Figuren bleiben jedoch weitgehend ohne Leben, scheinen mit einer Stimme zu sprechen. Dies liegt daran, dass der Autor ihnen mehr oder weniger verhüllt (wie zum Beispiel in Lauras Charakterisierung von Partei und Revolution) seine Ansichten in den Mund legt. Am deutlichsten wird dies in den Schlusspassagen des Romans, in denen Núñez Soto den Psychiater Juan José die endgültig gefundene Erklärung für Lauras Leiden abgeben lässt: »Bien, lo que quiero decirte es que no hay nada de ritos en todo esto. Y lo más interesante es que después de tantos miles de años de represión, ese instinto sigue vivito y coleando« (165), kommentiert er gegenüber einem Arbeitskollegen. Und im Selbstgespräch verwirft er jeden Zweifel: »'Todo está claro', se dijo a sí mismo, este espíritu no es más que el acecho real al que son sometidas a diario las mujeres de este mundo endemoniado por espíritus burlones de carne y hueso'.« (203) Es folgt eine seitenlange (pseudo)psychologische Erklärung (206-209), die den Roman zu einem geschlossenen System macht und dem Leser keinen Raum lässt. Die anfängliche Begeisterung für die Revolution ist verflogen, die Schwierigkeiten auf dem Weg zu einer neuen Gesellschaft, zum
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Literatur und Revolution
»neuen Menschen« scheinen unüberwindlich, dennoch muss der Kampf weitergehen, das politische Engagement unter veränderten Bedingungen fortgesetzt werden: Der revolutionäre Sturm der ersten Tage muss sich verwandeln in den langen Atem der sozialen Umgestaltung, trotz aller Hindernisse - so der Chor, zu dem sich die verschiedenen Stimmen des Romans vereinigen.
Die Revolution: Eine unerwünschte
Erinnerung
Ähnlich wie Mónica Zalaquett in Tu fantasma, Julián (1992) dem Krieg zwischen Regierung und Contra widmet sich Erich Blandón in Vuelo de cuervos (1997) einem der bedeutendsten und folgenreichsten Ereignisse des politischsozialen Prozesses, der mit der Revolution des 19. Juli begann: der Evakuierung der Miskito-Indianer aus ihren traditionellen Wohngebieten in der nicaraguanischen Karibikregion zu Beginn der achtziger Jahre, mit der die sandinistische Regierung angeblich darauf zielte, »a integrar a los miskitos al resto de la civilización« (Vêlez García, 1997), und gleichzeitig versuchte, die Contra eines großen Teils ihrer Unterstützung bei den Bauern zu berauben.30 Der Autor - so hieß es in einer Kritik - schreibe keine »novela histórica, ni tampoco pretende ficcionar la historia; sí es, en cambio, una obra de ficción que alude a un suceso histórico, suceso que es rebasado por la imaginación a través de los artificios de la novela« (Zamora Zapata, 1997: 3). Vielmehr zielt Erick Blandón auf eine literarische Interpretation einiger grundlegender Züge der politisch-sozialen Entwicklung in Nicaragua nach dem Sturz der SomozaDiktatur ab, wobei er die Unterschiede zwischen der Karibik- und der Pazifikregion als »pretexto«, als Vorwand für Literatur, genauer als »Prätext« im ursprünglichen Sinne für den Romantext benutzt, (vgl. Vélez García, 1997) Ihm gelingt dabei eine literarische Dekonstruktion der sandinistischen Revolution, indem er zeigt, wie sich auch die besten revolutionären Vorsätze zunächst in politische Farcen und dann Tragödien verwandeln, sei es aus mangelnder Erfahrung, Streben nach Machterhalt um jeden Preis oder blindem Gehorsam gegenüber dem Partei- und Staatsapparat, der sich vom einfachen Volk längst entfernt hat. Apolonia, ein Mitglied der Brigade, oder genauer: der allwissende Erzähler, der ihr das in den Mund legt, lässt daran keinen Zweifel: »Ahora sí, no tenía dudas del rumbo que había tomado la revolución y ella no sería capaz de cumplir su promesa de hundirse con el barco si éste se venía a pique. Y se va a ir al carajo, no por la fuerza de sus enemigos, sino porque el barco está corroído por dentro, se dijo a sí misma.« (245f.) In diesem Sinn
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Vgl. zu den Koordinaten der literarischen Geografie des Romans das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«. Zur Geschichte dieser Zwangsumsiedlung vgl. Meschkat/von Oertzen/Richter/Rossbach/Wünderich, 1987: 219-253.
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kann man den Roman als eine Denunzierung der im Namen der Revolution begangenen Fehler lesen: »de las injusticias cometidas en pro de la revolución: la devastación de las tierras y casas en el éxodo de los indios Miskitos y la impune profanación de sus costumbres y cultura; el ascenso, el despilfarro y la burla de algunos revolucionarios que llegaron a detentar el poder; la pérdida de ideales y de ilusiones de miles de jóvenes que creían en la justicia y la igualdad... «(Zamora Zapata, 1997: 3). Den Roman bevölkert zwar eine Fülle von Figuren mit erfundenen Namen, die authentischen historischen Personen in Nicaragua nachgebildet sind (darunter vielen fuhrenden Sandinisten), vermischt mit fiktiven Personen.31 Seine Kritik der Revolution zielt jedoch hauptsächlich auf die mittleren Kader des Sandinismus, »[...] -entre quienes, en la vida real estuvo Erick Blandón—« (ibid.).32 Wie ein Schwärm Krähen verdunkeln diese Funktionäre den blauen Himmel der Revolution - daher der einem Gedicht Rubén Daríos entlehnte Titel des Romans, der als Epigraph paratextuell wiederaufgenommen wird: »Un gran vuelo de cuervos mancha el azul celeste.«33 Es ist eine formlose Masse, ohne individuelle Züge, voller Gutgläubigkeit und Vorurteile, Autoritätsfixiertheit und Bereitschaft zum Selbstopfer, die gerade aus der Negation der Individualität ihre »mística participativa« (Montenegro, 1997: C-l) und ihre Identität bezieht: »Mis compañeros se preocupan por mí, quieren que abandone mi espíritu individualista. Por eso me asignan tareas que me ayuden a fortalecer mi conciencia revolucionaria, a olvidarme de mis debilidades ideológicas.« (25) Mit diesen Worten bringt Laborío/Hermes das Dilemma der namenlosen am revolutionären Aufbau Beteiligten zum Ausdruck, die sich dem Verlust der Werte des Alten Regimes
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Zum Beispiel die Revolutionskommandanten Humberto und Daniel Ortega, Tomás Borge, Jaime Wheelock und Bayardo Arce (in den Romanfiguren Nabucodonosor, Desiderio, Artero, Lalo Chanel, Afrodisio) und die Ehefrau des früheren Präsidenten Daniel Ortega und ehemalige Vorsitzende der Asociación Sandinista de Trabajadores de la Cultura (ASTC) Rosario Murillo (in der Romanfigur Virgenza Fierro); vgl. dazu Aguirre, 1998: 54. In einem Interview verdeutlichte Blandón diese Zielsetzung: »Quise escribir una novela sobre la revolución sandinista, desde la perspectiva de la nomenclatura, no en su cúpula sino el nivel intermedio.« (Vélez García, 1997) So lautet die erste Zeile des Gedichts »Canto de esperanza«, das Rubén Dario 1904 schrieb und das in dem Band Cantos de Vida y Esperanza, Los Cisnes y otros poemas (1905) erschien. Ohne Zweifel bedient sich Erick Blandón dieses paratextuellen/intertextuellen Verweises auf das Gedicht Darios in metatextueller Absicht. Wie ein Kommentar des Autors zu seinem Roman lesen sich weite Passagen des aus acht dreizeiligen Strophen bestehenden Gedichts, aus dem ich nur einige Passagen zitiere: »Un gran vuelo de cuervos mancha el azul celeste, / Un soplo milenario trae amagos de peste. / Se asesinan los hombres en el extremo Este. // [...] La tierra está preñada de dolor tan profundo / que el soñador, imperial meditabundo / sufre con las angustias del corazón del mundo. // Verdugos de ideales afligieron la tierra, / en un pozo de sombra la humanidad se encierra / con los rudos molosos del odio y de la guerra. // [...] Ven, Señor, para hacer la gloria de ti mismo, / ven con temblor de estrellas y horror de cataclismo, / ven a traer amor y paz sobre el abismo. [...]« (zit. n. Darío, 1992: 257f.)
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- Autoritarismus, Selbstverleugnung, irrationaler Gehorsam und Unterdrückung der Individualität - konfrontiert sehen und gleichzeitig die Zersetzung der proklamierten neuen Ideale der Revolution - wie Solidarität, Gleichheit, Brüderlichkeit, Ehrlichkeit - in der Praxis erleben: »Pero la asunción racional de valores proclamados [...] crearon un desasosiego cognitivo, una disonancia con los viejos valores interiorizados que permitieron una maduración de la conciencia y el paso a una perspectiva crítica tanto en las filas sandinistas como en amplios sectores del pueblo. La revolución apareció entonces como un absurdo, palabra que deriva de surdus, sordo, alguien que no escucha; lo visto como bueno, como positivo, como un bien social necesario, devino ante el divorcio entre el discurso y la praxis, un disparate, un desatino, un evento contrario a la razón. El sinsentido ético está en base de su derrumbe, pero también el anhelo humano de la felicidad, en tanto esta es un proyecto de inconformismo.« (Montenegro, 1997: C-2) Angesichts dieser Orientierungslosigkeit bleibt nur, wieder Halt bei den alten Werten zu suchen: Der Autoritarismus, die Unterwürfigkeit, die Unfähigkeit zur Kritik feiern Wiederauferstehung, wenn auch mit veränderten politischen Vorzeichen, die Revolution erschöpft sich in einem politischen (genauer: ideologischen) Bruch mit der Vergangenheit, ohne die sozialen, kulturellen und massenpsychologischen Konstanten radikal umzugestalten. Ganz im Gegensatz zum testimonio, in dem die Individualität exemplarisch das Kollektiv, das Volk repräsentieren und so in der Identitätsfindung der Subalternen als neuem kollektivem Subjekt die eigene individuelle Identität konstituieren soll, verschwindet in Blandóns Roman das Individuum in der gesichtslosen Mediokrität und im Konformismus der mittleren Funktionäre, die sich lähmend über die Subalternen legen und deren Eigeninitiative ersticken.34 Am wenigsten können diese revolutionären »Handwerker« beanspruchen, »im Namen« der Subalternen zu handeln, die Revolution erstarrt in ihrer eigenen Behäbigkeit. Der Roman beschränkt sich jedoch nicht auf diese Dekonstruktion der Revolution. Er entwirft auch eine mit Ironie gespickte Parabel des Verhältnisses zwischen den Intellektuellen und der Macht - eine in der lateinamerikanischen und insbesondere der nicaraguanischen Politik der achtziger Jahre allgegenwärtige Problematik. In weiten Teilen stellt dieser Roman eine Ironisierung und Lächerlichmachung der Rolle dar, welche die im revolutionären Pro-
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Mario Roberto Morales unterstrich in einer Rezension das in diesem Sinne Neue an Blandóns Roman im Kontext der zeitgenössischen nicaraguanischen Literatur: »Sin duda, esta novela está marcando un hito en la cultura nicaragüense postrevolucionaria porque se trata de una forma de autocrítica de izquierda, como de una renovación de las formas literarias en las que tradicionalmente se envolvía el mensaje revolucionario nicaragüense, a saber: el testimonio conversacional, la narrativa realista-mágica al estilo de Isabel Allende y Laura Esquivel, y la poesía exteriorista y romántica.« (Morales, 1997: o.S.)
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zess engagierten Intellektuellen gespielt haben (verkörpert in der Person Laborios/Hermes), insbesondere was ihren Missbrauch durch die Herrschenden und ihre Disposition zur »Selbsttäuschung« angeht. Zu Beginn des Romans erhält Laborío - »yo, pequeño burgués graduado en la universidad, dándose la gran vida en el extranjero mientras los verdaderos revolucionarios se quedaron arriesgando el pellejo, combatiendo a la guardia« (25) - den Auftrag, den Bericht (»la memoria«) der Umsiedlungsaktion zu schreiben. Voller Stolz über diese besondere revolutionäre Mission, die ihm anvertraut wird, macht er sich mit einem »secreto militar«, einer geheimen militärischen Botschaft des »coronel« Pulido an den »subcomandante« Mendiola (3), auf die Reise. Am Ende des Romans offenbart sich der wahre Charakter dieser wichtigen Mitteilung: »El portador es un vago de mierda que aquí sólo para estorbo sirve, él cree que este es un mensaje altamente confidencial; y espera que usted le dé orientaciones de cómo escribir la memoria de esta misión. Hágale sentir la rudeza de la vida militar a ver si así salimos de él. Póngalo a hacer calquier cosa y que no se aparezca en mucho tiempo por aquí. Que siga creyendo que su misión es de suma importancia.« (27 lf.) Die Chronik der Aktion verwandelt sich in eine nicht erwünschte Erinnerung - eine Metapher für die Versuche, alle Erinnerungen an die dunklen Seiten des revolutionären Prozesses aus dem Gedächtnis zu streichen Schließlich distanziert sich der Roman von den bürokratischen und bevormundenden Bestrebungen zur Nivellierung der tiefen kulturellen und ethnischen Spaltungen des Landes, insbesondere von den Versuchen der gewaltsamen kulturellen Integration der beiden großen und so unterschiedlichen Regionen in Nicaragua: der Pazifik- und der Karibikküste. Mit den Mitteln der Parodie und der Karnevalisierung erzählt er von den Bemühungen des Poeten Ali Alá35 und einer Gruppe von Schriftstellern, ein Kulturfestival mit dem Namen »Kupia Kumi« zu organisieren: »Un festival de cocina criolla, indígena, mestiza; los bailes de marimbas de Masaya, las mazurcas del norte; el Palo de Mayo del Atlántico; un festival de canto, música, poesía y danza. Una feria artesanal.« (197) Unglücklicherweise ist die Realität eine ganz andere: Je näher der Termin des Festivals rückt, desto angespannter wird die militärische Lage, desto mehr intensiviert die Contra ihre Angriffe. Die kulturellen Aktivitäten degenerieren zu bloßem folkloristischem Beiwerk, für das sich vor allem die Teilnehmer von Brigaden aus dem Ausland und internationale Journalisten interessieren, während die dem revolutionären Prozess innewohnenden sozialen und kulturellen Widersprüche sich zuspitzen.36 Auch hier wird die Revolution zum absurdum, degeneriert zur karnevalesken Posse, zum absur-
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Das ist eine Anspielung auf einen authentischen, von der Karibikküste stammenden Schriftsteller, Ali Alah, der 5 poemas costenos (1977) veröffentlichte, (vgl. Arellano, 1986: 187) Vgl. dazu auch das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«.
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den (Straßen-)Theater: »Los mitos y canciones populares trasuntan toda la narración y al final, una muestra de teatro callejero en los confines del mundo y un pueblo miskito disfrazado de zopilote como parte de una jornada político-cultural más propia de un kindergarten crea un patético aire de tableaux á la Hieronimus Bosch, en un jardín de las delicias muy nicaragüense.« (Montenegro, 1997: C-2) Dieser Roman Erick Blandóns, der selbst zum »inneren Kreis« der mit der Revolution verbundenen Intellektuellen gehörte und unter anderem Kader in der Propagandaabteilung der sandinistischen Regierung war, kann als literarisches (und zum Teil autobiografisches) Dokument des Geisteszustands eines großen Teils der nicaraguanischen Intellektuellen Mitte/Ende der neunziger Jahre gelesen werden, die sich ehemals in den Dienst der Revolution stellten ein nicht ganz von Nostalgie freier Abgesang auf die Revolution und den Verrat an ihren Idealen.37
Die Revolution: Ein ungebautes
Museum
Während die Revolution bei Blandón im Straßentheater (ver)endet, scheint sich ihre Erinnerung in Milagros Palma, El pacto (1996) in einem (nicht gebauten) Museum zu verlieren. Auf der »isla del Caimán« (8), die in einem großen Binnensee in einem namentlich nicht genannten Land liegt, soll dieser »museo de la Infamia« (10) errichtet werden. Aus vielen Hinweisen und Anspielungen geht hervor, dass die Insel Ometepe im Nicaraguasee und das sandinistische Nicaragua der achtziger Jahre die außerliterarischen Bezugs-
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Vor diesem Hintergrund wurden Parallelen zwischen Blandóns Roman und Los de abajo (1915) von Mariano Azuela gezogen (beide in El Paso, Texas, geschrieben, wo Blandón ein Studium in »Master of Fine Arts« abschloss), die »Fresken« der mexikanischen bzw. nicaraguanischen Revolution seien. Gar als erster Roman, »que aborda la revolución triunfante de Nicaragua desde el poder« (Vélez García) wurde Blandóns Buch bezeichnet. Wie in diesem Kapitel dargestellt, ist dieses Urteil nicht haltbar und hat Blandóns Roman eine bescheidenere Bedeutung als einer von zahlreichen nicaraguanischen »Revolutionsromanen«. Sie kann keineswegs mit der ein neues Genre begründenden Relevanz des Romans von Azuela gleichgesetzt werden. Zamora Zapata wies auch unter einem textimmanenteren Aspekt auf wichtige Unterschiede hin: » [...] en Blandón dominan los rasgos de la narrativa postmoderna: desplazamiento del centro al margen, polifonía, protagonismo de una etnia indígena en lugar de la mayoría mestiza y de los cuadros de tercer nivel en vez de liderazgo nacional. Eso establece, además del contexto, una bien marcada diferencia con Azuela. Vuelo de cuervos es una deconstrucción de la revolución sandinista, la desacralización de la versión oficial, en la que el tiempo es transgredido y el espacio es múltiple. Esta es una novela policéntrica y polifónica, y se nos plantea como una propuesta alternativa de la historia. Su discurso es dialógico, en tanto que por virtud de la polifonía, las múltiples voces están en una constante polémica.« (Zamora Zapata, 1997: 3)
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punkte dieses dritten Romans Milagros Palmas sind. Das Museum ist eine Idee des Kulturministers der revolutionären Regierung, in dem unschwer eine Karikatur auf Ernesto Cardenal zu erkennen ist » [...] el ministro-cura [...] luciendo su boina a la Ché Guevara y su sotana verde olivo [...] mi gran sueño [...] es instalar el museo de la Infamia en la isla del Caimán« (22). Es soll die Schrecklichkeiten des alten, gestürzten Regimes dokumentieren, darunter das in Formalin eingelegte Gehirn des Diktators,38 die Revolution dokumentarisch legitimieren und als Abschreckung für zukünftige Generationen dienen, (vgl. 10, 16, 27) Allerdings erleidet das Boot, das die Ausstellungsstücke zur Insel bringen soll, Schiffbruch. Die Reliquien gehen im See unter und werden nur zum Teil wiedergefunden. Eine von der Regierung geschickte bewaffnete Einheit, die zum Teil aus Internationalisten gebildete Brigade Simón Bolívar, soll das Schiffsunglück untersuchen, die Voraussetzungen zur Einweihung des Museums schaffen und für revolutionäre Ordnung auf der Insel sorgen. Dabei stößt sie mit den Gewohnheiten und Traditionen der Inselbewohner, in der Regel armen Bauern, und insbesondere mit dem alten Don Gregorio zusammen, einem Grundbesitzer, der seine Macht über weite Teile der Inselbevölkerung ausübt und angeblich einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, daher der Titel des Romans (in den Augen der Inselbewohner können alle, die etwas mehr als die anderen besitzen, nur im Bunde mit dem Satan stehen; vgl. zu diesem Motiv das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«, bes. die Fußnote 67). Erzählt wird der Roman in einer langen Analepse, die (ähnlich wie in anderen Romanen Milagros Palmas) weitere Rückblenden und Rückblenden in der Rückblende enthält, ausgehend von einer Rahmenhandlung im ersten Kapitel, die erst am Ende des vorletzten Kapitels wieder kurz aufgenommen wird: Don Jacinto, ein Lotterieverkäufer, kommt auf die Insel, um Don Gregorio davon zu unterrichten, dass er den Hauptpreis gewonnen hat. Dieser ist jedoch schon gestorben, und Don Jacinto macht sich auf, das Grab zu öffnen, um zu sehen, ob er dort den Lotterieschein finden kann. Der Hauptteil des Buches besteht jedoch aus Erzählungen aus dem Leben Gregorio Menas und seiner Zusammenstöße mit den Vertretern des revolutionären Regimes. Mit dieser - von Klischees und Schwarzweißmalerei nicht freien - Gegenüberstellung Don Gregorios und der Brigade Simón Bolívar entwirft die Autorin eine Allegorie des Zusammenstosses von Rückständigkeit und Fortschritt, Revolution und Tradition, alten sozialen Strukturen und Vorstellungswelten
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Eine kaum verhüllte Anspielung auf die wechselvolle Geschichte des Gehirns jener anderen positiven - Vaterfigur Nicaraguas, Rubén Dario, nach dessen Tod. Vgl. dazu oben, das Unterkapitel »Die Revolution in der Literatur: eine (fast) unbekannte Vorgeschichte«, insbesondere die Passage über den Roman Margarita, está linda la mar von Sergio Ramírez. Ebenso offen spielt das Museum der Infamie auf Jorge Luis Borges' Historia de la infamia (1935) an.
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und den von der Revolution geschaffenen neuen Verhältnissen und Idealen. Mit den Mitteln der Ironie dekonstruiert Milagros Palma das Agieren der von der Stadt (zum Teil aus dem Ausland) auf die Insel gekommenen Revolutionäre, denen die Welt der Bauern und indígenas völlig fremd ist und bleibt. Objekt dieser ironischen Dekonstruktion sind eine Reihe von bekannten Revolutionskadern und Intellektuellen (wie Ernesto Cardenal, Gioconda Belli, Donald Guevara), die Rolle der Literatur und vor allem der Poesie in der Revolution, der Internationalisten und der internationalen Solidarität, der Organisationen der »revolutionären Wachsamkeit«, des Revolutionstourismus, die Versuche zur Abschaffung des Geldes und die Anstrengungen zur Steigerung der Produktion (die nur in der Erhöhung der »Produktivität« der Reproduktion, das heißt der Geburtenrate des Landes resultiert).39 Papageien, die »konterrevolutionäre Losungen« zum Teil in Englisch von sich geben (wie »Buenos días cabrón« und »El perro está culeando«; 36, 39) werden aus dem Käfig einer ambulanten Händlerin (»una burguesa especuladora«; 40 ) befreit, die angeblich mit der CIA im Bunde steht, und so wird dem Imperialismus ein schwerer Schlag versetzt. Ein Busfahrer erhält aus einer internationalen Solidaritätslieferung eine Brille, die ihn jedoch zu einer Gefahr für Passagiere und Passanten werden lässt, weil er nun alles weiter entfernt sieht als in der Wirklichkeit. In einer langen Passage wird der Besuch des berühmten südamerikanischen Schriftstellers Tulio Zarcotal (in dem ohne Mühe Julio Cortázar zu erkennen ist), dem wegen seiner Verdienste um die Revolution die »Orden de los Cisnes Blancos« (23) verliehen wird, parodiert. Schließlich wird das Agieren der internationalen Helfer und Sympathisanten der Revolution insgesamt ironisiert: » [...] los Intemacionalistas, en su mayoría Europeos, que habían sido bautizados con el nombre de Pacuso, sigla compuesta con la primera sílaba de tres términos: patas-culo-sobaco, por el olor indiferenciado que solían exhalar sus cuerpos a causa de una higiene, poco adecuada a los calores tropicales.« (35) Offensichtlich ist, dass nicht nur ihre hygienischen Gewohnheiten den tropischen Bedingungen nicht angepasst sind. »-¡Patria libre! [...] ¡Oh morir!« (89) karikiert die Autorin die revolutionären Floskeln der auf die Insel entsandten Revolutionsbrigade (und die zentrale Losung der sandinistischen Revolution). Doch die Dekonstruktion der Revolution beschränkt sich nicht auf die
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Vgl. zu dieser ironischen Grundstruktur des Romans auch Romero Meza, 2000: 102. Im August 1982 wurde der Sekretär des Kardinals Miguel Obando y Bravo, Bismark Carballo, von einem sandinistischen Fernsehteam »in flagranti« bei einem amourösen Abenteuer »überrascht« und nackt gefilmt. Bis heute sind die Umstände dieses Ereignisses nicht völlig geklärt, sehr wahrscheinlich war es jedoch vom sandinistischen Geheimdienst inszeniert. Jedenfalls gilt es in der jüngeren Geschichte Nicaraguas als Exempel des gewalttätigen Vorgehens der regierenden Sandinisten gegen die Kirche und der Unterdrückung der religiösen Freiheit, (vgl. dazu. Dietrich, 1988: 258)
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äußeren Formen und exemplarischsten Auswüchse des Missbrauchs der revolutionären Macht und die Degeneration der Revolution von einem Akt der Gerechtigkeit zu einem Sich-Bereichern der neuen Herren: »No hay duda, esto fue un acto ejemplar de amor, de justicia divina, de verdadero internacionalismo revolucionario. [...] / - ¿ Y ahora? / -Ahora, todo ha cambiado como vos podés ver. Este asunto es una gran piñata.« (21) Ins Blickfeld rücken ebenso die dem Zusammenstoß von Revolution und Tradition zugrunde liegenden tieferen Widersprüche und Probleme. Kritisiert werden die Missachtung der religiösen Gefühle und Überzeugungen der Bevölkerung durch das revolutionäre Regime, insbesondere in der Darstellung des »Falles Carballo«, der inzwischen zu einem Symbol des revolutionären Machtmissbrauchs in Nicaragua geworden ist und in zahlreichen anderen Romanen der achtziger und neunziger Jahre eine Rolle spielt: In El pacto versteckt sich dieser katholische Geistliche hinter dem Pseudonym Padre Rojillas, sein Gegenspieler Tomás Borge ist unschwer hinter dem Pseudonym »Comandante Santiago Cartera Malta«, »cartero de lagarto« genannt (149), zu erkennen, (vgl. 147-152)40 Dargestellt werden die Probleme des »trabajo voluntario que se volvió obligatorio« (180) und die ökonomische Unsinnigkeit des Ernteeinsatzes von Studenten und anderen, die über keine Erfahrung in der landwirtschaftlichen Arbeit verfugten. Auch eines der größten Traumata der jüngsten nicaraguanischen Geschichte, der Krieg und der obligatorische Militärdienst, wird wie in anderen Romanen der Epoche hinterfragt (vgl. 197-201), ebenso der Todeskult, ironisch gebrochen in der Schilderung der Probleme bei der Produktion einer ausreichenden Anzahl von Särgen für die im Krieg Gefallenen: »Los carpinteros, como Don Joaquín, habían abandonado este oficio frente a las nuevas exigencias de una sociedad cuya gestión meticulosa y detallada de la muerte era la justificación de su existencia. Ahora tocaba dedicarse enteramente al oficio porque se debía masificar la producción del ataúd para proveer una demanda importante para la cual, los artesanos no estaban preparados.« (185) Schließlich dekonstruiert Milagros Palma die Versuche, mit der Revolution die alten Verhältnisse über den Haufen zu werfen, so zum Beispiel in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Von ebensolcher Bedeutung sind die grundlegenden Widersprüche zwischen den revolutionären Zielen und den Interessen der Bauern und Indios.41 Sie stehen den ihnen äußerlich und abstrakt bleibenden politischen Errungenschaften der Revolution und den Erfordernissen der Produktion der revolutionären Regierung indifferent gegenüber, sind an der eigenen Unabhängigkeit interessiert und leben weiter in ihren Traditionen und Mythen: »Pero los cam-
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Vgl. dazu die Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation« sowie »Zweiter Kreis: Magie und Realität«.
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pesinos no respondían a las expectativas contempladas en los contratos, y seguían movilizados en sus celebraciones, bautizos, casamientos, entierro: todo lo necesario al regocijo de la vida comunal.« (41) Sie misstrauen der Agrarreform, auch wenn sie ihnen Land verspricht: »-No seas dundo, ¿cómo vas a meterte en cooperativa?, ¿no ves que estando en la cooperativa no se puede comprar ningún lote? / -Si es que dan las tierras, yo quiero que me den un pedazo, pero que no me pidan cuentas, respondió Manuel, que como muchos campesinos interpretaban la reforma agraria a su manera.« (164f.) Die Revolution steht vor einem grundlegenden Konflikt: »¿Cómo hacerlos trabajar sin utilizar la represión? ¿Cómo reprimir sin ser acusados de dictadores o secuaces? ¿Cómo obligarlos a reembolsar los préstamos si todo se lo gastaron?« (44) Dieser Konflikt bleibt ungelöst, symbolisiert am Zusammenstoß Don Gregorios und der Revolutionsbrigade. Don Gregorios Eigentum wird von der Revolution enteignet. Die Brigade verlässt die Insel, ohne das Museum zu errichten. Don Gregorio erhält zwar sein Eigentum zurück, stirbt jedoch wenig später. Kurz vor seinem Tod gibt er noch ein Geheimnis an seinen Sohn weiter: »Los sesos del dictador están enterrados en el corral. Hay que sacarlos, hay que quemarlos para que se acabe ese mal. La infamia está viva. Nos predican la guerra con horror de cataclismo. Así como el dictador se fue, también se irán los piñateros barbudos, aunque luego vendrán, y esta vez, andarán encorbatados.« (215) Der sterbende Don Gregorio, Gegner Somozas, der ihn enteignen wollte, Feind der Revolution, die sein Eigentum zeitweise konfiszierte, in Angst vor den zukünftigen Herren in Anzug und Krawatte, und das ungebaute Museum - eine Allegorie der ausgebeuteten und unterdrückte bäuerlichen Bevölkerung und des Scheiterns der Revolution; das vergrabene Gehirn des Diktators - eine Metapher der unterirdisch weiterexistierenden Schrecken des Alten Regimes. Bereits ein Jahr zuvor hatte Milagros Palma in ihrem zweiten Roman, Desencanto al amanecer (1995), eine literarische Kritik der sandinistischen Revolution aus feministischer Sicht veröffentlicht, die programmatisch bereits im Titel des Buches zusammengefasst ist. Im Mittelpunkt steht die Schriftstellerin Fernanda Rosales Cantero, die sich für das revolutionäre Projekt engagiert und an einer »Kulturbrigade« beteiligt, um den Kampf gegen die Contra zu unterstützen. Zum Großteil als Dialogroman verfasst (der Hauptteil besteht aus Gesprächen der Brigademitglieder über Themen der Revolution), dekonstruiert die Autorin den offiziellen Diskurs von der Befreiung der Frau und der Sexualität, von der Freiheit des Autors und der literarischen Schöpfung als Propaganda, die mit den realen Verhältnissen nicht übereinstimmt.42 Ihre Identität als Frau und eine befreite Sexualität lernt sie nicht durch die
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Vgl. dazu ausführlich das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«.
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Revolution kennen, sondern erst in ihrer Beziehung zu der Eingeborenen Yawira. Die Revolution bleibt für die Frau in den jahrhundertalten Traditionen der weiblichen Unterdrückung befangen, ein Projekt ohne Liebe.
Die Revolution: Eine unerßillte Liebe Die Revolution als Geschichte einer enttäuschten Liebe erzählt auch Georgina Lupiac in ihrem ebenfalls Mitte der neunziger Jahre erschienenen Erstlingsroman Debió llamarse libertad (1996).43 Wie bei Mónica Zalaquett und Erick Blandón ist der außerliterarische Bezugspunkt dieses Romans eine konkrete Maßnahme der revolutionären Regierung, in der sich gleichzeitig eines der grundlegenden Probleme des revolutionären Prozesses in Nicaragua manifestierte: der obligatorische Patriotische Militärdienst, der Tausende von Jugendlichen in den Krieg gegen die Contra zwang, unermessliches Leid über viele nicaraguanische Familien brachte und ohne Zweifel eine der entscheidenden Ursachen für den Verlust eines Großteils der sozialen Basis der sandinistischen Regierung sowie für die Wahlniederlage der Sandinisten im Februar 1990 war.44 Der Roman erzählt die Geschichte einer nicaraguanischen Mittelschichtfamilie mit starken religiösen Wurzeln, insbesondere das Leben der einzigen Tochter, Sabina Falcón, vom Sturz der Somoza-Diktatur bis in die zweite Hälfte der achtziger Jahre. Anfangs die Revolution unterstützend, verliert die Familie nach und nach das Vertrauen in den revolutionären Prozess aufgrund der Richtung, die er einschlägt. Der Vater, Bautista Falcón (seit Jahren verwitwet), emigriert mit dem ältesten Sohn nach Honduras, nachdem der jüngste Sohn sein Leben im Patriotischen Militärdienst verlor. Auch ein Freund Sabinas erleidet das gleiche Schicksal. Sie arbeitet in einer staatlichen Behörde, wo sie von ihrem Vorgesetzten sexuell und politisch belästigt wird. Schließlich landet sie aufgrund einer von ihm gesponnenen Intrige im Gefängnis. Sie verliebt sich in einen Gewerkschafter, späteren Militär und überzeugten Anhänger der Revolution, mit dessen Hilfe sie wieder freigelassen wird. Aufgrund der ideologisch-bürokratischen und militärischen Restriktionen ist es nicht möglich, diese Liebe zu leben, und Sabina beschließt zu fliehen. Sie erhält die Erlaubnis, auf die finca ihrer Familie im Norden des Landes zu gehen, unter militärischer Bewachung ihres Geliebten. Von dort entkommt sie schließlich nach Honduras, wo sie ihre Familie wiederfindet. Zuvor begegnet
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Die Autorin hatte zuvor nur journalistische Arbeiten veröffentlicht. Wie im Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur« dargestellt, wurde dieses Thema auch in einigen in den neunziger Jahren erschienenen testimonios aufgegriffen, insbesondere in Testimonios de aquella década (1993) von Danilo Guido und Algo más que un recuerdo (1997) von Ernesto Castillo Guerrero.
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sie ein letztes Mal ihrer großen Liebe. Er hatte sie auf der Flucht verfolgt und war auf honduranischer Seite tödlich verwundet in ein Gefangenenlager eingeliefert worden. Kurz vor seinem Tod entschließt er sich in Anwesenheit Sabinas, die marxistisch-leninistische Ideologie aufzugeben und zum christlichen Glauben zurückzukehren. Der Roman beschreibt also über weite Strecken die Geschichte einer Reise - die Flucht Sabinas - , die am Ende nicht nur in der Zuflucht in einem anderen Land unter anderen politischen Bedingungen endet, sondern auch in einer Welt anderer ideologischer Werte, wo sie ihren Frieden in Gott findet. Im Hintergrund dieser Geschichte einer nicht verwirklichten Liebe, die zur gleichen Zeit eine Geschichte des verlorenen Vertrauens (in die Revolution) und des wiedergefundenen Glaubens (an Gott) ist, stehen die politischen Ereignisse in den Jahren vom Sturz der Diktatur 1979 bis zur zweiten Hälfte der achtziger Jahre: die Machtübernahme durch die Regierungsjunta des nationalen Wiederaufbaus, der Rücktritt Violeta Barrios de Chamorros und Robelos von der Regierung, der »Fall Carballo«, die Mobilisierung für den Patriotischen Militärdienst, die Konfrontation zwischen Regierung und Kirche, der Krieg gegen die Contra und die Flüchtlingslager in Honduras. In diesem Sinne erzählt dieser Roman »una de tantas historias que miles de hombres y mujeres vivieron en los años 80« (González, 1997: 14). Allerdings, so hieß es in der gleichen Besprechung des Buches, sei er ein »claro ejemplo de cómo no se debe escribir una novela« (ibid.): Die Autorin mische sich im Übermaß direkt in die Handlung ein, die den Leser mit einer Überfülle von manichäischen Adjektivierungen überschütte, fortwährend sei sie darum bemüht zu erklären, was falsch sei und was richtig, was schön und was gut. (vgl. ibid.) In der Tat sind die narrativen Ressourcen der Autorin in diesem Roman bescheiden. Die Erzählung wird nicht nur völlig linear präsentiert, sowohl was ihre zeitliche und räumliche Struktur, als auch ihre kausalen Beziehungen angeht, sondern auch aus einer einzigen Erzählperspektive: in der dritten Person aus der Sicht eines allwissenden Erzählers, der in diesem Fall identisch mit der Autorin ist. Nicht nur ist jede Distanzierung zwischen Autorin, Erzählerin und Protagonistin aufgehoben, die Autorin/Erzählerin mischt sich auch wiederholt direkt in die Handlung ein, wie zum Beispiel am Ende des Romans (um nur ein Beispiel zu zitieren): »Sabina trató de ayudarle espiritualmente como lo hacía regularmente. Empezó a hablarle con ternura sobre la inmensidad del amor de Dios. / La disposición que tenía para perdonarnos y amarnos y la oportunidad de creer en la existencia de una vida mejor allá de la muerte.« (165) Die Autorin/Erzählerin schlüpft also nicht als literarische Figur wie die anderen Personen des Romans in den Text (eine auch im zeitgenössischen nicaraguanischen Roman oft verwendete Technik), sondern missbraucht als allwissende Erzählerin ihre Romanfiguren, um ihre eigenen ideologischen Positionen zu transportieren. Dem entspricht eine Stereotypisierung der Personen im Stile der Trivial- oder Kitschliteratur. Die »Guten« sind schön bis in einzelne Details ihrer
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Physiognomie, die »Bösen« sind hässlich und abstoßend. Der Roman ist voller »hombres nobles y honestos, mujeres muy bellas y buenas, fieles servidores de la familia, miradas dulces y tiernas, muchachos graciosos y lleno de vitalidad, grandes y claros ojos, perfiles helénicos, bellezas misteriosas, dorados cabellos, amistades limpias y sinceras, ejemplos vivos de limpieza y honestidad, fieles esposas y compañeras, perfectas amas de casa, corazones tiernos y compasivos« auf der einen Seite; aber auf der anderen gibt es eine Fülle von Typen »de mediana estatura, un poco pasado de peso«, ohne »título universitario«, aber mit »mirada inquisidora, pequeños ojos, actitud prepotente, falta de capacidad, mirada lasciva, conocimientos rudimentarios, cuerpo provocativo y voz chillona«, voller »odio y soberbia, furia, arrogancia«, »secretarias intrigadas« mit »protuberantes bustos« und »sonriendo maliciosa«. (alle Zitate aus dem ersten Teil des Romans, 9-37) Diese manichäische Struktur charakterisiert den Text als Kitschroman, was die erzählte Liebesgeschichte angeht, und als Pamphlet, was seinen religiösideologischen Inhalt betrifft. Die Zuflucht im Religiösen bleibt noch dazu der Entwicklung der Personen völlig äußerlich, mischt sich als Schmuggelware der Weltanschauung der Autorin in die Handlung. Die Figuren des Romans dienen dazu, die Überzeugungen der Autorin zu rechtfertigen und zu übermitteln, ein weiteres Kennzeichen des (religiösen) Pamphlets: »El recurso de lo religioso, incorporado en momentos difíciles y decisivos de la heroína, busca apelar a los sentimientos del lector. Recurso fácil, gastado, de factura melodramática, lo encontramos en cualquier novela litúrgica, rosa o folletinesca, en las que si no es Dios, puede ser la familia, los hijos, un hermano, un hijo o una mascota, los que se utilizarían para tal fin.« (Ayerdis, 1997: 75)45 Dies führte Ayerdis zu dem Urteil, der Text sei eine »novela fallida« (ibid.: 73), deren Ziel es nicht sei zu erzählen, sondern zu urteilen und zu verurteilen, (vgl. ibid.: 78) Der obligatorische Militärdienst und der Krieg sind nur Maßnahmen einer verhassten Regierung, die es zu denunzieren gilt, nicht Ereignisse, in denen die sozialen Widersprüche der Revolution zum Ausdruck kommen. Diese Probleme werden reduziert auf den Kampf des »Guten« gegen das »Böse« - der Roman der Revolution als Trivialroman, dessen dokumentarischer Wert gleichwohl nicht zu unterschätzen ist: Er reflektiert die individuellen Überzeugungen der Autorin, die gleichzeitig repräsentativ sind für den Bewusstseinszustand von Sektoren der nicaraguanischen Bevölkerung Mitte der neunziger Jahre hinsichtlich der jüngsten Geschichte ihres Landes, das heißt im Unterschied etwa zu den Romanen von Mónica Zalaquett und Erick
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Ayerdis bezieht sich hier auf Alberoni (1993, dt. 1991). Vgl. zu dem Roman insgesamt den interessanten Aufsatz von Ayerdis (1997).
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Blandón für die Sicht der Sektoren, die sich nicht mit dem revolutionären Projekt identifizierten. 46 Eine ähnliche Charakterisierung trifft auf zwei 1997 erschienene Romane von Hermán Rios und Martine Dreyfus zu. Wie in seinem ersten Roman (Las
burlas de la vereda infinita, 1996) schildert Hermán Ríos in Sueños de amor en un país desafortunado (1997) die dramatischen Veränderungen in der nicaraguanischen Gesellschaft in der jüngsten Geschichte des Landes aus der Sicht eines alten, ehrwürdigen Mitglieds dieser Gesellschaft, das - noch in den aus der Kolonialepoche herrührenden Traditionen und Werten verhaftet - voller Unverständnis auf diesen historischen Wandel reagiert. Die Konstellation ist ähnlich: Steht im ersten Roman das Leben des Doktors der Rechte Abel Con-
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Gänzlich zur Trivialliteratur zu rechnen sind die beiden von Plutarco Cortez veröffentlichten Texte La mala digestión (1994) und La mala digestión 2: La gran imagen (1998). In beiden Büchern wird die Geschichte des 46-jährigen Chico Luz erzählt. Er erwacht eines Morgens verwandelt: Sein Körper, noch am Abend zuvor von Krankheiten befallen, ist wieder wie vor zwanzig Jahren. Seine Freude ist zunächst sehr groß, verwandelt sich jedoch in dem Maße in Verzweiflung, wie er weder von seiner Ehefrau, noch von seinen Kindern und seiner Schwester erkannt wird. Sein Lieblingssohn Nestubal, der ihn für einen Nebenbuhler (und den Mörder seines Vaters) hält, mit dem die Mutter den Vater betrogen haben soll, schwört, ihn zu töten, so dass Chico Luz flieht. Beide Texte erzählen die Irrfahrt des Protagonisten und seine immer wieder scheiternden Versuche, seine Identität wieder zu finden bzw. von den ihm nahestehenden Menschen erkannt zu werden. Obwohl beide Bücher die Geschichte einer Reise erzählen, bleiben die Koordinaten der literarischen Geografie völlig bedeutungslos, ist kaum mehr zu erfahren, als dass sich die erzählten Geschichten abwechselnd in Managua und in San River am Rio Coco ereignen. Wiederholt tauchen unvermittelte und zum Text insgesamt in keinem erkennbaren Zusammenhang stehende Bezüge zur politischen Situation im Nicaragua der achtziger Jahre auf: »Cuando los representantes de los nueve gobernantes llegaron a nuestro pueblo, la justicia se tornó líquida como baba de serpiente.« (1998: 53) In politischen Kommentaren wendet sich der Autor direkt gegen die regierenden Sandinisten: »Todo Nicaragua fue testigo de cómo se derrumbó el cielo que se habían inventado ellos, los expertos en el manejo de las armas.« (1998: 88) Aus diesen wenigen Hinweisen auf die politische Situation lässt sich schließen, dass die Handlung im Nicaragua der achtziger Jahre spielt, die Repräsentation der sozialen Wirklichkeit bleibt jedoch unbedeutend. Beide Bücher durchziehen pseudophilosophische Anmerkungen des Autors. So versucht er dem ersten Buch in einem Vorwort eine quasi philosophische Fundamentierung zu geben, indem er eine Theorie der natürlichen und sozialen Entwicklung formuliert, die auf der »schlechten Verdauung« beruhten (daher der Titel): »La indigestión es universal. Los accidentes naturales no son otra cosa que indigestiones sufridas por la naturaleza. [...] La erupción de un volcán por ejemplo, es el efecto de una indigestión. Las explosiones sociales no son sino los efectos de indigestiones sufridas por la sociedad.« (1994: 4) Im zweiten Buch sind diese Kommentare schon nicht mehr paratextuell abgetrennt, sondern in den Text eingestreut: »Es menester que en este mundo hayan poetas. El que hace poesía tiene tantos méritos, como el que hace el sexo. El orgasmo cósmico sólo pudo haber sido posible, gracias a la magia de un gran poeta.« (1998: 63f.) Der Zusammenhang zu der erzählten Geschichte bleibt völlig unklar. Hinzu kommen zahlreiche sprachliche Ungereimtheiten und Fehler (bis in die Orthografie), Wiederholungen und logische Widersprüche. Insgesamt sind die beiden Bücher also bestenfalls als Versuche zu verstehen, literarische Texte zu schreiben.
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desoto, eines gemäßigten Anhängers der Liberalen, im Mittelpunkt der Handlung (die den Zeitraum von den Anfängen des bewaffneten Kampfes gegen die Somoza-Diktatur in den sechziger Jahren bis zum Sturz des Regimes umfasst), so wird hier das Leben des Arztes Irineo Torremolino, eines überzeugten Parteigängers der Konservativen (der zweiten großen traditionellen Partei in Nicaragua) erzählt (nach dem Sturz der Diktatur und während der Regierungszeit der Sandinistischen Befreiungsfront in den achtziger Jahren). Wie im ersten Roman des Autors geht es auch im zweiten um die verschiedenen (unglücklich endenden) Liebesgeschichten des Protagonisten, seine Zuflucht im christlichen Glauben gegenüber den Anfechtungen der traditionellen Werte durch die jähen Wendungen der jüngsten Geschichte Nicaraguas und um die Suche nach dem verlorenen Sohn (Ergebnis einer nur kurzen - aber der einzig wahren - Liebe Irineo Torremolinos zu der Prostituierten Mariquita Espinosa; im ersten Roman war es eine verlorene Tochter). Wie die Tochter im ersten Roman ist der uneheliche Sohn im zweiten zu einem ranghohen Vertreter des neuen, revolutionären, Regimes aufgestiegen, kommt es trotz aller Bemühungen und aller beschworenen gegenseitigen Liebe nicht zum herbeigesehnten Zusammentreffen und Happyend. Auf viele Ereignisse in der Geschichte Nicaraguas in diesem Jahrhundert anspielend (vom konstitutionalistischen Krieg 1926 über die Ermordung Sandinos 1934 und Anastasio Somoza Garcías 1956 bis zu den Konfiskationen und dem Patriotischen Militärdienst der achtziger Jahre), erzählt der Roman in zahlreichen Rückblenden und aus verschiedenen Perspektiven (oft in Form von in die Handlung eingebauten, konstruiert wirkenden, Briefen) die Geschichte Nicaraguas in Einzelschicksalen, meist aus dem Umkreis der »geachteten Familien« und ihrer Bediensteten. Immer wieder wird Bezug genommen auf die Sehnsucht Irineo Torremolinos nach den »guten alten Zeiten« und seine Besessenheit, sich an die Vergangenheit zu erinnern - gepaart mit seinem Unverständnis für die so vielen radikalen Änderungen in der Gegenwart. Wiederholt werden der Protagonist und andere Personen des Romans zum Sprachrohr der Ansichten des Autors, denen kaum glaubwürdige politische Urteile in den Mund gelegt werden, etwa ein ganzes Regierungsprogramm (vgl. 132f.) oder eine kritische Bilanz der nicaraguanischen Geschichte seit der Erlangung der Unabhängigkeit (vgl. 207). Dem entspricht eine durchweg traditionelle Erzählweise voller Elemente der Trivial- und Kitschliteratur. Allerdings verweigert dieser Roman wie der erste des Autors ein glückliches Ende. Dass (verlorene) Tochter bzw. (verlorener) Sohn und Vater nicht zusammenkommen können, ist eine recht deutliche Allegorie des fundamentalen, schockartigen Wandels, den die sandinistische Revolution in der jüngsten Geschichte des Landes darstellte und der die nicaraguanische Gesellschaft tief gespalten hat. Es ist ein nostalgischer Rückblick und Abgesang auf die alte Ordnung mit ihren in der Kolonialherrschaft verankerten Werten, die im Nachhinein verklärt wird, während die neue Ordnung außen vor bleibt und
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nur gelegentlich in Form staatlicher Zwangsmaßnahmen in die gewachsenen, »gerechten« Verhältnisse eingreift. Damit gelingt es dem Autor jedoch durchaus, einen fundamentalen Aspekt des nicaraguanischen Bruderkrieges der letzten Jahrzehnte darzustellen. Hauptfiguren in Martine Dreyfus, El viaje de la vida (1997) sind vier Personen: die in bescheidenen Verhältnissen lebende Tortillabäckerin Rosaura und ihr Sohn, der Hafenarbeiter Miguel, sowie Don Francisco, Hafenverwalter, und seine Ehefrau Bianca, die aus einer wohl angesehenen Familie der Hauptstadt stammt. Über das trotz der weitgehend ärmlichen Verhältnisse idyllische Leben in der Hafenstadt Patras am Pazifik (ein literarisches Abbild des nicaraguanischen Pazifikhafens Corinto?) bricht eines Tages das Unglück in Form eines Massakers herein, das die »guardia« des Generals und Diktators in der Hauptstadt an den an einer Versammlung teilnehmenden Hafenarbeitern verübt. Diese hatten sich, angeregt von der in der Hauptstadt und dann im ganzen Land um sich greifenden revolutionären Bewegung, versammelt, um sich über ihre Rechte zu informieren. Das Ereignis wird zum Ausgangspunkt zweier Reisen, die unterschiedliche Entwicklungen der beiden Hauptpersonen - Bianca und Miguel - in die Wege leiten, sie trennen, aber am Ende wieder zusammenfuhren. 47 Miguel, von der Nationalgarde schwer verletzt, wird auf Vermittlung Don Franciscos von Woulfang, dem Kapitän des deutschen Schiffes »Goslar«, zusammen mit seiner Mutter nach Europa gebracht und geheilt. Bianca schließt sich den Revolutionären an und verlässt Don Francisco: »Quería participar y comprometerse a fondo. Su vida había cambiado. [...] Iniciaba el viaje de la vida.« (61) Beide »viajes de la vida« (daher der Titel des Buches) kommen am Ende des Romans wieder in Patras zusammen. Miguel ist mit einem von einer schwedischen Nichtregierungsorganisation unterstützten Projekt zurückgekehrt, für das auch Bianca zu arbeiten beginnt, die sich von ihrem Lebensgefährten, dem Guerillero Raúl, getrennt hat. Bianca und Miguel verlieben sich, gehen zusammen nach Managua, wo sie wieder für das Projekt arbeiten, und »siguieron el viaje de la vida« (138). Am Ende steht also wieder die - nunmehr nach den politischen Wirren und individuellen Schicksalsschlägen bewusst gelebte - Idylle: »Se llevaban bien con todo el barrio, saludaban a todo el mundo sin distinciones, a los que no querían a la revolución y a los prorevolucionarios que vivían, por cierto, con la comodidad del poder, en su realidad, lejos de las penalidades cotidianas. [...] Gracias a su universo particular, Blanca y Miguel sobrevivían al triste fracaso del país y a la agonía de un sueño, el mundo mejor por el que tantos lucharon y murieron se desvanecía y de nuevo se convertía en una quimera.« (137)
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Zu den damit zusammenhängenden Koordinaten der literarischen Geografie des Romans vgl. das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«.
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Kurz vor Ende des Romans mischt sich die Autorin direkt in einem scharfen politischen Kommentar gegen die regierenden Sandinisten in den Text ein. Im Gegensatz zu Georgina Lupiacs Roman resultiert dieser jedoch nicht in einer prinzipiellen Ablehnung der Revolution, politischer Schwarzweißmalerei und Zuflucht zu einem religiös begründeten antisandinistischen Diskurs. Die Autorin lässt keinen Zweifel daran, dass sie Bianca und Miguel als Symbol des »anständigen« Nicaragua - jenseits aller ideologischen Festlegungen und als Hoffnung für die Zukunft versteht, gleichzeitig als Exempel für ganz Lateinamerika: Nahe der vom Erdbeben zerstörten Kathedrale in Managua nehmen beide ein Kind von drei oder vier Jahren an die Hand, das um Geld für eine Tortilla bettelt, das Gesicht voller Schmutz und Rotze, der Körper abgezehrt und in Lumpen gehüllt: »En sus ojos color café se veía toda la tristeza e injusticia de la América Latina maltratada y abandonada.« (138) Die Revolution wird erzählt im Stile eines idyllischen Lehrstücks.48
Die Revolution: Eine ungeliebte Sprache, ein ungeliebter Kandidat und ein ungeliebter Kommandant Auch in Roger Mendieta Alfaro, La piel de la vida (1987), dem ersten Roman des Autors, ist ein Hafen (»el Puerto«) an der Pazifikküste der zentrale Schauplatz (möglicherweise mit demselben realen Bezugspunkt Corinto wie in dem Roman von Martine Dreyfus), dessen Bewohner vom Fischfang und der Arbeit in der örtlichen Saline (»la Planta«), teilweise auch von der Viehzucht, leben. (Zu einem weit geringeren Teil spielt die Handlung auch in León und in Orten der Region um León sowie in den Bergen südlich Managuas). Im Gegensatz zu den drei im letzten Unterkapitel analysierten Romanen arbeitet Mendieta Alfaro jedoch nicht mit den Mitteln des Kitsches und der Idylle, sondern mit denen der Karikatur und der Satire. Wie aus vielen Anspielungen hervorgeht, spielt die Handlung in den achtziger Jahren während der Zeit der sandinistischen Regierung, in einer Reihe von Rückblenden werden aber auch Ereignisse aus der Zeit davor (der Somoza-Diktatur) geschildert. Das Leben der armen Bevölkerung wird (typisch für die Mehrheit im Land) bestimmt von der Natur, die den Menschen die Lebensgrundlagen sichert, aber sie auch ständig wieder in Frage stellt. Ähnlich wie die Naturgewalten als Lebenselixier und existenzielle Bedrohung erscheinen (ein traditioneller Topos in der lateinamerikanischen Literatur), so die politischen Gewalten. Sie sind eine permanent
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Diesem insgesamt idyllischen Inhalt entspricht auch die weitgehende formale Anspruchslosigkeit des Textes. Zwar werden die unterschiedlichen Lebensgeschichten der Hauptpersonen ineinander verwoben, gibt es zahlreiche Sprünge von einem Ort zum anderen, der lineare Aufbau der Handlung und die chronologische Reihenfolge bleiben jedoch unangetastet.
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drohende Gefahr, die den Lebenskampf der Menschen zusätzlich erschwert, aber auch - zumindest in einigen Fällen - den sozialen Aufstieg ermöglicht. »El dolor es la piel de la vida« (90, 187), fasst die weibliche Protagonistin des Romans schon in der Mitte des Buches und dann noch einmal am Ende dieses Leben zusammen, wie es schon der Romantitel paratextuell zum Ausdruck bringt. Dennoch ist es auch ein Leben voller Feste, kleiner und großer Freuden, ausfuhrlich geschilderter Promiskuität und scheinbar ohne feste Regeln, wo man es vom Viehdieb und Frauenhelden zum politischen Funktionär und vom Kirchenräuber zum Prediger bringen kann. Hauptfigur ist die mehrfache Ehefrau, Mutter, Schwiegermutter, Großmutter Paca Artola, Kopf einer Familie mit »cuarenta y tantos maridos, hijos, nietos, yernos y parientes de todo color« (183). Die äußere Handlung des Romans konzentriert sich im Wesentlichen auf die Lebensgeschichte dieser Frau, ihren Überlebenskampf, ihre Erkrankung, ihr langes Siechtum und ihren Tod. Ihre innere Entwicklung, das heißt ihr langsames Irrewerden, wird an einer Reihe von Schlüsselerlebnissen geschildert. Da ist zunächst die Geschichte vom Fang des Riesenfischs, von dem sie schon immer geträumt hat. Eines Tages erfüllt sich dieser Traum, als sie mit einer ihrer Enkelinnen auf das Meer hinausfährt. Doch der Traum wird zum Trauma. Bei der Rückkehr werden beide von den Naturgewalten eines tropischen Gewitters überrascht und müssen alle anderen gefangenen Fische über Bord werfen, um zu überleben. Nach vier Tagen Irrfahrt auf dem Meer gelingt es ihnen, in den Hafen zurückzukehren und auch den Riesenfisch mit an Land zu bringen. Monatelang leben sie nur von diesem Fisch, und fortan bestimmt er die Vorstellungswelt Pacas, die sich in ihren Schaukelstuhl zurückzieht, jeden Kontakt zur Außenwelt verliert und nur noch in ihren Erinnerungen an den Riesenfisch lebt. Aus der »enfermedad del mero« (125, mero = Riesenzackenbarsch) entsteht das Besorgnis erregende »síndrome de la silleta« (125), der Verlust jeglichen Bezugs zur äußeren Realität. Mit dem Eindringen des Fernsehens in das Dorf wird dieser Zustand von einem völligen Aufgehen Pacas in der über die Mattscheibe flimmernden Scheinwelt abgelöst: Sie wird zur eingebildeten Befehlshaberin des »revolutionären Heeres«, zum Opfer eines weiteren Realitätsverlusts: »Se levantaba a las tres de la madrugada, apenas escuchaba cantar a los gallos [...] tres veces, y se disponía a ejecutar sus marchas, sus contramarchas, y a lanzar desaforadas voces de mando, que hacían que todo mundo bostezara el santo día siguiente, sumido en el más miserable desvelo.« (107) Schließlich zieht sie sich wieder in ihren Schaukelstuhl zurück, leidet an Schizophrenie, verfällt in ein langes Siechtum und stirbt an einem »paro muscular semejante a un estado de catalepsia provocada por la extraña compulsividad de una visión mágica del mundo« (181). Einer ihrer Söhne urteilt, » [...] de que su mama tenía una locura común y corriente como la que tiene todo simple mortal que sueña con presidencias, con campeonatos mundiales de libertad, con premios millionarios de la lotería de New York o con la dictadura
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del proletariado aun en los rincones más infelices del mundo, y que debería ser tratada como son tratados estos casos en las sociedades de cortes más avanzados, con una absoluta y total ignorancia del paciente [...] para que se curara sola [...] «(170) Schon diese oft etwas konfus und willkürlich erzählte Geschichte kann als Metapher des politischen und gesellschaftlichen Zustands Nicaraguas in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre gelesen werden. Das eigentliche kritische Potential des Romans liegt jedoch in seiner Sprache. Der Text ist durchsetzt mit unzähligen Elementen jener Mischung aus Bürokratensprache und revolutionärem Pathos, die den offiziellen politischen Diskurs im Nicaragua der achtziger Jahre dominierte. Aus der ungefilterten Wiedergabe dieser newspeak entsteht ein Bild von der politischen Ordnung eines Landes, die mit den realen Lebensbedingungen der Menschen nichts zu tun hat, sondern ihnen noch äußerlicher bleibt als die bedrohlichen Naturgewalten. Aber der Roman verweist in der intertextuellen Verwendung dieses Sprachmaterials nicht nur einfach auf diese gesellschaftliche Realität mit den »alfabetizadores de la revolución« (11), »internacionalistas de todo el mundo« (16), »nuevas medidas de la seguridad revolucionarias« und »el permiso firmado por el comandante de las milicias« (19), »los contrarrevolucionarios« (20), »la taijeta de racionamiento« (99), dem »ejército revolucionario« (107), »el problema de la escasez de alimentos por el bloqueo« (114), »la agresión extranjera« (129) - kurz: einer Gesellschaft auf der Basis von »la ley y el orden representados por el comandante« (122). Mit den Mitteln des Humors und der Ironie wird die Rationalität einer solchen politischen und gesellschaftlichen Ordnung ins Lächerliche gezogen und in Frage gestellt. Da taucht zum Beispiel der örtliche Kommandant im Gottesdienst auf, der in einem Privathaus abgehalten wird, brüllt noch auf der Schwelle der Eingangstür »¡Viva la revolucion!« und alle antworten mit »¡Viva! ¡Viva!« (25), während sie ihre Angst hinter einem Lächeln verbergen. Alle fragen sich, was mit dem Kommandanten geschehen war. Und während er den Gottesdienst verlässt, fallen ihre Blicke auf die improvisierte Kanzel: Dort lächelt das Gesicht des Präsidenten von der Rückseite eines Esso-Kalenders, das der Hausbesitzer in aller Eile skizziert hatte. Da wandelt sich ein Sohn Pacas, Hércules, im Gefängnis unter Somoza vom Viehdieb und Frauenhelden plötzlich zum »Hombre Nuevo«, der schließlich gar von der Präsidentschaft träumt. Doch die Bewohner des Hafens kann er nicht täuschen: » -Dicen que sos el Hombre Nuevo -volvió la cabeza María [...] / -Sí, soy un hombre nuevo. / -Para mí sos el mismo Hércules Artola de la última apaleada. / -Uno puede ser el mismo por fuera, pero ser nuevo por dentro. / -Eso es un poco difícil de entender. / -Sí, que lo es.« (69f.) Schließlich durchziehen den Roman Passagen, die ohne Rekurs auf Humor und Ironie, oft aber mit einem sarkastischen Unterton die Verhältnisse im sandinistischen Nicaragua offen anklagen. Ohne den Umweg über die Stimmen seiner Figuren in den zahlreichen Dialogen zu nehmen, mischt sich der Erzäh-
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ler/Autor in den erzählenden Passagen (in der dritten Person geschrieben) meist direkt kommentierend und urteilend ein, etwa gegen die von der Revolution vorgenommenen Enteignungen (»tomando las tierras de los otros, y las casas de los otros, y las rentas de los otros, para sus propios programas«, 64), den obligatorischen Patriotischen Militärdienst (»voluntarios del servicio militar que detestaban la guerra«, 184), gegen die Verfolgung von Priestern (»Hacia apenas unas semanas se había iniciado la persecución de pastores [...] Luego de amonestarlos, fueron llevados a la cárcel«, 24), gegen den Gesinnnungsdruck (»la sicosis de persecución política [...] / [...] el entrenamiento político y el lavado de cerebro«, 67), gegen die internationalen Helfer (»los internacionalistas que merodeaban en nuestra tierra bajo la impune caparazón de cooperantes«, 133) oder auch den Kurs der Revolution insgesamt: »-Ustedes son como la revolución. Nadie trabaja, no hay nada de nada para comer, pero todos los días hacen fiestas«, kommentiert eine der Gestalten des Buches (»El caos alcanzó niveles inconcebibles. [...] / [...] un pueblo amotinado por la turbulenta furia de la anarquía«, resümiert der Erzähler schon zu Anfang des Romans, 29). Er lässt keinen Zweifel daran, dass der individuelle Wahnsinn Pacas nur Ausdruck eines kollektiven Irrsinns ist, der das nicaraguanische Volk angesichts der Bedrohung von außen (die Bombardierung durch die USA, symbolisiert im »Pájaro Negro«) und der Zustände im Innern erfasst hat: »Además de la locura común y corriente de la Paca, su incansable imaginación y penetrante olfato de buscadora de aventuras, habían sido también afectados por el nuevo mal de casi todos los ciudadanos del Puerto: el síndrome del Pájaro Negro. [...] una especie de furor providencial, de aliento liberador y una patológica sicosis invasionista refundida en un sentimiento colectivo que como el huracán no dejaba rancho sin tocar [ . . . ] « (171) Dieser Wahn macht auch nicht vor der Sprache Halt: Immer wieder kritisiert der Erzähler/Autor offen eine Praxis, in der die Klassifizierung der Menschen zu ihrer Entmenschlichung und zum Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft fuhrt: »Con el neologismo revolucionario que penetró aún en los rincones más remotos del campo, y su fama de botes de alquiler, pronto se ganó el mote de el Burgués.« (22) Aus dieser Verwendung des Sprachmaterials der achtziger Jahre bezieht das Buch seinen subversiven Charakter. Mendieta Alfaros Roman, der selbst vor einer offenen Anspielung auf den damaligen Staatspräsidenten Daniel Ortega (vom Viehdieb und Frauenhelden zum Präsidenten der Republik, vgl. 64) nicht zurückschreckt, ist damit eine der frühesten literarischen Kritiken am politischen Regime der Sandinisten, die in Nicaragua selbst veröffentlicht wurde.49 Das ist um so erstaunlicher, als er zu einem Zeitpunkt herauskam, an
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Wohl nicht zufällig erschien der R o m a n nicht in einem der staatlichen bzw. staatlich subventionierten Verlage.
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dem sich Nicaragua aufgrund der äußeren Bedrohung und der immer katastrophaler werdenden wirtschaftlichen Situation in einer seiner tiefsten Krisen in den achtziger Jahren befand. Der Roman entwirft das Bild einer Gesellschaft im Umbruch, genauer: im Chaos, in der selbst die alten Werte (wie die Religion) kaum noch Bedeutung haben, keinen Halt mehr bieten. Diesen Halt sucht er am ehesten in der Sprache, indem er ihre Instrumentalisierung, Verhunzung und Entwertung offen denunziert und sich davon distanziert. Und so könnte hinzugefügt werden - in der alles dominierenden Frauengestalt Paca Artola, die sich übrigens den Luxus zweier Ehemänner zur gleichen Zeit leistet (ein ironischer Seitenhieb auf den allgegenwärtigen machismo), allerdings angesichts der allgemeinen Zustände im Wahnsinn endet. Fast zehn Jahre später legte Roger Mendieta Alfaro mit seinem zweiten Roman, El candidato (1996), eine Satire auf die politischen Zustände in dem fiktiven Land Ostocal vor, das aufgrund vieler Verweise und Anspielungen unschwer als Nicaragua zu erkennen ist. Hauptschauplatz ist die Hauptstadt Managua, aber es gibt auch zahlreiche Bezüge zu anderen nicaraguanischen Städten und Orten (wie Masaya, Chinandega, Granada, Chontales, die Karibikregion usw.). Gegenüber dem ersten Roman ist das Panorama erweitert: Zielscheibe der satirischen Kritik sind nicht nur die Revolution und die sandinistische Regierung, sondern die politische Klasse sowie das Wahl- und Parteiensystem insgesamt; sie bezieht also die nachrevolutionären Verhältnisse mit ein. Im Mittelpunkt steht der Präsidentschaftskandidat Cändido Valpulso, der versucht, als »candidato del Gobierno del Reloj« (13) die Wahlen zu gewinnen. Ausführlich werden seine entsprechenden Bemühungen geschildert, von den Wahlkampfvorbereitungen über Versuche zur Schaffung von Wahlbündnissen bis zur Niederlage aller kandidierenden Parteien, da am Ende das Kriegsrecht verhängt wird, die Wahlen abgesagt werden und das Militär erneut die Macht übernimmt: »-Silencio, pueblo -desparramö el vozarrön el Sargento Tercero, encaramado en la banca del parque-, Escuchen esta Ordenanza Oficial, bajo los apercibimientos de la Ley Militär si no se cumple: ANTE EL VACIO INVETERADO DE LA CLASE POLITICA DE ESTA GOBERNACION; OSTOCAL VOLVERA A SER GOBERNADA POR SARGENTOS.« (214) Scheinbar angesiedelt im Zeitraum zwischen 1894 (Ernennung Cändido Valpulsos zum Präsidentschaftskandidaten) und den Wahlen im Jahr 1896, vermischt der Roman politische Persönlichkeiten und Ereignisse der nicaraguanischen Geschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, von William Walker bis zu Violeta Barrios de Chamorro. Über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrhundert hinweg werden insbesondere die Entfernung der politischen Klasse vom Volk, ihr SichVersteigen in abstruse, fiktive und gar irrsinnige Scheinwelten, ihre Anfälligkeit für Korruption, ihre Unterwürfigkeit gegenüber den großen Mächten (insbesondere Europa), ihr schamloses Sich-Bereichern, ihre Unfähigkeit zu poli-
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tischen Kompromissen und Bündnissen und ihre Verwicklung in Skandale geschildert (Letzteres symbolisiert in dem sich durch die gesamte Handlung ziehenden außerehelichen Liebesverhältnis Cándido Valpulsos zu der Schwarzen Pepa Torrentes). Dieser Versuch der satirischen Darstellung der wesentlichen Züge des politischen Lebens und der politischen Klasse in Nicaragua seit der Erklärung der Unabhängigkeit über die verschiedenen Epochen hinweg (quasi eine Quintessenz der negativen Seiten der nicaraguanischen Politik) wird ergänzt von einer Persiflage auf Macht und Einfluss der wenigen wohlhabenden, herrschenden Familien des Landes, einer satirisch-kritischen Bilanz der Regierungszeit Violeta Barrios de Chamorros (1990-1996) und einer Karikatur des Wahlkampfs 1996. Die Bezüge zum aktuellen Geschehen sind aufgrund vieler dargestellter Details der nicaraguanischen Geschichte, aber auch in der Beschreibung der handelnden Personen eindeutig.50 Insbesondere in der bis zum Exzess betriebenen Namengebung lassen sich Züge realer Personen und Einrichtungen der jüngsten nicaraguanischen Geschichte identifizieren: Das reicht von Doña Blanca Ilusión (für Doña Violeta Barrios de Chamorro, in Anspielung auf ihr Auftreten während des Wahlkampfs in weißen Kleidern) über den »doctor Coquimbo Arteaga, Alcalde Municipal de la Villa« (für den ehemaligen Bürgermeister Managuas und späteren Staatspräsidenten, den Liberalen Arnoldo Alemán) bis zu Sansón Pelayo (den kahlköpfigen Präsidentschaftsminister und Schwiegersohn Violeta Barrios de Chamorros, Antonio Lacayo). Auch Nebenfiguren und Einrichtungen werden mit sprechenden Namen versehen. Im Text wimmelt es von solchen Etikettierungen: Da gibt es etwa Personen mit den sprechenden Namen Ronco Calvo, Paco Quieto, José María Monetario (Bankdirektor), Comandante Palo de Hule, Comandante Bala en Boca, der Politiker Noescondes Coto, der Präsident Larry Wonderpicture in der Casa Negra und Cándido (= einfaltig, naiv) Valpulso mit seiner Ehefrau Candelaria (= einfaltig, dumm), aber auch Radiosender wie Radio Mentira, Radio Bla Blá, Parteien wie der Partido de los Mancos, der Partido de los Embudos, der Grupo de Encendidos Rojos oder de los Dinosaurios, und politische Organisationen, die Titel tragen wie: UPECSA = UNION PEGADA CON SALIVA und UPCKK = UNION PEGADA CON KAKA. Wie der Autor sich über die Namengebung in den Text einmischt, so auch über direkte bzw. indirekte Kommentierung, sowohl in den in der dritten Person erzählten Passagen wie auch in den Dialogen. So hält er zum Beispiel mit seiner Meinung über die Regierung Doña Violeta Barrios de Chamorros nicht hinter dem Berg: » [...] el gobierno de Doña Blanca fue de buenas intenciones,
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Der Roman erschien im Januar 1996, also zu Beginn des Wahlkampfs für die Wahlen im Oktober 1996, bei denen die Regierung Barrios de Chamorro von der Regierung Amoldo Alemán abgelöst wurde.
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bromas y sobresaltos. Un harakiri permanente, y una guerra tremenda con el pasado, al que parecía condenado hasta al final del mandato.« (92) Zum Wahlkampf von 1896 (gemeint ist ganz offensichtlich der hundert Jahre später) heißt es: »En medio de este escenario de huelgas, desocupación, amenazas, asaltos y choques en la montaña, nada menos que treinta y tres partidos y agrupaciones políticas se inscribieron en el Tribunal Nacional de Elecciones para presentar candidatos a Presidente. [...] Todos estos movimientos, sectas y organizaciones políticas, tenían sus propios trompos enrollados, y urdían sus propias estrategias, propagandas y planes para la conquista del gobierno y el control del poder, si es que esto fuese posible, y estuviesen a mano el empleo de artimañas con las que cualquier grupo o partido pudiera recetarse el gobierno. [...] El escenario electoral de Ostocal, casi pasó a tener una dimensión de tenderete.« (184-187) Der Präsidentschaftskandidat Coquimbo Arteaga stellt in überdeutlicher Anspielung auf die Politik Amoldo Alemáns für eine mögliche Regierungsführung durch seine Person in Aussicht: »Cuando yo sea el Presidente [...]. Voy a construir cuarenta rotondas y cien fuentes públicas, con estatuas musicales, para que el pueblo se bañe en ellas, oyendo toda clase de música y viendo todo tipo de estatuas.« (191f.) In den Worten des Vorsitzenden der Fraktion der »Lagartijas Renovadas« resümiert der Autor abschließend in unverhüllter Anspielung auf die Politik der Sandinisten unter Daniel Ortega (im Roman Cleto Orlacha): » [...] no veo nada nuevo en el grupo. Es el mismo cuento de Cleto. El famoso hombre nuevo, o lo que es igual: la misma mona con distinto rabo. Las mismas ideas, las mismas estrategias, las mismas mañas y la misma habladera de siempre.« (200) Dies bewirkt, dass die Personen dieses Romans Charaktermasken bleiben, konstruiert, um die Ideen des Autors zu verkünden, wie vieles in diesem Roman konstruiert wirkt. Dazu gehört auch das schon in Mendieta Alfaros erstem Roman (1987) verwendete Wahnsinns- und Krankheitsmotiv. Auch die Hauptperson von El candidato verfallt einer Geisteskrankheit, die schließlich das ganze Volk von Ostocal erfasst: »Los efectos de la enfermedad han comenzado a manifestarse con algún síntoma de locura grave, y creo que ya está en eso. / -¿Presidentitis agudo? / -Exacto.« (118f.) Im Gegensatz zum ersten Roman wirkt dieses Motiv aufgesetzt, wird nicht durchgehalten und dient offenbar nur dazu, die Meinung des Autors über das politische System zum Ausdruck zu bringen. Es verdichtet sich ebenso wenig zu einer Allegorie der politischen Verhältnisse in Nicaragua, wie die Personen hölzerne Konstruktionen ohne Fleisch und Blut bleiben, die nur von den Kommentaren des Autors erfüllt sind. Zwanzig Jahre nach dem Sieg der Revolution veröffentlichte Roger Mendieta Alfaro schließlich mit La zarza y el gorrión (1999) einen Roman, der im Gegensatz zu seinen beiden ersten nicht mit den Mitteln der Ironie und des Humors arbeitet, keine Satire bzw. Karikatur der Revolution darstellt, obwohl auch in diesem Roman viele Elemente präsent sind, die schon die anderen
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Bücher kennzeichneten.51 Die äußere Handlung schildert den politischen Werdegang des bekannten Revolutionskommandanten Edén Pastora, Comandante Cero (im Buch Eliseo Pinzón und Cero genannt) vom siegreichen Einmarsch der Guerillatruppen in Managua am 20. Juli 1979 über die ersten Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe der führenden und jetzt regierenden Revolutionäre, seine zunehmende politische Ausschaltung (die Popularität Pastoras wird zur Gefahr für den Apparat), seine wachsende Distanzierung von den ehemaligen Weggefahrten, seine Abschiebung aus dem Machtzentrum Managua an die Karibikküste mit dem Auftrag, Einheiten der Konterrevolution zu bekämpfen, schließlich seine Abwendung von der sandinistischen Regierung und sein Verlassen des »Frente Revolucionario del Pueblo« (wie der FSLN im Buch genannt wird), seine Verhandlungen mit der Contra und Vertretern der US-Regierung über ein militärisches Bündnis und seine Entscheidung für einen eigenständigen Kampf gegen die Regierung, bis zur Niederlage beim Versuch, die Stadt Matagalpa im Norden Nicaraguas einzunehmen, im Jahr 1982. In zahlreichen Rückblenden - meistens Erinnerungen Ceros selbst - werden wichtige Ereignisse aus der Vorgeschichte der Revolu-
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Dazu gehört zum Beispiel seine Vorliebe für die Namengebung: Die unschwer aus dem Kontext zu erkennenden handelnden Figuren (die authentischen historischen Personen nachempfunden sind), aber auch Organisationen und Orte tragen meist sprechende Namen: etwa Satanasio Somoza (für Anastasio Somoza), Eufemio Barbas (für Fidel Castro), der Präsident Gerome McAfee (für Ronald Reagan), Emanuel Salvador (für den Kardinal Miguel Obando y Bravo), Cástulo Calderón (für Daniel Ortega), Terencio Boza (für Tomás Borge), der Partido de la Tradición (für die Konservative Partei), die Isla de la Fantasía (für Kuba), Nebenfiguren wie Luciano Tomate, Benito Iluminado und Federico Ladrón. Allerdings wird dieses Stilmittel weniger strikt und penetrant durchgehalten als in den ersten beiden Romanen; so taucht zum Beispiel Sergio Ramírez an verschiedenen Stellen als handelnde Person unter seinem richtigen Namen auf. (vgl. 30, 58, 173) Dennoch lässt der Autor in einem dem Buch paratextuell vorangestellten ironischen Hinweis keinen Zweifel: »Tema y personajes de esta novela forman parte del mundo de la ficción. Cualquier parecido con personas y sucesos que hayan acontecido en cualquier tiempo o lugar, no dejan de ser una coincidencia.« (3) Auch andere Eigenheiten des Autors sind wie in den ersten beiden Romanen nicht zu übersehen: Durchweg mischt sich der Autor durch Kommentare (die nicht als solche gekennzeichnet sind) mit seiner Meinung in den Text ein; immer wieder gibt es Attacken gegen den »internacionalismo cabrón« (165) und die Einmischung von außen durch »compañeros de viaje y comunistas de todo el mundo« (88) und Kuba, Kritik am Diskurs vom »Hombre Nuevo« (88), an den Konfiskationen und Repressionsmaßnahmen des sandinistischen Regimes, am Schlangestehen und der Rolle der »Iglesia Populär« (85f.) mit einem deutlichen Seitenhieb auf Ernesto Cardenal: »Entre Cristianismo y Revolución no hay contradicción - a f i r m ó el cura.« (143) Wie hier der phrasenhafte Diskurs der Revolution ironisch dekonstruiert wird, indem er mit der so ganz anderen Realität konfrontiert ist, so verfährt der Autor (wie vor allem in seinem ersten Roman) auch an anderen Stellen mit den Parolen, stehenden Wendungen und fast heiligen Floskeln dieser sandinistischen newspeak, wie etwa der im Nicaragua der achtziger Jahre allgegenwärtigen Phrase: »Un sin fin de veces escuchó a Calderón repetir con Sandino: 'Sólo los obreros y los campesinos llegarán hasta el fin'« (171) - in einer Situation, in der große Teile der Bauernschaft sich von der Revolution abgewendet hatten.
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tion (und aus Ceros Leben) geschildert, unter anderem seine erste Politisierung in Puerto Limón in Costa Rica unter Einfluss eines US-amerikanischen Protestsängers und die Besetzung des Nationalpalastes im August 1978 durch ein Kommando unter Leitung Edén Pastoras und die Freipressung der politischen Gefangenen - eine Aktion, die nicht nur den Ruhm des legendären Kommandanten in der Bevölkerung begründete, sondern inzwischen auch fast schon zum Mythos des Endes des Alten Regimes in der jüngeren Geschichte Nicaraguas wurde. Anscheinend sind hier alle Elemente versammelt, wie sie typisch für die Testimonialliteratur der achtziger Jahre waren, mit der wichtigen Ausnahme, dass die Hauptfigur ein Dissident der Revolution ist. Seine besondere Bedeutung gewinnt der Roman jedoch aus drei Aspekten, die ihn deutlich vom testiwowo-Diskurs abgrenzen. Zum einen wird die Handlung (obwohl in dritter Person erzählt) zu großen Teilen aus der Perspektive Ceros (oft in Monologen oder imaginären Dialogen) geschildert. Diese »innere Handlung« lässt ein Bild von der Entwicklung der Persönlichkeit des Protagonisten entstehen, das kaum mit der Rolle des strahlenden und unerbittlichen Revolutionshelden in Einklang zu bringen ist. Schon unmittelbar nach der Machtübernahme beginnt er am Kurs und am Sinn der Revolution zu zweifeln. Insbesondere die Tatsache, dass das revolutionäre Projekt sich von seinen ursprünglichen demokratisch-nationalistischen Zielen entfernt, lässt ihn Abstand nehmen: »Pensaba que todo había tenido su origen en el indigno irrespeto a los símbolos patrios. No era revolucionario el que los símbolos e himno de la Revolución, tuviera preeminencia sobre la bandera y el Himno Nacional. Sin duda era pervertir el sentimiento revolucionario. Con la caza de brujas, comenzó a salir a flote lo del equivocado rumbo de la Revolución. [...] Era imposible ubicar el rumbo del estado democrático que habían soñado y por el que habían combatido.« (47) Mehr und mehr wird das revolutionäre Projekt zum Terrain der direkten Einmischung der Sowjetunion und der von ihr abhängigen Staaten, allen voran der DDR und Kubas, während die USA die Zügel der Contra in der Hand halten. Der Bruderkrieg der Nicaraguaner dient nur diesen fremden Interessen, es ist »una guerra civil por encargo« (79) im Kalten Krieg der Großmächte, die sich um die politische Kontrolle der Welt streiten. All dies veranlasst ihn zu dem definitiven Schritt: »¡Nos vamos de la Revolución!« sagt er zu seiner Frau María Sartén. Die Revolution hat sich für ihn in eine »puta vieja« verwandelt: »¡Puras sombras, puras palabras, puro maquillaje!« (154) Aus der »ficción inicial« ist die Revolution zu einer »ficción real que tocamos y nos duele« (161) geworden. Hier findet sich auch die Erklärung für den Titel des Buches: » [...] estábamos llenos de ansiedad por el sueño dorado de la Revolución y hemos despertado a la realidad brutal. Prisioneros de las circunstancias cual gorrión en un zarzal del que no puede escapar.« (164) Cero nimmt den aktiven - auch militärischen - Kampf gegen die aus der Revolution hervorgegangene Regierung auf, um die ursprünglichen Ideale der Revolution zu
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verwirklichen. Doch auch die andere Seite enttäuscht ihn, auch sie ist mit Haut und Haaren an eine fremde Macht verkauft. Cero beginnt schließlich gar an seinem Kampf gegen das Regime zu zweifeln. Diese Dekonstruktion des unbeirrt für seine Ideale kämpfenden Revolutionärs mündet im letzten Teil des Romans jedoch in eine Selbststilisierung und Selbstüberhöhung Ceros. Zwar war seine Entscheidung, die revolutionäre Organisation zu verlassen, die er mitgegründet hatte, »como abandonar a la madre, la mujer, los hijos. Como negarse a sí mismo, suicidarse, irse al diablo para siempre« (170). Aber in einem langen Monolog, der dann in einen imaginären Dialog mit seiner nicht anwesenden Frau übergeht, fragt sich Cero, was wohl seine größte Tat im Leben gewesen sei, mit der er vor dem Volk bestehen könnte. Er ist stolz darauf, dass er sich nicht zum »peón de los gringos« (373) habe machen lassen. Aus dieser Selbstrechtfertigung bezieht sein Leben einen Sinn: »¡Lo máximo que yo hice en la vida, es haber nadado en el lago de mierda de la Resistencia y en la pila de k a k a del Frente Revolucionario del Pueblo, y todavía haber salido limpio - s e carcajeó-. Eso no lo hace nadie, ni lo va a hacer nadie, mujer ... ¿Te das cuenta, Maria?« (377) sind die letzten Worte des Buches, die der Autor dem Protagonisten in den Mund legt - eine unmissverständliche Hommage an die reale Persönlichkeit Edén Pastora, Symbol des wahren Revolutionärs, Demokraten und Patrioten, der trotz aller Fährnisse und Widrigkeiten seine Ideale nicht verrät, eine Hoffnung für die Zukunft des Landes. Ein zweiter Aspekt, der das Buch aus den zahlreichen postrevolutionären Romanen hervorhebt, ist die Schärfe, mit der er einige Züge der Revolution kritisiert, die in Nicaragua lange Zeit - auch noch in den neunziger Jahren tabu waren. Sei es in Worten, die den handelnden Figuren in den Mund gelegt werden, sei es in kommentierenden Passagen des Erzählers, formuliert der Autor diese Kritik. Einzigartig für den öffentlichen Diskurs auch noch der neunziger Jahre ist hier wohl die Fundamentalkritik an der Alphabetisierungskampagne der sandinistischen Regierung: »Para profundizar el contenido stalinista el motor es el odio de clases. El sentimiento clasista fue impulsado contra viento y marea como motor primario de la Revolución. [...] Era necesario provocar la crisis moral y religiosa, en que quedara soterrado el decapitado espiritú de la nación. / Del trasfondo maquiavélico de estas realidades, cobró vida la aberrante Campaña del Alfabeto.« (89) Auch die wiederholten Ausführungen zur sozialen Basis der Contra konterkarieren die vor allem von den Sandinisten verbreitete Behauptung, die Konterrevolution sei eine reine Schöpfung der USA gewesen und habe sich ausschließlich auf die alten Kräfte der Somoza-Diktatur, vor allem auf ehemalige Mitglieder der Nationalgarde gestützt.: » [...] ya no existen los guardias somocistas en las filas de la Contra [...] . Unos están en las cárceles; otros murieron cubriendo las espaldas de Somoza, y la otra parte quedó en Miami, lavando platos, entregando pizzas a domicilio o haciendo trabajos de vigilantes. La mayoría se hicieron viejos y marcharon al cementerio.« (343) Im Gegenteil, Nährboden der Contra sind die
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von der Revolution selbst geschaffenen sozialen Widersprüche: »No es de dudar que la CIA, tenga que ver con ataques a la Revolución. [...] Pero la protesta de ayer encabezada por las mujeres del mercado, no fue asunto de la CIA, sino un problema de estómago.« (128) In diesen Kontext gehören auch die Kritik an der Politik der Sandinisten gegenüber den Bewohnern der Karibikküste52 und die beißende Dekonstruktion des demagogischen Diskurses Cástulo Calderóns mit den Mitteln der Parodie und Karnevalisierung.53 All dies mündet schließlich in einen philosophischen Diskurs, in dessen Zentrum die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Revolution steht (einmalig fur die nicaraguanische Literatur der neunziger Jahre). Emblematisch ist hier der Dialog zwischen dem »cura« und einem einfachen Guerillero in den Reihen der gegen die Contra kämpfenden Sandinisten: » [...] el revolucionario no pertenece a sí mismo, sino a la causa de la revolución«, verkündet der Geistliche. Und der einfache Kämpfer antwortet: »Primero el hombre. Después la revolución [...] « (140) Dieser Widerspruch zwischen den historischen Interessen der Revolution und den Tagesinteressen der Menschen, die den revolutionären Prozess tragen, gleichzeitig ein Widerspruch zwischen den Intellektuellen (hier der Geistliche) und dem einfachen Volk, wird von dem Pfarrer einseitig entschieden: »La Revolución es organismo social que dicta, dirige y controla la acción en la superestructura del ser Revolución. No podrá evitar que esté por encima de los revolucionarios. [...] Es el proceso permanente y determinista de toda revolución. La Revolución está sobre el hombre siempre, pasa a ser él, lo sustituye -dijo el cura.« (148) Diese Position scheint auch im Fatalismus Ceros auf, der am Ende des Romans über das Schicksal der Revolutionäre sinniert: »Seguimos siendo los hijos de la Revolución. Debemos seguir adelante.« (267) Allerdings kennzeichnet den Roman gerade in dieser Hinsicht (wie auch in der Widersprüchlichkeit und Brüchigkeit des Protagonisten) eine dialogische, vielstimmige Struktur. Die Grundsatzfrage des Verhältnisses von Mensch und Revolution bleibt offen. Die Entscheidung liegt beim Leser - ein weiteres Element, das den Text in Gegensatz zum testimonio bringt. Nicht die exemplarische, repräsentative Geschichte eines Revolutionskommandanten, in dessen individuellem Schicksal die Wahrheit und Identität eines ganzen Volkes sich manifestieren und in dessen Dienst sich der Autor stellt, wird erzählt, sondern das Porträt eines Individuums, dessen Gespaltenheit Folge der Widersprüche und Ausweglosigkeit des historischen Prozesses ist - ein Produkt der Fiktion des Autors, das vielleicht gerade deshalb Repräsentativität für die Zerrissenheit der am revolutionären Projekt beteiligten menschlichen Individuen beanspruchen kann.
52 53
Vgl. dazu das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«. In zwei Passagen werden im Diskurs der Romanfigur Calderön Reden des damaligen Staatspräsidenten Daniel Ortega persifliert, (vgl. 133, 193-195)
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Die Revolution: Ein ungelöster sozialer Konflikt Wie bereits in der Auseinandersetzung mit den Koordinaten der literarischen Geografie des Romans von Boyardo Tijerino Molina, El Reino Moskito (La novela de la Costa Atlántica) (1991), ausführlich dargestellt,54 steht im Zentrum dieses Textes die Kritik der sandinistischen Politik gegenüber den ethnischen Minderheiten der nicaraguanischen Karibikregion. Dabei geht es nicht so sehr um einzelne Maßnahmen der Revolutionsregierung, sondern um eine Dekonstruktion der ihnen zugrunde liegenden Konzeptionen von der ethnischen, kulturellen und politischen Einheit der nicaraguanischen Nation. Der Roman ironisiert die Anstrengungen der Regierung in Managua und ihrer Gefolgsleute, die vorgeben, die Lebensgewohnheiten und -praktiken, die Religion und die Sprachen der indigenen Bewohner der Karibikregion zu respektieren, wenn diese die Waffen niederlegen und auf eine Sezession verzichten (vgl. 80, 142), aber mit ihrem »cuento del hombre nuevo, trabajador y productivo« (120) nur auf taube Ohren und zumindest passiven Widerstand stoßen: »Cada vez que el coronel Peña se presentaba en las comunidades indígenas, les decía por medio de su intérprete, estar interesado en la formación integral del hombre y en la superación de sus contradicciones étnicas y sociales; por eso, agregaba, ante la indiferente actitud de los moskitos y sumos, se impone un nuevo diálogo entre la revolución y los indígenas, capaz de superar los malentendidos del pasado inmediato [•••] « (66) Diese ironische Dekonstruktion der revolutionären Phraseologie mündet schließlich in die offene Kritik an der Konzeption einer »autonomía limitada« (80), die den ethnischen Minderheiten zwar das Recht auf ihre Lebensgewohnheiten zuspricht, aber die Kontrolle über alles andere behält, zwar ihre Sprachen respektiert, jedoch nur um sie besser ausbeuten zu können (vgl. 80), und gleichzeitig fortfahrt, ihre Siedlungen und Dörfer zu zerstören und sie umzusiedeln (vgl. 120). Diese Konzeption wird in wenigen Worten von einem sandinistischen Funktionär zusammengefasst: » [...] no vamos a permitir la disolución de la nacionalidad« (144) - sie basiert auf der Konstruktion einer homogenen nicaraguanischen Nation, die weiterhin von der Pazifikregion dominiert ist. Die literarische Dekonstruktion dieser Homogenität bedient sich unübersehbar zahlreicher Schwarzweißmalereien und Klischees, wie sie auch für Mendieta Alfaros Romane La piel de la vida (1987), El candidato (1996) und La zarza y el gorrión (1999) typisch sind: Kubanische Revolutionskader, Internationalisten, Befreiungstheologen, marxistische Funktionäre und Doktrinäre sind Zielscheibe kaum verhüllter politischer Attacken, die der Autor seinen literarischen Figuren in den Mund legt. Allerdings wird auch die »andere
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Vgl. das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«.
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Seite« nicht idealisiert; auch die diversen und disparaten Projekte der unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppierungen, die ihre Ablehnung der sandinistischen Integrationspolitik eint, werden ironisiert, insbesondere das Agieren der evangelischen Repräsentanten der indigenen Gemeinschaften, deren machismo und sexuelle Ausbeutung wie Unterdrückung der eingeborenen weiblichen Schönheiten in auffälligem Widerspruch zu ihrem Diskurs von indigener Selbstbestimmung steht. Auch in dieser Hinsicht ist die Welt der Indios, Schwarzen und Mischlinge nicht einheitlich. Der Konstruktion einer homogenen Nation von Seiten der Regierenden in Managua wird keine ebenso konstruierte Homogenität der Bewohner der Pazifikregion entgegengesetzt. Der Versuch des Sandinismus, die beiden unterschiedlichen Welten - unter Vorherrschaft der (Städte der) Pazifikregion - zu vereinigen, scheitert. Die Revolution hinterlässt vielfaltige ungelöste ethnische und soziale Konflikte. Einem weiteren ebenso bedeutenden politischen und sozialen Konflikt, der unmittelbare Konsequenz des revolutionären Prozesses ist, widmet sich Boyardo Tijerino Molina - wie im Untertitel des Romans schon vorweggenommen - in Crónica de Fin de Siglo. La novela de los confiscados (1998) : der Eigentumsfrage, genauer dem Problem der Rückgabe der während der Revolution konfiszierten bzw. besetzten Ländereien an ihre früheren Besitzer »este asunto de la propiedad, que parece el meollo de toda la cuestión« (27). Dargestellt wird das Thema entlang der sich kreuzenden Lebenswege zweier Nicaraguaner, die während der sandinistischen Regierungsperiode das Land verlassen und nach Miami gehen. Rafael Suárez ist Viehzüchter und Grundbesitzer bei Chinandega im Norden Nicaraguas. Als seine finca von landlosen Bauern und sandinistischen Funktionären besetzt wird, erschießt er einige der Besetzer und flieht über Honduras nach Miami. Dort arbeitet er am Aufbau der Contra mit und kehrt nach dem Regierungsverlust der Sandinisten nach Nicaragua zurück, um auf der Grundlage des neu verabschiedeten Eigentumsgesetzes die Rückgabe seiner Ländereien zu erreichen. Macario Vargas, Buchhalter in Managua, verlässt Nicaragua aus Opposition gegen die Revolution, in erster Linie um seine fünfzehn- und siebzehnjährigen Söhne vor dem obligatorischen Patriotischen Militärdienst zu bewahren. Er kommt 1983 nach Miami, wo er Rafael Suárez trifft, der ihn unterstützt und seine Integration in die nicaraguanische Exilgemeinschaft erleichtert. Auch Vargas engagiert sich im Widerstand gegen das revolutionäre Regime in Nicaragua und geht ebenfalls nach dem Sturz der Sandinisten nach Managua zurück, wo er die Rückgabe seines Hauses betreibt, das in seiner Abwesenheit von Aktivisten des »movimiento comunal«, einer Bewegung von Wohnungslosen, besetzt wurde. Suárez wird Opfer zahlreicher Überfälle (unter anderem aufgrund seiner Versuche, Ehefrauen einiger seiner Bekannten und Freunde für amouröse Abenteuer zu gewinnen) und landet als gebrochener Mann wieder in Miami, wo er als Wächter in einem Nachtklub der unteren Kategorie arbeitet, ohne die Rückgabe seines Landes erreicht zu haben. Auch Vargas hat keinen Erfolg.
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Zwar steigt er zwischenzeitlich bis in Regierungsämter auf, wird jedoch gestürzt und verhaftet, als die USA in einer von der CIA durchgeführten Operation eine neue Regierung von ihren Gnaden etablieren. Wie die Rückgewinnung des Eigentums in diesen beiden individuellen Fällen scheitert, so bleibt die Eigentumsfrage trotz der endgültigen Verabschiedung der »ley sobre la propiedad« im Allgemeinen ungelöst, zum einen weil die neuen Regierungen Kompromisse mit den Kräften des früheren sandinistischen Regimes schließen, die nach wie vor die Polizei und die Armee beherrschen, sodass es keine Zwangsbehörde gibt, die das Gesetz umsetzen würde. Zum anderen ist die Eigentumsfrage Spielball sehr unterschiedlicher Interessen im Spannungsfeld von Sandinisten (die sich von fuhrenden Politikern in einem Akt der Bereicherung, der berüchtigten »piñata sandinista«, kurz vor der Regierungsübergabe in wohlhabende Großgrundbesitzer, Bankiers und Kapitalisten verwandelt haben), ehemaligen Contras, konfiszierten und ihren früheren Besitz reklamierenden Eigentümern, neuen (alten) Herrschenden, ehemals land- und wohnungslosen Armen, die auf die Überschreibung von Besitztiteln warten, und den USA. Trotz dieses Durcheinanders charakterisiert den Roman eine eindimensionale Sichtweise. Zwar alternieren zwei Erzähler: Die Geschichte von Rafael Suárez wird in erster Person erzählt, die von Macario Vargas in dritter, von einem allwissenden Erzähler. Dennoch dominiert eine Perspektive: die der Gegner des revolutionären Prozesses. Dies wird insbesondere deutlich an der Fülle von Klischees und Schwarzweißmalereien, ja von propagandistisch-ideologischen Invektiven, mit denen die (vermeintlichen) Träger des revolutionären Projekts belegt werden und die den Roman völlig beherrschen (noch weit mehr als in Tijerino Molinas Roman El Reino Moskito von 1991 und den Romanen Mendieta Alfaros von 1987, 1996 und 1999). Es sind »internacionalistas« (3), die »Iglesia Populär« (3), »teóricos empapados de teorías fuera de la realidad« (6), der »Frente Popular de Ecuménicos y Marxistas« (7), »teólogos marxistas« (7), »licenciados y mujeres liberadas« (26), »cubanos« (42), »los utópicos« (53), »pastores de la Liberación« (67), »los fanáticos de la utopía« (94), »comunistas alemanes« (95), »funcionarios, monseñores y santones de la utopía« (120), »las turbas divinas y su equipo de asesores internacionalistas« (121), »los ayatolas y clérigos populares« (142), usw. usf., welche die Geschicke des Landes bestimmen. Indem der Autor diese Aussagen seinen Figuren unterschiebt, sich aber auch über den allwissenden Erzähler direkt mit politischen Kommentaren einschaltet, vermischen sich Romanfiguren, Erzähler und Autor untrennbar in einer Stimme. Trotz des Durcheinanders der dargestellten unterschiedlichen sozialen und politischen Akteure und Interessen kennzeichnet den Roman im Grunde eine monologische Struktur, die Figuren werden zu direkten Sprachrohren des Autors, was dem Roman einen pamphletartigen Charakter gibt. Ähnlich wie in El Reino Moskito bestimmen intellektuellen-, fremden- und
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religionsfeindliche Ressentiments sowie antirevolutionäre Einstellungen die Handlung bis in die scheinbar unbedeutendsten Aktionen. Hinzu kommt eine offen frauenfeindliche und das Weibliche missachtende Haltung, die sie durchweg nur als Sexualobjekt, als Anhängsel und Instrument des Mannes, darstellt und aus der Handlung ausschließt: Sie sind Prostituierte, »mujeronas de peso pesado y amplio bigote« (16), drogenabhängig, haben »atisbos de lesbiana« (16), sind bestenfalls heimtückische und betrügerische Revolutionsweiber, denen man nur auf eine Art begegnen kann: »Lo mejor seria hacerme de ella sobre la marcha [...] Le voy a caer como una tromba.« (105) Wie sich hier der machismo in seiner krudesten Form offenbart, so lässt sich der Roman insgesamt als unverfälschtes Dokument der Denkweise eines Teils der von der Revolution direkt in Mitleidenschaft gezogenen traditionellen sozialen Schichten lesen, für die sich das Jahrzehnt des Sandinismus auf ein menschenfeindliches Experiment verblendeter Pastoren-Utopisten-Internationalisten reduzierte. In der Frontstellung dieser traditionellen Schichten gegen die Revolutionsregierung kommen noch unter den Bedingungen des nachrevolutionären Nicaragua in der Eigentumsfrage soziale Konflikte zum Ausdruck, die von der Revolution verschärft wurden, deren Wurzeln jedoch wesentlich älter sind und bis in die Zeit der Conquista und die Kolonialepoche zurükkreichen.55
Die Revolution: Eine unbewältigte Vergangenheit Als unbewältigte Vergangenheit präsentiert sich die Revolution auch in drei Romanen von Erick Aguirre, Franz Galich und Maria Lourdes Pallais - allerdings unter gänzlich anderen Vorzeichen, geht es in diesen Romanen doch nicht um die Konflikte zwischen den alten sozialen Kräften und der Revolution, sondern um die Auseinandersetzung der ehemals aktiv am revolutionären Prozess Beteiligten in der nicaraguanischen Nachkriegsgesellschaft mit ihrer Vergangenheit. Es wurde bereits dargestellt, wie in den Texten Aguirres und Galichs die Hauptstadt Managua, die von den Schatten der Vergangenheit verdunkelt ist, als locus terribilis zur Metapher für die gebrochene Identität der revolutionären Generation wird, während in Maria Lourdes Pallais' Roman die Gefängniszelle Metapher für das Eingeschlossensein in den inneren, imaginären Raum ist, der gleichermaßen von den Schrecken der jüngsten Geschichte heimgesucht wird.56 55
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Weiter oben habe ich bereits ausgeführt, wie die von einer doppelten zirkulären Bewegung bestimmte literarische Geografie des Romans zur Metapher für die Aussichtslosigkeit dieser Repräsentanten des »alten Nicaragua« wird, ihre einstige Größe zurückzugewinnen; vgl. das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«. Vgl. dazu das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«.
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Aus der Perspektive des Journalisten (und homodiegetischen-intradiegetischen Erzählers) Joaquín erzählt, lässt Erick Aguirre in Un sol sobre Managua (1998) wichtige Ereignisse in der jüngsten Geschichte Nicaraguas Revue passieren, wie das Engagement für die sandinistische Revolution, die zunehmende Enttäuschung über die Entartung des revolutionären Projekts, den Schock der sandinistischen Wahlniederlage 1990. Carlos Vargas und Joaquín Medina, die beiden Hauptfiguren des Romans, sind Angehörige der Generation des revolutionären Jahrzehnts, die als Jugendliche Bürgerkrieg, Militärdienst, das Scheitern der Revolution und als Folge davon eine tiefe wirtschaftliche Depression sowie den Verlust ihrer Ideale und Werte erlebt haben. Ihre Verstörung sitzt jedoch noch tiefer. Sie reicht zurück in die vorrevolutionäre Epoche und insbesondere bis zum Erdbeben von 1972, bei dem große Teile der Hauptstadt zerstört wurden. Ihr Auftrag, als Journalisten die wichtigsten Ereignisse in der Geschichte Nicaraguas im 20. Jahrhundert für eine Chronik zu recherchieren, verwandelt sich in eine Suche nach den zentralen Bezugspunkten der eigenen individuellen und kollektiven Identität, die von den traumatischen Erfahrungen der natürlichen und sozialen Katastrophen ausgelöscht wurden, denen Managua in den siebziger und achtziger Jahren ausgesetzt war. Es ist gleichzeitig eine Suche der Intellektuellen-Journalisten nach ihrer politisch-sozialen Rolle und ihrer Identität in einer Gesellschaft, die nahtlos von der Militärdiktatur der Somoza-Dynastie in die von der Guerillamentalität geprägte Parteiherrschaft der Sandinisten überging - ohne jemals über volle demokratische (Presse)Freiheit zu verfugen.57 Doch die nicaraguanische Nachkriegsgesellschaft bietet keinen Raum mehr dafür: Es ist eine Gesellschaft, die - wie schon in den vorrevolutionären Zeiten, jetzt aber als unmissverständliches Zeichen des Scheiterns der eigenen Ideale - von einer US-Amerikanisierung überzogen, einem Konsumismus überschwemmt wird, der alles »nice« findet, was den Aufdruck made in USA trägt: »se toman cervezas extranjeras, se come hot dogs, pizzas, cheeseburger, haciendo a un lado las típicas fritangas« (Rodríguez Rosales, 1999: 180). Gleichzeitig ist es eine Gesellschaft, die von der Gewalt heimgesucht wird, dem einzigen Handwerk, das die Generationen von Revolution, Krieg und Bürgerkrieg wirklich erlernt haben, das inzwischen jedoch jeglichen politischen Bezug verloren hat. Angesichts dessen bleibt den Journalisten-Intellektuellen anscheinend nur die Flucht in die inneren Räume der endlosen Debatten über Literatur und Kunst, die längst ihre privilegierte Stellung im sozialen Leben verloren haben, verbunden mit der Flucht in den Rausch des Alkohols, der gleichermaßen einen Ausweg aus den
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Hier fließen autobiografische Elemente ein, war der Autor doch nicht nur als Jugendlicher aktiv an den revolutionären Ereignissen beteiligt, sondern stammt er aus einer nicaraguanischen Journalistenfamilie (sein Vater Danilo Aguirre Solis ist einer der wichtigsten Persönlichkeiten des nicaraguanischen Journalismus seit den siebziger Jahren) und ist er heute selbst einer der anerkanntesten Journalisten Nicaragaus.
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unwirtlichen äußeren Räumen möglich zu machen scheint. Oder werden die jungen Generationen von Neuem beginnen, »Managua y su gente reviviendo el mito de Sísifo, que soporta con estoicismo terremotos, huracanes, revoluciones, guerras, explotadores, demagogos y otra fauna parecida« (Rodríguez Rosales, 1999: 181), werden sie wie Phönix aus der Asche aufsteigen?58 Auch Franz Galich präsentiert in Managua, Salsa City (¡Devórame otra vez!) (2000), wie in dem Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text« gesehen, die nicaraguanische Metropole als einen modernen (»postmodernen«?) locus terribilis, als Schauplatz von Alkoholkonsum bis zur Besinnungslosigkeit, Drogenhandel und -einnähme, käuflichem Sex, Kriminalität und Gewalt: coca, guaro, mariguana, putas sind Schlüsselwörter dieser Szenerie, durchaus vergleichbar mit anderen lateinamerikanischen städtischen Ballungsräumen. Doch die Schatten, die über dieser Stadt liegen, sind auch hier noch anderer Natur. Schon zu Beginn des Romans wird dies angedeutet: »Es como si miles de muertos resucitaran y empezaran a invadir el mundo de los vivos, como una venganza de ultratumba donde participan hombres, mujeres, viejos, jóvenes y niños.« (1) Es sind - wie gesehen - die Schatten der Vergangenheit, die sich über Managua legen, zunächst nur in Andeutungen und Nebensätzen, schließlich immer intensiver und sich als unverarbeitete traumatische Erfahrung der handelnden Personen offenbarend. Noch bis in ihre unmittelbarsten Instinkte im täglichen Überlebenskampf sind die handelnden Personen von den Erfahrungen des Krieges bestimmt: »Pasada la sensación, desmontó el reflejo que tenia almacenado en algún lugar de su memoria, de los días de la guerra. [...] Por un lado le molestaba, pero por otro le gustaba porque no sólo lo hacía recordar una época en la que se sentía poderoso con su Aka plegable, los magazines y su Makarov, sino que le daba cierta confianza.« (26) Zwar ist der Krieg zu Ende, Friedensabkommen wurden unterzeichnet, die Waffen offiziell niedergelegt, aber noch erkennen sich die Personen als frühere Angehörige der feindlichen Parteien im Bruderkrieg wieder, und sei es an den angewandten Kriegs- und Mordtechniken, ist das Verlangen nach Rache präsent: » [...] se firmó un alto al fuego y después vinieron los acuerdos y el fin de la guerra. Eso no me gustó mucho, pues tenía ganas de cobrarle al piricuaco de mierda que casi me manda para el otro barrio, pero así es la vida [...] « (48), sinniert Perrarenca. Die nicaraguanische Nachkriegsgesellschaft ist zerrissen vom Misstrauen gegenüber dem Nächsten, noch bis in die intimsten Beziehungen. Es ist eine Gesellschaft, in der einer den anderen verschlingt: »¡Devórame otra vez!« Es ist eine Gewalt ohne Ziel, die ehemaligen Strategen sind orientierungslos geworden: »Los años que estuvo en las filas de la contra le servían en el
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Vgl. zu dieser Argumentation die Aufsätze von Ugarte (2000) und Rodriguez Rosales (1998, auch in 1999: 169-181).
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tipo de vida que llevaba ahora« (71), bildet sich Perrarenca ein. Doch diese Erfahrungen sind nutzlos geworden: »Trataba de ubicarse pero le parecía difícil, era totalmente distinto de lo que era orientarse en el monte, lo hubiera preferido mil veces.« (ibid.) Eine ganze Generation, die nichts anderes als das Kriegshandwerk gelernt hat, steht hilflos vor den Problemen der nicaraguanischen Nachkriegsgesellschaft. Bestenfalls im Drogenhandel und anderen kriminellen Aktivitäten sind die einmal erworbenen Fähigkeiten und Kontakte noch von Nutzen. Doch in einer Gesellschaft, wo einer den anderen vertilgt, taugen noch nicht einmal diese zum Überleben. Aber haben die neuen Generationen, die den Krieg als Kinder erlebt haben wie Tamara, keine Zukunft?59 Da ist doch auch die andere Seite Managuas: die Leidenschaft, die Lebensfreude, der Überlebenswillen - trotz alledem. Managua bei Nacht tanzt, singt, vergnügt sich, egal was passiert, zu den Klängen von boleros, salsas und merengues. Nicht von ungefähr überleben in Galichs Roman nur die Prostituierte Tamara als Angehörige der Nachkriegsgeneration und ein Anonymer mit Mäusegesicht, den die Konflikte der Vergangenheit nicht mehr interessieren. Wie bereits dargestellt,60 wird diese Frau zum Symbol einer Gesellschaft, in der die Frauen trotz und ohne Männer das Überleben garantieren. Sisyphos und der Vogel Phönix sind weiblichen Geschlechts. Wie eine vorweggenommene Bekräftigung dieses Urteils lässt sich der vier Jahre vor Galichs Buch erschienene Roman von María Lourdes Pallais, La carta (1996), lesen. Nicht der erfahrene Ex-Guerillero und ehemalige Geliebte der Protagonistin, Adressat ihrer Brief aus dem Gefängnis, erweist sich in der Lage, eine politische Bilanz der revolutionären Jahre zu ziehen. Es ist die aus den oberen Gesellschaftsschichten stammende, an den revolutionären Aktionen eher nur am Rande beteiligte Frau, die der Frage nachspürt, was von den revolutionären Idealen geblieben ist. Ohne sich auf bestimmte Orte oder Geschehnisse zu beziehen, dekonstruiert die Autorin die politischen Gewissheiten der bewaffneten Linken im Lateinamerika der siebziger und achtziger Jahre, ihre scheinbar festen ideologischen Überzeugungen, indem sie die tiefen politischen und menschlichen Abgründe, die sich hinter den wohlmeinenden Parolen auftaten, aufscheinen lässt. Der Text kann so auch als Parabel der Revolution in Nicaragua verstanden werden. Damit schreibt sich der Roman wie die Galichs und Aguirres in eine Tendenz ein, die als »literatura de postguerra« oder »ficción de posguerra« (vgl. Cortez, 2001) bezeichnet wurde und eine Reihe von beachtenswerten Werken in einigen Ländern der Region, insbesondere in Guatemala, El Salvador und
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Tamara ist zum Zeitpunkt der Handlung (1999) zwanzig, also im Jahr der Revolution geboren, und erlebt den Krieg als Kind (das ist übrigens der einzige direkte Hinweis auf den außerliterarischen zeitlichen Bezugspunkt der erzählten Zeit im Roman). Vgl. das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«.
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Nicaragua, hervorgebracht hat, darunter von Dante Liano, Rodrigo Rey Rosa, Horacio Castellanos Moya, Rafael Menjívar Ochoa, Jacinta Escudos und Carlos Cortés. Diese Nachkriegsliteratur, die (wie zu Beginn dieses Kapitels dargestellt) auch als »estética del cinismo« (vgl. Cortez, 2000) charakterisiert wurde, hat den Glauben in die großen Utopien der siebziger und achtziger Jahre und die politische Wirksamkeit von Gewalt verloren. Der revolutionäre Idealismus ist einer Art »Neo-Realismus« gewichen.
Die Revolution: Eine unbewohnte Utopie Dies trifft nicht auf den bisher letzten Roman von Gioconda Belli zu: Waslala. Memorial del futuro (1996a), der im gleichen Jahr wie der von Maria Lourdes Pallais erschien. Der Text bezieht sich nicht - wie viele Romane, deren Thema die Revolution ist - auf einen konkreten außerliterarischen Bezugspunkt in den Ereignissen der revolutionären Epoche. Vielmehr thematisiert er die Frage nach der Weiterexistenz der revolutionären Utopie unter den nachrevolutionären Bedingungen, worauf die Autorin selbst in einem Interview hinwies: » [...] ni el capitalismo, ni ese tribalismo, ni la vuelta a valores conservadores como propone la derecha ninguna de esas cosas conduce a la democracia y a la felicidad. Eso es lo que quiero plantear en Waslala. ¿De dónde va a venir la esperanza? Debe venir de la imaginación. Mientras no se pierda la fe en la capacidad de imaginar mundos diferentes, va a poder existir el mundo de la utopía.« (Lavoie, 1999: 185-188, zit. n. Barrientos, 2000: 252) Die Legende von dem idyllischen Ort Waslala, Objekt der Suche der Protagonistin Melisandra und des nordamerikanischen Journalisten Raphael, ist lebendig geblieben, obwohl sich das Land insgesamt zu Beginn des dritten Jahrtausends in einen Schauplatz von lokalen Kriegen, des internationalen Drogenhandels, der politischen Repression, des Handels mit Kindern,61 ökologischer Katastrophen usw. verwandelt hat. Geschrieben als Hommage an den Schriftsteller Coronel Urtecho und voll von intertextuellen Bezügen (mit dessen Werk, aber auch mit Gabriel García Márquez, Lizandro Chávez Alfaro, wie bereits erwähnt, Ernesto Cardenal, Eduardo Galeano, Ephraim Squier, Thomas Morus und anderen), stehen im Mittelpunkt des Romans die Beziehungen zwischen der Ersten Welt und den vergessenen Ländern der Dritten Welt, wie
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Das ist eine Anspielung auf die bekannte Erzählung »Los monos de San Telmo« des nicaraguanischen Schriftstellers Lizandro Chävez Alfaro in dessen gleichnamigem, erstmals 1963 bei Casa de la Americas in Havanna erschienenem Erzählband. (vgl. Chävez Alfaro, 1997: 925)
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Faguas/Nicaragua, die sich in den Müllabladeplatz der industrialisierten Länder des Nordens und in den Brennpunkt aller Übel und Schrecken verwandelt haben, welche die andere Seite des technologischen Fortschritts darstellen. Kann unter diesen Bedingungen - trotz der Dystopien, denen die (auf das 19. Jahrhundert und noch weiter zurückgehenden, vgl. den Verweis auf Morus) utopischen Ideale am Ende des 20. Jahrhunderts ausgesetzt sind - die Utopie überleben, und wie kann sie es? Der Roman evoziert eine schier unendliche Liste von Themen und Problemen, die im internationalen politisch-kulturellen Diskurs der Jahrhundertwende en vogue sind. Auf wenigen Seiten springt er von dem Problem der Arbeitszeitverkürzung und der Freizeit zu organisierten kollektiven Selbstmorden in den industrialisierten Ländern, zur homöopathischen Medizin, Drogen, Müll, Kybernetik, Gentechnologie, Waffen- und Kinderhandel, Patriarchat und »Krieg der Geschlechter«, lesbischer Liebe, ökologischem Terrorismus, Vegetarismus, Nudismus, Englisch als offizieller Weltsprache, nationaler Souveränität, Abtreibung, städtischen Jugendbanden, Waisen, Feminismus und Mutterschaft, demographischer Explosion in der Dritten Welt und niedriger Geburtenrate in der Ersten, Organhandel und Urschreitherapie. Wenn dieser thematische Wirrwarr auch unsere »postmoderne« Hölle auf Erden widerspiegeln könnte, so bleibt er der Romanhandlung größtenteils fremd, ist er nicht mehr als ein nebensächliches Element.62 Obwohl die Thematik des Romans also voller Sorgen, Ideen und Probleme ist, die diese Epoche am Ende des 20. Jahrhunderts bestimmen, ist er in seiner Erzählstruktur eher ein Roman des 19. Jahrhunderts. Das gilt für die Struktur seiner Dialoge, die Beschreibungen von Personen, Landschaften und Situationen sowie die lineare und stilistisch einfache Erzählweise. In großen Teilen entfaltet sich die Handlung an einem Ort oder in einer linearen Abfolge von Orten sowie in einer Zeit oder einer linearen Abfolge von Zeiten, erzählt von einem allwissenden heterodiegetischen-extradiegetischen, Erzähler, »a partir de un 'yo' exterior, con conciencia y conocimiento total, aparantemente impersonal, [...] concebida desde una prespectiva superior, como un Dios que todo lo sabe« (Rodriguez Rosales, 1999: 118).63 Offensichtlich benutzt Gioconda Belli Strukturelemente der telenovela, die ihrerseits mit sehr alten Elementen der literarischen Produktion arbeiten. Waslala greift so auf einige Grundzüge des Romans der europäischen Romantik zurück.64 Wie der Roman der deutschen
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Vgl. hierzu auch die Kritik in Marenco (1996: 3) und Rodriguez Rosales (1999: 126). Vgl. dazu insgesamt auch Rodriguez Rosales, 1999: 125f., 127. Vgl. dazu ausführlich meinen Aufsatz »Die blaue Blume im tropischen Urwald: Gioconda Bellis Waslala' und der Roman der deutschen Romantik« (Mackenbach, 1998a: bes. 317, 319f., 321), in dem ich auf einige Parallelen zur erzählenden Literatur der (deuschen) Romantik aufmerksam mache. Dabei beziehe ich mich besonders auf den Roman Heinrich von Ofterdingen
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Romantik am Ende des 18., zu Beginn des 19. Jahrhunderts basiert Waslala auf dem - nahezu idyllischen - Bericht einer Reise.65 Die Utopie ist auch in Waslala ein konkreter Ort, der am Ende der abenteuerlichen Reise gefunden wird. Gioconda Belli erzählt die Suche nach der Utopie als eine Wiedergewinnung des »Goldenen Zeitalters«, einer idyllischen Vergangenheit.66 Zwar scheint der Roman Elemente der Sciencefiction in sich aufzunehmen, aber wie die Romantik, die zum Teil eine Reaktion gegen die beginnende Industrialisierung mit ihren entmenschlichenden Auswirkungen darstellte, lehnt er im Grunde das Moderne, die neue Technologie ab, die der archaischen Welt des utopischen Waslala vollkommen äußerlich bleiben. Schließlich gibt es in dem Roman Gioconda Bellis wie im Roman der Romantik einen Protagonisten, der im Verlaufe der erzählten Reise eine Entwicklung erfahrt, über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügt und in eigener Person den ersehnten Ort findet, das heißt, dieser Held dominiert die Struktur des Romans völlig - mit dem bemerkenswerten Unterschied, dass es in Waslala eine Protagonistin ist und dass diese Frau eine aktive, dominierende Rolle spielt. Damit zielt Gioconda Belli auf eine Identifizierung zwischen dem/der Protagonisten/in und dem/der Leser/in (eine alte Technik, die ebenfalls mit viel Erfolg in den telenovelas unserer Tage eingesetzt wird). Es fehlt jedes Element der Distanzierung, jeder Verfremdungseffekt zwischen Protagonist/in und Leser/in wie auch zwischen Autorin, Erzähler/in und Leser/in, die grundlegende Charateristiken des modernen Romans sind (Melisandra kann weitgehend als Alter Ego der Autorin verstanden werden).67 Waslala stellt nicht nur innerhalb des Werkes Gioconda Bellis einen Rückschritt im Vergleich zu ihren ersten beiden Romanen dar,68 in denen es ihr gelungen war, das literarische Bild einer ganzen Epoche in der jüngsten Geschichte des Landes zu entwerfen, wobei sie unterschiedliche literarische
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von Novalis, ein Werk der Frühromantik, veröffentlicht 1802, und auf den Roman Aus dem Leben eines Taugenichts von Joseph Freiherr von Eichendorff, ein Werk der deutschen Spätromantik, erschienen 1826. (vgl. ebenso von Eichendorffs 1815 erschienenen Roman Ahnung und Gegenwarf, zur Erzählstruktur des Romans der Romantik vgl. Kluge/Radier, 1974: 170f.) Diese Textsorte war in der Prosaliteratur der Romantik sehr verbreitet und wurde hauptsächlich in Zeitungen veröffentlicht, deren massenhafte Verbreitung in jener Epoche begann, (vgl. Böttcher, 1977: 183) Zur idyllisch-mythischen Konzeption Waslalas vgl. auch Rodriguez Rosales (1999: 125), Barrientos (2000: 255f.) und das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«. Auch der Untertitel des Romans beschwört diese Beziehung: MemoriaI de! futuro - Gedenkbuch der Zukunft. Die deutsche Ausgabe verschweigt diesen Untertitel und beraubt so den Roman eines wichtigen paratextuellen Elements, (vgl. Belli, 1996b) Zu den Koordinaten der literarischen Geografie des Romans vgl. Trusen (1998b: 43-45), Barrientos (2000: 252-257) und das Kapitel »Fünfter Kreis: Raum und Text«. Vgl. dazu ausfuhrlich Rodriguez Rosales, 1999: 126. La mujer habitada (1988a) und Sofia de los presagios (1990a).
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Techniken benutzte und sich auf eine komplexere Erzähl struktur stützte. Die Diskrepanz in Waslala zwischen seinem Thema: der Utopie, der Zukunft als (möglicher) Lösung der aktuellen Probleme, und seiner veralteten, überholten Struktur macht diesen dritten Roman der Autorin zu einem Anachronismus innerhalb der jüngsten nicaraguanischen Romanliteratur, ganz zu schweigen von der lateinamerikanischen. Auch hinsichtlich der Formen der ideologischen Repräsentation kennzeichnet diesen Roman eine ähnliche Diskrepanz zwischen »un mundo futurista, [...] que, paradójicamente, parece recreado con el discurso narratológico muy tradicional« (Rodríguez Rosales, 1999: 126). Obwohl er vorgibt, neue zukünftige Möglichkeiten zu eröffnen, indem er die Vergangenheit einschließlich ihrer symbolischen Überlieferung analysiert, wiederholt der Roman in großen Zügen Elemente der Ideologie des vergangenen Jahrzehnts. Seine Utopie ist bestimmt von einer Schwarzweißvision (das idyllische Waslala = »Dritte Welt« = Nicaragua, das er wieder zu finden sucht, auf der einen Seite - die »Erste Welt« mit ihrer Technologie = die Ursache allen Übels auf der anderen). Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass der Roman direkt auf die politische Geschichte Nicaraguas anspiele, »en particular, [...] a la Revolución Sandinista. Puede si elaborarse una lectura que ponga en paralelo la Waslala construida por los poetas en la novela y la Revolución Sandinista« (Barrientos, 2000: 261, vgl. 262f.). Der Roman versucht die kollektive Identität mit der Wiedergewinnung des revolutionären Mythos (wiederherzustellen. Ungefährdet von allen realen aktuellen Problemen und ungeachtet der Tatsache, dass dieser Mythos an der historischen Wirklichkeit gescheitert ist, bleibt die Utopie als von der Mutter vererbte Ideenwelt lebendig. So heißt es am Ende des Romans: » -Confío en vos, hija - l e dijo al despedirse -Confío Waslala a tu sabiduría, a tu imaginación.« (378) Wie in ihren ersten beiden Romanen nimmt diese »Geschlechterfrage« einen hervorragenden Platz ein: Waslala versucht ausgehend von der Protagonistin Melisandra und ihrer Mutter eine weibliche Identität zu schaffen und darüber eine kollektive/nationale Identität wieder zu (er)finden. 69 Wie im Roman der deutschen Romantik (vor allem in Heinrich von Ofterdingen und Aus dem Leben eines Taugenichts) vermischen sich Vergangenheit und Zukunft, Mann/Frau und Natur/Erde in einer Unendlichkeit von Zeit und Raum (vgl. Frenzel/Frenzel, 1979: 314, 341), einem Zwischenzeitraum, wie es in dem Roman selbst heißt: »Como te explicaría tu abuelo, Waslala existe en un interregno, una ranura en el tiempo, un espacio indeterminado. Esa distorsión del espacio-tiempo es la única explicación que pudimos darle al fenómeno« (365f.), erzählt die Mutter ihrer Tochter Melisandra, um etwas später hinzuzufügen: »una suerte de Edad Media iluminada, con alguna que otra tecnología multiplicando las posibilida-
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Vgl. dazu das Kapitel »Dritter Kreis: Geschlecht und Nation«.
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des« (375).™ Am Ende fasst die Mutter den Stellenwert Waslalas zusammen: »Waslala ya no era solamente el vacilante experimento que habíamos construido. Era una leyenda, un punto de referencia, una esperanza. Aun antes de que se comprobara su eficacia, se había convertido en un paradigma. Cumplía la función de un sueño capaz de movilizar los deseos y las aspiraciones de quienes ansiaban un destino colectivo más acorde con las mejores potencialidades humanas. Comprendimos entonces que la fantasía había adquirido tanto valor como la realidad.« (366f.) Endgültig vermischen sich Traum und Wirklichkeit, Utopie und Realität in der Antwort der Mutter auf Melisandras Frage, was sie denen sagen solle, »que me esperan«: »-Waslala existe. El ideal existe. Fueron sus sueños los que hicieron realidad la existencia de Waslala. Sus aspiraciones la mantuvieron y mantendrían viva. Pero Faguas tendrá que ser Faguas; encontrar su propio camino. Lo real y lo ideal tendrán que iluminarse mutuamente; uno ir en pos del otro hasta que un día se alcancen.« (371) Damit nimmt Gioconda Belli sogar eine so verbrauchte und in den achtziger Jahren unzählige Male wiederholte Formel wie die von Nicaragua als einer Republik der Poeten als grundlegende Idee für ihren Roman - oder wie die von Ernesto Cardenal, dass in Nicaragua die Literatur regiere (die ich bereits im Kapitel »Bypass: Roman und Welt« zitiert habe; vgl. Torres, 1997: 5). Diese Formel war zum Zeitpunkt des Erscheinens des Romans im Jahr 1996, als das Mandat der ersten nachsandinistischen Regierung (unter Violeta Barrios de Chamorro) zu Ende ging und sich eine weitere politische Kräfteverschiebung weg von der revolutionären Utopie abzeichnete, die dann in die Bildung einer offen antirevolutionären Regierung (unter Amoldo Alemán) mündete, nicht nur völlig obsolet geworden. Das utopische Waslala, gegründet von einer Gruppe von Poeten, eine direkte Anspielung auf die Bauern-Dichter-Gemeinschaft um Ernesto Cardenal auf der Inselgruppe Solentiname im großen Nicaraguasee in den siebziger Jahren, stellt auch in literaturästhetischer Hinsicht einen Anachronismus, eine weitere Parallele zur Literatur der Romantik dar: die Verschmelzung von Poesie und Politik - und das nach all den Katastrophen, die diese Vermischung im 20. Jahrhundert mit sich brachte:
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Ähnlich hatte Novalis in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen das beschworene »Goldene Zeitalter« als »Zwischenreich, als Zeit der Dämmerung und des Übergangs 'zwischen den rohen Zeiten der Barbarei und dem kunstreichen, vielwissenden und begüterten Weltalter'« (Böttcher, 1977: 181) dargestellt: »Solche Epochen haben seines Erachtens einen besonderen produktiven Charakter: Sie wecken wunderbare Erwartungen in sinnigen Gemütern, sie verbergen 'unter schlechtem Kleide eine höhere Gestalt', und die in ihnen herrschende 'geschickte Verteilung von Licht, Farbe und Schatten' offenbart 'die verborgene Herrlichkeit der sichtbaren Welt' und öffnet ein 'neues höheres Auge .« (ibid.) Diese »Befreiung der Welt« vollzieht sich bei Novalis durch die »Verwandlung der Welt in einen Traum und die Schaffung einer neuen Welt aus diesem Traum« (ibid.: 189), dargestellt im Märchen von Eros und Fabel, das einen zentralen Platz in dem Roman Heinrich von Ofterdingen einnimmt.
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»El e c o de esta convicción va resonando a lo largo de la novela, c o m o un estribillo popular. Porque, por un lado, alude a la historia literaria de Nicaragua, profundamente marcada por sus poetas [...] , evocando al m i s m o tiempo la íntima relación entre política y poesía; y, por otro lado, le da densidad simbólica a lo poético convirtiéndolo en la piedra angular del sentido de la novela. [...] La palabra poética se convierte en la fuerza que lleva los personajes a confiar en la posibilidad de transformar su mundo. Y es a través de ella también que el mito y el intento de materialización de Waslala - el lugar en donde se eliminarían las lacras sociales y políticas de Faguas - se torna posible.« (Barrientos, 2000: 260f., vgl. 2 6 2 , 2 6 3 )
Mit Waslala mag Gioconda Belli ein solch »großer« Roman der sandinistischen Revolution vorgeschwebt haben, dessen Fehlen von der Literaturkritik bedauert wurde, wie zu Beginn dieses Kapitels dargestellt. In der Suche nach dem mythischen Waslala, einer Art von Poetenrepublik, in der die revolutionäre Idee überlebt haben soll, symbolisiert sich der Glaube an die Weiterexistenz der Utopie. Dabei greift Belli auf die utopisch-mythischen Elemente des literarischen Nationalismus des sandinistischen Jahrzehnts zurück, mit dem Unterschied, daß sie die »Fehler« dieses Projekts nicht wiederholen will. (vgl. Mackenbach, 1998d: 7) Schon in Ernesto Cardenals Cántico Cósmico (1989: 189-191) wurde der Ort Waslala als revolutionärer Mythos stilisiert, ohne die Ablehnung der Revolution durch die dort lebenden indígenas zu problematisieren. Waslala hat jedoch nichts zu tun mit Waslala, mit den konkreten Problemen des revolutionären Prozesses, das heißt der gescheiterten Einbeziehung der Indios/Bauern in die Revolution." Dieses Problem findet in keiner Weise Eingang in die Argumentation des Romans: »Waslala« bleibt ein mythischer, idyllischer, steriler, unglaubhafter Ort - ohne irdische Existenz, ja sogar ohne Einwohner: eine unbewohnte Utopie. Sie muss auf dem Weg dorthin abhanden gekommen sein.
Literatur der Revolution und Revolution als Literatur Das hier vorgestellte Panorama der nicaraguanischen Romane, die sich auf die sandinistische Revolution von 1979 beziehen, hat gezeigt, dass es nicht möglich ist, von dem Revolutionsroman in einem engen Sinne zu sprechen. Der Roman der Revolution als Gesamtsicht der revolutionären Ereignisse, ihrer Vorgeschichte und der ihnen zugrunde liegenden Triebkräfte existiert nicht.
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Zur Kritik an der Stilisierung Waslalas in der Poesie Ernesto Cardenals vgl. auch Beverley/Zimmerman, 1990: 103f., 113. In den neunziger Jahren verwandelte sich Waslala im Norden Nicaraguas in einen der Orte, die am unmittelbarsten unter den Folgen des Krieges gegen die Contra litten. Er sank in extreme Armut ab und wies eine der höchsten Kriminalitätsraten in Nicaragua auf. (vgl. Mackenbach, 1997d: bes. 37f.)
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Auch für die literarische Darstellung der nicaraguanischen Revolution kann man zu einem ähnlichen Schluss kommen, wie Fernando Alegría ihn zum mexikanischen Revolutionsroman zog: »Si reconocemos en la Revolución Mexicana un proceso histórico cuyas proyecciones superan el límite temporal de las circunstancias políticas de una época determinada habremos de aceptar como características de la Revolución no sólo a las novelas de acción guerrera, sino también a aquellas que interpretan la periferia del hecho histórico y lo sondean en planos psicológicos, filosóficos o sociales. [...] Lo político y lo no-político, lo trascendente y lo episódico, como las puntas de una hélice giran vertiginosamente alrededor de un centro común, pero aunque van en la misma dirección tocan una atmósfera que nunca es la misma y el círculo que cierran está hecho de un infinito en que verdaderamente no se encontrarán jamás.« (Alegría, 1986: 130f.) Wie Alegría den mexikanischen Revolutionsroman als literarischen Stammbaum mit den unterschiedlichsten Verzweigungen versteht,72 so präsentieren sich die Romane über die sandinistische Revolution nicht nur thematisch in einer ähnlichen Variationsbreite - von der Vorgeschichte der Revolution im weitesten über die revolutionären Ereignisse im eigentlichen Sinne bis zu den Nachwirkungen von Revolution, Krieg und Bürgerkrieg; von der Sicht auf die Geschehnisse im Zentrum des revolutionären Prozesses über ihre Fortsetzung bzw. ihren Ursprung an den Rändern bis zu ihrem Nachhall jenseits der Ränder im Ausland bzw. im Exil; von der Orientierung an den »äußeren« Ereignissen über die Beschäftigung mit der Psychologie der die Revolution tragenden sozialen Gruppen bis zum Ausloten des Innenlebens der vom revolutionären Prozess betroffenen Individuen. Auch die narrative Repräsentation und Präsentation der Revolution kennzeichnet eine Vielfalt der Formen: Der »Revolutionsroman« präsentiert sich als philosophischer wie als Schlüsselroman, als Satire, Karikatur und Persiflage, als Trivialroman und Pamphlet; er arbeitet mit Elementen des Diktatoren- und historischen Romans, mit den Mitteln der Ironie, Parodie und Karnevalisierung, er rekurriert auf traditionelle Erzählweisen und -strukturen, verwendet experimentelle Verfahrensweisen, mischt magische mit autobiografischen und journalistischen Bestandteilen usw. und Methoden der mimetischen, nicht mimetischen wie antimimetischen Fiktion.
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Ausdrücklich nennt er einen »brote indianista«, genauer: indigenistischen Zweig (zur Unterscheidung zwischen Indianismus und Indigenismus vgl. Rössner, 1988: 182, 353 und das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität« der vorliegenden Arbeit), eine Tendenz des sozialen Protests, pikareske Erzählungen, die sich mit den revolutionären Nachwirkungen in der Provinz beschäftigen, eine »meditación barroca«, die »novela de los Cristeros« und Werke, die eher historischen als literarischen Charakter haben. (Alegría, 1986: 131)
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Offensichtlich lässt sich daraus kein einheitlicher Begriff des Revolutionsromans gewinnen. Auch die in den neunziger Jahren erschienenen Romane lassen sich keineswegs unter eine Bezeichnung als postrevolutionäre Literatur (über den Aspekt ihres Erscheinungsdatums hinaus) oder »Ästhetik des Zynismus« fassen, kann doch keineswges von einem durchgängigen Fehlen idealistischer Züge oder der definitiven Abkehr von der dem revolutionären Projekt zugrunde liegenden politisch-ideologischen Prämissen gesprochen werden (die sich noch in ihrer strikten Ablehnung in einigen Romanen spiegeln). Der Roman der Revolution präsentiert die Revolution als Roman, als nicht abgeschlossenen, im Prinzip endlosen Text. Diese Vielfalt und Ünübersichtlichkeit stellen ein Mosaik der sozialen und politischen Veränderungen im Nicaragua der siebziger, achtziger und neunziger Jahre, ihrer Widersprüche, Probleme und Absurditäten dar, das höhere Repräsentativität beanspruchen kann als die Testimonialliteratur in ihrer Gesamtheit oder der eine (im Übrigen weiterhin ungeschriebene) Roman, der vorgibt, eine Gesamtschau der Revolution zu sein. Diese Repräsentativität ergibt sich aus der Vielfalt der erzählten individuellen Leben und sozialen Ereignisse, nicht als Konstruktion einer historischen Kontinuität und einer Avantgarderolle des Subalternen a posteriori. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, für die der Roman Instrument der Einmischung in die Politik bleibt und außerliterarischen Interessen dient, hat sich das Verhältnis zwischen Literatur und Revolution umgedreht: von der Literatur (im Dienst) der Revolution zur Revolution als (Vorwand der) Literatur.
Ausfahrt Literarischer Nationalismus und neue Unübersichtlichkeit » [...] ein lebendiges Buch macht lebendig, was es erzählt.«
Eduardo Galeano, Dies Buch (Vorwort zu Omar Cabezas, La montaña es algo más que una inmensa estepa verde) »El novelista ha extendido los límites de lo real, creando más realidad con la imaginación dándonos a entender que no habrá más realidad humana si no la crea, también, la imaginación humana.«
Carlos Fuentes, Geografía de la novela » Wenn ich aus einer Sache einen Satz gemacht habe was hat die Sache noch mit dem Satz zu tun?«
Thomas Mann, Bilse und ich
Literatur als Palimpsest Noch zu Beginn der neunziger Jahre des gerade zu Ende gegangenen Jahrhunderts wiederholte die costa-ricanische Literaturwissenschaftlerin Magda Zavala das Urteil, Nicaragua habe in Vergangenheit und Gegenwart nur wenige Romanschriftsteller hervorgebracht, deren Werk in keiner Weise mit den kontinentalen Dimensionen seiner lyrischen Dichtung zu vergleichen sei. Im gleichen Atemzug kam sie jedoch zu dem Schluss, dass diese Situation sich gegen Ende der achtziger Jahre grundlegend zu ändern scheine, (vgl. Zavala, 1990: 96) Damit vollziehe sich auch in Nicaragua eine Entwicklung, die sie schon für die von ihr untersuchte Periode (1970 bis 1985) für Zentralamerika im Allgemeinen konstatierte: »la novela alcanza entonces un reconocimiento considerable« (ibid.: 379). Der Roman verwandle sich in »uno de los géneros más publicados« (ibid.), dies sei in der Geschichte der Gattung auf dem Isthmus außergewöhnlich. Die Lektüre der in den letzten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts erschienenen nicaraguanischen Romane hat diesen für Nicaragua damals noch eher hypothetisch formulierten Befund bestätigt. Die in der vorliegenden Arbeit unternommene Untersuchung der wichtigsten Tendenzen des Romans in dieser Periode hat darüber hinaus erbracht, dass diese grundlegende Veränderung auf dem nicaraguanischen literarischen Feld mit einem vielfaltigen Paradigmenwandel innerhalb der zeitgenössischen nicaraguanischen Narrativik einhergeht. Bereits für die sechziger Jahre sprach Amelia Mondragón davon, dass das realistische Paradigma, das bis dahin im nicaraguanischen Roman dominiert habe, einen entscheidenden Wandel erfahren habe.1 Ein Ergebnis der hier präsentierten Studie ist, dass diese Ansätze einer grundlegenden Veränderung
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zunächst überlagert wurden von der Testimonialliteratur und insbesondere von dem (zum Teil außerhalb Nicaraguas in den akademischen Zentren des Nordens geführten aber auf die nicaraguanische Peripherie zurückwirkenden) tesi/mowo-Diskurs, der an einigen Prämissen des Realismus-Paradigmas festhielt und sie zum Teil auf die Spitze trieb.2 Noch bis in die achtziger Jahre hinein galt nahezu unangefochten die Attacke, die Sergio Ramírez gegen den in den europäischen und nordamerikanischen literarischen Diskursen behaupteten Tod des Realismus und der Realität im Roman ritt, als exemplarisch für eine Positionsbestimmung des zentralamerikanischen Romanautors: »Para la literatura contemporánea de las sociedades industriales ya no se plantea ni siquiera el hecho de que una vez muerto el realismo pueda sobrevivir la realidad como fuente de la escritura, sino a través de una aproximación sumamente individual y fragmentaria [...] [...] uno de los puntales de mi formación libre de escritor de este lado de abajo del continente, ha sido precisamente el de aprender a reconocer el acto de creación literaria como una empresa totalizadora de la realidad, una realidad que una vez identificada como fabulosa, no puede desafiarse sino como tal en la escritura. Aceptar que podría acercarme a ella a través de una fragmentación de su visión, equivaldría a una mutilación atroz de posibilidades y, en muchos sentidos, a ejecutar un acto de traición.«3 Erst mit dem umfassenden Anstieg der Romanproduktion und den Verände-
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Vgl. Mondragón, 1989: 47, 359f., 365f. Sie schreibt, dass dieser Wandel sich insbesondere in den »formas representacionales« (ibid.: 31) niedergeschlagen habe. Bis in die sechziger Jahre sei der Roman in Nicaragua eine geschichtslose Gattung gewesen. Er habe sich weder der vorhergehenden Romanproduktion bedient noch sie abgelehnt, deren ästhetische Prämissen weder akzeptiert noch verworfen: » [...] se insertó de manera diacrónica, teniendo en cuenta sólo el mensaje que iba a emitir y que apelaba directamente a un determinado hecho social. Tenía la convicción de que su lenguaje era transparente y de que la representación contenía en sí misma la realidad; por lo tanto, los recursos estéticos no se presentaban como problemáticos ya que no se los veía como formas acuñadas que portaban la memoria de aquellas ideas a las que inicialmente habían servido como vehículo de representación.« (ibid.: 32) Vgl. dazu ausführlich das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«. Dieser bekannte Text mit dem paradigmatischen Titel »Seis falsos golpes contra la literatura centroamericana« wurde erstmals im März 1975 im Rahmen eines Seminars über Kunst und Gesellschaft in Zentralamerika, das in Berlin stattfand, präsentiert und dann in verschiedenen Ausgaben des Essaybandes Balcanes y volcanes publiziert; hier zitiert nach der Ausgabe von 1985: 118, vgl. 117. Unübersehbar ist, dass Ramírez ähnlich wie Miguel Bamet in »La novela testimonio: socio-literatura« (1969) mit seiner Kritik insbesondere auf den französischen Roman zielt: » [...] la realidad se limita así a una percepción más que nada del mundo interno, la narración de una cerrada experiencia que se recrea en el lenguaje como construcción paralela, una especie de retórica cerebral de la cual los franceses se han hecho maestros a través de la nouveau román. Pero extrañamente, tanto en Europa como en Estados Unidos, la novela se ha quedado, desde comienzos de la década de los sesenta, en un punto muerto.« (Ramírez, 1985: 118; vgl. zu Bamet das Kapitel »Erster Kreis: Revolution und Literatur«)
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rungen im testimonio selbst vollzog sich in Nicaragua ab der zweiten Hälfte der achtziger und insbesondere ab den neunziger Jahren ein grundlegender Paradigmenwandel in der erzählenden Literatur in Bezug auf die Aneignungen) von außerliterarischer Realität und ihre narrative Repräsentation. Der nicaraguanische Roman dieser Jahre bricht definitiv mit einem Verständnis literarischer Repräsentation, das von der Prämisse ausgeht, die angeeignete Wirklichkeit mit den Mitteln der mimetischen Wiedergabe bzw. der Korrespondenz darzustellen. Ihn prägt ein facettenreiches Durcheinander der unterschiedlichsten Formen der Aneignung außerliterarischer Realitäten und ihrer narrativen Präsentation, von mimetischen über nicht mimetische bis zu antimimetischen.4 Der nicaraguanische Roman des fin de siècle stellt sich als Text dar, der in vielfaltiger Weise und bewusst über andere Texte geschrieben ist, als eine Literatur, die durch Intertextualität und Hypertextualität charakterisiert ist. Diese Literatur hat endgültig die Vorstellung aufgegeben, unmittelbarer Ausdruck der außerliterarischen Wirklichkeit zu sein, die Welt »als solche« darzustellen. Sein Bezug auf diese außerliterarische Wirklichkeit wie deren Darstellung und Interpretation sind bestimmt von unzähligen Hypotexten, die er affirmativ, distanzierend, kritisch, fragmentierend, selbstreferenziell überschreibt. In den fünf Kapiteln des Hauptteils der vorliegenden Arbeit habe ich nachgezeichnet, wie sich dieses »Überschreiben« vollzieht: in der Fiktionalisierung der angeblich mimetischen Wiedergabe einer »authentischen« Erzählung im testimonio, im (enthistorisierenden) Rekurs auf mythisch-magische Überlieferungen, in den »über den Körper« geschriebenen literarischen Nationenkonstruktionen, in der Einverleibung und »Bearbeitung« historischer Dokumente, Diskurse und Daten, schließlich in der Semantisierung von Räumen sowie der bewussten und dynamischen »Spatialisierung« von Texten. Insofern scheint es mir gerechtfertigt, von der zeitgenössischen nicaraguanischen Romanliteratur als einer »Literatur auf zweiter Stufe« zu sprechen, wie sie in Gérard Genettes inzwischen klassischer Untersuchung Palimpseste definiert wird, die den gleichnamigen Untertitel trägt: » [...] Hypertextualität [...] Darunter verstehe ich jede Beziehung zwischen einem Text B (den ich als Hypertext bezeichne) und einem Text A (den ich, wie zu erwarten, als Hypotext bezeichne), wobei Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist. Wie aus der Metapher sich überlagern und der negativen Bestimmung ersichtlich, handelt es sich hier um eine provisorische Definition. Oder, um es anders zu sagen: Wir gehen vom allgemeinen Begriff eines Textes zweiten Grades [...], d.h. eines Textes aus, der von einem anderen, früheren Text abgeleitet ist. Diese Ableitung kann deskriptiver und intellektueller Art sein, [...] . Sie kann aber auch ganz anders geartet sein, [...] als Transformation [...] « (Genette, 1993: 14f.)
Vgl. dazu ausführlich das Kapitel »Bypass: Roman und Welt«.
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Diese Feststellung mag wie ein Gemeinplatz erscheinen, da es, wie Genette (ibid.: 20) treffend bemerkt, »kein literarisches Werk [gibt] , das nicht, in einem bestimmten Maß und je nach Lektüre, an ein anderes erinnert« und »in diesem Sinn [...] alle Werke Hypertexte« sind. Aber wie er von verschiedenen Graden der Hypertextualität einzelner Werke spricht, so ist im Fall der nicaraguanischen erzählenden Literatur insgesamt zu beachten, dass sie aufgrund ihrer engen Beziehung zur außerliterarischen Realität im literarischen und literaturwissenschaftlichen Diskurs lange Zeit als Prototyp einer auf »Korrespondenz« beruhenden Repräsentation galt. Die Charakterisierung dieser Literatur als Palimpsest soll also den entscheidenden Wandel im nicaraguanischen Roman der letzten zwanzig Jahre anzeigen.5 Dieser Wandel bedeutet keineswegs, dass der Roman in Nicaragua seinen engen Bezug zur außerliterarischen Wirklichkeit bzw. seinen Anspruch, sich diese anzueignen und zur Darstellung zu bringen, aufgegeben hat; die vorliegende Arbeit belegt das Gegenteil. Allerdings hat er seinen Glauben an authentische und ganzheitliche Wiedergabe dieser Wirklichkeit endgültig verloren. Auch in dieser Hinsicht kann die veränderte Positionsbestimmung eines Autors wie Sergio Ramírez als paradigmatisch für den Wandel des literarischen Diskurses gelten, der sich in einem Interview Mitte der neunziger Jahre zwar weiterhin als »realistischen« Schriftsteller bezeichnete, da er mit der Realität, mit der Realität der Erinnerung und der Erinnerung der Realität, arbeite. Nicht jede Realität sei jedoch real, die Kategorien der Realität seien durch die Realität selbst vorgegeben. Dieser »realismo naif« (Espinoza, 1995: 16), wie ihn Ramírez selbst bezeichnet, sieht die Schriftsteller in Latein- bzw. Zentralamerika nicht länger als Schamanen ihres Stammes, sondern »los novelistas imaginan ser los historiadores de una historia que necesita no poca imaginación para ser contada, y adivinada«.6 Der in der Tradition der lukácsschen Romantheorie stehende Totalitätsanspruch ist einem Bewusstsein der Fragmentierung, Individualisierung Relativierung und Pluralisierung gewichen. Dem entspricht ein Paradigmenwandel hinsichtlich der Formen der narrativen Präsentation. Der nicaraguanische Roman ist nicht länger von Formen »eindimensionalen Denkens und Schreibens« (Garscha, 1978b: 20) gekennzeichnet, er bedient sich der vielfaltigsten Erzähl- und Schreibweisen, wie sie
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Muss ausdrücklich betont werden, dass es mir hier wie generell im literaturwissenschaftlichen Diskurs darum geht, die wesentlichen Tendenzen herauszustreichen, die sich aus meiner Untersuchung ergeben haben? Ohne Zweifel existieren auch in der nicaraguanischen erzählenden Literatur der letzten zwanzig Jahre rein mimetische Formen der Repräsentation fort, wie an mehreren Stellen meiner Arbeit gezeigt. Zit. aus dem Vortrag »Oficios compartidos (III)« (1998, 1999); vgl. die Fußnote 35 im Kapitel »Bypass: Roman und Welt«. Zu dem Interview von Espinoza (1995) mit Sergio Ramírez vgl. auch das Kapitel »Zweiter Kreis: Magie und Realität«.
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die literarische Moderne des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat: der verschiedensten Formen der Trans- bzw. Intertextualität, der räumlichen und zeitlichen Vieldimensionalität anstelle raum-zeitlicher Linearität und Einheit, den Anleihen bei anderen künstlerischen Ausdrucksformen wie dem Kino und der darstellenden Kunst sowie der Musik, den unterschiedlichsten Erzählperspektiven und Fokalisierungen, der Auflösung der Grenzen zwischen (schreibendem) Subjekt und (beschriebenem) Objekt, der Präsenz des Autors als Figur im Text, Dialogismus, innerem Monolog, Analepsen und Prolepsen, Ironie, Karnevalisierung, Pastiche und Parodie, um nur einige zu nennen. Die Lektüre des nicaraguanischen Romans am Ende des 20. Jahrhunderts legt nahe, dass seine Autoren »ihre« Bachtin, Genette, Eco etc. kennen. Auch in architextueller Hinsicht präsentiert der zeitgenössische nicaraguanische Roman ein facettenreiches Spektrum. Über die in den fünf Kapiteln des Hauptteils dieser Arbeit und in dem Kapitel über den »Revolutionsroman« behandelten Subgattungen (wie testimonio, historischer Roman, »indigener« Roman, »Frauenroman«, »städtischer« Roman) hinaus sind Formen des Kriminalromans, des Briefromans, des Diktatorenromans, des Trivialromans auszumachen, die sich in vielfaltiger Weise mit den beschriebenen vermischen. Sie wurden zum Teil in die Analyse einbezogen, verdienten jedoch durchaus eigene Studien, die den Kanon der nicaraguanischen Literatur weiter diversifizieren können.7 Das scheinbar leere Zentrum der Peripherie, so könnte ein bereits benutztes Bild aufgreifend gesagt werden, entpuppt sich als reich an den unterschiedlichsten Formen der literarischen Repräsentation und Präsentation - oder wäre nicht vielleicht gar die Metapher von der nur trügerischen Ruhe im Auge des Orkans treffender für dieses Land im Zentrum der tropischen Region, die ihrerseits von einer Fülle diverser Formen der kulturellen Repräsentation gekennzeichnet ist? Wie bekannt spielen diese Formen der kulturellen Repräsentation, insbesondere die Literatur und darin die Romanliteratur, in dieser Region eine wichtige Rolle bei der Schaffung eines kollektiven Bewusstseins, bei der Herausbildung einer nationalen Identität. Über weite Strecken haben die einschlägigen Studien, wie in dieser Arbeit wiederholt dargelegt, die lateinamerikanische und insbesondere die zentralamerikanische Literatur auf ihre Bedeutung im Prozess der Herausbildung einer spezifischen nationalen Identität und ihre Verbindung zu den Projekten der Konstruktion einer (neuen) Nation hin gelesen.8 Erleben wir also nach dem Ende des nationalrevolutionären Projekts der
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Vgl. dazu das Kapitel »Bypass: Roman und Welt«. Vgl. zu Zentralamerika insbesondere Arias, 1998a: 1, 7, 15, 20f., 231; Anas, 1998b: 7-12; zur Analyse der Beziehung zwischen Literatur und Herausbildung einer nationalen Identität in Nicaragua vgl. den Aufsatz von Bravo/Miranda (1995: 199f., 132f.); vgl. auch Mackenbach, 1995b: 431-456.
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siebziger und achtziger Jahre mit seinen literarischen Repräsentationen einen Prozess der Herausbildung einer neuen nationalen Ideenwelt? Setzt sich innerhalb der nicaraguanischen Literatur, die seit einem Jahrhundert - von Rubén Dario und dem modernismo über die vanguardia (mit Pablo Antonio Cuadra als wichtigstem Repräsentanten) bis zu Ernesto Cardenal und Carlos Martínez Rivas - von der Lyrik dominiert wurde, mit dem Roman eine neue hegemoniale Form des »literarischen Nationalismus« durch, wie sie als repräsentativ für die lateinamerikanische Literatur im Allgemeinen verstanden wurde? In seiner Studie über die guatemaltekische erzählende Literatur des 20. Jahrhunderts argumentierte Arturo Arias, die Tragweite der globalen Veränderungen am Ende des Jahrhunderts und in Zentralamerika im Besonderen das Ende des »ciclo guerrillerista« (Arias, 1998b: 12) und der instabile Übergang zu repräsentativen Demokratien »de corte antipopular« (ibid.) machten es nötig, die Frage nach der Rolle der Subjektivität im Prozess der Identitätsbildung neu aufzuwerfen. Denn es sei auf diesem Feld, »en el cual se conforman las ideologías y en el cual emerge la literatura como fenómeno que contribuye, por medio de representaciones simbólicas, a renovar o reestructurar el sentido« (ibid.). Und er resümierte am Ende seiner Arbeit: »Corolario de lo anterior es la transformación de las identidades nacionales y de sus manifestaciones culturales [ . . . ] . [...] nuestro problema actual es que debido a la circulación de mensajes simbólicos, personas y capitales en el ámbito contemporáneo, las identidades ya no pueden definirse por la pertenencia exclusiva a una comunidad nacional.« (ibid.: 231)
Die hier vorgelegte Untersuchung bestätigt diesen Befund auch für die nicaraguanische Literatur. Noch bis in die achtziger Jahre war diese Literatur in mehrfacher Hinsicht von einem besonders engen Verhältnis zur Nation bzw. zu dem Projekt der Schaffung einer neuen nationalen Identität bestimmt. Ab der zweiten Hälfte der achtziger Jahre beginnt sich diese Bindung aufzulösen, vollzieht sich ein Paradigmenwandel auch im Verhältnis zwischen Literatur und Nation. Der testimonio büßt seine Funktion für die Konstruktion eines neuen »nationalen Subjekts« von unten ein. Die Bande zwischen Magie, Mythos und Nation lösen sich auf, magisch-mythische Elemente werden zunehmend zur Repräsentation brüchiger kollektiver bzw. nationaler Identitäten herangezogen. Geschlechterkonstruktionen entziehen sich ihrer Vereinnahmung für nationale/nationalistische Projekte; der »machismo-nacionalismo« offenbart seinen die Mehrheit aus dem Projekt Nation ausschließenden Charakter, während Weiblichkeitskonstruktionen jenseits der Nation stattfinden. Auch der Rekurs auf die Geschichte erlaubt keine Konstruktion einer hegemonialen und homogenisierenden nationalen Kontinuität und Identität. Die Repräsentation des geografischen Raums im literarischen Raum verliert ihre Relevanz für die Herausbildung fester kollektiver bzw. nationaler Iden-
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titäten. Selbst der Roman der Revolution bzw. über die Revolution bietet schließlich keinen sicheren Ort, an dem individuelle, kollektive und nationale Identität gleichermaßen aufgehoben wären.9 Für Nicaragua trifft also ungeschmälert das zu, was Arturo Arias für die zentralamerikanische Literatur der neunziger Jahre insgesamt als typisch sah: »En el contexto de los noventa [...] con el fin de las utopías, la reconversión productiva, la desterritorialización cultural, la afirmación de culturas étnicas minoritarias, la emergencia del feminismo y los intentos de apropiación de la esfera pública por la vía de la micropolítica, y con la necesidad de reformular el actual estado de crisis en nuevas teorías que puedan redefinir de una manera comprehensiva los valores que tradicionalmente fueron articulados por tradición liberal humanista que surgió del iluminismo, los escritores centroamericanos ya no creen en la posibilidad de que la textualidad sea instrumental en la formación de una conciencia de clase y un espacio privilegiado para formular proyectos de transformación social de corte nacionalista.« (Arias, 1998a: 17, vgl. 15) Literarische Repräsentationen von Identität stellen sich als prekäre, temporäre, individualisierte, fragmentierte, in sich widersprüchliche, imaginäre dar. Die Veränderungen im nicaraguanischen Roman vollziehen sich also nicht nur im Kontext der Entwicklung des zentralamerikanischen Romans, sondern in enger Wechselwirkung mit diesem. Dennoch sind ihre Verlaufslinien nicht deckungsgleich, vielmehr legen die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit auch einen Paradigmenwandel im literaturwissenschaftlichen Diskurs über die jüngste zentralamerikanische Literatur nahe. Ich habe in dieser Arbeit wiederholt zustimmend auf Studien Bezug genommen, in denen die sechziger Jahre als entscheidendes Datum für grundlegende Veränderungen im zentralamerikanischen wie nicaraguanischen Roman vor dem Hintergrund des sozialen Wandels in der Region beschrieben wurden, als qualitativer Einschnitt, bei dem die zentralamerikanische erzählende Literatur sozusagen Anschluss an die literarische Moderne gefunden habe.10 Die zentralamerikanische Literatur habe sich in diesen Jahren von der Diktatur der Mimesis befreit, der Roman sei zu einem »campo de juegos verbales« geworden, urteilt Arturo Arias (1998a: 54, vgl. 15f., 18f., 20f., 55). Mit den ersten Romanen von Lizandro Chávez Alfaro und Sergio Ramírez begann auch in Nicaragua Ende der sechziger Jahre ein solcher Veränderungsprozess. Allerdings wurde er, wie in dieser Arbeit ausführlich dargestellt, zunächst überlagert vom testimonio-Diskurs, der in vielerlei Hinsicht mimetische Formen der Repräsentation privile-
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Vgl. zu dieser zusammenfassenden Bilanz ausfuhrlich jeweils die letzten Unterkapitel in den fünf »Kreisen« des Hauptteils und im Kapitel »Diagonale: Literatur und Revolution«. Vgl. die hier bereits zitierten Arbeiten von Mondragön (1989) und Arias (1998a und 1998b); außerdem Mondragön, 1993b: 18f.; Zavala, 1990: 18f., 20f., 22f., 351, 3 6 8 f , 378-381; Arellano, 1997d: 133-136.
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gierte; erst ab Mitte der achtziger Jahre setzten sich zunehmend nicht mimetische bzw. antimimetische Formen durch. Die Entwicklung des nicaraguanischen Romans nahm also eigene, spezifische Züge an, sie kann nicht einfach als Konkretisierung einer als allgemein angenommenen Entwicklung »der« zentralamerikanischen erzählenden Literatur verstanden werden, sondern aus ihren eigenen Bedingungen heraus und in einem Spannungsverhältnis zu anderen Literaturen des Isthmus (wofür ich bereits die Metapher von den kommunizierenden Röhren gebraucht habe)." Ebenso wenig wie als generell gesetzte Tendenzen in den zentralamerikanischen Literaturen ohne weiteres auf das literarische Feld Nicaraguas zu übertragen sind, hat sich ein ähnliches Verfahren in Bezug auf die Verortung im umfassenderen Kontext der hispanoamerikanischen Literatur(en) als berechtigt erwiesen. In der vorliegenden Arbeit hat sich an mehreren Stellen gezeigt, dass auch ein Paradigmenwandel im literaturwissenschaftlichen Diskurs hinsichtlich der Einbettung des nicaraguanischen (zentralamerikanischen) Romans in die hispanoamerikanische Literatur geboten ist. Der Diskurs der siebziger und achtziger Jahre über die nicaraguanische Literatur führte zu einer Reihe von Kanonisierungen und Orthodoxien, die den Blick auf den vielfaltigen und spezifischen Entwicklungsprozess der zeitgenössischen nicaraguanischen erzählenden Literatur eher verstellen als schärfen. Dies gilt nicht nur für die »anti-literarische« Klassifizierung der Testimonial-
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Magda Zavala sieht für die von ihr untersuchte Periode (1970 bis 1985) drei Haupttendenzen im zentralamerikanischen Roman: »un tipo de novela que [...] crea su ficción sobre la base del relato propio del mito antropológico indígena« (Zavala, 1990: 379), »la novela testimonial« (ibid.: 380) und »la novela postmodernista, testimonial y carnavalesca« (ibid.: 381), als weniger bedeutend nennt sie eine Gruppe von Romanen, die noch in der Tradition der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehen, geprägt von einer »percepción maniquea, costumbrismo, adhesión a valores y proyectos políticos« (ibid.: 380), »obras publicadas en el presente que obedecen a las tradiciones del género de principio de siglo« (ibid.: 381) und »novelas que incorporan en su conformación interna y en sus temáticas intereses psicoanalíticos, sin llegar a ser propiamente novela de introspección« (ibid.). Aus der vorliegenden Arbeit geht hervor, dass auch dieser Versuch der Verallgemeinerung kaum befriedigend ist, jedenfalls nicht für die nicaraguanische Literatur der genannten Epoche. So fehlen zum Beispiel völlig der (neue) historische Roman, der »Frauen«-Roman, der »städtische« Roman und der Revolutionsroman, um nur einige der wichtigsten Formen zu nennen. Ähnliches gilt für Zavalas Zusammenstellung der wichtigsten »constantes temáticas, cronotópicas, lingüísticas y narrativas« (ibid.: 382, vgl. 382-389), die zweifellos wichtige Züge des zeitgenössischen Romans zusammenfasst, aber weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf volle Übertragbarkeit auf den nicaraguanischen Roman beanspruchen kann (insbesondere fehlen hier so wichtige Aspekte wie Metafiktion, Intertextualität, Parodie, Palimpsest usw.). Am Ende ihrer Studie signalisiert Zavala die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen u.a. zu »las novelas míticas«, »novelas sobre la revolución en Nicaragua«, »novelas del ciclo de guerra en El Salvador«, den »neoexistencialismo« in Costa Rica, »novelas de perspectiva antiimperialista« und »el conjunto de novelas que se fundan en la herencia afroantillana, escritas en español y en inglés« (ibid.: 390). In der vorliegenden Arbeit werden zumindest einige dieser genannten in Nicaragua untersucht.
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literatur, wie sie vor allem ausgehend von den wissenschaftlichen Zentren in Nordamerika unternommen wurde, sondern auch ftir die »Anwendung« einiger Elemente des Diskurses vom »magischen Realismus« auf die neuere nicaraguanische Romanliteratur und die distanzlose Übertragung des Diskurses von der nueva novela histórica hispanoamericana auf Zentralamerika bzw. Nicaragua. Es trifft auch zu auf die allgemein verbreitete Behauptung von der »verspäteten Entwicklung« (»desarrollo tardío«) des zentralamerikanischen bzw. nicaraguanischen Romans gegenüber dem hispanoamerikanischen, wobei gleichzeitig betont wurde, er verfolge »la misma trayectoria que se observa en el resto de Hispanoamérica«, wie Ramón Luis Acevedo schrieb (1982: 447).12 Dagegen ist festzuhalten, dass die postrevolutionäre erzählende Literatur Nicaraguas ein facettenreiches, vielstimmiges Bild präsentiert, was ihre narratologischen Aspekte und die der ideologisch-symbolischen Repräsentation angeht. Diese Literatur ist auf der Suche nach neuen narratologischen und symbolischen Parametern. Sie ist nicht adäquat mit der einfachen Übertragung von aus der Analyse allgemeiner Entwicklungslinien »der« hispanoamerikanischen Literaturen gewonnenen Erklärungsmustern zu begreifen." Zwar ist ausgehend davon der Feststellung Arturo Arias', dass es ab Mitte der achtziger Jahre zu einem »nuevo giro estético« (Arias, 1998a: 233) in der zentralamerikanischen Literatur komme, auch für Nicaragua zuzustimmen, allerdings nicht der Behauptung, er finde im Zeichen einer Rückkehr zu einfachen, traditionellen Erzählformen statt, wie er allgemein als bestimmend für den hispanoamerikanischen Roman des Postbooms und Postpostbooms
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Vgl. dazu das Kapitel »Bypass: Roman und Welt«. Bei Kathryn Eileen Kelly verbindet sich mit dieser Verspätungsthese ein ausgeprägter Ökonomismus, der die »evolución tardia y la escasa producción de novelas en Honduras, Nicaragua y El Salvador« einem »mayor subdesarrollo de estos países dentro del contexto de la América Central« (Kelly, 1991: 9) zuschreibt. Diese Unterentwicklung erkläre auch die Tatsache, dass der zentralamerikanische boom mit zehn Jahren Verspätung gegenüber dem übrigen Lateinamerika begonnen habe. (vgl. ibid.: 4f., 9, 272) Amelia Mondragón stimmt zwar auch der Position zu, dass der zentralamerikanische Roman sich ab den sechziger Jahren »poco a poco en paridad con la llamada 'Nueva novela hispanoamericana'« begeben habe, kritisiert jedoch: »Aun así, los resultados han sido relativamente diferentes y sería empobrecedor para la literatura centroamericana considerarla como una literatura que se ha desarrollado a la zaga y a expensas de los hallazgos técnicos de la producción literaria surgida en áreas más desarrolladas de Hispanoamérica.« (Mondragón, 1993: 17). Das Gefährliche einer solchen Position sei, »que suele implicar que Centroamérica debe forzosamente recorrer un camino ya trazado« (ibid.: 23). In einer noch gröberen Verallgemeinerung behauptet Acevedo, die Entwicklung des zentralamerikanischen Romans sei wie die des hispanoamerikanischen insgesamt gekennzeichnet von der gleichzeitigen Existenz »anachronistischer« Elemente, verglichen mit den Literaturen Europas und Nordamerikas, und der überraschenden Vorwegnahme »moderner« Elemente, (vgl. Acevedo, 1982: 15, 447, 459) Auch diese von einer allgemeinen »Norm« literarischer Entwicklung ausgehende Position wurde bereits von Amelia Mondragón (1989: 34-38) kritisiert.
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bezeichnet wurde. 14 Wie diese Arbeit belegt, ist die zeitgenössische nicaraguanische Romanliteratur vielmehr von einer großen Vielfalt an erzählerischen Formen und Strategien charakterisiert; Elemente der literatura light und des Trivialromans koexistieren mit Formen der Testimonialliteratur, höchst artifiziellen intertextuellen Gebilden und auch experimentellen Verfahren.
Moderne und
Postmoderne
Dies hat nicht wenige Literaturwissenschaftler und -kritiker dazu bewogen, den nicaraguanischen Roman der achtziger und neunziger Jahre in den Zusammenhang des postmodernen Diskurses/der postmodernen Diskurse innerhalb der nordamerikanischen und europäischen Literaturwissenschaften zu stellen, zum Teil unter besonderer Bezugnahme auf die Beziehung von Geschichte und Fiktion im Roman." Jorge Ruffinelli charakterisierte bereits den Roman Castigo divino (1988) von Sergio Ramírez als »postmodernen« Roman, wobei er diese Definition mit dem Gebrauch der Parodie, »el tono humorístico« und »el empleo de otras modalidades de comunicación emocional y artística (como el cine)« begründete (Ruffinelli, 1993: 202, 204). Nydia Palacios dagegen bezeichnete Rosario Aguilars Roman La niña blanca y los pájaros sin pies (1992) ais »la primera novela de la postmodernidad que se ha escrito en Nicaragua« (Palacios, 1998: 245). Unter Berufung auf Arbeiten von Octavio Paz, Víctor Fuentes, Alfonso de Toro und anderen charakterisierte Manuel Martínez die Romane Castigo divino und Un baile de máscaras (1995) von Sergio Ramírez sowie Réquiem en Castilla del Oro (1996) von Julio Valle-Castillo ais »narrativa de la postmodernidad«. Er zitiert eine Reihe von Elementen, die laut de Toro für die postmoderne erzählende Literatur konstituierend seien: »tono científico (histórico en el caso del Réquiem), autor omnisciente que a su vez es también el personaje y discurso de tercera a primera persona, fábula con personajes bien delineados y luego de construcción, ambigüedad que se resiste a la interpretación, alusión autobiográfica, mezcla absoluta de realidad y ficción, pseudolocalismo, mito entre historia y lenguaje, el lector como activo co-autor« (Martínez, 1997: o.S.). Im Wesentlichen
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Vgl. zu Zentralamerika Arias, 1998a: 233f„ 246-250, bes. 248; zu Hispanoamerika z.B. Gálvez, 1987: 109, 122f. Die Studien zum neuen historischen Roman differieren allerdings in signifikanter Weise, was seine Subsumierung unter den Diskurs um die Postmoderne angeht. María Cristina Pons (1996: 257f.) ist zum Beispiel der Auffassung: »no significa que consideramos que la novela histórica latinoamericana de fines del siglo XX es postmoderna«, während Amalia Pulgarín (1995: 203, vgl. 204,207f., 210) von »la nueva novela histórica posmodernista española y latinoamericana« spricht.
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wiederholen diese Studien unter der Bezeichnung Postmoderne jedoch nur das, was Francisco Albizürez Palma als konstitutive Elemente der literarischen Moderne in Lateinamerika darlegte: vor allem die Konzeption vom Leser als aktivem Teilnehmer am ästhetischen Prozess, die Ablehnung eines konventionellen Realismus, die Berücksichtigung der besonderen Rolle der Sprache und der Bedeutung anderer Formen des Ausdrucks, die Aneignung der Techniken des Kinos, des Radios und des Fernsehens sowie den Bruch mit der chronologischen Ordnung und Experimente mit der räumlichen Struktur." Die bisherigen Versuche, in der Diskussion über die zeitgenössische erzählende Literatur Nicaraguas an den Diskursen um Moderne und Postmoderne anzuknüpfen, beschränken sich also darauf, den Postmoderne-Begriff als literarischen Code, über Schreibweisen und Erzähltechniken zu bestimmen, ohne die Postmoderne als Epochenbegriff in den Blick zu bekommen und die Übertragbarkeit bzw. Nicht-Übertragbarkeit des postmodernen Diskurses (der nordamerikanischen und teilweise europäischen Ursprungs ist) auf Lateinamerika zu problematisieren.17 Wenn die Begrenztheiten dieses Diskurses sich
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Vgl. Albizürez Palma, 1989: 13, 14; vgl. auch Zavala, 1990: 304f„ und Ette (1994: 319f.), der konstatiert, dass »die intertextuelle Verfügbarkeit verschiedenster literarischer Formen, Epochen und Verfahren in Lateinamerika spätestens seit dem Modernismo als bewußtes ästhetisches Element zu beobachten ist [...] « . In den folgenden Arbeiten wird diese Problematik diskutiert: Gálvez(1987: vgl. bes. 135-144), Zavala (1988), Ortega (1988), Yúdice (1989), Zavala (1990: vgl. bes. 303-307), Follari (1992), de Toro (1997), Kohut (1997: vgl. bes. 9-26) und Ette (1999: vgl. bes. 125-133). Kohut bezieht sich auch auf »la copiosa bibliografía sobre la discusión en torno a la postmodernidad en América Latina« (Kohut, 1997: 11, vgl. 21-26). - Der bisherige Diskurs über die Moderne (bzw. Postmoderne) in der latein- bzw. zentralamerikanischen Literatur bietet ein unübersichtliches Bild, aus dem kaum ein einheitlicher Begriff der Moderne zu gewinnen ist. In seiner 1998 veröffentlichten Studie fasst Krysinski seine Analyse einiger europäischer und lateinamerikanischer Literaturen zusammen, indem er die »novela en sus modernidades« auf einen quasi überhistorischen Raster bestehend aus vier Elementen reduziert: »Así, en su historicidad y en su estética, la modernidad se ha constituido en un metasistema que se apoya en cuatro variantes tématico-formales, que son respectivamente: 1) subjetividad; 2) ironía; 3) fragmentación; 4) autorreflexividad.« (Krysinski, 1998: 196) - Für Lateinamerika hat Alfonso de Toro folgende Periodisierung der literarischen Moderne vorgeschlagen: » [...] podemos, sin ningún problema, hablar de la modernidad literaria latinoamericana que comienza alrededor de 1888 y se desarrolla en varias etapas hasta principios de los años 60, y si aceptamos lo expuesto estaremos entonces obligados a denominar y describir aquello que sucede en los años posteriores con otro término (a no ser que se quiera petrificar la modernidad), y esto es con el de postmodernidad.« (de Toro, 1997: 26) Die verschiedenen Etappen definiert er so: erste Etappe von 1888 (Azul) bis 1925, zweite Etappe von 1925 (Residencia en la tierra) bis etwa 1955, dritte Etappe von 1955 (El acoso, Pedro Páramo) bis zum Beginn der sechziger Jahre, (vgl. ibid.) - In Bezug auf Zentralamerika spricht Amelia Mondragón für die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts vom Beginn der »literatura moderna centroamericana« (Mondragón, 1993b: 18, vgl. 19f.; vgl. auch Zavala, 1990: 376-378), ebenso von »la modernidad de la novela en Nicaragua« (Mondragón, 1989: 366, vgl. 367), die im gleichen Zeitraum ihren Anfang habe. Ich werde weiter unten auf diese Argumentation zurückkommen.
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fortsetzen, könnten sie in eine neue Orthodoxie münden, eine Art von literarischen Produktionsnormen, wie sie Ottmar Ette in der europäischen und nordamerikanischen Rezeption und Interpretation lateinamerikanischer Texte kritisierte: »Längst ist aus der 'postmodernen' Lesart lateinamerikanischer Texte eine ästhetische Doxa geworden, haben sich Rezeptionsprozesse also in normative Produktionsvorgaben verwandelt [...] Noch immer wird in abstrakter Weise auf 'postmodern practices' [...] in Lateinamerika geschlossen, die im gleichen Atemzug für ganz Lateinamerika, für die lateinamerikanische Literatur als verbindlich (das heißt zur gültigen Norm) erklärt werden. So erst lassen sich aus dem Zusammenhang europäisch-nordamerikanischer Postmoderne-Theorien heraus Behauptungen verstehen, die jegliche Suche nach Wahrheit im lateinamerikanischen Roman für obsolet erklären.« (Ette, 1994: 320)" Jedenfalls wirft die nicaraguanische Romanliteratur am Ende des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Fragestellungen auf, auf die der bisherige Diskurs um Moderne und Postmoderne noch keine befriedigenden Antworten gegeben hat. Mit den notwendigen Präzisierungen bzw. Konkretisierungen ist für eine Analyse der nicaraguanischen Romanliteratur der Jahrhundertwende den Prämissen zuzustimmen, die Ette für »eine den lateinamerikanschen Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen von Literatur gerecht werdende Begrifflichkeit und Untersuchungsstrategie« vorgeschlagen hat: ein Verständnis des hispanoamerikanischen modernismo, in dem »das Projekt einer hispanoamerikanischen Moderne« zum Tragen gekommen sei, »die aus dem Bewußtsein der Peripherie eine bewußt periphere Modernisierungsstrategie für den eigenen Raum entwickelte«. Die Postmoderne-Diskussion in Bezug auf Lateinamerika müsse also »den sozioökonomischen Begriff der modernización, den epochenspezifischen Begriff der modernidad und den literarästhetischen Begriff des modernismo aus einer neuen Perspektive untersuchen« (ibid.: 321)." Dazu wird es, wie Ette feststellt, notwendig sein, »die neueren
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Zur Bezeichnung »postmodern practices« vgl. Williams, 1992: 8. Der Diskurs bzw. besser die Diskurse um Moderne und Postmoderne sind inzwischen nahezu unübersichtlich geworden, und man kann Kohut nur zustimmen, wenn er feststellt: »No hay libro ni artículo sobre la posmodernidad (incluyendo el presente) que no comience constatando la pluralidad y hasta incompatibilidad de los conceptos.« (Kohut, 1997: 9) Im Kontext meiner Untersuchung scheint es mir angebracht, vor allem auf folgende Aspekte hinzuweisen: die »Komplementarität« des Binoms Moderne/Postmoderne (nach einer Bezeichnung Raveras) sowie die »Pluralität« sowohl der Moderne(n), oder der Moderne als »Bewegung« bzw. als »uneinheitlicher« Begriff (Bürger), als auch der Postmoderne, das heißt »that there is more than one Postmodernism« (Bertens). Beide Aspekte verweisen auf die Notwendigkeit ihrer Einbettung in die j e verschiedenen historischen und kulturellen Kontexte, (vgl. zu diesen Aspekten: Fokkema/Bertens, 1986: 9f., 11; Suleiman, 1986: 255-270; Gálvez, 1987: 135,
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kulturtheoretischen Ansätze lateinamerikanischer Provenienz miteinzubeziehen«, ein solcher Dialog steuere »nicht nur neue, bislang unbeachtete Aspekte einer so international wie möglich zu fuhrenden Postmoderne-Diskussion bei, er vermag auch unser Verständnis literarischer Moderne aus der Peripherie kreativ in Frage zu stellen« (ibid.: 323; vgl. de Toro, 1997b: 28; Follari, 1992: 146f.) Eine Auseinandersetzung um diese Fragen hat in Nicaragua bzw. zur nicaraguanischen Literatur noch kaum begonnen.20 Für die Entwicklung des zeitgenössischen Romans in Nicaragua lassen sich aus der hier vorgelegten Untersuchung eine Reihe von Schlüssen zu diesen Fragestellungen ziehen. Zum einen vollzieht sich im untersuchten Zeitraum innerhalb der nicaraguanischen Romanliteratur ein entscheidender Wandel, was seine epochenspezifische Einordnung angeht. Die Geschichte Nicaraguas im 20. Jahrhundert war von zwei großen Modernisierungsbewegungen geprägt, mit denen sich umfassendere Moderneprojekte verbanden: dem Versuch der Herstellung einer eigenständigen ökonomischen Entwikklung (parallel zur ersten Kapitalisierungswelle mit der Einführung des Kaffeeanbaus) im Zuge der Eingliederung in den kapitalistischen Weltmarkt und der Schaffung eines souveränen Nationalstaates Ende des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die unter der politischen Fahne des Liberalismus unternommen wurden, und dem Versuch der gleichberechtigten Beteiligung am Weltmarkt (ausgehend von der zweiten Kapitalisierungswelle im Zuge des Baumwollbooms) und der Schaffung einer (neuen) auf Einschluss der breiten Völksmassen, einer gerechteren Sozialstruktur und Überwindung der Abhängigkeit von den USA basierenden Nation seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, ab den sechziger Jahren unter der Fahne eines Sandinismus unternommen, dessen Antiimperialismus sich mit einer ideologischen Orientierung am Marxismus-Leninismus bzw. einer Anlehnung an die Sowjetunion vermischte. Die
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136f„ 137-141; Bürger, 1988: 7, 439, 442f„ 450; Follari, 1992: 14, 16f„ 18f„ 20f., 22, 80f., 85, 87, 89f„ 143, 146f.; Kohut, 1997:9, 10; de Toro, 1997b: 11-13, 23f„ 26f„ 27f„ 31; Ravera, 1997: 113; Krysinski, 1998: 17, 195, 238ff.; Ette, 1999: bes. 132f.) Ausführliche bibliografische Hinweise zum Thema finden sich in de Toro (1997b: 27) und in Kohut (1997: 10). Zur Diskussion um »postcolonialismo [...] como relativización del estado actual entre la periferia y el centro« und um »postcolonialidad como perspectiva postmoderna« vgl. de Toro, 1997b: 7, 28f., 29f. Wie ich an anderer Stelle kritisiert habe, schließt die bisher einzige existierende umfassende nicaraguanische literaturgeschichtliche Studie (Arellano, 1986) den wichtigsten Vertreter des modernismo, Rubén Dario, aus der Analyse aus, indem sie argumentiert, dass »al incorporarse a otros procesos literarios de Hispanoamérica, trascendió el nuestro. Por consiguiente, no cabe en estas páginas [...] « (Arellano, 1986: 36f.), wobei sie Rubén Darío jedoch gleichzeitig als »fundador de la literatura nacional« bezeichnet (ibid.: 71) und die nicaraguanische Literatur in zwei große Epochen einteilt: vor und nach Rubén Dario (vgl. Mackenbach 1997c: 15; Zavala/Araya, 1995: 101, 192). Die zitierten Passagen wurden auch unverändert in die sechste Ausgabe von Arellano (1997d: vgl. 39, 71) übernommen.
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beiden großen Modernisierungs-/Moderneprojekte waren untrennbar an die Konstruktion einer homogenen, auf sozialem Fortschritt und einem starken Staat basierenden Nation gebunden.21 Beide Modernisierungsprojekte scheiterten: Die gleichberechtigte Eingliederung in den Weltmarkt zu Beginn des Jahrhunderts gelang nicht, die Nation wurde nicht als souveräne und unabhängige konstituiert. Die Bourgeoisie/Oligarchie unterwarf sich den US-Interessen, des Projekt des Generals Augusto César Sandino, eine unabhängige Nation »von unten« als Ausdruck des »pueblo« bzw. der »raza indohispana« zu schaffen, schlug fehl. Die insbesondere in den siebziger und achtziger Jahren wieder im Namen der nationalen Souveränität versuchte Modernisierung vollzog sich unter den Bedingungen der Globalisierung und der abhängigen Integration in den Weltmarkt und scheiterte nicht zuletzt an den geostrategischen Interessen der USA.22 Wie in der hier präsentierten Studie wiederholt vor allem unter Bezug auf die Arbeiten von Amelia Mondragón (1989 und 1993b) und Ileana Rodríguez (1992, 1994 und 1996) dargelegt, verbanden sich mit diesen Modernisierungsprojekten zahlreiche Versuche der literarischen Nationenkonstruktion, insbesondere im Roman, bis hin in die Testimonialliteratur der achtziger Jahre, und nahm die Literatur eine zentrale Rolle insbesondere im sandinistischen Projekt ein (Alphabetisierung, Literatur als Instanz, die nationale Identität mitstiftet). Während das Jahr 1990 als historischer Bruchpunkt verstanden werden kann, an dem die im Namen der Nation und des Fortschritts im zwanzigsten Jahrhundert unternommenen Modernisierungsprojekte endgültig zum Erliegen kamen, machte sich dieser Prozess in den literarischen Repräsentationen schon ab der zweiten Hälfte der achtziger Jahre bemerkbar und manifestierte sich ganz offen im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Die nicaraguanische Romanliteratur ließ in mehrfacher Hinsicht ihre enge Bindung an die Prämissen der beiden großen Moderneprojekte hinter sich: Die Nation verlor zunehmend ihre Bedeutung als identitätsstiftende Instanz in der literarischen Repräsentation. Die engen Bande zwischen Nation/Staat und Literatur/Schriftsteller lösten sich auf. Die Literatur als Institution verlor ihre privilegierte Funktion für den Aufbau der Nation und ihre hegemoniale Rolle als symbolisches Repräsentationssystem, sie wurde zunehmend zu einem Repräsentationssys-
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Vgl. dazu auch ausführlich Mackenbach, 1995a: bes. 20-24, 28f., 34-37, 181-191; Rodriguez, 1994: bes. l , 2 7 f . , 3 0 , 5 0 . Auch dieses Projekt war übrigens nicht in der Lage, dauerhaft die drei Grundprobleme zu lösen, mit denen die Projekte der Nationenkonstruktion in Nicaragua im 20. Jahrhundert behaftet waren: »dem Ausschluß der armen, analphabetischen Volksschichten [...] aus dem nationalen Konstitutionsprozeß; der Nichtbeachtung bedeutender ethnischer Minderheiten [...] ; der Nichtbeteiligung der Frauen [...] «(Mackenbach, 1995a: 181). Während der Sandinismus bedeutende Fortschritte in Bezug auf das erste Problem erreichen konnte, blieben die beiden anderen strukturell ungelöst.
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tem unter anderen. Die Moderne als Epochenbegriff ist also für den zeitgenössischen nicaraguanischen Roman überholt. Zum anderen vollzog sich in der jüngsten nicaraguanischen Romanliteratur ein Paradigmenwandel in ästhetischer Hinsicht, der ein für alle Mal die kanonisierten Prämissen des modernismo hinter sich ließ, ohne in ein überholtes Konzept der »literatura vernácula« zu verfallen. Die nicaraguanische Avantgarde hatte versucht, in Abwendung von dem Kosmopolitismus, Universalismus und sprachlichen Ästhetizismus Rubén Daríos literarisch eine »nicaraguanidad« zu konstruieren, indem sie auf die bäuerliche Welt und die Volkstraditionen rekurrierte. Noch die Testimonialliteratur zielte darauf ab, diese nun klassenmäßig interpretierte Volkskultur und Volkssprache in ein Konzept von Literatur zu integrieren, das sich in den Dienst der Revolution, das heißt der Schaffung einer neuen, gerechteren Nation aus der eigenen Kraft des unverwechselbaren nicaraguanischen Volkes heraus, stellte. Mit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre und besonders ab den Neunzigern hat die nicaraguanische Romanliteratur ihre Bindung an die Prämissen des modernismo, die sich noch in seiner Ablehnung spiegelten, hinter sich gelassen. Paradigmatisch zeigt sich dies an dem Roman Margarita, está linda la mar (1998a) von Sergio Ramirez, der parodisch die Sprache des modernismo mit allen Registern des zeitgenössischen Romans und der Vulgärsprache vermischt und die orale Sprache als Kunstmittel bewusst einsetzt und nicht länger als Beleg einer angeblichen »Authentizität« des Nicaraguanischen bzw. des Subalternen wie in den unterschiedlichen Formen des Regionalismus und der Testimonialliteratur. Der zeitgenössische nicaraguanische Roman hat auch den modernismo als ästhetischen Begriff zu einem rein historischen werden lassen. Exemplarisch für diesen Wandel können die ausführlich analysierten Texte zweier führender sandinistischer Schriftsteller und Politiker zitiert werden. Noch 1989 heißt es in Tomás Borges La paciente impaciencia: »A orillas del río Matagalpa, viendo las alturas que también nos miran, leí Azul... [...]/ Lo escribió Rubén Darío, de generales conocidas. Yo lo leí cuando construían el puente para comunicar la ciudad con el hospital que está al otro lado del río, en la falda de El Calvario.« (13f.) Die optimistisch-idealistische Vermischung von modernismo und sozialökonomischer Modernisierung ist ein Jahrzehnt später in Sergio Ramírez' Adiós muchachos (1999) der Burleske in der Anekdote vom späteren legendären Comandante Cero Eduardo Contreras gewichen, der sich Anfang der siebziger Jahre als Student in Berlin ausgerechnet am Symboltier des großen Meisters des modernismo vergreift: » [...] en una noche de invierno, de pocos pesos para comer o de increíble borrachera, secuestró con otros estudiantes un cisne de un estanque del Tiergarten, que se llevó pataleando bajo el abrigo y que fue desplumado y asado en su pobrísimo departamento del barrio de Neukölln. No ignoraba seguramente que había puesto en las brasas la ave heráldica de su paisano y el mío, Rubén Dario.« (86) Damit rückt schließlich wieder die Frage nach den »modernen« bzw.
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»postmodernen« Schreibweisen in den Blick. Trifft auf die nicaraguanische Romanliteratur der achtziger und vor allem der neunziger Jahre nicht zu, was Carlos Rincón mit der »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen« bezeichnete: die gleichzeitige Existenz der unterschiedlichsten Einflüsse und Tendenzen in den verschiedenen Entwicklungsphasen des hispanoamerikanischen Romans von den Jahrzehnten des booms über die Postboom- und Postpostboom-Literatur?23 Muss vor diesem Hintergrund nicht davon gesprochen werden, dass die jüngste nicaraguanische Romanliteratur versucht, die Geschichte und Aktualität der postrevolutionären nicaraguanischen Gesellschaft neu zu interpretieren, wobei sie sich des ganzen Arsenals der Erzähltechniken der literarischen Moderne, oder besser der literarischen Modernen, bedient und sie neu definiert - in einer Situation, die charakterisiert ist von der Zersetzung des hegemonisierenden Diskurses eines literarischen Nationalismus und der hegemonialen Rolle der Literatur bei der (Re)Konstruktion einer nationalen Identität? In diesem Sinne kann von einer »pos-modernización«, einer »pos-modernidad« und einem »pos-modernismo« in der zeitgenössischen nicaraguanischen erzählenden Literatur in Bezug auf die eigenen Moderneprojekte in der jüngsten nicaraguanischen Geschichte gesprochen werden, ähnlich wie Arturo Arias in der zentralamerikanischen Literatur in den neunziger Jahren eine »transición hacia el posmodernismo« (Arias, 1998a: 17, vgl. 233f.) sieht und Magda Zavala schon für die achtziger Jahre von »un grupo significativo de novelas en la región« spricht, die gekennzeichnet seien von »una percepción estética muy próxima a las intenciones de la última modernidad literaria, llámese neovanguardista o posmodernismo, por sus prácticas textuales, técnicas y soluciones estilísticas [...] « (Zavala, 1990: 373).24 Lässt sich aus dieser Bezeichnung für ein Scheitern bzw. ein Hinter-sich-lassen des über weite Pha-
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In Abwandlung der Formulierung »die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, mit der Ernst Bloch die Beziehungen zwischen dem Faschismus und der Moderne in Deutschland zu begreifen suchte, hat Rincón eine Interpretation der lateinamerikanischen Wirklichkeit vorgeschlagen: »Lo determinante parece ser hoy, para el caso latinoamericano en su heterogeneidad y bajo las condiciones de la nueva etapa del proceso de globalización, la no-simultaneidad de lo simultáneo.« (Rincón, 1995: 220) Erst mit dem Scheitern des sandinistischen nationalistischen Projekts scheint es mir sinnvoll, in diesem Sinne von »Postmoderne« in Nicaragua zu sprechen und nicht schon in Bezug auf die revolutionären Projekte der sechziger, siebziger und achtziger Jahre selbst, die Rodríguez als »postmodern in the sense of going beyond the modernity of the liberalization projects« (Rodríguez, 1994: 172) im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Diese unter dem Etikett des Marxismus firmierenden Projekte in der zweiten Jahrhunderthälfte waren selbst noch weitgehend bestimmt von den Parametern der liberalen Projekte der Konstruktion der Nation (homogene Nation, sozialer Fortschritt, starker Staat). Auch das sandinistische Projekt war der Versuch einer - nachholenden - Transformation zur Moderne, (vgl. dazu Mackenbach, 1995a: bes. 187, 237)
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sen des 20. Jahrhunderts dominierenden kulturellen Paradigmas ein positiver Begriff der Postmoderne für die zeitgenössische nicaraguanische Romanliteratur gewinnen? Was kann an die Stelle des dreifachen Modernebegriffs treten? Kann ein neuer Epochenbegriff, ein neuer ästhetischer Begriff formuliert werden?
Vom literarischen Nationalismus zu einer neuen
Unübersichtlichkeit
Festzuhalten bleibt, dass auf dem literarischen Feld der Diskurs des StaatesNation bzw. des Nationalstaates seine Abenddämmerung erlebt.25 Wir haben gesehen, dass dies sowohl für die literarischen Repräsentationen und Präsentationen außerliterarischer Wirklichkeit im Roman gilt, als auch für die Funktion der Literatur als zentraler Instanz im Prozess der Schaffung kollektiver Identitäten und die Rolle des »großen« Schriftsteller-Intellektuellen bei der Formulierung der kollektiven Zukunftsvisionen, die entscheidend zur Entwicklung der nicaraguanischen wie der lateinamerikanischen Gesellschaften beigetragen haben. Insofern kann Ottmar Ettes allgemeinen Schlussfolgerungen zur Situation in Lateinamerika am Ende des 20. Jahrhunderts auch für Nicaragua zugestimmt werden: »Si quisiéramos entender la postmodernidad como concepto temporal - que no es seguramente la única opción semántica - , [...] podríamos relacionar su comienzo justamente con aquellos desarrollos que llevaron a una descentralización de este sistema literario.« (Ette, 1999: 132, vgl. 125f.) Muss also für Nicaragua von der Entstehung einer »postnationalen« Literatur gesprochen werden, wie sie Arturo Arias in Anlehnung an García Canclinis Begriff der »culturas postnacionales« (Arias, 1998b: 231) für Zentralamerika und Lateinamerika insgesamt als gegeben ansieht: eine Öffnung hin zu multinationalen Literaturen, »hacia nuevos estratos del lenguaje también multinacionales o, a lo sumo, regionales«? (ibid.: 13) Jedenfalls kann für Nicaragua konstatiert werden, dass das von François Lyotard für die Postmoderne als charakteristisch bezeichnete Ende der »großen Erzählungen« identisch ist mit dem Ende des »literarischen Nationalismus«. 26 Dass die Literatur als Institution ihre privilegierte gesellschaftliche Rolle verloren hat, hängt unter anderem auch - ein Paradox der Geschichte - mit den Errungenschaften dieses revolutionär-nationalistischen Projekts zusammen, insbesondere mit der
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So formulierte es der australische Literaturwissenschaftler Jeffrey Browitt in einem Vortrag auf dem »VIIIo Congreso Internacional de Literatura Centroamericana« in Antigua, Guatemala, im März 2000. (vgl. Browitt, 2001) Vgl. Lyotard, 1986: 96ff.; Dörner, 1995: 377.
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Alphabetisierung und einer wenn auch rudimentären Demokratisierung. Die Tatsache, dass diese sich nach dem Ende des revolutionären Projekts im Zuge der Globalisierung entwickeln und Nicaragua als peripheres Land unter postkolonialen Bedingungen erfassen, hat den Einzug kultureller Muster und Techniken und den Vormarsch anderer Medien, die dem literarischen Feld seinen Platz streitig machen (wie sie Ette für Lateinamerika anführt) nicht nur nicht verhindert, sondern eher beschleunigt. 27 Zu Recht macht Gisela Kozak Rovero mit der von den audiovisuellen Medien bewirkten Mutation der öffentlichen Sphäre eine neuerliche und voranschreitende Verdrängung des Konzepts von Literatur als einem nationale bzw. staatsbürgerliche Identität schaffenden Modell bzw. Praxis aus und fragt, John Beverley zitierend: »En este sentido, el fenómeno de la democratización representa el otro lado de la crisis de la literatura y de los estudios literarios latinoamericanos. En una sociedad realmente democrática, ¿qué es lo que garantiza la autoridad cultural de la literatura?« (Beverley, 1995: 32; hier zit. n. Kozak Rovero, 2001: 37) Jedenfalls nicht ihre institutionalisierte Position im Rahmen eines kulturellen Projekts, sondern, wie Beverley schreibt, »sólo el uso que se hace de ella« (ibid.) Damit geht ganz offensichtlich auch der Verlust der Autorität des Autors einher. Ottmar Ette hat daran erinnert, dass die großen Identitätsentwürfe in Lateinamerika traditionell vom literarischen Feld aus erfolgten und ausnahmslos der Feder großer Schriftsteller und Literaten wie Hostos, Martí, Rodó oder Dario und vieler anderer entstammten. Diese Situation, die noch den modernismo geprägt und bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts fortgedauert habe, sei heute grundlegend verändert. Der »tipo de escritor que exportó la literatura latinoamericana a todo el mundo en tiempos del boom« gehöre der Vergangenheit an (Ette, 1999: 131, vgl. 127, 129, 130). In Nicaragua nahm diese Veränderung eine umso ausgeprägtere Form an, als die Literatur besonders eng mit dem Projekt Nation verwoben war. Die Schriftsteller befinden sich nicht nur nicht länger in einer Position, in der sie beanspruchen können (und wollen), den Stimmlosen ihre Stimme zu leihen und als »shamanes de su tribu« (Arias, 1998b: 210) zu sprechen, (vgl. oben, bes. Fußnote 6). Sie sind auch ihrer semi-staatlichen Funktionen beraubt: Der Ablösung-Fortsetzung des hombre letrado durch den Poeten-Guerillero ist das Ende des Minister-Schriftstellers bzw. allgemeiner des Politiker-Literaten gefolgt. 28
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Nicht ohne kritischen Seitenhieb auf den neuen Enthusiasmus einiger Kulturtheoretiker über den Erfolg der telenovelas schreibt er: »En la lectura de algunas investigaciones, se podría hablar directamente de una imagined community. que se reúne delante de los televisores y radios y parece haberse convertido en una comunidad utópica de recipientes productivos.« (Ette, 1999: 125)
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Zum Fehlen einer Konzeption staatlicher Kulturpolitik und zum Bedeutungsverlust der Kul-
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Die hier präsentierte Studie über den nicaraguanischen Roman dürfte ein Beleg dafür sein, dass dies nicht zum Schaden der Literatur sein muss. Wie in Lateinamerika insgesamt (vgl. dazu Ette, 1999: bes. 128, 129) verändern sich in Nicaragua die Beziehungen zwischen dem politischen, intellektuellen und literarischen Feld; die Literatur hat ihre zentrale Position eingebüßt, aber sie hat gleichzeitig an Autonomie gewonnen. Wie Ottmar Ette für Lateinamerika feststellt, bedeutet dies nicht den völligen Bedeutungsverlust des Intellektuellen-Schriftstellers bzw. der Literatur, nicht eine »valoración transformada, aunque sí una funcionalidad transformada de la literatura en América Latina« (ibid.: 129).29 Ette weist in diesem Zusammenhang auf eine Reihe von Paradoxen hin, die den beschriebenen Prozess begleiten. Im Zuge der Herausbildung einer »nueva legitimidad que se basa en el saber especializado« (ibid.) übernähmen die neuen Kulturtheoretiker die ehemalige Funktion der Generalisten-Poeten-Schriftsteller: »Como en el fin de siècle pasado, los portavoces teórico-culturales de nuestro fin de siglo parecen cumplir también, ahora desde otro lugar del saber y de la escritura, la función tradicional del escritor (modernista) de la modernidad [...] : conservar la unidad cultural del mundo latinoamericano disponiendo de conceptos de identidad que no se basan en el mestizaje sino en la hibridación. Los nuevos teóricos culturales no solamente han fundado un nuevo discurso, sino además una nueva écriture.« (ibid.: 133) Mag diese Entwicklung angesichts des prekären Verhältnisses zwischen dem politischen und dem intellektuellen Feld im Nicaragua dieser Jahrhundertwende auch eher wie Zukunftsmusik klingen, so lässt sich gerade für die nicaraguanische Romanliteratur das zweite von Ette beschriebene Paradox bestätigen, nämlich die Hinwendung einiger herausgehobener Autoren zu einer »comunicación de masas internacional, que con la ayuda de nuevos medios ha ampliado rápidamente su presencia casi global y la sigue ampliando« (ibid.: 130), das Agieren auf einem solchen nicht nur postnationalen sondern auch transnationalen literarischen Feld und die paradoxerweise parallel zum Bedeutungsverlust der Literatur und des Schriftstellers im nationalen Rahmen sich
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tur/Literatur innerhalb des politischen Systems in den ersten Jahren nach der Ablösung der Sandinisten von der Regierung vgl. Wellinga, 1994: 152-157. Die anekdotische Antwort von Sergio Ramírez auf die Frage eines Interviewers, ob die Verleihung des »Premio Alfaguara« 1998, also über ein Jahr nach seinem Scheitern als Präsidentschaftskandidat des Movimiento Renovador Sandinista, nicht seine Berufung als Schriftsteller im Gegensatz zu seinem politischen Engagement bestätigt habe, beleuchtet schlaglichtartig diese Situation: »Las elecciones de 1996 realmente fueron un verdadero descalabro. Sacamos mucho menos votos de los que verdaderamente pensábamos. Y yo medio en broma medio en serio, dije entonces que tenía más lectores que electores. Esa fue la verdad. Yo saqué siete mil votos y de Castigo Divino aquí se han vendido 50 mil ejemplares.« (Ramírez, 1998c: 13)
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vollziehende Bedeutungssteigerung einiger Autoren auf internationaler Ebene (vgl. ibid.: 128). Diese Entwicklung ist in Nicaragua, genauer: innerhalb der nicaraguanischen Literatur, in der Tat nicht zu übersehen. Autorinnen und Autoren wie Gioconda Belli, Ernesto Cardenal und Sergio Ramírez - in geringerem Maße auch Milagros Palma, Daisy Zamora und andere - haben sich nicht nur auf dem literarischen Feld der nordamerikanischen und europäischen Metropolen (zum Teil auch weit über die spanischsprachigen Sektoren hinaus) etabliert. Sie werden inzwischen überwiegend von nicht nicaraguanischen Lesern rezipiert, ihre Themen (und wie wir gesehen haben ihre Erzähltechniken) lösen sich von engen nationalen Bezügen ab, sie unterliegen zunehmend den Produktionsbedingungen dieses transnationalen Marktes, bis hin zu dem Versuch, »de explotar las fórmulas del best seller', para aprovecharse del mercado de libros del mundo industrializado«, wie Jorge Paredes (1999: 97) zu Gioconda Belli schrieb, allerdings nicht ohne hinzuzufügen, dass das Romanwerk Bellis vielfaltige Möglichkeiten zu einer »serie de lecturas profundas« biete (ibid.).30 Diese Literatur ist mit den Konzepten einer traditionell verstandenen Nationalliteratur nicht umfassend zu verstehen. Schließlich muss auf ein weiteres Paradox aufmerksam gemacht werden. Die Frage ist, was auf die Abenddämmerung des nationalen Paradigmas in der nicaraguanischen Literatur folgt. Wird es die Morgenröte einer postnationalen Literatur mit Konzepten sein, »basadas en la idea de una sociedad civil global y apuntaladas en la perenne búsqueda de justicia social y el rescate del medio ambiente de los avances demoledores de la industrialización desenfrenada [...] «, wie Jeffrey Browitt in seinem bereits zitierten Vortrag hoffte, »una sociedad civil global basada en una democracia real, a la vez que tratamos de mantener la integridad de nuestra identidad cultural particular, sea ella local, regional o aun nacional« (Browitt, 2001: o.S.; vgl. oben, Fußnote 25)? Oder wird die Nacht des Wiederauflebens von nationalistischen und auf Ausschluss, Ausgrenzung und (Diversitäten tilgender) Entgrenzung basierenden Konzeptionen von Identität folgen? Dies scheint mir keineswegs entschieden, insbesondere angesichts einer Gefahr, auf die Magda Zavala hinwies: » [...] la literatura, en el inicio del siglo [XX, W.M.], fue mayoritariamente indómita en el reclamo de la soberanía nacional y la libre determinación de los pueblos [...]; hacia el fin del siglo, una considerable parte de la producción literaria ha abandonado estos ideales, para plegarse a las normas y valores de la producción estandarizada del consumo de bienes suntuarios.« (Zavala, 2000: 10; vgl. Álvarez, 2000: 249f.)
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Vgl. zu diesen Aspekten insgesamt den scharfsinnigen Aufsatz von Paredes (1999: bes. 97100); zu Gioconda Belli auch Mackenbach (1998a: bes. 322) und allgemein Brown (1994 und 1996).
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Droht nicht im Zuge einer postnationalen Literatur unter Bedingungen der Globalisierung der Ausverkauf jeglicher ethnischen, religiösen, geschlechtsspezifischen usw. Identitäten, die von der »globalen Norm« und den »Gesetzen« eines transnationalen Buchmarktes abweichen? Was kündigt sich an: die Überwindung der nationalen Schranken, neue Lokalismen, transnationale, regionale, kosmopolitische Tendenzen oder ein Rückfall in nationalistische Konzepte? Die seismografische Lektüre des zeitgenössischen nicaraguanischen Romans - die Metapher mag bei einem so sehr von Erdbeben heimgesuchten Land wie Nicaragua erlaubt sein - hat darauf keine eindeutigen Antworten gegeben. Sie rechtfertigt es auch nicht, von der Postmoderne als einem neuen epochenspezifischen und (literar-)ästhetischen Begriff zu sprechen. Vielmehr bleibt sie auch für die nicaraguanische Literatur bestenfalls eine Bezeichnung, mit der unsere »comprensible impaciencia con la modernidad«, unser »desencanto de la modernidad« ausgedrückt werden kann, wie Ottmar Ette in Anlehnung an Vilem Flusser und Norbert Lechner formuliert und damit seine Zweifel zum Ausdruck bringt, ob die Postmoderae als eine Epoche sui generis außerhalb bzw. jenseits der Moderne begriffen werden kann (Ette, 1999: 126, vgl. 133). Zwar ist - um im Bild zu bleiben - das Verhältnis von Literatur und Nation grundlegend erschüttert, dem literarischen Diskurs von der Nation ist der sichere Grund entzogen, zumindest in seiner spezifischen Ausprägung der siebziger und achtziger Jahre. Es ist jedoch keineswegs entschieden, was an seine Stelle treten wird. Der »literarische Nationalismus« ist einer »neuen Unübersichtlichkeit« gewichen." Der nicaraguanische Roman jedenfalls - auch das hat meine Lektüre ergeben - scheint eine Morgendämmerung zu erleben, die untersuchten achtziger und insbesondere die neunziger Jahre waren eine außergewöhnlich fruchtbare Periode für die Romanliteratur. Vielleicht könnte sich also die zu Beginn dieser Arbeit zitierte Aussage Vargas Llosas auf sehr besondere und so nicht vorhergesehene Weise als Voraussage bestätigen:32 Die Geier, »los buitres« (im
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Die Bezeichnung ist den politischen Schriften von Jürgen Habermas entlehnt, die im Kontext seiner Abhandlungen über Moderne und Postmoderne, vor allem seiner Schrift Der philosophische Diskurs der Moderne (1996) entstanden und sich nur vordergründig auf die im engen Sinne verstandene Sozialstaatsproblematik beziehen, im weiteren Sinne eingebettet sind in seine Studien zu Utopie, Utopieverlust und zukünftigen Bedingungen der Rückgewinnung utopischer Energien. Die rhetorische Figur wird in dem gleichnamigen Buch ausgeführt in einem Text, der einer Rede Habermas' vor den spanischen Cortes im Jahr 1984 zugrunde lag und den Titel trägt: »Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien«. (vgl. Habermas, 1985: 139-163) Ich ziehe diese Bezeichnung zur Charakterisierung der Situation der nicaraguanischen erzählenden Literatur jeglichen Begrifflichkeit vortäuschenden postmodernen Anwandlungen vor - im vollen Bewusstsein, dass auch damit diese Situation noch keineswegs auf einen befriedigenden Begriff gebracht ist. Man mag daran zweifeln, dass er überhaupt möglich ist. Vgl. die Fußnote 53 in dem Kapitel »Bypass: Roman und Welt«.
Ausfahrt: Literarischer Nationalismus und neue Unübersichtlichkeit
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nicaraguanischen Spanisch »los zopilotes«), als die der bekannte Schriftsteller die Romanautoren sieht, könnten sich wieder einmal - im Falle Nicaraguas vielleicht zum ersten Mal - in Paradiesvögel verwandeln, zumindest in »el ave Fénix« - den Phönix aus der Asche der nicaraguanischen Literatur zum Beginn des neuen Jahrhunderts. Der literarische Raum des Romans im Feld der zeitgenössischen nicaraguanischen Literatur ist jedoch nicht nur ein Ort ohne Utopie, sondern auch ein Ort der unbewohnten Utopie bzw. der bewohnten Utopielosigkeit.
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