130 7 3MB
German Pages 350 [352] Year 2023
FREIBURGER RECHTSWISSENSCHAFTLICHE ABHANDLUNGEN
Herausgegeben von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
29
Tim Nolte
Die Ultra-vires-Kontrolle von Rechtsakten der Europäischen Union Grundlagen, Dogmatik und Entwicklungsmöglichkeiten
Mohr Siebeck
Tim Nolte, geboren 1992; Studium der Rechtswissenschaften an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken; Promotionsstudium in Saarbrücken, Mannheim und Freiburg; Assistenz an Lehrstühlen für Staats- und Verwaltungsrecht in Saarbrücken und Mannheim; 2023 Promotion; Referendariat am OLG Saarbrücken; Rechtsanwalt in Saarbrücken. orcid.org/0009-0003-5682-4017
ISBN 978-3-16-162601-2 / eISBN 978-3-16-162602-9 DOI 10.1628/978-3-16-162602-9 ISSN 1864-3701 / eISSN 2569-393X (Freiburger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Für Maren
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2022 von der Juristischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Die mündliche Prüfung fand am 15. November statt. Das Manuskript wurde im März 2022 abgeschlossen und für die Drucklegung überarbeitet. Rechtsprechung und Literatur konnten bis März 2023 berücksichtigt werden. Spätere Veröffentlichungen konnten vereinzelt berücksichtigt werden. Die Anfertigung dieser Arbeit war für mich ebenso eine Herausforderung wie eine bereichernde Erfahrung. Maßgeblich für ihr Gelingen war auch die vielfältige Unterstützung, die mir zuteilwurde. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Jan Henrik Klement. Bereits während des Studiums konnte ich durch die jahrelange Mitarbeit an seinem Lehrstuhl viel über das wissenschaftliche Denken und Arbeiten lernen. Er war es auch, der mich zum Verfassen dieser Arbeit ermutigte und mich in dem Entschluss bestärkte, mich dieser nicht immer einfachen Thematik zu widmen. Seine Ratschläge ebenso wie sein mir entgegengebrachtes Vertrauen waren eine große Hilfe. Herrn Prof. Dr. Voßkuhle danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens ebenso wie für seine überaus wertvollen Anregungen für die Drucklegung. Besonderer Dank gilt auch der Konrad-Adenauer-Stiftung. Ihre finanzielle und auch ideelle Förderung machten das Entstehen dieser Arbeit erst möglich. Dem Bundesministerium des Inneren und für Heimat sowie der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg im Breisgau möchte ich für die Bezuschussung der Druckkosten danken. Auch meinen früheren Kollegen am Saarbrücker Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht möchte ich danken. Ihre ständige Breitschaft zum kollegialen Austausch stellte sicher, dass sich die zentralen Thesen dieser Arbeit auch in Zeiten der Covid-Pandemie im Diskurs beweisen mussten. Herausheben möchte ich an dieser Stelle Herrn Dipl. iur. Johannes Rupp und Herrn RA Hagen Wagner. Ihre außerordentliche Hilfsbereitschaft und ihre klugen Gedanken waren von unschätzbarem Wert und haben die Arbeit enorm bereichert. Einen herausragenden Anteil an der Entstehung dieser Arbeit hat meine Frau Maren. Ihr emotionaler Beistand und ihre kritischen Hinweise waren maßgeblich für das Gelingen dieser Arbeit.
VIII
Vorwort
Schließlich ist meinen Eltern, Astrid und Gerd Nolte von Herzen dafür zu danken, dass sie mich bei der Erstellung dieser Schrift uneingeschränkt und geduldig unterstützt haben. Freiburg, den 15.09.2023
Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XVII
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts . . . . . .
13
A. Grundlagen: Der Ultra-vires-Akt im nationalen Recht . . . . . . . . . . . . .
13
Zwecke der Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
C. Befugnis zur Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle . . . . . .
73
A. Gegenstand der Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
Inhalt und Maßstab der Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
C. Die Kontrolle im gerichtlichen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
D. Verhältnis zu anderen Kontrollvorbehalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
174
Fazit: Gestalt und Schwächen der Ultra-vires-Kontrolle . . . . . . . . . . .
185
Drittes Kapitel: Die Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Vorschläge für eine Fortentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189
A. Wirkungen und Perspektiven des Ultra-vires-Vorbehalts . . . . . . . . . . .
189
Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts . . . . . . . . . . . . . . .
237
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
287
B.
B.
E.
B.
X
Inhaltsübersicht
Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
289
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
301
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
325
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XVII
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts . . . . . .
13
A. Grundlagen: Der Ultra-vires-Akt im nationalen Recht . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangspunkt: Geltung und Vorrang des Unionsrechts . . . . . . . . . . II. Die Durchbrechung des Anwendungsvorrangs: Die fehlende Geltung des Ultra-vires-Akts im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Voraussetzung: Das Zustimmungsgesetz als Geltungsbrücke . . . . 2. Kritik: Unmittelbare Geltung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . 3. Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 13 17 18 20 23 25
B. Zwecke der Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begriff des Zwecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zwecke im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wahrung der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik . . . . . a) Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutz der Demokratie und Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . a) Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Berührung der Ewigkeitsgarantie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kritik: Fehlende Notwendigkeit nationaler Legitimation? 3. Schutz der Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26 26 27 27 28 34 37 37 42 44 45 47 48
C. Befugnis zur Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Prüfungsbefugnis im europäischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestehen eines Normverwerfungsmonopols des EuGH . . . . . . . .
49 49 51
XII
Inhaltsverzeichnis
2. Ausnahmen vom Normverwerfungsmonopol . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtfertigung durch europarechtsfreundliche Maßstabsbildung . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Grundsätze der Taricco-II-Entscheidung als Ausnahmetatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Grundsatz des Nichtakts als Ausnahmetatbestand . . . . d) Verfahren im Eilrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Prüfungsauftrag im nationalen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Notwendigkeit einer nationalen Letztkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . 2. Organzuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . 3. Kompetenzbegründende Wirkung der Notwendigkeit . . . . . . . . . 4. Rücknahme des Prüfungsauftrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
53 56 62 63 64 65 66 68 70
Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle . . . . . .
73
A. Gegenstand der Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
B. I.
Inhalt und Maßstab der Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kompetenzüberschreitung als Ansatzpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorliegen einer Einzelermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wahrung der Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kein Vorliegen einer Kompetenzschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhaltliche Anforderungen an eine Kompetenzschranke . . . . b) Abgeleitetes Unionsrecht als Kompetenzschranke? . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Grenze methodengerechter Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Problem der Übernahme der europäischen Methodik . . . . . . 3. Die Befugnis zur Rechtsfortbildung im Kompetenzbereich . . . . . 4. Erkenntnisgrenzen des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . III. Beschränkungen des Prüfungsumfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Kriterium der Offensichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anknüpfungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anwendung auf finale Kompetenznormen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Kriterium der Strukturrelevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Herleitbarkeit der Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die einheitliche Herleitung des Bundesverfassungsgerichts b) Tragfähigkeit hinsichtlich der Offensichtlichkeit . . . . . . . . . . c) Tragfähigkeit hinsichtlich der Strukturrelevanz . . . . . . . . . . .
77 77 78 79 80 87 87 90 92 93 93 95 99 101 103 104 105 112 113 118 123 124 126 127
C. Die Kontrolle im gerichtlichen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
52
Inhaltsverzeichnis
I. Kontrollmonopol des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfassungsrechtliche Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Prozessualer Anknüpfungspunkt der Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Maßnahmen der Unionsgewalt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Maßnahmen mit europäischer Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . 3. Maßnahmen der Integrationsverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Natur der Integrationsverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Träger der Integrationsverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Pflichten aus der Integrationsverantwortung . . . . . . . . . . . . . aa) Unterlassen der Mitwirkung an Ultra-vires-Akten . . . . . bb) Pflicht zum Einschreiten gegen Ultra-vires-Akte . . . . . . . 4. Rechtsschutzlücken im Kontrollsystem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Konstellationen einer Kontrolle und mögliche Verfahrensarten . . . . 1. Grundsätzliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Organstreitverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Normenkontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abstrakte Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konkrete Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bund-Länder-Streit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Verfahren im Eilrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIII 129 132 133 133 138 139 139 142 144 144 147 151 152 152 152 153 161 162 164 164 169 172 173
D. Verhältnis zu anderen Kontrollvorbehalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Verhältnis zur formellen Übertragungskontrolle . . . . . . . . . . . . . II. Das Verhältnis zur Identitätskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemlage: Grundsätzliche Trennung bei permanenter Überschneidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ultra-vires-Kontrolle als spezielle Identitätskontrolle . . . . . . b) Identitätskontrolle als spezielle Ultra-vires-Kontrolle . . . . . . 2. Lösung: Trennung nach Anwendungsbereichen . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Verhältnis zur Grundrechtkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
176 177 178 180 182 184
Fazit: Gestalt und Schwächen der Ultra-vires-Kontrolle . . . . . . . . . . .
185
Drittes Kapitel: Die Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Vorschläge für eine Fortentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189
A. Wirkungen und Perspektiven des Ultra-vires-Vorbehalts . . . . . . . . . . . I. Wirkungen innerhalb der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wirkungen im Erfolgsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189 190 191
E.
174 174 176
XIV
Inhaltsverzeichnis
a) b) c)
Wirkungen auf die handelnde Unionsstelle . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungen auf den Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aussichten eines Vertragsverletzungsverfahrens . . . . . . . . . . . aa) Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens . . . . . . . . . bb) Erfolgsaussichten einer Aufsichtsklage . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zweckdienlichkeit einer Aufsichtsklage . . . . . . . . . . . . . . 2. Wirkungen qua Existenz des Vorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirkungen auf die handelnde Unionsstelle . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirkungen auf den Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Externe Kontrolle der eigenen Entscheidungen . . . . . . . . bb) Erhöhte Fach- und Medienöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . cc) Erweiterter Kontrollzugriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wirkungen innerhalb der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wirkungen im Erfolgsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirkungen auf die umsetzende nationale Stelle . . . . . . . . . . . b) Wirkungen auf unbeteiligte Verfassungsorgane . . . . . . . . . . . 2. Wirkungen qua Existenz des Vorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirkungen auf die umsetzende nationale Stelle . . . . . . . . . . . b) Wirkungen auf unbeteiligte Verfassungsorgane . . . . . . . . . . . III. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
191 197 198 198 203 205 215 216 218 218 219 220 222 227 228 228 231 233 233 235 235
Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . Anpassungen hinsichtlich der Kontrolldogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundüberlegungen zur Gewinnung der Kontrolldogmatik . . . . 2. Schärfung der Ultra-vires-Kontrolle als Instrument einer Kompetenzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Trennung von Kompetenzüberschreitung und Prüfungsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verzicht auf das Kriterium der Strukturrelevanz . . . . . . . . . . . . . . 5. Fortentwicklung des Kriteriums der Offensichtlichkeit – das Kriterium der verfassungsrechtlichen Beachtlichkeit . . . . . . . . . . . a) Formale Anforderungen an die Kompetenzherleitung . . . . . b) Materielle Anforderungen an die Kompetenzherleitung . . . . aa) Entleerung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Tatsächliche und logische Fehlerhaftigkeit . . . . . . . . . . . . cc) Missachtung mitgliedstaatlicher Rechtstraditionen . . . . . dd) Verstoß gegen die Kontinuitätspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anpassung des verfassungsprozessualen Zugriffs . . . . . . . . . . . . . . . . III. Klärung der Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Umfang der Unwirksamkeit nationaler Umsetzungsakte . . . . . . .
237 238 238
B. I.
247 253 253 254 257 261 261 263 264 266 268 269 270 270
Inhaltsverzeichnis
a) Nationale Legislativakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nationale Exekutiv- und Judikativakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konsequenzen für das Verfassungsprozessrecht . . . . . . . . . . . 2. Anpassungen der Handlungspflichten deutscher Organe . . . . . . . a) Pflicht zur Wiederherstellung verfassungskonformer Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Problemstellung: Grenzen der Gestaltungsfähigkeit der Verfassungsorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Lösungsvorschlag: einseitige Übertragung von Hoheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ultima Ratio: der Austritt aus der EU . . . . . . . . . . . . . . . b) Pflicht zur Abmilderung tatsächlicher Auswirkungen des Ultra-vires-Akts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Pflicht zur Vornahme einer parlamentarischen Plenardebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Konsequenzen des Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XV 271 274 275 275 276 277 278 281 283 284 284
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
287
Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
289
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
301
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
325
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. ABl. Abs. AcP AEUV AfD AGG AJIL Alt. Anm. AnwBl AöR ArbG Art. Aufl. AuR AVR Az. BAG BAGE BArch BattG BayVBl. BB Bd. Begr. Beschl. BGB BGBl. BGH BGHZ
BJS BKR BMJV BT BT-Drs.
andere Ansicht am angegebenen Ort Amtsblatt Absatz/Absätze Archiv für die civilistische Praxis (Zeitschrift) Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Alternative für Deutschland Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz American Journal of International Law (Zeitschrift) Alternative Anmerkung Anwaltsblatt (Zeitschrift) Archiv des öffentlichen Rechts (Zeitschrift) Arbeitsgericht Artikel Auflage Arbeit und Recht (Zeitschrift) Archiv des Völkerrechts (Zeitschrift) Aktenzeichen Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Archivgut des Bundesarchivs Batteriegesetz Bayerische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) Betriebs-Berater (Zeitschrift) Band. Begründer Beschluss Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, herausgegeben von den Mitgliedern des Bundesgerichtshofs und der Bundesanwaltschaft Berliner Journal für Soziologie (Zeitschrift) Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Bundestag Bundestags-Drucksache
XVIII BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerfGK BVerwG BVerwGE bzw. C CDU CML Rev. CSU ders. dies. DÖV Drs. DSGVO ebd. EFSF EG EGMR EGV Einf. Einl. ElektroG EMRK EPGÜ-ZustG ESM ESMFinG ESM-V ESZB EU EuConst EuG EuGH EuGH-VerfO EuGRZ EUV EuZA EuZW EWG EWG-V
Abkürzungsverzeichnis Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, herausgegeben von den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, herausgegeben von den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, herausgegeben von den Mitgliedern des Gerichts beziehungsweise Case Christlich Demokratische Union Deutschlands Common Market Law Review (Zeitschrift) Christlich-Soziale Union in Bayern derselbe dieselbe Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) Drucksache Datenschutz-Grundverordnung ebenda Europäische Finanzstabilisierungsfazilität Europäische Gemeinschaft Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einführung Einleitung Elektro- und Elektronikgerätegesetz Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) Gesetz zu dem Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht Europäischer Stabilitätsmechanismus ESM-Finanzierungsgesetz Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus Europäisches System der Zentralbanken Europäische Union European Constitutional Law Review (Zeitschrift) Gericht der Europäischen Union (vormals: Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften) Gerichtshof der Europäischen Union (vormals Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften) Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Union Europäische Grundrechte-Zeitschrift (Zeitschrift) Vertrag über die Europäische Union Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
Abkürzungsverzeichnis EWS EZB f./ff. FAZ FDP Fn. GA gem. GewArch GG GLJ GPR GR-Charta GRUR GRUR-Prax GWB hrsg. Hrsg. i.V.m. insb. IStR IWRZ JA jM JöR Jura jurisPR-BKR JuS JVSR JZ Kap. KritV LAG lit. LTO m.w.N. MedR MPIfG NJ NJW No. Nr. NVwZ NZA NZZ
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Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift) Europäische Zentralbank und folgende Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Fußnote Generalanwalt / Generalanwältin beim Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Gewerbearchiv (Zeitschrift) Grundgesetz German Law Journal Zeitschrift für das Privatrecht der Europäischen Union Charta der Grundrechte der Europäischen Union Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Zeitschrift) Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Praxis im Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht (Zeitschrift) Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen herausgegeben Herausgeber in Verbindung mit insbesondere Internationales Steuerrecht (Zeitschrift) Zeitschrift für Internationales Wirtschaftsrecht Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) juris Die Monatszeitschrift Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristische Ausbildung (Zeitschrift) juris PraxisReport Bank- und Kapitalmarktrecht (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) Jahrbuch für Vergleichende Staats- und Rechtswissenschaften Juristenzeitung (Zeitschrift) Kapitel Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Landesarbeitsgericht littera Legal Tribune Online (Online-Zeitung) mit weiteren Nachweisen Medizinrecht (Zeitschrift) Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Neue Justiz (Zeitschrift) Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) Number Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (Zeitschrift) Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Züricher Zeitung
XX OMT OVG OVG-NRW P.C.I.J. (ser. A) PSPP RdA RL Rn. RuP Rs. S. SächsVBl. SAE SBV Slg. sog. SPD StGB StIGH SZ TKG u. u.a. UAbs. UfR Urt. UWG v. Var. VerwArch VG vgl. VgV VO Vorb. VRÜ VVDStrL VVE VwGO VwVfG WD-BT WuB z.B. ZaöRV
Abkürzungsverzeichnis Outright Monetary Transactions Oberverwaltungsgericht Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Permanent Court of International Justice, Series A: Collection of Judgments (1923–1930) Public Sector Purchase Programme Recht der Arbeit (Zeitschrift) Richtlinie Randnummer/n Recht und Politik (Zeitschrift) Rechtssache Seite/n Sächsische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) Sammlung Arbeitsrechtlicher Entscheidungen (Zeitschrift) Schweizerische Bundesverfassung Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts der Europäischen Union sogenannte/r Sozialdemokratische Partei Deutschlands Strafgesetzbuch Ständiger Internationaler Gerichtshof Süddeutsche Zeitung Telekommunikationsgesetz und und andere Unterabsatz Ugeskrift for Retsvæsen (Zeitschrift) Urteil Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb von, vom Variante Verwaltungsarchiv (Zeitschrift) Verwaltungsgericht vergleiche Vergabeverordnung Verordnung Vorbemerkungen Verfassung und Recht in Übersee (Zeitschrift) Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Vertrag über eine Verfassung für Europa Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags Entscheidungsanmerkungen zum Wirtschafts- und Bankrecht (Zeitschrift) zum Beispiel Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Abkürzungsverzeichnis ZAP ZEuP ZEuS ZG zit. ZJS ZÖR ZRP ZSE ZZP
Zeitschrift für die anwaltliche Praxis Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für europarechtliche Studien Zeitschrift für Gesetzgebung zitiert Zeitschrift für das Juristische Studium Zeitschrift für öffentliches Recht Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften Zeitschrift für Zivilprozess
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Einleitung Die Herrschaft des Rechts ist der Kerngedanke der europäischen Rechtsgemeinschaft.1 Ihre Verwirklichung erfordert ein arbeitsteiliges Zusammenwirken der Gerichte von Union und Mitgliedstaaten. Die Qualität der gerichtlichen Kooperation bedingt somit die Stärke der Rechtsgemeinschaft. Der Gedanke der Kooperation wird herausgefordert, wenn ein nationales Gericht den Anspruch auf eine letztverbindliche Entscheidung über die Anwendbarkeit von Maßnahmen der Europäischen Union erhebt. Die Einheit des Rechts innerhalb der Union erfordert nicht nur die einheitliche Geltung der Normen, sondern auch eine zentrale, letztverbindliche Rechtsprechung durch den EuGH. Überprüft ein mitgliedstaatliches Verfassungsgericht europäische Rechtsakte, gefährdet es damit die Einheit des Unionsrechts und die Stellung des Gerichtshofes als oberstes Rechtsprechungsorgan der Union nach Art. 19 EUV. Es setzt dem Unionsrecht, welches wie wohl jede moderne Rechtsordnung einer Dynamik unterliegt,2 eine harte Grenze und bedroht damit die Funktionsfähigkeit der Rechtsgemeinschaft.3 Diese Arbeit untersucht den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Ultra-vires-Kontrollvorbehalt und zeigt dessen Bedeutung für die europäische Rechtsgemeinschaft sowie für die nationalen Verfassungsprinzipien auf. Anschließend werden Ansätze zu seiner Fortentwicklung hergeleitet.4 Als Ultravires-Vorbehalt wird dabei die Existenz der Kontrollmöglichkeit bezeichnet. Ultra-vires-Kontrolle meint die konkrete Überprüfung europäischer Maßnahmen. Im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle prüft das Bundesverfassungsgericht unionale Handlungen5 auf die Wahrung der vom Integrationsprogramm vorge1 Den Begriff der Rechtsgemeinschaft prägend W. Hallstein, Die EWG – Eine Rechtsgemeinschaft, in: Oppermann (Hrsg.), Europäische Reden, S. 341, 343. Zur Schlüsselfunktion der Herrschaft des Rechts F. C. Mayer, NJW 2017, 3631 (3634). 2 Zur Dynamik speziell des Primärrechts siehe z.B. M. Pechstein/C. Drechsler, Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 7, Rn. 33. Vom „Entdeckungsverfahren“ des Rechts spricht J. H. Klement, Wettbewerbsfreiheit, S. 2 u. passim. 3 C. D. Classen, EuR 2016, 529 (543). 4 Zur Geschichte des Begriffs „ultra vires“ siehe J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 5 f.; siehe auch R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 29 f. 5 Kein Gegenstand dieser Arbeit ist die Kontrolle von Handlungen internationaler Organisationen, siehe hierzu z.B. BVerfG, Beschl. v. 23.06.1981 – 2 BvR 1107/77 (Eurocontrol I),
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gebenen Grenzen. Es befasst sich demnach mit den Grenzen der vertraglich übertragenen Hoheitsbefugnisse, nicht aber mit den äußersten Grenzen der übertragbaren Hoheitsbefugnisse.6 Diese Kontrolle der übertragenen Befugnisse ist unter dem Aspekt der unionsrechtlichen Legitimität besonders kritisch: Ein nationales Gericht beansprucht hier die Letztentscheidungskompetenz über den Inhalt der europäischen Verträge, obwohl kein inhaltlicher Verstoß eines Unionsakts gegen eine materielle Norm des Grundgesetzes vorliegt. Es verwundert daher nicht, dass der Ultra-vires-Vorbehalt fortwährend umstritten ist.7 An ihm kristallisiert sich die Debatte um eine – je nach Standpunkt – die mitgliedstaatlichen Kompetenzen missachtende Union beziehungsweise um von Nationalismen geprägte Mitgliedstaaten.8 Die erstmalige Aktivierung der Kontrolle im PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts emotionalisierte die Debatte weiter und brachte ihr neue Aktualität.9 Trotz seiner für die Rechtsgemeinschafft kritischen Effekte besteht nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts eine fortwährende verfassungsrechtliche Notwendigkeit des Ultra-vires-Vorbehalts. Er wirkt einerseits als Instrument zur Sicherung der demokratischen Legitimation der Hoheitsgewalt: Die EU und ihre Organe haben nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aus Art. 5 Abs. 1 EUV nur insoweit Kompetenzen, wie sie durch die demokratisch legitimierten Parlamente der Mitgliedstaaten übertragen wurden. Wird außerhalb dieser Ermächtigungen gehandelt, so fehlt es an einem Zurechnungszusammenhang zwischen dem Volk und dem Ausübendem der Hoheitsgewalt.10 Dieser Unterbrechung der „Kette der demokratischen Legitimation“11 wirkt die Kontrolle entgegen. Andererseits verhindert sie die Wirkung fremder Rechtsakte BVerfGE 58, 1. Siehe auch die Vergleiche zwischen den Kontrollen europäischer und internationaler Akte bei M. Polzin, AöR 246 (2021), 1 (13). 6 So die Unterscheidung bei H. Sauer, ZRP 2009, 195 (198). Gemeint ist in dieser Arbeit der Ultra-vires-Vorbehalt im engeren Sinne. Die Identitätskontrolle wird demnach als separates Institut betrachtet, vgl. W. Frenz, EWS 2015, 257 (258). Für die Arbeit soll es irrelevant sein, ob das Bundesverfassungsgericht selbst von einer Ultra-vires-Kontrolle spricht, oder wie zunächst, von der Kontrolle ausbrechender Rechtsakte, siehe BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (188). 7 Gar vom umstrittensten Thema des Verfassungs- und Unionsrechts der vergangenen Jahre spricht L. Hartmann, Der Staat 60 (2021), 387 (387). 8 Siehe hierzu J. Masing, Verfassung im internationalen Mehrebenensystem, in: Herdegen/ Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 1, Rn. 119, der davon ausgeht, dass eine unterschiedliche wissenschaftliche Sozialisierung zur häufig anzutreffenden Trennlinie zwischen Europarechtlern und Staatsrechtlern führt. 9 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17, zur Emotionalisierung der Debatte siehe 2. Kap., B I 3, S. 83, Fn. 58. 10 Besonders deutlich BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 145 ff.). 11 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 24, Rn. 16, unter Beteiligung von Böckenförde BVerfG, Beschl. v. 01.10.1987 – 2 BvR 1178 (Neue Heimat), BVerfGE 77, 1 (40).
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in das deutsche Recht hinein: Nur im Rahmen der vertraglich eingeräumten Hoheitsrechte erkennt die deutsche Rechtsordnung die Wirksamkeit von Akten einer ihr fremden Hoheitsgewalt an. Aus den Ermächtigungen ausbrechende Maßnahmen der EU sind dahingehend nicht anders einzustufen als Handlungen eines fremden Staates. Durch die Kontrolle wird also die äußere Souveränität der Bundesrepublik geschützt.12 Solange die Europäische Union aus souveränen Mitgliedstaaten besteht und auf deren demokratische Legitimation angewiesen ist, steht die Ultra-viresKontrolle daher zwangsläufig in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Ziel der europäischen Rechtseinheit auf der einen und der Wahrung der mitgliedstaatlichen Kompetenzhoheit auf der anderen Seite. Dieses Spannungsverhältnis kann durch juristische Dogmatik unter Achtung beider Prämissen zwar nicht vollständig aufgelöst, aber doch wesentlich abgeschwächt werden.13 Das grundsätzliche Primat des Gerichtshofs der Europäischen Union, letztverbindlich über die Geltung und Anwendbarkeit von Unionsmaßnahmen zu entscheiden (insbesondere gemäß Art. 263 AEUV), ist dabei nicht in Zweifel zu ziehen. Der mitgliedstaatlichen Kontrolle von Unionsakten ist eine reine Reservefunktion zuzuweisen.14 Sie kann nur ausnahmsweise und unter besonderen Voraussetzungen aktiviert werden, wenn der EuGH seiner Aufgabe als Hüter des Europarechts nicht hinreichend nachkommt.15 Doch auch im nationalen Recht entfaltet eine erfolgreiche Ultra-vires-Kontrolle bedenkliche Effekte: Aus der Annahme eines Ultra-vires-Akts folgt die Unanwendbarkeit der Unionsmaßnahme im deutschen Recht sowie ein Beteiligungsverbot für deutsche Hoheitsträger.16 Dabei besteht die Möglichkeit, dass der EuGH an der Geltung der Maßnahme festhält. In diesem Fall wäre eine Handlung vom nationalen Verfassungsrecht verboten, gleichzeitig aber europarechtlich geboten.17 Der deutsche Hoheitsträger sähe sich zwei divergierenden Rechtsbefehlen ausgesetzt und müsste damit zwangsläufig gegen einen der beiden verstoßen. Dabei kann ein Verstoß gegen europäisches Recht ein erfolgreiches Vertragsverletzungsverfahren nach sich ziehen. In einer derartigen supranationalen Rechtskrise müssten Lösungen außerhalb der juristischen Methodik gefunden werden, womit ein originär rechtliches Problem in den Einflussbereich der Politik gerät.18 12 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (349 f. i.V.m. 353 f.). 13 C. Ohler, WuB 2020, 416 (418). 14 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (400); A. Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (6). Gar von einer „Not-Reserve“ spricht R. Hofmann/A. Heger, EuGRZ 2020, 176 (181). 15 Siehe auch J. H. Klement, Wettbewerbsfreiheit, S. 282. 16 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 335). 17 Hierzu auch J. H. Klement, JZ 2015, 754 (760). 18 U. Everling, EuR 2010, 91 (104); M. Nettesheim, Kompetenzen, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 389, 403.
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Unbeschadet dieser Bedenken kann die mitgliedstaatliche Kompetenzaufsicht, das ist eine zentrale These der vorliegenden Untersuchung, auch als ein sinnvoller Bestandteil der Architektur der Union verstanden werden. Der Ultravires-Vorbehalt entfaltet nicht nur Wirkungen auf die deutschen Hoheitsträger, sondern auch auf die europäischen Institutionen. Dies gilt insbesondere für seine Vorfeldwirkungen. Es liegt im Interesse eines europäischen Akteurs, Akzeptanz für die eigene Maßnahme herzustellen und ihr damit zur Durchsetzung zu verhelfen. Sofern eine geplante Maßnahme sich ohne größere Hindernisse mit einer externen Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht in Einklang bringen lässt, so ist die Anpassung an diese Rechtsprechung nützlich. Dies gilt unabhängig davon, ob der Ultra-vires-Vorbehalt von dem Organ für europarechtskonform gehalten wird. Auf diese Weise kann das Organ zur Wahrung von Kompetenzen, aber auch zu zusätzlichen Verhaltensanpassungen angeleitet werden. Soweit die Ultra-vires-Kontrolle beispielsweise ein europäisches Organ zur ausführlicheren Begründung seiner Kompetenzausübung anhält, so ist dies auch unter einer rein europäischen Perspektive begrüßenswert.19 So wie die SolangeRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gemeinhin als ein Anlass zum Ausbau der unionalen Grundrechte verstanden wird,20 lässt sich auch der Ultravires-Vorbehalt als ein Potenzial für die Union selbst betrachten.21 So hat auch die EZB im Anschluss an das PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts weitere Darlegungen zur Kompetenzkonformität ihres Handelns dargereicht.22 Der hier verfolgte Ansatz zielt demnach auch darauf ab, die auf dem Boden des mitgliedstaatlichen Rechts entwickelte Ultra-vires-Kontrolle in die Architektur des Mehrebenensystems einzupassen und für das Ziel der Verwirklichung einer Rechtsgemeinschaft fruchtbar zu machen. Im bisherigen Schrifttum überwiegt demgegenüber deutlich ein anderes Verständnis vom Ultra-vires-Vorbehalt. Er wird als Ausdruck des Misstrauens gegenüber dem EuGH verstanden,
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Als wegweisend kann hier die Entscheidung BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 gelten. Siehe zum Urteil als Chance für die Union M. Ludwigs, EuZW 2020, 530 (533); K. F. Gärditz, EuZW 2020, 505 (507 f.). 20 BVerfG, Beschl. v. 29.05.1974 – BvL 52/71 (Solange I), BVerfGE 37, 271, siehe z.B. U. R. Haltern, NVwZ 2020, 817 (819); U. Hufeld, Anwendung des europäischen Rechts in Grenzen des Verfassungsrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 215, Rn. 54; A. Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (6); T. Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, S. 1259. Grundsätzlich zu den integrativen Wirkungen des Bundesverfassungsgerichts auch T. Giegerich, ZEuS 2016, 3; T. Möllers/K. Redcay, EuR 2013, 409. 21 Eine solche Einflussnahme durch nationale Kontrollvorbehalte noch als „kaum vorstellbar“ bezeichnend G. Nicolaysen, EuR 2000, 495 (509). 22 Erwähnenswert ist hier vor allem: EZB, Zusammenfassung der geldpolitischen Sitzung des Rates der Europäischen Zentralbank, 25.06.2020, abrufbar unter https://www.bundesban k.de/resource/blob/835454/db716af56772b39378f255f151f702a7/mL/2020-06-25-account-d ata.pdf (zuletzt geprüft am 20.04.2023), S. 17 ff.
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dessen Eignung oder Wille zur effektiven Konturierung der unionalen Befugnisse teils in Frage gestellt wird.23 Prominent rief der frühere Bundespräsident und Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Roman Herzog, zusammen mit dem Ökonomen Lüder Gerken zu einer scharfen nationalen Kontrolle des EuGH auf.24 Die Notwendigkeit hierfür wurde mit der fehlenden Bereitschaft des EuGH begründet, als neutrales Gericht zwischen den Interessen der Mitgliedstaaten und der Union zu vermitteln.25 Statt sich einer methodengebunden juristischen Tätigkeit verpflichtet zu fühlen, „gebärde sich [das Gericht] als gesetzgebende Gewalt“ und greife auf „abenteuerliche Konstruktionen“ zurück. Das Urteil über die europäischen Richter fällt vernichtend aus: „Die beschriebenen Fälle zeigen, dass der EuGH zentrale Grundsätze der abendländischen richterlichen Rechtsauslegung bewusst und systematisch ignoriert, Entscheidungen unsauber begründet, den Willen des Gesetzgebers übergeht oder gar in sein Gegenteil verkehrt und Rechtsgrundsätze erfindet, die er dann bei späteren Entscheidungen wieder zugrunde legen kann.“26
Der EuGH sei deshalb „als letztinstanzlicher Wächter der Subsidiarität und als Schützer der Belange der Mitgliedstaaten ungeeignet.“27 In dieser Deutung ist die Kontrolle europäischer Entscheidungen ein Akt der Selbstverteidigung gegenüber supranationaler Willkür.28 In der Tat war der EuGH bisher zurückhaltend bei der Kontrolle von Unionsbefugnissen. Auch wenn die genaue Zahl der Fälle, in denen er eine Kompetenzüberschreitung von Stellen der Europäischen Union angenommen hat, nur schwer zu ermitteln ist und auch vom angelegten Maßstab abhängt, ist sie 23 Z.B. J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 221 f. Darüber hinaus wird dem EuGH mangelndes Interesse für die Belange der Mitgliedstaaten vorgeworfen U. Di Fabio, GLJ 15 (2014), 107 (109). Aus politikwissenschaftlicher Sicht G. G. Sander, Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration, S. 113 f. Eine umfassendere Bewertung der Eignung des EuGH als Hüter des Rechts findet sich bei J. Schwarze, DVBl 2014, 537. 24 R. Herzog/L. Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ v. 08.09.2008, S. 8. 25 Die Neutralität des EuGH positiv bewertend beispielsweise T. Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, S. 701 ff.; J. Schwarze, DVBl 2014, 537 (539). 26 R. Herzog/L. Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ v. 08.09.2008, S. 8. Eine bekannte Erwiderung stammt vom früheren Präsidenten des Europäischen Parlaments K. Hänsch, Klaus Hänsch tritt Roman Herzog und Lüder Gerken entgegen, WELT.DE, 27.01.2007 . 27 R. Herzog/L. Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ v. 08.09.2008, S. 8. 28 In diesem Sinne auch J. Jahn, NJW 2008, 1788 (1788 f.). Von einem auf „Selbstbehauptung angelegten“ Vorbehalt sprechen R. Hofmann/A. Heger, EuGRZ 2020, 176 (180 f.); M. Ludwigs/P. Sikora, EWS 2016, 121 (127). Deutlich auch U. Hufeld, JM 2020, 331 (332), der feststellt, das PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts stemme sich „gegen Selbstermächtigung und gegen Kontrollverzicht, letztlich gegen selbstherrliche und unkontrollierbare Expertokratie“.
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doch jedenfalls äußerst gering.29 Je weniger die Union allerdings selbst über die Einhaltung von Grenzen ihrer Befugnisse wacht, desto größer wird der reale Anwendungsbereich der Ultra-vires-Kontrolle. Die Reservefunktion tritt so in den Hintergrund, die Ausnahme droht so zur Regel zu werden.30 Die Relevanz des Ultra-vires-Vorbehalts ergibt sich aber nicht nur aus der zurückhaltenden Kontrollpraxis des Europäischen Gerichtshofs. Sie ist auch das Resultat der weitreichenden Unionskompetenzen: Selbst unter dem Eindruck aktueller Krisen ist die Geschichte der europäischen Integration noch immer die einer stetigen, schrittweisen Vertiefung. Die politische Bedeutung der Europäischen Union ist, verglichen mit ihren Anfängen in der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, in kaum vorstellbarer Weise gewachsen. Dieser Bedeutungszuwachs korrespondiert mit einer ebenso einzigartigen Vergrößerung ihrer rechtlichen Befugnisse. Sie betreffen heute Bereiche von hoher politischer Bedeutung und öffentlicher Umstrittenheit.31 Je weiter die Integration voranschreitet, desto mehr schreitet daher auch der Disput um die Wahrnehmung eben jener Kompetenzen voran.32 Zudem führt die Abkehr vom Erfordernis der Einstimmigkeit im Rat naturgemäß zu Ergebnissen, die dem Willen einzelner Nationen oder einzelner politischer Akteure widersprechen.33 In den politischen Herausforderungen und Krisen, die Europa in den vergangenen Jahren erlebte, wurden divergierende politische Standpunkte und Interessen zwischen der Union und den Mitgliedstaaten deutlich.34 Das gilt vor allem für die Finanz- und Wirtschaftskrise in den Jahren ab 2008 und für die Flüchtlingskrise seit 2015. Manche der grundlegenden Streitigkeiten sind innerhalb des gegebenen institutionellen Arrangements kaum mehr lösbar35 und selbst die befriedende Wirkung von Ur-
29 Eindeutig die Kompetenz verneinend EuGH, Urt. v. 05.10.2000 – C-376/98 (Tabakwerberichtlinie I), Slg. 2000, I-8498; siehe hierzu M. Nettesheim, Rechtshandeln der EU-Institutionen, in: Oppermann/Classen/Nettesheim (Hrsg.), Europarecht, § 11, Rn. 3. Nach hier vorgenommener Interpretation sind daneben zumindest auch die Entscheidungen EuGH, Urt. v. 23.04.1986 – C-294/83 (Les Verts), Slg. 1986, 1357 und EuGH, Urt. v. 09.07.1987 – C-281/85 (Wanderungspolitik), Slg. 1987, 3245 zu nennen. Ähnlich P. M. Huber, Der Staat 56 (2017), 389 (408), der von dreieinhalb Fällen spricht. 30 G. Krings, ZRP 2020, 160 (161). 31 Dabei bemerkt D. Grimm, Die Stärke der EU liegt in einer klugen Begrenzung, FAZ v. 11.08.2014, S. 11 ein besonderes Problem für die Legitimation von EuGH-Urteilen: Diese seien hochpolitisch und weniger als im nationalen Raum einer parlamentarischen Rückbindung über vergleichsweise leicht abänderbare Gesetze unterworfen. 32 Ähnlich J. Masing, Verfassung im internationalen Mehrebenensystem, in: Herdegen/ Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 1, Rn. 164. 33 Auf den Zusammenhang mit der Brisanz der Ultra-vires-Kontrolle weist auch M. Nettesheim, Kompetenzen, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 389, 404 hin. 34 Zu den Auswirkungen der „Polykrise“ auf die Perspektiven der europäischen Integration siehe F. Schorkopf, NVwZ 2018, 9. Ausführlich auch mit Bezug auf die „Verfassungstheorie für Europa“ P. Häberle, AVR 53 (2015), 409. 35 Als Reaktion hierauf kommt es zu völkerrechtlichen Verträgen zwischen EU-Mitglie-
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teilen scheint insoweit nachzulassen. Die Rechtsprechung des EuGH wird wegen unterstellter Rechtsverstöße nicht mehr uneingeschränkt als verbindlich erachtet.36 Umgekehrt sehen europäische Institutionen die Grundwerte der Union aus Art. 2 EUV nicht mehr in allen Mitgliedstaaten als gewährleistet an.37 Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union und der Aufstieg nationalistischer Parteien in vielen Mitgliedstaaten zeigen dabei in aller Deutlichkeit die verbreitete Unzufriedenheit mit grundsätzlichen Aspekten der Gemeinschaft.38 Es kann daher nicht verwundern, dass gerade in Deutschland – einem Mitgliedstaat mit einer ausgesprochen großen gerichtlichen Prüfungsdichte administrativer Entscheidungen39 – immer wieder anhand von Entscheidungen des EuGH über eine Aktivierung des Ultra-vires-Vorbehalts diskutiert wird. Besonders die EuGH-Entscheidungen in den Sachen Mangold40 und Gauweiler41 wurden von Teilen der Wissenschaft als gerichtliche Bestätigungen ausbrechender Hoheitsakte gewertet.42 Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich in einer
dern außerhalb des EU-Rechts. Zu den Rückwirkungen auf das Unionsrecht H. P. Aust, EuR 2017, 106; J. P. Terhechte, EuR 2017, 3 (18 f.). 36 Siehe zuvorderst die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtshofs: Trybunał Konstytucyjny, Urt. v. 07.10.2021 – K 3/21, welche sogar grundsätzlich den Vorrang des Unionsrechts vor dem polnischen Verfassungsrecht in Frage stellt. Siehe ebenso die Weigerung Ungarns die Entscheidung EuGH, Urt. v. 06.09.2017 – C-643/15 (Umsiedlung von Drittstaatsangehörigen), ECLI:EU:C:2017:631 umzusetzen. Seit dem 22.12.2017 ist gegen diese Weigerung das Verfahren C-718/17 anhängig. Auch hierzulande werden dabei grundsätzliche Zweifel an der Legitimität europäischer Entscheidungsprozesse und an der Rechtsstaatlichkeit der Union vorgebracht. Prominent ist der Aufruf des AfD-Bundestagsfraktionsvorsitzenden Gauland zur Missachtung der Entscheidung EuGH, Urt. v. 06.09.2017 – C-643/15 (Umsiedlung von Drittstaatsangehörigen), ECLI:EU:C:2017:631 durch Ungarn, siehe die Pressemitteilung: Ungarn und die Slowakei müssen die Umverteilung von Flüchtlingen nicht mitmachen, 06.09.2017, abrufbar unter https://www.afd.de/alexander-gauland-ungarn-unddie-slowakei-muessen-die-umverteilung-von-fluechtlingen-nicht-mitmachen/ (zuletzt geprüft am 20.04.2023). Einen ,resignativen Sarkasmus‘ in der Frage nach der Rechtsgemeinschaft beobachtet U. Di Fabio, Europas Werte, Europas Würde, FAZ v. 23.05.2016, S. 6. A.A. F. C. Mayer, NJW 2017, 3631 (3433 ff.). 37 Siehe insbesondere die jeweiligen Länderkapitel Polens und Ungarns in den Berichten über die Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Kommission 2020 bis 2022: Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2020, 30.09.2020, Az. COM(2020) 580 final; Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2021, 20.07.2021, Az. COM(2021) 700 final. Bericht über die Rechtsstaatlichkeit 2022, 13.07.2022, Az. COM(2022) 500 final. Zu Polen siehe auch: Europäische Kommission, Begründeter Vorschlag nach Artikel 7 Absatz 1 des Vertrages über die Europäische Union zur Rechtsstaatlichkeit in Polen, 21.12.2017, Az. COM(2017) 835 final. 38 Siehe auch W. Kahl, Verhältnis des Unionsrechts zum deutschen Recht, in: ders./Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 2, § 38, Rn. 66. 39 Siehe zum Beispiel den Vergleich der Funktionen von Bundesverfassungsgericht und dem französischen Conseil constitutionnel bei M. Jestaedt, JZ 2019, 473 (475 ff.). 40 EuGH, Urt. v. 22.11.2005 – C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981. 41 EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400. 42 Exemplarisch J. H. Klement, JZ 2015, 754 (756 ff.). Aus Sicht eines vor Gericht unterlegenen Prozessvertreters: D. Murswiek, Die Eurokrise vor dem Bundesverfassungsgericht,
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Reihe von Entscheidungen grundsätzlich43 oder im Einzelfall44 mit der Option einer Kontrolle europäischer Akte auseinandergesetzt und diese anlässlich der Weiss-Entscheidung45 des EuGH schließlich erstmals aktiviert.46 Mit seiner Entscheidungspraxis löste das Bundesverfassungsgericht eine breite und intensive Diskussion in der juristischen Literatur aus. Es finden sich zustimmende Äußerungen47 ebenso wie Kritik48 aus zwei entgegengesetzten Richtungen: Die einen lehnen eine nationale (Kompetenz-)Kontrolle europäischer Akte grundsätzlich ab,49 während die anderen gerade umgekehrt die Zurückhal-
S. 705. Zu Mangold J. Wieland, NJW 2009, 1841 (1843); A. Zedler, GPR 2006, 152; J.-H. Bauer/C. Arnold, NJW 2006, 6 (8 ff.). 43 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267; BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155. 44 BVerfG, Urt. v. 06.12.2022 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Urteil), WM 2022, 2451; BVerfG, Beschl. v. 09.02.2022 – 2 BvR 1368/16 (CETA-Beschluss III), NVwZ 2022, 541; BVerfG, Beschl. v. 29.04.2021 – 2 BvR 1651/15 (PSPP-Vollstreckungsanordnung), NJW 2021, 2187; BVerfG, Beschl. v. 15.04.2021 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Eilantrag), BVerfGE 157, 332; BVerfG, Urt. v. 02.03.2021 – 2 BvE 4/16 (CETA-Mandatsgesetz), BVerfGE 157, 1; BVerfG, Beschl. v. 15.06.2020 – 2 BvR 71/20 (CSPP-Beschluss), NVwZ 2020, 1263; BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17; BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202; BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Beschluss), BVerfGE 147, 216; BVerfG, Beschl. v. 07.12.2016 – 2 BvR 1444/16 (CETA-Beschluss II), BVerfGE 144, 1; BVerfG, Urt. v. 13.10.2016 – 2 BvE 3/16 (CETA-Beschluss I), BVerfGE 143, 65; BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123; BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366; BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286. Nur ausgewählte Nichtannahmebeschlüsse wurden gelistet. Eine chronologische, einordnende Darstellung der wesentlichen Entscheidungen findet sich bei R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 34 ff. Daneben existieren Entscheidungen, in denen das Gericht die Figur des Ultra-vires-Akts nutzt, um Akte der europäischen Hoheitsgewalt kompetenzkonform auszulegen, z.B. BVerfG, Urt. v. 24.04.2013 – 1 BvR 1215/07 (Antiterrordatei), BVerfGE 133, 277 (316), siehe S. Dietz, NVwZ 2016, 1383 (1383); P. M. Huber, Walter Hallstein-Institut für europäisches Verfassungsrecht, Die EU als Herausforderung für das Bundesverfassungsgericht, S. 33 ff. 45 EuGH, Urt. v. 11.12.2018 – C-493/17 (Weiss), ECLI:EU:C:2018:1000. 46 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17. 47 P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 214, Rn. 171 ff.; U. Hufeld, Anwendung des europäischen Rechts in Grenzen des Verfassungsrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 215, Rn. 61; R. Scholz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 98. EGL. März 2022, Art. 23 GG, Rn. 40b; T. Stein, Herausforderungen an Staat und Verfassung, S. 473; U. Di Fabio, GLJ 15 (2014), 107; W. Kahl, DVBl 2013, 197 (206 f.). 48 Siehe grundsätzlich zur Kritik am Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit der Integrationsrechtsprechung: J. Collings: Phasen der öffentlichen Kritik am Bundesverfassungsgericht, in: Meinel, (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bonner Republik, S. 63 (77 ff.). 49 J. Ipsen, RuP 2020, 344 (357); C. D. Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 1, Art. 24 GG, Rn. 36 ff.; T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (30 ff.); D. Kiekebusch, Der Grundsatz der
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tung des Gerichts bei der Ausübung der Kontrolle kritisieren.50 Kern der Auseinandersetzung ist daher seltener die Entscheidung in der Sache, beispielsweise zu Fragestellungen des Kündigungsschutzes,51 sondern die Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts selbst.52 Trotz der intensiven wissenschaftlichen Befassung mit der Ultra-vires-Kontrolle und ihrer schon im Jahr 1987 beginnenden53 Geschichte gibt es allerdings nur wenige über den jeweiligen Einzelfall hinausreichende wissenschaftliche Untersuchungen dieses Instruments. Dieses Defizit schlägt sich in zahlreichen ungelösten Problemen auf der Ebene der Anwendung des Ultra-vires-Vorbehalts nieder.54 Schon die Herleitung des Prüfungsauftrags des Bundesverfassungsgerichts ist nicht abschließend geklärt, und die Kontrollmaßstäbe sind nicht hinreichend konkretisiert. Bemerkenswert wenig thematisiert wurde bislang auch die mit dieser Arbeit in den Blick genommene Frage nach den Auswirkungen des Vorbehalts auf die Union und den damit verbundenen Potenzialen.55 Auch wenn die Auseinandersetzung um die gerichtliche Letztentscheidungskompetenz nur ein Ausschnitt aus den Konflikten zwischen Mitgliedstaaten und Union ist, handelt es sich bei diesem Thema doch um einen ganz wesentlichen Aspekt im rechtlichen wie politischen Gefüge der Gemeinschaft. Je nach Sichtweise ist die mitgliedstaatliche Ultra-vires-Kontrolle eine Ursache oder ein Symptom der oft beschriebenen56 Gefährdung der europäischen Rechtsgemeinschaft. Zu beachten ist dabei auch die mögliche Vorreiterfunktion, die das Bundesver-
begrenzten Einzelermächtigung, 169 f.; K. Lenaerts, EuR 2015, 3 (13); M. Ludwigs, NVwZ 2015, 537 (539); G. Ress, ZÖR 2009, 387 (392); P. Hector, ZEuS 2009, 599 (609 ff.); mit Einschränkungen auch H. Sauer, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum GG, 198. EGL. Mai 2019, Art. 24 GG, Rn. 70, 217; A. Schwerdtfeger, EuR 2015, 290. 50 Zuvorderst die abweichende Meinung des Richters Landau in BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (318 ff.); D. Murswiek, EuGRZ 2017, 327; D. Murswiek, Die Eurokrise vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 698 ff.; T. Stein, ZRP 2010, 265 (265); R. Herzog/L. Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ v. 08.09.2008, S. 8; K. F. Gärditz/C. Hillgruber, JZ 2009, 873 (877); wohl auch J. Jahn, NJW 2008, 1788. 51 So das eigentliche Thema in BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286. 52 Ebenso O. Lepsius, JöR 63 (2015), 63 (78). 53 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 (Kloppenburg), BVerfGE 75, 223. 54 In diesem Sinne bezeichnet K. Schneider, GLJ 15 (2014), 217 (220) die Kontrolle als „brownfield of intermingled legal problems emerging from multi-layered interactions between domestic constitutional law and international processes of integration, including the process of European integration.“ 55 D. Murswiek, EuGRZ 2017, 327 (337); A. Voßkuhle, JZ 2016, 161 (167). Ansatzweise A. Kees, Grundlagen und Grenzen der europäischen Integration, in: Scheffczyk/Wolter (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 4, S. 439, 466, Fn. 156. 56 C. Bickenbach, DÖV 2016, 741 (741); P. Kirchhof, Verfassungsnot!, FAZ v. 12.07.2012, S. 25; T. Thiel, Rückbau vor Ausbau – Die Krise des EU-Rechts, FAZ v. 29.03.2017, N3; ähnlich A. von Bonin, EuZW 2017, 785 (785 f.); A. Geipel, ZAP 2016, 717.
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fassungsgericht ausübt. Die (Verfassungs-)Gerichte anderer EU-Staaten haben aufmerksam die deutsche Rechtsprechung verfolgt und teilweise vergleichbare Instrumente eingeführt.57 Gerade in einer Zeit, in der die Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Judikativen nicht mehr flächendeckend gesichert ist,58 könnte sich dies als Einfallstor für Missbrauch erweisen.59 Es ist auch diese Beobachtung, die Anlass dazu gibt, das Instrument der Ultra-vires-Kontrolle aus einer genuin rechtswissenschaftlichen Perspektive zu diskutieren. Die vorliegende Arbeit strebt in diesem Sinne eine übergeordnete rechtswissenschaftliche Analyse des Ultra-vires-Vorbehalts an. Hierfür werden zunächst die Notwendigkeit und die normative Herleitung des Instruments beleuchtet (1. Kapitel). Insbesondere werden die ausgesprochenen und unausgesprochenen Grundannahmen des Bundesverfassungsgerichts aufgezeigt und dem Verständnis des EuGH gegenübergestellt. In einem zweiten Schritt wird die Dogmatik der Kontrolle erarbeitet (2. Kapitel). Aufgrund der einzelfallorientierten Rechtsprechung und der immer noch relativ geringen Dichte an Entscheidungen müssen hier Regeln rekonstruiert und mögliche Veränderungen aufgezeigt werden. Ziel ist eine abstrakt-generelle Darstellung der aktuellen Kontrolldogmatik. Schließlich werden die Leistungsfähigkeit des Kontrollvorbehalts untersucht und seine Perspektiven aufgezeigt (3. Kapitel). Die Ultra-vires-Kontrolle ist bisher erst ein einziges Mal aktiviert worden; ihre Fähigkeit zur Steuerung des Ver57 Siehe vor allem die Aktivierung der Kontrolle in Dänemark, Højesteret, Urt. ´ stavnı´ soud, Urt. v. 06.12.2016 – C 15/2014 (Ajos), UfR 2017, .824H und Tschechien, U ´ S 5/12 (Holubec). Ausführliche rechtsvergleichende Erwägungen finden v. 31.01.2012 – Pl. U sich in BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 142). Aus der Literatur W. Kahl, Verhältnis des Unionsrechts zum deutschen Recht, in: ders./Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 2, § 38, Rn. 42 ff. Zur argumentativen Übertragbarkeit des Ultra-vires-Vorbehalts auf die Rechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten siehe A. Nußberger, AnwBl 2021, 217. Die Vorbildwirkung des Bundesverfassungsgerichts für andere Höchstgerichte analysieren T. Ellerbrok/R. Pracht, EuR 2021, 188. 58 Hier sei auf die Entscheidungen des EuGH zu der Justizreformen in Polen EuGH, Beschl. v. 08.04.2020 – C-791/19 (Disziplinarkammer für ein oberstes Gericht), ECLI:EU:C: 2020:277; EuGH, Urt. v. 05.11.2019 – C-192/18 (Unabsetzbarkeit von Richtern II), ECLI: EU:C:2019:924 und Ungarn EuGH, Urt. v. 06.11.2012 – C-286/12 (Unabsetzbarkeit von Richtern I), ECLI:EU:C:2012:687 verwiesen. Kritisch hierzu, da es der Union an Kompetenzen zur Regelung der nationalen Justiz fehle: M. Nettesheim, ZRP 2021, 222. Siehe übergreifend auch A. Voßkuhle, NJW 2018, 3154. 59 Auf die Gefahr hinweisend C. Franzius, EuR 2019, 365 (377). Einen Missbrauch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Ungarn attestiert B. Bako´, ZaöRV 2018, 863 (902); anders jedoch zurecht A. Voßkuhle, Europa, Demokratie, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 340. Aus diesem Grund stellt C. D. Classen, EuR 2016, 529 (543) die grundsätzliche Legitimität der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht in Frage. Auf die Attraktivität der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Referenzpunkt für ausländische Juristen im Allgemeinen weisen auch T. Ellerbrok/R. Pracht, EuR 2021, 188 und A. von Bogdandy, Warum die Welt nach Karlsruhe blickt, FAZ v. 06.07.2016, S. N4 hin. Grundsätzlich sei die Strahlkraft der Europarechtsprechung auch intendiert A. von Bogdandy, NJW 2010, 1 (1).
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haltens europäischer Organe ist daher noch nicht abschließend erwiesen. Die bislang zurückhaltende Kompetenzkontrolle durch den EuGH deutet dabei auf eine eher geringe Wirksamkeit der bundesverfassungsgerichtlichen Wächterrolle hin. Deshalb wird schließlich ein eigener Ansatz für die Handhabung der Kontrolle entwickelt. Dieser soll nicht nur dogmatisch tragfähig sein, sondern auch die Funktionalität des Instruments fördern. Während die ersten beiden Kapitel der Arbeit also vornehmlich der Deskription und Analyse gewidmet und insoweit eng auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezogen sind, ist das dritte Kapitel schöpferischer Natur und soll einen Beitrag zur Fortentwicklung des Rechts leisten.
Erstes Kapitel
Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts Der Ultra-vires-Vorbehalt fußt ebenso wie seine Kritik auf bestimmten Vorstellungen vom Verhältnis des Unionsrechts zum mitgliedstaatlichen (deutschen) Recht. Diese werden nachfolgend untersucht und dargestellt. Ziel des Abschnitts ist nicht die abschließende Diskussion über die vertretenen Geltungstheorien, sondern das Offenlegen der theoretischen Grundlagen des Ultra-vires-Vorbehalts und die Präsentation möglicher, alternativer Konzepte. Im Anschluss werden die Zwecke des Vorbehalts aufgezeigt. Das Bundesverfassungsgericht versucht mit dem Vorbehalt zuvorderst eine bestimmte Legitimationsstruktur der Unionsgewalt sicherzustellen. Für eine Analyse sind daher die relevanten Verständnisse von Kompetenz und Demokratie herauszuarbeiten. Schließlich soll die Befugnis zur Kontrolle betrachtet werden. Dabei wird zwischen der nationalen und der europäischen Ebene unterschieden, wobei auch mögliche Wechselwirkungen zwischen den Rechtsordnungen untersucht werden.
A. Grundlagen: Der Ultra-vires-Akt im nationalen Recht Die Ultra-vires-Kontrolle bewegt sich ihrer Natur nach im Mehrebenensystem von Unionsrecht und nationalem Recht.1 In ihrem Rahmen wird eine Aussage über die Kompetenzgemäßheit europäischer Akte und zugleich über deren Anwendbarkeit innerhalb Deutschlands getroffen. Sie nimmt daher eine Schnittstellenfunktion zwischen beiden Rechtsordnungen ein. Zentral für das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts ist dabei die Erwägung, aus der Kompetenzüberschreitung folge die Unanwendbarkeit eines Akts. Hierfür ist zunächst der grundsätzliche Geltungsmechanismus des Unionsrechts darzustellen.
I. Ausgangspunkt: Geltung und Vorrang des Unionsrechts Schon die Präambel des Grundgesetzes betont den Willen des Deutschen Volkes, eine Stellung als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa einzunehmen. Mit Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG verpflichtet sich die Bundesrepublik zur Mit1 Als zwischen europäischem und deutschem Verfassungsrecht liegend bezeichnet sie C. Calliess, Die europarechtliche Ultra-Vires-Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts, in: Calliess (Hrsg.), Herausforderungen an Staat und Verfassung, S. 446, 447.
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Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts
wirkung an der Entwicklung einer Europäischen Union, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist. Dieser Integrationsauftrag ist als Staatszielbestimmung zunächst offen und lässt erhebliche Spielräume sowohl hinsichtlich der Ausgestaltung der Union2 als auch hinsichtlich der konkreten Form der Mitwirkung.3 Satz 2 eröffnet die Möglichkeit, durch Gesetz Hoheitsrechte auf die Union zu übertragen. Diese Integrationsvorschrift des Grundgesetzes korrespondiert mit den Vorschriften über die Befugnisse der Union in den Europäischen Verträgen. Die EU ist nach Maßgabe des Art. 5 EUV zur selbständigen Ausübung von Hoheitsgewalt berechtigt. Sie ist ausweislich des Art. 288 Abs. 2 AEUV auch in der Lage, in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes Recht zu setzen. In Anbetracht des für den Großteil der Unionshandlungen maßgeblichen Mehrheitsprinzips in den Organen – siehe Art. 238 Abs. 1, Art. 294 AEUV – kann die Union regelmäßig ihre Kompetenzen gegen den Willen eines einzelnen Mitgliedstaats ausüben. Dadurch stellt die EU ein wohl einzigartiges Kooperationsprojekt souveräner Staaten dar.4 Diese Besonderheit der Union wird durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht noch verstärkt.5 Der Anwendungsvorrang besagt, dass im Falle eines Widerspruchs von Unionsrecht zu mitgliedstaatlichem Recht im Einzelfall das nationale Recht unangewendet bleibt.6 Im Übrigen, sprich in allen von dem entgegenstehenden Unionsrecht nicht betroffenen Konstellationen, wird dessen Anwendbarkeit nicht beeinträchtigt.7 Der Anwendungsvorrang ist insoweit eine mit dem lex-specialisGrundsatz vergleichbare Kollisionsregel: Wie dieser löst er den Normenkonflikt in der Dimension der Anwendbarkeit, nicht in der Dimension der Geltung.8 2 R. Scholz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 98. EGL. März 2022, Art. 23 GG, Rn. 60; R. Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 GG, Rn. 11. Zudem ist die Mitwirkungspflicht nicht auf die EU in ihrer heutigen Form beschränkt, sondern umfasst auch Entwicklungen dieser. Der Integrationsauftrag ist daher dynamisch, siehe H. D. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 23 GG, Rn. 4. 3 F. Wollenschläger, in: Dreier, GG Bd. 2, Art. 23 GG, Rn. 37. 4 T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (5). Zur daraus resultierenden Einzigartigkeit des Gerichtshofs, M. Polzin, AöR 246 (2021), 1 (7). 5 EuGH, Urt. v. 15.07.1964 – C-6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1253 (1270); EuGH, Urt. v. 09.03.1978 – C-106/77 (Simmenthal II), Slg. 1978, 629 (644 f.). Zur Reaktion der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, siehe D. Burchard, Die Rangfrage im europäischen Normverbund, S. 101 ff. Zur (grundsätzlichen) Akzeptanz des Anwendungsvorrangs durch das Bundesverfassungsgericht ausführlich BVerfG, Beschl. v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 (Solange II), BVerfGE 79, 339 (375). Besprechung unter dem Gesichtspunkt klassischer Normkollisionsregeln B. Schöbener, JA 2011, 885. 6 A. Haratsch/C. Koenig/M. Pechstein, Europarecht, Rn. 202 ff. 7 Unklar V. Skouris, EuR 2021, 3 (3, Fn. 1), der festhält, Europarecht breche nationales Recht. 8 A. Funke, DÖV 2007, 733 (735 f.). Ob der Anwendungsvorrang nun zu einer Hierarchie
A. Grundlagen: Der Ultra-vires-Akt im nationalen Recht
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Selbst nationales Verfassungsrecht wird dabei grundsätzlich von EU-Recht verdrängt.9 Der Anwendungsvorrang ist vertraglich nicht geregelt – eine Normierung scheiterte mit der Ablehnung des Verfassungsvertrags von 2004.10 Lediglich in der, der Schlussakte zum Lissabonner Vertrag beigefügten „17. Erklärung zum Vorrang“ wird der Anwendungsvorrang deklaratorisch bestätigt.11 Vielmehr war es der EuGH, der den Anwendungsvorrang in seiner Rechtsprechung auf Grundlage der Verträge12 entwickelte.13 Der EuGH14 begründete die Notwendigkeit des Anwendungsvorrangs mit der einheitlichen Geltung des Unionsrechts: Andernfalls werde dem Unionsrecht sein „Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und […] die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt.“15 Die Tragweite dieser Entscheidung korrespondiert dabei in keiner Weise mit dieser recht knappen Begründung. Die Rolle der Mitgliedstaaten gegenüber der Union wurde durch den Anwendungsvorrang erheblich geschwächt, wodurch tiefgreifend in das europäische Verfassungsgefüge eingegriffen wurde. Diese Weichenstellung war jedoch eine notwendige Bedingung auf dem Weg der europäischen Integration, wie wir sie heute kennen.16 Eine Union, innerhalb derer das Recht der Mitgliedstaaten Vorrang
zwischen den Rechtsordnungen führt oder ein Vorrang ohne Über-Unterordnungsverhältnis denkbar ist, bedarf letztlich keiner Entscheidung, solange Klarheit bezüglich der konkreten Wirkungen des Anwendungsvorrangs besteht. Unter Hinweis auf die autonome Rechtserzeugung in den Mitgliedstaaten eine Hierarchie ablehnend A. Funke, DÖV 2007, 733 (736). Für eine Hierarchie U. Hufeld, Anwendung des europäischen Rechts in Grenzen des Verfassungsrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 215, Rn. 10; M. Jestaedt, Der Europäische Verfassungsverbund, in: Krause/ Veelken/Vieweg (Hrsg.), Recht der Wirtschaft und der Arbeit in Europa, S. 637, 117 ff.; dagegen C. Franzius, EuR 2019, 365 (381); D. Burchard, Die Rangfrage im europäischen Normverbund, S. 331 und passim; I. Pernice, VVDStRL 60 (2001), 148 (185). 9 EuGH, Urt. v. 17.12.1970 – C-11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125 (1135). Siehe vertiefend zum Vorrang des Unionsrechts W. Kahl, Verhältnis des Unionsrechts zum deutschen Recht, in: ders./Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 2, § 38, Rn. 28 ff. Zur Genese in der Rechtsprechung des EuGH siehe D. Burchard, Die Rangfrage im europäischen Normverbund, S. 67 ff. 10 Siehe Artikel I-6 VVE. 11 ABl. EU 2008 Nr. C 115, S. 344. Siehe im Einzelnen V. Skouris, EuR 2021, 3 (3 ff.). 12 Damit erfolgt die Begründung gerade nicht unter Berufung auf die mitgliedstaatlichen Verfassungen, siehe D. Burchard, Die Rangfrage im europäischen Normverbund, S. 94. 13 Erstmals EuGH, Urt. v. 05.02.1963 – C-26/62 (Van Gend en Loos), Slg. 1963, 3, deutlicher dann EuGH, Urt. v. 15.07.1964 – C-6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1253. Selbstverständlich war diese Rechtsprechung indes nicht, siehe D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 346 f. 14 Zur Genese des Anwendungsvorrangs in der Rechtsprechung des EuGH, siehe R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 18 ff. 15 EuGH, Urt. v. 17.12.1970 – C-11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125 (1135). 16 Von einem „notwendigen Integrationsmodus“ spricht U. Hufeld, Anwendung des eu-
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Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts
gegenüber dem Unionsrecht genösse, wäre zur effektiven Setzung von unmittelbar geltendem Recht kaum in der Lage. Aufgrund dieses Zusammenhangs zwischen dem Gelingen des Integrationsprojekts und dem Anwendungsvorrang ist heute für das deutsche Recht allgemein anerkannt, dass Art. 23 GG eine Übertragung von Hoheitsrechten auch unter der grundsätzlichen17 Akzeptanz eines Anwendungsvorrangs zulässt. Auch die nationalen (Höchst-)Gerichte erkennen dies mit Bezug auf ihre jeweiligen Rechtsordnungen, wenn auch teilweise mit Einschränkungen,18 an.19 Wenn also europäisches Recht dem mitgliedstaatlichen Recht im Konfliktfall vorgeht, so folgt daraus, dass mitgliedstaatliches Recht nicht die Geltung europäischen Rechts behindern kann. Zum einen läge dann eine Konfusion des Vorrangverhältnisses vor, zum anderen würde dadurch die einheitliche Geltung des Unionsrechts verhindert. Eine Kontrolle geltenden europäischen Rechts anhand mitgliedstaatlicher Normen scheidet daher aus.20 Unionale Akte sind demnach ausschließlich an höherrangigem Unionsrecht zu messen. Insbesondere die vertragliche Kompetenzordnung ist damit Maßstab allen Handelns. Insoweit ist unstreitig, dass ein Handeln außerhalb dieser Ordnung rechtswidrig ist.21 Die Annahme einer Nichtigkeit bedarf hingegen einer besonderen Begründung: Das Unionsrecht kennt kein allgemeines Nichtigkeitsdogma.22 Ausnahmen werden vom EuGH nur „in ganz außergewöhnlichen Fällen“ angenommen, in denen ein Akt mit einem derart „schweren Fehler behaftet [ist], daß die Gemeinschaftsrechtsordnung ihn nicht tolerieren kann“.23 Damit scheint auf den ersten Blick das materiell-rechtliche Verhältnis geklärt: Soweit ein europäischer Akt nicht qualifiziert rechtswidrig ist, beansprucht er Wirkung im Mitgliedstaat. Rechtswidrigkeit ist bei einem Verstoß gegen höherrangiges, europäisches Recht gegeben. Offen bliebe dabei nur, welches Gericht für eine derartige Prüfung mit Letztentscheidungsbefugnis zuständig ist. ropäischen Rechts in Grenzen des Verfassungsrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 215, Rn. 10. 17 Zu den hier relevanten nationalen Vorbehalten siehe sogleich 1. Kap., A II, S. 17 ff.. 18 Siehe hierzu im Einzelnen U. Haltern, AöR 146 (2021), 195 (201 ff.) m.w.N 19 Eine Ausnahme bildet hier das polnische Verfassungsgericht, welches den Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Verfassungsrecht bestreitet, Trybunał Konstytucyjny, Urt. v. 07.10.2021 – K 3/21. 20 Dies wird auch vom Bundesverfassungsgericht akzeptiert. Vielmehr spricht es Ultravires-Akten die Geltung in der deutschen Rechtsordnung ab, siehe dazu sogleich 1. Kap., A II, S. 17. 21 J. Bast, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 65. EGL. August 2018, Art. 5 EUV, Rn. 30; C. Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt im Gemeinschaftsund Unionsrecht, S. 81 ff. 22 M. Willms, Die materiell-rechtlichen Wirkungen unionsgerichtlicher Nichtigkeits- und Ungültigkeitsentscheidungen, S. 131 f.; H. Sauer, EuR 2017, 186 (194). 23 EuGH, Urt. v. 15.06.1994 – C-137/92 P (BASF u.a.), Slg. 1994, I-02555 (Rn. 49 f.). Grundlegend EuGH, Urt. v. 10. 12 1957 – C-1/57 (Usines a` tubes de la Sarre/Hohe Behörde), Slg. 1957, 201 (234 f.), siehe auch F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, S. 81 f.
A. Grundlagen: Der Ultra-vires-Akt im nationalen Recht
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II. Die Durchbrechung des Anwendungsvorrangs: Die fehlende Geltung des Ultra-vires-Akts im deutschen Recht Das Bundesverfassungsgericht wählt im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle jedoch eine anderen Ansatz: Geprüft wird, ob sich eine europäische Maßnahme in den Grenzen des nationalen Integrationsprogramms bewegt.24 Maßstab der Kontrolle ist nicht das höherrangige Primärrecht, sondern das deutsche, einfachgesetzliche Zustimmungsgesetz zu den Verträgen, das die Art der Beteiligung Deutschlands an der Union festlegt.25 Auf den ersten Blick wird dabei das eingangs dargestellte Vorrangverhältnis umgekehrt. Allerdings verdrängt das Zustimmungsgesetz nicht das Europarecht im Zuge einer Normkollision – es beansprucht also weder Anwendungs- noch Geltungsvorrang.26 Vielmehr soll es den Rahmen dessen festlegen, was in Deutschland überhaupt Rechtsqualität beanspruchen kann. Ein außerhalb des Integrationsprogramms befindlicher Unionsakt hat also schon deshalb keinen Anteil am Anwendungsvorrang des Europarechts, weil es sich bei ihm aus der Perspektive der deutschen Rechtsordnung nicht um Recht handelt.27 Die vom Bundesverfassungsgericht verwendete28 Formulierung „Grenzen des Anwendungsvorrangs“ muss daher als zumindest missverständlich angesehen werden.29 Vorzugswürdig wäre hier der beispielsweise der Ausdruck der Durchbrechung des Anwendungsvorrangs. Eine derartige Prüfung betrifft aufgrund ihrer Konstruktion nicht die Wirksamkeit des Unionsakts innerhalb der Unionsrechtsordnung – ebenso wenig trifft sie eine Aussage über die Anwendbarkeit des Akts in den anderen Mitgliedstaaten.30
24 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 143). 25 In aller Deutlichkeit das Unionsrecht als verfassungsrechtlichen Maßstab ablehnend zuletzt: BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74 (Rn. 115). Ebenfalls darauf hinweisend: M. Nettesheim, Kompetenzen, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 389, 403. 26 Siehe auch U. Hufeld, JM 2020, 331 (332), der darauf hinweist, dem Unionsrecht käme vollumfänglich Vorrang zu, jedoch nicht vorbehaltlos. 27 Von „Nichtrecht“ spricht P. Kirchhof, NJW 2022, 1049 (Rn. 34). Ähnlich U. Hufeld, Anwendung des europäischen Rechts in Grenzen des Verfassungsrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 215, Rn. 7. Deswegen geht die Kritik bei C. D. Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 1, Art. 24 GG, Rn. 36 an der Unanwendbarkeitserklärung als Rechtsfolge der Kontrolle fehl. Sofern man die Herleitung des Gerichts akzeptiert, ergebt sich die Folge zwingend. 28 Beispielsweise BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (402); BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 146). 29 Wie hier ablehnend auch D. Murswiek, EuGRZ 2017, 327 (332). 30 A.A. wohl P. Meier-Beck, EuZW 2020, 519 (520).
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Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts
1. Voraussetzung: Das Zustimmungsgesetz als Geltungsbrücke Diese Herangehensweise ist voraussetzungsvoll. Sie fußt auf der Grundannahme, das Unionsrecht sei keine aus sich heraus geltende Rechtsordnung.31 Unionsakte entfalten danach nur deshalb Wirkungen in Deutschland, weil die Bundesrepublik hierzu eine Anordnung trifft. Die Verträge selbst genügen hierfür nicht: Sie sind in dieser Sichtweise ein Akt des Völkerrechts ohne Wirkung in der Bundesrepublik. Sie entfalten nur Wirkung für den Staat, indem sie ihn zur Umwandlung in nationales Recht verpflichten.32 Die Hoheitsrechte werden der Union demnach nicht durch den Vertragsschluss übertragen, sondern erst durch das Zustimmungsgesetz.33 Diesem kommt eine Zwitterstellung zu: Einerseits handelt es sich um ein Ratifikationsgesetz nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG, andererseits ist es ein Übertragungsgesetz nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG.34 Die zweitgenannte Funktion ist dabei die für diese Arbeit maßgebliche. Der EU werden getreu dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in einem abgrenzbaren Bereich Kompetenzen übertragen.35 Die deutsche Rechtsordnung öffnet sich Maßnahmen einer externen Rechtsquelle und verpflichtet deutsche Behörden zu ihrer Anwendung.36 Das Zustimmungsgesetz nimmt in diesem Modell die verbindende Funktion zwischen den Rechtsordnungen ein. Es dient nicht nur einmalig der Einräumung von Hoheitsrechten, sondern stellt fortwährend die Verbindung von Unionsakten in die deutsche Rechtsordnung dar. In diesem Zusammenhang wird sich häufig der Metapher einer Brücke zwischen Europarechtsordnung und innerstaatlichem Recht bedient: Das Zustimmungsgesetz ist die Brücke, die die Tren31 BVerfG, Beschl. v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 (Solange II), BVerfGE 79, 339 (367); BVerfG, Beschl. v. 09.06.1971 – 2 BvR 255/69 (Milchpulver), BVerfGE 31, 145 (173 ff.) seit jeher ständige Rechtsprechung. Grundlegend P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 214, Rn. 158 ff. Zusammenfassend zum Grundlagenstreit zwischen den Gerichten R. Hofmann/A. Heger, EuGRZ 2020, 176 (177 f.); W. Kahl, Verhältnis des Unionsrechts zum deutschen Recht, in: ders./Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 2, § 38, Rn. 1 ff. 32 Dies widerspricht nicht der Existenz von Verordnungen. Diese werden vom Anwendungsbefehl umfasst und benötigen keine weiteren Umsetzungsschritte. 33 So schon BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 (Kloppenburg), BVerfGE 75, 223 (227 f.). 34 Von einer „Pluralität der Integrationsprogramme“ spricht daher M. Tischendorf, Theorie und Wirklichkeit der Integrationsverantwortung deutscher Verfassungsorgane, S. 76. 35 Übertragung ist in diesem Kontext nicht dinglich zu verstehen. Insbesondere ist der Übertragenende immer noch zur Ausübung der Kompetenzen befugt, siehe im Einzelnen C. Calliess, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 79. EGL. Dezember 2016, Art. 24 GG, Rn. 38 ff. 36 So wird die Nutzung des Ausdrucks „Rechtsanwendungsbefehl“ als Hinwendung zur Vollzugslehre verstanden, z.B. BVerfG, Urt. v. 12.07.1994 – 2 BvE 3/92 (Out-of-areaEinsätze), BVerfGE 90, 286 (364). Aus neuerer Zeit BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 (Görgülü), BVerfGE 111, 307 (319). Siehe M. Will, Jura 2015, 1164 (1167) m.w.N.
A. Grundlagen: Der Ultra-vires-Akt im nationalen Recht
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nung zwischen den Rechtsordnungen überwindet und dem Unionsrecht damit Geltung in der Bundesrepublik verschafft.37 Die Wahrung seiner Grenzen ist deshalb maßgeblich für die Geltung in Deutschland.38 Die Prämissen des Bundesverfassungsgerichts beinhalten daher eine Absage an ein monistisches Rechtsverständnis,39 welches eine Einheitlichkeit von supranationaler und nationaler Rechtsordnung vorsieht. Dies steht einer Harmonisierung der Rechtsordnungen durch die Anerkennung eines Einflusses des Unionsrechts auf das deutsche Recht nicht entgegen. So akzeptierte das Bundesverfassungsgericht das Erfordernis einer richtlinienkonformen Auslegung des deutschen Rechts.40 In diesem Sinne kann seine Position als eingeschränkter oder gemäßigter Dualismus bezeichnet werden.41 Zwischen klassischen völkerrechtlichen Verträgen und den europäischen Verträgen besteht insoweit kein Unterschied.42 Auch der Ultra-vires-Vorbehalt selbst wird europarechtsfreundlich ausgeübt.43 Unabhängig von prozessualen Fragen wird durch dieses dualistische Verständnis die Grundlage für die Überprüfung der Geltung von Unionsrecht durch mitgliedstaatliche Gerichte geschaffen. Bei einem monistischen Verständnis fehlt es an der Notwendigkeit einer fortwährenden Geltungsanordnung im nationalen Recht, an der Unionsakte zu messen sind. Eine Kompetenzüberschreitung könnte demnach kein Geltungsproblem, sondern allenfalls ein Wirksamkeits37 Beispielsweise P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 214, Rn. 161 f.; D. Grimm, Der Staat 48 (2009), 475 (480); A. Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (6); M. Ludwigs, NVwZ 2015, 537 (539). Trotz der Popularität des Ausdrucks, sollte mit Metaphern im Recht grundsätzlich kritisch umgegangen werden. Insbesondere sollte ihnen nicht ohne ausreichende Reflexion normativen Folgen entnommen werden, vgl. L. Münkler, Der Staat 55 (2016), 181 (207 ff.); J. H. Klement, JZ 2015, 754 (760). Extensiv ist der Gebrauch von Metaphern bei P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 214, Rn. 161 f., der weiter von „Kontrollhaus“, „Grenzverkehr“ und „Einbahnstraße“ spricht. 38 Unmittelbar trifft die Ultra-vires-Kontrolle daher auch nur eine Aussage über die Geltung in der deutschen Rechtsordnung, nicht aber über die Geltung in anderen Rechtsordnungen, V. Skouris, EuR 2021, 3 (25); ders., AnwBl Online 2021, 147 (149). 39 Grundlegend H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht. Ausdrücklich übernehmend BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 (Görgülü), BVerfGE 111, 307 (318). Eine Übersicht zu den Geltungs- und Anwendbarkeitstheorien findet sich z.B. bei P. Kunig/R. Uerpmann-Wittzack, Völkerrecht und staatliches Recht, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, S. 73, 92 ff. 40 BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 (Kloppenburg), BVerfGE 75, 223 (237 ff.). 41 M. Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 2. Grundlegend zum Völkerrecht in der deutschen Rechtsordnung BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 (Görgülü), BVerfGE 111, 307 (315 ff.). 42 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (347). 43 Ausdrücklich BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (303).
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Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts
problem aufwerfen. Auch hier wäre ein Streit der Höchstgerichte um die Letztentscheidungskompetenz vorstellbar,44 er würde jedoch auf einer anderen Ebene des materiellen Rechts stattfinden. Mit dem Dualismus steht und fällt deshalb zumindest die konkrete Herangehensweise des Bundesverfassungsgerichts.45 2. Kritik: Unmittelbare Geltung des Unionsrechts Nach der monistischen Gegenansicht ist eine Geltungsanordnung für das Unionsrecht im nationalen Recht entbehrlich, da es sich bei dem Unionsrecht um autonomes Recht handle.46 Es gelte aus sich heraus und sei von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängig – es bedürfe demnach keiner Rückführung auf nationale Akte. Diese Einschätzung entspringt der Vorstellung, die Mitgliedstaaten betrauten47 die Union in den Verträgen mit eigener, originärer Hoheitsgewalt. Die Verträge selbst beruhen zwar auf einer mitgliedstaatlichen Ratifikation – Hoheitsakte, die auf den so begründeten Kompetenzen fußen, bedürfen aber keiner fortwährenden staatlichen Geltungsanordnung mehr. Sie sind vom Ratifikationsgesetz losgelöst und allein an den Verträgen zu messen. Dieses Verständnis wird gemeinhin dem Gerichtshof zugeschrieben,48 obwohl dieser sich nie klar zum Geltungsgrund des Unionsrechts positioniert hat.49 Gestützt wird diese Einschätzung auf die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Costa/E.N.E.L.: Dort ging es um die Frage nach der Vereinbarkeit der Verstaatlichung des italienischen Energieversorgers E.N.E.L mit Vorschriften
44 So U. Hufeld, Anwendung des europäischen Rechts in Grenzen des Verfassungsrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 215, Rn. 5, nach dem der Streit um die gerichtliche Zuständigkeit im Konflikt um die Reichweite des gemeinsamen Rechts „nichts“ mit einem Dissens über den Geltungsgrund des Vorrangs zu tun hat. 45 Ein wesentlicher praktischer Unterschied dürfte darin bestehen, dass die Zulässigkeit des Ultra-vires-Vorbehalts nicht getrennt in zwei verschiedenen Systemen, sondern einheitlich betrachtet werden muss. 46 Zur Autonomie des Unionsrechts wohl erstmals EuGH, Urt. v. 05.02.1963 – C-26/62 (Van Gend en Loos), Slg. 1963, 3 (24 f.). Der Gerichtshof spricht von einer „neue[n] Rechtsordnung des Völkerrechts“, die dem Einzelnen unabhängig vom Recht der Mitgliedstaaten Rechte und Pflichten auferlegt. 47 Zu dem Begriff F. C. Mayer/M. Wendel, Die Verfassungsrechtlichen Grundlagen des Europarechts, in: Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Organisations- und Verfassungsrecht, § 4, Rn. 25. 48 So beispielsweise C. D. Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 1, Art. 24 GG, Rn. 17. 49 Kritisch daher U. Hufeld, Anwendung des europäischen Rechts in Grenzen des Verfassungsrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 215, Rn. 5, der das vermeintliche Bekenntnis zum Monismus lediglich als „überzeichnete“ Urteilsrezeption durch die Rechtswissenschaft ansieht. Im Ergebnis trägt der EuGH die Konsequenzen des dualistischen Konzepts des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Ultra-vires-Kontrolle jedenfalls nicht mit, unabhängig davon, ob Stellung im Streit um den Geltungsgrund des Unionsrechts bezogen wird.
A. Grundlagen: Der Ultra-vires-Akt im nationalen Recht
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des EWG-V. Diese Verstaatlichung des Energiebetreibers fand durch ein italienisches Gesetz statt, welches zeitlich nach dem Zustimmungsgesetz zum EWG-V erlassen wurde und in Kraft trat. Fraglich war also, ob das Unionsrecht der Wirksamkeit einer solchen nachträglichen Regelung im Weg steht. Nach dem Gerichtshof dürfe das Unionsrecht zur Gewährleistung seiner Ziele nicht von einer nachträglichen Willensbildung der Mitgliedstaaten abhängig sein. Deshalb sei es als autonome Ordnung anzusehen. Die Geltung der Verträge sei nur noch eine „eventuelle“, wenn jedem Staat das Recht auf eine einseitige Distanzierung zustünde.50 Die Verträge sähen diverse Einzelregelungen mit Abweichungsbefugnissen vor, die andernfalls redundant wären. Zuletzt spreche auch Art. 189 EWG-V (heute Art. 288 AEUV) mit der Formulierung, Verordnungen gelten „unmittelbar in jedem Mitgliedstaat“, für eine Unabhängigkeit der Unionsrechtsordnung. Auch wenn sich diese Äußerung im Sinne der Unabhängigkeit des Unionsrechts von mitgliedstaatlichen Geltungsanordnungen verstehen lassen, ist diese Interpretation keineswegs zwingend. Die statuierte Autonomie des Unionsrechts könnte sich umgekehrt gerade auch als Bekenntnis zum Dualismus mit getrennten Rechtsordnungen verstehen lassen. Zwar mag eine monistische Prämisse ein denkbarer Grund für die Irrelevanz späterer nationaler Gesetze sein, jedoch könnte man auch im dualistischen Weltbild zu diesem Ergebnis gelangen. Welchem Modell der Gerichtshof folgt und ob dieser sich überhaupt in dieser Frage festgelegt hat, lässt sich daher nicht mit Sicherheit klären.51 Es steht jedoch fest, dass er dem Bundesverfassungsgericht in der Frage um die Zulässigkeit der Ultra-vires-Kontrolle gerade nicht folgt.52 Er hält ausdrücklich fest, dass dem vom Vertrag geschaffenen Recht wegen seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können. Dies dürfte auch für die Grenzen des Zustimmungsgesetzes gelten. Selbst wenn hiermit kein Bekenntnis zum Monismus verbunden sein sollte, wird jedenfalls die zentrale Schlussfolgerung des Bundesverfassungsgerichts aus dessen Dualismus nicht mitgetragen. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Entscheidung Costa/E.N.E.L daher zu analysieren. Ihre zentralen Aussagen wurden nicht mithilfe der Rechtstheorie oder den nationalen Verfassungen begründet, sondern mittels Auslegung der Vertragsvorschriften.53 Auf diese Weise ist auch die Beantwortung der Frage nach der Autonomie des Unionsrechts von der Rechtsprechungskompetenz des EuGH nach Art. 19 Abs. 1 EUV umfasst. Zur Sicherung der nationalen Kom-
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EuGH, Urt. v. 15.07.1964 – C-6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1253 (1269). Dies gilt umso mehr, als auch das Verhältnis des Europarechts zum Völkerrecht noch keineswegs geklärt ist, siehe hierzu Schlussantrag zu EuGH, Urt. v. 13.01.2015 – C-401/12P (Vereniging Milieudefensie), ECLI:EU:C:2015:4, ECLI:EU:C:2014:310, Rn. 30 ff. 52 Siehe dazu 1. Kap., C I 2 e), S. 63. 53 K. Lenaerts, EuR 2015, 3 (12). Kritisch, weil dies die staatliche Tradition der EU „auf den Kopf“ stelle U. R. Haltern, NVwZ 2020, 817 (818). 51
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Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts
petenzen kommt den nationalen Gerichten in dieser Sichtweise lediglich die Aufgabe zu, über die Wirksamkeit des Vertragsbeitritts für ihren Staat zu entscheiden.54 Angesichts der in den mitgliedstaatlichen Verfassungen befindlichen Integrationsermächtigungen – für die Bundesrepublik Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG – ist der Spielraum für die Annahme der Unwirksamkeit allerdings eng begrenzt. In Deutschland ziehen nur Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG und vor allem Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 1, Art. 20 GG der Übertragung von Hoheitsrechten materielle Grenzen.55 Das Bundesverfassungsgericht könnte, schlösse es sich dieser Vorstellung an, Hoheitsübertragungen auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung prüfen und sie gegebenenfalls als (teil-)verfassungswidrig verwerfen. Dadurch wäre die weitere Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der Union infrage gestellt. Nicht überprüfbar wäre jedoch, ob in einem konkreten Fall tatsächlich eine Kompetenz überschritten wurde. Diese Vertragsauslegung war ohne jeden Zweifel wegweisend für die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft. Diese große Bedeutung korrespondiert jedoch nicht mit der knappen Urteilsbegründung. Insbesondere ging der EuGH nicht auf die nationalen Verfassungsbestimmungen und -traditionen ein.56 Angesichts der herausragenden Bedeutung des Urteils ist diese Auslassung bemerkenswert. Zumindest im Nachgang haben sich unter anderem die (Verfassungs-)Gerichte in Deutschland, Italien und Frankreich von der Sichtweise des EuGH distanziert und die Notwendigkeit und Bedeutung einer nationalen Geltungsanordnung betont.57 Gleichwohl gehen beispielsweise Belgien und Österreich unmittelbar von der zwischenstaatlichen Vereinbarung als Geltungsgrund des Unionsrechts aus.58 Anders als Teile der Literatur ließ der EuGH amtliche Erläuterungen der mitgliedstaatlichen Regierungen und Parlamente zu den Verträgen unberücksichtigt.59 Zum Zeitpunkt des Verfahrens hätten beispielsweise Stellungnahmen 54 Diese Option ansprechend: EuGH, Urt. v. 15.07.1964 – C-6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1253 (1270). Als gegenüber der Ultra-vires-Kontrolle vorzugswürdig bezeichnet J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 119 f. diese fortwährende Kontrolle der Zustimmungsgesetze. 55 Für Art. 79 Abs. 3 GG ist dies nicht unbestritten, ablehnend H. Sauer, EuR 2017, 186 (197). Im Gegensatz dazu spricht U. Hufeld, Anwendung des europäischen Rechts in Grenzen des Verfassungsrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 215, Rn. 66 von einem „kongenialen Maßstab“. 56 Der EuGH weist der Rechtsvergleichung bei der Auslegung des Primärrechts eine nur untergeordnete Rolle zu und legt Begriffe „unionsautonom“ aus, M. Pechstein/C. Drechsler, Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 7, Rn. 36 f. 57 Eine Übersicht der nationalen Rechtsprechungen findet sich bei C. D. Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 1, Art. 23 GG, 4a. 58 C. D. Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 1, Art. 23 GG, 4a. 59 Diese werden wohl grundsätzlich für unbeachtlich gehalten, vgl. M. Pechstein/C. Drechsler, Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 7, Rn. 33 m.w.N.
A. Grundlagen: Der Ultra-vires-Akt im nationalen Recht
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der ratifizierenden Organe einen Hinweis auf das nationale Vertragsverständnis und damit auf den Willen des historischen Normverfassers liefern können. In den Erläuterungen zum Ratifikationsgesetz des EWG-Vs fand sich zum Beispiel folgende Formulierung: „Der Vertrag ruft […] ein europäisches Gebilde verfassungsrechtlicher Gattung ins Leben. Hoheitsfunktionen auf dem Gebiet der Wirtschaft werden aus der Zuständigkeit der Vertragsstaaten ausgegliedert und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft übertragen.“60
Im Ergebnis können derartige Erläuterungen jedoch keinen maßgeblichen Einfluss auf die Auslegung der Verträge haben. Sie werden einseitig von den mitgliedstaatlichen Organen verfasst und können daher Positionen beinhalten, die im Vertragstext selbst auf nationaler oder supranationaler Ebene nicht mehrheitsfähig gewesen wären. Ihre Relevanz für die Auslegung ist daher geringer zu bemessen, als dies bei Gesetzeserwägungen im rein nationalen Kontext61 der Fall ist.62 3. Einordnung Der wesentliche Unterschied in der Begründungsstruktur der Gerichte ist der unterschiedliche Ansatzpunkt. Der EuGH beruft sich in seiner Begründung auf die Verträge, während das Bundesverfassungsgericht vom nationalen Recht ausgehend argumentiert. Aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts ist eine unmittelbare Geltung von Sekundärrechtsakten ohne Rekurs auf das Ratifikationsgesetz, unabhängig vom Wortlaut der Verträge, ausgeschlossen.63 Eine den Verträgen vorausgehende Frage nach dem Geltungsgrund kann nicht durch die Verträge geklärt werden. Auf die vom EuGH getroffenen Ausführungen kommt es demnach nicht mehr an.
60 BT-Drs. 2/3340, S. 108, Hervorhebung durch den Verfasser. So sieht C. D. Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 1, Art. 24 GG, Rn. 17 hierin eine „ausdrückliche“ Akzeptanz der konstituierenden Funktion der Verträge und damit des Monismus. Nach hier vertretener Auffassung geht diese Interpretation aber zu weit. Eine abweichende Gestaltung einer in ständiger Rechtsprechung vom Bundesverfassungsgericht angenommenen Rechtslage hätte transparenter zu erfolgen. Zudem ist fraglich, wie das einfache Gesetz diese verfassungsrechtliche Fragestellung beeinflussen soll. 61 Auch dort ist eine Interpretation anhand der Gesetzesmaterialen kritisch zu hinterfragen. Siehe deutlich BGH, Beschl. v. 19.04.2012 – I ZB 80/11 (Filesharing), BGHZ 195, 257 (Rn. 34): „die vorrangig am objektiven Sinn und Zweck des Gesetzes zu orientierende Auslegung kann nicht durch Motive gebunden werden, die im Gesetzgebungsverfahren dargelegt wurden, im Gesetzeswortlaut aber keinen Ausdruck gefunden haben.“ 62 Siehe differenzierend zur Relevanz von Gesetzgebungsmaterialien im für die Auslegung des Unionsrechts: C. Höpfner/B. Rüthers, AcP 209 (2009), 1 (13 ff.). 63 So BVerfG, Beschl. v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 (Solange II), BVerfGE 79, 339 (375). Treffend hierzu P. Kirchhof, NJW 2020, 2057 (Rn. 2): „Die Kompetenz, Recht zu setzen, kann nicht aus dem Anwendungsanspruch des gesetzten Rechts beantwortet werden.“
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Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts
Vom Standpunkt des EuGH aus stellt sich die Frage nach dem verfassungsrechtlichen Charakter der Zustimmungsgesetze nicht.64 Diese haben ihre die Union konstituierende Funktion erfüllt und entfalten im Anschluss keine Wirkungen mehr. Aus seiner Sicht ist die Frage nach dem Geltungsgrund des Unionsrechts anhand der Verträge zu beurteilen. Eine Entscheidung des EuGH, in deren Rahmen er den Geltungsgrund des Unionsrechts am Maßstab der Vorschriften der nationalen Verfassungen beurteilt, würde sein Mandat aus Art. 19 Abs. 1 EUV überschreiten.65 Legt man die dualistische Betrachtungsweise zu Grunde, so ergibt sich folgendes Bild: Der EuGH kann als höchster Interpret für das europäische Recht von der unmittelbaren Wirkung unionaler Hoheitsakte in den Mitgliedstaaten ausgehen. Dieses Verständnis ist dann bei der Anwendung des europäischen Rechts maßgeblich. Er kann allerdings keine Aussage über den normativen Gehalt des Grundgesetzes und über den rechtlichen Charakter von Hoheitsübertragungen im deutschen Recht treffen. Seine Entscheidungsgewalt beschränkt sich auf die Feststellung einer unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts für die Mitgliedstaaten. Spiegelbildlich kann das Bundesverfassungsgericht die Frage nach dem Geltungsgrund des Unionsrechts anhand des deutschen Verfassungsrechts verbindlich beantworten. Die Unionsrechtsordnung bleibt von dieser Entscheidung unberührt. Dies ist auch insoweit konsequent, als die Gerichte der Mitgliedstaaten verschiedene Auffassungen in dieser Frage vertreten. Die beiden grundsätzlichen Standpunkte der Gerichte sind nicht miteinander vereinbar. Aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus sind beide Positionen jedoch logisch nicht angreifbar.66 Wer demnach dualistisch von einer Eigenständigkeit der Rechtsordnungen ausgeht, muss auch in Kauf nehmen, dass zwischen den obersten Interpreten keine Einigkeit hinsichtlich des Geltungsgrunds der supranationalen Ordnung besteht. Die Möglichkeit divergierender Rechtslagen ist eine Eigenart des dualistischen Systems.67 Diese Uneinigkeit kann sich auch auf der vorgelagerten Geltungsebene zeigen.68 Sicherlich kann der dem bundesver-
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So wohl auch U. Hufeld, Anwendung des europäischen Rechts in Grenzen des Verfassungsrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 215, Rn. 5, der die Ausführungen des EuGH als „voraussetzungsvoll europarechtlich“ bezeichnet. 65 Auch ein allgemeiner Rechtsgrundsatz lässt sich aus den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht herleiten, da gerade keine Einigkeit hinsichtlich der Geltungskonzeption besteht. 66 D. Grimm, AnwBl Online 2021, 150 (150); M. Polzin, AöR 246 (2021), 1 (15). Ähnlich A. Lang, Der Staat (69) 2021, 99 (106). 67 Von einer „Behauptung der Souveränität im Völkerrecht und gegen das Völkerrecht“ spricht hinsichtlich des Dualismus H. Heller, Die Souveränität, S. 155. Hervorhebung durch den Verfasser. 68 Anders natürlich aus monistischer Sicht. Aus dieser Perspektive handelt es sich hier um einen aufzulösenden Normkonflikt.
A. Grundlagen: Der Ultra-vires-Akt im nationalen Recht
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fassungsgerichtlichen Verständnis zugrundeliegende Dualismus kritisiert werden.69 Innerhalb dieses Systems begründet der Ultra-vires-Vorbehalt jedoch keine Inkohärenz.70
III. Ausblick Die geltungstheoretischen Grundannahmen des Bundesverfassungsgerichts bilden den Rahmen für die weiteren Betrachtungen. Aus ihnen allein folgt noch keine Dogmatik der Kontrolle – jedoch lassen sich bereits erste Schlüsse auf ihre Gestalt ziehen. Indem das Zustimmungsgesetz zum Maßstab europäischen Handelns erhoben wird, werden in der Sache die Verträge zur Richtschnur der Prüfung. Damit kann das europäische Primärrecht, anders als bei der Identitätskontrolle, selbst kein tauglicher Kontrollgegenstand sein, denn es entspricht gerade dem, was im Zustimmungsgesetz geregelt wurde.71 Jedes nachgelagerte Recht ist hingegen zunächst denkbarer Gegenstand einer Kontrolle. Irrelevant ist weiterhin, welches Organ einen unionalen Hoheitsakt erlassen hat. Beispielsweise entfalten auch Urteile des EuGH nur innerhalb des Integrationsprogramms Wirkungen für die Bundesrepublik. An dieser Stelle deutet sich auch ein mögliches Problem an: Der für den Vorbehalt grundlegende dualistische Ansatz birgt die Gefahr einer Asynchronität zwischen nationaler und europäischer Rechtsordnung.72 Das Auseinanderfallen der Rechtsordnungen muss sich nicht auf materielle Fragen oder auf den Geltungsgrund des Unionsrechts beschränken – es kann auch die Legitimität des Kontrollvorbehalts betreffen. Zwingende Argumente innerhalb einer Ordnung, welche für oder gegen die Zulässigkeit des Vorbehalts sprechen, schlagen nicht notwendigerweise auf die andere Ordnung durch. Die Zulässigkeit einer Kontrolle muss daher, gerade in der Logik des Bundesverfassungsgerichts, immer innerhalb eines bestimmten Bezugssystems betrachtet werden. Dadurch kann der Ultra-Vires-Vorbehalt zugleich verfassungsrechtlich geboten und unionsrechtlich verboten sein. Dies ist, wie später gezeigt wird, auch der Fall.73 Die Annahme 69
Hierzu beispielsweise C. Calliess, Staatsrecht III, S. 111 f.; V. Epping, Völkerrecht und nationales Recht, in: Heintschel von Heinegg/Epping (Hrsg.), Völkerrecht, S. 47, 51, die in den Regelungen des GG keine Entscheidung zugunsten einer Geltungstheorie sehen und diese Frage damit wohl der Rechtstheorie zuordnen. 70 Ebenso H. Sauer, ZRP 2009, 195 (196). 71 Einen Sonderfall stellen hier die Vertragsvorschriften dar, die durch Inanspruchnahme einer speziellen Brückenklausel geschaffen wurden. Diese benötigen im deutschen Recht kein Zustimmungsgesetz nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG, § 5 IntVG. Siehe auch BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (391 f.). 72 Nicht als „Mangel“, sondern als „Ausdruck einer Verfassungsstruktur, die Union und Mitgliedstaaten grundsätzlich angemessen ist“, solange Rücksichtnahme- und Kooperationspflichten geachtet werden, beurteilt diesen Dissens A. von Bogdandy, NJW 2010, 1 (4). 73 Siehe 1. Kap., C I 2 e), S. 63 zum unionsrechtlichen Verbot sowie 1. Kap., C II, S. 64 ff. zum verfassungsrechtlichen Gebot.
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Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts
eines Ultra-vires-Akts führt daher zu einer supranationalen Rechtskrise, dessen Konsequenzen noch herauszuarbeiten sind.74
B. Zwecke der Kontrolle Während bisher die theoretische Grundannahme für eine Prüfung dargestellt wurde, beschäftigt sich der folgende Abschnitt mit den Zwecken, die mit der Ultra-vires-Kontrolle verfolgt werden. Mit der Erklärung der Unanwendbarkeit eines Ultra-vires-Akts wird die Lösung eines konkreten rechtlichen Problems angestrebt. Die Leistungsfähigkeit der Kontrolle kann nur dann untersucht und gefördert werden, wenn der Zweck klar bestimmt ist.
I. Begriff des Zwecks Unter dem Zweck des Vorbehalts wird nachfolgend sein spezifisch rechtliches Ziel verstanden.75 Der Zweck ist die Antwort auf die Frage nach dem geschützten Rechtsgut.76 Hier stellen sich im Grundsatz dieselben Probleme wie bei der Bestimmung des Telos’ einer Gesetzesnorm. Zwecke lassen sich zum einen subjektiv aus der Sicht des Schöpfers ermitteln, zum anderen objektiv durch den Rechtsanwender mittels einer Betrachtung des Rechts selbst. Diese Pluralität der Zwecke gilt zunächst auch für ein Instrument wie den Ultra-vires-Vorbehalt. Eine Besonderheit besteht aber darin, dass das Bundesverfassungsgericht diesen selbst schuf77 und zudem sein einziger mit Autorität ausgestatteter Anwender in der deutschen Rechtsordnung ist. In ihm fallen also die Perspektiven des Schöpfers und des Rechtsanwenders zusammen. Wenn das Gericht dem Vorbehalt einen Zweck zuschreibt, so geschieht dies subjektiv-schöpferisch aufgrund einer von ihm erkannten objektiven Notwendigkeit. Soweit sich diese Arbeit also mit einer Deskription der Rechtsprechung beschäftigt, erübrigt sich die Trennung zwischen beiden Ebenen.
74
Siehe 3. Kap., A I 1, S. 191 ff. und A II 1, S. 228 ff.. Zum schillernden Begriff des Zwecks im Recht siehe aus neuerer Zeit T. Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaates. Grundlegend N. Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität. 76 In diesem Sinne klassisch R. Stammler, Rechtsphilosophie, S. 57: „Das setzen eines Gegenstandes, der zu bewirken ist. Ein solcher zu bewirkender Gegenstand heißt Zweck“. Ebenso die Verwendung bei J. H. Klement, Verantwortung, S. 15 Fn. 33. 77 Hier könnte entgegnet werden, die Ultra-vires-Kontrolle sei schlicht das Resultat des gewöhnlichen verfassungsrechtlichen Prüfungsauftrages des Bundesverfassungsgerichts – und insofern eine Schöpfung des Gesetzgebers. Dem ist zwar im Grundsatz zuzustimmen – die einzelnen Voraussetzungen, Tatbestandsmerkmale und eben die Zwecke sind aber unbestritten erst durch das Gericht selbst festgelegt worden. 75
B. Zwecke der Kontrolle
27
Anders als der Gesetzgeber verfügt das Bundesverfassungsgericht dabei nur eingeschränkt über das Privileg zur Zielsetzung. Während die Legislative die Ziele ihrer Gesetze in den Grenzen des Verfassungsrechts frei bestimmen kann, ist das Bundesverfassungsgericht durch den vorgegebenen Normtext in seiner Gestaltungsfreiheit begrenzt. Zudem vermag das Bundesverfassungsgericht Zwecke auch nicht mit legislativer Autorität zu bestimmen. Bei seinen Entscheidungen vertritt es nur einen von vielen denkbaren juristischen Standpunkten. Seiner Zweckschöpfung kann daher eine abweichende Rechtsauffassung entgegengehalten werden. In diese Sinne versteht sich der nachfolgende Abschnitt als kritische Analyse der vorgenommenen Zwecksetzung.
II. Zwecke im Einzelnen Das Bundesverfassungsgericht definiert den Zweck des Vorbehalts nicht eindeutig: Hob es zunächst noch den Gesichtspunkt der Wahrung der Souveränität der Bundesrepublik hervor,78 rückte es später den Schutz der Demokratie in den Vordergrund seiner Argumentation.79 Zudem wurde dem Instrument auch eine rechtsstaatsdienende Wirkung zugesprochen.80 Es ist also zu klären, in welchem Verhältnis diese Zwecke stehen und zu zeigen, welche konkreten Vorstellungen ihnen zu Grunde liegen. 1. Wahrung der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Betrachtet man die Presseberichterstattung zu den einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, so scheint der Sinn des Ultra-vires-Vorbehalts eindeutig: Die Behauptung der Eigenständigkeit der Bundesrepublik gegenüber der EU.81 Die Kontrolle soll die Unantastbarkeit der nationalen Kompetenzen
78
BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 (Kloppenburg), BVerfGE 75, 223 (242). BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 145) 80 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 152). Siehe auch die kurze Darstellung bei M. Krismann, Die Entwicklung der Ultravires-Kontrolle, in: Müller/Dittrich (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 6, S. 429, 434 ff. 81 B. Kappeler, Mit der EU kann es keine paritätische Schlichtung geben. Das oberste EUGericht hat immer Vorrang, NZZ am Sonntag v. 14.07.2018; D. Grimm, Die große Karlsruher Verschiebung, FAZ v. 09.09.2010, S. 8; A. Thiele, Karlsruhes souveräne Entscheidung, LTO v. 31.08.2010, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/der-mangold-beschlu ss-karlsruhes-souveraene-entscheidung/ (zuletzt geprüft am 20.04.2023); R. Herzog/L. Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ v. 08.09.2008, S. 8; Unbekannter Autor, Karlsruhe und die Grenzen des Grundgesetzes – Urteil zu den Euro-Hilfen, abrufbar unter htt ps://www.cicero.de/innenpolitik/bundesverfassungsgericht-genehmigt-eurorettung-grieche nland-/42907 (zuletzt geprüft am 20.04.2023). Ebenso, allerdings in der Sache kritisch R. Sangi, Was verbindet, SZ v. 05.12.2019, S. 9 79
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Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts
um ihrer selbst willen sicherstellen. In der juristischen Literatur wird dieser Aspekt vor allem von Befürwortern einer strengen Kontrolle betont.82 a) Entwicklungsgeschichte Das Bundesverfassungsgericht selbst jedoch hielt sich diesbezüglich zunächst vergleichsweise bedeckt. In den frühen Entscheidungen zur Kontrolle europäischer Akte anhand des nationalen Rechts spielte die Souveränität der Bundesrepublik – wohl auch aufgrund der konkreten Fallkonstellationen – keine Rolle.83 Im Rahmen des Kloppenburg-Beschlusses änderte sich dies zu einem gewissen Grade. Bei dem Verfahren handelte es sich um eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Bundesfinanzhofs, der zu Lasten der Beschwerdeführerin eine Umsatzsteuerpflichtigkeit ihrer Umsätze aus Kreditvermittlungsgeschäften annahm.84 Diese Annahme widersprach, insoweit unstreitig, Art. 13 Teil B Buchst. d der 6. Umsatzsteuerrichtlinie 77/388/EWG, die allerdings von der Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt – fristwidrig – nicht umgesetzt war. Auf eine Vorlage der Vorinstanz hin entschied der EuGH, Art. 13 genieße unmittelbare Anwendbarkeit im deutschen Recht.85 Dieses Urteil hielt der Bundesfinanzhof allerdings aufgrund mangelnder Entscheidungskompetenz des EuGH für ultra vires und verwarf es kurzerhand selbst – ohne erneute Vorlage an den EuGH und ohne vorherige Befassung des Bundesverfassungsgerichts. Das Bundesverfassungsgericht entschied, der Bundesfinanzhof sei vor einer Verwerfung des Urteils zu einer erneuten Vorlage an den Gerichtshof verpflichtet gewesen.86 In diesem Rahmen hätten die Bedenken gegen die Anwendbarkeit der 6. Umsatzsteuerrichtlinie vorgetragen werden müssen, um dem EuGH damit 82 Z.B. U. Hufeld, Anwendung des europäischen Rechts in Grenzen des Verfassungsrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 215, Rn. 57; P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 214, Rn. 63; D. Grimm, Der Staat 48 (2009), 475 (476). Im Zentrum aller Erwägungen steht die Souveränität bei K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 479 ff., laut es sich bei der Judikatur des EuGH gar um „Fremdherrschaft“ handelt, siehe S. 490. 83 So finden sich in den Entscheidungen BVerfG, Beschl. v. 18.10.1967 – 1 BvR 248/63 (EWG-Verordnungen), BVerfGE 22, 293; BVerfG, Beschl. v. 29.05.1974 – BvL 52/71 (Solange I), BVerfGE 37, 271; BVerfG, Beschl. v. 23.06.1981 – 2 BvR 1107/77 (Eurocontrol I), BVerfGE 58, 1 keine Bezugnahmen auf Souveränitätsaspekte. Allgemein zur Entwicklungsgeschichte der Ultra-vires-Rechtsprechung siehe M. Krismann, Die Entwicklung der Ultravires-Kontrolle, in: Müller/Dittrich (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 6, S. 429, 440 ff. 84 BFH, Urt. v. 25.04.1985 – V R 123/84 (Umsatzsteuerpflicht für Kreditvermittlungen), juris. 85 EuGH, Urt. v. 22.04.1984 – C-70/83 (Kloppenburg/Finanzamt Leer), Slg. 1984, 1075 (1087). 86 Damit nimmt das Gericht wohl eine grundsätzliche Verwerfungskompetenz des Bundesfinanzhofs an. Dies steht im Widerspruch zur späteren Rechtsprechung, siehe hierzu 2. Kap., C I, S. 129 ff.
B. Zwecke der Kontrolle
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die Möglichkeit einer Stellungnahme zu eröffnen.87 Mit dieser Feststellung hätte es das Bundesverfassungsgericht bewenden lassen können. Stattdessen äußerte es sich selbst zur Vertretbarkeit der EuGH-Entscheidung und nahm somit, ohne sie als solche zu bezeichnen, die erste Ultra-vires-Kontrolle vor.88 In diesem Rahmen wurde die unmittelbare Anwendung der Richtlinie für unbedenklich gehalten. Innerhalb der Kontrolle wird die Souveränität der Bundesrepublik kaum ausdrücklich thematisiert. Die Unwirksamkeit ausbrechender Akte wurde vielmehr aus der fehlenden Kompetenz-Kompetenz der Union abgeleitet.89 Ein Zusammenhang zwischen dieser und dem Gedanken staatlicher Souveränität wird nur kurz angedeutet. „Der Gemeinschaft ist durch den EWG-V nicht eine Rechtsprechungsgewalt zur unbegrenzten Kompetenzerweiterung übertragen worden. Die Gemeinschaft ist kein souveräner Staat im Sinne des Völkerrechts, dem eine Kompetenzkompetenz über innere Angelegenheiten zukäme. Auf sie ist weder die territoriale Souveränität noch die Gebiets- und Personalhoheit der Mitgliedstaaten übertragen worden.“90
Dem lässt sich Zweierlei entnehmen: Erstens handelt es sich bei der fehlerhaften richterlichen Inanspruchnahme von Kompetenzen um eine Herausforderung der Kompetenz-Kompetenz. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass es sich hierbei zunächst um ein Konzept für die legislative Rechtserzeugung von Kompetenznormen im Bundesstaat handelt.91 Zweitens wird die Kompetenz-Kompetenz als Ausfluss der Souveränität verstanden,92 welche nur den Mitgliedstaaten, nicht aber der Union zukomme.93 Dabei wird das Verhältnis von Souveränität und 87
BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 (Kloppenburg), BVerfGE 75, 223 (245). Anders wohl R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 36, der lediglich von einer Andeutung der Kontrolle spricht. 89 BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 (Kloppenburg), BVerfGE 75, 223 (240 f.). Fundamental anders hier I. Pernice, VVDStRL 60 (2001), 148 (186 f.), der die KompetenzKompetenz als „Relikt überholten Souveränitätsdenkens“ versteht – und damit einen Zusammenhang zwischen beiden Begriffen impliziert. 90 BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 (Kloppenburg), BVerfGE 75, 223 (242). Dortige Verweise vom Verfasser entfernt. 91 Siehe hierzu F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, S. 28 ff. mit Verweis auf P. Lerche, »Kompetenz-Kompetenz« und das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Ipsen/Rengeling/Mössner/Weber (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, S. 409, 409: Soweit im Zusammenhang mit der Ultra-vires-Kontrolle von Kompetenz-Kompetenz gesprochen wird, reduziert sich diese auf den Aspekt der gerichtlichen Letztentscheidungsbefugnis in Kompetenzfragen. 92 Siehe hierzu auch L.-K. Mannefeld, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die europäische Integration, S. 141. 93 Von einer Beschränkung der Kompetenz-Kompetenz durch Kompetenzübertragung auf die Union spricht H.-P. Ipsen, EuR 1987, 195 (202) wohl wegen der fehlenden Möglichkeit zur einseitigen vertragskonformen Kompetenzrückführung durch den Mitgliedstaat. Gänzlich die Existenz einer Kompetenz-Kompetenz im Verhältnis Union-Mitgliedstaaten ablehnend J. A. Frowein, EuR 1995, 315 (319), der auch die Souveränität hier für ein nicht tragfähiges Konzept hält. Für völlig ungeeignet hält T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (30) den 88
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Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts
Kompetenz-Kompetenz aber nicht weiter beleuchtet. Beispielsweise wird nicht klar, ob die Souveränität einen über die Kompetenz-Kompetenz hinausgehenden Gehalt haben soll. Diese Unklarheit hat jedoch keine Folgen, da mit dem Begriff Souveränität nicht operiert wird. Insbesondere werden aus ihm keine Maßstäbe für die Kontrolle hergeleitet. Ebenso fehlt es an einer weitergehenden Bestimmung dessen, was unter Souveränität verstanden wird. Dem Beschluss liegt also primär ein formal-geltungsbezogener Ansatz zu Grunde: Entscheidungen des Gerichtshofs – als ein Beispiel für einen Unionsakt – entfalten nur innerhalb des vom Zustimmungsgesetz gesetzten Integrationsprogramms Wirkung.94 In der Maastricht-Entscheidung wird die Bedeutung der Souveränität gestärkt. Dies kann wohl auf die fortschreitende Integration zurückgeführt werden, die ein höheres Bedürfnis zur Behauptung der eigenen Staatlichkeit auslöste. Zusätzlich dürfte aber auch der größer werdende Abstand zur Besatzungszeit sowie die Wiedererlangung der vollen völkerrechtlichen Souveränität im Rahmen der Wiedervereinigung eine Rolle gespielt haben.95 In dem Verfahren hatte das Bundesverfassungsgericht zuvorderst über die Beteiligung der Bundesrepublik an der Gründung der EU durch das Umsetzungsgesetz zu den Europäischen Verträgen zu entscheiden. Es handelte sich also nicht um ein Verfahren mit dem Inhalt einer Ultra-vires-Kontrolle. Durch die ausführliche Befassung mit der Kompetenz-Kompetenz lassen sich aber Erkenntnisse für diese gewinnen. Die Verfassungsbeschwerde stützte sich auf eine behauptete Verletzung des Wahlrechts aus Art. 38 Abs. 1 GG. Dadurch lag ein Schwerpunkt der gerichtlichen Ausführungen auf dem Gebiet der Mitwirkung an demokratisch legitimierter Staatsgewalt. Dabei nutzte das Bundesverfassungsgericht die Gelegenheit, um zum grundsätzlichen Verhältnis von Union und Mitgliedstaaten Stellung zu beziehen. Die Union sei ein Staatenverbund96 bestehend aus souveränen Staaten, die ihre Souveränität gemeinsam ausübten.97 Der Unionsvertrag nehme dementsprechend auf die „Unabhängigkeit und Souveränität“ der Mitgliedstaaten Bedacht, indem er „die Union und die Europäischen Gemeinschaften nach dem Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit nur mit bestimmten Kompetenzen und Befugnissen ausstattet“.98 Hier, ebenso wie im Kloppenburg-Beschluss, finVerweis auf die Vertragsherrschaft der Mitgliedstaaten, da diese nicht dem einzelnen Mitglied, sondern nur allen gemeinsam zustehe. Diese Ansicht erklärt aber nicht, warum bei der Frage der bisher übertragenen Kompetenzen die Zustimmung des einzelnen Mitglieds keine conditio sine qua non für seine Bindung sein soll. 94 BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 (Kloppenburg), BVerfGE 75, 223 (235). 95 Zu diesen Aspekten des Zwei-plus-Vier-Vertrages C. Raap, BayVBl. 1992, 11–12; W. Fiedler, JZ 1991, 685–692 (687). 96 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (181). Zur Staatlichkeit der Union und ihrer Mitglieder siehe H. Hestermeyer, Eigenständigkeit und Homogenität in föderalen Systemen, S. 131. 97 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (188 f.). 98 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (189).
B. Zwecke der Kontrolle
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det sich also die Vorstellung, eine Verlagerung der Kompetenz-Kompetenz widerspräche staatlicher Souveränität. Die Prüfung zum Verbleib der KompetenzKompetenz bei den Mitgliedstaaten war in der Folge aufgrund konkreter Besorgnis sehr ausführlich. Art. F Abs. 3 EUV a.F. enthielt eine Bestimmung, wonach sich die Union mit den Mitteln ausstatte, die zum Erreichen ihrer Ziele und zur Durchführung ihrer Politiken erforderlich sind. Diese Norm stand in Verdacht, als Generalklausel nahezu unbegrenzte Kompetenzen zu begründen. Sie rief also die Sorge einer Kompetenzanmaßung unter Anwendung des bestehenden Normtexts hervor. Daher war dort, wie auch Rahmen von Ultra-viresKontrollen, nicht die Kompetenz-Kompetenz im klassischen Sinn betroffen: Es bestand fraglos nicht die Möglichkeit zur selbständigen Erweiterung des Katalogs der geschriebenen Ermächtigungen auf Unionsseite. Das Ergebnis – die mögliche Fähigkeit von Unionsorganen, vorher nicht bestimmte Befugnisse in Anspruch zu nehmen – ist in beiden Fällen freilich identisch.99 Das Bundesverfassungsgericht kam vorliegend jedoch zu dem Schluss, Art. F Abs. 3 EUV enthalte offensichtlich keine Kompetenzen, sondern es handle sich vielmehr um einen politischen Programmsatz.100 Während die Maastricht-Entscheidung weiteren Aufschluss über das verfassungsgerichtliche Verständnis von der Kompetenz-Kompetenz gibt, stellt die Lissabon-Entscheidung zunehmend den Ausdruck Souveränität ins Zentrum.101 Ob hiermit eine inhaltliche Veränderung einhergeht und wie diese bejahendenfalls aussieht, bleibt unklar. Es wurde zunächst festgestellt, dass das Grundgesetz nicht nur die völkerrechtliche Souveränität der Bundesrepublik voraussetze, sondern diese auch selbst garantiere.102 Zwar finde sich keine Norm, die dies ausdrücklich vorsehe; der Entscheidung des pouvoirs constituant, sich im Staatsgebilde der Bundesrepublik Deutschland zusammenzuschließen, lasse sich eine derartige Regelung aber entnehmen.103 Die völkerrechtliche Souveränität der Bundesrepublik sei 99 Daher wird teils auch von „faktischer Kompetenz-Kompetenz“ gesprochen, siehe z.B. U. Di Fabio, Der Staat 32 (1993), 191 (197); F. Ossenbühl, DVBl 1993, 629 (632). 100 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (194 ff.). 101 Laut Zählung von C. O. Lenz, Die Karlsruher Richter auf einem Irrweg, FAZ v. 08.08.2009, S. 7 bezog sich das Gericht im Urteil 33-mal auf die Souveränität der Bundesrepublik. Zur Bedeutung der Souveränität als Leitidee der Entscheidung W. Kahl, Das Souveränitätsverständnis des Bundesverfassungsgerichts im Spiegel von dessen neuerer Rechtsprechung, in: Calliess/Kahl/Schmalenbach (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und soziale Rechte in der Europäischen Union, S. 23. Kritisch zur Gewichtung gegenüber der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes J. Schwarze, EuR 2010, 108 (110). 102 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (343, 347). Mit der Aufwertung der Souveränität zum Verfassungsgut reihe sich das Gericht in eine europäische Rechtstradition sein, siehe W. Kahl, Das Souveränitätsverständnis des Bundesverfassungsgerichts im Spiegel von dessen neuerer Rechtsprechung, in: Calliess/Kahl/Schmalenbach (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und soziale Rechte in der Europäischen Union, S. 23, 31 m.w.N.; siehe auch C. Möllers, Staat als Argument, S. 382. 103 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (343).
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Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts
also ein Ausfluss der Volkssouveränität und daher auch im Demokratieprinzip verankert.104 Die staatliche Souveränität wird dadurch auch von der Ewigkeitsgarantie nach Art. 79 Abs. 3 GG umfasst. Ausdrücklich befasste sich das Gericht im Folgenden mit dem Souveränitätsverständnis des Grundgesetzes. „Das Grundgesetz löst sich von einer selbstgenügsamen und selbstherrlichen Vorstellung souveräner Staatlichkeit und kehrt zu einer Sicht auf die Einzelstaatsgewalt zurück, die Souveränität als ,völkerrechtlich geordnete und gebundene Freiheit‘ auffasst.“105
Weiter stünde souveräne Staatlichkeit danach für einen befriedeten Raum und die darin gewährleistete Ordnung auf der Grundlage individueller Freiheit und kollektiver Selbstbestimmung.106 Insbesondere die Formulierung „souveräne Staatlichkeit steht“107 für etwas, lässt die Bedeutung der Souveränität im Unklaren. Es handelt sich offenbar nicht um eine Definition, sondern um eine Art Erwartungshaltung, die man an den souveränen Staat richten kann und richtet. Insofern lässt sich Souveränität hier wohl als Letztverantwortung des Staates für sein Staatsvolk verstehen, indem sich die Erwartungen des Bürgers in erster Linie an diesen richten.108 Das Grundgesetz ermächtige den Gesetzgeber zwar zu einer weitreichenden Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU. Die Ermächtigung stehe aber unter der Bedingung, dass dabei die souveräne Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage eines Integrationsprogramms nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gewahrt bliebe und die Mitgliedstaaten ihre Fähigkeit zu selbstverantwortlicher politischer und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht verlören.109 Demnach wird eine Übertragung von Hoheitsrechten zwar nicht als das Ende, aber doch als Herausforderung der souveränen Verfassungsstaatlichkeit verstanden, indem sie die Fähigkeit zur politischen und rechtlichen Gestaltung einengt. Das verfassungsrechtliche Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist also deshalb notwendig, weil ansonsten die Letztverantwortung des Staates für sein Volk nicht mehr wirksam wahrgenommen werden könnte.110 Die 104
BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (357). BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (346). Gegen die Vorstellung, Souveränität sei traditionell als völlige Ungebundenheit verstanden worden P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 214, Rn. 106. 106 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (346). 107 Hervorhebung durch den Verfasser. 108 So jedenfalls auch das Verständnis von P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 214, Rn. 109 ff., dessen Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Bundesrepublik und Union für die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch aufgrund seiner Rolle als Berichterstatter in der Maastricht-Entscheidung prägend waren. Siehe hierzu U. R. Haltern, Europarecht, Rn. 1127. Äußerst kritisch zum Konzept der staatlichen Letztverantwortung C. Möllers, Staat als Argument, S. 404. 109 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (347). 110 Ebenso kann von einer Letztverantwortung nicht mehr gesprochen werden, wenn die 105
B. Zwecke der Kontrolle
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Kompetenz-Kompetenz wird demnach nicht synonym zur Souveränität gebraucht, sondern ist ihre Voraussetzung.111 In dieser Denkweise wird eine Letztverantwortung der Bundesrepublik verneint, wenn es im Entscheidungsbereich eines Unionsorgans liegt, welche Kompetenzen nunmehr auf supranationaler Ebene wahrgenommen werden können. Die Kompetenz-Kompetenz als Kernelement der nationalen Eigenstaatlichkeit ist unter der Geltung des Grundgesetzes daher nicht übertragbar.112 Ausdrücklich wird das Fortbestehen der Souveränität an der Existenz der Letztentscheidungsbefugnis über die europäische Kompetenzausübung festgemacht.113 Wo also der Kloppenburg-Beschluss und die Maastricht-Entscheidung noch vornehmlich formal argumentierten, materialisierte das Lissabon-Urteil die Einhaltung der Kompetenzordnung zu einer Voraussetzung für die Wahrung der Letztverantwortlichkeit der Bundesrepublik. Als Instrument zur Wahrung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung114 dient die Ultra-vires-Kontrolle der Souveränität der Bundesrepublik.115 In späteren Entscheidungen wurde dieser Aspekt der Souveränität nicht mehr in vergleichbarer Weise betont. Die aktuelle Ultra-vires-Judikatur stellt die Volkssouveränität als Ausprägung des Demokratieprinzips aus Art. 20 Abs. 1 und 2 GG anstelle der Staatssouveränität der Bundesrepublik in den Vordergrund.116 Dennoch taucht der Souveränitätsaspekt auch in den jüngeren Ent-
Menge der tatsächlich übertragenen Kompetenzen die Gestaltungskraft zu weit herabsetzt – dies ist jedoch für die verfassungsgerichtliche Identitätskontrolle relevant. 111 Zum Zusammenhang von Souveränität und Kompetenz-Kompetenz siehe auch K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 462 m.w.N. 112 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (349 f.). 113 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (399 f.) mit Verweis auf BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (188), wo der Bezug zur Souveränität aber nicht ausdrücklich hergestellt wird. Freilich ließe sich dies auch als dergestalt auslegen, dass eine Souveränitätsverletzung schon wegen der Existenz der Ultra-vires-Kontrolle nicht in Betracht komme, ein Zusammenhang zwischen Letztentscheidungsbefugnis und Souveränität deshalb nicht geprüft werden müsse. Angesichts des bereits nachgewiesenen Zusammenhangs von Kompetenz-Kompetenz und Souveränität ist dies jedoch fernliegend. 114 So deutlich BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (302), wo auf die Souveränität aber nicht mehr direkt Bezug genommen wird. 115 A.A. A. Kees, Grundlagen und Grenzen der europäischen Integration, in: Scheffczyk/ Wolter (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 4, S. 439, 452, der von einer „Verschleierung“ des eigentlichen Zwecks, der Wahrung demokratischer Legitimation, spricht. Nach hier vertretener Auffassung sollte die Urteilsbegründung jedoch ernst genommen werden. Dies steht einer abweichenden oder zusätzlichen Argumentation in späteren Entscheidungen nicht im Wege. 116 Siehe dazu 1. Kap., B II 2 a), S. 37 ff. Nachfolgend ist die Volkssouveränität daher auch nicht vom Begriff der Souveränität umfasst.
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Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts
scheidungen immer wieder auf. Im OMT-Beschluss117, und dem OMT-Urteil118 wurden die nationalen Kontrollvorbehalte unter anderem als Vorkehrungen zum Schutz der Grenzen der Übertragung von Souveränitätsrechten auf die EU bezeichnet. Im Urteil zur Bankenunion wurden im Rahmen einer Ultra-viresKontrolle die Grundsätze der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit als Ausfluss der staatlichen Souveränität begriffen.119 Angesichts dieser fortwährenden Bezugnahme auf die Souveränität kann von einer Abkehr von diesem Ansatz keine Rede sein.120 Die geringe Thematisierung lässt sich mit der erfolgten Begriffsklärung im Rahmen des Lissabon-Urteils erklären.121 Ebenso denkbar ist eine Annahme des Bundesverfassungsgerichts, das Konzept eigne sich zwar zur Begründung einer Kontrolle, nicht aber zur Maßstabsbildung. Wenn die Souveränität eine Kontrollmöglichkeit über die Reichweite der Kompetenzausübung gebietet, so ist damit noch nichts über den Inhalt der Kontrolle gesagt. b) Analyse Betrachtet man also den Souveränitätsbegriff des Bundesverfassungsgerichts, so ist aufgrund der dort vorhandenen ausdrücklichen Thematisierung zuvorderst die Lissabon-Entscheidung in den Blick zu nehmen. Unzweifelhaft handelt es sich bei dem Begriff der Souveränität um verfassungstheoretisch heikles Terrain.122 Die wissenschaftliche Befassung mit dem Begriff führte weniger zur Klä-
117 BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 30). Auffällig ist indes die abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff im Rahmen des OMT-Beschlusses. Anders als im Mehrheitsbeschluss nahm die Souveränität der Bundesrepublik in der abweichenden Meinung eine zentrale Position ein. Potenzielle Ultra-viresAkte wurden gar als Souveränitätsverletzung bezeichnet, BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 128). Angesichts der Nutzung des Ausdrucks „Souveränitätsübertragungen“, vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 121), wird die Souveränität möglicherweise als Synonym zur Kompetenz gebraucht. Anders aber BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (399). 118 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 142). 119 BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 186). Siehe grundsätzlich zur Ultra-vires-Kontrolle in diesem Urteil R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 72 ff. 120 Sogar weiterhin für den zentralen Zweck erachtend J. Dietze/M. Kellerbauer u.a., EuZW 2020, 525 (526); a.A. A. Kees, Grundlagen und Grenzen der europäischen Integration, in: Scheffczyk/Wolter (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 4, S. 439, 452. 121 Ebenso W. Kahl, Das Souveränitätsverständnis des Bundesverfassungsgerichts im Spiegel von dessen neuerer Rechtsprechung, in: Calliess/Kahl/Schmalenbach (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und soziale Rechte in der Europäischen Union, S. 23, 53 f. 122 Statt vieler: C. Hillgruber, Der Nationalstaat in der überstaatlichen Verflechtung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 32,
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rung seiner dogmatischen Tragfähigkeit, denn zur Zersplitterung des Diskurses.123 Die Standpunkte reichen von der Befürwortung einer völligen Aufgabe der Staatssouveränität als Rechtsbegriff124 über die Anerkennung einer Funktion nur für den Fall der Verfassungsgebung125, die Zuerkennung einer dogmatischen Fruchtbarkeit im verfassten Staat126 bis hin zu seiner Aufwertung zum zentralen Element im demokratischen Verfassungsstaat127. Ein Teil der Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen Positionen dürfte sich derweil auf die Begriffsunklarheit zurückführen lassen. Das Bundesverfassungsgericht umklammert mit „seiner“ Souveränität derweil die fundamentalen Rechte des Staates, die aus der Grundentscheidung des deutschen Volkes zum Zusammenleben im Staatsgebilde der Bundesrepublik Deutschland resultieren sollen. Die Volkssouveränität der Verfassungsgebung lebt dort in der Souveränität der Bundesrepublik fort. Damit sichert das Gericht nicht nur einen qualitativen Mindestbestand an Befugnissen ab,128 sondern schützt zur Sicherung der Grundentscheidung des Zusammenlebens im Staat auch die Befugnis zur Verteilung der Kompetenzen.129 Diese Verteilungsbefugnis kann nach Auffassung des Gerichts nicht im Akt der Hoheitsübertragung erschöpfen, sondern muss unter der Geltung des Grundgesetzes dauerhaft gesichert bleiben.130 Dies geschieht mittels der judikativen, letztverbindlichen Kompetenzkontrolle.
Rn. 50 ff. Von einem „schillernden“ Begriff sprechen C. Hillgruber, Der Nationalstaat in der überstaatlichen Verflechtung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 32, Rn. 46; W. Kahl, Das Souveränitätsverständnis des Bundesverfassungsgerichts im Spiegel von dessen neuerer Rechtsprechung, in: Calliess/Kahl/ Schmalenbach (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und soziale Rechte in der Europäischen Union, S. 23, 23. 123 D. Grimm, Souveränität, S. 99 ff. 124 Zentral bei H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, S. 288. Eher als politischen Kampfbegriff sieht ihn H. Zapf, Souveränität, in: Bahmer/Feifel/ Glock/Wagner (Hrsg.), Staatliche Souveränität im 21. Jahrhundert, S. 1, 10 f. 125 O. Lepsius, JöR 63 (2015), 63 (83). 126 P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 214, Rn. 105 ff.; L.-K. Mannefeld, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die europäische Integration, S. 140 ff.; C. Möllers, Staat als Argument, S. 376 ff. Ebenso, wie oben gezeigt, das Bundesverfassungsgericht selbst. 127 So K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 302, der den „Herrschaftslehren“ von der (Volks-)Souveränität unterstellt, eine Elitenherrschaft zu rechtfertigen. 128 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (359), siehe auch 2. Kap., D II 1, S. 176 f. Kritisch zur Auflistung konkreter Aufgabenfelder, die in der staatlichen Kompetenz verbleiben müssen C. Möllers, Staat als Argument, S. 390. 129 Zum einen abstrakt als legislative Kompetenz-Kompetenz und zum anderen bei der Kompetenzauslegung als judikative Kompetenz-Kompetenz. 130 So fasst U. Hufeld, Anwendung des europäischen Rechts in Grenzen des Verfassungsrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 215, Rn. 30 treffend zusammen: „Souverän ist, wer Herrschaft aufteilt; souverän bleibt, wer sich die Aufteilungsbefugnis vorbehält.“.
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Derweil ist nicht nur der Begriff der Souveränität umstritten, sondern auch seine Verwendung in Opposition zur europäischen Integration. Indem das Bundesverfassungsgericht aus der Souveränität Grenzen für die Integration der Bundesrepublik in der Union herleitet, erzeugt es ein polares Verhältnis. Dies wird teils kritisiert, da das Grundgesetz 1949 keinen souveränen deutschen Nationalstaat klassischer Prägung rekonstituiert habe.131 Angesichts der schlechten Erfahrungen Deutschlands mit diesem Modell im 20. Jahrhundert sei das Gegenmodell eines integrationsoffenen Staates konstitutionalisiert worden, der seine Souveränität mit den europäischen Nachbarn teilt. Dem ist jedoch zu entgegnen, dass eine unterstellte Teilung der Souveränität, unabhängig von dem konkreten Souveränitätsverständnis, noch nichts über den konkreten Modus der Teilung und insbesondere über die judikative Kompetenz-Kompetenz aussagt. Dennoch ist festzustellen, dass mit der Konstruktion eines polaren Verhältnisses die historische Entwicklung der deutschen Souveränität ins Gegenteil verkehrt wird: Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes genoss die Bundesrepublik gerade noch keine völkerrechtliche Souveränität. Diese musste erst schrittweise wiedererlangt werden, wofür die Einbringung in den europäischen Einigungsprozess politische Voraussetzung war.132 In Anbetracht der mittlerweile erlangten völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands ist das Modell der Synthese von Integration und Souveränität auf tatsächlicher Ebene jedoch nicht mehr aktuell. Die EU bietet keine Potenziale mehr für die Rückerlangung oder den Ausbau der deutschen Souveränität.133 Weder leidet die Bundesrepublik hier unter einem Defizit, noch muss sie über eine vertiefte Integration um Akzeptanz durch ihre Nachbarn werben.134 Zudem ist der gegenwärtige Stand der Integration derart vertieft, dass ein weiteres Zusammenwachsen mehr als zuvor ein Risiko für die Gestaltungsmacht der Mitgliedstaaten darstellt. Selbst wenn die Opposition von Integration und Souveränität von Verfassungs wegen jemals ausgeschlossen war,135 so ist sie dies jedenfalls heute nicht mehr. Obwohl in diesen frühen Entscheidungen der Fokus der Rechtsprechung noch auf der Staatssouveränität lag, wurde diese schon dort in Zusammenhang mit 131
T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (30). Siehe insbesondere den zehnten Absatz der Präambel des Vertrags über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (Zwei-plus-vier-Vertrag) vom 12.09.1990. Siehe vertiefend: T. Groß, EuR 2018, 387 (394 f.). 133 A.A. K. Hänsch, Wie viel Souveränität braucht die Europäische Union?, in: Bahmer/ Feifel/Glock/Wagner (Hrsg.), Staatliche Souveränität im 21. Jahrhundert, S. 15, 15, der in der Union ein kühnes Projekt sieht, nationale Souveränität durch Teilung zu retten. 134 Wohl anders K. A. Schachtschneider, Souveränität, S. 454 mit Verweis auf die Feindstaatklauseln der UN-Charta. Ein Austritt aus der Union könne gar einen Krieg nach sich ziehen, S. 462. 135 Auch dies ist wohl eher fernliegend. Auch wenn Integration eine politische Bedingung für die Rückerlangung der vollen Souveränität war, sagt dies noch nichts über das rechtliche Verhältnis beider Begriffe aus. 132
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dem Demokratieprinzip und der Volkssouveränität gebracht. Bereits in der Maastricht-Entscheidung wurde festgestellt, die EU als Verbund souverän bleibender Staaten erhalte ihre demokratische Legitimation vornehmlich durch die Repräsentation der Staatsvölker in den mitgliedstaatlichen Parlamenten.136 Die Union ist also, solange sie aus souveränen Mitgliedstaaten besteht und die Schwelle zum Bundesstaat nicht überschreitet, auf die Legitimation durch den Bundestag angewiesen. Aus der Souveränität der Bundesrepublik werden also Anforderungen an die Ausgestaltung der europäischen Demokratie hergeleitet. Umgekehrt wird auch das Demokratieprinzip als Begründung der grundgesetzlichen Garantie der Souveränität angeführt.137 Indem das Bundesverfassungsgericht zunächst aber die Souveränität als grundgesetzlich verankertes Schutzgut der Kontrolle ausmacht, bleibt der Demokratieaspekt vorerst nebensächlich.138 2. Schutz der Demokratie und Volkssouveränität Vielfach wird in den späteren Urteilen des Bundesverfassungsgerichts eine Wende vom souveränitätsbezogenen Kontrollansatz hin zu einem demokratiebezogenen Ansatz beobachtet.139 In der Tat finden sich in keiner der nachfolgenden Entscheidungen mehr grundsätzliche Ausführungen zur deutschen Souveränität und ihrer Betroffenheit bei Ultra-vires-Akten der Unionsgewalt. Dies ließe sich als schlichte Vermeidung von Wiederholungen qualifizieren, wäre nicht im selben Verhältnis die wachsende Thematisierung des Demokratiegrundsatzes zu beobachten. a) Entwicklungsgeschichte Die demokratische Legitimation der europäischen Hoheitsgewalt folgt nicht den aus dem innerstaatlichen Bereich bekannten Pfaden.140 Daher sahen sich das 136 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (184). Siehe auch C. Möllers, Staat als Argument, S. 405 ff. 137 Darauf hinweisend W. Kahl, Das Souveränitätsverständnis des Bundesverfassungsgerichts im Spiegel von dessen neuerer Rechtsprechung, in: Calliess/Kahl/Schmalenbach (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und soziale Rechte in der Europäischen Union, S. 23, 30 f., der allerdings teilweise zwischen „Souveränität“ und „souveräner Staatlichkeit“ inhaltlich trennt. 138 Zu den Einzelheiten des Verhältnisses von Demokratie und Staatssouveränität, siehe sogleich 1. Kap., B 2 b), S. 42 ff. 139 U. Hufeld, JVSR 2016/2017, 11 (37); H. Sauer, EuR 2017, 186 (Fn. 76), der von einem „formal-geltungsbezogenen Ansatz“ und einem materiell-legitimationsbezogenen Ansatz spricht. Vorliegend wird diese Terminologie nicht übernommen, da die Souveränität i.S.d. Bundesverfassungsgerichts ein eigenständiges Rechtsgut ist. A.A. A. Kees, Grundlagen und Grenzen der europäischen Integration, in: Scheffczyk/Wolter (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 4, S. 439, 452, der die Demokratie auch schon in früheren Entscheidungen als das Schutzgut identifiziert. 140 K.-P. Sommermann, Die gemeinsamen Werte der Union und der Mitgliedstaaten, in: Niedobitek (Hrsg.), Europarecht, § 3, S. 32 ff.; S. Oeter, Föderalismus und Demokratie, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 73, 97 ff.
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Bundesverfassungsgericht ebenso wie die juristische Forschung der Notwendigkeit für die Entwicklung eines europäischen Demokratiekonzepts ausgesetzt.141 Die Ultra-vires-Problematik stand dabei zunächst nicht im Vordergrund. Der Zusammenhang zwischen Ultra-vires-Akten und dem Demokratieprinzip lässt sich derweil nur in Anbetracht der Spezifika der europäischen Demokratie verstehen. Im Folgenden wird daher die Entwicklung des Demokratiebegriffs unter dem Gesichtspunkt der europäischen Integration knapp dargestellt. Traditionell wird Demokratie als formaler Zurechnungszusammenhang zwischen dem Volk und den Ausübenden der Hoheitsgewalt verstanden.142 Ausgehend vom Wahlakt bis zum staatlichen Handeln muss eine „ununterbrochene Kette demokratischer Legitimation“ bestehen.143 Dieser Zusammenhang muss, je nach Art der ausgeübten Hoheitsgewalt, höhere oder geringere Anforderungen an seine Qualität erfüllen. Während wesentliche Fragen des Zusammenlebens in der Gemeinschaft unmittelbar vom Parlament geklärt werden müssen, können sonstige Maßnahmen auch von den nur mittelbar legitimierten Exekutivorganen vorgenommen werden.144 Aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts muss auch die EU nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG demokratischen Grundsätzen genügen. Unbestritten ist dabei, dass die konkrete Ausgestaltung des Demokratieprinzips nicht umstandslos an den konkreten Ausprägungen des nationalen Demokratieprinzips gemessen werden kann.145 Die von der Verfassung angestrebte Verwirklichung einer europäischen Einigung wäre wohl unmöglich, dürfte die Bundesrepublik nur unter einer vollständigen Umsetzung des deutschen Demokratiemodells auf europäischer Ebene an einer Union mitwirken. Insofern muss der EU eine gewisse Eigenständigkeit bei der Ausgestaltung ihrer Demokratie zugestanden werden, bei der insbesondere die Besonderheiten ihrer supranationalen Verfasstheit berücksichtigt werden können.146 Als unabdingbarer Wesenskern des Demokratieprinzips lässt sich zweifellos das grundlegende Erfordernis einer formalen Zurechenbarkeit von Hoheitsakten
141 Zur Entwicklung des Demokratiekonzepts des Bundesverfassungsgerichts von Maastricht bis zum OMT-Vorlagebeschluss: J. H. Klement, ZG 29 (2014), 169. 142 Grundlegend, E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 24, siehe auch K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, S. 592 ff. 143 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 24, Rn. 16, unter Beteiligung von Böckenförde BVerfG, Beschl. v. 01.10.1987 – 2 BvR 1178 (Neue Heimat), BVerfGE 77, 1 (40). 144 BVerfG, Beschl. v. 09.05.1972 – 1 BvR 518/62 (Facharzt), BVerfGE 33, 125 (158 f.); BVerfG, Beschl. v. 21.12.1977 – 1 BvL 1/75 (Sexualkundeunterricht), BVerfGE 47, 46 (78 f.). 145 Ausdrücklich BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (344). 146 Siehe auch R. Scholz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 98 EGL. März 2022, Art. 23 GG, Rn. 74.
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zum Volk ausmachen. Diese wird für Unionsakte auf zwei Wegen hergestellt: Zum einen legitimiert sich die Union über die nationalen Vertreter im Europäischen Rat und dem Rat der Europäischen Union. Hier setzt sich die mittelbare Legitimation der nationalen Exekutiven fort. Der Ausgangspunkt bleibt der Wahlakt zum nationalen Parlament. Zum anderen fußt die Legitimation auf dem Europäischen Parlament, dessen Zusammensetzung durch einen eigenen, europäischen Wahlakt bestimmt wird.147 In der Maastricht-Entscheidung setzte sich das Bundesverfassungsgericht eingehend mit den Anforderungen des Grundgesetzes an die Ausgestaltung der europäischen Demokratie auseinander. Dabei unterschied das Gericht einerseits zwischen der demokratischen Legitimation der Union selbst und andererseits dem Einfluss der Union auf die Demokratie in der Bundesrepublik. So schließe das deutsche Demokratieprinzip zum Beispiel eine Übertragung von Hoheitsrechten auf die Union aus, die die Aufgaben des Bundestages und damit auch seine Repräsentationsfunktion entleere.148 Aus Sicht der Ultra-vires-Kontrolle ist derweil die Legitimation der Union selbst relevant, da es bei ihr nicht um die Grenzen der übertragbaren, sondern um die Grenzen der übertragenen Befugnisse geht. Das Bundesverfassungsgericht machte deutlich, dass schon beim damaligen Stand der Integration keine der beiden Legitimationssäulen allein ausreichend ist.149 Dennoch liegt der Fokus eindeutig auf der Legitimation durch die Mitgliedstaaten: Dem Europäischen Parlament wird lediglich eine ergänzende Funktion zugesprochen.150 Damit wird der Grundstein für eine legitimationsbezogene Begründung der Ultra-vires-Kontrolle gelegt: Wird der Zusammenhang zwischen dem deutschen Volk und dem europäischen Hoheitsakt unterbrochen, so fehlt es dem Akt an ausreichender demokratischer Legitimation. Die in der Maastricht-Entscheidung befindlichen Ausführungen zur demokratischen Legitimation der Hoheitsgewalt wurden schrittweise auf die Ultra-
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R. Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 GG, Rn. 24 ff. BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (185 ff., 172). Siehe auch BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (406). Auf eine gewandelte Argumentationsstruktur bei gleichem Ergebnis in der Lissabon-Entscheidung weist J. H. Klement, ZG 29 (2014), 169 (180) hin. Ablehnend zur Haltung des Gerichts H. Sauer, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum GG, 198. EGL. Mai 2019, Art. 24 BVerfGG, Rn. 188. 149 So heißt es in BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (185 f.), demokratische Legitimation erfolge „notwendig durch die Rückkoppelung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten“, aber auch „[b]ereits in der gegenwärtigen Phase der Entwicklung kommt der Legitimation durch das Europäische Parlament eine stützende Funktion zu […].“ Diese Bedeutung des Parlaments hat sich in Anbetracht der verstärkten Integration, v.a. durch den Vertrag von Lissabon und eine veränderte politische Realität noch verstärkt. 150 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (184). Von einer „primären“ Legitimation durch die nationalen Parlamente spricht T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (28). 148
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vires-Kontrolle bezogen. Ansätze lassen sich in der Entscheidung zum EFSF beobachten. In dem Verfahren ging es um die Vereinbarkeit des zur Griechenland-Hilfe ermächtigenden Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz und des den Euro-Rettungsschirm betreffenden Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus mit Art. 38 Abs. 1 GG. Der europarechtliche Rahmen war dabei durch Art. 123 bis 126, Art. 136 AEUV vorgegeben. Er bestand insbesondere im Verbot des unmittelbaren Erwerbs von Schuldtiteln öffentlicher Einrichtungen durch die EZB, dem Verbot der Haftungsübernahme (sog. Bail-out-Klausel) und den Stabilitätskriterien für eine tragfähige Haushaltswirtschaft. In diesen europäischen Regelungen wurden vom Gericht unionsrechtliche Sicherungsinstrumente zugunsten der „verfassungsrechtliche[n] Anforderungen des Demokratiegebots“ erblickt. Sie dienten ihrem Inhalt nach der Eigenständigkeit der nationalen Haushalte und deren grundsätzlicher Unabhängigkeit gegenüber finanzwirksamen Willensentscheidungen anderer Mitgliedstaaten durch die Vergemeinschaftung von Staatsschulden. Die Haushaltsautonomie sei derweil ein wichtiger Aspekt der Gestaltungsfähigkeit des Parlaments und mithin auch des Demokratiegrundsatzes selbst.151 Nur die „strikte Beachtung“ der Regeln gewährleiste deshalb eine hinreichende demokratische Legitimation der Unionshandlungen in Deutschland.152 Anders ausgedrückt: Schützt eine Regelung die demokratische Legitimation unionalen Handelns, folgt aus dem Verstoß gegen die Regelung ein Legitimationsdefizit. Dadurch wurden Konsequenzen aus dem in der Maastricht-Entscheidung entwickelten Demokratiekonzept gezogen, wonach die Kompetenzübertragung auf die Union die mitgliedstaatliche Demokratie gefährden könne. Wohl erstmals wurde aber der Zusammenhang zwischen der einzelnen Kompetenzüberschreitung und dem Demokratieprinzip geknüpft. Dieser Zusammenhang bestand indes nur aufgrund des konkreten Regelungsgehalts der betroffenen Normen. Im OMT-Verfahren wurde der Gewährleistungsgehalt von Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 erneut ausgedehnt. Nicht nur spezifisch die innerstaatliche Demokratie schützende Normen müssen im Hinblick auf das Demokratieprinzip eingehalten werden. Jede unionale Kompetenzüberschreitung unterläuft nun nach Dafürhalten des Gerichts den demokratischen Entscheidungsprozess.153 Diese objektive Dimension des Demokratieprinzips korrespondiert mit einer Erweiterung das „Rechts auf Demokratie“ des wahlberechtigten Bürgers.154 So findet sich bereits im Vorlagebeschluss die Aussage, der wahlberechtigte Bürger habe zur Sicherung seiner demokratischen Einflussmöglichkeit im Prozess der europäi151
BVerfG, Urt. v. 07.09.2011 – 2 BvR 987/10 (EFSF), BVerfGE 129, 124 (123 f.). BVerfG, Urt. v. 07.09.2011 – 2 BvR 987/10 (EFSF), BVerfGE 129, 124 (181). 153 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 135). 154 Dazu im Einzelnen 2. Kap., C III 2. 152
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schen Integration aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG grundsätzlich ein Recht darauf, dass eine Verlagerung von Hoheitsrechten nur in den dafür vorgesehenen Formen von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3, Art. 79 Abs. 2 GG geschieht.155 Im Urteil zu diesem Verfahren wird der Demokratiegrundsatz schließlich zum zentralen Schutzgut der Ultra-vires-Kontrolle ausgebaut. In den Mittelpunkt der Ausführungen stellt das Bundesverfassungsgericht den Begriff der Volkssouveränität. Der Bürger dürfe nur einer öffentlichen Gewalt ausgesetzt sein, die er auch legitimieren und beeinflussen kann.156 Dabei sei dies nicht nur von seinem Wahlrecht gewährleistet; vielmehr sei das grundsätzliche Recht auf politische Selbstbestimmung Ausfluss der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG.157 Die so verstandene Volkssouveränität sei eine Konkretisierung des Demokratieprinzips.158 In diesem Sinne verletzten auch kompetenzwidrige Hoheitsakte der Union dieses Recht des Einzelnen.159 Über mindestens 34 Randnummern hinweg entwickelt das Bundesverfassungsgericht den Ultra-vires-Vorbehalt und bestimmt dessen Verhältnis zur Identitätskontrolle.160 Es handelt sich dabei schon dem Umfang nach um eine Herleitung des Kontrollvorbehalts, die mit jener in der Lissabon-Entscheidung vergleichbar ist, ohne dass der Souveränitätsstrang in der Sache erneut aufgegriffen wird. Diese grundsätzlichen Ausführungen bildeten auch die Grundlage der Prüfung im PSPP-Urteil. Unter theoretischen Aspekten ist daher das OMT-Urteil heute die zentrale Entscheidung für die Ultra-vires-Kontrolle.
155 BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 53). 156 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 127). 157 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 135). 158 Der Begriff der Volkssouveränität stößt in dieser Verwendung auf heftige Kritik: So sei nach O. Lepsius, JöR 63 (2015), 63 (81) das Volk der Volkssouveränität von jenem des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, dem Wahlvolk, zu unterscheiden. Das Wahlvolk sei durch Gesetze bestimmt, während das Volk der Volkssouveränität allen Gesetzen logisch vorgelagert sei. Dementsprechend sei im verfassten Staat der Bezug auf die Volkssouveränität kritisch. Nach dem Bundesverfassungsgericht erschöpft sich aber die Volkssouveränität nicht im Akt der Verfassungsschöpfung, sondern wirkt auch im verfassten Staat weiter fort. Der Subjektwechsel wird demnach in Kauf genommen. In diesem Sinne auch D. Murswiek, JZ 2017, 53 (53): „Demokratie bedeutet Volkssouveränität, und Volkssouveränität bedeutet, dass das Volk die Legitimationsquelle für die gesamte Staatsgewalt ist.“ 159 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 145). 160 Zum Verhältnis zur Identitätskontrolle, 2. Kap., D II 1, S. 176 ff.
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b) Analyse Das Verständnis von der Kompetenzkontrolle als Schutzinstrument der Demokratie kann unter mehreren Gesichtspunkten kritisiert werden. Vor allem das zugrundeliegende Demokratieverständnis des Bundesverfassungsgerichts ist kritisch: Das Gericht stellt zur Begründung des Legitimationsmangels einer Kompetenzüberschreitung nicht darauf ab, dass dem Akt einer der beiden Legitimationsstränge fehle und deshalb der Zurechnungszusammenhang zwischen Hoheitsgewalt und Volk in der Summe zu schwach ausgeprägt sei.161 Dies wäre angesichts des großen Gewichts, das das Gericht dem mitgliedstaatlichen Legitimationsstrang beimisst,162 plausibel gewesen. Vielmehr wird der Weg über ein individuelles Recht des Bürgers gewählt, nach dem das von ihm legitimierte Parlament nicht außerhalb der gesetzlich vorgesehenen Formen seine Kompetenzen verlieren dürfe.163 Diese Aussage birgt völlig andere Implikationen: Das Demokratieprinzip wird zum Prinzip der spezifisch deutschen Demokratie. Es handelt sich nicht mehr um eine Aussage in der Tradition der Maastricht- und Lissabon-Rechtsprechung und bedarf daher genauerer Betrachtung. Traditionell wurde bei Unionsakten die Legitimationsvermittlung über nationale Stellen vor allem deshalb als erforderlich erachtet, weil die Union selbst nicht genug Legitimation biete.164 Die originäre Vermittlungsfähigkeit des Europäischen Parlaments genügte danach nicht den Ansprüchen an Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG. Die Legitimation über nationale Stellen war also erforderlich, um in der Summe ein bestimmtes Niveau der Zurechenbarkeit zum Volk sicherzustellen. Dieser Gedanke steht nicht mehr im Fokus der neueren Entscheidungen: Dort spielt es keine Rolle, ob die Union ihrerseits ausreichend demokratisch legitimiert ist.165 Allein entscheidend ist der Schutz der Kompetenzen des vom Bürger gewählten deutschen Parlaments. Selbst wenn die Union in Zukunft weitgehend direktdemokratisch aufgebaut und damit der originär europäische Legitimationszusammenhang stark ausgeprägt wäre, so läge bei ausbrechenden Rechtsakten noch immer ein Demokratiedefizit i.S.d. Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG
161 Unter diesem Gesichtspunkt stellt beispielsweise D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 333 ff. die Problematik dar. Siehe auch ebd. S. 344 f. 162 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (184). 163 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 81 f.). 164 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (380 f.). 165 J. Dietze/M. Kellerbauer u.a., EuZW 2020, 525 (526); F. Kainer, EuZW 2020, 533 (534); G. Krings, ZRP 2020, 160 (161); F. C. Mayer, EuR 2014, 473 (506 f.). Zu weit geht aber M. Tischendorf, Theorie und Wirklichkeit der Integrationsverantwortung deutscher Verfassungsorgane, S. 47 f., wenn er die Entscheidung als Abkehr von einem dualistischen Legitimationsprinzip interpretiert. Auch wenn das Gericht Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG als Grundsatz der deutschen Demokratie versteht, die sich in der Union fortsetzen muss, so verzichtet es damit nicht auf die originär europäische Legitimation der Unionsgewalt.
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vor. Dies führt zu beinah paradoxen Situationen: Das Demokratieprinzip (!) gebietet dann, dass das (europäische) Volk nicht über eine Frage außerhalb europäischer Kompetenzen abstimmen darf, sondern diese Frage vom deutschen Gesetzgeber behandelt werden muss.166 Unter Berufung auf Art. 20 Abs. 1 und 2, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 GG würde der Legitimationszusammenhang, als klassische Ausprägung des Demokratieprinzips, gerade geschwächt.167 Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes ist grundsätzlich offen für eine Repräsentation des deutschen Volkes durch Organe der Europäischen Union. Sollte die Union zukünftig in einer Art und Weise ausgestaltet sein, dass sie selbst in ausreichendem Maße demokratische Legitimation vermittelt und ist der deutsche Beitritt zu dieser Union rechtmäßig erfolgt, so würde die Kompetenzüberschreitung der Union zwar ein Souveränitätsproblem darstellen, jedoch nach hier vertretener Auffassung kein Demokratieproblem. Einstweilen aber ist dem Bundesverfassungsgericht zuzustimmen, dass der originäre Legitimationsstrang der Union noch nicht ausreicht, um für sich genommen ausreichende Legitimation herzustellen. Die Ultra-vires-Kontrolle sichert damit auch nach hier vertretener Auffassung die demokratische Legitimation der in Deutschland ausgeübten Hoheitsgewalt. Im Ergebnis zielt der Schutz der Demokratie und Volkssouveränität in der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts auf den Schutz der Verbandskompetenzen des deutschen Gesetzgebers. Seine europäische Kompetenz-Kompetenz wird zum unmittelbaren Ausfluss der nationalen Demokratie erklärt. Hierdurch wird die Volkssouveränität der Staatssouveränität weitgehend angenähert.168 Der verbleibende wesentliche Unterschied besteht in der Subjektivierbarkeit des Demokratieprinzips über Art. 38 Abs. 1 GG.169 In dieser Subjektivierung kann eine wesentliche Ursache für die heutige Betonung des Demokratieprinzips gesehen werden. Nur sie eröffnet die Möglichkeit der Individualverfassungsbeschwerde. Insofern sollte Betonung der Demokratie und Volkssouveränität primär als Antwort auf eine bestimmte verfassungsprozessuale Konstellation verstanden werden und nicht als Abschied von der bisherigen Fundierung der Kon-
166
Die Legitimationswirkung einer europäischen direktdemokratischen Entscheidung wird nicht dadurch geschwächt, dass das deutsche Volk überstimmt werden kann. Dieses Szenario droht auch den deutschen Vertretern im Rat. 167 Die hier vorgebrachte Kritik richtet sich nicht gegen die Annahme eines Mangels an demokratischer Legitimation von Ultra-vires-Akten. Abgelehnt wird nur eine solche Interpretation des Demokratieprinzips, die die Befugnisse des deutschen Gesetzgebers zum maßgeblichen Punkt erhebt. Kritisch auch hinsichtlich der demokratiebezogenen Folgen des Urteils A. Hatje, EuR – Beiheft 1 2010, 123. 168 Hierauf bereits vor der OMT-Entscheidung hinweisend: S. Oeter, Föderalismus und Demokratie, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 73, 97. So macht es auch in der Konzeption der Kontrolle keinen großen Unterschied, wenn der Rechtsanwender diese weiterhin ausschließlich als Instrument zum Schutz der Staatssouveränität begreift, siehe H.-G. Dederer, JZ 2014, 313 (315 f., 321). 169 Siehe im Einzelnen 2. Kap., C. IV 2, S. 154 ff.
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trolle in der (Staats-)Souveränität. Beide Begründungskonzepte stehen nebeneinander und wirken in dieselbe Richtung. Gerade deshalb dürfte jedoch auch in zukünftigen Entscheidungen eine Thematisierung der Souveränität weitestgehend obsolet sein. c) Berührung der Ewigkeitsgarantie? Neben dem grundsätzlichen Demokratieverständnis sind auch die konkreten Begriffe zu hinterfragen, mit denen das Bundesverfassungsgericht operiert. Eine Inanspruchnahme nicht vorhandener Kompetenzen durch die Union verletzte sowohl den Kern des Anspruchs auf Demokratie170 als auch den Kern der Volkssouveränität171. Sie stelle somit auch eine Verletzung der Menschenwürde des Einzelnen dar. Ein gewichtigeres Unwerturteil kann im deutschen Verfassungsrecht nicht ausgesprochen werden.172 Eine qualifizierte Kompetenzüberschreitung wird hier auf eine Stufe gestellt mit den krassesten Formen der Unrechtsherrschaft. Dies ist nicht nur im Hinblick auf eine Bagatellisierung des Art. 1 Abs. 1 GG bedenklich173 – es ist auch nicht durch vermeintliche Notwendigkeiten erklärbar: Während die Subjektivierung des Demokratiegrundsatzes in Form des Anspruchs auf demokratische Selbstbestimmung eine bestimmte Funktion erfüllt, nämlich die Ermöglichung von Verfassungsbeschwerden mittelbar gegen Ultra-vires-Akte, ergeben sich aus der zusätzlichen Bezugnahme auf Art. 1 Abs. 1 GG zunächst keine Rechtsfolgen. Insbesondere ist sie nicht zur Aktivierung der Ewigkeitsgarantie in Art. 79 Abs. 3 GG erforderlich – bereits die Betroffenheit des Demokratiegrundsatzes und der souveränen Staatlichkeit haben diesen Effekt. Aus historischer Perspektive sollten die in Art. 79 Abs. 3 GG genannten Grundsätze die Bundesrepublik vor einem Rückfall in die Diktatur schützen.174 Ihre Funktion als Kontrollmaßstab gegenüber der EU war zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung nicht absehbar.175 Zudem enthält Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG spezifische, an Art. 79 Abs. 3 GG angelehnte Strukturanforderungen für die EU. Gelegentlich wird daher vertreten, Art. 79 Abs. 3 GG sei für solche Konstellationen nicht anwendbar.176 Richtig dürfte indes sein, die Ewigkeitsgarantie als
170
BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 133). Kritisch auch A. Berger, Anwendungsvorrang und nationale Verfassungsgerichte, S. 157. 171 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 135). 172 Kritisch zu dem „maßlosen Vorwurf“, dem die deutschen Verfassungsorgane deshalb ausgeliefert sind M. Nettesheim, NJW 2020, 1631 (1632). 173 Zynische Kritik bei M. Steinbeis, Staunenswertes aus Karlsruhe, Verfassungsblog. 174 Zum verfassungshistorischen Hintergrund M. Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 72. EGL. Juli 2014, Art. 79 GG, Rn. 64 ff. 175 P. Hector, ZEuS 2009, 599 (606). 176 So H. Sauer, EuR 2017, 186 (196 f.), ders., ZRP 2009, 195 (195 ff.). Kritisch hierzu U.
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umfassenden Schutz vor einer Auflösung der genannten Grundsätze zu verstehen. Es kann gerade nicht darauf ankommen, ob die Demokratie von einer hypothetischen antidemokratischen Regierung oder von der Staatengemeinschaft gefährdet wird. Verhindert werden soll vielmehr die legale Änderung des rechtlichen Fundaments der Gesellschaft. Diese Funktion gebietet die Anwendung auch im Verhältnis zu Unionsakten. Dabei ist der Maßstab des Art. 79 Abs. 3 GG gegenüber Unionshandeln nicht weniger restriktiv zu fassen als gegenüber Handeln deutscher Organe. Nicht jede Maßnahme nationaler Hoheitsgewalt, die ohne parlamentarische Legitimation ergangen ist, stellt eine Verletzung von Art. 79 Abs. 3 GG dar. Zumindest hat das Bundesverfassungsgericht, soweit ersichtlich, noch in keiner Entscheidung im rein nationalen Kontext, in der es auf das sogenannte Kettenmodell der demokratischen Legitimation eingeht, auf Art. 79 Abs. 3 GG rekurriert.177 Entsprechend tangiert auch eine Kompetenzüberschreitung durch die Union, sei sie auch offensichtlich und strukturrelevant, grundsätzlich nicht den Anwendungsbereich der Ewigkeitsgarantie.178 d) Kritik: Fehlende Notwendigkeit nationaler Legitimation? Teile der Literatur halten indes schon die Problematisierung der demokratischen Legitimierung von Ultra-vires-Akten für nicht angezeigt. Die gleichzeitige Annahme eines Demokratiedefizits und der Nicht-Geltung eines Ultra-vires-Akts im deutschen Recht wird als logisch unvereinbar angesehen. Eine im deutschen Recht mangels Geltungsbrücke nichtexistente Norm bedürfe keiner demokratischen Legitimation.179 Sollte aufgrund des Rechtsscheins eine Umsetzungshandlung vorgenommen werden, so verfüge dieser Umsetzungsakt als nationale Maßnahme über hinreichende Rückführung auf das deutsche Wahlvolk. Weder Ultra-vires-Akte noch ihre Anwendungsakte ermangelten daher demokratischer Legitimation. Für dieses Verständnis streitet eine gewisse Plausibilität: Wenn Akte aufgrund ihrer Hoheitlichkeit demokratisch legitimiert werden müssen, ist ein Akt ohne Anteil an der Hoheitsgewalt nicht vom Legitimationserfordernis umfasst. Unbestritten dürfte aber sein, dass Ultra-vires-Akte aufgrund ihres Rechtsscheins rechtliche und tatsächliche Wirkungen auslösen können, beispielsweise die Befolgung durch den Einzelnen. Hufeld, JVSR 2016/2017, 11 (38 f.). Für eine „europarechtsfreundliche“ Anwendung der Ewigkeitsgarantie, die Konflikte mit dem Unionsrecht vermeidet T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (32). 177 Siehe grundlegend BVerfG, Beschl. v. 15.02.1978 – 2 BvR 134/76 (Gemeindeparlamente), BVerfGE 47, 253 (275 f.); E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 24, Rn. 16. 178 Dies kann in solchen Fällen anders liegen, in denen der Ultra-vires-Akt wegen seines Inhalts auch die Identitätskontrolle auslöst. 179 H. Sauer, EuR 2017, 186 (203 f.).
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Auch andere Konstellationen sind hier vorstellbar. Angenommen die EZB begründete eine Offenmarktmaßnahme nach Art. 127 Abs. 1 Fall 1 AEUV, Art. 18.1 EZB-Satzung unter offensichtlichem Verstoß gegen ihr Mandat aus Art. 127 Abs. 1 Satz 2 AEUV mit der Aussage, die Währungsstabilität werde bewusst zugunsten eines wirtschaftspolitischen Anreizes riskiert. Die so begründete Maßnahme wäre geeignet, das Vertrauen in die Unabhängigkeit der EZB und damit in die Stabilität des Euro nachhaltig zu erschüttern. Das Verdikt einer fehlenden Anwendbarkeit in der Bundesrepublik liefe faktisch ins Leere – die Bundesrepublik wäre nicht Adressat der Maßnahme der EZB. Auswirkungen auf die deutschen Bürger hätte sie in Form veränderter Investitionsbedingungen oder einer stärkeren Inflation aber dennoch. Hier das Erfordernis demokratischer Legitimation im nationalen Recht gänzlich abzulehnen, ist zumindest kritisch. In diese Richtung lässt sich wohl auch das Bundesverfassungsgericht verstehen. Es spricht von einem „Anspruch des Bürgers, nur einer öffentlichen Gewalt ausgesetzt zu sein, die er auch legitimieren und beeinflussen kann.“180 Der Ausdruck „ausgesetzt sein“ lässt dabei auch Raum für Wirkungen jenseits der rechtlichen Geltung von Normen. Zudem ist das Argument der logischen Unvereinbarkeit keineswegs zwingend. Ihm liegt ein gewisses Vorverständnis zugrunde, wonach die fehlende Geltung eines Akts ihn zum rechtlichen Nullum werden lässt, womit alle formalen und materiellen Rechtmäßigkeitsanforderungen entfallen. Geltung wird in diesem Sinne naturalistisch verstanden. Diese Konstellation ähnelt einem Problem im Bereich des allgemeinen Schuldrechts. Dort stellt sich die Frage, ob nichtige Rechtsgeschäfte noch nach § 142 BGB mittels einer Anfechtung der begründenden Willenserklärung angegriffen werden können. Seit einem wegweisenden Beitrag von Kipp wird dies unter dem Stichwort der Doppelwirkungen im Recht allgemein bejaht.181 Nichtige Rechtsgeschäfte gelten seitdem nicht als Nullum, das naturalistische Verständnis von Nichtigkeit demnach ausdrücklich als überholt. Zwar sind die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts und die Unbeachtlichkeit eines Hoheitsakts in der deutschen Rechtsordnung kein identisches Phänomen. Außerdem unterscheiden sich die Situationen dahingehend, dass im Zivilrecht dieselbe Rechtsfolge (die Nichtigkeit) aus zwei Gründen hergeleitet wird, im Ultra-vires-Fall jedoch zwei unterschiedliche Folgen (Ungültigkeit im deutschen Recht und Rechtswidrigkeit) begründet werden.182 Die hinter der Theorie von den Doppelwirkungen im
180 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 127). 181 T. Kipp, Über Doppelwirkungen im Recht, in: Berliner Juristische Fakultät (Hrsg.), Festschrift der Berliner Juristischen Fakultät für Ferdinand von Martitz zum Fünfzigjährigen Doktorjubiläum am 24. Juli 1911, S. 211. 182 Hier ist aber auch die Zivilrechtspraxis nicht allzu streng, kritisch S. Lorenz, Grundsatz der Doppelwirkung und Verbraucherschutz bei der Vertragsanbahnung, in: Dammann/
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Recht liegende Überlegung, der vorgelagerte Mangel eines Akts schließe die Anknüpfung einer nachgeordneten Norm nicht aus, ist jedoch übertragbar. Der Akt kann letztlich unter logischen Gesichtspunkten sowohl an mangelnder Hoheitlichkeit als auch an mangelnder Legitimation leiden. 3. Schutz der Rechtsstaatlichkeit In der OMT-Entscheidung wird der Ultra-vires-Kontrolle darüber hinaus eine rechtsstaatsdienende Funktion zugesprochen.183 Zur Begründung wird aufgeführt, auch Eingriffe in die Rechte des Einzelnen durch die Unionsgewalt bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Ohne gültige Aufgabenzuweisung durch die Verträge und das Zustimmungsgesetz fehle es jedoch an einer solchen. Eingriffe in Rechte des Einzelnen seien daher automatisch rechtswidrig und verletzten somit das Rechtsstaatsprinzip. Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts beschränken sich auf eine einzelne Randnummer, die auch an späterer Stelle der Urteilsbegründung keine Bedeutung mehr entfaltet. Erkennbar wird der rechtsstaatssichernden Wirkung der Ultra-vires-Kontrolle nicht die gleiche Relevanz zugesprochen, wie den beiden zuvor erwähnten Zwecken. Tatsächlich kommt ihr kaum eine eigenständige Bedeutung zu, da die Rechtsstaatlichkeit nur bei einem Eingriff in ein Individualrecht berührt ist. Da dem einzelnen Wahlberechtigten ein Recht auf Wahrung der Kompetenzordnung zukommt, ist in den meisten Konstellationen das Demokratieprinzip zusammen mit dem Rechtsstaatprinzip betroffen. Lediglich bei Nicht-Wahlberechtigten entstehen Fälle, bei denen das Rechtsstaatsprinzip, nicht aber das Demokratieprinzip betroffen sein könnte. Auch in diesen Fällen eröffnet das Rechtsstaatsprinzip aber keinen eigenen Prüfungszugang, da es, anders als das Demokratieprinzip, nicht subjektiviert ist. Es bedarf hier eines Grundrechtseingriffs wie in der Honeywell-Konstellation.184 Das Bundesverfassungsgericht macht das Rechtsstaatsprinzip auch nicht hinsichtlich des Prüfungsmaßstabs oder auf der Rechtsfolgenseite fruchtbar. So fehlt es dem Rechtsstaatsprinzip an Relevanz für die Kontrolle. Während die Annahme einer Betroffenheit des Demokratieprinzips der Individualbeschwerde den Weg ebnete, entfaltet die Betroffenheit des Rechtsstaatsgebots keine Wirkungen. Auch die Verknüpfung mit Art. 79 Abs. 3 GG ist bereits mittels der eingangs genannten Zwecke vorgenommen worden. In Teilen der Literatur wird die rechtsstaatsdienende Funktion der Kontrolle abweichend begründet. Indem eine Kompetenzanmaßung nur hinreichend qua-
Grunsky/Pfeiffer/Wolf (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Manfred Wolf, S. 77, 82 ff. mit Hinweis auf BGH, Urt. v. 25.11.2009 – VIII ZR 318/08 (Widerrufsrecht bei nichtigem Fernabsatzvertrag), BGHZ 183, 235. 183 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 152). 184 Hierzu 2. Kap., C IV 2.
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lifiziert ist, wenn sie jeglicher methodischer Vertretbarkeit entbehrt, schützt die Ultra-vires-Kontrolle auch die Qualität der europäischen Rechtsanwendung.185 Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Festzuhalten ist hier aber, dass auf diese Weise nicht der Grundsatz der nationalen Rechtsstaatlichkeit des Art. 20 Abs. 2, Abs. 3, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt wird, sondern die rule of law der Europäischen Union selbst. Normativer Anknüpfungspunkt im Grundgesetz ist hier also die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG. Insoweit unterscheidet sich der Ansatz von demjenigen des Bundesverfassungsgerichts. Dennoch ist nach hier vertretener Ansicht die Rolle der Rechtsstaatlichkeit für die Maßstabsbildung nachgeordnet: Die Notwendigkeit rechtsstaatlichen Vorgehens bei der Kompetenzauslegung durch Stellen der Union, insbesondere durch den EuGH, ist deshalb zentral, weil die Bundesrepublik ihre eigenen Verfassungsprinzipien der souveränen Staatlichkeit und Demokratie in bestimmtem Maße den Unionsorganen anvertraut. Die Verträge schaffen erst die Möglichkeit, durch zu weitgehende Auslegung von Kompetenzen diese Prinzipien zu bedrohen. Die Herleitung von Kompetenzen durch Unionsorgane hat also auch deshalb rechtsstaatlich zu erfolgen, damit ein wirksamer Schutz der von Art. 79 Abs. 3 GG erfassten Prinzipien erfolgt.186 Im Bereich der Kompetenzordnung sind zum Schutz der genannten Verfassungsprinzipien höhere externe Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit unionalen Handelns zu stellen, als dies in anderen Bereichen der Fall ist.187 Die unionale Rechtsstaatlichkeit hat im Kontext der Ultra-vires-Kontrolle demnach nur eine dienende Funktion.188 4. Zusammenfassung Der Ultra-vires-Vorbehalt verfolgt in der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts mehrere Zwecke. Er soll zuvorderst die demokratische Legitimation der in der Bundesrepublik ausgeübten unionalen Hoheitsgewalt sicherstellen, indem die Integrität der Legitimationskette vom deutschen Volk zum Unionsorgan überwacht wird. Diese ist nur dann gegeben, wenn der deutsche Integrationsgesetzgeber entsprechende Kompetenzen übertragen hat. Der Schutz der Demokratie ist dadurch der Schutz der (Integrations)Kompetenz des deutschen Gesetzgebers. Vorzugswürdiger wäre es nach hier vertretener Ansicht, auf die zu schwache eigene Legitimationskraft der Unionsorgane abzustellen, falls es an einer Kompetenzübertragung fehlt. 185
R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 134 und passim; S. Simon/H. Rathke, EuZW 2020, 500 (502). 186 Siehe im Einzelnen 3. Kap., B I 1, S. 238 ff. 187 Gerade deshalb ist die Ultra-vires-Kontrolle auch keine allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle. Die Gegenansicht vermag nicht zu erklären, weshalb die Kontrolle auf die „Verbandskompetenz“ der Union zu beschränken ist, siehe R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 140. 188 Anders ist dies freilich zu bewerten, wenn man die den Schutz der Demokratie und souveränen Staatlichkeit nicht als legitimen Zweck des Ultra-vires-Vorbehalts ansieht. So aber wohl R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 109.
C. Befugnis zur Kontrolle
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Durch die Einordnung eines Verstoßes gegen die Kompetenz des Integrationsgesetzgebers als Demokratiedefizit schrumpft die Bedeutung des Schutzzwecks der deutschen souveränen Staatlichkeit. Aus der Perspektive beider Schutzgüter geht es letztlich um die Wahrung der supranationalen KompetenzKompetenz. Die Bedeutung des nationalen Rechtsstaatlichkeitsprinzips ist im Kontext der Ultra-vires-Kontrolle eher gering einzustufen. Zwar wird insbesondere im Rahmen der Eingriffsverwaltung sichergestellt, dass diese nur aufgrund einer ordnungsgemäßen Rechtsgrundlage stattfinden kann – dabei handelt es sich jedoch um eine bloße Reflexwirkung, da die Rechtsgrundlage nur deshalb unwirksam ist, weil ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip und die souveräne Staatlichkeit vorliegt. Gleichwohl kann der Ultra-vires-Vorbehalt als Beitrag zur europäischen Rechtsstaatlichkeit verstanden werden. Als Instrument zum Schutz des nationalen Verfassungsrechts dient er jedoch der Sicherung der von Art. 79 Abs. 3 GG erfassten Prinzipien – die europäische Rechtsstaatlichkeit ist hier nur von mittelbarer Relevanz.
C. Befugnis zur Kontrolle Bisher wurde festgestellt, dass es sich bei dem Ultra-vires-Vorbehalt um ein Instrument zum Schutz der deutschen Demokratie und Souveränität handelt. Mit dieser Erkenntnis wurde allerdings noch keine Aussage über die Legitimität der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht getroffen. Weder aus der Schutzwürdigkeit der betroffenen Güter noch aus der geltungstheoretischen Annahme, dass das Unionsrecht nur über einen nationalen Rechtsanwendungsbefehl Geltung erlangt, folgt im nationalen Recht ein Prüfungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts. Ebenso wenig lässt sich mit Verweis auf das Grundgesetz ohne Weiteres eine europarechtliche Zulässigkeit begründen. Nachfolgend soll daher untersucht werden, woraus die Statthaftigkeit der Kontrolle hergeleitet wird und ob eine derartige Begründung überzeugt.
I. Prüfungsbefugnis im europäischen Recht Nachfolgend soll zunächst die unionsrechtliche Zulässigkeit betrachtet werden, um mögliche Rückwirkungen auf die nationale Rechtslage untersuchen zu können.189
189
Eine Trennung der beiden Ebenen anscheinend ablehnend P. Meier-Beck, EuZW 2020, 519 (519 f.), der nicht zwischen der von ihm angenommenen grundsätzlichen Europarechtskonformität der Kontrolle und ihrer Legitimität in der deutschen Rechtsordnung unterscheidet.
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Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts
Indem das Bundesverfassungsgericht die Ultra-vires-Kontrolle ausübt, entscheidet es über die Anwendbarkeit eines europäischen Aktes im deutschen Recht. Problematisch hieran ist im Grundsatz nicht die nationale Prüfung der Gültigkeit europäischer Maßnahmen; diese wird von den Verträgen sogar gefordert. Die nationale Gültigkeitsprüfung ist notwendige Voraussetzung einer Vorlage nach Art. 267 Abs. 2, Abs. 3 AEUV: Nur soweit ein Gericht Zweifel an der Gültigkeit einer unionalen Maßnahme hegt, ist eine Vorlage überhaupt zulässig.190 Nach Abs. 3 können Gerichte sogar gezwungen sein, sich mit der Gültigkeitsfrage auseinanderzusetzen. Auch die Prüfung eines Verstoßes gegen die unionale Kompetenzordnung fällt so aus europarechtlicher Sicht in den Aufgabenbereich des Bundesverfassungsgerichts.191 Ebenso wenig verstößt die Ultravires-Kontrolle gegen die Vorlagepflicht des Abs. 3, übt das Bundesverfassungsgericht sie doch nur nach vorheriger Befassung des EuGH aus.192 Der unionsrechtliche Vorwurf besteht vielmehr in der möglichen Nichtbeachtung der Antwort auf die Vorlagefrage.193 Während der EuGH für sich ein Normverwerfungsmonopol in Anspruch nimmt,194 hält das Bundesverfassungsgericht eine Negativentscheidung nicht für bindend und verwirft den Akt selbst. Es nimmt, in Abweichung von der Entscheidungspraxis des EuGH, selbst eine Überschreitung von Unionskompetenzen durch einen Unionsakt an und negiert insoweit den Letztentscheidungsanspruch des Gerichtshofs.195 Die jeweiligen Kompetenzprüfungen der Gerichte unterscheiden sich allerdings sowohl inhaltlich als auch ihrem Ergebnis nach. Der EuGH prüft die Rechtmäßigkeit der Maßnahme am Unionsrecht und stellt gegebenenfalls seine
190
U. Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 267 AEUV, Rn. 37. Bei Abwesenheit eines zentralen obersten Rechtsprechungsorgans kennt das Völkerrecht daher die Ultra-vires-Kontrolle durch nationale Gerichte, siehe L. Naujoks, Das Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH, S. 23 m.w.N. 192 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (304). Erstmals umgesetzt mit BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366. 193 Auf diesen Aspekt weist der EuGH selbst hin, siehe EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400 (Rn. 15). Daneben lassen sich auch weitere Bedenken formulieren, beispielsweise ein Verstoß gegen Art. 344 AEUV, so V. Skouris, EuR 2021, 3 (27) oder ein Verstoß gegen die Pflicht zur wiederholten Vorlage an den EuGH, so die Kommission im Rahmen ihres Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik, siehe 3. Kap., A I c) aa), S. 199 f. Da nach hier vertretener Ansicht ein Verstoß gegen das Normverwerfungsmonopol vorliegt, kommt es auf die Erörterung der weiteren möglichen Unionsrechtsverstöße im Ergebnis nicht an. 194 EuGH, Urt. v. 22.10.1987 – C-314/85 (Foto-Frost), ECLI:EU:C:1987:452, Slg. 1987, 452 (Rn. 14 f.). 195 Siehe auch den GA Tanchev in EuGH, Schlussanträge des GA v. 17.12.2020 – C-824/18 (Ernennung von Richtern zum Obersten Gerichtshof), ECLI:EU:C:2020:1053 (Rn. 84), der sich dort ohne konkrete Berührung mit der Rechtssache Weiss mit der Ultra-vires-Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts im PSPP-Urteil auseinandersetzt. 191
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Rechtswidrigkeit oder Nichtigkeit in der Unionsrechtsordnung fest.196 Das Bundesverfassungsgericht jedoch prüft den Akt anhand des nationalen Zustimmungsgesetzes zu den Verträgen.197 Es verneint im Konfliktfall das Vorliegen eines Rechtsanwendungsbefehls im deutschen Recht, mithin nicht die Rechtmäßigkeit, sondern die Gültigkeit des Akts in der deutschen Rechtsordnung.198 Selbst in dem Fall, in dem der EuGH eine Vereinbarkeit des Akts mit dem Unionsrecht bejaht, das Bundesverfassungsgericht seine Deckung mit dem Integrationsprogramm aber verneint, liegt damit bei dualistischer Betrachtung kein echter Widerspruch vor, da die Gerichte über unterschiedliche Fragen (Wirksamkeit beziehungsweise Geltung) entscheiden. Die Möglichkeit des Auseinanderfallens von Wirksamkeit in der Unionsrechtsordnung und Geltung in der deutschen Rechtsordnung wird vom Bundesverfassungsgericht erkannt und in Kauf genommen, die Wirksamkeit eines Ultra-vires-Akts im Unionsrecht nicht in Abrede gestellt.199 Allein auf Ebene der Begründung besteht ein logischer Widerspruch, da auch das Bundesverfassungsgericht durch die Bezugnahme auf das Zustimmungsgesetz inhaltlich unter die Kompetenznormen der Verträge subsumiert. Ein Widerspruch zwischen den Rechtsordnungen besteht jedoch nicht nur darin, dass die Gerichte in der konkreten Rechtsfrage zu entgegengesetzten Ergebnissen kommen. Er kann auch durch die Anwendung der Ultra-vires-Kontrolle entstehen, wenn das Unionsrecht dieser entgegen steht.200 1. Bestehen eines Normverwerfungsmonopols des EuGH Voraussetzung für die Unionsrechtswidrigkeit der Ultra-vires-Kontrolle ist demnach das Bestehen eines uneingeschränkten Normverwerfungsmonopols des EuGH. Ein grundsätzliches Verwerfungsmonopol lässt sich gegenüber den obersten Gerichten der Mitgliedstaaten aus Art. 267 Abs. 3 AEUV ohne Weiteres herleiten: Diese sind zur Vorlage an den EuGH bei Zweifeln über die Gültigkeit verpflichtet. Diese Vorlagepflicht korrespondiert nach Art. 19 Abs. 3 lit. b EUV, Art. 267 Abs. 1 AEUV mit einer Entscheidungsbefugnis des EuGH. Die Bindungswirkung des Urteils für das vorlegende Gericht ist aus unionsrechtlicher Perspektive unbestritten und ergibt sich aus dem Sinn des Vorlageverfahrens.201 196
So zumindest aus der dualistischen Sicht, der der EuGH selbst bekanntlich nicht folgt, siehe 1. Kap., A II 2, S. 20 ff. 197 A.A. F. C. Mayer, EuR 2014, 473 (481), der hier lediglich von einem „Trick“ spricht und in der Folge daher von einem identischen Maßstab ausgeht. 198 Siehe 1. Kap., A II 1, S. 18. 199 Anders wohl P. Kirchhof, NJW 2020, 2057 (Rn. 21, 32). 200 Ähnlich J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 119; A. Schwerdtfeger, EuR 2015, 290 (301 f.). 201 L.-K. Mannefeld, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die europäische Integration, S. 228 ff.; U. Ehricke, Die Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach deutschem Zivilprozeßrecht und nach Gemeinschaftsrecht, Vortrag v. 17.12.1997, S. 34.
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Eine Normverwerfung durch das vorlegende Gericht selbst ist dadurch nicht möglich.202 Auch gegenüber unterinstanzlichen mitgliedstaatlichen Gerichten im Sinne des Art. 267 Abs. 2 AEUV beansprucht der Gerichtshof ein – ungeschriebenes – Normverwerfungsmonopol.203 Das wesentliche Argument ist hierbei die Notwendigkeit einer einheitlichen Geltung des Unionsrechts.204 Insbesondere bei der Vielzahl an Entscheidungen unterer Gerichte drohe andernfalls eine Zersplitterung der europäischen Rechtsordnung. Das Verwerfungsmonopol des EuGH für Vorschriften des Sekundärrechts ist damit heute zurecht ein umfassender unionsrechtlicher Grundsatz. 2. Ausnahmen vom Normverwerfungsmonopol Eine unionsrechtliche Rechtmäßigkeit der Ultra-vires-Kontrolle kommt demnach nur in Betracht, soweit in ihrem Anwendungsbereich eine Ausnahme vom Normverwerfungsmonopol des EuGH einschlägig ist. a) Rechtfertigung durch europarechtsfreundliche Maßstabsbildung Immer wieder betont das Bundesverfassungsgericht die Notwendigkeit einer zurückhaltenden und europarechtsfreundlichen Ausübung der Ultra-vires-Kontrolle.205 Schon in der Honeywell-Entscheidung erkennt das Bundesverfassungsgericht allerdings die Möglichkeit eines Widerspruchs von nationalem und europäischem Recht in der Ultra-vires-Konstellation an.206 Es geht somit offensichtlich selbst nicht von der Unionsrechtskonformität seines Handelns aus.207 In der Tat ist diese mit dem bloßen Verweis auf eine zurückhaltende Ausübung nicht zu erreichen: Soweit das Unionsrecht die mitgliedstaatliche Kompetenzkontrolle nicht zumindest im Grundsatz anerkennt, fehlt es an einem unionsrechtlich legitimen Interesse der Mitgliedstaaten an ihrer Ausübung. Es verbleibt dann kein Raum für die Herstellung einer praktischen Konkordanz zwischen den Interes-
202
Siehe auch C. Ohler, ZG 2020, 95 (101). EuGH, Urt. v. 22.10.1987 – C-314/85 (Foto-Frost), ECLI:EU:C:1987:452, Slg. 1987, 452 (Rn. 14 f.). 204 Das Normverwerfungsmonopol folge aus „dem Wesen des Unionsrechts“, K. Lenaerts, EuR 2015, 3 (6). 205 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (154 ff.); BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (303 f.); BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (354). Im Einzelnen 2. Kap., B III, S. 103 ff. 206 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (303). 207 Anders noch in der Lissabon-Entscheidung für die Identitätskontrolle BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (354). Auffällig ist dort, dass kein vergleichbarer Rechtfertigungsversuch für die Ultra-vires-Kontrolle unternommen wurde. Dies übersieht C. Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 23 GG, Rn. 54. 203
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sen der Union und der Mitgliedstaaten.208 Eine Zurückhaltung bei der Kontrolle oder die Ausrufung einer Kooperation der Gerichte209 führt daher allenfalls zu selteneren oder weniger gravierenden Unionsrechtsbrüchen210 – eine Rechtfertigung bietet sie jedoch nicht.211 Auch der EuGH machte im OMT-Verfahren auf die unbedingte Verpflichtung zur Beachtung seiner Entscheidungen aufmerksam und schloss damit implizit das Vorliegen einer Ausnahme von seinem Normverwerfungsmonopol im konkreten Fall aus.212 b) Die Grundsätze der Taricco-II-Entscheidung als Ausnahmetatbestand Es wäre aber möglich, dass das europäische Recht selbst in bestimmten Konstellationen Ausnahmen vom Normverwerfungsmonopol des EuGH vorsieht. In diesem Sinne könnte die Entscheidung des EuGH in der Sache M.A.S. und M.B., besser bekannt als Taricco-II-Entscheidung,213 zu verstehen sein. Ausgangspunkt dieses Verfahrens waren Verjährungsregelungen des italienischen Strafrechts, die eine Strafverfolgung in bestimmten Fällen des Mehrwertsteuerbetrugs wesentlich erschwert haben. Nach Art. 161 des italienischen Codice penale ziehen ein Strafurteil, ein Strafbefehl, ein Beschluss über persönliche Sicherungsmaßnahmen sowie eine Entscheidung über die Anberaumung einer Vorverhandlung eine Unterbrechung der Verjährungsfrist nach sich. Diese ist nach Art. 162 Abs. 2 Codice penale allerdings auf maximal ein Viertel der Dauer der Verjährungsfrist begrenzt. Der EuGH hat zunächst in der Taricco-I-Entscheidung diese Regelung als nicht vereinbar mit Art. 325 Abs. 1, Abs. 2 AEUV erklärt.214 Die Verfolgung von aufwändigeren Formen des Steuerbetruges erfordere in der Regel komplexe, langwierige Ermittlungen. Das Strafverfahren dauere instanzenübergreifend so lange, dass „bei dieser Art [von] Verfahren in Italien die De-facto-Straffreiheit nicht die Ausnahme, sondern die Regel sei.“215 In Anbetracht dieser Tatsachen entfalteten die Sanktionsnormen des italienischen Strafrechts keine Abschreckungswirkung, womit den Anforderungen des Art. 325 Abs. 1 AEUV nicht Ge-
208
So ähnlich aber F. Kainer, EuZW 2020, 533 (535). BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (175 u. passim). 210 C. Ohler, ZG 2020, 95 (101) spricht von einem „mildern“ der „Spannungen“. 211 S. Simon, Gießener Universitätsblätter 49 (2016), 109 (114). So wohl auch F. C. Mayer/ M. Walter, JURA 2011, 532 (540). Eine Ausnahme ist dabei die Rücknahme des eigenen Prüfungsumfangs auf null, indem die Antwort des EuGH als verbindlich wahrgenommen, Verfassungsbeschwerden dennoch als zulässig behandelt würden, siehe F. C. Mayer, NJW 2015, 1999 (2002). 212 EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400 (Rn. 16). 213 EuGH, Urt. v. 05.12.2017 – C-42/17 (Taricco II), ECLI:EU:C:2017:936. 214 EuGH, Urt. v. 08.09.2015 – C-105/14 (Taricco I), ECLI:EU:C:2015:555. 215 EuGH, Urt. v. 08.09.2015 – C-105/14 (Taricco I), ECLI:EU:C:2015:555 (Rn. 24). 209
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nüge getan werde. Die Normen zur Maximaldauer der Verjährungsunterbrechung im Codice penale seien demnach ad-hoc unangewendet zu lassen.216 Aus Sicht des italienischen Verfassungsrechts warf diese Entscheidung des EuGH ein Problem auf: Die Vorschriften zur Verjährung gehören nach italienischer Vorstellung zum materiellen Strafrecht. Entsprechend erstreckt sich auch der in der Verfassung verankerte strafrechtliche Gesetzlichkeitsgrundsatz auf die Verjährungsregelungen. Diese müssen folglich bereits zum Tatzeitpunkt Teil des geschriebenen Rechts sein. Die Entscheidung des EuGH hätte aber zur Folge, dass auch Taten, die vor der Taricco-I-Entscheidung begangen wurden, nicht von den geschriebenen Verjährungsregeln erfasst werden. Diese Situation trat schließlich im Rahmen des ähnlich gelagerten Falls Taricco II ein, sodass sich der italienische Corte Costituzionale einer Entscheidung des EuGH ausgesetzt sah, die mit einem Grundsatz des italienischen Verfassungsrechts konfligierte. So entstand eine Konstellation, die (nach deutschem Verständnis) die italienische Verfassungsidentität berührt.217 Das italienische Recht kennt hier mit der controlimiti-Rechtsprechung ein mit der deutschen Identitätskontrolle vergleichbares Instrument.218 Der Corte Costituzionale entschloss sich, im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV dem EuGH seine eigene Perspektive darzulegen. Die ersten beiden Vorlagefragen befassten sich mit dem Verhältnis des Art. 325 Abs. 1, Abs. 2 AEUV zum Grundsatz der Gesetzlichkeit. Die dritte Vorlagefrage bezog sich ausdrücklich auf die Befugnis der Mitgliedstaaten, die bisherigen Verjährungsregeln weiter anzuwenden, sofern eine „Nichtanwendung mit den obersten Grundsätzen des Verfassungsrechts des Mitgliedstaats oder mit den in der Verfassung des Mitgliedstaats anerkannten unveräußerlichen Grundrechten unvereinbar ist“.219 Gefragt wurde also indirekt nach der unionsrechtlichen Existenz einer mitgliedstaatlichen Verwerfungskompetenz für Unionsakte. Der EuGH entschied schließlich, dass die italienischen Gerichte nicht zur Missachtung des nulla-poena-Grundsatzes verpflichtet seien. Aufgrund einer recht intransparenten Urteilsbegründung220 ist die Entscheidungsinterpretation
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Die Entscheidung wegen dieser unmittelbaren Anwendung von Art. 325 AEUV für ultra vires haltend: M. Lochmann, EuR 2019, 61 (82 f.). 217 Ein alternatives Konzept bietet L. D. Spieker, CML Rev. 57 (2020), 361 (386 ff.) an, der der die bestehenden Streitigkeiten regelmäßig als solche um die Auslegung der geteilten europäischen Werte Art. 2 EUV und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen nach Art. 6 Abs. 3 EUV identifiziert. Die nationalen Verfassungsidentitäten seien daher zweitrangig in der Auseinandersetzung und allenfalls in (noch selteneren) Ausnahmefällen zu aktivieren. 218 R. Bifulco/D. Paris, Der italienische Verfassungsgerichtshof, in: von Bogdandy/Huber/ Grabenwarter (Hrsg.), Ius Publicum Europaeum, § 100, Rn. 175 ff. Siehe auch den Vergleich der integrationsbezogenen Rechtsprechung in Deutschland und Italien bei L.-K. Mannefeld, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die europäische Integration. 219 EuGH, Urt. v. 05.12.2017 – C-42/17 (Taricco II), ECLI:EU:C:2017:936 (Rn. 20). 220 Kritisch deshalb der noch mit der Taricco-I-Entscheidung befasste V. Skouris, EuR 2021, 3 (14).
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in der juristischen Forschung jedoch umstritten.221 Teilweise wird vertreten, der EuGH habe den uneingeschränkten Anwendungsvorrang des Unionsrechts zugunsten eines nationalen Identitätsvorbehalts aufgegeben.222 Dieses Verständnis wäre für die Frage nach der Legitimität der Ultra-vires-Kontrolle interessant: Ist diese lediglich eine Ausprägung der Identitätskontrolle,223 so könnte sie womöglich an deren Unionkonformität teilhaben. Festzuhalten ist jedoch, dass der EuGH die dritte Vorlagefrage gerade nicht beantwortet hat. Er hielt dies nicht für erforderlich, weil Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV keine Nichtanwendung der bisherigen Verjährungsregeln verlange, wenn dies gegen den Gesetzlichkeitsgrundsatz verstieße.224 Insoweit könnte das Gericht dahingehend zu verstehen sein, dass bereits kein Konflikt zwischen dem nationalen und dem europäischen Recht besteht, der einen nationalen Kontrollmechanismus erforderlich machte.225 Nach dieser Interpretation ließe Art. 325 AEUV auch ohne rückwirkende Nichtanwendung der Verjährungsregeln genug Raum für eine Umsetzung effektiver Strafverfolgungsmaßnahmen. Letztlich kommt es aus der Perspektive dieser Arbeit aber nicht darauf an, welche der oben genannten Interpretationen korrekt ist. Selbst wenn der EuGH die Anwendbarkeit des Unionsrechts in bestimmten Konstellationen relativiert und Ausnahmen für Mitgliedstaaten mit entgegenstehenden nationalen Verfassungsgrundsätzen zulässt, so folgt daraus noch nicht, dass die nationalen Gerichte diese Ausnahmen eigenmächtig feststellen dürfen. Schließlich war es hier der EuGH, der nach Darstellung der italienischen Rechtslage durch den Corte Costituzionale (möglichweise) von der Anwendbarkeit des europäischen Rechts für Italien abgesehen hat. Insofern können die mitgliedstaatlichen Gerichte zwar selbst die Grundsätze ihrer Verfassung bestimmen;226 über das Verhältnis zum Unionsrecht beansprucht aber weiterhin der EuGH die Letztentscheidungskompetenz.227 Die Grundsätze der Taricco-II-Entscheidung vermögen damit nicht, die Ultra-vires-Kontrolle unionsrechtlich zu legitimieren. 221 Eine Übersicht der vertretenen Interpretationen findet sich bei K. Wegner, Vorhang zu und alle Fragen offen?, juwiss.de. 222 M. Lochmann, EuR 2019, 61 (66); D. Burchardt, Belittling the Primacy of EU Law in Taricco II, Verfassungsblog. Siehe auch aus der juristischen Tagespresse: P. Donath, Unionsrecht hat nicht immer Vorrang – EuGH zum Verhältnis von EU-Recht und nationalem Recht, in: LTO v. 05.12.2017, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/eughurteil-c4217-vorrang-gesetz-europaeisches-nationales-recht-europa-eu-union/ (zuletzt geprüft am 20.04.2023). A.A. L. D. Spieker, CML Rev. 57 (2020), 361 (379). 223 Hierzu 2. Kap., D II 1 a), S. 117. 224 EuGH, Urt. v. 05.12.2017 – C-42/17 (Taricco II), ECLI:EU:C:2017:936 (Rn. 62). 225 K. Wegner, Vorhang zu und alle Fragen offen?, juwiss.de. 226 Damit ist jedoch noch nicht gesagt, dass der EuGH dies auch als Ausdruck der nationalen Identität i.S.d. Art. 4 Abs. 2 AEUV anerkennt. Siehe hierzu treffend V. Skouris, EuR 2021, 3 (17). 227 So beschreiben auch T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (30) und I. Pernice, EuR 2011, 151 (158 f.) bereits vor der Taricco-II-Entscheidung die Arbeitsteilung zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten. Jüngst T. Giegerich, EuZW 2020, 560 (565 f.).
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c) Der Grundsatz des Nichtakts als Ausnahmetatbestand Die Ultra-vires-Kontrolle könnte darüber hinaus dann unionsrechtlich zulässig sein, wenn der geprüfte Hoheitsakt auch im Unionsrecht nichtig ist. Soweit ein Akt keinerlei Rechtswirkungen entfaltet, spielt es aus Sicht des Effektivitätsgrundsatzes keine Rolle, ob der Maßnahme die Geltung im nationalen Recht abgesprochen wird.228 Die Ultra-vires-Kontrolle wäre also dann unionsrechtskonform, wenn es sich bei Ultra-vires-Akten um im Unionsrecht nichtige Maßnahmen handelt und das Bundesverfassungsgericht zu der Feststellung ihrer Nichtigkeit befugt ist. Wie bereits festgestellt, ist dem Unionsrecht ein allgemeines Nichtigkeitsdogma unbekannt.229 Lediglich in „außergewöhnlichen Fällen“ „schwerwiegender“ Fehlerhaftigkeit liegt ein sogenannter Nichtakt ohne jede Rechtswirkung vor.230 Eine genaue Abgrenzung zwischen lediglich rechtswidrigen und nichtigen Akten ist derweil äußerst schwierig. Es fehlt dem Unionsrecht an einer mit § 44 VwVfG vergleichbaren Regelung; ebenso ermangelt es einer tiefergehenden Dogmatik.231 Zum Zwecke dieses Abschnittes wird daher die Arbeitshypothese aufgestellt, die Kriterien des Unionsrechts an einen „schwerwiegenden“ Fehler seien zumindest nicht enger als jene Bedingungen, die das Bundesverfassungsgericht an das Vorliegen eines Ultra-vires-Akts knüpft.232 Auf diese Weise wird zunächst unterstellt, jeder Ultra-vires-Akt sei auch ein Nichtakt.233 In diesem Fall käme es
228 Zu kurz greift daher der Hinweis, die Ultra-vires-Kontrolle sei unionsrechtswidrig, da das Unionsrecht keine Ausnahmen vom Anwendungsvorrang kenne. So aber z.B. J. Dietze/M. Kellerbauer u.a., EuZW 2020, 525 (525). Vom Anwendungsvorrang umfasst sind nur geltende Unionsrechtsakte, siehe W. Kahl, Verhältnis des Unionsrechts zum deutschen Recht, in: ders./Ludwigs (Hrsg.), Handbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 2, § 38, Rn. 19. 229 Siehe 1. Kap., A I, S. 16. Ausführlich zu den Voraussetzungen und der Justiziabilität von Nichtakten D. Busse-Muskala, Normenkontrolle in der Europäischen Union, S. 216 ff. 230 EuGH, Urt. v. 15.06.1994 – C-137/92 P (BASF u.a.), Slg. 1994, I-02555 (Rn. 49 f.). Damit ist der unionsrechtliche Nichtakt eher mit dem deutschen nichtigen Verwaltungsakt als mit dem Nichtakt im nationalen Recht vergleichbar, siehe L. Münkler, Der Nichtakt, S. 65. 231 Nach D. Busse-Muskala, Normenkontrolle in der Europäischen Union, S. 218 lässt sich keine klare Linie in der Rechtsprechung des EuGH erkennen, was zu widersprüchlichen Entscheidungen zwischen EuG und EuGH führe. Ein Überblick über die vorhandene Rechtsprechung findet sich bei L. Münkler, Der Nichtakt, S. 64 f. sowie bei W.-G. Schärf, EuZW 2004, 333. Siehe auch J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 77 ff. 232 Bisher gab es zumindest keinen praktischen Fall der diese Hypothese widerlegt. Angesichts der Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts bei der Annahme von Ultra-viresHandeln ist sie aber zumindest nicht fernliegend. Auf die Ähnlichkeit der Voraussetzungen hinweisend A. Hatje, Das Verhältnis von nationalem Recht und Europarecht im Wandel der Zeit, in: Schwarze (Hrsg.), Das Verhältnis von nationalem Recht und Europarecht im Wandel der Zeit, S. 61, 66. 233 Eine Rechtfertigung einer Kontrolle von Realakten ist mit dieser Konstruktion nicht möglich. Der Nichtakt als Ausnahmetatbestand von der generellen Gültigkeitsvermutung für Unionsrechtssätze umfasst kein tatsächliches Handeln.
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für die unionsrechtliche Zulässigkeit der Kontrolle allein darauf an, ob das Bundesverfassungsgericht selbst zur Feststellung der Ungültigkeit berufen ist. Angesichts des vollständigen Fehlens von Rechtswirkungen von Nichtakten bedürfen diese keiner Ungültigkeitsfeststellung des EuGH.234 Insoweit ist es unionsrechtlich unproblematisch, bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Nichtakts einer entsprechenden Maßnahme nicht Folge zu leisten.235 Ein möglicherweise hieraus resultierendes Vertragsverletzungsverfahren hätte keinen Erfolg.236 Daneben besteht zum Zwecke der Klarstellung für betroffene Mitgliedstaaten die Möglichkeit der Klage gegen einen Nichtakt.237 In diesem Sinne ist es zunächst auch nicht unionsrechtswidrig, wenn das Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines Verfahrens das Vorliegen eines derartigen Akts feststellt.238 Dies ist aufgrund der die Gültigkeitsvermutung zerstörenden Wirkung des Nichtakts sogar ohne vorherige Befassung des EuGH zulässig.239 Die Vorlage ist dennoch zu begrüßen, bringt sie doch Rechtssicherheit und verhindert eine Aufsichtsklage nach Art. 258 Abs. 2 AEUV gegen die Bundesrepublik wegen einer möglichen Fehleinschätzung durch das Bundesverfassungsgericht.240 Nach einer erfolgten Vorlage und einer bestätigenden Entscheidung des EuGH kann das Bundesverfassungsgericht den Akt jedoch nicht mehr mit Verweis auf die Grundsätze des Nichtakts verwerfen. Der EuGH hat sich dann bereits abschließend zur Wirksamkeit der Maßnahme geäußert, ein Verwerfen seines Urteils ist unionsrechtlich grundsätzlich nicht akzeptabel.241 Die Annahme 234 J. Bast, GLJ 15 (2014), 167 (181); D. Busse-Muskala, Normenkontrolle in der Europäischen Union, S. 216 f. 235 Daher die Ultra-vires-Kontrolle für überflüssig haltend J. Bast, GLJ 15 (2014), 167 (181). Eine Weigerung zur Umsetzung setzt aber, anders als die Ultra-vires-Kontrolle, einen entsprechenden Willen der politisch Verantwortlichen voraus. 236 Siehe EuGH, Urt. v. 10.12.1969 – C-6/69 (Kommission/Frankreich), Slg. 1992, 525 (Rn. 13). 237 Siehe für Private EuGH, Urt. v. 15.06.1994 – C-137/92 P (BASF u.a.), Slg. 1994, I-02555. Für Mitgliedstaaten dürfte diese Möglichkeit erst recht bestehen. 238 Evident nicht unionsrechtlich gerechtfertigt wäre die Annahme eines Ultra-vires-Akts unter weiteren Bedingungen als jenen des Nichtakts. 239 Ebenso J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 80 ff. A.A. P. M. Huber, Walter Hallstein-Institut für europäisches Verfassungsrecht, Die EU als Herausforderung für das Bundesverfassungsgericht, S. 43. Damit wird klar, dass von Seiten des Gerichts wohl nicht in der Kategorie des Nichtakts gedacht wird. Das Bundesverfassungsgericht sieht sich allerdings in jedem Fall verfassungsrechtlich zu dieser Vorlage verpflichtet, BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (304); BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366. 240 Die Voraussetzungen des acte claire nach EuGH, Urt. v. 06.10.1982 – C-283/81 (C.I.L.F.I.T.), Slg. 1982, 3415 (Rn. 16) müssen für eine eigenständige Verwerfung mangels Gültigkeitsvermutung nicht vorliegen. Diese Rechtsprechungslinie bezieht sich ohnehin nur auf Auslegungsfragen, siehe EuGH, Urt. v. 06.12.2005 – C-461/03 (Gaston Schul Douaneexpediteur), Slg. 2005, I-10513 (Rn. 19); J. Schwarze/N. Wunderlich, in: Schwarze, EUKommentar, Art. 267 AEUV, Rn. 48. 241 Hierauf weist schon C. Tomuschat, EuGRZ 1993, 489 (494) hin. Ebenso Pliakos/G. Anagnostaras, GLJ 15 (2014), 369 (376).
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eines Nichtakts kann zwar ohne den Willen des EuGH, nicht aber gegen seinen Willen erfolgen. Dies gilt zumindest, solange die Entscheidung des EuGH unionsrechtlich wirksam ist. Es ist vorstellbar, dass auch ein Urteil des Gerichtshofs seinerseits einen judiziellen Nichtakt darstellt242 und das Bundesverfassungsgericht zur Feststellung dieser Ungültigkeit berufen ist. Soweit eine europäische Maßnahme evident und schwerwiegend rechtswidrig und eine diese Maßnahme bestätigende Entscheidung selbst nichtig ist, kann aus Gründen des effektiven Rechtschutz nach Art. 47 GR-Charta eine Befugnis nationaler Gerichte zur Feststellung dieser Doppel-Nichtigkeit debattiert werden. Mehr noch als der Gedanke einer Nichtigkeit anderer Akte strapaziert die Annahme eines Nichturteils die Erwartung an eine verbindliche und rechtssichere Entscheidung der Hoheitsgewalt. Gerichtsentscheidungen stellen, vorbehaltlich der Entscheidung weiterer Instanzen, den Abschluss eines Streits dar. Die Möglichkeit eines Nichturteils gefährdet demnach die judikative Befriedungsfunktion. Sowohl in nationalen Rechtsordnungen,243 als auch im allgemeinen Völkerrecht244 ist die Existenz nichtiger Urteile grundsätzlich bekannt. So wird in der völkerrechtlichen Forschung vertreten, ein Urteil eines internationalen Gerichts sei nichtig, soweit ein exce`s du pouvoir, also eine Überschreitung der Zuständigkeiten des Gerichts, vorliegt. Dies sei erst dann der Fall, wenn durch den Rechtsspruch nicht einmal der Schein einer rechtswirksamen Entscheidung geschaffen wird. Diese muss also nicht einfach fehlerhaft sein, sondern „geradezu willkürlich oder sonst außerhalb des Rahmens des immerhin noch Möglichen“ liegen.245 Auch inhaltlich fehlerhafte Urteile erwachsen im allgemeinen Völkerrecht demnach regelmäßig in formale Rechtskraft.246 Wenngleich weniger konkretisiert, 242 Siehe grundsätzlich zum Urteil als Nichtakt L. Münkler, Der Nichtakt, S. 27. In diese Richtung argumentiert wohl auch M. Gerhardt, ZRP 2010, 161 (163 f.) mit Verweis auf die Aufgabe des Gerichtshofs der Wahrung des Rechts. 243 Siehe nur: BVerfG, Beschl. v. 17.01.1985 – 2 BvR 498/84 (Verfassungsbeschwerde gegen Nichtentscheidung), NJW 1985, 788; J. Braun, in: Rauscher/Krüger, Münchener Kommentar zur ZPO mit GVG und Nebengesetzen, § 578 ZPO, Rn. 4 ff. Völlig verfehlt jedoch BayVGH, Beschl. v. 23.08.2021 – 12 N 21.1996 (Zweckentfremdungsverbotssatzung), juris (Rn. 29), der ohne jede normative Begründung eine Art nationaler Ultra-vires-Theorie im Verhältnis zum Bundesverwaltungsgericht anwendet. 244 G. Dahm, Völkerrecht, S. 557 ff.; H. Niedermayer, Das völkerrechtliche Nicht-Urteil; J. A. Frowein, The Binding Force of ECHR Judgments and its Limits, in: Breitenmoser/Ehrenzeller/Sasso`li/Stoffel/Wagner Pfeifer (Hrsg.), Human rights, democracy and the rule of law, S. 261, 265 f. Im Falle übergreifender Urteile von Gerichten anderer Nationalstaaten C. Feldmüller, Die Rechtsstellung fremder Staaten und sonstiger juristischer Personen des ausländischen öffentlichen Rechts im deutschen Verwaltungsprozessrecht, S. 58. Grundlegend zur Urteilsnichtigkeit wegen Inhaltsfehlern ohne Unterscheidung nach Art des Gerichts L. H. v. Almendingen, Metaphysik des Civil-Processes, S. 266 ff. 245 G. Dahm, Völkerrecht, S. 558. 246 W. Wengler, Völkerrecht, S. 558, 746. Die Möglichkeit der Annahme von Nichturteilen
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liegt dieses Willkürkriterium eng bei den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben des Ultra-vires-Vorbehalts. Insofern liegt der Schluss nahe, der Grundsatz des Nichturteils könnte auch eine unionsrechtliche Rechtfertigung für die Ultra-vires-Kontrolle darstellen. Fraglich ist aber, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen das europäische Recht die Existenz nichtiger Urteile kennt.247 Anders als beispielsweise in vielen internationalen Schiedsgerichtsvereinbarungen248 finden sich weder in den Verträgen noch in der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs eine derartige geschriebene Norm. Allenfalls könnte ein Grundsatz des Nichturteils als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts existieren. Soweit ersichtlich, hat sich noch keine europäische Institution auf das Vorliegen eines Nichturteils berufen. Insoweit könnte sich die Bundesrepublik im Falle einer erfolgreichen Ultra-vires-Kontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht nicht auf ein bestehendes rechtliches Institut stützen. Fraglos kann dieser Grundsatz auch nicht vom Bundesverfassungsgericht entdeckt werden; für die Herleitung allgemeiner Rechtsgrundsätze sind die Organe der Union selbst zuständig. Aus praktischer Sicht müsste also der EuGH selbst die Rechtskraft seiner eigenen Urteile in bestimmten Fällen in Frage stellen. Dies ist insbesondere hinsichtlich der Nichtigkeit wegen methodischer Mängel ein schwer vorstellbares Szenario. Dennoch könnte das Unionsrecht materiell die Herleitung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes gebieten. Bei der Nichtigkeitsanordnung könnte es sich mangels textlicher Grundlage um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts handeln. Die Existenz allgemeiner Rechtsgrundsätze ist ausdrücklich in Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 340 Abs. 2 AEUV verankert, aber auch für Konstellationen abseits der dort geregelten Fälle anerkannt.249 Es handelt sich dabei um solche allgemeinen Grundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemein sind. Ihre Aufgabe im System des europäischen Rechts ist es primär, Lücken im geschrieben Recht der Union zu schließen.250 Sie spiegeln damit die in Teilen des europäischen Rechts immer noch unvollständige Kodifikation wider.251 Eine Situation, welche die
für den EGMR sieht J. A. Frowein, The Binding Force of ECHR Judgments and its Limits, in: Breitenmoser/Ehrenzeller/Sasso`li/Stoffel/Wagner Pfeifer (Hrsg.), Human rights, democracy and the rule of law, S. 261, 265 f., a.A. hierzu allerdings G. Ress, ZÖR 2009, 387 (393 f.). 247 Einen solchen Grundsatz bejahend, wenngleich außerhalb eines bisher realistisch erscheinenden Anwendungsbereichs T. Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, S. 711 ff. 248 Vgl. Art. 35 der Modellregeln über Schiedsverfahren des ILC. Siehe zum Nichtigkeitsgrundsatz wegen materiellen Rechtsirrtums im Schiedsverfahren T. Stein/C. von Buttlar/M. Kotzur, Völkerrecht, Rn. 941 f. 249 H. Lecheler, Allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, § 158, Rn. 5. 250 H. Lecheler, ZEuS 2003 (338). 251 M. Nettesheim, Rechtsquellen des europäischen Unionsrechts, in: Oppermann/Classen/ Nettesheim (Hrsg.), Europarecht, § 9, Rn. 31.
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Herleitung eines neuen allgemeinen Rechtsgrundsatzes erfordert, ist durch eine Lücke im kodifizierten Recht gekennzeichnet, die eine adäquate Beantwortung einer vorliegenden Rechtsfrage verhindert.252 Die Methode der Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze aus den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ist im Einzelnen unklar. Der EuGH begründet entsprechende Vorgänge meist nur knapp und handelt damit intransparent.253 In jedem Fall aber ist die Gemeinsamkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht derart zu verstehen, dass sie geschlossen den zu übertragenden Grundsatz beinhalten müssten.254 Es darf lediglich in keiner Rechtsordnung ein derartiges Verständnis gänzlich ausgeschlossen sein.255 Das Bundesverfassungsgericht nimmt im Rahmen des OMT-Urteils umfassende rechtsvergleichende Ausführungen vor. Es verweist auf die Praxis anderer nationaler Gerichte bei der Kompetenzkontrolle von Unionsakten.256 Dies könnte sich als Versuch der Begründung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes der legalen Derogation von Urteilen des Gerichtshofs verstehen lassen.257 Allerdings bleibt der Sinn dieser Ausführungen innerhalb des Urteils im Unklaren; es fehlt hier an einer systematischen Einbettung. Angesichts des offenkundigen Konflikts des Ultra-vires-Vorbehalts mit dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist diese Lesart der rechtsvergleichenden Ausführungen wohl überschießend. Vielmehr dürfte es sich um die Klarstellung handeln, dass das Bundesverfassungsgericht hier keinen Sonderweg verfolgt258 und sich gegenüber anderen, sich grundsätzlich auf die Einheit des Unionsrechts verlassenden nationalen Gerichten, nicht illoyal verhält. Unabhängig davon gilt es, die Übertragbarkeit der nationalen Grundsätze des Nichturteils auf die europäische Rechtsordnung zu prüfen. Das Unionsrecht erfordert hier keine starre Übertragung in Form einer Deckungsgleichheit zwischen dem zu entwickelnden europäischen Recht und den Rechtsordnungen der
252 M. Nettesheim, Rechtsquellen des europäischen Unionsrechts, in: Oppermann/Classen/ Nettesheim (Hrsg.), Europarecht, § 9, Rn. 34. 253 R. Streinz, Europarecht, Rn. 764 f. 254 Siehe nur das Verbot der Altersdiskriminierung, das als solches gerade nicht von Deutschland anerkannt wurde, EuGH, Urt. v. 22.11.2005 – C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 (Rn. 75). 255 C. Schubert, in: Franzen/Gallner/Oetker, Europäisches Arbeitsrecht, Art. 6 GRCharta und EMRK, Rn. 18. 256 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 142 f.); BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 32). Kritisch hierzu R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 159 ff., der dem Gericht einen fehlerhaften Vergleich vorwirft – in Wahrheit verfügten nur fünf Mitgliedstaaten über vergleichbare Kontrollvorbehalte (S. 172). 257 So T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (31), der von einer Entdeckung eines nationalen Rechtsgrundsatzes am EuGH vorbei spricht. 258 Eine vergleichende Einordnung der verschiedenen nationalen Vorbehalte findet sich bei L. D. Spieker, CML Rev. 57 (2020), 361 (368 ff.)
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Mitgliedstaaten. Vielmehr müssen die nationalen Rechtsinstitute einer wertenden Betrachtung unterzogen werden. Ziel ist die Ermittlung des dahinterstehenden gemeinsamen Rechtsgedankens.259 Nur dieser muss auf die unionale Rechtsordnung übertragbar sein. Diese Übertragung scheidet jedoch dann aus, wenn die Gemeinsamkeit zwischen den nationalen und der europäischen Rechtsordnung gegenüber den Unterschieden in den Hintergrund rückt, das Unionsrecht also durch Eigenarten geprägt ist, die einer sinnwahrenden Übertragung des Rechtsgedankens im Wege stehen. Nach diesen Merkmalen ist die Annahme eines europäischen Nichturteils wohl zunächst nicht ausgeschlossen. Sollte der EuGH in einem Verfahren zu dem Schluss kommen, eine frühere Entscheidung sei aufgrund offensichtlicher und gravierender Mängel unwirksam, so bewegt er sich damit, soweit bekannt,260 nicht außerhalb europäischer Rechtstraditionen. Problematisch wird die Übertragung des Rechtsgedankens jedoch, sobald es um den Träger der Feststellungskompetenz geht. Soll der Grundsatz der Urteilsnichtigkeit als Rechtfertigung der Ultra-viresKontrolle tragen, so muss die Nichtigkeit von einem nationalen Verfassungsgericht festgestellt werden dürfen. Seiner Natur nach unterscheidet sich der zu entwickelnde Nichtigkeitsgrundsatz hier also von einem innerstaatlichen, denn die Nichtigkeit wird von einem Gericht eines anderen Hoheitsträgers festgestellt. Eine Derogation europäischer Urteile durch ein nationales Gericht greift deshalb in die eigenständige Hoheitsgewalt der Union ein. Ebenfalls problematisch ist die damit einhergehende Nichtigkeitserklärung eines höchstgerichtlichen Urteils: Während im nationalen Kontext typischerweise Entscheidungen eines unterinstanzlichen Gerichts für nichtig erklärt werden, sind Entscheidungen der Verfassungsgerichte oder obersten Gerichte mangels übergeordneter Instanz in der Praxis hiervon nicht betroffen.261 Auch in Deutschland ist bisher keine Verwerfungskompetenz eines einfachen Gerichts gegenüber Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts anerkannt. Im europäischen Kontext wird bei der Annahme eines Nichturteils durch ein nationales (Verfassungs-)Gericht aber der obersten judikativen Institution die Rechtskraft ihrer Urteile abgesprochen. Es fände, aus der Perspektive des Europarechts, eine Kontrolle von unten nach oben statt.262 Diese Konsequenz geht über den Rechtsgedanken hinaus, der sich den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen entnehmen 259
M. Nettesheim, Rechtsquellen des europäischen Unionsrechts, in: Oppermann/Classen/ Nettesheim (Hrsg.), Europarecht, § 9, Rn. 33 f. 260 Die vorliegende Arbeit vermag keine umfassende Auswertung aller mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zu leisten. Nach der hier vertretenen Ansicht kommt es aber auf die grundsätzliche Existenz einer Urteilsnichtigkeit nicht an, da die nationalen Gerichte zu ihrer Feststellung jedenfalls nicht befugt sind. 261 Auf dieses Problem mit Blick auf den EuGH hinweisend P. Meier-Beck, EuZW 2020, 519 (519). 262 Gemeint ist damit nicht eine grundsätzliche Gerichtshierarchie, sondern ein Rangverhältnis bei der Befähigung zur Auslegung des Europarechts nach Art. 267 AEUV.
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Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts
lässt. Dadurch fehlt es an einer Vergleichbarkeit von nationaler und unionaler Situation. Die Besonderheiten der EU verbieten damit die Adaption des nationalen Grundsatzes. Dies gilt zumindest insoweit, als Gerichten der einzelnen Mitgliedstaaten eine Verwerfungskompetenz zukäme. Eine Nichtigkeit kann daher allenfalls innerhalb des institutionellen Arrangements der Union, oder durch ihre Mitglieder in ihrer Gesamtheit263 festgestellt werden.264 Das Konzept einer Nichtigkeit von Urteilen aufgrund inhaltlicher Mängel vermag daher nicht den Ultravires-Vorbehalt zu rechtfertigen.265 d) Verfahren im Eilrechtsschutz Ausnahmsweise kann eine nationale Kompetenzkontrolle in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes unionsrechtlich zulässig sein.266 So erkennt der EuGH in bestimmten Konstellationen ein Recht der mitgliedstaatlichen Gerichte zur selbständigen Außerachtlassung unionaler Akte an.267 Die Voraussetzungen dafür sind erstens erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des Unionsrechtsakts, zweitens die Befassung des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV noch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes,268 drittens die Dringlichkeit der Entscheidung bei gleichzeitiger Gefahr eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für den Antragsteller sowie viertens eine angemessene Berücksichtigung des Gemeinschaftsinteresses. Bei letzterem Kriterium handelt es sich wohl um einen Auffangtatbestand. In der maßgeblichen Entscheidung verstand der EuGH hier263 So z.B. für „ausbrechende“ Urteile des EGMR G. Ress, ZÖR 2009, 387 (394). In diese Richtung wohl auch T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (30). 264 A.A. aber T. Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, S. 713 f., der die einseitige nationale Nichtigkeitserklärung für akzeptabel hält, soweit das EuGH-Urteil derart evident fehlerhaft ist, dass mit einer Verwerfung durch alle Rechtsordnungen zu rechnen ist. Ähnlich P. Meier-Beck, EuZW 2020, 519 (520). 265 A.A. C. Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt im Gemeinschafts- und Unionsrecht, S. 174, die in der Folge eine zumindest eingeschränkte mitgliedstaatliche Überprüfung für unionsrechtskonform hält. Ebenso H. D. Jarass, AöR 121 (1996), 173 (198). Grundsätzlich auch a.A., aber insbesondere in der PSPP-Konstellation ablehnend P. Meier-Beck, EuZW 2020, 519 (520). 266 F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, S. 79 f. Als Beispiel für eine Ultra-vires-Konstellation im einstweiligen Rechtsschutz sei BVerfG, Beschl. v. 07.12.2016 – 2 BvR 1444/16 (CETA-Beschluss II), BVerfGE 144, 1 erwähnt. 267 EuGH, Urt. v. 21.02.1991 – C-143/88 (Zuckerfabrik Süderdithmarschen), Slg. 1991, I-415 (Rn. 33). Siehe zum Einfluss auf die Ultra-vires-Kontrolle J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 199 ff. Äußerst kritisch hierzu F. Schoch, Juridica International 21 (2014), 102 (117), der in der Erstellung von Kriterien durch den EuGH einen Übergriff in die mitgliedstaatliche Hoheit über deren Verwaltungsprozessrecht und damit einen Ultra-vires-Akt sieht. 268 U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 50. EGL. Mai 2013, Art. 267 AEUV, Rn. 60 m.w.N.
C. Befugnis zur Kontrolle
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unter eine Berücksichtigung des effet utiles und der finanziellen Interessen der Union.269 Letztlich handelt es sich bei der Ausnahme vom Normverwerfungsmonopol jedoch nur um eine temporäre Zurücknahme der eigenen Kompetenz zum Zweck der Sicherstellung effektiven Rechtsschutzes. Keineswegs überantwortet der EuGH den mitgliedstaatlichen Gerichten die Befugnis zur Wahrung über die Kompetenzordnung.270 Unabhängig davon hält das Bundesverfassungsgericht mittlerweile271 den Ultra-vires-Einwand im Rahmen von Eilanträgen für nicht überprüfbar.272 Es nimmt daher die vom EuGH eröffneten Spielräume nicht in Anspruch. e) Zwischenfazit Das europäische Recht kennt weder geschriebene noch ungeschriebene Ausnahmen zur Letztentscheidungsbefugnis des EuGH.273 Das Taricco-II-Urteil ist nicht als Aufgabe des eigenen Normverwerfungsmonopols gegenüber den nationalen Gerichten zu verstehen, sondern als Klarstellung der Aufgaben dieser Gerichte im Zusammenwirken mit dem EuGH. Das nationale (Verfassungs-)gericht allein kann die nationalen Verfassungsgrundsätze bestimmen und ihnen konkrete Rechtsfolgen für den Einzelfall entnehmen. Über deren Tragweite im europäischen Recht entscheidet jedoch weiterhin ausschließlich der EuGH. Auch existiert kein europarechtlicher Grundsatz der Nichtigkeit evident fehlerhafter Urteile, welche eine Bindung der nationalen Gerichte entfallen lassen und ihnen Raum für abweichende Entscheidungen eröffnen würde. Im Ergebnis ist daher davon auszugehen, dass die Annahme274 eines Ultravires-Akts durch das Bundesverfassungsgericht auch nach einem erfolgten Vorabentscheidungsverfahren immer unionsrechtswidrig erfolgt.275 Nationale und europäische Rechtslage stimmen dann nicht überein. 269 EuGH, Urt. v. 21.02.1991 – C-143/88 (Zuckerfabrik Süderdithmarschen), Slg. 1991, I-415 (Rn. 30). 270 F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, S. 80 f. 271 In der Entscheidung BVerfG, Beschl. v. 07.12.2016 – 2 BvR 1444/16 (CETA-Beschluss II), BVerfGE 144, 1 (Rn. 4, 27 ff.) fand noch eine inhaltliche Befassung mit dem Ultra-viresEinwand statt. 272 BVerfG, Beschl. v. 15.04.2021 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Eilantrag), BVerfGE 157, 332 (Rn. 72, 105, 110). Siehe im Einzelnen 2. Kap., C IV 6, S. 172. 273 Anders I. Pernice, EuZW 2020, 508 (518), der in Ausnahmefällen eine unionsrechtliche Befugnis aufgrund der Hierarchiefreiheit im Verfassungsverbund anerkennt. Das PSPPUrteil sei aber ausdrücklich kein solcher Ausnahmefall. 274 Nicht unionsrechtswidrig ist jedoch die bloße Existenz des Vorbehalts, beispielsweise durch eine abstrakte Nennung in den Urteilsgründen. Hier wird die subjektive Sphäre des Gerichts noch nicht verlassen und es entfalten sich keine Rechtswirkungen im Unionsrecht: L.-K. Mannefeld, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die europäische Integration, S. 230 f. 275 Von einer „aus dem Rahmen fallenden Vorgehensweise“ spricht GA Tanchev in EuGH, Schlussanträge des GA v. 17.12.2020 – C-824/18 (Ernennung von Richtern zum Obersten Gerichtshof), ECLI:EU:C:2020:1053 (Rn. 81).
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II. Prüfungsauftrag im nationalen Verfassungsrecht Das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgerichtsgesetz enthalten keine Vorschriften zur Kontrolle von inter- oder supranationalen Akten durch deutsche Gerichte. Der in der Lissabon-Entscheidung formulierte Wunsch nach einer ausdrücklichen Regelung der Ultra-vires-Kontrolle276 wurde vom Gesetzgeber ignoriert.277 Dementsprechend kennt das geschriebene Recht den Begriff der Ultravires-Kontrolle nicht, weshalb der Prüfungsauftrag allenfalls den allgemeinen Vorschriften entnommen werden kann.278 In Anbetracht der entscheidenden Bedeutung dieser Frage für die gesamte Kontrolldogmatik muss die Kürze, mit der sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage auseinandersetzt, überraschen.279 Am ausführlichsten sind noch seine Ausführungen innerhalb des OMTVorlagebeschlusses. „Diese Kontrolle ist im Hinblick auf Art. 20 Abs. 1 und 2 GG nicht verzichtbar. Andernfalls wäre die Disposition über die vertraglichen Grundlagen auch insoweit auf die Organe und sonstigen Stellen der Europäischen Union verlagert, als deren Rechtsverständnis im praktischen Ergebnis auf eine Vertragsänderung oder Kompetenzausweitung hinausliefe (vgl. BVerfGE 123, 267 [354 f.]; 126, 286 [302 ff.]).“280
Ein Auftrag zur Kontrolle soll also deshalb vorliegen, weil die Kontrolle im Hinblick auf die Kompetenz-Kompetenz – und damit auch mit Blick auf den Demokratiegrundsatz und die deutsche Staatlichkeit – notwendig ist.281 Argumentiert wird also nicht mit der Auslegung eines geschriebenen Prüfungsauftrages, sondern mit der Notwendigkeit zu Erfüllung des Schutzzwecks. Dieser Ansatz des Gerichts kann von drei Seiten aus hinterfragt werden. Zum einen lässt sich die Frage aufwerfen, inwieweit eine Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht notwendig zur Erreichung des Schutzzwecks ist. Zum zweiten ist zu klären, ob aus einer Notwendigkeit zur Prüfung auch eine Kom-
276 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (354). Eine entsprechende Kompetenzzuweisung für primärrechtswidrig haltend T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (32). Für lediglich ein negatives europapolitisches Signal hält sie H. Sauer, ZRP 2009, 195 (198). 277 Bereits deshalb kritisch zur Kontrollbefugnis O. Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, S. 133. 278 Die Möglichkeit einer ungeschriebenen Prüfungskompetenz ausschließend F. C. Mayer/M. Walter, JURA 2011, 532 (540). Kritisch auch F. C. Mayer, JZ 2020, 725 (729); J. Bast, GLJ 15 (2014), 167 (168 f.). 279 R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 102 stellt fest, das Bundesverfassungsgericht lasse weitgehend offen, woraus es ermächtigt sei. 280 BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 26); hierauf wird dann auch im Endurteil verwiesen: BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 145). Ähnlich schon BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (303). 281 Daraus zieht M. Nettesheim, ZRP 2021, 222 (224) treffend die Konsequenz, dass mit zunehmender Verstaatlichung der Union die Plausibilität der Kontrolle ins Wanken gerät.
C. Befugnis zur Kontrolle
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petenz zur Prüfung abgeleitet werden kann. Drittens ist der Einfluss der unionsrechtlichen Unzulässigkeit auf die deutsche Rechtsordnung zu betrachten. 1. Notwendigkeit einer nationalen Letztkontrolle Auch wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht die Kontrolle als Beitrag zum Schutz von Demokratie und nationaler Souveränität ansieht, so ändert dies jedoch noch nichts an der vertraglich vereinbarten Prüfungszuständigkeit des EuGH nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV und Art. 267 Abs. 3 AEUV für Geltungsfragen.282 Soweit die EU selbst die Kompetenzkonformität ihrer Akte ordnungsgemäß kontrolliert, besteht keine Gefahr für nationale Rechtsgüter. Kompetenzüberschreitende Akte werden dann schon innerhalb der Unionsrechtsordnung verhindert oder beseitigt. Zurecht hält das Bundesverfassungsgericht dennoch eine nationale Reservekompetenz für notwendig. Dabei argumentiert es nicht mit der mangelnden tatsächlichen Befähigung oder dem fehlenden Willen des EuGH zur Kompetenzwahrung,283 sondern mit einer abstrakten Gefährdungslage bei der Zentralisierung der richterlichen Kompetenz-Kompetenz.284 Den europäischen Institutionen dürfe gar nicht die Möglichkeit zur eigenständigen Kompetenzausweitung eingeräumt werden. Zwar ermächtige das Grundgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Union. Als Ausfluss des grundgesetzlichen Integrationsauftrags wird dieser sogar die Tendenz zur politischen Selbstverstärkung zugestanden.285 Das Vertrauen in die konstruktive Kraft des Integrationsmechanismus könne aber von Verfassungs wegen nicht unbegrenzt sein. Bei einer eigenständigen Auslegung der Kompetenzordnung durch die Organe der Union bestehe die Gefahr, dass das vorgegebene Integrationsprogramm überschritten und außerhalb von Ermächtigungen gehandelt werde.286 Es bedürfe daher „geeignete[r] innerstaatliche[r] Sicherungen zur effektiven Wahrnehmung“ der nationalen Integrationsverantwortung. Der Union wird also eine Fortentwicklung ihrer Befugnisse grundsätzlich gestattet – sie darf allerdings nicht die Qualität einer vertraglichen Kompetenzerweiterung erreichen. Die Grenze müsse demnach von den Mitgliedstaaten überwacht werden. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht dies nicht ausdrücklich feststellt, so lassen sich diese Ausführungen als normative Aufwertung der Ultra-vires-Kon-
282
A. Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, S. 264. So aber prominent R. Herzog/L. Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ v. 08.09.2008, S. 8. 284 Im Gegenteil, es wird gerade von selten zu erwartenden Widersprüchen von nationaler und unionsrechtlicher Perspektive gesprochen – eine Aussage, die den grundsätzlichen Gleichklang zwischen den Gerichten impliziert. Anders noch BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (210). Diese Bewertung kritisiert G. Hirsch, NJW 1996, 2457 (2465). 285 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (351). 286 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (352 f.). 283
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trolle verstehen: Wenn ein Handeln europäischer Organe ultra vires die Demokratie und die Souveränität Deutschlands gefährdet und eine Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht notwendig ist, so hat die Existenz der Kontrolle letztlich mit dem Demokratiegrundsatz und der Garantie der Staatlichkeit Anteil an der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG.287 Die Ultra-vires-Kontrolle bedarf daher nicht nur keiner ausdrücklichen gesetzlichen Regelung; sie lässt sich darüber hinaus auch nicht durch Gesetz ausschließen. Auch ein Verweis auf die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes aus Art. 23 GG vermag daher die Grenzen der Ewigkeitsgarantie nicht zu verschieben.288 2. Organzuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts Indem das Bundesverfassungsgericht eine Notwendigkeit zur Überwachung der unionalen Kompetenzausübung begründet, statuiert es zunächst allgemein eine staatliche Aufgabe. Diese erfasst alle Verfassungsorgane der Bundesrepublik289 – das Gericht selbst eingeschlossen.290 Offen bleibt, warum die Ultra-vires-Kontrolle angesichts der Verantwortlichkeit aller Verfassungsorgane gerade von Seiten des Bundesverfassungsgerichts vorgenommen werden muss. Es wäre grundsätzlich auch denkbar, die Kontrolle beispielsweise dem Bundestag anzuvertrauen. Eine Notwendigkeit der verfassungsgerichtlichen Ultra-vires-Kontrolle lässt sich nur begründen, wenn kein anderes Organ besser zur Aufgabenerfüllung geeignet ist als das Bundesverfassungsgericht. Das Gericht äußert sich hierzu nicht. In der Literatur wird teils darauf hingewiesen, die Sicherung des Kernbestands der Verfassung sei originäre Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts.291 Diese Aufgabe müsse demnach auch nach außen gegenüber der EU wahrgenommen werden. Hier ist insoweit zuzustimmen, als innerhalb der deutschen Judikative typischerweise das Bundesverfassungsgericht zur Sicherung des Kernbestands der Verfassung tätig wird. Es gibt auf Ebene der Judikative keine andere Stelle, bei der eine derartige Kontrolle sachnäher vollzogen werden könne. Das Institutionensetting innerhalb der Bundesrepublik ist auf das Bundesverfassungsgericht als obersten Hüter der Verfassung zugeschnitten. Die anderen Bundesgerichte sind, schon allein aufgrund ihrer Vielzahl, nicht für die Gewährleistung eines gleichbleibenden Schutzniveaus durch kontinuierliche Rechtsprechung geeignet.
287
Kritisch sind daher etwaige politische Gedankenspiele zu betrachten, die Integrationsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch Anpassungen des Prozessrechts zu beeinflussen. Siehe hierzu J. Masing, Verfassung im internationalen Mehrebenensystem, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 1, Rn. 122. 288 A.A. wohl H. Sauer, EuR 2017, 186 (196 f.), ders., ZRP 2009, 195 (195 ff.). 289 BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 141). 290 N. Sonder, KritV 94 (2011), 214 (224); H. Sauer, ZRP 2009, 195 (198). 291 A. Kees, Grundlagen und Grenzen der europäischen Integration, in: Scheffczyk/Wolter (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 4, S. 439, 466.
C. Befugnis zur Kontrolle
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Offen bleibt, warum es einer Überprüfung der Unionsorgane ausgerechnet durch die deutsche Judikative bedarf. Innerhalb der Verträge sind die Einwirkungsmöglichkeiten der nationalen Stellen auf die europäische Hoheitsgewalt geregelt. Es erscheint daher naheliegend, jenen Organen die nationale Kompetenzaufsicht aufzutragen, die über geschriebene Kompetenzen zur Einflussnahme auf europäische Entscheidungsprozesse verfügen. Den obersten Gerichten der Mitgliedstaaten kommt insoweit keine Bedeutung zu.292 Vor allem die Exekutivorgane könnten jedoch selbständig die erforderlichen Maßnahmen zur Abhilfe bei Ultra-vires-Akten treffen, ohne dass es einer gerichtlichen Aufforderung und Aufsicht bedürfte. Darüber hinaus ist es nicht unproblematisch, wenn das Bundesverfassungsgericht es dem Bundestag unter Berufung auf den Demokratiegrundsatz verbietet, Kompetenzüberschreitungen hinzunehmen.293 In der parlamentarischen Entscheidung zur schweigenden Akzeptanz eines Ultra-vires-Akts könnte gerade ein Ausdruck demokratischer Entscheidungsfreiheit zu sehen sein. Verfassungsrechtlich einzigartig ist diese Bevormundung der Parlamentsmehrheit jedoch nicht: Zum Beispiel im Rahmen von Organstreitverfahren machen Minderheitsfraktionen gegen den Willen der Mehrheit organschaftliche Rechte des Bundestages geltend. Auch hier fungiert das Gericht als Hüter der Demokratie gegen die Parlamentsmehrheit. Gerade die Verfahren zur Eurorettung zeigten, unabhängig von ihrem konkreten Ausgang, dass politische Gründe für die Tolerierung von Kompetenzanmaßungen auf EU-Ebene sprechen können. Es bestand ein politischer Wille zur Fortsetzung des OMT-Programms.294 Könnte der Bundestag sich durch bloßes Unterlassen seiner Befugnisse entäußern, drohte eine Verselbständigung der Integration ohne ausreichende öffentliche Debatte und politischen Diskurs. Der demokratische Prozess in Deutschland könnte auf diese Weise dauerhaften Schaden nehmen. Zu verlockend können im Einzelfall (kompetenzwidrige) zentrale Entscheidungen auf EU-Ebene gegenüber weniger wirkungsvollen oder in der Öffentlichkeit unbeliebten deutschen Alleingängen oder schwer erreichbarer intergouvernementaler Kooperation sein.295 Die im Einzelfall gewollte Maßnahme 292 Mit ähnlicher Argumentation eine Prüfungskompetenz ablehnend: M. Ludwigs, NVwZ 2015, 537 (539). 293 F. C. Mayer, EuR 2014, 473 (508). Ähnlich C. D. Classen, JM 2014, 345 (347). 294 Auf die besondere Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts bei fehlender politischer Kontrolle weist daher im Ansatz zurecht W. Kahl, DVBl 2013, 197 (197 f.) hin. Seiner Ansicht nach seien andere Kontrollinstanzen in einer „European Correctness“ gefangen. Die juristische Fachöffentlichkeit falle durch ihre mangelnde Kritik an der Eurorettung, möglicherweise aufgrund zu hoher Komplexität der Materie oder aus „karrierestrategischer Vorsicht“, ebenso als Kontrolleur aus, siehe ebd. Fn. 8. Angesichts der inzwischen vorgetragenen politischen wie juristischen Kritik an der Eurorettung dürfte dieser Befund zumindest nicht mehr aufrechtzuerhalten sein. 295 Als Ausdruck des Misstrauens gegenüber der Politik sieht daher K. F. Gärditz, GLJ 15 (2014), 183 (189) das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts.
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könnte so zu einer grundsätzlichen Erosion der Kompetenzen in einem bestimmten Bereich führen. Das Bundesverfassungsgericht – als sachnächste judikative Stelle – ist nicht in vergleichbarer Weise politischen Zwängen unterworfen.296 An der Überwachung europäischer Kompetenzausübung zeigt sich die grundsätzliche Debatte um die Vorzüge und Nachteile einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber einer Klärung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten im politischen Diskurs.297 Im Spektrum denkbarer Lösungen hat das Grundgesetz sich für eine sehr starke Verfassungsgerichtsbarkeit entschieden.298 Diese Lösung auch im Bereich der Ultra-vires-Kontrolle zu wählen ist insoweit trotz aller möglicher Bedenken konsequent. 3. Kompetenzbegründende Wirkung der Notwendigkeit Selbst wenn man die Prämissen des Gerichts teilt – beginnend mit der Theorie von der Geltungsbrücke bis hin zum Charakter der Union als Staatenverbund dem gegenüber die Eigenstaatlichkeit der Bundesrepublik verteidigt werden muss – so wird hier eben zunächst nur die Notwendigkeit einer Kontrolle begründet.299 Aus der Notwendigkeit der Wahrnehmung einer Aufgabe kann aber nach allgemeiner Ansicht nicht auf das Vorhandensein einer Kompetenz geschlossen werden.300 Gerade in Verbindung mit der rudimentären Begründung des Prüfungsauftrags lässt sich bei diesem Vorgehen von einem Kunstgriff sprechen. Dabei stellt sich dieses Problem nicht erstmals bei der Ultra-vires-Kontrolle: Bereits im Solange-I-Verfahren war die Prüfungskompetenz gegenüber 296 Dazu, inwieweit ein Sachzwang zur Euro-Stabilisierung gegeben war, siehe T. Oppermann, Euro-Stabilisierung durch EU-Notrecht, in: Bechtold (Hrsg.), Recht, Ordnung und Wettbewerb, S. 909, 914 ff. Kritisch hinsichtlich juristischer Konsequenzen P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 214, Rn. 82. 297 Siehe die Darstellung bei A. Voßkuhle, Europa, Demokratie, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 345 ff. Zu den funktionalen Vorzügen der Verfassungsgerichtsbarkeit siehe auch K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 510 ff.; die Kritik an der Verfassungsgerichtsbarkeit darstellend D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 357 ff. 298 Siehe einordnend K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 1 ff. 299 Besonders klar ist hier BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (353): „Innerhalb der deutschen Jurisdiktion muss es zudem möglich sein, die Integrationsverantwortung im Fall von ersichtlichen Grenzüberschreitungen bei Inanspruchnahme von Zuständigkeiten durch die Europäische Union […] einfordern zu können.“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 300 Ausführlich und m.w.N. J. H. Klement, Verantwortung, S. 351 ff.; für Unionshandeln hingegen akzeptiert das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich keine kompetenzbegründende Wirkung von Aufgabenzuweisungen, siehe BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (192). Zumindest kritisch daher EuGH, Urt. v. 09.07.1987 – C-281/85 (Wanderungspolitik), Slg. 1987, 3245 (Rn. 28), wo es heißt, es sei bei Vorliegen einer vertraglichen Aufgabenzuweisung an die Kommission davon auszugehen, dass die Bestimmung „notwendigerweise auch die zur Erfüllung dieser Aufgabe unerläßlichen Befugnisse verleiht“.
C. Befugnis zur Kontrolle
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Akten der europäischen Union ein Streitpunkt innerhalb des entscheidenden Senats. Die Richter Rupp, Hirsch und Wand verfassten gemeinsam eine abweichende Meinung, innerhalb derer sie die fehlende Kompetenz zur Prüfung von Unionsakten festhielten.301 Mit Verweis auf das Enumerativprinzip der Aufgabenzuweisungen sei eine analoge Anwendung bestehender Vorschriften ausgeschlossen. Schließlich wurde festgestellt, die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, Hüter der Verfassung zu sein, könne auch bei Vorliegen eines noch so dringenden rechtspolitischen Bedürfnisses nicht zu einer Erweiterung der Zuständigkeit führen.302 Überträgt man die Ausführungen der Richter auf den Ultra-vires-Vorbehalt, folgt daraus jedoch nicht nur der Wegfall der Kontrollkompetenz. Wenn die Kontrolle nach Art. 79 Abs. 3 GG zwar erforderlich, im gegebenen verfassungsprozessualen Arrangement allerdings nicht möglich ist, so wäre die deutsche Unterwerfung unter die Unionsgerichtsbarkeit nicht zulässig. Damit wäre die Beteiligung Deutschlands an der Union in ihrer heutigen Gestalt verfassungsrechtlich ausgeschlossen.303 Insoweit lässt sich eine großzügige Herleitung einer Prüfungskompetenz als Rettung der deutschen Integrationsbeteiligung verstehen.304 Jede ex ante Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts ist eine integrationsfreundlichere Alternative zur unterlassenen Integration. Dieser Befund allein löst jedoch nicht das aufgeführte argumentative Problem. Im Ergebnis ist der abweichenden Meinung jedenfalls insoweit zuzustimmen, als sie auf dem Erfordernis einer normierten Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts beharrt. Auch eine vermeintliche Notwendigkeit für eine Ausnahme kann hieran nichts ändern. Dies bedeutet jedoch nicht, dass keine Kontrollkompetenz des Gerichts besteht. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist die Funktion des Verfassungsprozesses: Er dient der Prüfung eines konkreten Sachverhalts auf seine Rechtsfolgen unter Anwendung des relevanten materiellen Rechts. Inwieweit sich ein Gericht im Rahmen eines zulässigen Antrags mit materiellen Rechtsfragen auseinandersetzen kann und muss, wird durch die Anforderungen an die Begründetheit des Antrags sowie das materielle Recht vorgegeben. Eine ausdrückliche Ermächtigung zur Prüfung bestimmter Rechtsfragen ist nicht erforderlich – allenfalls kann das Recht eine Ausnahme vom vollständigen Prüfungsauftrag vorsehen. Bei der Ultra-vires-Kontrolle handelt sich nicht um eine eigene Verfahrensart, welche nach dem Enumerationsprinzip auf eine gesetzliche Begründung angewiesen wäre, sondern um einen Prüfungsmodus des materiellen Rechts. Grund-
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BVerfG, Beschl. v. 29.05.1974 – BvL 52/71 (Solange I), BVerfGE 37, 271 (300 ff.). BVerfG, Beschl. v. 29.05.1974 – BvL 52/71 (Solange I), BVerfGE 37, 271 (303). 303 Diese Konsequenz ergibt sich lediglich unter Zugrundelegung der Prämisse des Ultravires-Vorbehalts und war nicht die Intention der Verfasser der abweichenden Meinung im Solange-I-Verfahren. 304 Freilich ist die Notwendigkeit zur Rettung durch die Grundannahmen des Gerichts selbst verschuldet. 302
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sätzlich muss das Gericht daher eine Ultra-vires-Kontrolle vornehmen, wenn diese ein Ausschnitt der Begründetheitsprüfung eines konkreten verfassungsgerichtlichen Verfahrens darstellt. Beispielsweise im Honeywell-Verfahren unternahm das Bundesverfassungsgericht deshalb eine Ultra-vires-Kontrolle, weil ihr Ergebnis maßgeblich für das Vorliegen einer Verletzung des Beschwerdeführers in seinen Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG war. Abhängig von der Frage, ob die Auslegung der Richtlinie 2000/78/EG durch den EuGH ultra vires erfolgte, war die Feststellung des Fortbestehens des streitigen Arbeitsverhältnisses grundrechtskonform oder nicht. Sieht sich das Bundesverfassungsgericht mit einer Situation konfrontiert, in der einer Rechtsfrage Entscheidungserheblichkeit zukommt, so muss es diese grundsätzlich entscheiden. Das Rechtsverweigerungsverbot verbietet es, aufgeworfene juristische Fragen schlicht nicht zu beantworten und stattdessen einen non-liquet-Rechtsspruch zu fällen. Vielmehr gilt, dass Hoheitsakte innerhalb ihrer rechtlichen Determination grundsätzlich vollständiger gerichtlicher Kontrolle unterliegen. Sähe das Bundesverfassungsgericht daher von einer Beantwortung der Frage nach dem Vorliegen eines Ultra-vires-Akts ab, so müsste es einen Ausschluss dieser Frage aus seinem eigenen Prüfungsbereich aktiv begründen. Demnach geht die Frage, woraus das Bundesverfassungsgericht seine Befugnis zur Ultra-vires-Kontrolle herleitet, an der Sache vorbei. Es ist vielmehr zu Fragen, inwieweit das Unionsrecht oder das nationale Recht eine Ausnahme vom Grundsatz der vollumfänglichen Prüfungspflicht wirksam statuiert haben. 4. Rücknahme des Prüfungsauftrags Ein derartiges Herauslösen einzelner materieller Rechtsfragen aus der Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts ist keineswegs beispiellos, sondern – ganz im Gegenteil – Alltag im nationalen Recht. Zwar profitiert die Exekutive nur äußerst selten von einem vollständigen Ausschluss der gerichtlichen Überprüfung ihrer Entscheidungen,305 jedoch werden diverse Rechtsfragen speziell dem Verfassungsgericht entzogen und allein den Fachgerichten überantwortet. Zur Abgrenzung der inhaltlichen Zuständigkeiten zwischen den Fachgerichten und der Verfassungsgerichtsbarkeit im Rahmen von Urteilsverfassungsbeschwerden nutzt das Bundesverfassungsgericht zumeist die Heck’sche, vor allem
305
Hier sind Entscheidungen nach Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG wohl einzigartig. Allerdings wird mit der G 10-Kommission zumindest ein funktionales Äquivalent zur Gerichtsbarkeit geschaffen. Streitig ist die Behandlung des Gnadenakts, siehe hierzu E. Schmidt-Aßmann, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 92. EGL. August 2020, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 80 m.w.N.
C. Befugnis zur Kontrolle
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aber die Schumann’sche Formel.306 Nach der Heck’schen Formel307 ist die Kompetenz des Verfassungsgerichts auf die Feststellung einer spezifischen Verfassungsverletzung begrenzt – die Verletzung des Beschwerdeführers in seinen Grundrechten aufgrund einer fehlerhaften Auslegung des einfachen Rechts bleibt unbeachtlich. Nach der Schumann’schen Formel308 besteht eine Prüfungskompetenz nur, wenn die fachgerichtliche Auslegung des einfachen Rechts selbst bei ausdrücklicher Regelung durch den Gesetzgeber gegen die Verfassung verstieße oder aber bei zwar vertretbarem Ergebnis das Produkt einer willkürlichen Rechtsanwendung sei.309 Die Bedeutung dieser Einschränkungen wird bei Betrachtung der materiellen Rechtslage deutlich: Ein (Zivil-) Urteil, welches dem Einzelnen eine Pflicht oder eine Duldung aufträgt, stellt einen Eingriff zumindest in seine Allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG dar. Ein solcher Eingriff kann nur aufgrund einer gesetzlichen Grundlage, beispielsweise einer Norm des BGB, wirksam erfolgen. Verkennt das Fachgericht deren Reichweite, ist der Eingriff nicht durch sie gerechtfertigt. Das Urteil verletzt den Einzelnen damit in seinem Grundrecht.310 Insofern soll die Beschränkung des Bundesverfassungsgerichts auf die Prüfung spezifischer Verfassungsverletzungen diese indirekte Grundrechtsverletzung seinem Prüfungsauftrag entziehen. Diese Begrenzung lässt sich nicht aus den Grenzen der subjektiven Rechte des Einzelnen begründen, sondern lediglich aus dem Gedanken eines funktionalen institutionellen Gefüges heraus. So argumentiert das Gericht mit dem Sinn der Verfassungsbeschwerde und „der besonderen Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts“.311 Mit der Einrichtung des EuGH stellt sich das Problem der funktionalen Abgrenzung der Gerichtsbarkeiten nicht mehr nur im Verhältnis zu den Fachgerichten, sondern auch gegenüber der europäischen Gerichtsbarkeit. In diesem Sinne könnte eine vollständige nationale Zurückhaltung zugunsten einer letztverantwortlichen Kontrolle des Europarechts durch den Gerichtshof angezeigt sein.312 306
Zu den Grenzen dieser Formeln siehe J. Berkemann, DVBl 1996, 1028 (1033 ff.). Benannt nach dem Berichterstatter im maßgeblichen Verfahren BVerfG, Beschl. v. 10.06.1964 – 1 BvR 37/63 (Prüfungsumfang in der Urteilsverfassungsbeschwerde), BVerfGE 18, 85, Karl Heck. 308 Benannt nach ihrem Begründer, Ekkehard Schumann, der sie erstmals in seiner Dissertation formulierte, siehe E. Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche Entscheidungen, S. 206. 309 In etwa 80 % der Fälle soll das Bundesverfassungsgericht die Formeln anwenden, siehe K. Kublaschvili/B. G. Schubert, VRÜ 40 (2007), 290 (301); J. Berkemann, DVBl 1996, 1028 (1033). 310 Daher führen die Prüfungsbeschränkungen des Bundesverfassungsgerichts dazu, dass dieses objektiv rechtswidrige Urteile nicht beanstandet, J. Berkemann, DVBl 1996, 1028 (1030). 311 BVerfG, Beschl. v. 10.06.1964 – 1 BvR 37/63 (Prüfungsumfang in der Urteilsverfassungsbeschwerde), BVerfGE 18, 85 (92 f.). 312 Ablehnend bezüglich dieses Ansatzes aber R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 133 f., der offenbar von einer fehlenden Vergleichbarkeit der Si307
72
Erstes Kapitel: Die Herleitung des Ultra-vires-Vorbehalts
Das Unionsrecht weist für seine eigene Auslegung dem EuGH die Letztentscheidungskompetenz zu und schließt damit eine nationale Ultra-vires-Kontrolle aus.313 Die Beantwortung der vorgelegten Fragen durch den EuGH im Vorabentscheidungsverfahrens entzieht diese aus Sicht des Unionsrechts dem Entscheidungsbereich des nationalen Verfassungsgerichts. Die Verträge sind auch in dieser Hinsicht durch Ratifikation Teil der deutschen Rechtsordnung geworden.314 Das Ratifikationsgesetz für die europäischen Verträge muss sich jedoch an der Verfassung messen lassen.315 Die Übertragung der richterlichen Letztentscheidungsbefugnis auf den EuGH kann daher nicht weiter gehen, als es die Normen des Grundgesetzes zulassen. An dieser Stelle kann auf die bereits ausgeführte grundsätzliche Notwendigkeit einer letztverbindlichen nationalen Kompetenzkontrolle verwiesen werden.316 Zurecht bezeichnet das Bundesverfassungsgericht diese als für die Wahrung von Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG unverzichtbar.317 Eine Kontrolle muss zumindest in dem Umfang verbleiben, als andernfalls die Kompetenz-Kompetenz faktisch auf die Union verschoben und damit die deutsche Staatlichkeit sowie die demokratische Legitimation der in Deutschland ausgeübten Hoheitsgewalt nicht mehr gesichert wären. Diese Notwendigkeit der nationalen Kontrolle begründet nach hier vertretener Auffassung daher nicht die Kontrollkompetenz des Gerichts – sie verhindert aber den wirksamen Entzug derselben durch die Ratifikation der Unionsverträge.318 Damit verfügt das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich über die Befugnis zu einer im Einzelnen noch zu konkretisierenden Kompetenzkontrolle.
tuationen ausgeht. Nach hier vertretener Ansicht kann den Verschiedenheiten jedoch auf Ebene der Ausgestaltung der funktionalen Abgrenzung Rechnung getragen werden. 313 1. Kap., C I 2 e), S. 63. 314 R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 109. 315 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (329). 316 Siehe 1. Kap., C II 1, S. 65 f. 317 BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 26). 318 Deshalb geht der Verweis auf die fehlende gesetzliche Grundlage einer Prüfung auch fehl, siehe aber dahingehend 1. Kap., C II 2, S. 66 ff
Zweites Kapitel
Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle Während im ersten Kapitel die Grundlagen des Ultra-vires-Vorbehalts analysiert wurden, beschäftigt sich dieses Kapitel mit der Dogmatik der Kontrolle. Es wird den Fragen nachgegangen, was tauglicher Kontrollgegenstand ist, welchen Maßstab die Kontrolle hat, in welchen prozessualen Konstellationen sie auftreten kann und wie sie sich zu den anderen Kontrollvorbehalten des Bundesverfassungsgerichts für europäisches Recht verhält. Zu diesem Zweck wird die bundesverfassungsgerichtliche Dogmatik dargestellt und kritisch analysiert. Ziel ist es, Probleme auf Ebene der Anwendung des Vorbehalts herauszuarbeiten, um im dritten Kapitel der Arbeit konkrete Vorschläge für eine Verbesserung zu entwickeln. Bereits hinsichtlich des Kontrollzwecks wurde deutlich, dass sich das Instrument in einem steten Wandel befindet. Auch eine stabile Dogmatik hat sich bislang nicht entwickelt. Wie zu zeigen sein wird, sind zwar die einzelnen Tatbestandsmerkmale seit der Honeywell-Entscheidung grundsätzlich unverändert geblieben – das konkrete Verständnis von deren Inhalt hat sich aber teils erheblich verändert. Insbesondere das Kriterium der Offensichtlichkeit einer Kompetenzüberschreitung ist bislang noch keineswegs verfestigt.1 Im Rahmen der strukturellen Relevanz einer Kompetenzüberschreitung operiert das Bundesverfassungsgericht sogar mit verschiedenen abstrakten Formeln.2 Die ohnehin aufgrund der abstrakten und sehr wertungsoffenen Tatbestandsmerkmale bestehende Rechtsunsicherheit wird so durch eine große Einzelfallorientierung der Rechtsprechung noch vergrößert.
A. Gegenstand der Kontrolle Zunächst sind die tauglichen Kontrollgegenstände herauszuarbeiten. Diese sind von den Verfahrensgegenständen vor dem Bundesverfassungsgericht zu unterscheiden. Dies gründet darin, dass es sich bei der Ultra-vires-Kontrolle nicht um eine Verfahrensart handelt. Sie ist vielmehr der Ausschnitt der materiellen verfassungsrechtlichen Prüfung, der sich mit der Kompetenzkonformität unionaler Maßnahmen befasst. Sie stellt also einen Modus gerichtlicher Kontrolle dar, der 1 2
Siehe 2. Kap., B III 1 a), S. 105 ff. Siehe 2. Kap., B III 2, S. 118 ff.
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
bezüglich seiner Abstraktionsebene mit der Grundrechtskontrolle vergleichbar ist. Während hier Akte der deutschen öffentlichen Gewalt auf ihre Vereinbarkeit mit bestimmten Normen des deutschen Verfassungsrechts, den Grundrechten, untersucht werden, befasst sich die Ultra-vires-Kontrolle mit der Vereinbarkeit bestimmter Unionshandlungen mit dem Integrationsprogramm.3 Dabei sind der prozessuale Gegenstand, regelmäßig das Handeln eines deutschen Verfassungsorgans,4 und der Gegenstand der Kontrolle, das Handeln eines Unionsorgans, verschieden. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden sich zum Kontrollgegenstand, anders als zum Verfahrensgegenstand, nur wenige grundsätzliche Ausführungen. Eine wissenschaftliche Betrachtung kann daher nur aus den entschiedenen Fällen allgemeine Regeln herleiten sowie aus den Grundannahmen des Vorbehalts Rückschlüsse hinsichtlich des Kontrollgegenstands ziehen. Soweit es um das Subjekt der Handlung geht, kontrollierte das Bundesverfassungsgericht bisher Maßnahmen des Rates,5 des EuGH6 und der EZB7. Dabei spricht es von der Ultra-vires-Kontrolle als Instrument zur Überprüfung von Maßnahmen der Einrichtungen, Organe und sonstigen Stellen der EU.8 Dabei unterscheiden sich zwar die verwendeten Formulierungen geringfügig.9 In der Sache wird allerdings deutlich, dass zwischen den Stellen der Union nicht differenziert werden soll. Auch in Anbetracht des Schutzzwecks der Kontrolle spielt es keine Rolle, von welcher Stelle eine Kompetenzüberschreitung vorgenommen wird. Die größte Relevanz kommt der Ultra-vires-Kontrolle von Entscheidungen des EuGH zu. Das Bundesverfassungsgericht wird eine Maßnahme einer anderen Unionsstelle nur dann für ultra vires erklären, wenn der Gerichtshof sie im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV bestätigt hat und dieses bestätigende Urteil selbst ultra vires erging.10 Folglich findet die ent-
3 Ein Handeln der deutschen Hoheitsgewalt kann daher nie ultra vires im Sinne dieser Arbeit sein, siehe auch BVerfG, Beschl. v. 16.07.2020 – 2 BvR 2211/18 (katalanische Unabhängigkeitsbewegung), juris 1. Leitsatz. 4 Hierzu 2. Kap., C III, S. 133 ff. 5 Z.B. BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202. 6 Z.B. BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17; BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286. 7 Z.B. BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17. 8 BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 93); BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 115 ff.). 9 In früheren Entscheidungen wurde mehrheitlich lediglich von „Einrichtungen und Organen“, siehe BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (302); BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (188), oder nur von Organen gesprochen, siehe BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (353). 10 Siehe BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 116).
A. Gegenstand der Kontrolle
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scheidende Auseinandersetzung mit den Argumenten für und wider die Annahme einer Kompetenz bereits in der Auseinandersetzung mit dem Urteil statt.11 Unklar ist, welche Handlungsformen einen Kontrollgegenstand darstellen können. Zweifellos ist rechtsförmliches Verhalten, wie zum Beispiel eine Maßnahme nach Art. 288 AEUV oder ein Urteil des Gerichtshofs, ein potenzieller Gegenstand der Kontrolle. Offen ist jedoch die Kontrollmöglichkeit bei Realhandeln einer Unionsstelle. In diesen Fällen kann kein Geltungsproblem vorliegen, sondern allenfalls ein Rechtmäßigkeitsproblem. Insoweit lässt sich also vertreten, die Herleitung des Vorbehalts über die Geltungsbrücke begründe keine so geartete Kontrolle. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts enthalten keine ausdrückliche Erklärung zu dieser Frage; so sind auch die gewählten Formulierungen zum Kontrollgegenstand keineswegs eindeutig. Selbst innerhalb einer Entscheidung variieren die Aussagen erheblich. Mal wird von der „Inanspruchnahme von Zuständigkeiten“12, mal von „Rechtsakten“13, „Maßnahmen“14 oder von „Handlungen“15 gesprochen, welche kontrolliert würden. Vor diesem Kontext wird vertreten, die teilweise offenen Formulierungen umfassten auch Realhandeln europäischer Stellen.16 Diese Interpretation deckt sich auch mit dem Zweck des Ultra-vires-Vorbehalts: Aus Sicht der deutschen Souveränität und Demokratie spielt die Art der Kompetenzanmaßung keine Rolle. Hoheitsgewalt kann in verschiedenster Weise ausgeübt werden, insbesondere durch die Ankündigung von Maßnahmen. So hat beispielsweise im Juli 2012 die Aussage des damaligen Präsidenten der EZB, man sei „ready to do whatever it takes to preserve the euro“ erhebliche Effekte auf die Finanzmärkte ausgeübt, obwohl der eigentliche Beschluss der Zentralbank zur Schaffung der OMT als Instrument erst etwa sechs Wochen später erfolgte. Eine Beschränkung den Kontrollgegenstands gleich welcher Art könnte zudem die Möglichkeit des bewussten Umgehens mitgliedstaatlicher Kontrollen durch die europäischen Stellen eröff-
11 Inwieweit eine theoretische Möglichkeit dahingehend besteht, dass ein Urteil des EuGH ultra vires erging, die Maßnahme des Unionsorgans jedoch nicht vom Bundesverfassungsgericht beanstandet wird, ist fraglich. Sofern die Maßnahme selbst kompetenzgemäß ist, dürfte ein bestätigendes Urteil des EuGH kaum als strukturell relevant fehlerhaft anzusehen sein. Auch aus praktischen Erwägungen wäre das hochproblematische Ultra-vires-Verdikt gegenüber dem Gerichtshof bei bestehender Einigkeit in der Sache kaum vorstellbar. Wohl ebenso R. Hofmann/A. Heger, EuGRZ 2020, 176 (186). 12 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (352). 13 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (352). Teils spricht es auch nur von einem „Akt“, BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 148). 14 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 148, 162 u.a.). 15 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 83); BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (286, 302 u.a.). 16 M. Lochmann, EuR 2019, 61 (80); J. H. Klement, ZG 29 (2014), 169 (189).
76
Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
nen. So könnte die Drohung mit einer rechtswidrigen Sanktion eine ähnliche Steuerungswirkung entfalten wie die Sanktion selbst. Kein Gegenstand einer Kontrolle können Unterlassungen durch Unionsorgane sein. Hierin liegt keine Inanspruchnahme vertraglich eingeräumter Ermächtigungen der Union.17 Nicht erforderlich für eine Kontrolle ist die Gegenwärtigkeit einer unionalen Maßnahme. An einer solchen fehlte es im OMT-Verfahren: Die Outright Monetary Transactions waren zum Zeitpunkt der gerichtlichen Verhandlung eine per Beschluss der EZB angekündigte Maßnahme als mögliche zukünftige Reaktion auf eine weitere Zuspitzung der Finanzkrise.18 Zu einer Aktivierung des Programms kam es bis zum heutigen Tag nicht; sie wird angesichts der die Märkte beruhigenden Wirkung der bloßen Ankündigung auf absehbare Zeit wohl auch nicht erforderlich sein. Dennoch hielt das Bundesverfassungsgericht eine Prüfung aufgrund der tatsächlichen Wirkungen der Ankündigung für möglich.19 Allein die Gewissheit einer dauerhaften Liquidität der Euro-Krisen-Staaten beruhigte Investoren und senkte dadurch den Zinssatz der Staatsanleihen. Hier zeigt sich auch die teilweise Beliebigkeit der zu wählenden Handlungsform aus Sicht des Unionsorgans: Die EZB hätte es ohne Weiteres bei der mündlichen Ankündigung des OMT-Programms in einer Pressekonferenz belassen können, ohne dass erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Wirkungen zu erwarten gewesen wären. Hier kann aus Perspektive des Schutzes der nationalen Souveränität und Demokratie kein Unterschied gemacht werden. Hinsichtlich des Adressaten der Maßnahme finden sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keinerlei Einschränkungen. Angesichts der Kontrolle des OMT-Beschlusses der EZB und der hier angenommenen Möglichkeit der Überprüfung von Realakten, ist nicht von der Notwendigkeit des Bestehens eines Adressaten auszugehen. Allein relevant ist die Notwendigkeit der Inanspruchnahme einer Kompetenz für die Handlung der unionalen Stelle. Das zentrale Abgrenzungsmerkmal zwischen kontrollfähigen und nicht kontrollfähigen Akten ist daher die Inanspruchnahme öffentlicher Gewalt durch die Union.
17 BVerfG, Beschl. v. 16.07.2020 – 2 BvR 2211/18 (katalanische Unabhängigkeitsbewegung), juris 1. Leitsatz. 18 Siehe A. Thiele, Die Europäische Zentralbank, S. 1 ff. 19 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 89 f.). Siehe auch U. Hufeld, JVSR 2016/2017, 11 (23); F. C. Mayer, EuR 2014, 473 (477).
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle Nachfolgend wird der Maßstab der Kontrolle analysiert. Obwohl es sich um das dogmatische Kernstück des Vorbehalts handelt, ist er wohl mehr als alle anderen Punkte im System einem Wandel unterworfen. Hieraus entstehen für den Betrachter erhebliche Unklarheiten über die Rechtslage. Dies gilt umso mehr, weil das Bundesverfassungsgericht die Abkehr von einer bestimmten Position nicht immer offenlegt. Unbestritten ist nicht jeder unionsrechtswidrige Akt ultra vires im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das deutsche Recht akzeptiert die grundsätzliche Wirksamkeit rechtswidriger Unionsakte und überlässt insoweit dem EuGH die alleinige Befugnis zur Beantwortung von Gültigkeitsfragen.20 Vielmehr handelt es sich bei der Ultra-vires-Kontrolle um eine spezifische, qualifizierte Kompetenzkontrolle. Die schon in der Lissabon-Entscheidung betonte Notwendigkeit der „ersichtlichen“ Kompetenzüberschreitung wurde mit der Honeywell-Entscheidung zur „offensichtlichen“ und „strukturrelevanten“ Überschreitung konkretisiert. Damit stellen sich drei Probleme: Erstens muss bestimmt werden, was das Bundesverfassungsgericht unter Kompetenzüberschreitung versteht. Was ist eine Kompetenz? Gegen welche Rechtssätze muss eine Stelle der Union demnach verstoßen, um eine Ultra-vires-Kontrolle auszulösen? Zweitens ist herauszuarbeiten, wann von einem Verstoß gegen diese Rechtssätze ausgegangen werden kann, also wie das Bundesverfassungsgericht die Kompetenzüberschreitung im Einzelnen prüft. Drittens sind Art, Reichweite und Begründbarkeit der Beschränkungen des Prüfungsumfangs zu untersuchen: Was versteht das Gericht unter „offensichtlich und strukturrelevant“ und fügen sich diese Kriterien widerspruchsfrei in die Grundannahmen des Vorbehalts ein?
I. Die Kompetenzüberschreitung als Ansatzpunkt Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die Ultra-vires-Kontrolle mit wechselnden Formulierungen wiederholt und ständig als ein Instrument der Kompetenzkontrolle,21 ohne den Begriff der Kompetenz jedoch zu definieren. Es be20
Siehe hierzu auch 1. Kap., C 2 c), S. 56 ff. Beginnend bereits mit BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 (Kloppenburg), BVerfGE 75, 223 (234 ff.) würden „Kompetenzüberschreitungen“ geprüft. Später ist teils vom Ausbrechen aus eingeräumten Hoheitsrechten die Rede (BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 [Maastricht], BVerfGE 89, 155 [188]), von Grenzüberschreitungen bei der Inanspruchnahme von Zuständigkeiten (BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 [Lissabon], BVerfGE 123, 267 [353]) oder vom Überschreiten des Integrationsprogramms (BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 [OMT-Programm], BVerfGE 142, 123 [Rn. 146]). Jüngst steht erneut der Begriff der (Verbands-)Kompetenz im Vordergrund, siehe BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 142); BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 150). 21
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
schäftigt sich zwar ausführlich mit dem Prüfungsmaßstab, also mit der Frage, wann ein Verstoß gegen die Kompetenzordnung vorliegt. Es stellt aber keine vergleichbare Transparenz bezogen auf seinen materiellen Ansatzpunkt her, also bezüglich der Frage, gegen welche Normen die Unionsstelle verstoßen muss, damit die Kontrolle einschlägig ist. Im Folgenden soll der Kompetenzbegriff daher geklärt werden. 1. Vorliegen einer Einzelermächtigung Das Vorliegen einer Ermächtigung ist der zentrale Faktor für die Begründung einer Verbandskompetenz der Europäischen Union und damit Ausgangspunkt der Ultra-vires-Kontrolle.22 Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung genießt eine Doppelnatur als unionsvertraglicher (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EUV) und zugleich verfassungsrechtlicher (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG) Grundsatz.23 Typischerweise sind die vertraglichen Ermächtigungen nicht sachbereichsbezogen, sondern final gefasst.24 Statt die Union zur Vornahme von Handlungen in bestimmten Sachbereichen zu ermächtigen, räumten ihr die Mitgliedstaaten Befugnisse zur Verwirklichung bestimmter Zwecke ein. Diese zielbezogene Kompetenzprogrammierung unterscheidet sich grundlegend von einer Kompetenzabgrenzung wie sie im deutschen Recht aus den Art. 72 ff. GG bekannt ist.25 Hieraus folgen praktische Probleme für die Kompetenzkontrolle. Eine Sonderrolle nimmt Art. 19 Abs. 1 EUV ein. Zusammen mit den Art. 251 bis 281 AEUV ermächtigt er den Europäischen Gerichtshof zur letztverbindlichen Rechtsprechung zum Unionsrecht. Es handelt sich also um die Übertragung einer judikativen Kompetenz auf die Union. Sie ist nicht final, sondern sachbezogen als Befugnis zur „Wahrung des Rechts“ formuliert. Eine Kompetenzkontrolle kann demnach unmittelbar anhand dieses sachbezogenen Kriteriums erfolgen.26 Das Bundesverfassungsgericht leitet aus dem Auftrag zur Wahrung des
22 Das Bundesverfassungsgericht nutzt den Ausdruck Einzelermächtigung teils sogar synonym für Kompetenz, BVerfG, Urt. v. 06.12.2022 – 2 BvR 547/21 (EU-WiederaufbaufondsUrteil), WM 2022, 2451, vgl. Rn. 149 u. 150. 23 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 185); BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (350). 24 H. D. Jarass, AöR 121 (1996), 173 (178). Allgemein zur finalen Programmierung von Normen siehe J. H. Klement, Verantwortung, S. 275 ff. Eine sachliche Notwendigkeit zur finalen Formulierung nimmt M. Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 1045, 1073 f. an. 25 Mindestens ebenso deutlich unterscheidet sie sich jedoch von zivilrechtlichen Vollmachten. Angesichts der Multilateralität der Unionsrechtsordnung und der Staatlichkeit ihrer Mitglieder ist die Anwendung zivilrechtlicher Dogmatik nicht zielführend. So aber H.-J. Hellwig, NJW 2020, 2497, Rn. 46, der sogar die Rechtsprechung des BGH zu §§ 133, 157 BGB fruchtbar machen will. 26 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 112); BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (160); BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (305). In An-
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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Rechts und aus den gemeinsamen europäischen Rechtstraditionen Anforderungen an die Tätigkeit des EuGH her.27 Keine Einzelermächtigungen stellen hingegen die Art. 2 ff. AEUV dar. Bei ihnen handelt es sich um Typisierungen der europäischen Kompetenzen.28 Sie beeinflussen nach Art. 2 Abs. 6 AEUV nicht die Reichweite der Unionsbefugnisse. 2. Wahrung der Subsidiarität Aufgrund der Betonung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung durch das Bundesverfassungsgericht blieb zunächst offen, wie in diesem Zusammenhang das unionsrechtliche Subsidiaritätsprinzip zu bewerten ist.29 Beiden Prinzipien ist eine Doppelnatur als unionaler (Art. 5 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 EUV) und nationaler (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG) Grundsatz gemein. Die Subsidiaritätsprüfung ist der Prüfung des Vorliegens einer einschlägigen Ermächtigung logisch nachgeordnet: Die Union darf nach Art. 5 Abs. 3 EUV von ihren Kompetenzen nur Gebrauch machen, soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind. Damit handelt es sich um eine Ausübungsbeschränkung für Unionszuständigkeiten. In der Lissabon-Entscheidung sprach sich das Bundesverfassungsgericht die Kompetenz zur Überprüfung zu, „ob Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen sich unter Wahrung des gemeinschafts- und unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 2 EGV; Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 EUV-Lissabon) in den Grenzen der ihnen im Wege der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten.“30
Diese Befugnis hat das Gericht jedoch in der Folge lange Zeit weder genutzt noch expressis verbis bestätigt oder verworfen.31 Zuletzt stellte es jedoch klar, dass die Subsidiarität noch immer Teil des Prüfungsumfangs der Ultra-vires-Kontrolle ist: In der Entscheidung zur europäischen Bankenunion wurde ausgeführt, die SSM-Verordnung habe nur diejenigen Aufgaben und Befugnisse auf die EZB übertragen, die für eine effektive Bankenaufsicht zwingend erforderlich sind.
sätzen schon BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 (Kloppenburg), BVerfGE 75, 223 (243 f.). 27 Siehe 2. Kap., B II 2, S. 98 f. und 2. Kap., B II 3, S. 101. 28 J. Bast, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 65. EGL. August 2018, Art. 5 EUV, Rn. 38. 29 Allgemein zum unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzip C. Bickenbach, EuR 2013, 523. 30 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (353 f.). 31 In der mangelnden Thematisierung sah W. Frenz, DÖV 2016, 1021 (1023 f.) wohl ein Fallenlassen dieser Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts.
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
Angesichts der fortbestehenden umfangreichen Befugnisse der nationalen Aufsichtsbehörden scheide im konkreten Fall auch eine offenkundige Verletzung des Subsidiaritätsprinzips aus.32 Die Gründe für die zwischenzeitlich unterbliebene Thematisierung des Subsidiaritätsprinzips sind nicht völlig ersichtlich. Sie könnten aber in der Unbestimmtheit der Subsidiarität liegen: Die Beantwortung der Frage, ob eine zentrale Regelung eines bestimmten Sachverhaltes erforderlich ist, ist in hohem Maße wertungsbedürftig. Ist diese Offenheit im Falle einer eigenständigen Prüfung durch das Gericht noch relativ unproblematisch,33 so macht es eine nationale Willkürkontrolle europäischer Maßnahmen nahezu unmöglich.34 Das Verdikt der Unvertretbarkeit einer bestimmten Rechtsauffassung hinsichtlich der Subsidiarität ist daher nur schwer vorstellbar. Zudem ist ein Verstoß ausschließlich gegen den Subsidiaritätsgedanken wohl nur in Ausnahmefällen strukturrelevant: Die Mitgliedstaaten haben die grundsätzliche Zuständigkeit für bestimmte Regelungsbereiche gerade schon auf die Union übertragen. Maßnahmen, die aufgrund ihres begrenzten Umfangs und ihrer begrenzten Wirkungen in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verbleiben, kommt typischerweise keine grundlegende Bedeutung zu. 3. Verhältnismäßigkeit Unklar war zunächst auch die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 EUV. Gemeinsam mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und dem Subsidiaritätsprinzip bildet es die unionsrechtliche Schrankentrias.35 Ebenso wie das Subsidiaritätsprinzip wird es von den Verträgen als Maßstab der Ausübung von Unionszuständigkeiten bezeichnet. Die Eigentümlichkeit der Einbeziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in eine Kompetenzprüfung wird schon mit Blick auf die Kompetenzordnung des Grundgesetzes deutlich: Im nationalen Recht wäre die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zur Abgrenzung von Bundes- und Landeskompetenzen grob systemwidrig.36 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dient im deutschen 32
BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 197). 33 Vgl. im nationalen Kontext Art. 72 Abs. 2 GG, 34 Kritisch zur Justiziabilität M. Gerhardt, ZRP 2010, 161 (164), der auch auf das komplexe politische Verfahren im Subsidiaritätsprotokoll verweist. Dieses verbiete eine isolierte Supervision des Bundesverfassungsgerichts. Siehe auch H. Sauer, EuR 2017, 186 (Fn. 67). 35 Siehe z.B. C. Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 5 EUV, Rn. 6; V. Trstenjak/E. Beysen, EuR 2012, 265 (266). 36 BVerfG, Urt. v. 22.05.1990 – 2 BvG 1/88 (Kalkar II), BVerfGE 81, 310 (338); BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 (Staatsverschuldung), BVerfGE 79, 311 (341 ff.); I. Pernice, EuZW 2020, 508 (513); T. Giegerich, Putting the Axe to the Root of the European Rule of Law, S. 7. J. Saurer, JZ 2014, 281 (281) spricht sogar von einer „europarechtlichen Singularität“, da keine mitgliedstaatliche Rechtsordnung den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Kompetenzabgrenzung nutze.
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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Recht auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts der individuellen Rechts- und Freiheitssphäre, wirkt aber nicht auf die bundesstaatliche Zuständigkeitsverteilung ein. Allerdings ließ das Gericht hinsichtlich der europäischen Rechtsordnung schon in der Maastricht-Entscheidung ein anderes Verständnis erkennen.37 Mit Blick speziell auf die Ultra-vires-Kontrolle wurde der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erstmals im OMT-Urteil thematisiert. Während der Vorlagebeschluss die vorliegenden Schwierigkeiten der Kompetenzbegründung noch allein anhand des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung darstellte, nahm das Endurteil auch Bezug auf die Verhältnismäßigkeit.38 Diese Neuausrichtung lässt sich damit erklären, dass der Gerichtshof selbst diesen Aspekt in seinem Urteil im Vorabentscheidungsverfahren beleuchtete.39 Die Aufwertung der Verhältnismäßigkeit durch das Bundesverfassungsgericht ist demnach eine Übernahme europäischer Methodik. Das Bundesverfassungsgericht wies dabei erneut auf die Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für die Kompetenzbegrenzung hin: „Da der Gerichtshof den Organen der Europäischen Union bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben stets einen weiten Einschätzungs- und Ermessensspielraum zuerkennt und nur die Einhaltung äußerster Grenzen überprüft, hat er auf der Ebene der Kompetenzausübung den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 5 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 EUV) als begrenzendes Korrektiv entfaltet.“40
Die vom Grundgesetz abweichende Dogmatik zur kompetenziellen Verhältnismäßigkeit wurde demnach funktional begründet.41 Weiter ging das Gericht davon aus, dass der Gerichtshof selbst einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Kompetenzverstoß ansehe.42 Damit war die Grundlage für die Einbeziehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in die Ultra-vires-Kontrolle geschaffen. Das Bundesverfassungsgericht überließ es dem EuGH, unter welcher Norm er Erwägungen zur Kompetenzschärfung anbringt.43 Allerdings erstreckt es seine eigene Kontrolle dann auf diese Normen. 37
BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (212). BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 177 ff.). 39 EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400 (Rn. 66 ff.). Siehe hierzu W. Frenz, DVBl 2015, 978 (979). Mit Blick auf das PSPP-Urteil F. Sander, DÖV 2020, 759 (762). 40 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 179.). Die dortigen Nachweise wurden aus Gründen der Lesbarkeit vom Verfasser entfernt. 41 Dies entgeht H.-J. Hellwig, NJW 2020, 2497 (Rn. 13). Zirkulär T. Weck, BKR 2020, 463 (465), der die Bedeutung der Verhältnismäßigkeit gering einschätzt, gerade weil die Unionskompetenzen weit gefasst sind. Die Unionskompetenzen sind vielmehr dann weit, wenn die Verhältnismäßigkeit nicht als starkes Korrektiv genutzt wird. 42 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 192.). 43 So auch N. Grosche, Der Staat 60 (2021), 273 (279 und passim). 38
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
Im PSPP-Verfahren wurde das Verhältnismäßigkeitsprinzip schließlich zum entscheidenden Punkt der Ultra-vires-Prüfung. Das Bundesverfassungsgericht setzte die währungspolitischen Ziele des PSPP mit jenen möglichen wirtschaftspolitischen Konsequenzen ins Verhältnis, die es im Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten sah.44 Das Gericht zählte hier exemplarisch einige Auswirkungen auf: abweichende Finanzierungsbedingungen für nationale Haushalte,45 die Veränderung der Geschäftsbedingungen im Bankensektor,46 die Veränderung der Finanzierungsbedingungen von privaten Haushalten und Sparern,47 die Erleichterung der Kreditaufnahme für nicht rentable Unternehmen und somit die Erleichterung des Fortbestehens unwirtschaftlicher Wirtschaftsteilnehmer48 und schließlich das veränderte Verhältnis49 des ESZB zu der mitgliedstaatlichen Politik.50 Das Gericht hebt also die diejenigen wirtschaftlichen Effekte des Programmes hervor, die von Kritikern des PSPP gemeinhin als negativ kategorisiert werden.51 Es stellt sich daher die Frage, ob auch eindeutig wirtschaftlich positive Folgen52 das Vorliegen einer Ermächtigung in Frage stellen können. Dies dürfte zu verneinen sein: Nach Art. 127 Abs. 1 Satz 2 AEUV verfügt die EZB über eine Kompetenz zur Unterstützung der Wirtschaftspolitik in der EU, soweit dies nicht die Preisstabilität beeinträchtigt. Positive wirtschaftliche Folgen können demnach zwar gegen eine währungspolitische Natur der Maßnahme sprechen, nicht aber die Kompetenz der EZB erschüttern. Im Ergebnis untersucht das Bundesverfassungsgericht jedenfalls mit einer „wertenden Gesamtbetrachtung“53 von (zumindest potenziell) negativen wirtschaftspolitischen Folgen zu währungspolitischen Zielsetzungen den Schwerpunkt der Maßnahme.54
44 Zu den Konsequenzen dieser Herangehensweise für mögliche Pläne der EZB, gezielt sog. grüne Anleihen zu erwerben, siehe D. Nees, EuR 2021, 119 (123 ff., insb. 129). 45 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 170 f.). 46 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 172). 47 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 173). 48 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 174). 49 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 175). Inwieweit hier eine ausschließliche mitgliedstaatliche Kompetenz bestehen soll, ist fraglich. Allenfalls das Verhältnis der Deutschen Bundesbank zur nationalen Politik ließe sich so einordnen. 50 Zu den Konsequenzen des PSPP-Urteils für das Recht der Währungsunion siehe M. Gentzsch, BKR 2020, 576. 51 Eine einseitige Auswahl negativer Beispiele kritisiert B. Wegener, EuR 2020, 347 (353). H. Hirte, AnwBl 2021, 214 (215) bezeichnet die Prüfung als verkürzt – es werde nicht Recht gesprochen, sondern Politik gemacht. 52 Die Wertung als positiv kann angesichts von Art. 127 Abs. 1 Satz 2 AEUV nur aus Sicht der Wirtschaftspolitik in der Union beurteilt werden. 53 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 123, 141, 160). Die Unklarheit dieser Gesamtbetrachtung rügend P. Meier-Beck, EuZW 2020, 519 (523). 54 Zur Anwendung im konkreten Fall, siehe F. Sander, DÖV 2020, 759 (764 f.)
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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Der EuGH hat in der Rechtssache Weiss jedoch einen anderen Anknüpfungspunkt gewählt und die währungspolitischen Zielsetzungen der EZB ins Verhältnis zu den währungspolitischen Maßnahmen gesetzt.55 Geprüft wurde damit lediglich, ob die Maßnahmen über das hinaus gingen, was zur Erreichung des konkreten Inflationsziels erforderlich war. Diese Prüfung eines Übermaßverbotes dürfte unbestritten Teil einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 119 Abs. 2 und Art. 127 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 5 Abs. 4 EUV sein, erfüllt aber nicht die Voraussetzungen des Bundesverfassungsgerichts an die effektive Wahrung mitgliedsstaatlicher Kompetenzen.56 Das Urteil wurde deshalb selbst als ultra vires verworfen.57 Die Nutzung der Verhältnismäßigkeit zur Kompetenzabgrenzung zog im Anschluss an das Urteil heftigen Widerspruch58 auf sich und wurde zum zentralen Punkt der juristischen Auseinandersetzung.59 Während im OMT-Verfahren die Aussage mangels Prominenz nach hiesigem Kenntnisstand noch keine Reaktionen auslöste, führte ihre Relevanz im PSPP-Urteil zu breiter Beachtung. Das Bundesverfassungsgericht verkennt nach Ansicht der Kritiker den Sinn der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Dieser nutze Art. 5 Abs. 4 EUV nicht zur Kompetenzbegrenzung, somit sei die mangelnde Funktionalität in dieser Hinsicht nicht verwunderlich. Vor allem aus der Fehleinschätzung des Zwecks der Prüfung resultiere die negative Bewertung der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht.60 Darüber hinaus sei im konkreten Fall die Verhältnismäßigkeitsprüfung sogar ein Verstoß gegen das währungspolitische
55 EuGH, Urt. v. 11.12.2018 – C-493/17 (Weiss), ECLI:EU:C:2018:1000 (Rn. 71 ff.). Zu diesen unterschiedlichen Anknüpfungspunkten anschaulich S. Simon/H. Rathke, EuZW 2020, 500 (501 f.). 56 Von einer „dünnen, fast ausfallenden Rechtskontrolle“ spricht U. R. Haltern, NVwZ 2020, 817 (822). Ähnlich M. Pießkalla, EuZW 2020, 538 (542). „Substanzarm“ ist sie nach M. Nettesheim, NJW 2020, 1631 (1633). 57 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 118 ff.). 58 Eine im Ton überzogene Kommentierung des Urteils rügen zurecht U. Haltern, AöR 146 (2021), 195 (196); U. Hufeld, JM 2020, 331 (331); H. Siekmann, EuZW 2020, 491 (499); S. Wernicke, EuZW 2020, 543 (543). 59 Ablehnend I. Pernice, EuZW 2020, 508 (510 ff.); C. Calliess, NVwZ 2020, 897 (901); F. C. Mayer, JZ 2020, 725 (730); J. Dietze/M. Kellerbauer u.a., EuZW 2020, 525 (527); W. Tilmann, IWRZ 2020, 166 (169); B. Wegener, EuR 2020, 347 (350 f.); I. Pernice, Sollte die EUKommission Deutschland wegen des Karlsruher Ultra-Vires-Urteils verklagen? PRO, Verfassungsblog; P. Meier-Beck, Ultra vires?, d-kart.de; T. Marzal, Is the BVerfG PSPP decision „simply not comprehensible“?, Verfassungsblog; H. Siekmann, EuZW 2020, 491 (494); K. Barley, AnwBl 2021, 216 (216). A.A. aber U. Hufeld, JM 2020, 331 (337); M. Ludwigs, EuZW 2020, 530 (531); F. Sander, DÖV 2020, 759 (762 ff.); F. Schorkopf, JZ 2020, 734 (734); S. Simon/H. Rathke, EuZW 2020, 500 (501 ff.). Unklar F. Kainer, EuZW 2020, 533 (535 f.), der einerseits von einer kompetenziellen Funktion der Verhältnismäßigkeit ausgeht, andererseits ihre Nutzung zur Abgrenzung von Wirtschafts- und Währungspolitik ablehnt. 60 C. Calliess, NVwZ 2020, 897 (901).
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
Primat, das ein Abwägen zwischen währungs- und wirtschaftspolitischen Zwecken verbiete.61 Weiterhin wird der Wortlaut des Art. 5 EUV angeführt, wonach es sich bei der Verhältnismäßigkeit um eine Zuständigkeitsausübungsschranke handelt.62 Sie könne also keinen Einfluss auf die vorgelagerte Frage nach dem Vorliegen einer Kompetenz nehmen. Auch die Verschiedenheit zur innerstaatlichen Kompetenzprüfung wird als Argument vorgebracht.63 Der EuGH hat sich, soweit hier bekannt, nicht ausdrücklich zum möglichen kompetenziellen Sinn des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geäußert. Anders verhält sich dies für die Generalanwälte.64 Sie bekennen sich, teils unter Verweis auf Literaturstimmen, zu einer die mitgliedstaatlichen Befugnisse schützenden Funktion. Das Bundesverfassungsgericht konnte daher sowohl mit Blick auf das bisherige Meinungsbild in der Forschung als auch hinsichtlich der vorangegangenen Äußerungen innerhalb der europäischen Judikative von einem kompetenzbegrenzenden Zweck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausgehen.65 Dennoch wird teils kritisiert, das Gericht habe es im PSPP-Verfahren versäumt, diese Frage dem EuGH im Rahmen einer zweiten Vorlage zukommen zu lassen.66 Allerdings ist fraglich, was eine solche Vorlage bezwecken sollte: Sollte der Gerichtshof einen Kompetenzbezug ablehnen, könnte das Bundesverfassungsgericht mit guten Argumenten feststellen, dass die aus seiner Perspektive
61 So F. Kainer, EuZW 2020, 533 (536) unter Berufung auf P. Bofinger/M. Hellwig u.a., Gefahr für die Unabhängigkeit der Notenbank, FAZ v. 29.05.2020, S. 18. Ebenso B. Wegener, EuR 2020, 347 (353). Diese Ansicht verkennt aber die Natur der Verhältnismäßigkeitsprüfung des Bundesverfassungsgerichts. Diese strebt nach der Gewichtung der jeweiligen Effekte zur Bestimmung eines Schwerpunkts der Maßnahme. Dies stellt keinen Verstoß gegen das währungspolitische Primat dar, sondern dient seiner Umsetzung. 62 C. Calliess, NVwZ 2020, 897 (901); F. Kainer, EuZW 2020, 533 (535). 63 C. Calliess, NVwZ 2020, 897 (901); B. Wegener, EuR 2020, 347 (350). 64 So GA Maduro in EuGH, Schlussanträge des GA v. 01.10.2009 – C-58/08 (Vodafone), ECLI:EU:C:2009:596 (Rn. 44); GA Trstenjak in EuGH, Schlussanträge der GA v. 25.05.2011 – C-539/09 (Prüfungsbefugnisse des Rechnungshofs), ECLI:EU:C:2011:345 (Rn. 90) und GA Kokott in EuGH, Schlussanträge der GA v. 08.09.2011 – C-17/10 (Toshiba), ECLI:EU:C: 2011:552 (Rn. 90). 65 So auch grundsätzlich die ganz herrschende Meinung in der Europarechtswissenschaft, siehe J. Bast, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 65. EGL. August 2018, Art. 5 EUV, Rn. 66; C. Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 5 EUV, Rn. 46; S. Kadelbach, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 5 EUV, Rn. 52; J. Saurer, JZ 2014, 281. Wohl auch T. von Danwitz, EWS 2003, 393 (394). Insbesondere bei C. Calliess sind die Ausführungen zum PSPP-Urteil schwer hiermit in Einklang zu bringen, spricht er doch a.a.O. ausdrücklich von Kompetenzverteilung durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. 66 GA Tanchev, EuGH, Schlussanträge des GA v. 17.12.2020 – C-824/18 (Ernennung von Richtern zum Obersten Gerichtshof), ECLI:EU:C:2020:1053 (Rn. 81); C. Calliess, NVwZ 2020, 897 (901); F. C. Mayer, JZ 2020, 725 (731); J. Dietze/M. Kellerbauer u.a., EuZW 2020, 525 (529); I. Pernice, EuZW 2020, 508 (518); W. Tilmann, IWRZ 2020, 166 (166). A.A. mit Verweis auf die Fruchtlosigkeit, den EuGH zum Richter in eigener Sache zu machen H. Siekmann, EuZW 2020, 491 (498).
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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fehlenden Erwägungen unmittelbar bei der Subsumtion unter die Einzelermächtigung hätten vorgenommen werden müssen.67 Relevant aus der Perspektive des deutschen Verfassungsrechts ist die effektive Konturierung von Kompetenzen, nicht der Standort der Prüfung.68 Auf dem Spiel steht dabei nicht weniger als die Gesamtheit aller Kompetenzübertragungen auf die Union: Übernähme das Bundesverfassungsgericht eine Auslegung des EuGH, die zur Konturierung von Kompetenzen nicht geeignet ist, dann hätte die Bundesrepublik „dynamische Vertragsvorschriften mit Blankettcharakter“ vereinbart, die wegen eines Verstoßes gegen das (grundgesetzliche) Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und gegen die Integrationsverantwortung unwirksam wären.69 In diesem Fall der unbegrenzten Einzelermächtigungen wäre der Beitritt der Bundesrepublik zur Union verfassungswidrig. Ein solches Verständnis ist allerdings nicht im Unionsrecht angelegt, denn die besseren Argumente sprechen für die Annahme der Verhältnismäßigkeit als kompetenzbegrenzenden Faktor. Schon die Systematik der Verträge weist in diese Richtung: Die Verortung bei dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zeigt einen inhaltlichen Zusammenhang beider Grundsätze.70 Die Verhältnismäßigkeit findet sich gerade nicht zusammen mit anderen tragenden Grundsätzen der Union in den Art. 2 bis 4 EUV. Zudem spricht Art. 4 Abs. 1 EUV davon, dass nicht übertragene Zuständigkeiten gemäß Art. 5 bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Eine Beschränkung allein auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, also auf Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2, findet sich dort nicht. Auch der Zusammenhang mit der Subsidiarität innerhalb des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 streitet für einen Kompetenzbezug, schützt diese doch mitgliedstaatliche Gestaltungsräume. Außerdem lässt sich die Bezugnahme auf die Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Handlungsformenwahl durch Unionsorgane in Art. 296 Abs. 1 AEUV nur mit Blick auf die Schonung mitgliedstaatlicher Handlungsspielräume verstehen.71 Nicht überzeugend ist es, den Begriff der Kompetenzausübungsschranke auf ein allgemeines Übermaßverbot mit Blick auf das genannte Ziel zu beschränken.72 Seine Funktion des Schutzes mitgliedstaatlicher Interessen kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur erfüllen, wenn diese Interessen benannt 67
In diese Richtung argumentiert H. Siekmann, EuZW 2020, 491 (494). Auch F. C. Mayer, NJW 2015, 1999 (2001) ging mit Blick auf die OMT-Entscheidung noch davon aus, die Verhältnismäßigkeit „passe“ zur Lösung des Kompetenzkonfliktes nicht recht. 68 Zurecht spricht N. Grosche, Der Staat 60 (2021), 273 (294) von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Projektionsfläche für die Integration von Anforderungen an die Kompetenzabgrenzung. 69 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (353). 70 Ähnlich J. Bast, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 65. EGL. August 2018, Art. 5 EUV, Rn. 67. 71 S. Kadelbach, in: von. der. Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 5 EUV, Rn. 52. 72 So aber wohl I. Pernice, EuZW 2020, 508 (513).
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
und in Relation zum Zweck der Maßnahme gesetzt werden.73 Diese Interessen liegen zuvorderst in der Respektierung mitgliedstaatlicher Kompetenzen. Dies mahnt regelmäßig zur Nutzung bestimmter, milderer Handlungsformen im Sinne einer Mittel-Hierarchie,74 verbietet darüber hinaus aber zur Gewährleistung eines effektiven Schutzes mitgliedstaatlicher Kompetenzen auch bestimmte Maßnahmen völlig.75 Dem Bundesverfassungsgericht ist beizupflichten, wenn es die Besonderheiten finaler Kompetenzzuweisungen betont. Ziele von Maßnahmen können grundsätzlich frei bestimmt werden, womit in der Ermächtigungsnorm eine nahezu unbegrenzte Weite angelegt ist.76 Einem Korrektiv zugunsten mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten muss daher eine größere Reichweite beigemessen werden, soll die staatenbasierende Architektur der Union respektiert werden. Der Vergleich mit der Kompetenzordnung des Grundgesetzes geht daher fehl. All dies widerspricht aber nicht dem Primat des EuGH bei der Auslegung von Art. 5 EUV. Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich als Antwort auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache Weiss versucht, bestimmte Erwägungen in die keineswegs konsistente Rechtsprechung des Gerichtshofs einzupflegen.77 So ist bis heute beispielsweise nicht völlig klar, inwieweit die Angemessenheit im Sinne einer umfassenden Güterabwägung Teil des europarechtlichen Prüfungsprogramms ist. Aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts ist dies zweitrangig, solange die Dogmatik zu einer effektiven Konturierung der Unionskompetenzen geeignet ist und damit die Kompetenz-Kompetenz bei den Mitgliedstaaten verbleibt.78 Die PSPP-Entscheidung griff daher zwar bestimmte Teile der Prüfung auf, die aus Sicht des Gerichts bedenklich sind – allerdings immer vor dem Hintergrund ihrer Effektivität zur Begrenzung von Unionskompetenzen. Damit bleibt der EuGH innerhalb dieser Effektivitätsgrenze in der Lage, selbständig die unionsrechtliche Dogmatik zu formen und möglicherweise andere Erwägungen zur Sicherung mitgliedstaatlicher Gestaltungsräume vorzunehmen.79 73 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 138); U. R. Haltern, NVwZ 2020, 817 (822). 74 Hierauf beschränkt C. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, S. 125 f. das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Hinblick auf die Kompetenzdimension. 75 A.A. C. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union, S. 120 ff. 76 F. Sander, DÖV 2020, 759 (762). Ähnlich S. Simon/H. Rathke, EuZW 2020, 500 (501). Siehe 2. Kap., B III 1 c), S. 113 ff. 77 Von verschiedenen Rechtsprechungslinien sprechen V. Trstenjak/E. Beysen, EuR 2012, 265 (270). Siehe auch die Auswertung des Bundesverfassungsgerichts zur Verhältnismäßigkeitsprüfung des EuGH in BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 126). 78 Daher die Prüfung der Verhältnismäßigkeit richtigerweise als grundsätzliche Übernahme europäischer Methodik deutend F. Schorkopf, JZ 2020, 734 (736). 79 M. Nettesheim, NJW 2020, 1631(1633) merkt an, bisher habe noch niemand eine praktikable Dogmatik für eine hinreichende Kontrolldichte nach Art. 19 EUV formuliert. Dies
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Verhältnismäßigkeitsprüfung birgt jedoch ein Problem: Die Ermittlung eines Schwerpunkts der Maßnahme durch eine wertende Gesamtbetrachtung ist in einem sachbereichsbezogenen Denken verhaftet. Die finale Kompetenzordnung führt auf der mitgliedstaatlichen Seite zu einem grundsätzlichen Verlust unantastbarer Kompetenzbereiche. So sehen auch die Art. 2 ff. AEUV keine (deklaratorischen) Kompetenzzuschreibungen zugunsten der Mitgliedstaaten vor. Nur in wenigen Ausnahmefällen lassen sich den Verträgen nationale Kompetenzbereiche entnehmen, die einem unionalen Zugriff entzogen sein sollen. Ohne die Existenz klar nationaler Sachbereiche können diese jedoch nicht den europäischen Kompetenzbereichen gegenübergestellt werden. Lediglich für einen Teil der denkbaren Fälle dürften sich daher klar umreißbare Gegenpole für die Verhältnismäßigkeitsprüfung bestimmen lassen. 4. Kein Vorliegen einer Kompetenzschranke a) Inhaltliche Anforderungen an eine Kompetenzschranke Nach dem oben Gesagten erstreckt sich die Ultra-vires-Prüfung damit auf die Beachtung der gesamten Schrankentrias des Art. 5 Abs. 1 EUV. Darüber hinaus bezieht das Bundesverfassungsgericht auch weitere Normen in die Ultra-viresKontrolle mit ein. Sowohl das OMT- als auch das PSP-Programm der EZB wurden im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle auch an den Vorgaben des Art. 123 Abs. 1 AEUV, dem Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung, gemessen.80 Dieses Verbot stellt eine materielle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung des Handelns der EZB dar und ist in Anbetracht der Vertragssystematik nicht Teil der Kompetenznormen: Art. 282 Abs. 4 AEUV spricht von der Befugnis der EZB zum Erlass von für die Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Maßnahmen nach den Art. 127 bis 133 und Art. 138 AEUV und nach Maßgabe der Satzung des ESZB und der EZB. Art. 123 AEUV befindet sich demnach außerhalb dieses Kompetenzkataloges. Obwohl das Unionsrecht Art. 123 AEUV nicht als Kompetenznorm qualifiziert, bezieht das Bundesverfassungsgericht die Vorschrift in die Ultra-vires Kontrolle ein. Dennoch versteht das Gericht die Ultra-vires-Kontrolle als spezifische Kompetenzkontrolle: Im Rahmen des OMT-Urteils spricht es von einer Berührung der Verbandskompetenz durch Ultra-vires-Akte.81 Weiterhin hält es fest, die Ultra-vires-Kontrolle betreffe „nur“ die Einhaltung der Grenzen des Integrati-
hindert allerdings nicht das Bundesverfassungsgericht daran, Mindestanforderungen zu stellen. Die Entwicklung einer Dogmatik ist Aufgabe des EuGH. 80 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 198 ff.); BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 180 ff.). 81 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 186).
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
onsprogramms (in Abgrenzung zu einer allgemeinen Rechtmäßigkeitsprüfung).82 Im Honeywell-Beschluss betont es die Notwendigkeit einer das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung spezifisch verletzenden Art der Kompetenzüberschreitung.83 Auch die Annahme der Notwendigkeit des Vorliegens einer strukturellen Verschiebung der Kompetenzen zulasten der Mitgliedstaaten zeigt weiterhin, dass das Bundesverfassungsgericht das Übergreifen in nationale Zuständigkeitsbereiche in den Mittelpunkt stellt.84 Zudem prüft das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Ultra-viresKontrolle beispielsweise auch, ob ein Unionshandeln gegen das sogenannte Bailout-Verbot des Art. 125 Abs. 1 AEUV verstößt.85 Damit wird deutlich, dass der unionsrechtliche Kompetenzbegriff nicht dem verfassungsrechtlichen Begriff entspricht, den das Bundesverfassungsgericht seiner Kontrolle zugrunde legt. Dieser Befund stellt die verfassungsrechtliche Legitimität der Kontrolle nicht in Frage: Ihr Anwendungsbereich wird durch die Notwendigkeiten zum Schutz des Demokratieprinzips sowie der deutschen Staatlichkeit vorgegeben. Die unionsrechtliche Kategorisierung einer bestimmten Norm ist vor diesem Hintergrund irrelevant.86 Daher ist die Definition dieses eigenständigen verfassungsrechtlichen Kompetenzbegriffs zu klären. Sie entscheidet im Ergebnis darüber, an welchen europäischen Normen Unionsakte im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle gemessen werden dürfen.87 Offenkundig verengt das Bundesverfassungsgericht den Kompetenzbegriff nicht ausschließlich auf Fragen der Verbandszuständigkeit.88 Dies lässt sich bereits an der Inbezugnahme von Art. 123 AEUV erkennen, der eben nicht die Zuständigkeitsverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten regelt. Umgekehrt sollen offenbar auch nicht alle Vorschriften des formellen und materiellen Unionsrechts Teil der Kompetenzordnung sein. Nur so lassen sich die Forderung nach einer das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung spezifisch
82 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 146). 83 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (304). Von einem „kategorialen Unterschied“ zwischen europäischer Kompetenz und den Kompetenzwahrnehmungsbedingungen spricht M. Nettesheim, Kompetenzen, in: von Bogdandy/ Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 389, 409. 84 Zu diesem Merkmal im Einzelnen 2. Kap., B III 2, S. 118 ff. 85 BVerfG, Urt. v. 06.12.2022 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Urteil), WM 2022, 2451, Rn. 116. 86 Siehe insoweit schon die Voraussetzungen zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als kompetenzbegrenzenden Faktor, 2. Kap., B I 3, S. 80 ff. 87 Eine transparente Unterscheidung der Vorverständnisse einer Kompetenzkontrolle findet sich bei F. C. Mayer, JZ 2020, 725 (728). 88 Noch enger ist das Verständnis bei F. C. Mayer, EuR 2014, 473 (504), der andenkt, eine Kompetenzüberschreitung könne nur im Fall einer verdrängten, gleichartigen nationalen Kompetenz vorliegen. Damit könnte spezifisch supranationales Handeln niemals eine Kompetenzüberschreitung darstellen. Wohl ebenso I. Pernice, EuZW 2020, 508 (516).
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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verletzenden Art der Kompetenzüberschreitung sowie die Notwendigkeit einer strukturellen Verschiebung der Kompetenzen zulasten der Mitgliedstaaten erklären. Die Grundlagen der Kontrolle würden ein derart weites Kompetenzverständnis durchaus zulassen, denn jede formelle und materielle Rechtmäßigkeitsanforderung lässt sich als Kompetenzschranke verstehen. So wären insbesondere die Grundrechte der GR-Charta als kompetenzbegrenzende Vorschriften zu verstehen.89 Die Union wird von den Mitgliedstaaten nicht zur Vornahme rechtswidriger Maßnahmen ermächtigt. Dies stellt auch die demokratische Legitimation des entsprechenden Handelns in Frage.90 Zudem verdrängt ein derart rechtswidriger Unionsrechtsakt auch rechtmäßiges deutsches Recht. Erlässt beispielsweise ein Unionsorgan innerhalb seiner Binnenmarktkompetenz einen rechtswidrigen Akt, so beansprucht dieser grundsätzlich Anwendungsvorrang gegenüber entgegenstehenden rechtmäßigen nationalen Regelungen. Insoweit lässt sich auch hier eine vertraglich nicht vorgesehene Beschränkung der mitgliedstaatlichen Souveränität feststellen. Weshalb das Bundesverfassungsgericht diesen Weg nicht einschlägt, wird nicht erkennbar. Ebenso bleibt offen, wie genau es kompetenzbezogene Normen, also jene, die es im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle prüft, von allgemeinen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen abgrenzt. In der Sache ist es jedenfalls großzügig bei der Qualifikation einer Norm als kompetenzbezogen. So spricht es auch von dem Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung als einem „kompetenzbegrenzende[n] Parameter“.91 Es bleibt aber unklar, inwieweit sich Art. 123 Abs. 1 AEUV von sonstigen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für Unionshandeln unterscheiden soll.92 Möglicherweise nimmt das Gericht, parallel zur Verhältnismäßigkeitsprüfung,93 eine Kompetenztrennung nach Sachbereichen vor. In diese Richtung weist der Vorlagebeschluss, wo erkennbar nicht nur auf eine mangelnde Rechtmäßigkeit des Handelns der EZB abgestellt wird. Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass wirtschaftspolitische Maßnahmen zum Erhalt der aktuellen Zusammenstellung des Euro-Währungsgebiets, hierzu ließe sich auch die Unter89 Zu Grundrechten als negative Kompetenzvorschriften siehe z.B. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 223 m.w.N. Kritisch M. Nettesheim, Kompetenzen, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 389, 391, Fn. 9. 90 Kein Demokratieproblem sieht jedoch P. M. Bender, ZEuS 2020, 409 (423.). 91 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 179). 92 Daher kommt A. Schwerdtfeger, EuR 2015, 290 (296) zu dem Schluss, die Ultra-viresKontrolle gehe über eine formale Zuständigkeitskontrolle hinaus. Nach F. C. Mayer, EuR 2014, 473 (481) führt das Bundesverfassungsgericht sogar im Ergebnis mit der Ultravires-Kontrolle eine allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle aus, ähnlich H. Sauer, Staatsrecht III, § 9 Rn. 62 ff. Zumindest diese Entwicklung befürchtend R. Hofmann/A. Heger, EuGRZ 2020, 176 (181, 187). 93 Siehe hierzu 2. Kap., B I 3, S. 80 ff.
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
stützung der Haushalte von Krisenstaaten zählen, gerade im Aufgabenbereich der Mitgliedstaaten lägen.94 In diesem Übergreifen in die nationalen Regelungsmaterien liegt der Ultra-vires-Vorwurf. Eine Kompetenzabgrenzung nach Sachbereichen ist innerhalb der europäischen Kompetenzordnung, wie gezeigt, allerdings ein Ausnahmefall. Verfahren zum Mandat der EZB können daher nur begrenzt Aufschluss über die grundsätzliche Bestimmung des Kontrollansatzes des Bundesverfassungsgerichts liefern. Problematisch ist dabei, dass die jüngere Entscheidung des Gerichts zur Europäischen Bankenunion die Unsicherheit hinsichtlich der Kompetenzschranken noch verstärkt: Im Rahmen dieses Verfahrens prüfte das Gericht die Ultravires-Eigenschaft der Errichtung eines Aufsichtsgremiums (Supervisory Board) durch Art. 26 Abs. 1 SSM-VO anhand von Art. 129 Abs. 1 und Art. 141 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 44 ESZB-Satzung.95 Vorschriften zur internen Organisation der EZB wurden damit als Kompetenztitel gehandhabt, ohne dass damit eine entsprechende Begründung einherging. Insgesamt bemüht sich das Gericht kaum, die Kontrolle auf spezifische Kompetenzfragen zu beschränken.96 Misst es das Handeln einer Unionsstelle an einer Norm der Verträge, so setzt es ihre Eigenschaft als Kompetenznorm meist unausgesprochen voraus. Die Einzelheiten dieses Vorgangs sind zumindest außerhalb des Grenzbereichs zwischen Wirtschafts- und Währungspolitik noch unklar. Nach hier vertretener und im dritten Kapitel ausführlich dargelegter Ansicht ist der Kompetenzbegriff deshalb eng zu fassen, weil nur dort, wo die Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten betroffen sind, eine letztverbindliche Entscheidung des Sachverhalts durch den Gerichtshof verfassungsrechtlich ausgeschlossen ist. Daher sind all jene Vorschriften als Kompetenznorm zu klassifizieren, die zumindest auch dem Schutz mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielräume dienen.97 b) Abgeleitetes Unionsrecht als Kompetenzschranke? Die recht großzügige Handhabung des Kompetenzbegriffs zieht eine weitere Frage nach sich: Wenn Handlungen europäischer Stellen auch auf die Einhaltung von materiellen und formellen Kompetenzgrenzen hin überprüft werden, welche Form können diese Grenzen dann haben? Während die Einzelermächtigungen selbst lediglich primärrechtlich festgehalten sind, lassen sich Begrenzungen auch auf der Ebene des nachgelagerten Rechts vornehmen. Angesichts der teilweise
94 BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 72). Ähnlich auch BVerfG, Beschl. v. 15.06.2020 – 2 BvR 71/20 (CSPP-Beschluss), NVwZ 2020, 1263, Rn. 17. 95 BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 198 ff.). Zur Rechtmäßigkeit der Bankenunion, siehe C. Ohler, ZG 2020, 95 (102 ff.). 96 A.A. M. Eifert/J. Gerberding, JURA 2016, 628 (633). 97 Siehe ausführlich 3. Kap., B I 2, S. 247 ff.
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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sehr konkreten und detaillierten Regelungen des europäischen Vertragsrechts ist die Ansiedelung einer Norm auf Primärrechts- oder Sekundärrechtsebene ein Ausdruck legislativer Beliebigkeit. So hätte beispielsweise das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung unter technischen Gesichtspunkten auch auf nachgelagerter Ebene normiert werden können. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu dieser Frage nicht ausdrücklich geäußert. Im Rahmen des Verfahrens zur Bankenunion führte es eine Kontrolle auf eine Verletzung von Art. 129 Abs. 1 und Art. 141 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 44 ESZB-Satzung durch.98 Inwieweit hier die Satzung als selbständige Kompetenzgrenze angesehen wurde, oder ob diese lediglich Art. 141 AEUV konkretisieren sollte, wird nicht deutlich. Betrachtet man den Ultra-vires-Vorbehalt als Sicherungsinstrument der mitgliedstaatlichen Kompetenzhoheit und damit des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung, so erscheint die Einbeziehung nachgelagerten Rechts als nicht mehr vom Zweck gedeckt. Die Mitgliedstaaten haben sich im Rahmen der Verträge zu einer Übertragung bestimmter Kompetenztitel bereiterklärt. Begrenzungen durch nachgelagertes Recht gehen nicht auf nationale, sondern auf europäische Willensbildungsprozesse zurück. Ein Verstoß gegen die Begrenzungen ist daher grundsätzlich keine Herausforderung des mitgliedstaatlich vorgegebenen Integrationsprogramms. Allerdings könnte eine Bezugnahme auf nachgelagertes Recht auf mittelbarem Wege erfolgen: Verstößt ein europäisches Organ gegen Sekundärrecht, so handelt es entgegen seinem primärrechtlichen Auftrag. Insbesondere der EuGH ist nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV zur Sicherung der Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge berufen. Verstößt er durch fehlerhafte Interpretation gegen Sekundärrecht, so geht damit ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV einher. Eine ähnliche Konstellation lag der Honeywell-Entscheidung zugrunde. Vorliegend war vor allem die Auslegung des EuGH zur Vorwirkung der Richtlinie 2000/78/EG Gegenstand der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle. Es ging demnach nicht um die Reichweite einer finalen Einzelermächtigung, sondern allein um die Grenzen des Rechtsprechungsauftrags des Gerichtshofs. Dieser überschritt ohne Beteiligung eines anderen Organs möglicherweise die ihn betreffende Einzelermächtigung. Es ging damit zwar nicht um die Auslegung einer sekundärrechtlichen Kompetenzbeschränkung, aber um die Auslegung einer sonstigen sekundärrechtlichen Regelung. Das Bundesverfassungsgericht stellte klar, dass eine rechtsmethodisch nicht mehr vertretbare Rechtsfortbildung durch den EuGH erst dann ein ersichtlicher Verstoß im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung sei, wenn sie „praktisch kompetenzbegründend“ wirke.99 Dies sei vorliegend nicht 98 BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 198). 99 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (312).
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
der Fall, da die Richtlinie 2000/78/EG in einem ordnungsgemäßen Verfahren unter Beteiligung der deutschen Vertreter beschlossen wurde und damit der Weg zur richterlichen Interpretation eröffnet wurde.100 Auffällig ist hier, dass das Gericht gerade nicht prüfte, ob die Union eine Kompetenz zur Schaffung eines Verbots der Altersdiskriminierung hatte. Dies wäre in Anbetracht von Art. 13 Abs. 1 EGV (heute Art. 19 Abs. 1 AEUV) unzweifelhaft zu bejahen gewesen. Vielmehr wurde gefragt, inwieweit bereits eine dies betreffende Regelung erlassen wurde. Gegenstand war also nicht der unionale scope of law, die maximale Reichweite der Kompetenzen, sondern der tatsächliche Anwendungsbereich des Unionsrechts im konkreten Sachgebiet.101 Das Bundesverfassungsgericht verlangt also bei der Überprüfung von Entscheidungen des Gerichtshofs nicht, dass diese in der Sache eine Überschreitung von Unionskompetenzen zur Folge haben. Damit kann auch der Verstoß gegen nachgelagertes Sekundärrecht, insbesondere von Kompetenzgrenzen, mittelbarer Gegenstand einer Ultra-vires-Kontrolle sein. Damit verliert der Ultra-viresVorbehalt weitgehend seinen Charakter als spezifische Kompetenzprüfung.102 Dem versucht das Bundesverfassungsgericht entgegenzutreten, indem es seine Prüfung in der Folge auf strukturell relevante Kompetenzüberschreitungen beschränkt. Wie noch zu zeigen sein wird, gelingt es dem Gericht hier jedoch nicht, einen subsumtionsfähigen Maßstab zu erzeugen.103 5. Zusammenfassung Im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle prüft das Bundesverfassungsgericht, ob sich eine Maßnahme der Unionsgewalt innerhalb der Grenzen der Schrankentrias des Art. 5 EUV bewegt und ob sie gegen solche Normen verstößt, die als Kompetenzschranken zu verstehen sind. Welche Normen solche Kompetenzschranken darstellen, klärt das Gericht jedoch nicht. Obwohl die Ultra-viresKontrolle als spezifische Kompetenzkontrolle konzipiert ist, droht sie dadurch, den Charakter einer allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle für unionales Handeln anzunehmen.
100
BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (313). Zur Unterscheidung siehe J. Bast, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 65. EGL. August 2018, Art. 5 EUV, Rn. 9a. 102 Zum eigenen Entwurf, siehe 3. Kap., B I 2, S. 247 ff. 103 Siehe 2. Kap., B III 2, S. 118 ff., insb. S. 121 ff. 101
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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II. Die Grenze methodengerechter Auslegung 1. Grundsätzliches Die Ultra-vires-Kontrolle bewegt sich prima facie im üblichen Spektrum verfassungsgerichtlicher Arbeit: Eine konkrete Maßnahme wird anhand einer Norm, beispielsweise Art. 114 Abs. 1 AEUV, überprüft und sodann als kompetenzgemäß oder kompetenzwidrig klassifiziert. Insoweit beinhaltet die Prüfung inhaltlich zwar alle aus der juristischen Methodenlehre bekannten Probleme und Unklarheiten, ohne aber gesonderte Schwierigkeiten zu bergen. Bei genauerer Betrachtung unterscheidet sich die Ultra-vires-Konstellation jedoch von der gewöhnlichen Arbeit des Bundesverfassungsgerichts. Zum einen wird eine materiell europäische Norm ausgelegt.104 Zwar ist, formal betrachtet, das deutsche Zustimmungsgesetz zu den Verträgen der Ansatzpunkt – inhaltlich handelt es sich jedoch bei der Kompetenznorm um einen Teil der Unionsrechtsordnung.105 Bei einem solchen kann die Auslegung nicht ohne weiteres nach deutschen Grundsätzen erfolgen. Eine weitere Besonderheit besteht in der prozessualen Situation: Vor jeder Qualifikation eines Akts als ultra vires erhält der EuGH eine Gelegenheit zur Stellungnahme durch die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV.106 Jedes Ultra-vires-Verfahren besteht damit aus zwei Schritten, dem Verfahren vor und dem Verfahren nach der Vorlage an den EuGH. Bevor das Bundesverfassungsgericht den EuGH mit der Sache befassen wird, muss es sich zunächst einmal eigenständig mit der Kompetenzfrage auseinandersetzen.107 Dabei entscheidet es zunächst nur über die Kompetenzauslegung der handelnden unionalen Stelle. Diese Situation ändert sich nach dem Urteil des Gerichtshofs im Vorabentscheidungsverfahren. Ein Urteil über die Anwendbarkeit des Rechtsakts in Deutschland wird dann zugleich auch ein mittelbares Judiz über eine Rechtsauffassung des EuGH.108 So öffnet sich im Bereich der Ultra-vires-Kontrolle eine neue institutionelle Dimension: Inwieweit trägt das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des EuGH über die autonome Unionsrechtsordnung mit? Wie löst es die Spannung zwischen dem Primat des Gerichtshofs und der Notwendigkeit einer eigenen Kontrolle auf? 104
Von dem „gleichen Entscheidungsmaßstab“ von EuGH und Bundesverfassungsgericht spricht daher auch D. Murswiek, EuGRZ 2017, 327 (329). Ähnlich P. Kirchhof, NJW 2022, 1049 (Rn. 25). 105 Dies gilt insbesondere, wenn man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Hinwendung zur Vollzugstheorie versteht, siehe 1. Kap., A II 1, S. 18, Fn. 36. 106 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (307). Erstmals durchgeführt mit BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366. 107 Dies gilt zumindest im Regelfall, in dem sich der EuGH nicht schon zuvor mit der Kompetenzfrage befasst hat, beispielsweise durch die Vorlage eines anderen Gerichts oder im Rahmen einer Nichtigkeitsklage. 108 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (307).
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
Als noch immer maßgeblich können hier die Ausführungen in der LissabonEntscheidung angesehen werden, in denen sich das Bundesverfassungsgericht zum Charakter der vertraglichen Kompetenzordnung äußert. Dabei macht es ausdrücklich nicht den ursprünglichen Willen der Vertragsparteien zum alleinigen Maßstab der Prüfung. So heißt es wörtlich: „Jede Einfügung in friedenserhaltende Systeme, in internationale oder supranationale Organisationen eröffnet die Möglichkeit, dass sich die geschaffenen Einrichtungen, auch und gerade wenn deren Organe auftragsgemäß handeln, selbständig entwickeln und dabei eine Tendenz zu ihrer politischen Selbstverstärkung aufweisen. Ein zur Integration ermächtigendes Gesetz – wie das Zustimmungsgesetz – kann daher trotz des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung immer nur ein Programm umreißen, in dessen Grenzen dann eine politische Entwicklung stattfindet, die nicht in jedem Punkt vorherbestimmt sein kann. Wer auf Integration baut, muss mit der eigenständigen Willensbildung der Unionsorgane rechnen.“109
Damit wird von einer streng historisch-subjektiven Auslegung Abstand genommen und nicht nur dem EuGH, sondern auch den handelnden Unionsorganen die Befugnis zur Rechtsfortbildung grundsätzlich zugestanden.110 Die Aufgabe der Ultra-vires-Kontrolle ist demnach nicht die Überprüfung der Einhaltung eines Kompetenzrahmens, der bei Vertragsschluss bereits feststand, sondern die Überwachung der Einhaltung des Integrationsprogramms als Richtschnur einer im Grundsatz offenen Rechtsentwicklung. Die Vertragsbestimmungen stecken in diesem System vielmehr äußere Grenzen ab, deren Überschreitung zu einer Unzuständigkeit des handelnden Organes führt. Eine Überschreitung liegt vor, wenn sich „die Kompetenz – bei Anwendung allgemeiner methodischer Standards – unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt begründen lässt“.111 Hier zeigt sich eine aus Betrachterperspektive intransparente Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts: Es trennt nicht klar zwischen der Kompetenzüberschreitung und ihrer Qualifikation, der Offensichtlichkeit. Eine Formel für die Feststellung der einfachen Kompetenzüberschreitung wird nicht geliefert. Anscheinend soll eine Kompetenzüberschreitung immer dann gegeben sein, wenn die Interpretation durch die handelnde Stelle, beziehungsweise durch den EuGH, von dem Ergebnis der verfassungsgerichtlichen Auslegung abweicht.112 Im Ergebnis unterscheidet das Gericht zwischen solchen Kompetenzauslegungen, die noch von ihm mitgetragen werden und unzulässigen Kompetenzan-
109 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (351). Ähnlich schon BVerfG, Beschl. v. 23.06.1981 – 2 BvR 1107/77 (Eurocontrol I), BVerfGE 58, 1 (37). 110 Siehe im Einzelnen 2. Kap., B II 3, S. 99 ff. 111 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 149). 112 So lässt sich jedenfalls BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (181 ff.) interpretieren, wo das Gericht zunächst Gründe für die Kompetenzwidrigkeit präsentiert, anschließend aber die fehlende Offensichtlichkeit nur knapp feststellt.
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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maßungen. Diese angemaßten Befugnisse könnten der Union allenfalls im Wege der Vertragsänderung eingeräumt werden. Ihre rechtswidrige Inanspruchnahme durch Unionsorgane überschreitet daher auch die Grenze zwischen Vertragsschöpfung und Rechtsanwendung oder, funktional betrachtet, zwischen Legislative und Judikative.113 Ultra-vires-Akte sind deshalb auch ein europäisches Gewaltenteilungsproblem.114 Im Folgenden soll diese vom Bundesverfassungsgericht durchgeführte Kontrolle einer Rechtsauffassung kritisch untersucht werden. Dabei handelt es sich noch nicht um eine Auseinandersetzung mit dem Merkmal der Offensichtlichkeit,115 sondern um eine Analyse der grundsätzlichen Probleme, die mit einer inhaltlichen Kontrolle von europäischen Akten durch das Bundesverfassungsgericht einhergehen. 2. Das Problem der Übernahme der europäischen Methodik Die größte Besonderheit des Maßstabs der Ultra-vires-Kontrolle ist der Umgang mit materiell europäischem Recht. Das Zustimmungsgesetz zu den Verträgen bezweckt die Öffnung der deutschen Rechtsordnung für europarechtliche Normen. Diese verlieren damit aber nicht ihren Charakter als Unionsrecht; ihre Anwendung kann daher nicht anhand der deutschen Methodenlehre erfolgen.116 Soll das deutsche Zustimmungsgesetz seinen Zweck der Inkorporation europäischen Rechts erfüllen, muss dieses ebenfalls anhand europäischer Methoden ausgelegt werden. Zudem lässt sich eine einheitliche Geltung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten nur bei einer inhaltlich identischen Übernahme der europäischen Normen in die nationalen Rechtsordnungen herstellen. Dies ist nur bei der Anwendung einer identischen Methode117 sichergestellt. Diese europäische Methode kann naturgemäß nicht vom Bundesverfassungsgericht, sondern allein von europäischen Organen, allen voran dem EuGH, entwickelt werden. Dies wird vom Bundesverfassungsgericht anerkannt,118 er113 BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 153); BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 131); BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (399 f.); BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (188). Aus der Literatur deutlich F. Schorkopf, JZ 2020, 734 (739). 114 A. Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 244. Zur Rechtsfortbildung als Gewaltenteilungsproblem C. Hillgruber, JZ 1996, 118 (122). 115 Hierzu sogleich 2. Kap., B III 1, S. 104 ff. 116 Am überzeugendsten erklärt die sog. Vollzugstheorie diesen Vorgang, siehe BVerfG, Urt. v. 12.07.1994 – 2 BvE 3/92 (Out-of-area-Einsätze), BVerfGE 90, 286 (364). Aus neuerer Zeit BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 (Görgülü), BVerfGE 111, 307 (319); M. Will, Jura 2015, 1164 (1167). 117 Im Folgenden sei Methode nach F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik Bd. 1, Rn. 4 hier weit als Entscheidungstechnik und Zurechnungstechnik unter dem Anspruch auf Bindung an allgemeine Rechtsnormen verstanden. 118 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (307).
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
schwert den nationalen Kontrollzugriff aber erheblich: Die Anwendung einer europäischen Methodik bei der Auslegung von Kompetenznormen stellt ein Einfallstor für wesentliche Erweiterungen unionaler Kompetenzen dar. Dabei geht es weniger um die Frage nach dem zulässigen Methodenkanon – hier besteht im Wesentlichen Einigkeit zwischen den Gerichten119 – als um das konkrete Verständnis einzelner Methoden und ihre Gewichtung zueinander. Auf dieser Ebene können sich unterschiedliche Vorverständnisse abzeichnen, die sich insbesondere bei der Formulierung abstrakter Maßstäbe sowie in der Entwicklung allgemeiner Rechtsprinzipien niederschlagen. Gestünde man dem EuGH uneingeschränkte Methodenhoheit zu, so könnte er durch die Definition der korrekten Entscheidungstechnik praktisch jedes Ergebnis begründen.120 Er wird seine eigenen Entscheidungen immer als Ausfluss und Ausprägung der eigenen Methodik bezeichnen.121 Kompetenzanmaßungen wären qua Methodenautorität der Institution praktisch immer zulässig. Die Methodenwahl durch den Gerichtshof selbst muss demnach ihrerseits rational begrenzt, also methodengebunden erfolgen. Die Hoheit über diese (Meta-)Methodik muss in der Logik des Kontrollvorbehalts bei dem Bundesverfassungsgericht liegen: Andernfalls drohen die Formeln der Kontrolle in einem infiniten Regress des Prüfungsverzichts zu enden und damit zu Leerformeln zu verkommen. Eine wirksame Kontrolle erfordert deshalb klare, äußerste Grenzen der europäischen Methodenschöpfung. Je vielfältiger und offener der Gerichtshof die Kriterien der Auslegung von Kompetenznormen bildet, desto unklarer sind die Ergebnisse des Rechtsanwendungsprozesses. Eine Methodik, die aufgrund ihrer inhaltlichen Offenheit jedes Ergebnis in gleicher Weise vertretbar erscheinen ließe, nähme dem Recht seine Vorhersehbarkeit und damit den Rechtscharakter selbst.122 Gleichzeitig steigt mit der Beliebigkeit der Ergebnisse der Gestaltungsspielraum der Judikative im europäischen Institutionengefüge. Methoden sind keine festen Regeln, sondern müssen dem jeweiligen Forschungsgegenstand angepasst werden.123 Inwieweit man dem europäischen Recht schon unter funktionalen Aspekten eine von mitgliedstaatlichen Traditionen unabhängige Ausgestaltung seiner Methoden zugestehen muss, hängt daher von der Quantität und der Qualität der Besonderheiten der Unionsrechtordnung ab. 119 F. C. Mayer in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 66. EGL. Februar 2019, Art. 19 EUV, Rn. 53. 120 Das Bundesverfassungsgericht gesteht daher dem EuGH auch keine absolute Methodenhoheit zu. 121 Der rein theoretische Fall, indem ein Gericht seine eigene Entscheidung als rechtsfehlerhaft bezeichnet, wäre ein performativer Widerspruch, siehe hierzu R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 64 ff. 122 Zur Vorhersehbarkeit als Wesensmerkmal des Rechts, siehe H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Bd. 2, Art. 20 GG (Rechtsstaat), Rn. 146 m.w.N. 123 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 414 f.; T. Kuntz, AcP 216 (2016), 866 (909).
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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Der größte Teil dieser Besonderheiten dürfte in der Natur der Union als supranationale Organisation begründet liegen. Der EuGH selbst nennt die Mehrsprachigkeit der Rechtsquellen,124 die eigenständige Terminologie des Unionsrechts, die Schwierigkeit der Erkennung des Telos europäischer Normen (insbesondere des Primärrechts mit seiner komplexen Entstehungsgeschichte) und die Schwierigkeit der „Einschätzung des Entwicklungsstands“.125 Neben unmittelbar in der Supranationalität wurzelnden Faktoren sind auch die inhaltlichen Besonderheiten des Unionsrechts charakteristisch für die Tätigkeit des Gerichtshofs. So erfüllen zum Beispiel die Verträge aufgrund ihrer die EU begründenden Wirkung die Funktion einer Verfassung126 und sind darüber hinaus zumindest ähnlich schwer abänderbar wie eine nationale Verfassung. Anders als das Grundgesetz beschränken sich die Verträge aber nicht im Wesentlichen auf die Organisation der Hoheitsgewalt und die Statuierung grundlegender subjektiver Rechte, sondern enthalten darüber hinaus detaillierte materielle Regelungen, die im nationalen Recht127 eher auf Ebene des einfachen Gesetzes zu finden wären.128 Eine Veränderung der Rechtslage als Reaktion auf veränderte Sachlagen oder aktuelle gesellschaftliche Vorstellungen kann demnach nur schwer durch eine Anpassung des geschriebenen Rechts erfolgen.129 Vielmehr fordert die Kombination von Änderungsfestigkeit des geschriebenen Rechts zum einen und großem Detailreichtum zum andern den informellen Weg des Rechtswandels. Der umstrittene „More Economic Approach“ bei der Anwendung des Wettbewerbsrechts ist beispielsweise eine aktuelle Ausprägung dieser Entwicklung.130 Eine ähnliche Tendenz lässt sich speziell im Beihilferecht beobachten, das für das primär mitgliedstaatlich „verwaltete“ Interesse an einer sozialstaatlich motivierten Daseinsvorsorge geöffnet wird.131 Bezugspunkt dieses Verfassungswandels ist vor allem die Vorschrift des Art. 106 Abs. 2 AEUV.132 Aber auch 124
Siehe hierzu F. Zedler, Mehrsprachigkeit und Methode. EuGH, Urt. v. 06.10.1982 – C-283/81 (C.I.L.F.I.T.), Slg. 1982, 3415 (Rn. 17 ff.). 126 Unter anderem, N. Petersen, ZaöRV 64 (2004), 429 (445 ff.). Siehe auch H. M. Heinig, JZ 2007, 905 (907) mit einem Überblick zur Debatte um die Verträge als Unionsverfassung. Kritisch, da den Verträgen typische Voraussetzungen nationaler Verfassungen, wie beispielsweise das verfassungsgebende Staatsvolk, fehlen: P. Kirchhof, NJW 2022, 1049 (Rn. 4, 17). 127 So zumindest in der deutschen Gesetzestradition. Völlig anders ist beispielsweise die Handhabung in der Schweiz, wo die Verfassung auch dezidierte bau- und planungsrechtliche Aussagen enthält, z.B. Art. 72 Abs. 3; Art. 84 Abs. 3 SBV. Kritisch zur Annahme einer „Überkonstitutionalisierung“ des Unionsrechts allerdings F. C. Mayer, NJW 2017, 3631 (3635), der auf das umfangreiche Sekundärrecht im Binnenmarktrecht verweist und zudem die Schwere der Abänderbarkeit anzweifelt. 128 Siehe zu der dadurch entstehenden stärkeren Rolle des EuGH D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 335. 129 Ebenso M. Polzin, AöR 246 (2021), 1 (19). 130 Hierzu J. H. Klement, Wettbewerbsfreiheit, S. 164 ff., 258 ff. 131 Siehe hierzu etwa die ohne klaren Anknüpfungspunkt im Primärrecht entwickelte Altmark-Trans-Rechtsprechung: EuGH, Urt. v. 14.07.2003 – C-280/00 (Altmark Trans), Slg., I-07747 (Rn. 83 ff.). 132 Eine „Uminterpretation“ dieser Vorschrift beobachtet und kritisiert V. Emmerich, Mo125
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
grundlegende Schritte der europäischen Integration, wie die Annahme des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts133 oder die unmittelbare Anwendbarkeit des EU-Rechts auf den Einzelnen134 wären ohne eine Möglichkeit zur judikativen Rechtsentwicklung kaum möglich gewesen. Mit dieser Feststellung wird noch keine Aussage über die normative Richtigkeit des jeweiligen Rechtswandels getroffen. Grundsätzlich droht das europäische Integrationsprojekt jedoch Schaden zu nehmen, wenn auf veränderte tatsächliche Gegebenheiten nicht mit einer Anpassung des Rechts reagiert werden kann. Mangels tauglichen Institutionensettings auf legislativer Ebene übernimmt die Judikative hier die Verantwortung zur Anpassung. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Befugnis zum Rechtswandel als Mittel zur Wahrung der Effektivität des Unionsrechts begründen. Schließlich sind die Verträge, vielleicht mehr noch als nationale Verfassungen, das Ergebnis eines politischen Ringens verschiedener Vorstellungen. Zur Meinungspluralität der verschiedenen politischen Strömungen trat noch die Pluralität der nationalen politischen Kulturen hinzu. Die Mitgliedstaaten hatten und haben, beispielsweise im Bereich des Beihilfenrechts, stark divergierende Traditionen und damit auch unterschiedliche Erwartungen an die Gestaltung des Unionsrechts.135 Hieraus resultierte auch ein mangelnder politischer Konsens, der zu offenen Vertragsformulierungen geführt hat.136 So lassen sich einzelne Normen unter verschiedenen, gleichwohl legitimen Blickwinkeln nationaler Vorstellungen betrachten. Das Bundesverfassungsgericht hat in Anbetracht dieser Besonderheiten137 der europäischen Rechtsordnung eine Reihe von Mindestanforderungen an die europäische Methodik aufgestellt. Die europäischen Methoden müssen zwar nicht den mitgliedstaatlichen entsprechen, sie dürften sich allerdings nicht ohne Weiteres über diese hinwegsetzen.138 So ist es wohl auch zu verstehen, wenn das Bundesverfassungsgericht am Wortlaut als äußerster Grenze der Auslegung fest-
nopole, Binnenmarkt, Daseinsvorsorge oder was sonst?, in: Manssen/Jachmann/Gröpl (Hrsg.), Nach geltendem Verfassungsrecht, S. 152, 173, 176, 181 f. Ausführlich zur Interpretation des öffentlichen Interesses M. Jung, Die Europäisierung des Gemeinwohls am Beispiel des Art. 106 Abs. 2 AEUV. 133 EuGH, Urt. v. 15.07.1964 – C-6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1253. Siehe 1. Kap., A I, S. 13 ff. 134 EuGH, Urt. v. 05.02.1963 – C-26/62 (Van Gend en Loos), Slg. 1963, 3. 135 Siehe z.B. die Schwierigkeiten bei der Genese von Art. 106 AEUV, ausführlich M. Jung, Die Europäisierung des Gemeinwohls am Beispiel des Art. 106 Abs. 2 AEUV, S. 43 und passim m.w.N. 136 H.-P. Folz, EuZA 2011, 308 (309); C. Calliess, NJW 2005, 929 (933). 137 So spricht es von der Respektierung der Eigenarten der Verträge, BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (307). 138 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 160).
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hält.139 Das Bundesverfassungsgericht zählt umgekehrt eine Reihe von Rechtsfiguren auf, die es grundsätzlich als von zulässiger Methodik gedeckt ansieht. Hierunter fällt der effet-utile-Grundsatz ebenso wie die implied-powers-Doktrin.140 Außerdem akzeptiert es auch „nicht unbeträchtliche Abweichungen hinsichtlich der Bedeutung und Gewichtung der unterschiedlichen Interpretationsmittel“ gegenüber dem aus dem nationalen Recht bekannten.141 Lediglich „offenkundige Außerachtlassung[en] der im europäischen Rechtsraum überkommenen Auslegungsmethoden oder allgemeiner, den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamer Rechtsgrundsätze (Art. 6 Abs. 3 EUV)“ sind nicht zulässig. Betrachtet man die Rechtsprechung des EuGH in der Praxis, so dürfte der Kompetenz zur Schöpfung gänzlich neuer Methoden in absehbarer Zeit keine größere Bedeutung mehr zukommen. Zwar verbleibt die Methodenhoheit unangetastet beim Gerichtshof, allerdings scheint hier inzwischen eine Festigung eingetreten zu sein: Auch und vor allem jene Entscheidungen, die im Hinblick auf die Kompetenzen des Gerichtshofs als extensiv zu betrachten sind, wurden anhand des etablierten Effet-utile-Grundsatzes entschieden.142 Die Kritik der nationalen Forschung richtet sich vielmehr gegen die Gewichtung der Methoden und eine angenommene Überbetonung des Effektivitätsgrundsatzes durch den EuGH.143 3. Die Befugnis zur Rechtsfortbildung im Kompetenzbereich Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet in seinen Urteilsbegründungen zwischen Auslegung und richterlicher Rechtsfortbildung.144 Dieses Verständnis
139 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (306). Ausführlich hierzu A. Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 199 ff. 140 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (351). Zum Verhältnis von Implied-Powers und dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung siehe W. Frenz, DÖV 2016, 1021 (1028 ff.). 141 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 160). 142 T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (6) nennt hier als Beispiele die unmittelbare Anwendbarkeit des Primärrechts (EuGH, Urt. v. 05.02.1963 – C-26/62 [Van Gend en Loos], Slg. 1963, 3), den Vorrang des Gemeinschaftsrechts (EuGH, Urt. v. 15.07.1964 – C-6/64 [Costa/E.N.E.L.], Slg. 1964, 1253), die unmittelbare Anwendbarkeit bestimmter Richtlinienartikel (EuGH, Urt. v. 06.10.1970 – C-9–70 [Leberpfennig], Slg. 1970, 825) und die Staatshaftung für Unionsrechtsverletzungen (EuGH, Urt. v. 19.11.1991 – C-6/90 [Francovich], Slg. 1991, I-5357). 143 J. Jahn, NJW 2008, 1788 (1789); D. Murswiek, EuGRZ 2017, 327 (336). Siehe auch die abweichende Meinung des Richters Landau zu BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (325 ff.). 144 K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 95 ff. Kritisch F. Kruse, Die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung; M. Kriele, Grundrechte und demokratischer Gestaltungsraum, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 188, Rn. 27 ff.
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prägt auch seine Beobachtung der Rechtsprechungstätigkeit des EuGH,145 ohne dass dieser selbstmit diesen Kategorien arbeitet.146 Mehr noch als die Auslegung, vermag die Rechtsfortbildung die vertraglich vorgesehene Kompetenzverteilung zu bedrohen: Dort, wo es keinen geäußerten Willen des Gesetzgebers gibt, liegt in Anbetracht des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung die Annahme einer Handlungskompetenz prima facie fern. In diesem Sinne wird auch von kleinen Teilen der juristischen Forschung ein Verbot zur Rechtsfortbildung im Kompetenzbereich vertreten.147 Dennoch haben die Mitgliedstaaten im Rahmen der Verträge auch der Nutzung ungeschriebener Kompetenzen im Grundsatz zugestimmt: Die Verankerung der allgemeinen Rechtsgrundsätze in Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 340 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV zeigt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts die Offenheit der nationalen Rechtordnungen gegenüber einer ungeschriebenen Rechtsentwicklung.148 Dem ist zwar grundsätzlich zuzustimmen, aber gerade im Bereich der Kompetenzordnung verfängt dieses Argument kaum: Die allgemeinen Rechtsgrundsätze sollen nicht zu Kompetenzverschiebungen führen, vgl. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2; Art. 6 Abs. 3 EUV. Auch Art. 340 AEUV sieht eine Öffnung für allgemeine Rechtsgrundsätze lediglich auf Tatbestandsebene vor; die Kompetenz zur Regelung der Materie ist bereits vertraglich eingeräumt. Nichtsdestoweniger ist der Grundaussage des Bundesverfassungsgerichts zuzustimmen: Die Vorstellung, eine Rechtsordnung könne ohne schöpferische Akte der Judikative auskommen, ist in der Praxis nicht haltbar.149 Der Satz, Gerichte seien nie nur „la bouche qui prononce les paroles de la loi“150 gewesen, ist inzwischen zum juristischen Allgemeingut geworden.151 Insoweit geht mit der
145 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (305). Diese Arbeit setzt sich nicht kritisch mit dem klassischen Auslegungsmodell auseinander – vielmehr soll dieses zum Zweck der Analyse als argumentativer Ausgangspunkt zugrunde gelegt werden. 146 M. Jestaedt, Luxemburger Richterrecht, in: Hillgruber (Hrsg.), Gouvernement des juges, S. 21, 32. Bei der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht handelt es sich demnach um eine spezifisch deutsche Parallelwertung von Vorgängen der europäischen Methodik, ders. S. 37. 147 In diese Richtung W. Blomeyer, NZA 1994, 633 (637). Siehe darstellend m.w.N. A. Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 198 f. Zu weit geht wohl die dortige Interpretation von T. Möllers, EuR 1998, 20 (30), der lediglich die Kompetenzgrenzen des EuGH betont. 148 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (305 f.). 149 O. Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, S. 1, 34 f. Dabei kann an dieser Stelle offenbleiben, ob jede Rechtsanwendung schöpferische Elemente hat. 150 „Der Mund, der die Worte des Gesetzes spricht“, C.-L. de Secondat, Baron de Montesquieu, De l’esprit des loix, livre Xi, chapitre VI. 151 In dieser Klarheit schon BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 (Kloppenburg), BVerfGE 75, 223 (243); S. Pötters/J. Traut, EuR 2011, 580 (581); I. Pernice, EuR 1996, 27–43 (35). Kritisch zur Tragfähigkeit dieser Erkenntnis als Argument M. Jestaedt, Luxemburger
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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Kompetenz zur Auslegung der Rechtsordnung auch eine (nicht unbegrenzte) Kompetenz zur Rechtsfortbildung in diesem Bereich einher.152 Könnte der EuGH insbesondere auf Lücken in der Unionsrechtsordnung153 nicht in schöpferischer Weise reagieren, drohten Entscheidungen, die in Ihren Konsequenzen für die Organisation der Union und die Rechte des Einzelnen kaum tragbar wären – ein dysfunktionaler Gerichtshof ist jedoch sicher nicht Ziel der Verträge. Dieser Befund wird durch die Erkenntnisse der modernen Methodenlehre noch bestärkt, wonach eine trennscharfe Abgrenzung der beiden Vorgänge kaum möglich ist.154 Die Befugnis zur Rechtsfortbildung darf aber nach dem Bundesverfassungsgericht nicht mit inhaltlicher oder methodischer Beliebigkeit gleichgesetzt werden: Auch Rechtsfortbildung könne nur an das Recht gebunden erfolgen und ist demnach in ihren Ergebnissen beschränkt. In diesem Sinne ist die Rechtsfortbildung durch den EuGH einerseits in das geschriebene Recht, andererseits in die gemeineuropäische Rechtskultur mit ihren gemeinsamen Rechtsgrundsätzen eingebettet. Die Herleitung ungeschriebener Kompetenzen soll daher nur in einem bestimmten Rahmen möglich sein. Genau die Bestimmung dieses Rahmens führt aber erneut zu den dargestellten grundsätzlichen Problemen der inhaltlichmethodischen Kontrolle. Wenn Rechtsfortbildung grundsätzlich erlaubt ist, so muss auch für sie eine verbindliche Meta-Methodik gelten, deren Maßstäbe bislang nicht hinreichend konkret formuliert worden sind. Aus Perspektive der Kontrolle macht es daher keinen kategorialen Unterschied, ob eine europäische Rechtsanwendung als Auslegung oder als Fortbildung verstanden wird. 4. Erkenntnisgrenzen des Bundesverfassungsgerichts Im ersten Stadium des Verfahrens, in dem sich das Gericht nur mit der Notwendigkeit einer Vorlage an den EuGH beschäftigen muss, bereitet die inhaltlichmethodische Kontrolle prima facie keine weiteren Schwierigkeiten. Unter Anwendung der europäischen Methoden und Bezugnahme auf die Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten kann das Gericht eine eigene Argumentation entwi-
Richterrecht, in: Hillgruber (Hrsg.), Gouvernement des juges, S. 21, 29, da dem keine Legitimität zu entnehmen sei. Gleichzeitig geht er davon aus, dass jeder Entscheidung ein schöpferisches Element innewohnt, S. 40. 152 A.A. insbesondere unter Verweis auf den Wortlaut der Verträge C. Hillgruber, Spielräume und Grenzen des EuGH, in: Behrens/Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Europarechts, S. 1, 6. 153 Diese kamen freilich in der Frühphase der europäischen Einigung weitaus öfter vor und werden mit der stetigen Kodifizierung immer seltener. 154 Einen Überblick zum aktuellen Meinungsstand zur Steuerungskraft von Gesetzen und, damit korrelierend, dem schöpferischen Anteil judikativer Tätigkeit bietet M. Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, S. 26 ff. Siehe auch A. Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 199 ff.; O. Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, S. 1, 34 f.
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
ckeln und hieraus eine Einschätzung der Rechtslage herleiten. Die in der Methodenlehre selbst gründende Ergebnisoffenheit ist unter praktischen Gesichtspunkten tolerabel und Folge des in Art. 267 Abs. 3 AEUV ausgestalteten Verfahrens. Das Bundesverfassungsgericht darf und muss sich eine eigene Meinung zur Kompetenzgemäßheit einer Maßnahme bilden. Mit Hinzutreten des EuGH entsteht ein grundsätzliches Problem: Eine inhaltlich-methodische Kontrolle erzeugt hier Spannungen mit der Auslegungshoheit des Gerichtshofs über das Unionsrecht. Dem Bundesverfassungsgericht geht es hier nicht darum, die eigene Auslegung an die Stelle anderer, ebenfalls vertretbarer Auslegungen durch den Gerichtshof zu setzen,155 sondern darum, „objektiv willkürliche“ Entscheidungen156 zu kontrollieren. Insofern sei dem Gerichtshof ein Anspruch auf Fehlertoleranz zuzugestehen.157 Hieran zeigt sich zunächst die Bereitschaft des Bundesverfassungsgerichts, die Autorität des EuGH anzuerkennen und seine autonome Rechtsprechung im Grundsatz zu akzeptieren. Bei aller Zurückhaltung in der Sache zeugen die Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts dennoch von einer zumindest problematischen Grundannahme: Wer auf „objektive Willkür“ hin prüft, maßt sich selbst die Erkenntnis des Objektiven an, während das Gegenüber eine nur subjektive Einsicht besitzt. Noch deutlicher wird dieses Vorverständnis des Bundesverfassungsgerichts bei Nutzung des Ausdrucks der Fehlertoleranz. Toleranz soll in der Konstruktion des Bundesverfassungsgerichts gerade gegenüber jenen Auslegungsergebnissen geübt werden, die nicht offensichtlich fehlerhaft, also schlechterdings unvertretbar158 sind. Kommt der Gerichtshof aber zu einem Ergebnis, welches vertretbar ist, dann kann unter gleichrangigen Gerichten nicht kraft hierarchischer Autorität von einem Fehler gesprochen werden.159 Das Bundesverfassungsgericht setzt hier also voraus, dass es das Europarecht besser als der EuGH auszulegen vermag – selbst dann, wenn sich dieser noch im Rahmen des methodisch zulässigen bewegt. Umgekehrt geht der EuGH davon aus, er allein verfüge über die Kompetenz, die Einheitlichkeit des Unionsrechts zu wahren, da er in besonderer Weise über die Fähigkeit verfüge, das Unionsrecht auszulegen: Die bereits erwähnten Eigenheiten des Europarechts erforderten regelmäßig eine letztverbindliche Auslegung allein durch den EuGH.160 Diese Aus155
BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (307). BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 149). Im Einzelnen siehe 2. Kap., B III 1, S. 104 ff. zur Offensichtlichkeit. 157 Erstmals BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (307) und bis heute ständige Rechtsprechung, siehe BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 151); BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 149). 158 Siehe zu diesem Maßstab, siehe 2. Kap., B III 1 a), S. 106. 159 S. Pötters/J. Traut, EuR 2011, 580 (581). Kritisch auch R. Hofmann/A. Heger, EuGRZ 2020, 176 (187 f.); ähnlich D. Murswiek, EuGRZ 2017, 327 (336). 160 EuGH, Urt. v. 06.10.1982 – C-283/81 (C.I.L.F.I.T.), Slg. 1982, 3415 (Rn. 17 ff.). 156
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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sage des Gerichtshofs ist sicher bestreitbar. Auch der EuGH selbst kennt beispielsweise mit der acte-clair-Doktrin eine Ausnahme von diesem Postulat. Zumindest führt der Gerichtshof aber eine Begründung dafür an, weshalb ausgerechnet er die Fähigkeit zur letztverbindlichen Auslegung besitzt. Auch wenn man diese Begründung nicht mitträgt, bleibt zumindest offen, warum das Bundesverfassungsgericht über eine größere Erkenntnisfähigkeit als der gesamteuropäisch besetzte EuGH verfügen sollte.161 Nach hier vertretener Ansicht ist der Vorwurf eines Fehlers auch deshalb zu vermeiden, weil eine korrekt verstandene Ultra-vires-Kontrolle nicht auf die Bestimmung von „Fehlern“ bei der Auslegung von Unionsrecht abzielt. Sie soll vielmehr eine funktionale Vergleichbarkeit von europäischer und deutscher Rechtsanwendung sicherstellen, und damit auch der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG Rechnung tragen. Der Vorwurf an den EuGH bei abweichender Kompetenzauslegung liegt demnach nicht in der fehlerhaften Rechtsanwendung, sondern in der zu großen Entfernung von dem nationalen Verständnis von Rechtsanwendung, sodass eine Übertragung der Rechtsprechungsaufgabe verfassungsrechtlich nicht mehr in Betracht kommt.162
III. Beschränkungen des Prüfungsumfangs Bereits frühzeitig erkannte das Bundesverfassungsgericht die Herausforderung der europäischen Rechtseinheit durch die Ausübung nationaler Kontrollvorbehalte. So betonte es schon in der Kloppenburg-Entscheidung den grundsätzlichen Ausschluss einer konkurrierenden Europarechtskontrolle durch ihn selbst und den EuGH.163 Bereits dort war auch die Rede von einem „Zusammenwirken zwischen den Gerichten“, ein Gedanke, der später in der Maastricht-Entscheidung als Kooperationsverhältnis164 neu bezeichnet wurde. Im Rahmen der Lissabon-Entscheidung hielt das Bundesverfassungsgericht die Notwendigkeit der europarechtsfreundlichen Anwendung der Prüfung europäischer Akte fest – bezog sich damit aber grammatikalisch noch allein auf die Identitätskontrolle.165 161 Sehr viel weitergehend die Kritik bei T. Weck, BKR 2020, 463 (464), der dem Bundesverfassungsgericht die sachliche Kompetenz zur Entscheidung über das PSPP vollständig abspricht. 162 Siehe 3. Kap., B I 1, S. 238 ff. und 5 b), S. 261 ff. 163 BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 (Kloppenburg), BVerfGE 75, 223 (234). 164 Ursprünglich BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (175), im Kontext der Ultra-vires-Kontrolle BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (303); BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 27). Der EuGH hat den Ausdruck speziell mit Bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit nie übernommen. Zur Kooperation aus Sicht des EuGH K. Lenaerts, EuR 2015, 3. Eine negative Bilanz des Verhältnisses zieht W. Kahl, NVwZ 2020, 824, ebenso M. Ludwigs, EuZW 2020, 530 (530). Für eine Bestandsaufnahme zum Kooperationsverhältnis nach dem PSPP-Urteil, siehe A. Lang, Der Staat (69) 2021, 99. 165 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (354). Dennoch
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
Die Ultra-vires-Kontrolle beschränkte es ohne nähere Begründung auf „ersichtliche“ Kompetenzüberschreitungen.166 Erstmals beschäftigte sich das Gericht in der Honeywell-Entscheidung vertieft mit den Prüfungsbeschränkungen. Die Kontrolle dürfe nur „zurückhaltend“ und „europarechtsfreundlich“ ausgeübt werden.167 Dies schlägt sich insbesondere im Erfordernis einer „qualifizierten“ Kompetenzüberschreitung nieder. Anknüpfend an das Ersichtlichkeitsmerkmal der Lissabon-Entscheidung wurden das Offensichtlichkeits- und das Schwerekriterium eingeführt.168 Alle nachfolgenden Ultra-vires-Verfahren knüpfen an diese Kriterien an. Jedoch beinhalten auch sie punktuelle Veränderungen und wesentliche Präzisierungen der Honeywell-Kriterien. Nachfolgend sollen die Kriterien der Offensichtlichkeit und Strukturrelevanz dargestellt und analysiert (1. und 2.) sowie anschließend der Frage nach ihrer widerspruchsfreien Begründbarkeit im System der Kontrolle nachgegangen werden (3.). 1. Das Kriterium der Offensichtlichkeit Das Kriterium der Offensichtlichkeit wurde bereits in anderem Kontext im Verhältnis von EuGH und Bundesverfassungsgericht gebraucht. In der Solange-IIEntscheidung führte das Verfassungsgericht aus, die Kontrolle von europäischen Hoheitsakten anhand der nationalen Grundrechte erfordere einen Nachweis durch den Beschwerdeführer, dass das europäische Grundrechtsniveau das vom Grundgesetz geforderte Ausmaß an Grundrechtsschutz „offenkundig“ unterschreite.169 Auch in anderen Bereichen nutzt das Bundesverfassungsgericht die Offensichtlichkeit als Tatbestandsmerkmal.170 Im Rahmen der Honeywell-Entscheidung konnte so für die Ultra-viresKontrolle an bereits Bekanntes angeknüpft werden.171 Mehr noch als auf frühere Entscheidungen, stützte sich das Bundesverfassungsgericht bei der erstmaligen Verwendung des Offensichtlichkeitskriteriums auf die juristische Literatur: Auch wird dieser Satz im Rahmen der Honeywell-Entscheidung so zitiert, als habe er sich auch auf die Ultra-vires-Kontrolle erstreckt, siehe BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (303). 166 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (353). 167 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (303, 307). 168 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (304). 169 BVerfG, Beschl. v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 (Solange II), BVerfGE 79, 339 (387). Dies übersieht A. Steinbach, AöR 140 (2015), 368 (387), wenn er feststellt, die Entscheidung rekurriere nicht auf Evidenz. 170 Eine Liste mit Bereichen, in denen Offensichtlichkeit oder Evidenz als rechtliches Kriterium genutzt wird, findet sich bei A. Steinbach, AöR 140 (2015), 368 (368 f.). 171 Auch bewegte man sich damit in rechtsvergleichender Hinsicht auf bekanntem Terrain: So verweist F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, S. 268 darauf, dass das österreichische Recht bereits zum Zeitpunkt des Beitritts zur Gemeinschaft eine Kompetenzkontrolle nur im Fall offensichtlicher Überschreitungen vorsah.
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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als Reaktion auf die in der Lissabon-Entscheidung getroffenen Ausführungen zum Ultra-vires-Vorbehalt gab es zahlreiche Stimmen, die eine zurückhaltende Handhabung der Kontrolle anmahnten. So konnte das Gericht gleich auf mehrere Autoren verweisen, die für die Nutzung eines Evidenzkriteriums plädierten.172 Mit einem solchen Kriterium geht im Dialog der Gerichte allerdings eine erhebliche Schwierigkeit einher.173 Seine Annahme ist mit schweren Vorwürfen an den EuGH verbunden, die entweder seine Fähigkeit oder seinen Willen zur Kompetenzauslegung betreffen.174 Gerade das PSPP-Urteil wurde deshalb wegen seiner scheinbar ungewöhnlichen Härte scharf kritisiert.175 Insbesondere auf ausländische Beobachter, die mit den Begrifflichkeiten des deutschen öffentlichen Rechts weniger vertraut sind, muss der Vorwurf der Offensichtlichkeit einer Fehlentscheidung anmaßend wirken.176 Trotzdem ist es empfehlenswert in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eine Emotionalisierung von Termini technici zu vermeiden. Im Verfassungsgerichtsverbund geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern um die wechselseitige Achtung judikativer Entscheidungsspielräume.177 In diesem Licht sollte auch vermeintlich brüskierende Sprache betrachtet werden, schließlich ist das Offensichtlichkeitskriterium ein Akt der Zurückhaltung gegenüber dem Gerichtshof.178 a) Inhalt Eine Definition der Offensichtlichkeit fand sich in der Entscheidung jedoch nicht, da die Ultra-vires-Kontrolle an der fehlenden Strukturrelevanz einer möglichen Kompetenzüberschreitung scheiterte. Eine Präzisierung brachte erst das OMT-Verfahren mit sich, innerhalb dessen Endurteils das Bundesverfassungsgericht ausführte:
172 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (304 f.). Als chronologisch frühe Fürsprecherin sei hier J. Kokott, AöR 119 (1994), 207 (220) genannt. 173 P. M. Bender, ZEuS 2020, 409 (411, 418 ff.) 174 Von einer Dramatisierung der Prüfung durch die Honeywell-Entscheidung spricht U. Hufeld, JM 2020, 331 (336). Insoweit kann die Entscheidung unter Gesichtspunkten der öffentlichen Kommunikation als unklug bezeichnet werden. 175 F. Kainer, EuZW 2020, 533 (536) „wie einen Schuljungen zu brüskieren“; T. Möllers, EuZW 2020, 503 (503) „rüde ,Basta-Entscheidung‘“; I. Pernice, EuZW 2020, 508 (508) „arrogant“; W. Tilmann, IWRZ 2020, 166 (166) „erschreckend und offensichtlich unangemessen“. 176 Einen Überblick über die Rezeption im In- und Ausland bietet M. Polzin, AöR 246 (2021), 1 (2 f.). 177 Kritisch zum Verständnis des Verfassungsgerichtsverbunds als Basis für die einseitige Ultra-vires-Kontrolle F. C. Mayer, JZ 2020, 725 (731). 178 Ausführlich P. M. Bender, ZEuS 2020, 409 (411). Ebenso W. Kahl, NVwZ 2020, 824 (825); K. F. Gärditz, EuZW 2020, 505 (505); U. R. Haltern, NVwZ 2020, 817 (821); M. Ludwigs, EuZW 2020, 530 (531); H. Siekmann, EuZW 2020, 491 (498). Differenzierend A. Lang, Der Staat (69) 2021, 99 (118 ff).
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
„[Offensichtlichkeit liegt vor], wenn sich die Kompetenz – bei Anwendung allgemeiner methodischer Standards – unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt begründen lässt.“179
Und weiter: „Eine Grenze findet dieser mit der Aufgabenzuweisung des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV notwendig verbundene Spielraum [des EuGH] erst bei einer offensichtlich schlechterdings nicht mehr nachvollziehbaren und daher objektiv willkürlichen Auslegung der Verträge.“180
Der Offensichtlichkeitsmaßstab wurde damit als Willkürmaßstab definiert.181 Die Willkürgrenze erscheint zunächst derart großzügig, dass eine Überschreitung durch ein Gericht von der Qualität des EuGH kaum ernstlich in Betracht kommt. Doch bereits drei Randnummern später scheint das Bundesverfassungsgericht einen anderen Weg einzuschlagen: „Die Annahme einer offensichtlichen Kompetenzüberschreitung setzt allerdings nicht voraus, dass keine unterschiedlichen Rechtsauffassungen zu dieser Frage vertreten werden. Dass – nicht selten interessierte – Stimmen im Schrifttum, in der Politik oder den Medien einer Maßnahme Unbedenklichkeit attestieren, hindert die Feststellung einer offensichtlichen Kompetenzüberschreitung grundsätzlich nicht. ,Offensichtlich‘ kann die Kompetenzüberschreitung auch dann sein, wenn sie das Ergebnis einer sorgfältigen und detailliert begründeten Auslegung ist.“182
Ergänzt wurde diese Feststellung mit einem Verweis auf die ähnlich lautende Rechtsprechung zur Offensichtlichkeit in § 24 Satz 1 BVerfGG. Beide Äußerungen lassen sich nur schwer in Einklang bringen: Wie soll eine Maßnahme aussehen, die einerseits objektiv willkürlich ergeht, andererseits das Ergebnis einer sorgfältigen und detailliert begründeten Auslegung ist?183 In keinem Fall deckt sich die Vorstellung des Bundesverfassungsgerichts von Offensichtlichkeit mit dem Verständnis in der Umgangssprache,184 wonach die Kom-
179 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 149). 180 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 149). Seitdem ständige Rechtsprechung, siehe BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 112). 181 Kritisch P. M. Bender, ZEuS 2020, 409 (421), der die Ausdrücke als nicht miteinander vereinbar ansieht. 182 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 150), ebenso BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 152). 183 R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 62, 128. Zurecht merkt daher P. M. Bender, ZEuS 2020, 409 (421) eine Asynchronität von vermeintlichem Willkürmaßstab und gefundenen Ergebnissen an. A. Lang, Der Staat (69) 2021, 99 (118) stellt fest, der Willkürmaßstab sei verfehlt und der damit verbundene Vorwurf nicht professionell kollegial. 184 Vergleiche die Angaben bei https://www.dwds.de/wb/offensichtlich (zuletzt geprüft am 20.04.2023).
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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petenzüberschreitung für jedermann bloßen Auges, das heißt ohne eingehende Prüfung, erkennbar sein müsste.185 Die gerichtliche Konkretisierung des Merkmals der Offensichtlichkeit rief daher auch Überraschung und Widerspruch bei mehreren Beobachtern hervor.186 Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Honeywell-Entscheidung, trotz ihrer Allgemeinheit, Erwartungen geweckt, die es in der Folge nicht erfüllte.187 Insoweit kann im OMT-Urteil auch eine verdeckte Abkehr von der Ratio der Honeywell-Entscheidung gesehen werden. Betrachtet man beide Äußerungen des Gerichts, so scheint jedenfalls klar zu sein, dass die inhaltlich-methodische Kontrolle als eine Vertretbarkeitskontrolle gefasst wird. Das Offensichtlichkeitskriterium gibt die Dichte an, mit der das Kriterium der methodengerechten Auslegung geprüft wird. Dadurch werden beide Kriterien zu einem einheitlichen Tatbestandsmerkmal zusammengeführt, was das Verhältnis von Prüfungsmaßstab und seiner Beschränkung verkompliziert. Dies wird zum Beispiel an der Nutzung des Ausdrucks der Fehlertoleranz deutlich: Gegenüber offensichtlichen Kompetenzüberschreitungen übt das Bundesverfassungsgericht keine Fehlertoleranz. Nur für diese gilt aber die fehlende rechtliche Begründbarkeit. Inwiefern daher eine einfache, ergo rechtlich begründbare Überschreitung einen Fehler darstellen soll, bleibt unklar.188 Wenn aber nicht die Sorgfalt und Tiefe der Argumentation oder die Meinung der Fachöffentlichkeit die entscheidenden Faktoren für die Vertretbarkeit einer Rechtsansicht sind, so drängt sich die Frage auf, an welchen Umständen dies sonst festgelegt werden soll. Eine Antwort lässt sich den einschlägigen Entscheidungen nicht eindeutig entnehmen. Am wahrscheinlichsten dürfte eine Interpretation sein, nach der Offensichtlichkeit vorliegt, wenn es einem Standpunkt an Überzeugungskraft fehlt. Für die meisten normativen Aussagen lassen sich wohl von geübten Juristen unter Bezugnahme auf anerkannte Methoden juristische Argumentationen konstruieren. Insofern ist die argumentative Stärke das einzige Merkmal, anhand dessen die Begründbarkeit geprüft werden kann. Aus diesem Grund sollte der Unbeachtlichkeit der Existenz von Befürwortern einer Kompetenzherleitung aus den Reihen der Wissenschaft nicht zu viel Be185 Dieses Verständnis entspräche dabei der Verwendung von Offensichtlichkeit durch das Bundesverfassungsgericht an anderer Stelle wie der Überprüfung legislativer Grundrechtseingriffe auf ihre Eignung zur Förderung eines legitimen Zwecks, siehe A. Steinbach, AöR 140 (2015), 368 (397 f.) m.w.N. Ähnlich die Handhabung im Rahmen des § 44 VwVfG, siehe im Einzelnen M. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 44 VwVfG, Rn. 126. 186 D. Murswiek, EuGRZ 2017, 327 (335); C. D. Classen, EuR 2016, 529 (539); L. Naujoks, Das Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH, S. 56. Wohl auch J. Dietze/M. Kellerbauer u.a., EuZW 2020, 525 (527); A. Thiele, GLJ 15 (2014), 241 (254 f.). 187 Aufgrund der Erwartungshaltung, die mit dem Ausdruck „Offensichtlichkeit“ verbunden ist, wird später der Begriff der „verfassungsrechtlichen Beachtlichkeit“ vorgeschlagen, siehe 3. Kap., B I 5, S. 254 ff. 188 Daher spricht M. Tischendorf, EuR 2018, 695 (712) zurecht davon, das Offensichtlichkeitskriterium diene nicht der Beschränkung der Kontrolle, sondern ihrer Eröffnung.
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
deutung beigemessen werden: Das Bundesverfassungsgericht ist sehr wohl bereit, mit Verweis auf die Umstrittenheit einer Rechtsfrage die Offensichtlichkeit einer Kompetenzüberschreitung abzulehnen.189 Es wäre verfehlt, die Frage nach der Vertretbarkeit einer Rechtsansicht allein auf die Zahl der Befürworter zu reduzieren. Ansonsten wäre die gerichtliche Rechtsanwendung in die Hände der juristischen Fachöffentlichkeit gegeben: Sobald sich eine gewisse Zahl von Stimmen für die Annahme einer Kompetenz fände, wäre die Offensichtlichkeit ausgeschlossen.190 Dabei könnten derartige Meinungsäußerungen auch Beweggründen entspringen, die für das Gericht nicht leitend sein können, seien dies mit der ständigen Rechtsprechung unvereinbare Prämissen oder externe Faktoren wie etwa politische Einstellungen. Es handelt sich bei der Kontrolle auf juristische Begründbarkeit daher um eine vorweggenommene Prüfung der Diskurstauglichkeit einer Rechtsansicht.191 Mit Rechtsansicht ist hier aber nicht das konkrete Ergebnis, also die Annahme der Kompetenz gemeint, sondern vor allem der argumentative Weg dahin: Geprüft wird, ob die Kompetenz von dem handelnden Organ vertretbar begründet wurde. Dies hat sich deutlich im PSPP-Verfahren gezeigt. Auch aufgrund der unterbliebenen Teilnahme der EZB an der mündlichen Verhandlung als sachkundige Dritte nach § 27a BVerfGG192 war nicht klar, inwieweit die vom Bundesverfassungsgericht verlangte Auseinandersetzung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stattgefunden hat. Statt nun selbst eine Begründung der Kompetenz zu konstruieren und ihre Überzeugungskraft zu prüfen, rügte das Gericht die fehlende Nachprüfbarkeit der Erwägungen der EZB.193 Schon die fehlende Überprüfbarkeit auf eine mögliche Ultra-vires-Eigenschaft führt damit zum Ultra-vires-Verdikt und einer Obliegenheit zur Nachreichung von Erwägungen.194 In diesem Zusammenhang dient die Ultra-vires-Kontrolle also der Herstellung eines Kontrollzugangs,195 damit in einem wahrscheinlichen weiteren Verfahren eine endgültige Entscheidung getroffen werden kann. Völlig unabhängig von der tatsächlichen Verhältnismäßigkeit des PSPP war das Bundesverfassungsgericht bereit, die Unverbindlichkeit der maßgeblichen EZB-Beschlüsse festzustellen.
189
BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 298). 190 Hierauf weist auch zurecht der Richter Müller in seiner abweichenden Meinung zu BVerfG, Urt. v. 06.12.2022 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Urteil), WM 2022, 2451, Rn. 43 hin. 191 Ebenso J. H. Klement, JZ 2015, 754 (760). Siehe zur Diskurstheorie R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation; J. Habermas, Faktizität und Geltung. 192 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 82). Siehe hierzu auch 2. Kap., C III 1, S. 137. 193 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 167 ff.). 194 Kritisch M. Nettesheim, NJW 2020, 1631(1632), der feststellt, die Ultra-vires-Kontrolle erstrecke sich damit auch auf „möglicherweise“ kompetenzwidriges Verhalten. 195 S. Simon/H. Rathke, EuZW 2020, 500 (501).
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
109
Insoweit lässt sich die Dogmatik mit der Lehre vom Ermessensnichtgebrauch im nationalen Bereich vergleichen.196 Hervorzuheben ist hier die Möglichkeit der Nachbesserung innerhalb einer Dreimonatsfrist.197 Sie dient der Ermöglichung der eigentlich angestrebten Kontrolle und vermittelt so zwischen der grundsätzlichen Integrationsoffenheit des Grundgesetzes und dem nationalen Interesse an einer Kompetenzprüfung. Bedauerlicherweise verzichtet das Bundesverfassungsgericht hier auf eine normative Herleitung, sie könnte aber in § 31 Abs. 2, Satz 2 Var. 2 BVerfGG analog zu sehen sein. Bis zur Entscheidung durch den EuGH muss das Bundesverfassungsgericht demnach selbst die Tragfähigkeit der Kompetenzbegründung untersuchen. Dabei wird der Vortrag im Verfahren seitens der handelnden Unionsstelle nur einer von mehreren argumentativen Ausgangspunkten sein. Neben förmlichen Begründungen können auch Pressemitteilungen und ähnliches hier herangezogen werden.198 Das Gericht fingiert in der Folge einen juristischen Dialog, in dem allein die Methodenlehre eine eindeutige Bewertung der Kompetenzbegründung bereitstellen muss. Schon hier hat das Gericht die Eigenheiten des Unionsrechts zu berücksichtigen und die Maßnahme im Lichte der ständigen Rechtsprechung des EuGH zu bewerten. Auch im Rahmen eines möglichen Vorlagebeschlusses ist seine Prüfungsdichte also eingeschränkt. Dies gilt umso mehr nach einer Antwort des EuGH im Vorlageverfahren. Bei der abschließenden Entscheidung kommt dem Bundesverfassungsgericht nicht die Rolle eines Revisionsgerichts zu.199 Es kann daher seine Rechtsauffassung nicht aufgrund einer Autorität qua Institution als die korrekte präsentieren. Vielmehr muss es nachweisen, dass die Methodenlehre eine bestimmte Ansicht des EuGH als unvertretbar entlarvt. Dabei ist äußerst fraglich, ob die Methodenlehre überhaupt eine derartige Leistung erbringen kann.200 Ihre Aufgabe ist üblicherweise die eines Entschei196 Hier ist die Rede von einem „Abwägungs- und Darlegungsausfall“, BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 177). Zum Ermessensausfall siehe K.-U. Riese, in: Schoch/Schneider, VwGO, 36. EGL. Februar 2019, § 114 VwGO, Rn. 60. 197 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 235). Kritisch H. Siekmann, EuZW 2020, 491 (495); W. Tilmann, IWRZ 2020, 166 (168); B. Wegener, EuR 2020, 347 (352). Die Möglichkeit einer Frist zur Abhilfe schon vor PSPP andenkend H.-G. Dederer, JZ 2014, 313 (322). 198 Siehe den Verweis auf das Fehlen von begleitenden Pressemitteilungen in BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 176). Dabei wird dem Bundesverfassungsgericht jedoch vorgeworfen, nicht die Begründungen beachtet zu haben, die die EZB gegenüber dem Europäischen Parlament vornahm, siehe K. Barley, AnwBl 2021, 216 (217). 199 Hierauf hinweisend K. F. Gärditz, Herrschaftslegitimation und implizite Identitätskontrolle, Verfassungsblog. 200 Kritisch spricht K. F. Gärditz, EuZW 2020, 505 (506) vom „schwankende[n] Boden juristischer Hermeneutik, auf dem traditionell wenig Bedeutungssicherheit zu erlangen ist
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
dungsmittels, nicht die eines Entscheidungsmaßstabs.201 So erfüllt sie wohl im Grundsatz unbestritten ihre Aufgabe als Möglichkeit zur rationalisierten Gewinnung von Rechtssätzen. Ihre Leistungsfähigkeit bei der Überprüfung von juristischen Argumentationen ist ungleich geringer: Der heute zumeist angenommenen Ergebnisoffenheit juristischer Entscheidungsprozesse ist eine gewisse inhaltliche Beliebigkeit des Ergebnisses inhärent.202 Die Feststellung einer Grenze des Vertretbaren ist daher ungleich schwieriger vorzunehmen als die Gewinnung eines Ergebnisses. Lediglich im Fall von logischen Widersprüchen innerhalb der juristischen Argumentation kann eine eindeutige Aussage getroffen werden.203 Hierauf beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht aber gerade nicht. Die Problematik ist im Ansatz keineswegs neu oder einzigartig und wird an anderer Stelle schon länger debattiert. So beschäftigt sich zum Beispiel das Strafrecht im Tatbestand der Rechtsbeugung nach § 339 StGB mit dem Problem der schlechthin unvertretbaren Rechtsanwendung.204 Die Zurückhaltung gegenüber der Eignung der Methodenlehre zur Feststellung des Unvertretbaren hat dort sogar in Teilen der Wissenschaft zur Entwicklung einer subjektiven Theorie geführt, nach der es alleine auf die innere Willensrichtung des Rechtsanwenders ankommt: Rechtsbeugung soll immer dann, aber auch nur dann vorliegen, wenn der Richter davon ausgeht, gegen geltendes Recht zu verstoßen.205 Diese Ansicht hat sich allerdings im Strafrecht nicht durchgesetzt.206 Für die Ultra-vires-Kontrolle, bei der es nicht um eine Schuldzuschreibung gegenüber den Richtern, sondern um die effektive Einhaltung einer Kompetenzordnung geht, erweist sich dieser Ansatz fraglos als ungeeignet: In den seltensten Fällen dürfte sich dem plural besetzten EuGH ein Wille zur fehlerhaften Rechtsanwendung nachweisen lassen, völlig unabhängig von dem konkreten Ergebnis. Während im Strafrecht inzwischen eine Fallgruppenbildung zur dogmatischen Handhabbarkeit der Rechtsbeugung geführt hat,207 fehlt es an einer solchen noch weitgehend für die und jeder seine eigene Methode pflegt.“ Auch bei Anwendung der Diskurstheorie sieht Alexy keine Gewissheit in den Ergebnissen, siehe R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 356. A.A. tendenziell T. Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 28 ff., der eine Vertretbarkeitskontrolle für leichter hält als die Herleitung bestimmter Ergebnisse. 201 J. H. Klement, JZ 2015, 754 (756 f.). 202 F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik Bd. 1, Rn. 535. Vom Risiko der Überstrapazierung der „begrenzte[n] Exaktheit juristischer Hermeneutik“ spricht K. F. Gärditz, Herrschaftslegitimation und implizite Identitätskontrolle, Verfassungsblog. 203 Zur Logik als dem Faktor, der exakte Aussagen in der juristischen Arbeit ermöglicht, siehe A. Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 663 f.; O. Weinberger, Rechtslogik, S. 23. 204 Siehe hierzu L. Kuhlen, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB Bd. 3, § 339 StGB, Rn. 57. 205 K. Mohrbotter, JZ 1969, 491 (494), siehe darstellend auch M. Uebele, in: Joecks/Miebach, Münchener Kommentar zum StGB, § 339 StGB, Rn. 27 m.w.N. 206 Von „nicht mehr vertreten“ spricht M. Uebele, in: Joecks/Miebach, Münchener Kommentar zum StGB, § 339 StGB, Rn. 27. 207 Zur praktisch für lange Zeit bedeutsamsten Konstellation der möglichen Rechtsbeu-
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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Ultra-vires-Kontrolle. Einzig das PSPP-Urteil hat offensichtliche Kompetenzüberschreitungen durch den EuGH und die EZB angenommen und damit einen größeren Beitrag für eine Fallgruppenbildung geleistet.208 Wenn keine Konkretisierung oder Fallgruppenbildung stattfindet, so droht das Merkmal der Offensichtlichkeit allein an die argumentative Überzeugungskraft und letztlich an eine subjektive Wirkung der Rechtsansicht anzuknüpfen.209 Subjekt ist hier das Bundesverfassungsgericht als die in seinem Selbstverständnis zur Erkennung des Objektiven fähige Instanz. Da dessen Erkenntniserleben für andere Rechtsanwender nicht berechenbar, nicht einmal ex post argumentativ nachvollziehbar ist, droht der Verweis auf eine dogmatisch kaum nutzbare Leerformel.210 Überzeugungskraft ist ein wichtiges Ziel rechtlicher Argumentation und damit zugleich ein zentraler Bewertungsmaßstab – sie ist jedoch kein Mittel der Gewinnung rechtlicher Ergebnisse. Durch seinen auf subjektive Überzeugungskraft abstellenden Ansatz strapaziert das Bundesverfassungsgericht den Begriff der Willkür- oder Vertretbarkeitskontrolle. Diese Begriffe treffen Kern der Prüfung nicht, weshalb die damit einhergehenden Probleme in der Außenwirkung vermeidbar gewesen wären. Dabei bestünden durchaus konkrete Ansatzpunkte für eine Konkretisierung der Offensichtlichkeit. Ein solcher könnte in der Gewaltenteilung liegen: Immer wieder betont das Bundesverfassungsgericht, die zulässige Kompetenzauslegung durch europäische Organe ende, wo eine Vertragsänderung erforderlich sei.211 In diesem Sinne gibt es diverse Versuche in der Forschung, die Grenzen vor allem richterlicher Tätigkeit aus der sachgerechten Aufteilung von legislativen und judikativen Kompetenzen herzuleiten.212 Auch die Forderungen nach richterlicher Selbstbeschränkung sind in diesem Lichte zu betrachten.213 Das Bundesverfas-
gung durch Richter der DDR M. Uebele, in: Joecks/Miebach, Münchener Kommentar zum StGB, § 339 StGB, Rn. 35 ff. m.w.N. 208 Siehe sogleich 2. Kap., B III c), S. 116 ff. 209 Ebenso A. Steinbach, AöR 140 (2015), 368 (370 f.): „Wer die Evidenz bemüht, beruft sich auf die eigene Einsicht.“ 210 G. Robbers, Gerechtigkeit als Rechtsprinzip, S. 132; N. Achterberg, DÖV 1963, 331 (339). 211 BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 153); BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Beschluss), BVerfGE 147, 216 (Rn. 63); BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 151). 212 Siehe z.B. F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik Bd. 1, Rn. 597 ff. Mit Blick auf die Ultra-vires-Kontrolle geht R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 132 diesen Weg, indem er vom EuGH typische Merkmale für Rechtsprechungstätigkeit verlangt. 213 A. Edenharter, Der Staat 57 (2018), 227. Kritisch für den EuGH J. Neuner, Die Rechtsfortbildung, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 12, Rn. 53. Siehe zum Bundesverfassungsgericht selbst bei der Anwendung der Ultra-vires-Kontrolle die abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff in BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 111 ff.).
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
sungsgericht bildet aus dieser Erwägung heraus jedoch keine Maßstäbe zur Offensichtlichkeit, sondern ordnet den Aspekt der Strukturrelevanz zu.214 b) Anknüpfungspunkt Neben der Problematik einer Definition der Offensichtlichkeit stellt sich das Problem ihres Anknüpfungspunkts. Bemerkenswert ist hier das Vorgehen im OMT-Vorlagebeschluss: Geprüft wurde nicht, ob sich das Vorgehen der EZB offensichtlich außerhalb ihrer Kompetenz bewegt.215 Stattdessen wurde gefragt, ob ein Verstoß gegen das währungspolitische Mandat, beziehungsweise das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung eine offensichtliche Kompetenzüberschreitung darstelle.216 Nicht der Tatbestand einer Kompetenzüberschreitung217 musste also offensichtlich gegeben sein – vielmehr musste bei unterstellter Erfüllung des Tatbestandes die Überschreitung offensichtlich sein. Dieser Bezugspunkt führt das Kriterium ad absurdum: Bei Verstoß gegen eine Kompetenznorm ist das auf dieser Norm fußende Handeln der Unionsgewalt immer kompetenzwidrig.218 Diese Herangehensweise lässt sich wohl nur unter prozessualen Gesichtspunkten erklären: Das Bundesverfassungsgericht musste für die Vorlage nach Art. 267 AEUV die Entscheidungserheblichkeit der Frage nach der Kompetenzkonformität darlegen. Hierfür musste einerseits die Bereitschaft zur grundsätzlichen Akzeptanz der EuGH-Entscheidung gezeigt werden. Andererseits wollte das Gericht auch die realistische Möglichkeit der Annahme eines Ultra-vires-Akts in den Raum stellen, ohne das Offensichtlichkeitskriterium aufzugeben. Daher musste es die Kompetenzfrage als offen, gleichzeitig aber die Überschreitung als offensichtlich bezeichnen.219 Dafür spricht die identische Verwendung des Kriteriums innerhalb des PSPP-Vorlagebeschlusses.220 Im Rahmen des Endurteils im OMT-Verfahren weicht das Gericht nicht expressis verbis von der Linie des Vorlagebeschlusses ab. Es führt zunächst erneut seine Zweifel an der währungspolitischen Natur des Grundsatzbeschlusses der 214 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 131); BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (303). 215 Zur Ratio ihres begrenzten Mandats P. Kirchhof, NJW 2020, 2057 (Rn. 13 ff.). 216 BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 39 ff.). 217 In diesem Fall auch in Form eines Kompetenzausschließungstatbestandes des Art. 123 Abs. 1 AEUV. 218 Von einem „fragwürdigen Kunstgriff“ sprechen daher M. Ludwigs/P. Sikora, EWS 2016, 121 (127). Kritisch auch J. H. Klement, JZ 2015, 754 (757); F. C. Mayer, EuR 2014, 473 (504); L. Naujoks, Das Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH, S. 56; A. Thiele, GLJ 15 (2014), 241 (254 f.). 219 A. Thiele, GLJ 15 (2014), 241 (254 f.). 220 BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Beschluss), BVerfGE 147, 216 (Rn. 65). Hierauf hinweisend M. Ludwigs, NJW 2017, 3563 (3565).
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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EZB auf und stellt dem die Erwägungen des EuGH gegenüber.221 Es lässt sodann erkennen, dass es die Handlungen der EZB zwar für kompetenzwidrig hält, aber eben nicht für offensichtlich kompetenzwidrig.222 Schon das Ergebnis offenbart die Abweichung von der Position des Vorlagebeschlusses, doch auch in der Sache wird mit dem Tatbestand der Kompetenznorm argumentiert. Im Ergebnis bleibt jedenfalls für Endurteile der ursprüngliche Anknüpfungspunkt für die Offensichtlichkeit aktuell: Die Fehlerhaftigkeit der Anwendung einer Kompetenznorm oder das völlige Fehlen einer Ermächtigung muss offensichtlich sein. Im Rahmen von Vorlagebeschlüssen wird das Vorliegen der Offensichtlichkeit jedoch im Ergebnis unterstellt, wenn das Bundesverfassungsgericht erhebliche Zweifel an der Kompetenzkonformität hegt. c) Anwendung auf finale Kompetenznormen Auch die Anwendung des Offensichtlichkeitskriteriums im konkreten Einzelfall begegnet Schwierigkeiten. Diese sind in der finalen Formulierung der europäischen Kompetenzen begründet.223 Im folgenden Abschnitt soll das grundsätzliche Problem aufgezeigt und der Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit diesem am Beispiel der OMT- und der PSPP-Entscheidungen dargestellt werden. Die Zwecke einer Handlung sind für den Handelnden grundsätzlich frei bestimmbar. Eine final gestaltete Kompetenz ist daher ihrer Natur nach offener als eine sachbereichsbezogene.224 Dies erschwert zugleich eine Kontrolle der Kompetenzwahrung. Der EuGH betont im Rahmen seiner eigenen Kompetenzkontrolle zwar die Anforderung an Unionsorgane, die Auswahl ihrer Ermächtigungsnorm auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände zu gründen, zu denen insbesondere das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts gehören.225 In der Praxis fällt diese gerichtliche Nachprüfung, wie gezeigt, allerdings zurückhaltend aus. Dies zeigt sich exemplarisch am Umgang mit der unionalen Binnenmarktkompetenz. So wurde beispielsweise die Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie
221
BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 181 ff.). 222 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 190). 223 Hierauf hinweisend D. Grimm, ZSE 2017, 3 (10 ff.). Siehe dazu auch 2. Kap., B I 4 a), S. 87 ff. 224 H. D. Jarass, AöR 121 (1996), 173 (180). Treffend C. Hillgruber, Spielräume und Grenzen des EuGH, in: Behrens/Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Europarechts, S. 1, 4: „Für eine teleologische, an den Vertragszielen orientierte Auslegung der operativen Bestimmungen des Vertrages eröffnet sich damit ein praktisch unbegrenztes Spielfeld, auf dem mit den weit gefassten, mannigfaltigen Zielen, je nach Argumentationsbedarf, wie mit Spielbällen ohne feste Spielregeln mehr oder weniger virtuos jongliert werden kann.“ 225 Ständige Rechtsprechung, siehe z.B. EuGH, Urt. v. 23.10.2007 – C-440/05 (Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen), Slg. 2007, I-9097 (Rn. 61) m.w.N.
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
2006/24/EG auf den damaligen Art. 95 EGV gestützt. Zur Begründung wurde aufgeführt, dass einige Mitgliedstaaten bereits über Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung verfügten. National unterschiedliche Pflichten für Telekommunikationsdiensteanbieter führten zu hohen Betriebs- und Investitionskosten.226 Insofern liege aus Sicht des betroffenen Anbieters eine Harmonisierung der für ihn relevanten Datenspeicherungsregeln vor. Diese Harmonisierungsfunktion besteht unzweifelhaft. Dennoch ist die Einschätzung des EuGH, die Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie betreffe in „überwiegendem Maß das Funktionieren des Binnenmarkts“227 zumindest gewagt.228 Die Vorratsdatenspeicherung ist ein datenschutzrechtlich relevanter Vorgang, der primär die Zwecke einer verbesserten Gefahrenabwehr und Strafverfolgung erfüllt. Gerade aus Sicht jener Mitgliedstaaten, die bislang keine Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung erlassen hatten, stellt eine binnenmarktbezogene Sichtweise diesen Regelungskern nicht korrekt dar. Dennoch hielt die Richtlinie einer Nichtigkeitsklage der Republik Irland mit Unterstützung der Slowakischen Republik unter dem Gesichtspunkt der Kompetenz stand.229 Das Bundesverfassungsgericht hält diese zurückhaltende Kontrollpraxis für bedenklich. Schon im OMT nahm das Verfassungsgericht daher Anstoß am Vorgehen des EuGH. Die EZB war und ist nach Art. 127 Abs. 1, Art. 282 Abs. 2 AEUV dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet. Nur zu diesem Zweck darf sie Gebrauch von ihren Kompetenzen nach den Art. 127 ff. AEUV machen. Wirtschaftspolitische Zielsetzungen dürfen nur unterstützenden Charakter für die währungspolitischen Zwecke aufweisen. Entscheidend für die Beurteilung der Kompetenzgemäßheit des Handels der EZB ist danach die Gewichtung der verfolgten Zwecke.230 Der EuGH betonte in der maßgeblichen Gauweiler-Entscheidung, dass eine währungspolitische Maßnahme nicht allein deshalb einer (kompetenzwidrigen) wirtschaftspolitischen Maßnahme gleichgestellt werden könne, weil sie mittelbare Auswirkungen auf die Stabilität des Euro-Währungsgebiets haben kann.231 226
EuGH, Urt. v. 10.02.2009 – C-301/06 (Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie I), Slg. 2009, I-00593 (Rn. 68). Kritisch T. Petri, EuZW 2009, 214 (214). 227 EuGH, Urt. v. 10.02.2009 – C-301/06 (Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie I), Slg. 2009, I-00593 (Rn. 85). 228 Ablehnend auch J. P. Terhechte, EuZW 2009, 199 (202 ff.); S. Simitis, NJW 2009, 1782–1786 (1785 ff.). 229 Allerdings wurde im späteren Verfahren EuGH, Urt. v. 08.04.2014 – C-293/12 (Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie II), ECLI:EU:C:2014:238 die materielle Grundrechtswidrigkeit festgestellt. 230 Strikt abzulehnen ist die Vorstellung, eine Abgrenzung sei unmöglich, weil die Währungspolitik eine Teilmenge der Wirtschaftspolitik sei. Auch in diesem Fall lässt sich prüfen, ob die Maßnahme mit dem Schwerpunkt im währungspolitischen Bereich oder im sonstigen wirtschaftspolitischen Bereich liegt. So aber I. Pernice, EuZW 2020, 508 (515). Unabhängig von tatsächlichen Schwierigkeiten muss zudem dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers zur Unterscheidung Rechnung getragen werden, H. Siekmann, EuZW 2020, 491 (495 ff.). 231 EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400 (Rn. 52).
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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Dadurch übernimmt er zunächst die behauptete Zielsetzung der EZB und überprüft lediglich, ob die einzelnen Inhalte des Programms und dieser Zielsetzung im Wege stehen.232 Eine Gesamtbetrachtung der tatsächlichen Folgen blieb somit aus; selbst ein Überwiegen der wirtschaftspolitischen Konsequenzen hätte die währungspolitische Zielsetzung nicht in Frage stellen können. An dieser hatte das Bundesverfassungsgericht aufgrund der konkreten Ausgestaltung des OMT-Programms jedoch erhebliche Zweifel.233 Anders als der EuGH hielt es eine wertende Gesamtbetrachtung aller Umstände zur Beurteilung der Zielsetzung für erforderlich.234 Das Bundesverfassungsgericht sah gerade in der Summe der wirtschaftspolitisch relevanten Inhalte ein starkes Indiz für eine entsprechende Zielsetzung des Programms. Dennoch kam es im konkreten Fall aufgrund der Grenzen, die der EuGH für das OMT-Programm formulierte,235 noch nicht zum Bruch zwischen den Gerichten.236 Auch im Verfahren zum EU-Wiederaufbaufonds bestanden Zweifel an der von den Unionsorganen vorgebrachten Zweckbestimmung.237 Nach Art. 122 Abs. 2 Satz 1 AEUV kann der Rat auf Vorschlag der Kommission, (nur) wenn ein Mitgliedstaat aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist, beschließen, dem betreffenden Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren. Die Notwendigkeit für den Aufbaufonds wurde dabei unmittelbar mit den wirtschaftlichen Folgen der Covid-Pandemie begründet. Zweifel an der vorgebrachten Zielsetzung waren jedoch nicht zuletzt dadurch angebracht, dass sich der damalige deutsche Finanzminister (und deutsche Vertreter im Rat) in der Plenardebatte im Bundestag wie folgt äußerte: „Hinter diesem etwas technisch klingendem Begriff ,Eigenmittelsystem der EU‘ verbirgt sich sehr viel. Es gibt die einen, zu denen ich gehöre, die das als einen notwendigen und überfälligen Schritt in Richtung Fiskalunion Europäische Union ansehen. […] Ich höre sehr oft, es gehe um ein Wiederaufbauprogramm. Es ist mitnichten ein Wiederaufbauprogramm. Mit den 750 Milliarden Euro wollen wir dazu beitragen, dass sich Europa erneuert. Wir wollen in Digitalisierung, wir wollen in den sozialen Zusammenhalt,
232
EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400 (Rn. 53 ff.). BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 183 ff.). 234 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 183). 235 EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400 (Rn. 105 ff.). 236 Ausdrücklich auf diese Begrenzungen als Grund für die fehlende Aktivierung des Ultra-vires-Vorbehalts Bezug nehmend BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 192 f.). 237 BVerfG, Urt. v. 06.12.2022 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Urteil), WM 2022, 2451. Siehe M. Ruffert, JuS 2023, 277; C: Ohler, JZ 2023, 204; A. Steinbach/S. Grund, NJW 2023, 405. 233
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
wir wollen vor allem aber in mehr Klimaschutz investieren, damit niemand Angst haben muss vor Arbeitsplatzverlusten.“238
Dennoch kam das Bundesverfassungsgericht hier auch ohne Vorlage an den EUGH zu dem Schluss, es sei zumindest nicht offensichtlich, dass der Fonds nicht Zwecke im Sinne des Art. 122 Abs. 2 AEUV verfolge.239 Der Fall dürfte dennoch das Risiko lediglich vorgeschobener oder tatsächlich nachrangiger Zwecke einer Maßnahme veranschaulichen. Zu einem Konflikt der Höchstgerichte kam es schließlich im PSPP-Verfahren: Auch hier wurde die währungspolitische Zielsetzung eines Fiskalprogramms überprüft. Der wesentliche Unterschied gegenüber dem OMT-Verfahren liegt hier in der Entscheidungserheblichkeit der Kompetenzfrage: Während im OMTVerfahren der EuGH die Kompetenzbegründung der EZB mittrug, aber auf Ebene des Inhalts des Programms Grenzen formulierte, in der Sache also keine offensichtliche Kompetenzüberschreitung durch das Programm mehr vorlag, wurden für das PSPP keine derartigen Bedingungen aufgestellt. Erneut war die Bewertung der Folgen einzelner Teile des Programms der wesentliche Dissens zwischen den Gerichten. Die Vorgehensweise des EuGH in der betreffenden Rechtssache Weiss glich dabei jener in der Rechtssache Gauweiler. Besonders deutlich lehnte der EuGH die Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts ab, tatsächliche Folgen des Programmes seien, selbst wenn sie vorhersehbar und bewusst in Kauf genommen worden seien, nicht mehr als unerhebliche mittelbare Auswirkungen einzustufen.240 In der Auseinandersetzung mit dem Urteil des EuGH unterscheidet das Bundesverfassungsgericht nicht klar zwischen der Prüfung der Überschreitung der Grenzen methodengerechter Auslegung und der Offensichtlichkeit. Vielmehr begründet es die Offensichtlichkeit im Wesentlichen mit einem Verweis auf die vorangegangene Argumentation.241 Es werden vier Mängel bei der Kompetenzprüfung durch den Gerichtshof festgestellt: 1. Die Übernahme der behaupteten Zielsetzungen der EZB durch das völlige Ausblenden der wirtschaftspolitischen Auswirkungen des PSPP führe zu einer eigenständigen Disposition der Zentralbank über ihre Kompetenzen.242 Ausdrücklich verweist das Gericht auf die Missbrauchsgefahr durch vorgebliche Zielsetzungen.243 238 Plenarprotokoll 19/218 vom 25.03.2021, S. 27480 f.; siehe BVerfG, Urt. v. 06.12.2022 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Urteil), WM 2022, 2451, Rn. 177. 239 BVerfG, Urt. v. 06.12.2022 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Urteil), WM 2022, 2451, Rn. 171 ff; kritisch zur Anwendung des Art. 122 AEUV im konkreten Fall: A. Steinbach/S. Grund, NJW 2023, 405 (409). 240 EuGH, Urt. v. 11.12.2018 – C-493/17 (Weiss), ECLI:EU:C:2018:1000 (Rn. 62). 241 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 155). Hierzu kritisch F. C. Mayer, JZ 2020, 725 (730). 242 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 134 ff.). 243 Befürwortend F. Sander, DÖV 2020, 759 (762), der zurecht darauf hinweist, dass eine
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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2. Daraus resultiere eine Funktionslosigkeit der Verhältnismäßigkeitsprüfung, weil Geeignetheit und Erforderlichkeit des PSPP – von dem Verlustrisiko abgesehen – nicht mit den wirtschaftspolitischen Auswirkungen zulasten der Kompetenzen der Mitgliedstaaten in Beziehung gesetzt würden. So bleibe ein Abwiegen mit den erhofften Vorteilen aus.244 3. Die Entscheidung sei nicht vereinbar mit der sonstigen Rechtsprechung des EuGH: Die mangelnde Einbeziehung tatsächlicher Folgen widerspreche der methodischen Herangehensweise des Gerichtshofs in nahezu allen anderen Bereichen der Unionsrechtsordnung.245 Genannt werden hier die Berücksichtigung faktischer Wirkungen im Bereich der Grundrechte, der Grundfreiheiten, bei der Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze, dem Äquivalenzprinzip und auch in Konstellationen der Kompetenzprüfung. 4. Die Selbstbeschränkung des Gerichtshofs darauf zu prüfen, ob ein „offensichtlicher“ Beurteilungsfehler der EZB vorliegt, ob eine Maßnahme „offensichtlich“ über das zur Erreichung des Ziels Erforderliche hinausgeht oder ob deren Nachteile „offensichtlich“ außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehen, vermöge die auf die Währungspolitik begrenzte Zuständigkeit der EZB nicht einzuhegen.246 Die Vorwürfe lassen sich demnach in zwei Kategorien einordnen: die fehlende Achtung des objektiven Zwecks der Kompetenzschranken247 und die fehlende Konsistenz der Rechtsprechung des EuGH. Während die erste Kategorie als
Kompetenzkontrolle, unabhängig von der tatsächlichen Motivation des Unionsorgans, zumindest gegen potenziellen Missbrauch resistent sein muss. Ebenso N. Grosche, Der Staat 60 (2021), 273 (281 ff.). 244 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 138 ff.). Kritisch P. Meier-Beck, EuZW 2020, 519 (524), der damit die wirtschaftspolitische Leistungsfähigkeit währungspolitischer Maßnahmen bedroht sieht. Eigenwillig T. Weck, BKR 2020, 463 (464), der aus der wirtschaftspolitischen Neutralität des GG herleitet, dieses könne keine Rechtswidrigkeit des Programmes aufgrund wirtschaftlicher Auswirkungen vorsehen. Dies verkennt aber den Grundsatz der wirtschaftspolitischen Neutralität: Dieser verbietet keine Abgrenzung der Wirtschaftspolitik zu anderen Politikbereichen im Rahmen der Zuständigkeitszuordnung. Wirtschaftspolitische Neutralität bedeutet darüber hinaus auch keine völlige wirtschaftliche Indifferenz, siehe K.-H. Fezer, in: Fezer/Büscher/Obergfell, UWG, Einleitung – Geschichte, Systematik, Grundlagen, Rn. 356 f.; J. H. Klement, Wettbewerbsfreiheit, S. 313 ff. 245 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 146 ff.). 246 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 156). A.A. P.-C. Müller-Graff, EuZW 2019, 172 (172), der in dem Maßstab die „primärrechtlich gebotene Achtung der der EZB übertragenen fachpolitischen Letztverantwortung“ erkennt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass dieser Vorwurf auch dem Bundesverfassungsgericht bei der Handhabung „seines“ Offensichtlichkeitskriteriums entgegengebracht wird, siehe 2. Kap., B III 3 b), S. 126. 247 Auf die subjektiv-historische Dimension dieser Vorschriften geht das Bundesverfassungsgericht hingegen nicht ein.
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willkürliches Außerachtlassen etablierter Methoden verstanden werden kann,248 wird mit dem Vorwurf mangelnder Konsistenz ein außerhalb der Methodik liegender Ansatzpunkt gewählt. Es geht dem Gericht gerade nicht um die logische Vereinbarkeit von Entscheidungen, sondern um das willkürliche Abweichen von Grundsätzen aus „nahezu allen anderen Bereichen des Unionsrechts“.249 Nur so lässt sich der ansonsten systematisch fernliegende Verweis250 auf die Maßnahmen gleicher Wirkung im Bereich der Grundfreiheiten erklären. Dennoch bleibt fraglich, warum das Bundesverfassungsgericht zur Findung eines allgemeinen Grundsatzes in der Rechtsprechung des EuGH befugt sein soll, an dem dieser dann zu messen ist. Das PSPP-Urteil zeigt deutlich, mit welchen Schwierigkeiten das Offensichtlichkeitskriterium behaftet ist. Es ist seiner Natur nach mehr Maßstab als Einschränkung des Kriteriums methodengerechter Auslegung. Zudem ist es nicht in ausreichendem Maße konkretisiert worden und daher kaum mehr als der Versuch, die inhaltlich geringe Dichte der Kontrolle operabel zu fassen. Dies führte teils dazu, dass dem Kriterium sowie dem gesamten Tatbestand sein dogmatischer Gehalt abgesprochen wurde.251 Vielmehr handle es sich um ein flexibles Instrument zur Überwachung des Institutionensettings. Bei aller Flexibilität, die angesichts der Dynamik des Unionsrechts und der Vielzahl möglicher Fälle durchaus sinnvoll ist, muss jedoch ein klarer normativer Gehalt bestimmbar sein. Die Verfassungsorgane können ihre Integrationsverantwortung252 nur sinnvoll wahrnehmen, wenn ihnen die Notwendigkeit eines Eingreifens bewusst ist. Ebenso kann von den europäischen Organen kaum Rücksichtnahme auf nationale Vorbehalte im Sinne einer Kooperation verlangt werden, wenn die deutsche Rechtslage unklar ist. 2. Das Kriterium der Strukturrelevanz Ebenso wie das Kriterium der Offensichtlichkeit geht auch das Merkmal der Strukturrelevanz auf den Honeywell-Beschluss zurück. Schon dort kam ihm eine entscheidungserhebliche Rolle zu: Die Verfassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg, da die Entscheidung des EuGH zur Rechtmäßigkeit der Befristung von Arbeitsverträgen wegen des Alters der Arbeitnehmer zu keiner strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen geführt habe.253 Im konkreten Verfahren bestand also schon die Notwendigkeit zur Konkretisierung der Strukturrelevanz. 248
Siehe hierzu 2. Kap., B II 2, S. 98. BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 146), Hervorhebung durch den Autor. 250 I. Pernice, EuZW 2020, 508 (512). 251 O. Lepsius, JöR 63 (2015), 63 (87). 252 Siehe zu dieser 2. Kap., C III 3. 253 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (309 ff.). 249
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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Eine strukturell bedeutsame Verschiebung sei demnach gegeben, wenn die Kompetenzanmaßung „praktisch kompetenzbegründend“ wirke, also ein neuer Kompetenzbereich für die Union zulasten der Mitgliedstaaten begründet oder eine bestehende Kompetenz mit dem Gewicht einer Neubegründung ausgedehnt wird. Dies beinhalte nicht nur die Notwendigkeit einer gewichtigen Kompetenzverschiebung zu Lasten der Mitgliedstaaten, es bedürfe weiterhin der Schaffung von Pflichten für Bürger, die sich als Grundrechtseingriff erweisen.254 Inwieweit die Notwendigkeit eines Grundrechtseingriffs ein integraler Bestandteil des Merkmals der Strukturrelevanz war, oder nur im konkreten Einzelfall hätte vorliegen müssen, wurde nicht ersichtlich. Es ist ebenso denkbar, dass eine fehlende Betroffenheit von Grundrechten grundsätzlich durch andere Faktoren substituiert werden kann. Dies gilt insbesondere seit dem faktischen Wegfall des Erfordernisses eines spezifischen Grundrechtseingriffs zur Begründung der Antragsbefugnis.255 In der neueren Rechtsprechung taucht das Merkmal nicht mehr auf.256 Ihm dürfte daher keine Relevanz mehr zukommen. An der Bezugnahme auf Grundrechte zeigt sich aber, dass das Bundesverfassungsgericht nicht nur die Bedeutung und den Umfang der in Anspruch genommenen Kompetenz für die Bundesrepublik bewertet, sondern darüber hinaus auch anderen Bewertungskriterien Relevanz einräumt. Entsprechend wurden im Nachgang an die Entscheidung auch andere mögliche Faktoren wie beispielsweise die Vorwerfbarkeit der Kompetenzanmaßung angedacht.257 Gerade die Vorwerfbarkeit dürfte in der Praxis kaum handhabbar sein: Entweder man hält objektiv willkürliche Entscheidungen generell für vorwerfbar oder man verlangt darüber hinaus einen Vorsatz zur Willkür. Ersteres nivelliert das Kriterium, zweiteres dürfte nie vorliegen oder doch zumindest nicht nachweisbar sein.258 Schon in der Honeywell-Entscheidung stellt das Gericht klar, dass der Begriff der strukturellen Wirksamkeit weiter ist als jener der Verletzung der Verfassungsidentität: Eine Kompetenzanmaßung muss materiell nicht die Bereiche des Art. 79 Abs. 3 GG, insbesondere nicht die besonders „sensiblen [Bereiche] für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit“259 betreffen, um strukturelle Relevanz zu entfalten.260 Daher fallen Ultra-vires-Kontrolle und Identitätskontrolle ma254
BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (312 f.). Siehe dazu 2. Kap., C IV 2, S. 154 ff. 256 Beispielsweise BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 151). 257 S. Pötters/J. Traut, EuR 2011, 580 (587). 258 Darüber hinaus ist die Vorwerfbarkeit auch kein geeignetes Kriterium soweit es um den Schutz der mitgliedstaatlichen Souveränität und nationalen Demokratie geht, vgl. S. Pötters/ J. Traut, EuR 2011, 580 (585). 259 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (359). 260 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (307). Hierauf verweisend BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 25). Dies übersieht aber A. Proelß, EuR 2011, 241 (261). Kritisch zum unterschiedlichen Maßstab der Kontrollen M. Ludwigs, NVwZ 2015, 537 (539). 255
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teriell grundsätzlich nicht zusammen und besitzen jeweils einen eigenen Prüfungsmaßstab.261 Dennoch handelt es sich bei der Strukturrelevanz, ähnlich wie bei der Verfassungsidentität, um eine Anforderung an die Bedeutung und den Umfang der von der Union ausgeübten Kompetenzen. Sie erfüllt damit neben der Funktion einer Beschränkung der Kontrolle auf kompetenziell wirksame Maßnahmen auch die Funktion eines Schwerekriteriums262.263 Im OMT-Urteil brachte das Bundesverfassungsgericht die Strukturrelevanz auf die Formel: „Eine strukturell bedeutsame Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen kann nur vorliegen, wenn die Kompetenzüberschreitung ein für das Demokratieprinzip und die Volkssouveränität erhebliches Gewicht besitzt. Das ist etwa der Fall, wenn sie geeignet ist, die kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union zu verschieben und so das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu unterlaufen. Davon ist auszugehen, wenn die Inanspruchnahme der Kompetenz durch das Organ, die Einrichtung oder sonstige Stelle der Europäischen Union eine Vertragsänderung nach Art. 48 EUV oder die Inanspruchnahme einer Evolutivklausel erforderte, für Deutschland also ein Tätigwerden des Gesetzgebers, sei es nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG, sei es nach Maßgabe des Integrationsverantwortungsgesetzes.“264
Es fällt zunächst auf, dass das Unterlaufen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung nur als ein Beispiel für Kompetenzüberschreitungen von erheblichem Gewicht genannt wird. Dadurch fehlt es zunächst an einer vollständigen Definition der Strukturrelevanz und es bleibt für weitere Fallkonstellationen Raum. Im PSPP-Urteil wurde diese Aussage jedoch angepasst und die Formulierung als Fallbeispiel aufgegeben.265 Dennoch beruft sich das Bundesverfassungsgericht auch dort zusätzlich auf die grundsätzliche demokratische Relevanz der Frage nach der Zuordnung einer Maßnahme zur Wirtschafts- oder zur Währungspolitik. Die Antwort entscheide „zugleich über das demokratische Legitimationsniveau und die Kontrolle des entsprechenden Politikbereichs, weil die Währungspolitik dem nach Art. 130, Art. 282 AEUV unabhängigen ESZB übertragen ist.“266 Es stellt also weiterhin nicht ausschließlich auf die formale Frage der kompetenziellen Wirkung ab.
261
Siehe zum Verhältnis im Einzelnen 2. Kap., D II 2. Von Schwere spricht schon der Richter Landau in der abweichenden Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (323). Teils wird daher der Ausdruck „Schwerekriterium“ gebraucht. Es handelt sich dabei um Synonyme. 263 Diese Doppelfunktion attestiert auch H.-G. Dederer, JZ 2014, 313 (321). 264 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 151). Hierauf verweisend BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 110); BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 153); BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Beschluss), BVerfGE 147, 216 (Rn. 63). 265 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 110). 266 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 159). 262
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
121
Gleichwohl ist das zentrale Merkmal für die Feststellung eines „erheblichen Gewichts für das Demokratieprinzip und die Volkssouveränität“ die übergangene Notwendigkeit eines Tätigwerdens der nationalen Legislative zur Kompetenzeinräumung. Dadurch wird auf eine materielle Grenze zwischen exekutiver und legislativer Tätigkeit Bezug genommen: Wo die Unionsstellen nicht mehr selbständig die Einzelermächtigungen auslegen und fortentwickeln dürfen, sind allein die nationalen Legislativen handlungsbefugt.267 Dieser Maßstab scheint systematisch verfehlt: Jede nicht mehr methodengerechte Auslegung einer kompetenzbezogenen Vorschrift überschreitet den zulässigen Handlungsspielraum der Unionsorgane.268 Schon das Vorliegen einer Kompetenzüberschreitung impliziert einen fehlenden legislativen Akt und damit die Erfüllung des begrenzenden Merkmals der strukturellen Relevanz.269 Daher handelt es sich bei einer so verstandenen Strukturrelevanz um ein obsoletes Kriterium. Dennoch gelangt das Bundesverfassungsgericht in der Honeywell-Entscheidung zu dem Schluss, eine strukturell bedeutsame Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten liege nicht vor.270 Definition und Ergebnis passen also nicht zusammen. Anscheinend hat sich das Gericht daher nicht an der zitierten Definition orientiert. Dies ist mit Blick auf den Rechtsanwender, welcher die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu antizipieren versucht, äußerst problematisch.271 Es kann daher allenfalls versucht werden, induktiv eine Definition herzuleiten, welche mit den sonstigen Ausführungen des Gerichts vereinbar ist und zu dem gefundenen Ergebnis führt. Strukturelle Relevanz könnte demnach gegeben sein, wenn der in Anspruch genommenen Kompetenz eine derart große Bedeutung zukommt, dass sie ihrem Umfang nach einem der in den Verträgen geregel-
267 Derartige materielle Grenzziehungen als Definitionsmerkmal sind grundsätzlich kritisch zu betrachten. In anderem Kontext stellte beispielsweise A. Voßkuhle, in: von Mangoldt/ Klein/Starck, GG Bd. 3, Art. 93 GG, Rn. 52 fest: „Man sollte sich […] keiner Illusion hingeben. Entgegen allen anders lautenden Beteuerungen durch die Gerichte bieten methodische Grenzziehungspostulate kaum hinreichenden Schutz vor einer Überformung des legislativen Gestaltungswillens.“ 268 Wie hier: R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 125; M. Ludwigs, EWS 2020, 186 (189). 269 Deutlich erkennbar wird dies auch, wenn man das Pronomen in der Formel des Bundesverfassungsgerichts ersetzt. Strukturrelevanz liege vor, „wenn sie (die Kompetenzüberschreitung) geeignet ist, die kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union zu verschieben“. Es liegt in der Natur von Kompetenzüberschreitungen, kompetenzielle Grundlagen zu verschieben. 270 Zwar wurde die oben genannte Formel erst im OMT-Beschluss eingeführt, doch das Gericht beruft sich ausdrücklich auf den Honeywell-Beschluss. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass mit der Formel keine inhaltliche Änderung verbunden ist und auch die Honeywell-Entscheidung an ihr gemessen werden kann. 271 Hierbei ist insbesondere an die Verfassungsorgane zu denken, die im Zuge ihrer Integrationsverantwortung bereits vorab gegen Ultra-vires-Akte einschreiten müssen, vgl. 2. Kap., C III 3, S. 142 ff.
122
Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
ten Kompetenztiteln entspricht. Für die Nutzung dieser Formel spricht etwa der Verweis auf die Notwendigkeit einer Ausdehnung bestehender Kompetenzen mit dem Gewicht einer Neubegründung.272 Auch eine Subsumtion unter diese Definition bereitet jedoch Schwierigkeiten: Kompetenznormen, zumal jene der Europäischen Verträge, sind abstrakt-generell formuliert. Die in Frage stehende Maßnahme eines europäischen Organs ist ihrer Natur nach jedoch konkreter.273 Sie wird demnach selbst nie die Dimension eines vertraglichen Kompetenztitels erreichen.274 Vielmehr muss der hypothetische Kompetenztitel, auf dem eine derartige Maßnahme fußen könnte, seinem Gewicht nach mit den sonstigen Kompetenzen der Verträge vergleichbar sein. Völlig unklar bleibt allerdings die Art und Weise der Bestimmung des hypothetischen Kompetenztitels und wie der qualitative Vergleich vorgenommen werden soll.275 Solange sich die Kompetenzüberschreitung in sachlicher Nähe zu einer bestehenden Kompetenz befindet und dieser keine völlig neue Dimension verleiht, ist eine Strukturrelevanz jedenfalls nicht gegeben. Eine Sonderrolle nimmt die Prüfung einer unionsrichterlichen Kompetenzüberschreitung ein. Verlässt der EuGH mit einer Entscheidung die Grenzen seines Rechtsprechungsauftrags aus Art. 19 Abs. 1 EUV, so wird nicht geprüft, ob diesem Überschreiten selbst strukturelle Relevanz zukommt. Das Bundesverfassungsgericht fragt demnach nicht, ob die nationalen Parlamente dem EuGH ein Mandat für die methodenwidrige Anwendung des europäischen Rechts hätten erteilen müssen, sondern ob die Folgen des Urteils eine Kompetenzbegründung oder -Ausdehnung von erheblichem Gewicht darstellen. Dabei besteht ein erheblicher Unterschied zwischen der Vorgehensweise in der Honeywell-Entscheidung und jener im PSPP-Verfahren. In der Honeywell-Entscheidung wurde geprüft, ob das Ergebnis, die Statuierung eines Verbots der Altersdiskriminierung, eine strukturelle Verschiebung der Kompetenzen darstellt.276 Im PSPP-Urteil wird die strukturelle Kompetenzüberschreitung im spezifischen Begründungsweg des EuGH erblickt: Nicht das Ergebnis, die Akzeptanz des PSPP stellt eine Kompetenzverlagerung dar, sondern die mangelhafte Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Diese führe zu einer grundsätzlichen Erosion der mitgliedstaatlichen Kompetenzen im Bereich der Wirtschafts- und Fiskalpolitik.277 272
BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (312 f.). Unabhängig davon, ob lediglich eine individuelle oder generelle Regelung getroffen wird, stellt beides gegenüber der Kompetenznorm eine Konkretisierung dar. 274 Wohl aus diesem Grund weist D. Grimm, Die große Karlsruher Verschiebung, FAZ v. 09.09.2010, S. 8 darauf hin, Strukturrelevanz entstehe nur durch eine Kumulation von Einzelfällen, die aber als solche nie zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stehe. Siehe auch D. Murswiek, EuGRZ 2017, 327 (333). 275 Einen Versuch der Schärfung des Begriffs der kompetenziellen Wirksamkeit unternimmt P. M. Bender, ZEuS 2020, 409 (422 ff.). 276 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (312 f.). 277 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 157 ff.). 273
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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Offensichtlich verfehlt wäre es, die Strukturrelevanz eines Ultra-vires-Akts wegen seiner fehlenden Geltung im deutschen Recht abzulehnen. Es genügt hier ein hypothetischer Verstoß gegen das Demokratieprinzip: Strukturrelevanz ist bei all jenen Maßnahmen gegeben, die ohne Kompetenz erlassen wurden und bei angenommener Anwendbarkeit das Demokratieprinzip und die Volkssouveränität bedrohten. Ein ähnliches Problem existiert im allgemeinen Verwaltungsrecht bezüglich des nichtigen Verwaltungsakts: Nach § 44 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG ist ein Verwaltungsakt nichtig, der die Begehung einer rechtswidrigen Tat verlangt. Es wäre widersinnig hier anzuführen, ein nichtiger Verwaltungsakt verlange kein Handeln. 3. Herleitbarkeit der Beschränkungen Die Ultra-vires-Kontrolle stellt sich nach den bisherigen Feststellungen als eine dreistufige Kontrolle auf die Wahrung bestimmter kompetenzbezogener Vorschriften der europäischen Verträge dar. Die Kriterien der Offensichtlichkeit und der Strukturrelevanz fungieren dabei als Beschränkungen des Merkmals des Vorliegens einer Kompetenzüberschreitung. Allerdings sind diese Merkmale ebenso wenig wie die Existenz des Ultra-viresVorbehalts selbst grundgesetzlich verankert. Begründet das Bundesverfassungsgericht die Notwendigkeit zur Vornahme einer Kompetenzkontrolle, müssen sich etwaige Kontrollbeschränkungen ihrerseits gegenüber dieser Notwendigkeit rechtfertigen lassen. Wenn eine Kompetenzüberschreitung durch Unionsstellen die deutsche Souveränität und Demokratie bedroht, provoziert jede Zurücknahme der Kontrolldichte deutlichen Widerspruch zu diesen Prinzipien.278 Auch nicht offensichtliche und strukturell unerhebliche Kompetenzüberschreitungen sind demokratisch nicht legitimiert. Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG sieht keine Ausnahmen vor.279 Dieser Konflikt wird durch die Verknüpfung der Ultra-vires-Kontrolle mit der Menschenwürde des wahlberechtigten Bürgers und Art. 79 Abs. 3 GG280 noch verstärkt.281 Nachfolgend soll daher die Begründung des Bundesverfassungsgerichts dargestellt werden, um anschließend ihre Tragfähigkeit für die beiden beschränkenden Merkmale zu prüfen.
278
Anders F. C. Mayer/M. Walter, JURA 2011, 532 (540), die die Kriterien unter dem Gesichtspunkt der Rücknahme einer ihrer Ansicht nach illegitimen Kontrolle betrachten. 279 H.-P. Folz, EuZA 2011, 308 (317 ff.). 280 Siehe BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 126). 281 M. Tischendorf, EuR 2018, 695 (713).
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
a) Die einheitliche Herleitung des Bundesverfassungsgerichts Schon früh betonte das Gericht eine Zurückhaltung bei der Ausübung des Vorbehalts. In der Kloppenburg-Entscheidung hob es die Befugnis des EuGH zur richterlichen Rechtsfortbildung und damit zur normativ gebundenen Rechtsschöpfung hervor.282 Vor allem jedoch in der Lissabon-Entscheidung wird die Notwendigkeit von Prüfungsbeschränkungen sogar detaillierter beschrieben als die Beschränkungen selbst. Das Gericht entwickelt in diesem Urteil den Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes: Art. 23 Abs. 1 sowie die Präambel formulierten einen Verfassungsauftrag zur Verwirklichung eines vereinten Europas.283 Hieraus folge, dass bei der Auslegung der Verfassung ein mit dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit korrespondierender Grundsatz zur europäischen Einigung bestehe. Insbesondere der Identitäts- und Ultra-vires-Vorbehalt seien an ihm zu messen. Hieraus folgten unmittelbar ein Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts innerhalb der deutschen Gerichtsbarkeit,284 und eine Maßstabsbildung, die dem Ausnahmecharakter der Vorbehalte Rechnung trage.285 Erst im Honeywell-Beschluss wurden die konkreten Folgen für die Maßstabsbildung ausgeführt. Dabei unterschied das Gericht hinsichtlich der Herleitungen nicht zwischen den Kriterien der Offensichtlichkeit und der Strukturrelevanz. Beide Merkmale wurden einheitlich mit Verweis auf die Europarechtsfreundlichkeit postuliert.286 Eine ausführliche Deduktion fand dabei nicht statt287: Das Gericht stellte lediglich fest, die Kontrolle habe „Aufgabe und Stellung der unabhängigen überstaatlichen Rechtsprechung zu wahren“.288 Auch wenn die Kürze der Entscheidung auf ihren Beschlusscharakter zurückgeführt werden kann, so ist die Konkretisierung eines Verfassungsgrundsatzes mit nur diesem kleinen Zwischenschritt doch bemerkenswert. Indem die Senatsmehrheit ihren Begründungsweg nicht offenlegt, ist ihr Ergebnis nur schwer überprüfbar. So kritisierte auch der Richter Landau in seiner abweichenden Meinung, die Kontrollbe-
282
BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 (Kloppenburg), BVerfGE 75, 223 (243). BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (346 f.). 284 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (354). Siehe hierzu 2. Kap., C I, S. 130. 285 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (401). 286 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (303 f.). 287 Der Verweis auf die gleichlautenden Kriterien des europäischen Haftungsrechts, siehe S. 304, kann schon aus systematischen Gründen keine Herleitung von Merkmalen der Ultravires-Kontrolle darstellen. Vielmehr dürfte er als Versuch zu verstehen sein, gegenüber dem EuGH Anschlussfähigkeit herzustellen und die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dessen Rechtsprechung zu demonstrieren, siehe S. Pötters/J. Traut, EuR 2011, 580 (584 f.). 288 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (307). 283
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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schränkungen schössen über das Ziel einer europarechtsfreundlichen Ausgestaltung hinaus.289 Dieser objektiv-rechtliche Begründungsweg der Europarechtsfreundlichkeit wurde in späteren Entscheidungen wiederholt aufgegriffen, ohne ausgebaut zu werden.290 Ergänzend trat allerdings ein subjektiv-rechtlicher Ansatz hinzu. Im OMT-Urteil stellte das Bundesverfassungsgericht fest, das Individualrecht auf Schutz vor einer eigenmächtigen Inanspruchnahme hoheitlicher Befugnisse durch Organe der Europäischen Union erfasse nur „hinreichend qualifizierte“ Kompetenzüberschreitungen.291 Das „Recht auf Demokratie“292 des Einzelnen sei inhaltlich eng begrenzt.293 In der Sache formulierte das Bundesverfassungsgericht aus dieser Erwägung heraus keine neuen Maßstäbe, sondern knüpfte an seine bisherige Linie an. Dies ermöglichte im konkreten Verfahren auch einen einheitlichen Maßstab: Das Verfahren behandelte neben einer Vielzahl von Verfassungsbeschwerden auch eine Klage der Fraktion „Die Linke“ im Organstreit. Für diesen Rechtsstreit gilt eine grundrechtlich bedingte Beschränkung des Ultra-vires-Maßstabs nicht. Das PSPP-Urteil lässt sich schließlich dahingehend deuten, dass der subjektive Anspruch des Einzelnen in seinem Umfang nicht hinter dem objektiven Recht zurückbleibt.294 Damit wird der individualrechtliche Ansatz der Prüfungsbeschränkung letztlich obsolet: Ein subjektiv-rechtlicher Anspruch kann ohnehin nicht über die Herstellung der objektiv-rechtlich gebotenen Situation hinausgehen. Eine individuelle Beschränkung, die einen Gleichklang von subjektivem und objektivem Recht herstellt, ist daher keine Beschränkung.
289 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (322). Ebenso z.B. H.-P. Folz, EuZA 2011, 308 (317). 290 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 112); BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Beschluss), BVerfGE 147, 216 (Rn. 58); BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 83, 157); BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 27). 291 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 147). 292 Hierzu im Einzelnen 2. Kap., C IV 2, S. 156 ff. Inzwischen spricht das Bundesverfassungsgericht vom „Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung“, siehe BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 101 und passim). 293 Zu den verschiedenen Ausprägungen des Rechts auf Demokratie, siehe A. Knoth, EuR 2021, 274 (282 ff.). 294 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 106). Ebenso von einem Gleichgang der Beschränkungen ausgehend, diesen aber entschieden ablehnend D. Murswiek, EuGRZ 2017, 327 (337).
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
b) Tragfähigkeit hinsichtlich der Offensichtlichkeit Die Heranziehung der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, insbesondere also von Art. 23 Abs. 1 GG, offenbart ein normhierarchisches Problem: Wie soll ein auf einer einfachen Verfassungsvorschrift basierender Grundsatz ein Instrument zum Schutz von Art. 20 Abs. 1, Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG einschränken? Soweit das Bundesverfassungsgericht verlangt, die Kompetenzgemäßheit dürfe unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt begründbar sein, so lässt sich dies als Ausübung einer im Ansatz nicht vermeidbaren Grenzziehungsobliegenheit verstehen. So verstanden, erweist sich das Offensichtlichkeitskriterium als der Ausdruck eines Rücksichtnahmeerfordernisses gegenüber dem EuGH.295 Der Verweis auf die Aufgabe und Stellung der unabhängigen, überstaatlichen Rechtsprechung im Honeywell-Beschluss weist stark in Richtung dieses Verständnisses. Einerseits wurde dem EuGH vertraglich, auch von der Bundesrepublik, die Auslegungshoheit für das Europarecht inklusive der Kompetenzfragen übertragen. Andererseits verlangt das Grundgesetz vom Bundesverfassungsgericht, unionale Kompetenzanmaßungen zu korrigieren. Wann eine Kompetenz fehlerhaft ausgeübt wurde, also welche methodischen Standards an den EuGH zu richten sind, ist keineswegs evident. Es bedarf also zwangsweise irgendeiner Grenzziehung zwischen noch akzeptierter und unzulässiger Kompetenzbegründung. Insofern ist die Offensichtlichkeit als äußerste Grenze des Vertretbaren eine denkbare Abgrenzungsregel. Sie dient vor allem dem Zweck, das „Ob“ einer Kompetenzüberschreitung zweifelsfrei festzustellen. Die an dem Merkmal ansetzende Kritik zielt vor allem auf seine Enge. So sei die Offensichtlichkeit einer Kompetenzüberschreitung grundsätzlich oder zumindest in bestimmten komplexen Bereichen kaum realistisch denkbar.296 So hielt der Generalanwalt am EuGH, Pedro Cruz Villalo´n die Aktivierung der Ultra-vires-Kontrolle in seinem Schlussantrag zur Rechtssache Gauweiler für „schwer vorstellbar“.297 Eine weitgehende Ineffektivierung der Kontrolle wäre in der Tat nicht mit ihrem Schutzzweck vereinbar. Vor allem das PSPP-Urteil zeigte jedoch, dass selbst in der juristisch äußerst anspruchsvollen Materie des Währungs- und Wirtschaftsrechts offensichtliche Kompetenzüberschreitungen nicht ausgeschlossen sind. Auch die Möglichkeit einer Annahme der Offensichtlichkeit trotz Vorliegens einer wissenschaftlichen oder politischen Diskussion verschärft das Merkmal erheblich.
295
S. Pötters/J. Traut, EuR 2011, 580 (586 f.); H. Gött, EuR 2014, 514 (532). Dies zumindest in Erwägung ziehend A. Steinbach, AöR 140 (2015), 368 (386). 296 D. Murswiek, EuGRZ 2017, 327 (334); D. Burchardt, ZaöRV 2016, 527 (547); O. Lepsius, JöR 63 (2015), 63 (76); T. Stein, ZRP 2010, 265. 297 Schlussantrag zu EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C: 2015:400, ECLI:EU:C:2015:7, Rn. 68.
B. Inhalt und Maßstab der Kontrolle
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Keine Rechtfertigung erfährt das Offensichtlichkeitsmerkmal aus funktionalen Erwägungen: Die Vorstellung, die Fokussierung auf eine Willkürkontrolle könnte zu einer inhaltlichen Präzisierung des Prüfungsmaßstabes führen, wäre verfehlt. Bei ihr handelt es sich lediglich um eine Verschiebung der Argumentation. Ohne diese Einschränkung müsste sich der Rechtsanwender fragen, ob eine bestimmte Maßnahme noch mit einer Kompetenz vereinbar ist. Dies mag im Einzelfall mit guten Argumenten abzulehnen oder anzunehmen sein. Jedenfalls wird es Konstellationen geben, in denen beide Varianten gut vertretbar sind. Verlangt man eine „objektive Willkür“, so gibt es jedoch andere Grenzfälle. Problematisch sind dann solche Fälle, in denen die Kompetenzwidrigkeit klar vorliegt, aber die Willkür einer Kompetenzbejahung in Frage steht. Es findet also keine Klärung des Prüfungsmaßstabes statt, sondern lediglich eine Rücknahme der Strenge.298 c) Tragfähigkeit hinsichtlich der Strukturrelevanz Die Strukturrelevanz lässt sich hingegen nicht als Resultat einer Grenzziehungsobliegenheit verstehen. Sie qualifiziert eine bereits feststehende Kompetenzüberschreitung. Die Existenz des Merkmals führt dazu, dass Kompetenzanmaßungen der Union dann geduldet werden, wenn sie nicht von grundsätzlicher Relevanz sind. Bereits der an der Honeywell-Entscheidung beteiligte Richter Landau wies in einer abweichenden Meinung auf die resultierende Problematik hin:299 Die Demokratie kenne keine unwesentlichen Bereiche, innerhalb derer die Legitimationskette unterbrochen sein darf. Dies gelte schon im nationalen Kontext nicht und es ließe sich auch nicht begründen, warum sich dies bei Akten der Unionsgewalt anders darstellen sollte. Dieses argumentative Problem entsteht durch das zugrundeliegende Demokratiekonzept des Bundesverfassungsgerichts. Ein möglicher Lösungsansatz wäre, in Bereichen von geringer gesellschaftlicher Relevanz die originäre demokratische Legitimation der Unionsgewalt für ausreichend zu erachten und insoweit auf einen Übertragungsakt durch das deutsche Volk zu verzichten. Dies entspricht jedoch gerade nicht dem Demokratieverständnis des OMT-Urteils, wonach die fehlende Zurechnung zum deutschen Volk nicht kompensiert werden kann.300 Allenfalls in Hinblick auf das Rechtsgut der deutschen souveränen Staatlichkeit lässt sich vertreten, qualitativ unwesentliche Kompetenzüberschreitungen stellten nicht grundsätzlich die Kompetenz-Kompetenz in Frage und seien daher nicht erheblich.301 Unter demokratischen Gesichtspunkten bliebe jedoch weiter 298 Stärker sogar H.-P. Folz, EuZA 2011, 308 (317), der von einer Verringerung der Rechtsklarheit spricht. 299 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (322 f.). 300 D. Murswiek, EuGRZ 2017, 327 (334). Siehe hierzu 1. Kap., B II 2 a), und b), S. 42 ff. 301 H.-G. Dederer, JZ 2014, 313 (321). Ähnlich wohl S. Pötters/J. Traut, EuR 2011, 580
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
offen, warum der Bürger eine solche Unterbrechung des Legitimationszusammenhangs dulden müsste. Auch Art. 23 GG gebietet keine andere Bewertung: Handelt ein Unionsorgan offensichtlich außerhalb seiner Kompetenzen, fehlt es insoweit an der Schutzwürdigkeit der unionalen Rechtsposition, die den Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit auslösen könnte. Allein der Wunsch danach, einen Konflikt der Rechtsordnungen zu vermeiden, kann das Erfordernis nach demokratischer Legitimation nicht entfallen lassen. Nach hier vertretener Ansicht kann eine Beschränkung der Kontrolle auf strukturell relevante Kompetenzüberschreitungen nicht auf Ebene des materiellen Rechts begründet werden. Allein funktionale Erwägungen zur Rolle des Bundesverfassungsgerichts innerhalb des gesamteuropäischen Institutionensettings rechtfertigen eine Beschränkung der Kontrolle auf spezifische Kompetenzüberschreitungen.302 Diese Beschränkung wird jedoch schon mit dem Ansatzpunkt der Kontrolle gewährleistet. Für ein darüberhinausgehendes Schwerekriterium, das an der Qualität der Kompetenzüberschreitung ansetzt, bleibt kein Raum. Insoweit stellt die Strukturrelevanz einen logisch nicht mit den Grundlagen der Prüfung zu vereinbarenden Fremdkörper dar.303 Nicht tragfähig ist jedoch die verbreitete Kritik, dass mit dem Kriterium der Strukturrelevanz sukzessive oder kumulative Strukturrelevanz nicht erfasst werden könne.304 Während eine einzelne Kompetenzanmaßung für sich genommen noch keine grundsätzliche Bedeutung entfalten muss, kann eine Vielzahl dieser Überschreitungen jedoch in ihrer Gesamtheit ein derartiges Ausmaß annehmen. Zumindest dieser Kritik wirkt die Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts im PSPP-Urteil allerdings entgegen: Der methodologische Vorwurf gegenüber dem EuGH besteht dort darin, dass seine Interpretation der Verhältnismäßigkeit allgemein nicht zur wirksamen Begrenzung des währungspolitischen Mandats der EZB geeignet ist.305 Die Strukturrelevanz einer Kompetenzüberschreitung muss also nicht zwingend im Einzelfall begründet, sondern kann auch auf generelle Erwägungen zurückzuführen sein. Sieht das Bundesverfassungsgericht also in einer Kompetenzanmaßung der Union das Risiko eines Dammbruchs, verfügt es über die Möglichkeit des frühen Einschreitens.
(586). Angedacht, aber verworfen bei D. Murswiek, EuGRZ 2017, 327 (333). Zumindest als „plausibel“ bezeichnen F. C. Mayer/M. Walter, JURA 2011, 532 (540) die Beschränkung. 302 Siehe im Einzelnen 3. Kap., B I 1, und 2, S. 238 ff. 303 Ebenso M. Tischendorf, EuR 2018, 695 (713). Ähnlich D. Murswiek, EuGRZ 2017, 327 (334). 304 Schon Landau in der abweichenden Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (323); T. Stein, ZRP 2010, 265 (266); siehe auch D. Grimm, Die große Karlsruher Verschiebung, FAZ v. 09.09.2010, S. 8. 305 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 158 ff.).
C. Die Kontrolle im gerichtlichen Verfahren
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Damit dürften zugleich auch die Bedenken zerstreut sein, die Strukturrelevanz stelle ein kaum überwindbares Hindernis dar. Mehr noch als bei der Offensichtlichkeit war das Gericht in der Vergangenheit bereit, diese anzunehmen.306 Dies ändert jedoch nichts an der Unvereinbarkeit des Merkmals mit den Grundannahmen des Gerichts zur demokratischen Legitimation der Unionsgewalt.
C. Die Kontrolle im gerichtlichen Verfahren Die Ultra-vires-Kontrolle steht in der Rechtspraxis nicht isoliert, sondern ist nur ein Ausschnitt aus einem gerichtlichen Verfahren. Die Umstände und Voraussetzungen dieses Verfahrens haben dabei erheblichen Einfluss auf die Kontrolle. Sie kann beispielsweise nur durchgeführt werden, soweit ein tauglicher Verfahrensgegenstand vorliegt. Spiegelbildlich hat die Ultra-vires-Kontrolle wesentliche Anreize für eine Fortbildung des Verfassungsprozessrechts geliefert. So wurde sie wiederholt zum Anlass einer Auseinandersetzung mit der Frage nach der Anfechtbarkeit von Akten der europäischen Gewalt vor dem Bundesverfassungsgericht. In diesem Zusammenhang wurde auch über die Einführung spezieller Verfahrensarten diskutiert. Die Kontrolle lässt sich demnach nur im Zusammenhang mit ihrem gerichtlichen Verfahren vollständig betrachten. Im Folgenden sollen daher drei zentrale Aspekte des Ultra-vires-Verfahrens analysiert werden. Diese sind das Kontrollmonopol des Verfassungsgerichts, der prozessuale Anknüpfungspunkt und die relevanten Verfahrenskonstellationen. Letztere gehen einher mit der einschlägigen Verfahrensart und prägen mit den jeweiligen Anforderungen an die Zulässigkeit und die Begründetheit die Ausübung der Kontrolle.
I. Kontrollmonopol des Bundesverfassungsgerichts Während das Bundesverfassungsgericht in der Frühzeit der Ultra-vires-Kontrolle noch nichts gegen eine Kompetenzüberprüfung durch Fachgerichte einwandte,307 beansprucht es heute ein Monopol auf den Ausspruch eines Ultravires-Verdikts.308
306 So BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 157 ff., 178); BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 265); BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 38 ff.). 307 BVerfG, Beschl. v. 08.04.1987 – 2 BvR 687/85 (Kloppenburg), BVerfGE 75, 223 (245). 308 Wohl schon BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (188). Zuerst ausdrücklich BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (354). Später auch BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 162).
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
Zur Begründung stützt es sich auf den Schutz der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung. Dieser verlange „die europarechtsfreundliche Anwendung von Verfassungsrecht bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck gebrachten Rechtsgedankens“.309 In der Tat wäre die Einheit des Unionsrechts in besonderer Weise gestört, wenn sich jedes Gericht in Deutschland über das Normverwerfungsmonopol des EuGH hinwegsetzen könnte. Könnten alle 1092 Gerichte310 der Bundesrepublik Unionsrecht verwerfen, drohte eine hohe Zahl von vorschnellen Feststellungen von Kompetenzüberschreitungen und in der Folge eine Vielzahl von Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik.311 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Ultra-vires-Fragen zeichnet sich, bei aller grundsätzlicher Kritik an ihrer Legitimität, gerade durch ihre Zurückhaltung aus. Diese wäre bei einem größeren Kreis von Kontrolleuren nicht mehr gewährleistet.312 Der normative Grund für die Entscheidungsmonopolisierung dürfte demnach allein in Art. 23 Abs. 1 GG zu sehen sein – lediglich die Rechtsfolge deckt sich in Teilen mit der des Art. 100 Abs. 1 GG. Dennoch begegnet die Monopolisierung der Prüfungskompetenz in der Literatur Bedenken. Weder der Wortlaut noch die Ratio des Art. 100 Abs. 1 GG geböten eine Einbeziehung von Unionsrechtsakten und damit ein Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts.313 Art. 100 Abs. 1 GG ziele auf den Schutz demokratisch stark legitimierten Rechts vor der Derogation durch schwächer legitimierte Urteile.314 Unionsrechtsakte seien demokratisch aber schwächer legitimiert und deshalb nicht in gleichem Maße schützenswert.315 309
BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (354). BMJV, Gerichte des Bundes und der Länder am 22. Juni 2020 (ohne Dienst- und Ehrengerichtsbarkeit) 2020, abrufbar unter https://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/D E/PDF/Anzahl der Gerichte des Bundes und der Laender.pdf;jsessionid=BA1F6902B AD56F2F4EF3BBDF3A6500A7.2 cid297? blob=publicationFile&v=3 (zuletzt geprüft am 20.04.2023). 311 A.A. C. Hillgruber/C. Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 792, die ein Kontrollmonopol de lege lata ablehnen, da es sich bei der Ultra-vires-Kontrolle um eine Kontrolle anhand des Zustimmungsgesetzes, also des einfachen Rechts, handle. Aus diesem Grund die verfassungsgechtliche Natur der Kontrolle und ihre Legitimität gänzlich ablehnend H. Sauer, Staatsrecht III, § 9 Rn. 100. Die spezifisch verfassungsrechtliche Natur der Kontrolle wird jedoch nicht schon dadurch beseitigt, dass diese den Verstoß gegen einfaches Recht voraussetzt. Sie behandelt spezifisch verfassungsrechtliche Fragestellungen über das Demokratieprinzip und die souveräne Staatlichkeit. Ähnlich, jedoch mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 112. 312 Ebenso C. Tomuschat, EuGRZ 1993, 489–496 (494). 313 K. F. Gärditz/C. Hillgruber, JZ 2009, 873. Grundsätzliche Kritik an der dogmatischen Tragfähigkeit in der Begründung des Entscheidungsmonopols findet sich bei H. Sauer, EuR 2017, 186 (200). Nach ihm handelt es sich um eine „verfassungspolitisch plausible Behauptung, die nur in loser Verbindung zum geltenden Recht“ steht. 314 Dazu BVerfG, Beschl. v. 29.11.1967 – 1 BvL 16/63 (Familienrechtsänderungsgesetz), BVerfGE 22, 373 (378). 315 K. F. Gärditz/C. Hillgruber, JZ 2009, 873 (874). 310
C. Die Kontrolle im gerichtlichen Verfahren
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Auch wenn man Unionsakten nur eine, verglichen mit Akten des deutschen Gesetzgebers, geringere demokratische Legitimation zugesteht, so spricht dies allein noch nicht gegen Übertragbarkeit des Rechtsgedankens. Maßgeblich ist vielmehr, ob auch das Unionsrecht eines besonderen Schutzes vor dezentraler Verwerfung bedarf. Auch Unionsakte sind demokratisch stärker legitimiert als Urteile deutscher Richter. Zudem erfüllt das verfassungsgerichtliche Normverwerfungsmonopol mit dem Ziel der Verhinderung einer Rechtszersplitterung noch einen weiteren Zweck,316 welcher im Falle der Kontrolle von Unionsakten uneingeschränkt fortbesteht. Im Übrigen negieren auch etwaige Unterschiede zwischen den Konstellationen des Art. 100 Abs. 1 GG und der Verwerfung von Unionsrecht nicht das aus Art. 23 Abs. 1 GG folgende Bedürfnis nach einer Entscheidungsmonopolisierung. In neuerer Zeit führte die Rechtsprechung wieder zu Unklarheiten hinsichtlich der Verwerfungskompetenz anderer Gerichte. Das Bundesverfassungsgericht nimmt eine Verpflichtung aller Gerichte an, die Voraussetzungen eines Ultra-vires-Aktes in eigener Verantwortung zu prüfen.317 Sie dürfen in der Folge nicht an der Umsetzung, dem Vollzug oder der Operationalisierung von Ultravires-Akten mitwirken. Gleichzeitig betont das Bundesverfassungsgericht die fortbestehende Verpflichtung der Fachgerichte, auf eine verfassungsgerichtliche Entscheidung hinzuwirken.318 Dies kann nur so verstanden werden, dass sie eine Prüfungspflicht, aber keine Verwerfungskompetenz haben.319 Problematisch hieran ist, dass Fachgerichte nicht immer über eine Möglichkeit der Vorlage an das Bundesverfassungsgericht verfügen.320 Sie können dem Bundesverfassungsgericht europäische Sekundärrechtsakte nicht unmittelbar vorlegen, sondern allenfalls die Prozessparteien auf die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde hinweisen. Das Bundesverfassungsgericht übernimmt damit zwar aus Art. 100 Abs. 1 GG den Rechtsgedanken eines Verwerfungsmonopols, ohne aber flankie-
316 BVerfG, Urt. v. 20.03.1952 – 1 BvL 12/51 (Landespolizeiverordnungen), BVerfGE 1, 184 (199); H.-G. Dederer, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 70. EGL. Dezember 2013, Art. 100 GG, Rn. 20 ff. Ebenfalls aus diesen Gründen für eine Konzentration der Kontrolle beim Bundesverfassungsgericht J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 131 ff. 317 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 162). 318 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 162). 319 Prominent BAG, Urt. v. 20.02.2019 – 2 AZR 746/14 (Chefarzt-Entscheidung II), BAGE 166, 1 (Rn. 48 ff.). Ebenfalls OVG-NRW, Urt. v. 09.08.2017 – 19 A 2030/15 (Biometrischer Reisepass), juris (Rn. 29) und bei der Vorinstanz, die aber entgegen der hier vertretenen Meinung von einer Vorlageberechtigung nach Art. 100 Abs. 1 GG ausgeht, VG Gelsenkirchen, Urt. v. 27.08.2015 – 17 K 1839/08 (Biometrischer Reisepass), juris (Rn. 49). 320 Siehe 2. Kap., C IV 4 b), S. 167 ff. Eine Asynchronität von fachgerichtlicher Prüfungspflicht zu bundesverfassungsgerichtlichem Entscheidungsmonopol beklagt daher zurecht H. Sauer, EuR 2017, 186 (199).
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
rend die Möglichkeit einer Vorlage, beispielsweise durch analoge Anwendung der Norm auf Unionsrechtsakte, zuzulassen.
II. Verfassungsrechtliche Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof Mit der Honeywell-Entscheidung etablierte das Bundesverfassungsgericht eine verfassungsrechtliche Pflicht, vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts dem Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte zu geben.321 Solange der Gerichtshof keine Gelegenheit hatte, über die aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen zu entscheiden, dürfe das Bundesverfassungsgericht für Deutschland keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts feststellen. Daraus folgt, dass das Bundesverfassungsgericht die Ultra-vires-Kontrolle zwar auch ohne vorherige Befassung des Gerichtshofs ausüben kann322 – die Feststellung eines Ultra-vires-Akts bedarf jedoch einer vorherigen Vorlage. Mit anderen Worten: Das Durchlaufen eines Vorabentscheidungsverfahren ist eine Anforderung an alle Verfahren, die die endgültige Feststellung eines Ultra-viresAkts zum Ergebnis haben. Grundlage der Vorlageverpflichtung soll dabei nicht unmittelbar das Unionsrecht sein, sondern das Grundgesetz. Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts, substantiierten Rügen eines Ultra-vires-Handelns der europäischen Organe und Einrichtungen nachzugehen, sei mit der vertraglich dem Gerichtshof übertragenen Aufgabe zu koordinieren, die Verträge auszulegen und anzuwenden. Dabei sei die Einheit und Kohärenz des Unionsrechts zu wahren Diese verfahrensrechtliche Ausprägung des Prinzips der Europarechtsfreundlichkeit ist im Anschluss an die Honeywell-Entscheidung in der Literatur begrüßt worden.323 In der Tat wird hier eine zu befürwortende Möglichkeit geschaffen, in einen Dialog der Gerichte zu treten und rechtliche Probleme im Verbund der Gerichte zu lösen. Nur wenn beide Ebenen innerhalb eines zusammenhängenden 321 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (302 f.). Siehe zu den bisherigen Vorlagen BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017 – 2 BvR 859/15 (PSPPBeschluss), BVerfGE 147, 216; BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366. Ausführlich zur Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts A. Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, S. 172 ff. 322 Dennoch sollte bei Zweifeln an der Unionsrechtskonformität der Weg des Vorabentscheidungsverfahrens gewählt werden. Kritisch unter diesem Aspekt BVerfG, Urt. v. 06.12.2022 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Urteil), WM 2022, 2451, vgl. 3. Kap., B I 3, S. 253. 323 A. Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, S. 267; C. Calliess, Die europarechtliche Ultra-Vires-Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts, in: Calliess (Hrsg.), Herausforderungen an Staat und Verfassung, S. 446, 462; H.-P. Folz, EuZA 2011, 308 (316).
C. Die Kontrolle im gerichtlichen Verfahren
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Rechtsstreits die Möglichkeit haben, ihre jeweilige Rechtsansicht zu artikulieren, kann die jeweils andere Ebene hierauf Bezug und in der Sache Rücksicht nehmen.324 Im Ergebnis stellt die Verfahrensanforderung eines Vorabentscheidungsverfahrens auch nicht die grundsätzliche Kontrollbefugnis des Bundesverfassungsgerichts in Frage und ist daher mit Blick auf die Schutzgüter der Kontrolle unbedenklich. Ferner darf nicht außer Acht bleiben, dass das Bundesverfassungsgericht mit seiner verfassungsrechtlichen Vorlagepflicht lediglich eine unionsrechtliche Selbstverständlichkeit nachvollzieht: Art. 267 Abs. 3 AEUV macht weder ausdrücklich noch nach Sinn und Zweck eine Ausnahme für nationale Verfassungsgerichte.325 Allein aus der Tatsache, dass das nationale Gericht (entgegen dem Unionsrecht) womöglich die Entscheidung des Gerichtshofs nicht für vollständig verbindlich erachtet, kann nicht geschlossen werden, dass die unionsrechtliche Vorlagepflicht entfällt.326 Die Berücksichtigung dieser unionsrechtlichen Anforderung durch das Bundesverfassungsgericht ist daher ebenso begrüßenswert wie zwingend.327 Die parallele Verankerung dieser Pflicht auch im nationalen Verfassungsrecht dürfte keine zusätzlichen Effekte haben.
III. Prozessualer Anknüpfungspunkt der Kontrolle Während zu Beginn dieses Kapitels der materielle Kontrollgegenstand untersucht wurde, beschäftigt sich der nachfolgende Abschnitt mit dem Verfahrensgegenstand im Prozess. Zunächst sollen dabei jene Erwägungen vorgenommen werden, die unabhängig von der konkreten Verfahrensart sind. Nachfolgend ist daher von dem prozessualen Anknüpfungspunkt der Kontrolle die Rede, soweit es um die grundsätzliche Eignung eines Akts als Verfahrensgegenstand eines Ultra-vires-Prozesses geht. 1. Maßnahmen der Unionsgewalt? Zunächst erscheint es naheliegend, den Ultra-vires-Akt unmittelbar der verfassungsgerichtlichen Kontrolle zuzuführen. In diesem Sinne könnten alle hoheitlichen Handlungen einer unionalen Stelle tauglicher Ansatzpunkt eines Ultravires-Verfahrens sein.
324
Auf dieses Ziel hin muss nach hier vertretener Ansicht auch die Dogmatik des Vorbehalts ausgerichtet werden, vgl. 3. Kap., B I 5 a), S. 257 ff. 325 Vgl. D. Murswiek, EuGRZ 2017, 327 (331 f.). 326 So auch EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400 (Rn. 11 ff., 26). Dies wurde zuvor unter anderem im Verfahren von der italienischen Regierung angezweifelt, siehe auch T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (46). 327 Ähnlich F. C. Mayer, EuR 2002, 239 (256 f.); a.A. M. Gerhardt, ZRP 2010, 161 (162). 126
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
Die Bestimmungen über den Verfahrensgegenstand der jeweils einschlägigen Verfahrensart, zum Beispiel Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a, § 90 Abs. 1 BVerfGG, regeln die Zulässigkeit eines solchen Vorgehens. Diesen Vorschriften ist gemein, dass sie – geschrieben oder ungeschrieben – an Akte der öffentlichen Gewalt anknüpfen. Inwieweit Akte der Unionsgewalt Teil der öffentlichen Gewalt in diesem Sinne sind, ist fraglich. Öffentliche Gewalt meint zunächst die deutsche öffentliche Gewalt.328 Nur sie ist durch das Grundgesetz verfasst und nur sie ist an dieses gebunden. Allerdings könnten Akte von Unionsstellen als deutsche Hoheitsgewalt verstanden werden, soweit sie innerhalb Deutschlands Wirkung entfalten. Nicht überzeugend wäre es, diese Frage mit einem Verweis auf den, dem Ultra-vires-Vorbehalt zugrundeliegenden Dualismus abzulehnen: Zwar unterscheidet das Gericht die europäische von der nationalen Rechtsordnung – insoweit könnte von einer separaten europäischen Hoheitsgewalt ausgegangen werden. Allerdings ist ein europäischer Akt aufgrund der grundsätzlich wirksamen Geltungsanordnung gleichzeitig auch Bestandteil der deutschen Rechtsordnung. Der völkerrechtliche Geltungsgrund liefert mithin keine Lösung des vorliegenden Problems. Teilweise wird eine solche im Grundgesetz gesucht: Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG spricht von einer Übertragung der deutschen Hoheitsrechte auf die Union. Demnach handelte es sich weiterhin um materiell deutsche Gewalt.329 Dieses quasidingliche Verständnis des Übertragungsvorgangs wird allerdings heute gemeinhin abgelehnt.330 Die Einräumung von Hoheitsrechten gleicht ihrer Natur nach nicht einer Eigentumsübertragung. Vielmehr geht es bei ihr darum, die eigene Souveränität gegenüber einem fremden Hoheitsträger so zurückzunehmen, dass dieser wirksame Akte in der eigenen Rechtsordnung vornehmen kann.331 Dies spricht gegen eine Bindung der Union an das deutsche Verfassungsrecht. Ein Erstrecken des Verfassungsprozessrechts auf Bereiche, die keiner verfassungsrechtlichen Bindung unterliegen, wäre funktionslos.332 Hinzu tritt, dass die Bindungswirkung bundesverfassungsgerichtlicher Urteile supranationale Organisationen schon nach dem Wortlaut des § 31 Abs. 1 BVerfGG nicht erfasst und aus völkerrechtlichen Gründen auch nicht erfassen kann.333 Zwar wurde eine 328
K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 360d. Zu diesem Ansatz grundlegend K. H. Klein, Die Übertragung von Hoheitsrechten, S. 27 f. Aus jüngerer Zeit ähnlich T. Flint, Die Übertragung von Hoheitsrechten, S. 135 ff. 330 C. Calliess, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 79. EGL. Dezember 2016, Art. 24 GG, Rn. 38 ff.; C. D. Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 1, Art. 24 GG, Rn. 11; R. Streinz, in: Sachs, GG, Art. 23 GG, Rn. 57. 331 Häufig ist hier von dem nationalen Souveränitätspanzer die Rede, welcher zu öffnen sei. Zur Metapher C. Calliess, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 79. EGL. Dezember 2016, Art. 24 GG, Rn. 40. 332 M. Eifert/J. Gerberding, JURA 2016, 628 (635); C. Hillgruber/C. Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1185; O. Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, S. 243 ff. 333 C. Hillgruber/C. Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1192. 329
C. Die Kontrolle im gerichtlichen Verfahren
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umfassende Verfassungsbindung supranationaler Gewalt unter dem Begriff der Hypothekentheorie früher teils angenommen.334 Allerdings wäre die Funktionsfähigkeit supranationaler Organisationen erheblich eingeschränkt, wenn diese alle Verfassungsnormen ihrer Mitglieder zu beachten hätte. Dies stünde mit dem Integrationsauftrag des Art. 23 GG in Konflikt. Daher geht das Bundesverfassungsgericht heute auch nicht mehr von einer Grundrechtsbindung der europäischen öffentlichen Gewalt aus der deutschen Verfassung aus.335 Dennoch war die Rechtsprechung zur Anfechtbarkeit von Unionsakten vor dem Bundesverfassungsgericht wechselhaft. Anfangs ging das Bundesverfassungsgericht davon aus, Verfassungsbeschwerden gegen EWG-Verordnungen seien unzulässig.336 Später, im Rahmen der Solange-I-Entscheidung, prüfte es aber eine Verordnung im abstrakten Normenkontrollverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG. Es wies jedoch darauf hin, dass dies im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde nicht möglich sei.337 Auch wenn seine Äußerungen hierzu nicht völlig klar sind, geht das Gericht in der Maastricht-Entscheidung wohl von der generellen Möglichkeit einer unmittelbaren Kontrolle europäischer Hoheitsakte aus.338 Es distanziert sich insoweit ausdrücklich von der anderslautenden Eurocontrol-I-Entscheidung. In der Entscheidung zu den Treibhausgas-Emissionsberechtigungen betonte das Gericht wieder, Akte der Union seien keine Akte der deutschen öffentlichen Gewalt im Rahmen der Verfassungsbeschwerde, weswegen das Gericht „grundsätzlich“ daran gehindert sei, sie zu überprüfen.339 Dadurch wurde der in der Bananenmarkt-Entscheidung eingeschlagene Weg der zurückgenommenen Grundrechtskontrolle am Punkt des Verfahrensgegenstands festgemacht. Mittlerweile hat die Entwicklung ihren vorläufigen Abschluss gefunden: Gegenstand eines Ultra-vires-Verfahrens kann nunmehr nur ein Verhalten deutscher Hoheitsträger im Zusammenhang mit einem europäischen Akt sein.340 334 Siehe hierzu H. Sauer, EuR 2017, 186 (Fn. 40); A. Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 110 m.w.N. 335 BVerfG, Beschl. v. 07.06.2000 – 2 BvL 1/97 (Bananenmarktordnung), BVerfGE 102, 147 (164). Angesichts dieser dogmatischen Probleme greift eine mögliche Reduzierung der Fragestellung auf eine Verschleierung der Prüfung europäischer Akte zu kurz, siehe hierzu C. Schalast, BB 2017, 2690 (2692). 336 BVerfG, Beschl. v. 18.10.1967 – 1 BvR 248/63 (EWG-Verordnungen), BVerfGE 22, 293 (295). 337 BVerfG, Beschl. v. 29.05.1974 – BvL 52/71 (Solange I), BVerfGE 37, 271 (283). 338 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (174 f.) so die Interpretation bei C. Hillgruber/C. Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1191; F. C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, S. 104 f. A.A. noch R. Streinz, Europarecht, 9. Auflage 2012, Rn. 246. Ein Überblick über den Meinungsstand findet sich bei J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 127. 339 BVerfG, Beschl. v. 13.07.2007 – 1 BvF 1/05 (Treibhausgas-Emissionsberechtigungen), BVerfGE 118, 78 (95). 340 BVerfG, Urt. v. 07.09.2011 – 2 BvR 987/10 (EFSF), BVerfGE 129, 124 (175 f.); BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 97 f.). Anders
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Unionsmaßnahmen seien „keine Akte deutscher öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG und daher auch nicht unmittelbarer Beschwerdegegenstand“ einer Verfassungsbeschwerde.341 Inwieweit diese Aussage auf andere Verfahrensarten übertragen werden kann, bleibt jedoch unklar. Insbesondere die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 GG, §§ 80 ff. BVerfGG bietet hier Raum für entsprechende Überlegungen.342 Alle oben vorgebrachten Argumente sprechen jedoch für einen Ausschluss der unmittelbaren Prüfung von Unionsakten unabhängig von der jeweiligen Verfahrensart. Inakzeptable Schutzlücken entstehen hierdurch nicht.343 Insofern besteht kein Grund für eine differenzierende Handhabung. Das hier gefundene Ergebnis entspringt letztlich dem Zweck der Kontrolle, die im Grundgesetz verankerte Eigenstaatlichkeit der Bundesrepublik und die spezifisch deutsche Demokratie zu schützen. Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben binden nicht die europäische Hoheitsgewalt.344 Für eine erweiterte oder analoge Anwendung der Vorschriften zum Verfahrensgegenstand bleibt daher kein Raum.345 Über eine fehlerhafte Bezeichnung des Verfahrensgegenstands nach § 92 BVerfGG half das Gericht in der Vergangenheit allerdings hinweg: Soweit sich Antragsteller unmittelbar gegen einen Unionsakt wandten, wurde dies zu einem Vorgehen gegen einen zulässigen Gegenstand umgedeutet.346 Die Anforderungen an eine Substantiierung des Vorbringens orientieren sich an der bisherigen Gerichtspraxis. Ist diese derart unklar und wechselhaft, darf dem Antragsteller nicht das Risiko der Fehlbezeichnung zugewiesen werden.347 Diese Vorgehensweise könnte sich aufgrund der mittlerweile unzweifelhaft geäußerten Rechtsansicht des Gerichts allerdings in absehbarer Zeit ändern.
interpretiert diese Entscheidungen S. Simon, Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess, S. 216. 341 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 97). 342 So geht H.-G. Dederer, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 70. EGL. Dezember 2013, Art. 100 GG, Rn. 110 ff. davon aus, das Gericht halte – seiner Ansicht nach zu Unrecht – europäisches Sekundärrecht für einen tauglichen Gegenstand der konkreten Normenkontrolle; ebenso VG Gelsenkirchen, Urt. v. 27.08.2015 – 17 K 1839/08 (Biometrischer Reisepass), juris (Rn. 49); C. Hillgruber/C. Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 792. Anders S. Detterbeck, in: Sachs, GG, Art. 100 GG, Rn. 11 Fn. 49; A. Kees, Grundlagen und Grenzen der europäischen Integration, in: Scheffczyk/Wolter (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 4, S. 439, 460. Differenzierend, für Fälle der Ultra viresKontrolle allerdings ablehnend J. Sieckmann/S. Kessal-Wulf, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 3, Art. 100 GG, Rn. 21. 343 Siehe hierzu sogleich 2. Kap., C III 4, S. 151. 344 C. Hillgruber/C. Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1192. 345 H. Sauer, ZRP 2009, 195 (197). 346 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 1). Kritisch jedoch die abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff, ebd. Rn. 106. 347 M. Eifert/J. Gerberding, JURA 2016, 628 (637).
C. Die Kontrolle im gerichtlichen Verfahren
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Die Unmöglichkeit, unmittelbar gegen Unionsakte vorzugehen, führt allerdings dazu, dass die eigentlich für den Ultra-vires-Akt verantwortliche Stelle nicht Verfahrensbeteiligte vor dem Bundesverfassungsgericht ist. Sie kann allenfalls als sachkundige Dritte nach § 27a BVerfGG zu einer Stellungnahme aufgefordert werden. Dies wird der eigentlichen Streitfrage vor Gericht nicht gerecht: Die nationalen Verfahrensbeteiligten sind nicht zwingend in der Lage, den angegriffenen Unionsakt sinnvoll zu verteidigen.348 Sie verfügen insbesondere nicht über interne, verfahrensrelevante Informationen der Unionsorgane. Dies wirkt sich besonders dann aus, wenn, wie im PSPP-Verfahren, das ultra vires handelnde Organ die Abgabe einer Stellungnahme ablehnt.349 Die aktive Mitwirkung von Unionsorganen am Verfahren wäre allerdings auch dann nicht garantiert, wenn diese unmittelbar Verfahrensbeteiligte wären. Eine unionsrechtliche Verpflichtung hierzu dürfte nicht anzunehmen sein, da hiermit die Unterwerfung eines Unionsorgans sowohl unter die deutsche Gerichtsbarkeit als auch unter die deutsche Rechtsordnung verbunden wäre.350 Insofern erscheint der jetzt gefundene Weg im Rahmen des geltenden Rechts die vorzugswürdige Lösung. Angesichts der Unmöglichkeit europäische Maßnahmen anzufechten, bedarf es eines nationalen Handelns oder Unterlassens als prozessualen Anknüpfungspunkt. Hier nennt das Gericht zwei Fallgruppen: erstens nationale Akte, deren rechtliche Grundlage eine europäische Maßnahme ist, und zweitens nationale Maßnahmen oder Unterlassungen im Rahmen der Integrationsverantwortung.351
348 I. Pernice, EuZW 2020, 508 (509 f.); M. Kottmann/R. Sangi, Gut gemeint, nicht gut gemacht, Verfassungsblog. Zumindest kann aber grundsätzlich den staatlichen Verfahrensbeteiligten ein Interesse an der Verteidigung des Unionsakts unterstellt werden, da ansonsten das eigene Unterlassen der Einflussnahme als mangelnde Wahrnehmung der Integrationsverantwortung gewertet werden könnte. 349 Eine Pflicht hierzu besteht nach dem deutschen Verfassungsprozessrecht nicht, H. Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 44. EGL. Juli 2014, § 27a BVerfGG, Rn. 11. Vielmehr ist für die Unionsorgane eine Äußerung aufgrund der Unionsrechtswidrigkeit der Ultra-vires-Kontrolle politisch ein fragwürdiges Vorgehen. Im PSPP-Verfahren entschied sich die EZB, der mündlichen Verhandlung fernzubleiben und lediglich schriftlich zu Fragen des Bundesverfassungsgerichts Stellung zu beziehen. Auch deshalb blieb schließlich offen, inwieweit die EZB Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit des Programms angestellt hat, siehe BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 167 ff.). 350 Ebenso wenig dürfte jedoch ein Verbot anzunehmen sein. Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist ergebnisoffen und kann daher auch mit einer Akzeptanz des Urteils des EuGH enden. Die Mitwirkung am Verfahren ist demnach noch nicht zwingend eine Beteiligung an einem unionsrechtswidrigen Verhalten. 351 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 99).
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2. Maßnahmen mit europäischer Rechtsgrundlage Wenn das Bundesverfassungsgericht von Maßnahmen mit europäischer Rechtsgrundlage spricht, handelt es sich dabei um eine recht vage Formulierung. Davon umfasst sind zuvorderst die nationalen Durchführungsakte nach Art. 291 Abs. 1 AEUV.352 Die Umsetzungsgesetze zu Richtlinien dürften dabei die wichtigste Fallgruppe darstellen. Dies führt dazu, dass das europäische Richtlinienrecht, zumindest soweit Richtlinien bereits umgesetzt wurden, einer Ultra-vires-Kontrolle zugänglich ist. Ebenso erfasst ist der Verwaltungsvollzug unionaler Vorschriften durch deutsche Stellen. Da die Union in den meisten Bereichen nicht über eigene Vollzugsbehörden verfügt, ist dieser indirekte Verwaltungsvollzug der Regelfall.353 Daneben ergehen auch Urteile, die unter Anwendung europäischer Normen zustande kommen, auf unionsrechtlicher Grundlage. Damit sind Maßnahmen aller Gewalten grundsätzlich tauglicher Ansatzpunkt eines Ultra-vires-Verfahrens. Neben unmittelbaren Umsetzungen und Durchführungen europäischen Rechts sind auch weitere Konstellationen denkbar, in denen das europäische Recht in anderer Weise für einen deutschen Hoheitsakt grundlegend ist. Dies ist beispielsweise bei einem dynamischen Verweis eines deutschen Gesetzes auf das europäische Recht der Fall.354 Auch Begleitgesetze, die der Operationalisierung europäischer Rechtsakte dienen, wären zu nennen. Die Liste mit Konstellationen ist hier keineswegs abschließend. Es soll vor allem gezeigt werden, dass die Kategorie der Maßnahmen mit europäischer Rechtsgrundlage nicht auf die Umsetzung von Richtlinienrecht beschränkt ist und hier in Zukunft auch vielfältige Fallgestaltungen auftreten können. Viel spricht dafür, all jene Handlungen als prozessuale Anknüpfungspunkte zuzulassen, die das Bundesverfassungsgericht bei Vorliegen eines Ultra-viresAkts den deutschen Organen verbietet. Auf diese Weise können alle potenziell rechtswidrigen Handlungen vor dem Verfassungsgericht angegriffen werden. Taugliche Anknüpfungspunkte sind damit alle Umsetzungen, Vollziehungen und Operationalisierungen von Akten der Union.355 Für die großzügige Handhabung zulässiger Anknüpfungspunkte streitet zudem die vergleichsweise Unbestimmtheit des Begriffs der Integrationsverantwortung.
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Siehe zu deren möglichen Formen M. Gellermann, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 290 AEUV, Rn. 6 ff. 353 Siehe zum indirekten Verwaltungsvollzug K.-D. Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Rn. 581 ff. 354 Als Beispiele seien hier § 23 Abs. 2 Nr. 12 VgV; § 3 Abs. 1 Satz 3 BattG und § 20 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ElektroG genannt. 355 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 234). Die Mitwirkung am Zustandekommen der Ultra-vires-Akte stellt hingegen einen Verstoß gegen Unterlassenspflichten aus der Integrationsverantwortung dar, siehe sogleich 2. Kap., C III 3 c), S. 144 ff.
C. Die Kontrolle im gerichtlichen Verfahren
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Vom Bundesverfassungsgericht nicht geklärt wurde bislang, ob eine Kompetenzüberschreitung von Unionsorganen zur Rechtswidrigkeit des nachgelagerten deutschen Akts führt. Ist beispielsweise ein Umsetzungsgesetz nichtig, wenn der Bundestag fälschlicherweise von einer Bindung durch eine Richtlinie ausgeht? Derartige Konstellationen mussten bislang nicht entschieden werden. So ging es zum Beispiel in der Honeywell-Entscheidung nicht um die Rechtmäßigkeit eines eine Richtlinie umsetzenden Gesetzes, sondern um die Anwendbarkeit einer der Richtlinie widersprechenden nationalen Norm. Dem Rechtsschutzsuchenden ist damit unklar, ob eine Anfechtung des nationalen Umsetzungsakts überhaupt seinem Rechtsschutzbegehren dient. Selbst bei Vorliegen eines tauglichen Antragsgegenstands könnte sich der Antrag als unbegründet erweisen.356 Diese bedenkliche Unklarheit über die Erfolgsaussichten eines möglichen Verfahrens lässt sich durch die Bildung von Fallgruppen beseitigen, welche im dritten Kapitel unternommen wird.357 3. Maßnahmen der Integrationsverantwortung Nicht in allen Fällen wirkt die Unionsgewalt mitgliedstaatlich vermittelt auf die deutsche Rechtsordnung ein. Verfügt die Union über Stellen zum direkten Verwaltungsvollzug, so lässt sich eine mitgliedstaatliche Handlung als potenzieller Verfahrensgegenstand nur schwer ausmachen. Hier sind insbesondere die Kommission sowie europäische Agenturen als Akteure zu nennen. Aber auch die EZB oder die Europäische Investitionsbank verfügen über die Möglichkeit der unvermittelten Gewaltausübung.358 Auch ohne Vermittlung der Kompetenzüberschreitung durch deutsche Hoheitsträger geht das Bundesverfassungsgericht von der Möglichkeit einer gerichtlichen Kontrolle aus. Anknüpfungspunkt sind Handlungen und Unterlassungen deutscher Verfassungsorgane, die gegen aus der Integrationsverantwortung folgende Pflichten verstoßen.359 Der Begriff wird damit zur wesentlichen Weichenstellung bei der Frage nach der Überprüfbarkeit europäischer Akte.360 a) Natur der Integrationsverantwortung Bei der Integrationsverantwortung handelt es sich um eine Schöpfung des Bundesverfassungsgerichts im Zuge des Lissabon-Urteils. Eine allgemeingültige Definition liefert es dort nicht; vielmehr werden bestimmte Aspekte der Integrati-
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In Anbetracht der völligen Offenheit dieses Problems, wird ihm erst im dritten Kapitel nachgegangen, siehe 3. Kap., B III 1, insb. c), S. 275. 357 Siehe 3. Kap., B I 5, S. 254 ff.. 358 Grundsätzlich zur Eigenverwaltung der Union M. Kment, JuS 2011, 211. 359 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 105); BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 99). 360 Auch im 2009 in Kraft getretenen IntVG wird die Integrationsverantwortung nicht definiert, sondern vorausgesetzt, siehe § 1 Abs. 1 IntVG.
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
onsverantwortung exemplarisch genannt. Dies umfasst insbesondere die aus ihr resultierenden Pflichten für die nationalen Organe bei der Inanspruchnahme von Brückenklauseln.361 Ein solches Offenlassen der Definition steht zwar im Rahmen eines Urteils nicht der Lösung konkreter Rechtsfragen entgegen, erschwert aber die Entwicklung einer Dogmatik. Erst in den späteren Entscheidungen wurden sukzessive weitere Aspekte zur Integrationsverantwortung hinzugefügt. Zum Zwecke dieser Arbeit kann die Integrationsverantwortung bezeichnet werden als die Verantwortung der deutschen Verfassungsorgane, im Rahmen ihrer Befugnisse über den Grad der deutschen Beteiligung an der europäischen Integration selbst zu bestimmen. Dies geschieht durch Schaffung eines inhaltlich hinreichend bestimmten Integrationsprogramms und Wachen über selbiges.362 Bei der Verantwortung handelt es sich nicht um eine im Recht typischerweise vorzufindende Kategorie. Es wird gerade nicht von Recht, Zuständigkeit, Kompetenz, Befugnis, Aufgabe, Pflicht, Erlaubnis oder Obliegenheit gesprochen, womit der Charakter der Integrationsverantwortung zunächst im Unklaren bleibt.363 Sie ist zunächst von der Kompetenz abzugrenzen, denn sie räumt den Verfassungsorganen keine neuen Befugnisse ein. Es geht vielmehr darum, die ohnehin bestehenden rechtlichen und politischen Wirkmöglichkeiten auf ein bestimmtes Ziel hin, nämlich die Achtung des Integrationsprogramms, auszuüben. Verantwortung in diesem Sinne ist demnach in erster Linie die Verbindung von Mitteln der Verfassungsorgane, den Kompetenzen, mit bestimmten Verfassungszielen. Diese Finalität ist ein wesentliches Element der Verantwortung.364 Wer von Integrationsverantwortung spricht, denkt nicht von der Maßnahme ausgehend, sondern von einem bestimmten Zustand her, der hergestellt oder bewahrt werden muss. Gleichzeitig ist Verantwortung ohne Gestaltungs- oder zumindest Einflussmöglichkeit nicht denkbar. Ebenso wenig handelt es sich bei der Integrationsverantwortung um eine Pflicht. Zum einen ist sie dieser argumentativ vorgelagert, indem das Bundesverfassungsgericht aus der Verantwortung erst Pflichten folgert. Die Integrationsverantwortung ist damit rechtlich bindend, ohne selbst einen unmittelbar impe-
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BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (351 ff.). Darüber hinaus wird die Integrationsverantwortung auch als Verantwortung zur Mitwirkung an der Integration im Rahmen des gegebenen institutionellen Arrangements verstanden, siehe zur sog. Alltagsverantwortung oder Integrationsverantwortung im weiteren Sinne M. Tischendorf, Theorie und Wirklichkeit der Integrationsverantwortung deutscher Verfassungsorgane, S. 85 ff. Für die vorliegende Arbeit kommt es auf diese Ausprägung aber nicht an. 363 Vgl. J. H. Klement, Verantwortung, S. 577 Zum Charakter der Integrationsverantwortung als Verantwortung siehe auch A. Voßkuhle, Die Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, in: Axer (Hrsg.), Das europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase, S. 229, 230 f. Von einem „schillernden Charakter“ der Integrationsverantwortung spricht H. P. Aust, EuGRZ 2020, 410 (415). 364 Allgemein zu diesem Merkmal der Verantwortung J. H. Klement, Verantwortung, S. 275. 362
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rativen Charakter zu haben. Sie ist damit auch offener als eine konkrete Pflicht: Solange dem Verfassungsorgan mehrere Möglichkeiten zum Schutz der umfassten Rechtsgüter offenstehen, steht die Auswahl der geeigneten Maßnahme in seinem Ermessen. Nur ausnahmsweise kann sich die Integrationsverantwortung zu einer konkreten Handlungspflicht verdichten.365 Inhaltlich umrissen wird diese Verantwortung durch den Begriff der Integration. Die Integration ist nicht selbst Schutzgut der Verantwortung, sondern grenzt den Bereich der Verantwortung thematisch ein. Es geht dabei vor allem um den Schutz vor bestimmten Auswirkungen der Integration, nicht um den Schutz der Integration. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die Integrationsverantwortung bereits in einem integrationsfreundlichen Sinne verwandt,366 im Zusammenhang mit der Ultra-vires-Kontrolle wird sie bisher jedoch ausschließlich integrationsbegrenzend genutzt.367 Dies schmälert aber nicht die Rolle der Integrationsoffenheit nach Art. 23 Abs. 1 GG. Diese kann der Integrationsverantwortung gegenübergestellt werden, sie konkretisieren oder einschränken.368 Dennoch wird dieses einseitig integrationsbegrenzende Verständnis von der Integrationsverantwortung teils heftig kritisiert369 und stattdessen für ein Verständnis geworben, das beide Stoßrichtungen der Integrationsverantwortung umfasst. Dergestalt bildete diese das gesamte Spannungsfeld des integrativen Prozesses ab.370 Ein normativer Unterschied ist mit dem Streit jedoch nicht verbunden: Ob nun die integrationsfreundlichen Erwägungen des Gerichts unter dem Topos der Integrationsverantwortung zusammengefasst werden oder nicht, ändert nichts an deren Qualität. So ließe sich das Anerkenntnis einer Methodenhoheit des EuGH unschwer als Resultat der eigenen (positiven) Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts ausmachen. Mit einer entsprechenden Bezeichnung dürfte jedoch eher Unklarheit hervorgerufen werden, da der 365 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 169 ff.). 366 Jüngst BVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17 (Recht auf Vergessen II), BVerfGE 152, 216 (Rn. 53 ff.). H. P. Aust, EuGRZ 2020, 410 (417 und passim) verweist insoweit auf ein grundlegend unterschiedliches Verständnis von Integrationsverantwortung bei den beiden Senaten. 367 Ausführlich H. Amadeus Wolff, „Das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Integrationsverantwortung“, in: Pechstein (Hrsg.), Integrationsverantwortung, S. 151, 153 ff. 368 So deutlich bei L.-K. Mannefeld, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die europäische Integration, S. 111. 369 So C. Calliess, Die europarechtliche Ultra-Vires-Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts, in: Calliess (Hrsg.), Herausforderungen an Staat und Verfassung, S. 446, 454; Hector, ZEuS 2009, 599, 611, wohl auch N. Sonder, KritV 94 (2011), 214 (217). M. Tischendorf, Theorie und Wirklichkeit der Integrationsverantwortung deutscher Verfassungsorgane, S. 330 spricht gar spöttisch von einer „Integrationsverhinderungsverantwortung“. 370 Konsequent daher N. Sonder, KritV 94 (2011), 214 (218), so auch, ohne konkreten Bezug auf die Ultra-vires-Kontrolle, A. Voßkuhle, Die Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, in: Axer (Hrsg.), Das europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase, S. 229, 233.
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Vorbehalt als Ganzer Ausfluss der negativen Integrationsverantwortung ist und somit der Eindruck einer Widersprüchlichkeit entstehen könnte. b) Träger der Integrationsverantwortung Träger der Integrationsverantwortung sind die deutschen Verfassungsorgane.371 Ob auch die Verfassungsorgane der Länder adressiert sind, wurde bislang nicht entschieden. Während das Bundesverfassungsgericht bei Sachverhalten mit Länderbezug von der Aktivierung der Integrationsverantwortung des Bundesrates spricht,372 streiten gewichtige Gründe auch für eine Einbeziehung der Landesverfassungsorgane, obgleich deren tatsächliche Handlungsmöglichkeiten vergleichsweise limitiert sind.373 Im Zentrum der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts steht die Integrationsverantwortung der Regierung und der gesetzgebenden Körperschaften, insbesondere des Bundestags. Diese Fokussierung ergibt sich schon aus dem Charakter der Verantwortung: Eine solche setzt immer die Möglichkeit der Einflussnahme auf bestimmte Zustände voraus.374 Im gewaltenteiligen Verfassungsstaat liegt diese Möglichkeit zuvorderst bei dem Parlament und bei der Regierung. Letztere hat durch ihre Vertreter im Rat der Europäischen Union nach Art. 16 Abs. 2 EUV und im Europäischen Rat nach Art. 15 Abs. 2 EUV direkte politische und rechtliche Einflussmöglichkeiten auf europäische Entscheidungsprozesse. Daneben soll die Integrationsverantwortung aber auch die weiteren Verfassungsorgane treffen. Eine Sonderrolle nimmt hierbei das Bundesverfassungsgericht selbst ein.375 Dieses verfügt, wie die zentralen Entscheidungen mit Europabezug zeigten, zweifelsohne über die erforderlichen Einflussmöglichkeiten auf den Prozess der Integration. Seine Verantwortung knüpft aber an ein Verhalten nationaler Organe an, so wie es im konkreten verfassungsgerichtlichen Verfahren den Gegenstand darstellt. Die Handlungsspielräume des Gerichts und damit 371
Schon BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (351); später BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 106). A. Voßkuhle, Die Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, in: Axer (Hrsg.), Das europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase, S. 229, 234 erblickt in Art. 13 Abs. 2 EUV und der Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit eine europäische Integrationsverantwortung für die Unionsorgane. Diese ist aber von jener Verantwortung des Grundgesetzes zu unterscheiden. 372 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 107); BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (392). 373 Siehe näher W. Weiß, JuS 2019, 97. 374 Siehe auch A. Voßkuhle, Die Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, in: Axer (Hrsg.), Das europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase, S. 229, 230, der auf die Notwendigkeit von Entscheidungsspielräumen verweist. 375 Dessen Integrationsverantwortung betonend N. Sonder, KritV 94 (2011), 214 (224); A. Voßkuhle, Die Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, in: Axer (Hrsg.), Das europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase, S. 229, 235 ff.
C. Die Kontrolle im gerichtlichen Verfahren
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auch die Einflussmöglichkeiten auf den Integrationsprozess und schließlich seine Verantwortung korrespondieren daher mit der Verantwortung des handelnden Organs im Verfahren. Keine Träger der Integrationsverantwortung sind Staatsorgane, die nicht zugleich Verfassungsorgane sind.376 Dies wurde bereits im Rahmen des OMT-Verfahrens deutlich, in dem das Bundesverfassungsgericht nicht die Verantwortung der Bundesbank thematisierte, obwohl diese selbst an der Durchführung des Programms beteiligt wäre. Im PSPP-Urteil stellte das Gericht dann ausdrücklich fest, dass die Bundesbank keine Trägerin der Integrationsverantwortung ist.377 Eine nähere Begründung hierfür erfolgte nicht. Nichtsdestoweniger dürfe die Deutsche Bundesbank an Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, die sich als Ultra-vires-Akte darstellen oder die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfassungsidentität berühren, nicht mitwirken378 und habe dies – wie jede deutsche Stelle – bei entsprechenden Anhaltspunkten selbständig zu prüfen.379 In Anbetracht der schwachen normativen Verankerung der Integrationsverantwortung kann die Verengung des Adressatenkreises auf die Verfassungsorgane hinterfragt werden. So wäre es auch möglich gewesen, den Kreis ihrer Träger auf alle Staatsorgane oder sogar alle Behörden der Bundesrepublik auszuweiten. Dies hätte allerdings weitreichende Konsequenzen: Eine weit gefasste Integrationsverantwortung gäbe einer Vielzahl von beteiligten deutschen Stellen nicht nur die Pflicht, Unionsmaßnahmen in dieser Hinsicht zu bewerten,380 sondern darüber hinaus auch die Pflicht, der Maßnahme aktiv entgegenzutreten. Hierfür fehlt es Behörden regelmäßig nicht nur an den notwendigen Mitteln – eine derartige Dezentralisierung der Integrationsverantwortung drohte auch, dem Integrationsprojekt schwerwiegend zu schaden, da womöglich eine Vielzahl von Akteuren die Umsetzung (vermeintlich) ultra vires erlassenen Unionsrechts blockieren würde. Damit würde der Zweck der monopolisierten Feststellungskompetenz auf judikativer Ebene konterkariert werden.381 Die Integrationsverantwortung stellt sich damit als ein Konzept dar, nach dem die Verfassungsorgane (unter anderem) die Rechtmäßigkeit unionalen Handelns überwachen. Sie nehmen damit eine rechtshütende Funktion ein. Dies wird 376
Anders zwischenzeitlich BVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 276/17 (Recht auf Vergessen II), BVerfGE 152, 216 (Rn. 55). 377 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 95). 378 In diesem Fall liegt ein tauglicher prozessualer Anknüpfungspunkt im Sinne des vorangegangenen Abschnitts vor. 379 Eine eigene Verwerfungsbefugnis steht ihnen jedoch nicht zu – vielmehr haben Behörden und Gerichte gegebenenfalls eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herbeizuführen, BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 162). 380 Diese Pflicht trifft sie ohnehin, siehe BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 95). 381 Siehe hierzu 2. Kap., C I, S. 129 ff.
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teils mit dem Hinweis auf die hierfür nicht geeignete institutionelle Beschaffenheit der Verfassungsorgane kritisiert.382 Diese seien nicht in der Lage, die ihnen aufgetragene Verantwortung wahrzunehmen. Tatsächlich aber dürfte die Inpflichtnahme der anderen Verfassungsorgane durch das Bundesverfassungsgericht die einzige Möglichkeit sein, innerhalb des Integrationsprozesses eine wirksame Durchsetzung des deutschen Rechts zu erzwingen. Die Judikative selbst hat kaum formelle Einflussnahmemöglichkeiten auf Unionsorgane, weshalb zumindest de lege lata die Integrationsverantwortung das wohl effektivste denkbare Modell zur Rechtsdurchsetzung sein dürfte. c) Pflichten aus der Integrationsverantwortung Betrachtet man die aus der Integrationsverantwortung resultierenden Rechtsfolgen, so lassen diese sich in zwei Kategorien einteilen: Sie beinhalten erstens die Ge- und Verbote in Zusammenhang mit der Schaffung eines Integrationsprogramms.383 Zweitens umfassen sie Pflichten im Zusammenhang mit Grenzüberschreitungen durch Unionsorgane.384 Die Ultra-vires-Kontrolle als ein Instrument zur Kontrolle der Wahrung der Integrationsverantwortung ist in ihrer Logik aber auf eine Kompetenzanmaßung durch Unionsorgane angewiesen. Im Zusammenhang mit der Schaffung des Integrationsprogramms ist daher die Identitätskontrolle einschlägig. aa) Unterlassen der Mitwirkung an Ultra-vires-Akten Träger der Integrationsverantwortung dürfen sich nicht an Kompetenzübertretungen europäischer Stellen beteiligen. Eine solche verbotene Beteiligung könnte in vielfältiger Weise geschehen, zum Beispiel durch die Zurverfügungstellung von Informationen oder eigenem Personal.385 Eine Informationsübermittlung zum Zweck der Vorbereitung einer Ultra-vires-Maßnahme würde den betroffenen deutschen Bürger dabei unmittelbar in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG betreffen. Relevant für die Abgrenzung von der Konstellation der „Maßnahmen auf europäischer Rechtsgrundlage“ ist nach hier vertretener Auffassung die zeitliche Abfolge: Wird die
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C. Calliess, NVwZ 2020, 897 (898). BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (351). M. Ruffert, DVBl 2009, 1197 (1200) stellt treffend fest: „Das Integrationsvertragswerk darf nicht so ,auf Räder gesetzt‘ werden, dass eine angemessene parlamentarische Beteiligung bei seiner Weiterentwicklung unterbleibt und dass diese Entwicklung der Kontrolle durch das BVerfG entgleitet“. 384 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (352). 385 Eine solche Koordinierung wird z.B. im Rahmen des gemeinsamen europäischen Grenzschutzes systematisch durchgeführt, vgl. Art. 10 und Art. 20 VO 2016/1624. 383
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Bundesrepublik vor Erlass einer europäischen Maßnahme tätig, kann es sich hierbei nicht um eine Umsetzungs- oder Vollzugshandlung handeln.386 Fraglich war zunächst, ob die Integrationsverantwortung Pflichten für das Abstimmungsverhalten deutscher Verfassungsorgane im Rahmen europäischer Entscheidungsfindung begründet. Das Bundesverfassungsgericht sah diese Handlungen zunächst nicht als taugliche Verfahrensgegenstände an.387 Da aber die Zulässigkeit eines Verfahrensgegenstands an die Verletzung einer aus der Integrationsverantwortung resultierenden Pflicht geknüpft ist, hat es damit wohl auch eine Aussage über die materielle Rechtslage getroffen. Mit Verweis auf die Rechtsprechung zu Mitwirkungshandlungen an völkerrechtlichen Vereinbarungen wurde – ohne spezifische Argumentation – die separate Anfechtbarkeit abgelehnt.388 Mitwirkungsakte an europäischen Beschlüssen seien europäische Akte389 und deshalb kein tauglicher Kontrollgegenstand. Diese Gleichstellung von europarechtlicher und völkerrechtlicher Lage verwundert: Im Bereich des Völkerrechts rekurrierte das Gericht bei der Bestimmung möglicher Verfahrensgegenstände auf die Existenz eines Ratifikationsgesetzes als angreifbaren innerstaatlichen Akt. Ein solcher Zwischenschritt liegt zum Beispiel bei Abstimmungen des Rates im Rahmen der europäischen Gesetzgebung nach Art. 16 Abs. 1 EUV nicht vor. Es besteht also die Gefahr einer Rechtsschutzlücke, die angesichts der Bedeutung der nationalen Kompetenzhoheit nicht tolerabel erscheint.390 Materiell lässt sich zudem nur schwerlich begründen, warum in diesen Fällen keine Integrationsverantwortung bestehen sollte.391 Art. 20 Abs. 3 GG sieht keine Ausnahmen von der verfassungsrechtlichen Bindung deutscher Staatsgewalt vor. Soweit sich das handelnde europäische Organ aus Teilen nationaler Staatsorgane zusammensetzt, wie dies beim Europäischen Rat nach Art. 15 Abs. 2 Satz 1 EUV und beim Rat nach Art. 16 Abs. 2 EUV der Fall ist, behält das einzelne Ratsmit386 Entscheidend ist eine Abgrenzung jedoch nicht, da in beiden Fällen ein grundsätzlich tauglicher Verfahrensgegenstand gegeben ist. 387 BVerfG, Urt. v. 07.09.2011 – 2 BvR 987/10 (EFSF), BVerfGE 129, 124 (175). 388 Verweis auf BVerfG, Beschl. v. 19.10.1987 – 2 BvR 624/83 (Lagerung chemischer Waffen), BVerfGE 77, 170 (208 f.). 389 Schon diese Annahme ist umstritten. Von einer auch nationalen Rechtsnatur ausgehend W. Cremer, EuR 2014, 195 (205 ff.); J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 189; M. Cornils, AöR 129 (2004), 336 (350 ff.). A.A. M. Heintzen, Der Staat 31 (1992), 367 (380 ff.); G. Nicolaysen, EuR 1989, 215 (218 f.). 390 In der Entscheidung zur EWG-Fernsehrichtlinie schloss das Bundesverfassungsgericht die Lücke, indem es die Weisung der Bundesregierung an den deutschen Vertreter im Rat als tauglichen Verfahrensgegenstand zuließ, BVerfG, Urt. v. 22.03.1995 – 2 BvG 1/89 (EWGFernsehrichtlinie), BVerfGE 92, 203 (227). 391 Siehe W. Cremer, EuR 2014, 195 (224 ff.), der von der „Bindung des deutschen Vertreters im Rat an die Kompetenzordnung“ spricht. Siehe allgemein zur Verfassungsbindung des deutschen Vertreters im Rat R. Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle über die deutsche Mitwirkung am Entscheidungsprozeß im Rat der Europäischen Gemeinschaften, S. 22 f.
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glied seine Stellung als Teil der nationalen Hoheitsgewalt bei.392 Der Sinn der Beteiligung nationaler Regierungsmitglieder in Organen der EU besteht gerade im Einbringen ihrer spezifisch nationalen Belange und Perspektiven.393 Eine Reduzierung ihrer Tätigkeit auf die unionale Komponente wird ihrer Natur daher nicht gerecht. Indem sie auch deutsche Staatsgewalt ausüben, bleiben Vertreter der Bundesrepublik in Kollegialorganen der Union an das Grundgesetz gebunden. Dies gilt insbesondere im Bereich des Art. 79 Abs. 3 GG: Die Integrationsverantwortung als verfassungsrechtliche Bindung dient dem Fortbestand der Staatlichkeit der Bundesrepublik und ist damit von der Ewigkeitsgarantie umfasst. Eine völlige Lösung der deutschen Vertreter im Rat von grundgesetzlichen Bindungen wird daher heute zurecht kaum noch vertreten. Dieser Befund spricht für eine verfassungsgerichtliche Überprüfbarkeit des Abstimmungsverhaltens: Akte der europäischen Gewalt unterliegen vor allem deshalb nicht dem Zugriff durch das deutsche Verfassungsprozessrecht, weil diese Bindung dort nicht existiert.394 Wo aber eine materielle Bindung wegen einer Doppelnatur des Abstimmungsverhaltens vorliegt, verfängt dieses Argument nicht. Nicht erklärbar wäre außerdem, warum das Unterlassen einer nicht näher definierten Handlung tauglicher Kontrollgegenstand sein soll,395 das Verhalten deutscher Hoheitsträger im Rahmen der europäischen Beschlussfindung allerdings nicht. Das Argument, eine Beteiligung an einer supranationalen Beschlussfassung stelle ein „Verhalten auf der völkerrechtlichen Ebene dar, das noch keine innerstaatlichen Rechtswirkungen auszulösen [vermag]“,396 lässt sich ebenso gut hinsichtlich einer politischen Einflussnahme auf die Unionsorgane vertreten. Erst recht muss es für das noch abstraktere Unterlassen derartiger Maßnahmen gelten. Nach dieser Rechtsprechung könnte sich ein Minister unmittelbar an einem ausbrechenden Ratsbeschluss beteiligen und dennoch wäre potenzieller Verfahrensgegenstand nur seine Untätigkeit im Nachgang des Beschlusses. Spätestens mit der Entscheidung zur europäischen Bankenunion wurde diese fragwürdige Rechtsprechung erfreulicherweise aufgegeben: Im Rahmen der europäischen Integration sind Akte nationaler Verfassungsorgane auch dann angreifbar, wenn sie Teil europäischer Entscheidungsfindung sind.397 Trotz der aus392 So die ganz überwiegende Meinung, siehe W. Cremer, EuR 2014, 195 (Fn. 29 f.) m.w.N. A.A. aber G. Nicolaysen, EuR 1989, 215 (218 f.). 393 Von dem „verlängerten Arm“ der nationalen Hoheitsgewalt spricht beispielsweise J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 189. Anders bei der Kommission, deren Mitglieder keine Vertreter der Mitgliedstaaten sind, vgl. Art. 17 Abs. 3 UAbs. 2 Satz 2 EUV. 394 Siehe oben 2. Kap., C III 1, S. 134 f. 395 Siehe sogleich in diesem Abschnitt. 396 BVerfG, Beschl. v. 19.10.1987 – 2 BvR 624/83 (Lagerung chemischer Waffen), BVerfGE 77, 170 (209 f.), Bezugnahme hierauf in BVerfG, Urt. v. 07.09.2011 – 2 BvR 987/10 (EFSF), BVerfGE 129, 124 (175). 397 BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202
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drücklich festgestellten Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung wird das Ergebnis allerdings nicht begründet. bb) Pflicht zum Einschreiten gegen Ultra-vires-Akte Es können auch Konstellationen auftreten, bei denen ein Ultra-vires-Handeln der Union keines Mitwirkungsakts eines Trägers der Integrationsverantwortung bedarf. Dies ist der Fall, wenn entweder eine entsprechende Mehrheit im Unionsorgan auch ohne die Stimmen des Vertreters der Bundesrepublik zustande kommt oder wenn eine Stelle ohne nationale Vertreter handelt. Letzteres war beispielsweise die Situation im OMT-Verfahren: Der EZB-Rat legte mehrheitlich die Modalitäten für das OMT-Programm fest. Die einzige Gegenstimme bei der Abstimmung stammte von dem Vertreter der Deutschen Bundesbank nach Art. 10 Abs. 1 EZB-Satzung. Dieser ist weder Träger der Integrationsverantwortung, noch hatte er ein Veto-Recht inne. Kompetenzüberschreitungen dieser Art lassen sich nicht durch Untätigkeit deutscher Stellen vermeiden, sondern bedürfen eines aktiven Tuns zu ihrer Verhinderung. Dabei sind Verfassungsorgane grundsätzlich frei in der Wahl des konkreten Mittels.398 In der politischen Praxis öffnet sich damit ein nahezu unbegrenztes Feld der Möglichkeiten, inklusive des Schließens politischer Kompromisse. Aus Sicht der Integrationsverantwortung kommt es dabei allein auf die Eignung zu Verhinderung des Ultra-vires-Akts an, es existiert also ein Untermaßverbot.399 Nur in Ausnahmefällen kann sich der Entscheidungsspielraum für die Verfassungsorgane auf eine konkrete Maßnahme verdichten.400 Die Integrationsverantwortung lässt sich dahingehend mit der grundrechtlichen Schutzpflicht vergleichen.401 Die Bundesrepublik muss mit ihren Organen für die Unversehrtheit bestimmter Rechtspositionen – in diesem Fall des Integrationsprogramms statt der Grundrechte des Einzelnen – eintreten. Ebenso bestehen Parallelen zur strafrechtlichen Garantenstellung.402 Beide Vergleiche, Schutzpflichten und Garantenstellung, zeigen, dass die wesentliche Relevanz der (Rn. 103); später BVerfG, Beschl. v. 09.02.2022 – 2 BvR 1368/16 (CETA-Beschluss III), Rn. 137. Bereits vorher in diese Richtung deutend BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 171). 398 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 88). 399 H. Gött, EuR 2014, 514 (530). 400 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 231); BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 172). 401 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 166). Weiter noch BVerfG, Beschl. v. 29.04.2021 – 2 BvR 1651/15 (PSPP-Vollstreckungsanordnung), NJW 2021, 2187 (Rn. 94), wo das Bundesverfassungsgericht die Integrationsverantwortung ausdrücklich als Schutzpflicht bezeichnet. Nach hier vertretener Ansicht ist die Integrationsverantwortung jedoch dem objektivem Recht zuzuordnen. Siehe zur insbesondere zur Reichweite von Art. 38 Abs. 1 GG: 2. Kap., C IV 2, S. 153 ff. 402 J. H. Klement, ZG 29 (2014), 169 (189); H. Sauer, EuR 2017, 186 (198).
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
Integrationsverantwortung in Fällen der staatlichen Unterlassung gebotener Maßnahmen liegt. Diese Offenheit der Integrationsverantwortung schlägt sich auch in den Substantiierungserfordernissen einer Beschwerde vor dem Verfassungsgericht nieder: Es genügt, wenn der Beschwerdeführer geltend macht, dass keine ausreichenden Maßnahmen zur Verhinderung des Akts getroffen wurden. Eine Obliegenheit, bestimmte Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen, besteht nicht.403 Dies widerspräche nicht nur dem Ermessen der Verfassungsorgane, sondern überforderte auch den Beschwerdeführer hinsichtlich seiner Kenntnisse politischer Gestaltungsmöglichkeiten. Auch das Urteil des Gerichts respektiert in seinem Tenor den Ermessensspielraum der Verfassungsorgane.404 Diese Zurückhaltung ist zwar bemerkenswert aber keineswegs einzigartig in der deutschen Rechtsordnung.405 Sie trägt auch der Gefahr eines Widerspruchs mit dem demokratischen Schutzzweck des Ultra-vires-Vorbehalts Rechnung.406 Durch das Konzept der Integrationsverantwortung wird insbesondere dem Gesetzgeber die Möglichkeit genommen, sich bewusst gegen bestimmte Maßnahmen zum Schutz der nationalen Kompetenz zu entscheiden.407 Daher muss ihm zumindest die Art der Wahrnehmung seiner Verantwortung freistehen. Die gebotenen Maßnahmen können dabei von politischen Missfallensbekundungen408 bis zur Verweigerung der Mitwirkung an der Integration als Ganzer reichen.409 Die Verpflichtung zum Austritt aus der Union ist hierbei äußerst kritisch zu betrachten, läuft sie doch dem klaren Verfassungsauftrag des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG zuwider.410 Diese Ultima Ratio dient daher wohl mehr als Drohkulisse gegenüber Unionsorganen, denn als tatsächliche Handlungsoption.411 Es scheint mehr als unwahrscheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht 403 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 90); BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 88). Kritisch die abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 107, 126). 404 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 232). Dies gilt nicht für die Beteiligungsverbote, die sich als klare Pflicht tenorieren lassen. 405 H. Gött, EuR 2014, 514 (530) mit dem Verweis auf das Bescheidungsurteil. Insofern verwundert die Kritik der abweichenden Meinung der Richterin Lübbe-Wolff, die mangelnde Rücksichtnahme auf politische Gestaltungsfreiheit moniert, BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 108 ff.). 406 Diesen Widerspruch trotzdem konstatierend J. Ipsen, RuP 2020, 344 (362). 407 Die Konstruktion der Integrationsverantwortung deshalb kritisierend C. Calliess, NVwZ 2020, 897 (898). 408 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 171), vgl. abweichende Meinung Lübbe-Wolff zu BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 12). 409 Zu letzter Variante vgl. BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (365). 410 Zur verfassungsrechtlichen Möglichkeit eines Austritts aus der EU im Allgemeinen T. Groß, EuR 2018, 387. Im Einzelnen 3. Kap., B III 2 a) cc), S. 281 ff. 411 Siehe 3. Kap., B III 2 a) cc), S. 281.
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jemals dieses Vorgehen als geboten ansehen wird. Vielmehr zählt es einige denkbare, nicht abschließende, Optionen für die Verfassungsorgane auf: Dazu gehören für die Bundesregierung neben den genannten Maßnahmen die Klageerhebung vor dem EuGH nach Art. 263 Abs. 1 AEUV, die Beanstandung gegenüber der handelnden und den kontrollierenden Stellen, die Berufung auf den Luxemburger Kompromiss, Vorstöße zu Vertragsänderungen sowie Weisungen an nachgeordnete Stellen, die in Rede stehende Maßnahme nicht anzuwenden.412 Bei dem Luxemburger Kompromiss handelt es sich um eine Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten über die Abstimmungspraxis im Rat.413 Dort heißt es: „Stehen bei Beschlüssen, die mit Mehrheit auf Vorschlag der Kommission gefaßt werden können, sehr wichtige Interessen eines oder mehrerer Partner auf dem Spiel, so werden sich die Mitglieder des Rats innerhalb eines angemessenen Zeitraums bemühen, zu Lösungen zu gelangen, die von allen Mitgliedern des Rats unter Wahrung ihrer gegenseitigen Interessen und der Interessen der Gemeinschaft gemäß Artikel 2 des Vertrags angenommen werden können.“414
Weiter fügte Frankreich die letztlich maßgebliche Interpretation bei: „Hinsichtlich des vorstehenden Absatzes ist die französische Delegation der Auffassung, daß bei sehr wichtigen Interessen die Erörterung fortgesetzt werden muß, bis ein einstimmiges Einvernehmen erzielt worden ist.“415
Ursprünglich wurde die Luxemburger-Vereinbarung getroffen, um die Französische „Politik des leeren Stuhls“ zu beenden und die Funktionsfähigkeit in der EWG wiederherzustellen. Im Anschluss zunächst noch regelmäßig genutzt, nahm ihre Bedeutung mit den Jahren mehr und mehr ab.416 Aus neuerer Zeit sind keine Fälle der Aktivierung der Luxemburger-Vereinbarung mehr bekannt.417 Insofern droht bei Inanspruchnahme des de facto-Vetorechts ein empfindlicher Schaden für das Mehrheitsprinzip des Art. 16 Abs. 3 EUV.418 Zudem ist die 412
BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 171). 413 Grundlegend R. Streinz, Die Luxemburger Vereinbarung. 414 BullEWG 3/1966 S. 8 f. 415 BullEWG 3/1966 S. 9. 416 M. Schweitzer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 28. EGL. Oktober 2005, Art. 205 EGV, Rn. 16 f.; W. Obwexer, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 238 AEUV, Rn. 51, 53. 417 Das Beratungsgeheimnis im Rat erschwert eine Aussage hierüber allerdings erheblich, vgl. R. Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle über die deutsche Mitwirkung am Entscheidungsprozeß im Rat der Europäischen Gemeinschaften, S. 43 f. 418 Zu dieser kritischen Wirkung M. Piepenschneider, Luxemburger Vereinbarung (Kompromiss), in: Bergmann (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dahingehend kritisierend M. Ruffert, Das OMT-Urteil des BVerfG: Europarechtlich überzeugend, verfassungsprozessrechtlich fragwürdig, Verfassungsblog.
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
Rechtsqualität der Vereinbarung weiterhin umstritten419 und wurde auch vom Bundesverfassungsgericht selbst nicht bewertet. Solange eine Berufung auf die Vereinbarung in der Praxis Erfolg verspricht, kommt es hierauf aber auch nicht an. Zumindest lassen sich zwingende Gründe des nationalen Verfassungsrechts als „sehr wichtige Interessen“ im Sinne des Kompromisses verstehen. Die vom Bundesverfassungsgericht aufgeworfene Option der Anregung einer Vertragsänderung nach Art. 48 Abs. 2, Abs. 6 EUV erscheint auf den ersten Blick widersinnig, führt sie doch nicht zur Verhinderung der streitigen Maßnahme. Die rechtzeitige Einräumung einer Kompetenz verhindert aber, dass die Handlung ultra vires erfolgt und sichert damit die Kompetenzhoheit der Mitgliedstaaten ab. So wurde beispielsweise Art. 136 Abs. 3 AEUV in die Verträge eingefügt, um kompetenziellen Bedenken bei der Errichtung des ESM Rechnung zu tragen.420 In der Praxis dürfte aber – soweit eine politische Einwirkung auf die handelnde Unionsstelle keinen Erfolg bringt – der Klage vor dem EuGH die größte Bedeutung zukommen.421 Unter unionsrechtlichen Gesichtspunkten ist diese Pflicht unbedenklich und dürfte sogar dazu führen, dass rechtlich umstrittene Maßnahmen überhaupt erst vom Gerichtshof überprüft werden können. Der Bundestag muss seinerseits die Bundesregierung zur Wahrnehmung ihrer Integrationsverantwortung anhalten. Hierzu kann er „sich insbesondere seines Frage-, Debatten- und Entschließungsrechts bedienen, das ihm zur Kontrolle des Handelns der Bundesregierung in Angelegenheiten der Europäischen Union zusteht.“422 Neben den Rechten aus Art. 23 bestehen die Möglichkeiten der Bildung eines Untersuchungsausschusses nach Art. 44 GG und der Einleitung eines Miss-
419 Eine solche bejahend R. Streinz, Die Luxemburger Vereinbarung, S. 94; R. Streinz, Bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle über die deutsche Mitwirkung am Entscheidungsprozeß im Rat der Europäischen Gemeinschaften, S. 44; M. Schweitzer, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 28. EGL. Oktober 2005, Art. 205 EGV, Rn. 18 f., a.A. W. Obwexer, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 238 AEUV, Rn. 53 ff.; M. Piepenschneider, Luxemburger Vereinbarung (Kompromiss), in: Bergmann (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union. Nach hier vertretener Auffassung ist der Kompromiss rechtlich nicht verbindlich. Es fehlt sowohl an der übereinstimmenden Rechtsauffassung als auch an der gemeinsamen Übung. Die gegenteilige Überzeugung neuer Unionsmitglieder ändert hieran nichts. 420 Ob diese Einfügung erforderlich war, ist umstritten. Während das Bundesverfassungsgericht dies bejaht (BVerfG, Urt. v. 18.03.2014 – 2 BvR 1390/12 [ESM-Vertrag], BVerfGE 135, 317 [Rn. 128]), geht der EuGH von einem lediglich klarstellenden Charakter der Vorschrift aus, EuGH, Urt. v. 27.11.2012 – C-370/12 (Pringle), ECLI:EU:C:2012:756 (Rn. 73). Siehe hierzu U. Palm, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 54. EGL. September 2014, Art. 136 AEUV, Rn. 42 ff.; W. Kahl, DVBl 2013, 197 (202 f.). Zur einseitigen Einräumung von Kompetenzen als mögliche Alternative, siehe 3. Kap., B III 2 a) bb), S. 278 ff. 421 Auf diese Möglichkeit weist auch das Bundesverfassungsgericht selbst hin, BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 88). 422 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 171).
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trauensvotums nach Art. 67 GG. Zusätzlich kann er selbst eine Subsidiaritätsklage beim EuGH nach Art. 23 Abs. 1a GG i.V.m. Art. 12 Buchstabe b EUV und Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll anstreben. Bei alledem verfügt er nicht über vergleichbare eigene Einwirkungsmöglichkeiten auf die Union wie die Bundesregierung. Für alle Verfassungsorgane stellt sich das Problem der Identifikation eines Ultra-vires-Handelns: Angesichts der im Einzelnen unklaren Maßstäbe besteht für sie das Risiko einer falsch-positiven wie falsch-negativen Beurteilung der Rechtslage. Wegen der mit der Ultra-vires-Einschätzung verbundenen rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten dürften die Verfassungsorgane zu einer weiten Interpretation der Unionsbefugnisse tendieren.423 4. Rechtsschutzlücken im Kontrollsystem? Mit dem Ausschluss von Unionsakten aus dem Kreis der tauglichen Anknüpfungspunkte von Ultra-vires-Verfahren geht das Risiko von Rechtsschutzlücken einher. Sofern mit den tauglichen Verfahrensgegenständen nicht alle Ultra-viresKonstellationen erfasst werden können, entstehen Risiken für die mit dem Vorbehalt geschützten Rechtsgüter. Daher wird nachfolgend die Existenz derartiger Lücken untersucht. Im Rechtsschutzsystem der Ultra-vires-Kontrolle nimmt die Integrationsverantwortung eine Auffangfunktion ein. Sie wird immer dann virulent, wenn keine nationale Maßnahme auf Grundlage eines Unionsakts als Anknüpfungspunkt vorliegt. Innerhalb der Integrationsverantwortung selbst sind jene Fälle unproblematisch, bei denen ein Verfassungsorgan durch bloßes Unterlassen seiner Verantwortung genügt. In allen Konstellationen, in denen die deutsche Hoheitsgewalt an einem Ultra-vires-Akt mitwirkt, fehlt es nicht an einem tauglichen Anknüpfungspunkt für das Verfahren. Eine inhaltliche Verkürzung der Kontrolle ist dort nicht zu befürchten. Soweit die Integrationsverantwortung ein aktives Einschreiten von deutschen Verfassungsorganen zur Verhinderung von kompetenzüberschreitenden Unionsmaßnahmen verlangt, unterscheidet sie nicht nach der Art des Ultra-viresHandelns. Einer (drohenden) Verordnung muss ebenso begegnet werden wie einem Urteil des Gerichtshofs. Zusammengefasst entstehen durch den Ausschluss der europäischen Maßnahmen aus dem Kreis der prozessualen Anknüpfungspunkte keine Schutzlücken. Allenfalls könnte die Besorgnis bestehen, der gewählte prozessuale Anknüpfungspunkt führe zu einer geringeren faktischen Effektivität der Kontrolle. Falls es den deutschen Organen an Instrumenten fehlt, um auf den Unionsakt Einfluss zu nehmen, droht die Ultra-vires-Kontrolle ins Leere zu laufen.424
423 424
3. Kap., A II 2 b), S. 235. Die Darstellung dieser Probleme erfolgt unter 3. Kap., B III 2 a) aa), S. 277.
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Es wäre allerdings verfehlt anzunehmen, dieses Problem ließe sich durch eine unmittelbare Anfechtbarkeit von Unionsakten beseitigen. Es ist eben nicht gesichert, dass das verantwortliche Unionsorgan auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit einer Rücknahme oder auch nur einer Anpassung des Akts reagierte. Wenn schon die deutschen Verfassungsorgane nicht in der Lage wären, die Unionsorgane von einem Handeln abzuhalten, wird erst recht das Bundesverfassungsgericht an die Grenzen seiner Gestaltungsfähigkeit stoßen.425 Die Zurückhaltung hinsichtlich des tauglichen prozessualen Anknüpfungspunkts der Kontrolle spiegelt insoweit die Grenzen des Einflusses des Bundesverfassungsgerichts wider. 5. Zwischenfazit Das Bundesverfassungsgericht lässt mittlerweile nur noch nationale Akte als Kontrollgegenstand zu. Durch diese Weichenstellung verliert das Instrument nicht an Durchsetzungskraft. Sofern keine nationale Maßnahme auf Grundlage des Akts gerügt werden kann, findet sich eine Beteiligung im Vorfeld oder zumindest das Unterlassen der Verhinderung als tauglicher Anknüpfungspunkt.
IV. Konstellationen einer Kontrolle und mögliche Verfahrensarten 1. Grundsätzliches Das Bundesverfassungsgericht erhält nach Art. 93 GG seine Zuständigkeit durch ausdrückliche gesetzliche Zuweisung. Bestimmte Verfahrensarten mit gesetzlich definierten Verfahrensgegenständen und Maßstäben werden nach dem Enumerationsprinzip abschließend aufgezählt.426 Trotz einer Anregung im LissabonUrteil427 hat sich der Gesetzgeber gegen die Einführung einer spezifischen Verfahrensart für die Ultra-vires-Kontrolle entschieden. Dies kann unter dem Gesichtspunkt der Rechtsklarheit bedauert werden,428 da die Voraussetzungen der Kontrolle weiter nicht gesetzlich geregelt sind.429 Es ist daher zu untersuchen, innerhalb welcher Verfahrensarten die Ultra-vires-Kontrolle vorkommen kann. Das Bundesverfassungsgericht selbst nannte im Rahmen der Lissabon-Ent-
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C. D. Classen, EuR 2016, 529 (532). Vgl. C. Walter, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 84. EGL. August 2018, Art. 93 GG, Rn. 185 f. 427 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (354 f.). 428 Diese Entscheidung wegen angenommener Unionsrechtswidrigkeit begrüßend T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (32). 429 Durch die fehlende gesetzliche Regelung werden auch Möglichkeiten zur Schaffung eines adäquaten Verfahrens nicht genutzt. Beispielsweise könnte für Verfahren der Ultravires-Kontrolle eine Entscheidung im Plenum vorgeschrieben werden, siehe K. Barley, AnwBl 2021, 216 (216). Noch weitgehender der Vorschlag bei P. M. Bender, ZEuS 2020, 409 (424), der eine Einstimmigkeit der Entscheidung zur Voraussetzung machen will. 426
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scheidung die abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG), die konkrete Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG), das Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG), den Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG) und die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG).430 Im Folgenden sollen daher die unter dem Gesichtspunkt der Ultra-viresKontrolle relevanten prozessualen Konstellationen mit ihren jeweiligen Spezifika dargestellt werden. 2. Verfassungsbeschwerde Die weitaus größte Relevanz in Ultra-vires-Konstellationen kommt der Verfassungsbeschwerde zu. Sie sieht hinsichtlich des Verfahrensgegenstands keine grundsätzliche Beschränkung vor, weshalb alle beschriebenen Anknüpfungspunkte der Kontrolle alle auch taugliche Beschwerdegegenstände sein können. Macht ein Beschwerdeführer geltend, durch einen solchen Akt in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein, so wird die Maßnahme auf ihre formelle wie materielle Verfassungsmäßigkeit hin überprüft. Die Verfassungsbeschwerde erfüllt daher über die im Vordergrund stehende individualschützende Funktion hinaus auch eine objektiv-rechtliche Rolle.431 Die Kompetenz der Europäischen Union zur Vornahme einer Maßnahme kann für die Rechtmäßigkeit des Handelns der deutschen Hoheitsgewalt in verschiedener Hinsicht erheblich sein432 und damit einen Teil des von der Verfassungsbeschwerde umfassten Prüfungsprogramms darstellen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Beschwerdebefugnis, da sie eine Scharnierfunktion zur Prüfung des objektiven Rechts erfüllt. Als systematischer Normalfall kann die Honeywell-Entscheidung433 gelten: Dort rügte der Beschwerdeführer, ein Arbeitgeber, die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 1 GG durch das Bundesarbeitsgericht. Dieses hatte zulasten des Beschwerdeführers festgestellt, dass zwischen ihm und einem Arbeitnehmer ein Arbeitsvertrag fortbestünde. Die bestehende Befristung des Arbeitsvertrages wurde vom BAG für rechtswidrig erachtet, obwohl sie – als Ausnahme zum Verbot der sachgrundlosen Befristung in § 14 Abs. 1 TzBfG – durch § 14 Abs. 3 Satz 4 TzBfG in der damaligen Fassung gestattet war. Diese Ausnahmevorschrift sollte die Integra-
430 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (354 f.). Bereits vor diesem Urteil machte J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 123 ff. die genannten Verfahrensarten als relevant aus. Neben den genannten Verfahrensarten dürfte auch der Präsidentenanklage nach Art. 61 GG oder der Richteranklage nach Art. 98 Abs. 2 GG theoretische Relevanz zukommen. Aufgrund ihrer Praxisferne werden sie allerdings nicht weiter dargestellt. 431 Zu dieser Doppelfunktion der Verfassungsbeschwerde K. Schlaich/S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 272 f. Kritisch jedoch H. Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, BVerfGG, 53. EGL. Februar 2018, § 90 BVerfGG, Rn. 8 ff. 432 Hierzu 2. Kap., C III 2, S. 138 u. 3. Kap., B III 1, S. 270 ff.. 433 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286.
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tion älterer Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt erleichtern. Der Grund für die Nichtanwendung des Abs. 3 Satz 4 war das Mangold-Urteil des EuGH.434 In diesem erachtete der Gerichtshof die deutsche Ausnahmeregelung aufgrund der Richtlinie 2000/78/EG für unanwendbar. Diesem Urteil des EuGH wurden erhebliche methodische Mängel vorgeworfen.435 Das europäische Recht enthielt nach Ansicht der Kritiker kein Verbot der Altersdiskriminierung in dieser Form. Das Bundesverfassungsgericht prüfte im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gegen das arbeitsgerichtliche Urteil, ob die entscheidungserheblichen Vorschriften eine legitime Rechtsgrundlage darstellten. Hierfür musste eine Aussage über die Anwendbarkeit der Ausnahmevorschrift in Abs. 3 Satz 4 getroffen werden – und damit auch inzident über die Bindungswirkung des Urteils des EuGH. Soweit man keine grundsätzlichen Einwände gegen den Ultra-vires-Vorbehalt erhebt, kann diese Konstellation als unproblematisch angesehen werden.436 Das Bundesverfassungsgericht geht hier nicht über jene Grundsätze hinaus, die auch in einem rein nationalen Sachverhalt Geltung beanspruchen: Der Antragsteller muss individuell in Grundrechten betroffen sein.437 Dies ist der Fall, wenn ihn ein Akt nicht nur faktisch im Sinne einer Reflexwirkung berührt, sondern eine hinreichend enge Beziehung zwischen den Grundrechtspositionen des Beschwerdeführenden und dem Akt besteht.438 Art. 12 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG sind unstreitig individuell betroffen, wenn das BAG eine Klausel im Arbeitsvertrag des Antragstellers für unwirksam erklärt. Allerdings ist der Anwendungsbereich der Verfassungsbeschwerde nicht auf diese unstreitigen Fälle begrenzt. Darüber hinaus wird das aktive Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 GG in einer abwehrrechtlichen Dimension aktiviert. Der Gewährleistungsgehalt der Norm umfasse über für „den wahlberechtigten Deutschen das subjektive Recht, an der Wahl des Deutschen Bundestages teilzunehmen und dadurch an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluß zu nehmen“.439 Diese Legitimationskraft werde aber unterlaufen, wenn eine Verlagerung von Hoheitsrechten an
434
EuGH, Urt. v. 22.11.2005 – C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981. „Abenteuerlich“ R. Herzog/L. Gerken, Stoppt den Europäischen Gerichtshof, FAZ v. 08.09.2008, S. 8; „unbegreiflich“ und „unverständlich“ J.-H. Bauer/C. Arnold, NJW 2006, 6 (8); „enttäuschend“ R. Giesen, SAE 2006, 45 (52); „bestenfalls erstaunlich“ und „zweifelhaft“ A. Zedler, GPR 2006, 152 (153 f.); „nicht verständlich“ D. Strybny, BB 2005, 2753 (2754). 436 Vgl. D. Steiger, VerwArch 107 (2016), 497 (532). 437 Siehe hierzu im Einzelnen S. Kluckert, Verfassungsgerichtlicher Schutz für die Grundrechte, in: Stern/Sodan/Möstl (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland – Bd. 3, § 95 Rn. 64 ff. m.w.N. 438 BVerfG, Urt. v. 11.07.2017 – 1 BvR 1571/15 (Tarifeinheitsgesetz), BVerfGE 146, 71 (Rn. 112 f.) m.w.N. zu der ständigen Rechtsprechung. 439 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (171 f.). 435
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die Union außerhalb der dafür vorgesehenen Formen von Art. 23 Abs. 1 Sätze 2 und 3, Art. 79 Abs. 2 GG geschieht.440 Damit wird dem einzelnen Wähler ein subjektives Recht auf Achtung der Kompetenzen der Gesetzgebungsorgane zugesprochen. Pointiert lässt sich folgendes feststellen: Der Wahlberechtigte hat im Ergebnis sogar einen Anspruch darauf, dass auch Dritte nur von einer demokratisch legitimierten Gewalt in Grundrechten beschränkt werden. Somit wäre im Honeywell-Fall auch jedem am Arbeitsrechtsstreit selbst unbeteiligten Wähler die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde zugekommen. Aber auch dort, wo nicht in Grundrechte eingegriffen wird, beispielsweise im Bereich der Leistungsverwaltung, kommt dem Einzelnen ein Anspruch auf Einhaltung der Kompetenzordnung zu. Damit, so ein weit verbreiteter Vorwurf, unterscheide sich die Verfassungsbeschwerde in diesen Konstellationen nicht von einer systemfremden Popularklage.441 Schon die abweichende Meinung des Richters Gerhard bezeichnet das gefundene Ergebnis als geöffnete Tür zu einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch.442 Er wirft der Mehrheitsmeinung vor, ihr gelinge keine inhaltliche Konturierung, welche über eine allgemeine Kompetenzprüfung hinausgehe. In der Tat sind Zweifel an der hinreichenden Individualisierung des Rechts angebracht: Die Tatbestandsmerkmale der Prüfung („Strukturelle Relevanz“, „Offensichtlichkeit“) rekurrieren alle auf das Merkmal der Kompetenzüberschreitung selbst. Dieses ist seiner Natur nach objektiv. So bleibt die individuelle Betroffenheit – anders als in der Honeywell-Konstellation – unklar.443 Der Unterschied zwischen dem Anspruch des Einzelnen und dem objektiven Verfassungsrecht verschwimmt.444 Dieser Unterschied ist aber von hoher Relevanz: Ohne eine klare subjektive Dimension des Rechts wäre es schwer zu begründen, warum Art. 38 Abs. 1 GG nicht auch einen weitergehenden Anspruch auf Rechtmäßigkeit parlamentarischer Entscheidungsprozesse beinhalten sollte.445 Wenn 440 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 82). 441 So schon der Richter Gerhard in der abweichenden Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 137 ff.); ebenso R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 356; J. Ipsen, RuP 2020, 344 (358); A. Schwerdtfeger, EuR 2015, 290 (305); M. Ludwigs/P. Sikora, EWS 2016, 121 (131). Kritisch gegenüber der Zuschreibung H. Gött, EuR 2014, 514 (535). A.A. K. A. Schachtschneider, Souveränität, Fn. 1375: „Wenn jeder ein Recht hat und dieses geltend macht, ist das keine Popularklage.“ 442 Abweichende Meinung des Richters Gerhard zu BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 138). 443 Nach L.-K. Mannefeld, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die europäische Integration, S. 249 wird die Beschwerdebefugnis praktisch abgeschafft. 444 D. Steiger, VerwArch 107 (2016), 497 (531 ff.). Auf diese fortbestehende Notwendigkeit selbst noch einmal hinweisend: BVerfG, Urt. v. 18.03.2014 – 2 BvR 1390/12 (ESM-Vertrag), BVerfGE 135, 317 (Rn. 128). 445 H. Sauer, EuR 2017, 186 (Fn. 75) spricht sogar über Exekutivhandeln. Die Kontrolle von Auslandseinsätzen der Bundeswehr bringt K. F. Gärditz, GLJ 15 (2014), 183 (192 f.) ins Spiel.
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
das Wahlrecht ein Recht auf „Teilhabe an der Legitimation der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt“446 enthält, so kann dieses grundsätzlich auch in anderer Weise als durch Kompetenzanmaßung seitens der Union beeinträchtigt werden.447 So droht eine für die Ultra-vires-Kontrolle entwickelte Argumentation grundlegende Eckpunkte des verfassungsprozessualen Rechtsschutzsystems zu verschieben. Die Überzeugungskraft der bundesverfassungsgerichtlichen Ansicht zur Reichweite des Art. 38 Abs. 1 GG hängt daher in erheblicher Weise davon ab, inwieweit sie sich in die weitere Rechtsprechung des Gerichts einfügt. Einer Konstellation abseits der Ultra-vires-Kontrolle, die die Grenzen des Anspruchs aus Art. 38 Abs. 1 GG austestet, sah sich das Bundesverfassungsgericht bei einer Verfassungsbeschwerde zum ESM-Vertrag ausgesetzt. Die Beschwerdeführer rügten, der Vertrag könne in Verbindung mit dem ESM-Finanzierungsgesetz (Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus – ESMFinG) den Bundestag in seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung und damit sie selbst in Art. 38 Abs. 1 GG verletzen. Das ESM-Gesetz sei zudem formell rechtswidrig, es leide unter einem Fehler im Gesetzgebungsverfahren.448 In erster Lesung im Bundestag wurde ein Entwurf beraten, bei dem bewusst die Beteiligungsrechte des Parlaments offengelassen wurden. Dies, so die Beschwerdeführer, sei aber aufgrund deren Bedeutung für den Gesamtentwurf unzulässig. Das Bundesverfassungsgericht hielt die Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz diesbezüglich dennoch für unzulässig. Es fehle vorliegend an einer dauerhaften Einschränkung in der gesetzgeberischen Gestaltungsfähigkeit derart, dass „zentrale politische Entscheidungen nicht mehr selbstständig getroffen werden können“.449 Ausschlaggebend sei demnach, inwieweit der Gesetzgeber zeitlich wie qualitativ in seiner Fähigkeit zur Vermittlung demokratischer Legitimation betroffen ist (wobei es im konkreten Fall an der Qualität scheiterte)450. Insoweit erfuhr die Dogmatik zu Art. 38 Abs. 1 GG nachträglich eine Schärfung, die bereits im Rahmen des OMT-Vorlagebeschlusses wünschenswert gewesen wäre. Eine Beschränkung der Rechte des Gesetzgebers ist nur dann schwerwiegend in diesem Sinne, wenn sie demokratische Grundsätze in einer Weise berührt, die 446 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 81). 447 J. H. Klement, ZG 29 (2014), 169 (177). So schließlich auch bei BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74. 448 BVerfG, Urt. v. 18.03.2014 – 2 BvR 1390/12 (ESM-Vertrag), BVerfGE 135, 317 (Rn. 38). 449 BVerfG, Urt. v. 18.03.2014 – 2 BvR 1390/12 (ESM-Vertrag), BVerfGE 135, 317 (Rn. 125). 450 Auffällig war hier die Interpretation des Antrags durch das Gericht. Hier wurde das Argument der formellen Verfassungswidrigkeit des ESMFinG als eigene Rüge angesehen – und sodann mangels ausreichender subjektiver Grundrechtsbetroffenheit verworfen. Man hätte das Vorbringen auch als Einwand der formellen Verfassungswidrigkeit im Rahmen der sonst zulässigen Anträge verstehen können.
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Art. 79 Abs. 3 GG dem verfassungsändernden Gesetzgeber entzieht.451 Ein „Recht auf Demokratie“ besteht damit zunächst nur insoweit, als die Demokratie nicht in ihrer änderungsfesten Substanz herausgefordert werden darf. Ein Anspruch auf Einhaltung demokratischer Verfahren besteht unterhalb dieser Grenze nicht. Gleichzeitig macht das Bundesverfassungsgericht aber auch in einem Klammerzusatz deutlich, dass die oben beschriebene Formel zur Bestimmung der Schwere eines Eingriffs im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle nicht gelten soll. Diese Inkongruenz wird derweil mit keinem Wort begründet. Dem Wortlaut nach geht das Gericht eben nicht davon aus, dass im Bereich von ausbrechenden Rechtsakten die „Verwirklichung des politischen Willens der Bürger, rechtlich oder praktisch unmöglich [ge]macht“ wird, so wie es für andere Konstellationen für notwendig erachtet wird. Insoweit muss sich das Gericht dem Vorwurf der Schaffung einer Sonderdogmatik zur Kontrolle der Union ausgesetzt sehen.452 Dieses Problem wurde auch durch die Entscheidung des Gerichts zum Einheitlichen Patentgericht453 nicht beseitigt.454 Das Verfahren behandelte eine Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz zu dem Übereinkommen vom 19. Februar 2013 über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ-ZustG), mit dem die Voraussetzungen für die Ratifikation des genannten Übereinkommens455 geschaffen werden sollten. Ziel war damit die Gründung eines europäischen Patentgerichts, welches mit der Ausübung von Hoheitsrechten betraut werden sollte. Das Bundesverfassungsgericht entschied, das EPGÜ-ZustG sei aufgrund der Nichteinhaltung des Erfordernisses einer verfassungsändernden Mehrheit im Bundestag formell verfassungswidrig. Bei dem Verfahren handelte es sich demnach nicht um eine Ultra-vires-Kontrolle, sondern in gewisser Weise um eine Präventionshandlung: Ohne vorherige gerichtliche Intervention hätte das Einheitliche Patentgericht seine Arbeit aufgenommen und möglicherweise eine Vielzahl von Urteilen gesprochen – die mangels wirksamer Ermächtigung allesamt ultra vires ergingen.456 Zur Vermeidung dieser Situation schuf das Bundesverfas451
BVerfG, Urt. v. 18.03.2014 – 2 BvR 1390/12 (ESM-Vertrag), BVerfGE 135, 317 (Rn. 125). 452 Dieser wird auch in der abweichenden Meinung der Richter König, Maidowski und Langenfeld zu BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74 (Rn. 17) ausgeführt. Die Gründe für diese Sonderbehandlung als „unklar“ bezeichnend R. Hofmann/A. Heger, EuGRZ 2020, 176 (185). 453 BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74. 454 Eine nicht überzeugende Abgrenzung zur ESM-Entscheidung beklagt A. Knoth, EuR 2021, 274 (286). 455 ABl. EU Nr. C 175 v. 20.06.2013, S. 1 ff. 456 A.A. wohl die Richter König, Maidowski und Langenfeld in der abweichenden Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74 (Rn. 11), die anscheinend nur von einem Ultra-vires-Akt sprechen wollen, wenn die Kompetenzausübung durch das Unionsorgan den Rahmen des Zustimmungsgesetzes verlässt. Dies ist hier aber nicht der Fall.
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
sungsgericht daher die „formelle Übertragungskontrolle“.457 Der einzelne Bürger kann damit ein nationales Übertragungsgesetz auch auf seine formelle Rechtmäßigkeit prüfen lassen. Dies unterscheidet sich insoweit von der bisherigen Rechtsprechung, als dass nicht nur die Wahrung der absoluten Grenze übertragbarer Kompetenzen zum Individualrecht des wahlberechtigten Bürgers erklärt wird, sondern darüber hinaus auch die Rechtmäßigkeit jedes einzelnen Übertragungsvorgangs unabhängig von seiner Qualität.458 Hier ist es fraglich, ob noch die nach Art. 79 Abs. 3 GG änderungsfesten Grundsätze des Demokratieprinzips berührt werden,459 also eine hinreichende Qualität der Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Vermittlung demokratischer Legitimation vorliegt. Das Bundesverfassungsgericht bejaht dies.460 Für eine derartige Bedeutung spräche generell die fehlende autonome Rückholbarkeit einmal übertragener Hoheitsrechte.461 Zudem diene das hier verletzte Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit aus Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG „der Gewährleistung eines besonderen Legitimationsniveaus für Entscheidungen, die die Substanz des Bundestagswahlrechts schwächen und die demokratischen Gewährleistungen des Grundgesetzes möglicherweise dauerhaft bis zu der durch die Verfassungsidentität geschützten Grenze zurücknehmen.“462 Das Bundesverfassungsgericht kombiniert hier also eine allgemeine Erwägung mit einem nur den Einzelfall betreffenden Schutznorm-Gedanken. Die Gewichtung dieser Elemente bleibt dabei unklar, was eine abschließende Bewertung des subjektiven Rechts auf eine formale Übertragungskontrolle verhindert.463 Man darf die großzügige Handhabung des Anspruchs auf demokratische Selbstbestimmung in diesem Fall wohl als Versuch verstehen, gerichtliche Kon-
457 BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74 (Rn. 97, 99). Siehe auch BVerfG, Urt. v. 06.12.2022 – 2 BvR 547/21 (EUWiederaufbaufonds-Urteil), WM 2022, 2451. 458 BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74 (Rn. 97). Kritisch hierzu A. Knoth, EuR 2021, 274 (288 ff.). 459 Ablehnend die Richter König, Maidowski und Langenfeld in der abweichenden Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74 (Rn. 13 ff.); siehe hierzu E. Roffael. Formelle Übertragungskontrolle und materielle Gerichtsstandards bei der Delegation von Hoheitsrechten auf supranationale Gerichte nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG, in: Müller/Dittrich (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 6, S. 458, 470 ff. Ebenso ablehnend R. Hofmann/A. Heger, EuGRZ 2020, 176 (184 f.). 460 So mit Bezug auf den Demokratiegrundsatz ausdrücklich BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74 (Rn. 97). Ein in der Literatur vorgebrachter alternativer Vorschlag ist die Verengung des Anspruchs aus Art. 38 Abs. 1 GG auf Fälle, in denen Inhaltlich auch die Identitätskontrolle einschlägig ist, M. Ludwigs, NVwZ 2015, 537 (540). 461 Dies kann im Einzelfall fraglich sein, siehe A. Knoth, EuR 2021, 274 (286) m.w.N. 462 BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74 (Rn. 97). 463 Die Kontrolle in Gänze ablehnend A. Knoth, EuR 2021, 274 (290 f.).
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flikte mit dem EuGH wegen der Annahme von Ultra-vires-Akten zu vermeiden und darüber hinaus die völkervertragliche Zuverlässigkeit der Bundesrepublik zu sichern. Das Recht des Einzelnen wirkt hier vor allem als Vehikel, objektiven Zwecken des Verfassungsrechts zu dienen.464 Auch die objektive Funktion der Verfassungsbeschwerde erfordert aber zunächst ein bestehendes subjektives Recht, weshalb ein derartiger Kompensationsgedanke grundsätzlich kritisch zu bewerten ist.465 Mit der geringen Klarheit des Kriteriums der Qualität der Beeinträchtigung steigt die Bedeutung des Merkmals der Dauerhaftigkeit.466 Dieses ist im Vergleich nur in geringem Maße wertungsabhängig. Dem Bürger kommt demnach kein Recht auf die Einhaltung der Kompetenz- und Verfahrensordnung im Einzelfall zu, sondern ein Abwehrrecht gegen die permanente Veräußerung der Befugnisse seines zentralen Repräsentationsorgans. Insoweit ist der Anspruch erkennbar enger als das objektive Recht ausgestaltet, womit von einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch (noch) nicht die Rede sein kann.467 In echten Ultra-vires-Konstellationen bleibt der Anspruch des Einzelnen jedenfalls nicht hinter dem objektiven Recht zurück. Deutlich formulierte das Bundesverfassungsgericht im PSPP-Urteil, der wahlberechtigte Bürger habe einen Anspruch, „dass die mit dem Vollzug des Integrationsprogramms verbundenen Einschränkungen ihres Anspruchs auf demokratische Selbstbestimmung nicht weitergehen, als dies durch die zulässige Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union gerechtfertigt ist.“468 Angesichts der geringen Individualisierung des „Rechts auf Demokratie“ ist der in der Literatur vorgeschlagenen Kritik zuzustimmen: De facto hat das Bundesverfassungsgericht im Kontext der europäischen Kompetenzausübung ohne gesetzliche Regelung469 die Möglichkeit einer systemfremden Popularklage geschaffen. Dadurch steigt die Zahl der potenziellen Antragsteller erheblich. Es wird sich zu jedem potenziell ausbrechenden Rechtsakt ein Beschwerdeführer
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Grundsätzlich zu dieser Tendenz in der Europa-bezogenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts H. Sauer, Der Staat 58 (2019), 7 (29 ff.). 465 Siehe auch hinsichtlich der Lissabon-Entscheidung R. Lehner, Der Staat 52 (2013), 535 (546). Trotz einer grundsätzlichen Befürwortung des Anspruchs auf Demokratie diesen im Fall des EPGÜ ablehnend M. Ludwigs, EuZW 2020, 530 (531). 466 Diese im Fall des EPGÜ-ZustG wegen dessen möglicher, einseitiger Beendigung verneinend K. Schallmoser/A. Haberl, GRUR-Prax 2020, 199 (200); W. Tilmann, GRUR 2020, 441 (442); R. Hofmann/A. Heger, EuGRZ 2020, 176 (185). Diese Möglichkeit ausschließend und mithin die Dauerhaftigkeit bejahend aber T. Giegerich, EuZW 2020, 560 (562). 467 Deutlich kritischer J. H. Klement, ZG 29 (2014), 169 (176). 468 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 106). Siehe hierzu schon 2. Kap., B III 3 a), S. 125. 469 Hierzu sowie allgemein zur geringen normativen Verankerung einiger neuerer Rechtsprechungslinien des Bundesverfassungsgerichts: W. Tillmann, IWRZ 2021, 160 (165). R. Lehner, Der Staat 52 (2013), 535 (538) spricht von einem „kreativ-fluiden Assoziationsvorgang […], dessen normative Grundlagen nicht hinreichend gesichert sind.“
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finden.470 Die Beschränkung des persönlichen Schutzbereichs von Art. 38 Abs. 1 GG auf wahlberechtigte Deutsche471 stellt insoweit kaum einen wirksamen Filter dar.472 Aus dem Blickwinkel der Gewaltengliederung steigt die Macht des Bundesverfassungsgerichts damit erheblich.473 Auch abseits der HoneywellKonstellation bedarf es nun nicht einmal mehr des Antrags einer Oppositionsfraktion zur Kontrolle von Integrationsschritten,474 wodurch das Bundesverfassungsgericht auch gegen einen umfassenden politischen Konsens agieren kann.475 Selbst wenn man die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts zum Anspruch auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der Hoheitsgewalt teilt, überzeugt jedoch das vom Gericht angenommene Verhältnis dieses Anspruchs zum grundrechtlichen Abwehranspruch aus der Honeywell-Konstellation nicht. Nur mit der Rüge einer Verletzung in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG kann in der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts gegen die Missachtung der Pflichten aus der Integrationsverantwortung vorgegangen werden. Das Vorbringen der individuellen Verletzung in einem Grundrecht genüge hier nicht, denn die Integrationsverantwortung wurzele in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG und ließe sich nicht für andere Schutzgüter fruchtbar machen.476 Dadurch wird die Geltendmachung des eigentlich schwächeren Rechts, das keine individuelle Betroffenheit voraussetzt, zur wirksameren Rüge erhoben. Für die Beschränkung der Reichweite des Grundrechtsschutzes gibt es jedoch keinen überzeugenden Grund: Die Integrationsverantwortung ist objektiv-rechtlicher Natur.477 Eine besondere Verbindung mit Art. 38 GG besteht demnach nicht. Die
470 Regelmäßig dürfte sich sogar aufgrund der Kostenfreiheit der Verfassungsbeschwerde eine große Zahl von Beschwerdeführern zusammenfinden. So waren es derer 11794 im ESMVerfahren, 11717 im OMT-Verfahren und 1747 im PSPP-Verfahren. 471 Gänzlich diese persönliche Beschränkung übergehend: H. Sauer, EuR 2017, 186 (191). 472 Zurecht weist H. Gött, EuR 2014, 514 (535) darauf hin, dass hier nicht das Hauptproblem liegt. Dennoch fehlt es auch an dieser Stelle an einem Filter, der den weiten sachlichen Schutzbereich des „Anspruchs auf Demokratie“ hätte begrenzen können. In den erhöhten Substantiierungserfordernissen sieht hingegen W. Kahl, NVwZ 2020, 824 (825) einen ausreichenden Filter. 473 C. Calliess, NVwZ 2020, 897 (898); M. Ludwigs, NVwZ 2015, 537 (540); vgl. J. H. Klement, ZG 29 (2014), 169 (176). Mit Blick auch auf das Institut der formellen Übertragungskontrolle A. Knoth, EuR 2021, 274 (288 f.). Nicht zu Unrecht verweist U. Haltern, AöR 146 (2021), 195 (218) darauf, dass diese Rechtsprechungslinie die Macht des BVerfG zugleich Gefährde, da es seine Legitimität untergrabe. 474 Kritisch daher U. R. Haltern, NVwZ 2020, 817 (820). 475 C. Manger-Nestler, NJ 2016 (355). Positiv bewertet dies W. Kahl, DVBl 2013, 197 (207), der in der Verfassungsbeschwerde ein Korrektiv eines in Integrationsfragen nicht mehr zeitgemäßen politischen Systems sieht. 476 BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 97). 477 C. Ohler, ZG 2020, 95 (97). Siehe nur die Ausführungen in der maßgeblichen Entscheidung BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (351 ff.), die keinen Bezug zum Wahlrecht aufweisen.
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Subjektivierung der objektiv-rechtlichen Pflichten ergibt sich aus dem grundrechtlichen Schutzauftrag.478 3. Organstreitverfahren Beim Organstreitverfahren streiten oberste Bundesorgane, deren Teile oder andere gleichgestellte Beteiligte um grundgesetzliche Rechte und Pflichten.479 Für die prozessuale Geltendmachung bedarf es daher, neben eines tauglichen Antragstellers und -gegners, auch und vor allem eines subjektiven organschaftlichen Rechts des Antragstellers, also einer Kompetenz.480 Diese Kompetenz ist nach § 64 Abs. 1 BVerfGG unmittelbar dem Grundgesetz zu entnehmen. In Ultra-vires-Konstellationen übt ein Unionsorgan Hoheitsrechte aus, die ihm nicht übertragen wurden. Diese Inanspruchnahme übergeht die Integrationskompetenz des Gesetzgebers aus Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG, selbst über die Art und den Umfang der Einräumung von Hoheitsrechten zu entscheiden.481 Der Bundestag, der Bundesrat sowie ihre Organteile können daher gegen Umsetzungsakte sowie eine fehlende Wahrnehmung der Integrationsverantwortung durch Verfassungsorgane vorgehen. Innerhalb eines Organstreitverfahrens sind demnach diverse Ultra-vires-Konstellationen von Antragsteller und -gegner vorstellbar. Die größte Bedeutung hat dabei wohl das prozessstandschaftliche Vorgehen einer Oppositionsfraktion aufgrund eines Verstoßes gegen ein Recht des Bundestags. Als Antragsgegner kommen hier vornehmlich die Bundesregierung und, bemerkenswerterweise, der Bundestag selbst in Betracht.482 In letztgenannter Konstellation handelt es sich dann um einen Intra-Organstreit. Allerdings erschöpft sich die Bedeutung des Organstreits nicht in den Fällen der Berührung der gesetzgeberischen Integrationskompetenz. Wenn eine Unionsstelle außerhalb ihrer Befugnisse tätig wird, leidet darunter zunächst das eigentlich zuständige deutsche Organ. Aus dem Vorrang des Unionsrechts folgt
478 Die Integrationsverantwortung der Verfassungsorgane ausdrücklich als grundrechtliche Schutzpflicht bezeichnend BVerfG, Beschl. v. 29.04.2021 – 2 BvR 1651/15 (PSPP-Vollstreckungsanordnung), NJW 2021, 2187 (Rn. 94). Allgemein zur Schutzpflichtendimension der Grundrechte siehe H. Dreier, in: Dreier, GG Bd. 1, Vorbemerkungen vor Art. 1 GG, Rn. 101 ff.; J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 191; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Bd. III/1, S. 931 ff. 479 S. Detterbeck, Öffentliches Recht, Rn. 561. 480 H. Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 50. EGL. Januar 2017, § 64 BVerfGG, Rn. 60. 481 Ausdrücklich BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 110). 482 Vgl. den Antrag der Fraktion Die Linke gegen den Bundestag mit Beitritt der Bundesregierung auf dessen Seite in BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123. Siehe zu diesem allgemeinen verfassungsprozessualen Problem H. Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 50. EGL. Januar 2017, § 64 BVerfGG, Rn. 85a m.w.N.
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eine nur noch eingeschränkte Möglichkeit zur eigenständigen Regelung der von der europäischen Maßnahme erfassten Fälle. Diese Situation betrifft die Regelungskompetenz der deutschen Organe. Sind diese taugliche Antragsteller im Organstreitverfahren, steht ihnen gegen Umsetzungsakte oder das unterlassene Einschreiten anderer deutscher Organe somit der Weg zum Verfassungsgericht offen. Allerdings kam es bisher noch zu keinen derartigen Verfahren, sodass noch nicht sicher beurteilt werden kann, wie das Gericht hierzu steht. Aus der Perspektive von Gesetzgebungsorganen stellt eine Missachtung ihrer Regelungskompetenz immer auch eine Verletzung der Integrationskompetenz dar, sodass hier wohl immer die Verletzung von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG maßgeblich sein dürfte. In gewisser Weise ist der Organstreit der systematische Regelfall der Ultravires-Kontrolle. Er behandelt Fälle zum Schutz der Integrationskompetenz der Gesetzgebungsorgane. Genau diese Befugnisse zur Schaffung eines Integrationsprogramms und zur Festsetzung seiner Grenzen bilden den Kern des Schutzzwecks des Vorbehalts. Zwar hat auch der Bürger einen Anspruch darauf, nicht von einer fremden Hoheitsgewalt außerhalb dieses Programmes berührt zu werden – originär handelt es sich jedoch um ein Recht der Legislative. In der Praxis dürfte dem Organstreit heute eine primär symbolische Funktion zukommen, denn nahezu jeder Organwalter hat in seiner Eigenschaft als natürliche Person und Grundrechtsträger die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde zu erheben.483 Dies stellt schon regelmäßig deshalb das vorzugswürdige Vorgehen dar, weil für den Organstreit innerhalb von Kollegialorganen eine Notwendigkeit zur Abstimmung und zur Erreichung eines Mehrheitsbeschlusses besteht.484 Die bisherige Rechtsprechung zur Eurorettung wurde beispielsweise durch Verfassungsbeschwerden des damaligen Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler angetrieben, dessen Unions-Bundestagsfraktion die Eurorettungsmaßnahmen maßgeblich mitverantwortete. Ein weiterer Vorteil der Verfassungsbeschwerde besteht in der Frist von einem Jahr nach § 93 Abs. 3 BVerfGG statt 6 Monaten nach § 64 Abs. 3 BVerfGG. 4. Normenkontrollverfahren Von Relevanz sind weiterhin das konkrete und das abstrakte Normenkontrollverfahren. Verfahrensgegenstand kann zunächst nur das materielle Recht des Bundes oder eines der Länder sein (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 2a GG; Art. 100 Abs. 1 GG; § 76 Abs. 1 BVerfGG; § 80 Abs. 1 BVerfGG). Aufgrund der Beschränkung des Beschwerdegegenstands auf Normen können sonstige Maßnah-
483
Dies gilt zumindest dann, wenn er Wahlberechtigter i.S.d. Art. 38 Abs. 1 GG ist, was regelmäßig der Fall sein dürfte. 484 Gleiches gilt für Organteile – auch innerhalb einer Fraktion müsste zunächst eine Mehrheit für die Initiierung eines Verfahrens erzielt werden.
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men der deutschen Hoheitsgewalt nicht angegriffen werden. Ebenso ist das Unterlassen einer Normsetzung nicht durch die Normenkontrolle angreifbar.485 Ihre Bedeutung erhalten die Verfahrensarten demnach primär im Richtlinienrecht mit dem nationalen Umsetzungsgesetz als prozessualem Anknüpfungspunkt.486 Daneben sind auch die bereits genannten Fälle vorstellbar, in denen das europäische Recht in anderer Weise für die Geltung einer nationalen Norm essenziell ist.487 Die Normenkontrolle ist auf die Überprüfung der Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht gerichtet. Auf der Ebene des Kontrollmaßstabs spielen also weder das Europarecht noch das nationale Integrationsprogramm eine unmittelbare Rolle. Es wäre dennoch verfehlt anzunehmen, Normenkontrollverfahren eröffneten mangels verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs nicht den Weg zur Ultra-vires-Kontrolle:488 In Ultra-vires-Konstellationen wird das streitgegenständliche Handeln oder Unterlassen an Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG gemessen.489 Lediglich im Rahmen dieser Prüfung ist maßgeblich, ob sich das Handeln der Union innerhalb der Grenzen des einfachgesetzlichen Zustimmungsgesetzes bewegt. Allerdings stellt sich ein anderes, grundsätzliches Problem: Wenn Unionsakte nicht unmittelbar dem Verfassungsgericht vorgelegt werden können, ist fraglich, inwieweit der Normenkontrolle überhaupt ein eigener Anwendungsbereich verbleibt. Verabschiedet der deutsche Gesetzgeber eine Norm, vermittelt er möglicherweise selbst ausreichende demokratische Legitimation. Daher wird vertreten, Gesetze auf Grundlage eines Ultra-vires-Akts seien nicht per se rechtswidrig. Teilt man diese Ansicht, so sind Normenkontrollanträge mit der Rüge der Umsetzung einer kompetenzübergreifenden Richtlinie grundsätzlich unbegründet. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu diesem materiell-rechtlichen Problem bislang nicht geäußert.490 Nach hier vertretener Ansicht führt die fehlende Geltung der europäischen Rechtsgrundlage nicht reflexartig zur Rechtswidrigkeit des deutschen Umsetzungsgesetzes.491 Jedoch führt die fehlende Geltung des Unionsrechts auch dazu, dass für den deutschen Gesetzgeber die Bindung an die Grundrechte des Grundgesetzes wieder auflebt, da kein Sachverhalt mit Bezug zum Unionsrecht mehr vorliegt.492 In diesem Fall würde die Ultra-vires-Kontrolle den Weg für eine Grundrechtskontrolle eröffnen. 485 BVerfG, Beschl. v. 26.07.2016 – 1 BvL 8/15 (Zwangsbehandlung), BVerfGE 142, 313 (Rn. 54); J. Rozek, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 52. EGL. September 2017, § 76 BVerfGG, Rn. 19. 486 J. Rozek, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 52. EGL. September 2017, § 76 BVerfGG, Rn. 37. 487 Siehe 2. Kap., C III 2, S. 138 u. 3. Kap., B III 1, S. 270 ff. 488 Jedoch zumindest in diese Richtung andenkend J. Kokott, AöR 119 (1994), 207 (221 f.). 489 Vgl. BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (2. Ls., Rn. 115). 490 Eine Auseinandersetzung mit der Frage findet sich unter 3. Kap., B III I 1 a), S. 271 ff. 491 Siehe 3. Kap., B III 1 a), S. 274. 492 R. Hutka, Gemeinschaftsrechtsbezogene Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
a) Abstrakte Normenkontrolle Die abstrakte Normenkontrolle ermöglicht die Initiierung eines Verfahrens durch die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestags. Dadurch entsteht eine prozessuale Konkurrenz zu anderen Antragsarten: So können die Regierung und ein Viertel des Bundestags auch ein Organstreitverfahren anstreben, die Landesregierungen einen Bund-LänderStreit. Für diese Organe geht es also neben der Zulässigkeit eines Verfahrens auch um die Wahl der zweckmäßigen Verfahrensart. Angesichts der für die Ultra-viresKontrolle identischen Prüfungsmaßstäbe kommt es nur auf die Unterschiede hinsichtlich des zulässigen Antragsgegenstands sowie der Frist an. Attraktiv aus der Perspektive des Antragstellers ist die fehlende Frist für die Erhebung eines abstrakten Normenkontrollantrags. Während sowohl die Verfassungsbeschwerde (hier ein Jahr, § 93 Abs. 3 BVerfGG) als auch der Organstreit (sechs Monate, § 64 Abs. 3 BVerfGG) und der Bund-Länder-Streit (sechs Monate, § 69 i.V.m. § 64 Abs. 3 BVerfGG) zeitlich nur begrenzt möglich sind, kann der Normenkontrollantrag zeitlich unbegrenzt angestrebt werden. Hier eröffnen sich Möglichkeiten, über Legislaturperioden hinaus noch Einfluss auf das in Rede stehende Gesetz zu nehmen. Dies ist vor allem deshalb relevant, weil ein bestimmtes Gesetz womöglich erst lange Zeit nach seinem Inkrafttreten, also auch nach Ablauf der Fristen sonstiger Verfahrensarten, eine Bedeutung erlangt, die eine Ultra-vires-Kontrolle erforderlich macht. Zum Beispiel könnte die unter kompetenziellen Gesichtspunkten kritische Wirkung einer Norm erstmals bei ihrer späteren Anwendung auf einen bestimmten Sachverhalt erkennbar werden. Ferner eröffnet die fehlende Klagefrist auch solchen politischen Gruppen eine Klagemöglichkeit, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes noch keinen Fraktionsstatus hatten. b) Konkrete Normenkontrolle Die konkrete Normenkontrolle gestaltet sich deutlich komplexer. Eine Ultravires-Konstellation beschäftigt dort mindestens drei Gerichte: In den Dualismus von EuGH und Bundesverfassungsgericht tritt das deutsche Fachgericht ein. Die für das Fachgericht primär maßgeblichen deutschen (einfachen) Gesetze lassen sich im Grundsatz sowohl an den europäischen Normen als auch an jenen des höherrangigen nationalen Rechts messen. Dementsprechend hat es bei seiner Urteilsfindung die Rechtsprechung der beiden anderen Gerichte zu berücksichtigen. Hält das Gericht ein deutsches Gesetz für europarechtlich bedenklich, steht ihm der Weg des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 2 AEUV of-
deutschen Verwaltung gegenüber Rechtsnormen nach europäischem Gemeinschaftsrecht und nach deutschem Recht, S. 386. In diese Richtung lässt sich auch BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 115) verstehen.
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fen (oder es ist sogar nach Abs. 3 zu diesem Weg verpflichtet). Hält es eine Norm für verfassungswidrig, so steht ihm die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr. 11a, § 80 ff. BVerfGG zur Verfügung. Eine Sondersituation besteht, wenn sowohl die Bedingungen für ein Vorabentscheidungsverwahren als auch für einen Antrag auf konkrete Normenkontrolle erfüllt sind: Hier gibt es keine gesetzliche Priorität hinsichtlich des zu wählenden Vorgehens.493 Eine nach erfolgreicher Normenkontrolle für unwirksam erklärte deutsche Norm ist rechtlich unerheblich, womit die Notwendigkeit für eine Befassung des Gerichtshofs entfällt. Ebenso erfordert eine möglicherweise komplett durch europäisches Recht verdrängte deutsche Norm mangels Entscheidungserheblichkeit nach § 80 Abs. 2 BVerfGG auch keine Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht.494 Es obliegt also dem Fachgericht im Sinne der Prozessökonomie und damit auch des Beschleunigungsgrundsatzes, eine Auswahlentscheidung zu treffen. Ist bei keinem Gericht erkennbar eine schnellere Entscheidung zu erwarten, dürften im Regelfall gute Gründe für eine vorrangige Befassung des Bundesverfassungsgerichts sprechen. Insbesondere kann der EuGH eine Norm nicht für ungültig erklären. Seine Antwort auf die Vorlagefrage führt allenfalls dazu, dass die deutsche Norm in bestimmten Konstellationen unanwendbar ist – ihr weiteres Schicksal, über den entschiedenen Einzelfall hinaus, bleibt im Unklaren. Wird das Bundesverfassungsgericht zuerst befragt, besteht die Möglichkeit einer Nichtigkeitserklärung – diese betrifft dann alle denkbaren Fälle und dient damit in höherem Maße der Rechtsklarheit. In Ultra-vires-Konstellationen jedoch wirken europäische und nationale Ebene gegeneinander. Das Fachgericht wird hier mit sich widersprechenden Aussagen der Rechtsordnungen konfrontiert. Vergleichsweise unproblematisch ist der Fall eines deutschen Umsetzungsgesetzes, das europarechtlich unbedenklich ist, aber auf einer in Deutschland nicht anwendbaren Richtlinie beruht. Hier kommt lediglich ein Antrag auf konkrete Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht in Betracht. Eine eigene Verwerfungskompetenz besitzt das Fachgericht nicht.495 Problematischer ist folgende Konstellation: Ein Fachgericht hat Zweifel an der Unionsrechtskonformität eines deutschen Gesetzes und ersucht den EuGH um Vorabentscheidung. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass das Europarecht einer bestimmten Auslegung des nationalen Rechts entgegensteht. Diese Entscheidung des Gerichtshofs steht aber aus Sicht des Fachgerichts in Verdacht, aufgrund methodischer Mängel ultra vires ergangen zu sein.
493
BVerfG, Beschl. v. 11.07.2006 – 1 BvL 4/00 (Tariftreueregelung), BVerfGE 116, 202 (214); R. Geimer, in: Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, ZPO Einleitung, Rn. 111b. Nicht mehr jedoch bei R. Geimer, in: Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, ZPO Einleitung. 494 BVerfG, Beschl. v. 11.07.2006 – 1 BvL 4/00 (Tariftreueregelung), BVerfGE 116, 202 (215). 495 Siehe 2. Kap., C I, S. 129 ff.
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
Exakt dieser Situation sah sich das Bundesarbeitsgericht im sogenannten Chefarzt-Fall ausgesetzt.496 Die Prozesshistorie in diesem Fall ist beinahe ebenso bemerkenswert wie die materiellrechtlichen Fragestellungen: Streitgegenständlich war die Kündigung eines Chefarztes eines katholischen Krankenhauses. Die Arbeitgeberin, die Caritas, sah in der Wiederheirat ihres Arbeitnehmers einen Verstoß gegen die arbeitsvertraglich kodifizierten Inhalte der katholischen Glaubenslehre. Das „Leben in kirchlich ungültiger Ehe oder eheähnlicher Gemeinschaft“ war als außerordentlicher Kündigungsgrund im Arbeitsvertrag festgehalten worden. In der Folge wurde dem Chefarzt fristgerecht gekündigt. Nach Urteilen des Arbeitsgerichts Düsseldorf497 und des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf498 im Kündigungsschutzprozess befasste sich schließlich das Bundesarbeitsgericht erstmals mit dem Sachverhalt.499 Juristische Relevanz hatte dabei insbesondere die Auslegung von § 9 Abs. 1, Abs. 2 AGG: Hiernach dürfen Religionsgemeinschaften und die ihnen zugeordneten Einrichtungen hinsichtlich der Religionszugehörigkeit ihrer Arbeitnehmer diskriminieren (Abs. 1). Ebenso wird ihnen das Recht gewährt, vom Arbeitnehmer loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne ihres jeweiligen religiösen Selbstverständnisses zu verlangen. Damit stellt § 9 AGG eine Ausnahme zum Diskriminierungsverbot in § 7 i.V.m. § 1 AGG dar. Das deutsche Recht fußt auf der europäischen Richtlinie 2000/78 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Während das Diskriminierungsverbot auf den Regelungen der Art. 2 und 1 der Richtlinie beruht, ist § 9 AGG eine Ausgestaltung von Art. 4 Abs. 2, der Ausnahmetatbestände für religiös gebundene Arbeitgeber zulässt. Aus europarechtlicher Sicht stellt sich angesichts von § 9 AGG daher die Frage, ob die Grenzen des Art. 4 Abs. 2 Richtlinie 2000/78 überschritten werden. Das BAG wählte zunächst eine für deutsche Verhältnisse recht enge Auslegung von § 9 AGG. Es sei zwar Sache der verfassten Kirchen verbindlich zu bestimmen, welches Verhalten die Glaubwürdigkeit der Kirche und der kirchlichen Einrichtung erfordert und welches die zu beachtenden Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre sind.500 Demnach unterliege weder die Frage, ob einen Chefarzt besondere Loyalitätsanforderungen treffen, noch die Frage der Ausgestaltung dieser Anforderungen der Überprüfung durch das Gericht. Allerdings sei das Interesse des Arbeitgebers an einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht absolut, sondern es müsse mit dem Interesse des Arbeitnehmers an einer
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BAG, Beschl. v. 28.07.2016 – 2 AZR 746/14 (Chefarzt-Vorlagebeschluss), juris. Siehe grundsätzlich zu diesem Verfahren P. Stein, AuR 2020, 7. 497 ArbG Düsseldorf, Urt. v. 30.07.2009 – 6 Ca 2377/09 (Chefarzt-Entscheidung), juris. 498 LAG Düsseldorf, Urt. v. 01.07.2010 – 5 Sa 996/09 (Chefarzt-Entscheidung), MedR 2011, 169. 499 BAG, Urt. v. 08.09.2011 – 2 AZR 543/10 (Chefarzt-Entscheidung I), BAGE 139, 144. 500 BAG, Urt. v. 08.09.2011 – 2 AZR 543/10 (Chefarzt-Entscheidung I), BAGE 139, 144 (Rn. 24).
C. Die Kontrolle im gerichtlichen Verfahren
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Weiterbeschäftigung abgewogen werden.501 Im Ergebnis entschied das BAG zugunsten des Chefarztes, weswegen eine Befassung des EuGH mit der Frage nach der Unionsrechtskonformität des § 9 AGG mangels Entscheidungserheblichkeit zunächst nicht zulässig war. Auf eine Verfassungsbeschwerde der Arbeitgeberin hin verwies das Bundesverfassungsgericht den Streit erneut an das BAG. Dieses habe in unzulässiger Weise seine eigene Bewertung der Schwere des Loyalitätsverstoßes an Stelle jener der Caritas gesetzt.502 Das BAG erhielt also eine dem deutschen Verfassungsrecht entspringende Vorgabe zur Auslegung von § 9 AGG. Erst jetzt stellt sich tatsächlich die Frage, ob eine derartige Auslegung der Norm europarechtskonform ist, denn die Anwendbarkeit von § 9 AGG entschied nun über die Rechtmäßigkeit der Kündigung. Dementsprechend legte das BAG dem EuGH die Frage nach der Vereinbarkeit des § 9 AGG (in seinem durch das Bundesverfassungsgericht vorgegeben Verständnis) mit Art. 4 Abs. 2 Richtlinie 2000/78 vor.503 Der EuGH interpretierte die europäische Rechtslage dergestalt, dass die Anforderungen des kirchlichen Arbeitgebers an die Loyalität seiner Arbeitnehmer einer vollständigen gerichtlichen Kontrolle unterliegen.504 Diese Entscheidung des Gerichtshofs steht in Teilen der deutschen Rechtswissenschaft allerdings in der Kritik: Der Union fehle es angesichts von Art. 17 AEUV, welcher der Union die Achtung der mitgliedstaatlich gewährten kirchlichen Rechte aufträgt, an einer Kompetenz zur Beeinträchtigung des Status der Kirchen nach dem Grundgesetz.505 In diesem Zusammenhang wurde das Kirchenarbeitsrecht bis zuletzt als „unionsfest“ beschrieben.506 Das BAG folgte schließlich der Ansicht des EuGH und urteilte abermals zugunsten des Klägers.507 Dabei prüfte das Gericht, ob es sich bei der Entschei-
501 BAG, Urt. v. 08.09.2011 – 2 AZR 543/10 (Chefarzt-Entscheidung I), BAGE 139, 144 (insb. Rn. 38 ff.). 502 BVerfG, Beschl. v. 22.10.2014 – 2 BvR 661/12 (Chefarzt-Entscheidung), BVerfGE 137, 273 (Rn. 163 ff.). 503 BAG, Beschl. v. 28.07.2016 – 2 AZR 746/14 (Chefarzt-Vorlagebeschluss), juris. 504 EuGH, Urt. v. 11.09.2018 – C-68/17 (Chefarzt-Entscheidung), ECLI:EU:C:2018:696 (Rn. 46 ff.). Allgemein zu dieser Entscheidung A. Schneedorf, NJW 2019, 177; M. Fuhlrott, EuZW 2018, 857. 505 H. Schliemann, NZA Editorial 2018. Als „plausibel“ bezeichnen G. Thüsing/R. Mathy, BB 2018, 2805 (2808) den Ultra-vires-Vorwurf. Ähnlich mit Blick auf die vergleichbare Egenberger-Entscheidung S. Greiner, JM 2018, 233 (235). A.A. P. Stein, AuR 2020, 7 (10); A. Tischbirek, Der Staat 58 (2019), 621 (628 ff.); C. D. Classen, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 68. EGL. Oktober 2019, Art. 17 AEUV, Rn. 63. 506 R. Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, S. 14. 507 BAG, Urt. v. 20.02.2019 – 2 AZR 746/14 (Chefarzt-Entscheidung II), BAGE 166, 1. Die Beklagte gab im Anschluss bekannt, auf die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde zu verzichten, womit das Verfahren seinen Abschluss gefunden hat, siehe die Mitteilung des Erzbistums Köln vom 02.07.2019, abrufbar unter https://www.erzbistum-koeln.de/news/KeineVerfassungsbeschwerde-im-Chefarzt-Fall/ (zuletzt geprüft am 20.04.2023).
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
dung des EuGH um einen Ultra-vires-Akt handeln könnte.508 Das Gericht hielt die Urteilsbegründung des EuGH für methodisch vertretbar und damit auch für bindend. Offen bleibt allerdings, welche Möglichkeit dem BAG bei einem gegenteiligen Befund verblieben wäre. Das Gericht ging offenbar davon aus, es könne Rechtsnormen der Union, in diesem Fall Art. 4 Abs. 2 Richtlinie 2000/78 unmittelbar dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG analog vorlegen.509 Es übernahm insoweit wohl die frühere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage.510 Dies widerspricht jedoch der im OMT-Urteil festgehaltenen Notwendigkeit eines deutschen hoheitlichen Handels als Verfahrensgegenstand vor dem Bundesverfassungsgericht. Auch in der Literatur wird teilweise gefordert, zur Vermeidung von Rechtsschutzlücken müsse im Verfahren der konkreten Normenkontrolle eine Ausnahme gemacht werden.511 Hat das Fachgericht keine Vorlagemöglichkeit, so gehe seine Prüfungspflicht ins Leere. Dem ist nur eingeschränkt zuzustimmen. Die Anerkennung einer Vorlagemöglichkeit analog Art. 100 Abs. 1 GG stellt fraglos den einfachsten Weg zum Bundesverfassungsgericht dar. Dogmatisch tragfähig ist dieser aufgrund der fehlenden Verfassungsbindung der Unionsorgane allerdings nicht.512 Zudem entstehen keine bedenklichen Rechtsschutzlücken bei der Annahme einer Unzulässigkeit der Normenkontrolle: Die Prozessparteien haben ihrerseits die Möglichkeit, Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Fachgerichts zu erheben, wenn dieses eine Ultra-vires-Entscheidung des EuGH umsetzt. Auch im laufenden Verfahren kann das Fachgericht bereits einen sachdienlichen Hinweis an die Parteien richten, dass es von einem Ultra-vires-Akt ausgeht. Dann kommt den Parteien schon vor der Entscheidung die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde wegen einer Verletzung von Art. 38 Abs. 1 GG zu. Diese könnte sich gegen das pflichtwidrige Unterlassen eines Staatsorgans richten, den kompetenzüberschreitenden Unionsakt zu verhindern, oder seine Folgen zu beseitigen. Das Verfahren vor dem Fachgericht könnte in diesem Fall nach den Regeln der jeweils einschlägigen Verfahrensordnung ausgesetzt werden.513 Nicht überzeugend wäre es im vorliegenden Fall, § 9 AGG in einer das Urteil des EuGH berücksichtigenden Auslegung der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht zuzuführen. Zwar läge hier grundsätzlich ein tauglicher Kon508 BAG, Urt. v. 20.02.2019 – 2 AZR 746/14 (Chefarzt-Entscheidung II), BAGE 166, 1 (Rn. 49 ff.). 509 BAG, Urt. v. 20.02.2019 – 2 AZR 746/14 (Chefarzt-Entscheidung II), BAGE 166, 1 (Rn. 56), siehe auch BAG, Urt. v. 25.10.2018 – 8 AZR 501/14 (Egenberger), BAGE 164, 117 (Rn. 117). 510 Siehe noch 2. Kap., C I, S. 131 f. 511 F. Wollenschläger, in: Dreier, GG Bd. 2, Art. 23 GG, Rn. 170. Zumindest in Erwägung ziehend M. Ludwigs/P. Sikora, EWS 2016, 215 (221). Wie hier aber C. Hillgruber/C. Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn. 1188. 512 Siehe 2. Kap., C III 1, S. 131 f. 513 So z.B. § 148 ZPO und § 94 VwGO.
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trollgegenstand in Gestalt eines Bundesgesetzes vor. Jedoch wäre es widersprüchlich, auf Ebene der Auslegung ein Urteil des EuGH zu berücksichtigen, welches man selbst für ultra vires hält.514 Das Fachgericht kann demnach nicht unmittelbar selbst eine bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung erwirken. Es ist daher verpflichtet, ein materiell verfassungswidriges Urteil zu fällen, weshalb eine Lösung dieses Problems de lege ferenda wünschenswert wäre. Beispielsweise könnten Fachgerichte die Befugnis erhalten, beim Bundesverfassungsgericht zu erfragen, ob sie an ein Urteil des EuGH gebunden sind. Dies wäre ein Weg, der Asynchronität von Prüfungspflicht und fehlender Vorlageberechtigung entgegenzutreten. In jedem Fall aber zeigt sich eine problematische Konsequenz aus dem Zusammenwirken der drei Gerichtsebenen auf: Wäre das Bundesverfassungsgericht ein weiteres Mal angerufen worden und hätte in Art. 4 Abs. 2 Richtlinie 2000/78 einen ausbrechenden Rechtsakt wahrgenommen, hätte es dem EuGH das Verfahren unter diesem bestimmten Aspekt erneut vorlegen müssen. Im Falle einer Ultra-vires-Erklärung hätte wohl zuletzt wieder das BAG entscheiden müssen. Dann hätte der Rechtsstreit, vom ersten Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf aus gerechnet, elf Prozessstationen umfasst. Effektiver Rechtsschutz kann bei einer derart langen Verfahrensdauer kaum gewährt werden. 5. Bund-Länder-Streit Zuletzt nennt das Bundesverfassungsgericht auch den Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4, § 13 Nr. 7 BVerfGG, §§ 68 f. BVerfGG) als möglichen Weg in eine Ultra-vires-Prüfung. Bisher hat sich eine solche Konstellation allerdings noch nie ergeben. Dieser Umstand sollte allerdings nicht über die denkbare Relevanz dieser Verfahrensart hinwegtäuschen. Bei dem Bund-Länder-Streit handelt es sich um ein kontradiktorisches Verfahren zwischen dem Bund und einem Land, zwischen verschiedenen Ländern oder innerhalb eines Landes.515 Nach § 68 BVerfGG wird der Bund durch die Bundesregierung, die Länder durch die Landesregierungen vertreten. Für die Ultra-vires-Kontrolle ist vor allem die Variante des Prozesses eines Landes gegen den Bund von Bedeutung. Die Bundesorgane verfügen zum Teil über eigene Beteiligungsmöglichkeiten beim Erlass europäischer Akte. Zudem haben sie weitreichendere politische Einflussnahmemöglichkeiten als die Länder, was sie in die Lage versetzt, ihre Integrationsverantwortung effektiv wahrzunehmen. Aber auch Bund-Länder-Streitigkeiten gegen eine Maßnahme eines Landes sind vorstellbar. Wenn ein Organ eines Bundeslandes eine Maßnahme auf
514 Selbst wenn man diesen Weg für statthaft hielte, etwa unter Verweis auf die fehlende Befugnis des Fachberichts, das Urteil des EuGH selbst für ultra vires zu erklären, so blieben dennoch Rechtsschutzlücken bestehen. Dies gilt zum Beispiel für Fälle, in denen der EuGH ultra vires über die Auslegung einer unmittelbar anwendbaren Verordnung entscheidet. 515 H. Lechner/R. Zuck, in: Lechner/Zuck, BVerfGG, § 69 BVerfGG, Rn. 1.
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
Grundlage eines Ultra-vires-Akts vornimmt, so missachtet es dabei die Integrationskompetenz des Bundesgesetzgebers und damit ein sich aus dem Grundgesetz ergebendes Recht im Sinne des § 69 BVerfGG i.V.m. § 64 Abs. 1 BVerfGG.516 Dies gilt unabhängig davon, ob die Verfassungsorgane der Bundesländer selbst Träger der Integrationsverantwortung sind,517 da bei einer bundesverfassungsgerichtlichen Feststellung der Ultra-vires-Eigenschaft eines Unionsakts allen deutschen Behörden die „Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung“ des Akts untersagt ist.518 § 69 BVerfGG verweist auf die §§ 64 bis 67 BVerfGG, wodurch sich die Voraussetzungen für den Bund-Länder-Streit an denen des Organstreitverfahrens ausrichten. So gilt für den Verfahrensgegenstand grundsätzlich das zum Organstreit Ausgeführte; sachliche Beschränkungen wie in den Normenkontrollverfahren existieren nicht. Auch Unterlassungen können Verfahrensgegenstand sein,519 wodurch entsprechende Fälle der Integrationsverantwortung in dieser Verfahrensart vorgetragen werden können. Die Antragsbefugnis setzt voraus, dass der Antragsteller geltend macht, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten verletzt oder unmittelbar gefährdet zu sein. Nicht jeder ausbrechende Rechtsakt greift aber in grundgesetzlich geschützte Rechtspositionen der Länder ein. Subjektive Rechte der Länder sind nur ihre Statusrechte und Kompetenzen.520 Gerade letztere spielen in Ultra-vires-Konstellationen eine Rolle: Ebenso wie die Europäische Union durch eine ausbrechende Maßnahme in die Regelungskompetenz des Bundestags eingreifen kann, kann sie auch in jene der Länder eingreifen. In Fällen eines Ultra-vires-Akts im Bereich der Länderkompetenzen wird damit sowohl in Rechte der Länder als auch in die Integrationskompetenz des Bundesgesetzgebers eingegriffen – hier existiert also ein größerer Bereich potenzieller Antragsteller vor dem Bundesverfassungsgericht. Ein Fall des Bund-Länder-Streits mit inzidenter Ultra-vires-Kontrolle lässt sich am Beispiel des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur EWG-Fernsehrichtlinie konstruieren.521 Streitgegenständlich war damals die nach Ansicht der 516
Zur Notwendigkeit eines grundgesetzlichen Rechts, siehe J. Wieland, in: Dreier, GG Bd. 3, Art. 93 GG, Rn. 74. 517 Hierzu W. Weiß, JuS 2019, 97. 518 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 234). Ablehnend L. Hartmann, Der Staat 60 (2021), 387 (426), der der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts konstitutive Wirkung zuspricht. Die rechtliche Bindung dieser Nichtigkeitserklärung des Unionsrechts sei aber für deutsche Stellen nicht bindend, da § 31 Abs. 1 BVerfGG im Rang hinter dem ultra vires gesetzten Unionsrecht zurückbleibe. Die These von der konstitutiven Wirkung des Urteils wird hier jedoch nicht geteilt. 519 H. Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 61. EGL. Juli 2021, § 69 BVerfGG, Rn. 46 ff. 520 C. Johann, in: Walter/Grünewald, BVerfGG, § 69 BVerfGG, Rn. 7. 521 BVerfG, Urt. v. 22.03.1995 – 2 BvG 1/89 (EWG-Fernsehrichtlinie), BVerfGE 92, 203; grundlegend mit Bezug auf die kompetenzielle Ebene: M. Pechstein, Jura 1995, 581.
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Länder mangelnde Rücksichtname der Bundesregierung auf die verfassungsmäßigen Rechte der Länder im Entstehungsprozess der Richtlinie (98/552/ EWG). Der Bund hatte sich an Verhandlungen im Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Harmonisierung im Bereich der Rundfunkordnung beteiligt. Obwohl die Rundfunkordnung Teil der Kulturhoheit und nach Art. 30 GG Sache der Länder ist, fand keine ausreichende Abstimmung mit den Ländern statt. Interessant aus der Perspektive dieser Arbeit ist, dass sich das Land Bayern als Initiator des Verfahrens von Beginn an auch auf den ausbrechenden Charakter der Fernsehrichtlinie berufen hat. Diese sei in Teilen nicht von der beanspruchten Kompetenz zur Koordinierung im Bereich des Dienstleistungsverkehrs nach Art. 57 Abs. 2 und Art. 66 EWG-V gedeckt. Problematisch war hier eine von Frankreich angeregte feste Quote zur Ausstrahlung von in der Gemeinschaft produzierten Inhalten. Auch wenn die Bundesregierung selbst die Einführung einer Quote für ultra vires hielt, vermochte sie es nicht, eine Streichung aus dem Richtlinienentwurf zu erreichen. Ihr gelang lediglich die Durchsetzung einer einschränkenden Protokollerklärung, von der aber unklar war, inwieweit sie die rechtliche Verbindlichkeit der Quote beeinflusst. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass eine Zustimmung des deutschen Vertreters im Rat zu dieser endgültigen Fassung, ohne Abstimmung mit den Ländern über diese, einen Verstoß gegen Art. 70 Abs. 1, Art. 24 Abs. 1 GG und den Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens darstellte.522 Unabhängig von der Frage, ob die Kompetenzen der Union im Einzelfall tatsächlich überschritten wurden, war die fehlende Einbeziehung der betroffenen Länder bereits ein Verfassungsverstoß – allein deshalb konnte auf eine Ultra-vires-Kontrolle verzichtet werden. Es sind aber durchaus Konstellationen vorstellbar, in denen die Kontrolle nicht entbehrlich ist. Angenommen, der Bund hätte im Fernsehrichtlinien-Verfahren die Abstimmung mit den Ländern gesucht und diese hätten dem Verhandlungsergebnis mehrheitlich zugestimmt. Auch dann stünde es noch dem einzelnen Bundesland frei, auf seine Regelungskompetenz aus Art. 70 Abs. 1 GG zu bestehen und diese in einem Bund-Länder-Streit geltend zu machen. Streitgegenständlich wäre dann nicht die mangelnde Abstimmung mit dem Land, sondern die Beteiligung eines Bundesorgans an der Veräußerung von Gesetzgebungskompetenzen des Bundeslands an die EU oder das fehlende Verhindern der Veräußerung. Das Bundesverfassungsgericht wäre dann in der Pflicht, über die Kompetenzgemäßheit der Richtlinie zu entscheiden. Der Bund-Länder-Streit hat in Ultra-vires-Konstellationen eine Schnittmenge an Konstellationen mit der abstrakten Normenkontrolle. Die Landesregierungen sind auch im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle antragsberechtigt und haben so nach herrschender Meinung bei einem Vorgehen gegen gesetzliches Handeln des Bundes ein Wahlrecht zwischen der Normenkontrolle
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BVerfG, Urt. v. 22.03.1995 – 2 BvG 1/89 (EWG-Fernsehrichtlinie), BVerfGE 92, 203 (243 f.).
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und dem Bund-Länder-Streit.523 Zudem haben die Länder über den Bundesrat zumindest kollektiv die Möglichkeit, ihre Mitwirkungsrechte an der Bundesgesetzgebung im Organstreitverfahren geltend zu machen. Auch die Frist orientiert sich an jener im Organstreitverfahren. Gemäß § 69 i.V.m. § 64 Abs. 3 BVerfGG muss der Antrag binnen sechs Monaten, nachdem die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt geworden ist, gestellt werden. Insoweit kann hierin ein Vorteil der nicht fristgebundenen abstrakten Normenkontrolle liegen. Ein weiterer Vorteil der abstrakten Normenkontrolle liegt in der Gestaltungswirkung des Urteils gemäß § 78 BVerfGG.524 6. Verfahren im Eilrechtsschutz Unabhängig von der konkreten Verfahrensart verfügt das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG über die Möglichkeit, einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig zu regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Eine Ultra-vires-Kontrolle soll jedoch nach neuerer Auffassung525 des Bundesverfassungsgerichts nicht im Rahmen des Eilrechtsschutzes durchgeführt werden können.526 Zur Begründung führt es aus, die europäische Maßnahme könne im Hauptverfahren durch den EuGH für nichtig oder durch das Bundesverfassungsgericht für in Deutschland unanwendbar erklärt werden. Im letztgenannten Fall müssten ihr Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat mit geeigneten Mitteln entgegentreten.527 Diese Argumentation überzeugt jedoch nicht528: Die Statthaftigkeit eines Eilverfahrens wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein Antrag im Hauptsacheverfahren Erfolg haben kann und die rechtswidrige Maßnahme mit Wirkung für die Zukunft beseitigt werden kann. Bis zur Verkündung einer endgültigen Entscheidung können, wie das Bundesverfassungsgericht selbst anerkennt,529 mehrere Jahre vergehen. In dieser Zeit übt die 523
C. Johann, in: Walter/Grünewald, BVerfGG, § 68 BVerfGG, Rn. 6. Zum Bund-Länder-Streit H. Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 61. EGL. Juli 2021, § 69 BVerfGG, Rn. 163 ff. 525 Anders noch BVerfG, Beschl. v. 07.12.2016 – 2 BvR 1444/16 (CETA-Beschluss II), BVerfGE 144, 1 (Rn. 4, 8, 27 f.), wo die Möglichkeit eines Ultra-vires-Akts in der Sache erörtert wurde. 526 BVerfG, Beschl. v. 15.04.2021 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Eilantrag), BVerfGE 157, 332 (Rn. 72, 105, 110). 527 BVerfG, Beschl. v. 15.04.2021 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Eilantrag), BVerfGE 157, 332 (Rn. 72). 528 Von einer Relativierung der Bedeutung der Ultra-vires-Kontrolle im Rahmen der Verfassungsbeschwerde sprechen C. Walter/P. Nedelcu, Die Relativierung der ultra-vires-Kontrolle im Eilrechtsschutz, Verfassungsblog. 529 Das Gericht geht im Falle einer Vorlage an den EuGH von einer gesamten Verfahrensdauer von zwei bis drei Jahren aus, BVerfG, Beschl. v. 15.04.2021 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Eilantrag), BVerfGE 157, 332 (Rn. 105). 524
C. Die Kontrolle im gerichtlichen Verfahren
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Union potenziell vertragswidrig Kompetenzen aus. Diese nicht legitimierte Ausübung von Hoheitsrechten lässt sich nicht ex tunc beseitigen.530 Insbesondere wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht im einzelnen Ultra-vires-Akt eine Verletzung des Kerns des Anspruchs auf Demokratie531 und somit auch der Menschenwürde des Einzelnen sieht, bleibt völlig unklar, warum der einzelne Wahlberechtigte eine derartige Verletzung seiner Rechte vorübergehend tolerieren müsste. Auch unter dem Gesichtspunkt der Unionsrechtsfreundlichkeit ist ein Verzicht auf die Kontrolle im Eilrechtsschutz nicht erforderlich. Das Bundesverfassungsgericht hätte die Möglichkeit, noch im Eilverfahren die Maßnahme dem EuGH vorzulegen.532 Damit wäre im Ergebnis die Rechtsgemeinschaft sogar gestärkt, da der EuGH womöglich nur durch die Vorlage des Bundesverfassungsgerichts mit der Frage befasst würde und das nationale Verfahren so der Ermöglichung von Rechtsschutz auf Unionsebene dient.533 7. Zwischenfazit In der Praxis hat die Rechtsprechung zur Verfassungsbeschwerde dazu geführt, dass sich zu nahezu jeder kritischen Maßnahme der Union ein Beschwerdeführer finden wird. Dadurch wird das Bundesverfassungsgericht in die Lage versetzt, sich zu jedem wesentlichen Schritt der europäischen Integration zu äußern. Gleichzeitig wird dadurch die Bedeutung der übrigen Verfahrensarten enorm relativiert: Das Bundesverfassungsgericht wendet unabhängig von der Verfahrensart einen einheitlichen Entscheidungsmaßstab an. Im Sinne der Klärung des Verhältnisses zum EuGH und dem Unionsrecht ist dies begrüßenswert – es führt aber zu einer Nivellierung der Unterschiede zwischen subjektiven und objektiven Beanstandungsinstrumenten. Eine eigenständige Bedeutung erhalten die sonstigen Verfahrensarten immer dann, wenn die Frist zur Verfassungsbeschwerde bereits abgelaufen ist. Daneben dürfte ihnen auch ein nicht zu unterschätzender symbolischer Charakter in der politischen Auseinandersetzung zukommen.
530 Ebenso mit Blick auf den EU-Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ M. Ruffert, JuS 2021, 705 (707); C. Walter/P. Nedelcu, Die Relativierung der ultra-vires-Kontrolle im Eilrechtsschutz, Verfassungsblog. 531 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 133). 532 Hierzu ist es unionsrechtlich sogar verpflichtet, sofern es eine Verwerfung erwägt, siehe U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 50. EGL. Mai 2013, Art. 267 AEUV, Rn. 60 m.w.N. Siehe auch 1. Kap., C I 2 d), S. 62. 533 Siehe auch 3. Kap., A I 2 b) cc), S. 220 ff.
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
D. Verhältnis zu anderen Kontrollvorbehalten Bislang wurde die bundesverfassungsgerichtliche Konzeption der Ultra-viresKontrolle dargestellt und analysiert. Nachfolgend soll sie im System der Kontrollinstrumente für europäisches Recht eingeordnet werden. Dabei geht es um die Bestimmung der jeweiligen Funktion und um die Abgrenzung der verschiedenen Instrumente voneinander.534 Damit ist das Verhältnis der Ultra-viresKontrolle zur Identitätskontrolle, zur Grundrechtskontrolle und zur formellen Übertragungskontrolle zu bestimmen. Allen Instituten gemein ist die zumindest mittelbare Begrenzung des rechtlichen Handlungsspielraums der Union. Das Verhältnis der Institute zueinander ist jedoch keineswegs eindeutig. Ausgangspunkt der Betrachtung ist die vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobene Trennung der Kontrollvorbehalte.535 Während die Ultra-viresKontrolle ein Instrument zur Überprüfung qualifizierter Kompetenzverstöße ist, dient die Grundrechtskontrolle der Gewährleistung des Grundrechtsschutzes des Einzelnen.536 Die Identitätskontrolle ist immer dann einschlägig, wenn die Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 1, Art. 20 GG durch einen mit der Integration in Zusammenhang stehenden Akt bedroht werden.537 Eine formelle Übertragungskontrolle findet bei Zweifeln am Vorliegen der formellen Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG für eine Übertragung von Hoheitsrechten Anwendung.538 Damit ist zumindest prima facie eine klare Trennung gegeben.
I. Das Verhältnis zur formellen Übertragungskontrolle Bei der formellen Übertragungskontrolle handelt es sich um eine Schöpfung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil zum Einheitlichen Patentgericht.539 Sie ist damit der jüngste der vier Kontrollvorbehalte.540 Auch wenn es sich bei dem Kontrollgegenstand um eine völkerrechtliche Vereinbarung handelte, hielt das Bundesverfassungsgericht aufgrund dessen sachlicher Nähe zur Union Art. 23 GG mitsamt der korrespondierenden Rechtsprechung für einschlägig.541 534 Vergleiche auch die Ausführungen bei R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 271 ff. 535 Für Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 153). 536 BVerfG, Beschl. v. 29.05.1974 – BvL 52/71 (Solange I), BVerfGE 37, 271 (282). 537 BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (354). 538 BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74 (Rn. 137). 539 BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74 (Rn. 137 ff.). Siehe hierzu A. Knoth, EuR 2021, 274; J. G. v. Luckner, EuR 2021, 209 (219 ff.). 540 Zur Eigenständigkeit siehe auch W. Tilmann, GRUR 2020, 441 (443); K. Schallmoser/ A. Haberl, GRUR-Prax 2020, 199 (199). 541 BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74 (Rn. 119 ff.).
D. Verhältnis zu anderen Kontrollvorbehalten
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Anders als die Ultra-vires-Kontrolle fußt die formelle Übertragungskontrolle nicht auf einem Unionsakt. Überprüft wird ausschließlich die Wirksamkeit der nationalen Kompetenzeinräumung. Sie ist damit, anders als die anderen Vorbehalte, auf den innerstaatlichen Bereich begrenzt.542 Seinen Bezug zum Unionsrecht erhält das Instrument erst durch seine Folgen: Die Feststellung der Unwirksamkeit der Einräumung von Hoheitsrechten führt dazu, dass die Union die entsprechenden Befugnisse nicht mit Geltung in der Bundesrepublik ausüben kann. Dennoch vorgenommene Handlungen ergingen dann ultra vires und wären für deutsche Organe unanwendbar.543 Daher handelt es sich bei der formalen Übertragungskontrolle um einen der Ultra-vires-Kontrolle zeitlich vorgelagerten Prüfungsmodus.544 Wird die Rechtswidrigkeit des Übertragungsakts vorab festgestellt, entfällt die Notwendigkeit für spätere Ultra-vires-Verfahren – mitsamt der rechtlichen und politischen Konflikte, die mit ihnen einhergehen. Zudem ist es auf diese Weise möglich, nicht strukturrelevanten Kompetenzüberschreitungen vor deutschen Gerichten zu begegnen. Das streitet zwar stark für eine großzügige Anwendung dieses Instruments, lässt aber nicht die Notwendigkeit zur Beachtung von allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen entfallen. Insoweit wird auf die Ausführungen zur Reichweite des Anspruchs aus Art. 38 Abs. 1 GG verwiesen – es ist höchst fraglich, ob dem Einzelnen ein Anspruch auf Einhaltung der formellen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen eines Übertragungsakts zukommen kann.545 Die Überzeugungskraft des Instituts hängt davon ab, wie das Bundesverfassungsgericht die Dogmatik in den nächsten Jahren konturiert.
542 Auch bei der Identitätskontrolle gibt es derartige Konstellationen, siehe sogleich 2. Kap., D II 2, S. 181 f. Nur bei der formellen Übertragungskontrolle gibt es jedoch keinerlei Möglichkeit der mittelbaren oder unmittelbaren Kontrolle von Unionsakten. 543 BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74 (Rn. 133). Dies ist keine Selbstverständlichkeit. Der Ultra-vires-Begriff hätte auch Kompetenzüberschreitungen vorbehalten bleiben können, die allein im Verantwortungsbereich der Union liegen. Hier kann die Unionsstelle den Fehler nicht erkennen, weil er im deutschen Staatsorganisationsrecht gründet. Kritisch daher die Richterinnen König und Langenfeld sowie der Richter Maidowski in der abweichenden Meinung zu BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74 (Rn. 11). Deutlich ablehnend T. Giegerich, EuZW 2020, 560 (562), der auf die völkerrechtliche Wirksamkeit formell verfassungswidriger Hoheitsübertragungen verweist. Aufgrund des dualistischen Modells ist damit aber noch nichts über die Wirksamkeit im deutschen Recht ausgedrückt. Besorgt wegen der Erschwerung von weiteren Integrationsschritten J. G. v. Luckner, EuR 2021, 209 (221 ff.). 544 Ausführlich E. Roffael. Formelle Übertragungskontrolle und materielle Gerichtsstandards bei der Delegation von Hoheitsrechten auf supranationale Gerichte nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG, in: Müller/Dittrich (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 6, S. 458, 463 ff., die zu dem Schluss kommt, aufgrund dieser Gemeinsamkeiten handle es sich bei der formellen Übertragungskontrolle um eine Ausprägung der Ultra-vires-Kontrolle. Zum Verhältnis siehe auch W. Tilmann, GRUR 2020, 441 (443). 545 Siehe 2. Kap., C IV 2, S. 155 ff.
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
Von der Identitätskontrolle unterscheidet sich die formelle Übertragungskontrolle durch den Prüfungsmaßstab: Sie misst den deutschen Übertragungsakt an den formellen Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 1 GG. Die Identitätskontrolle kann sich zwar mitunter gegen den Übertragungsakt richten, beschäftigt sich dann aber mit den materiellen Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG.546
II. Das Verhältnis zur Identitätskontrolle 1. Problemlage: Grundsätzliche Trennung bei permanenter Überschneidung Als weitaus schwieriger erweist sich allerdings die Bestimmung des Verhältnisses von der Ultra-vires- zur Identitätskontrolle.547 Grundsätzlich gilt: Die Ultravires-Kontrolle dient der Einhaltung der übertragenen Kompetenzen, die Identitätskontrolle der Einhaltung der übertragbaren Kompetenzen.548 Dabei sind die Instrumente von Überschneidungen und Gemeinsamkeiten geprägt.549 Schon die Schutzzwecke decken sich teilweise: Die Ultra-vires-Kontrolle sichert die demokratische Legitimation eines Hoheitsaktes sowie, durch die Sicherung der Kompetenz-Kompetenz, die deutsche Staatlichkeit. Das Demokratieprinzip und die Staatlichkeit sind ihrerseits Teil der deutschen Verfassungsidentität. Dieser Befund löst die funktionale Trennung der Vorbehalte nicht auf, zeigt aber, dass eine enge Verbindung von Beginn an im System angelegt ist.550 Diese Verbindung wird durch eine Reihe von dogmatischen Weichenstellungen des Bundesverfassungsgerichts noch verstärkt. Zuvorderst muss hier die zu beobachtende gegenseitige Annäherung der Kontrollvorbehalte genannt werden.551 Zum Ersten bezeichnet das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Identitätskontrolle bestimmte Sachbereiche als besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit des Verfassungsstaates. In diesen Bereichen sei die Übertragung und die Ausübung von 546 Auf diesen fundamentalen Unterschied weist auch die abweichende Meinung der Richterinnen König und Langenfeld sowie des Richters Maidowski zu BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74 (Rn. 6 ff.) hin. Ebenso M. Payandeh, JuS 2020, 702 (704). 547 Eine ausführliche Auswertung der in der Literatur vertretenen Differenzierungsansätze findet sich bei C. D. Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 1, Art. 24 GG, Rn. 196. An dieser Stelle soll nicht auf jede der vielfältigen Ansichten eingegangen werden, insbesondere nicht auf jene, die sich nicht an der bundesverfassungsgerichtlichen Konzeption orientieren. Vielmehr sollen die aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ableitbaren Argumente dargestellt und bewertet werden. 548 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 153); H. Sauer, EuR 2017, 186 (205); K. Schneider, AöR 139 (2014), 197 (245 f.). 549 Der Versuch einer Vereinheitlichung aller Kontrollinstrumente findet sich bei H.-G. Dederer, JZ 2014, 313. 550 A.A. ohne weitere Erklärung H. Siekmann, EuZW 2020, 491 (498). 551 Zu dieser Annäherung S. Dietz, AöR 142 (2017), 78 (125 f.); A. Schwerdtfeger, EuR 2015, 290 (296); A. Proelß, EuR 2011, 241 (261).
D. Verhältnis zu anderen Kontrollvorbehalten
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Hoheitsrechten auf die Europäische Union in vorhersehbarer Weise sachlich zu begrenzen.552 Damit wird die Identitätskontrolle in diesen Bereichen auch zu einer Kontrolle der Kompetenzgrenzen.553 Zweitens soll die Ultra-vires-Kontrolle die Verfassungsidentität schützen, da Ultra-vires-Akte eine Herausforderung der Verfassungsidentität darstellen. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Eine strukturell bedeutsame Verschiebung zulasten mitgliedstaatlicher Kompetenzen kann nur vorliegen, wenn die Kompetenzüberschreitung ein für das Demokratieprinzip und die Volkssouveränität erhebliches Gewicht besitzt.“554
Der einer Kompetenzprüfung zugrundeliegende einzelne Akt wird also erst dann als ultra vires betrachtet, wenn durch ihn die Demokratie selbst bedroht wird, er also grundsätzliche Bedeutung erreicht.555 a) Ultra-vires-Kontrolle als spezielle Identitätskontrolle Konsequent stellt das Gericht daher fest, dass es sich bei dem Ultra-vires-Vorbehalt um einen Sonderfall des „allgemeinen Schutzes der Verfassungsidentität“ handelt.556 Dieser Ansicht liegt jedoch die im ersten Kapitel beschriebene Prämisse zugrunde, dass jede offensichtliche und strukturell relevante Kompetenzüberschreitung sowohl den Kern des Anspruchs auf Demokratie557 als auch den Kern der Volkssouveränität558 verletze.559 Dem ist jedoch zu widersprechen: Das Kriterium der strukturellen Relevanz verlangt in seiner praktischen Anwendung gerade nicht, dass die grundsätzliche Kompetenzordnung im Mehrebenensystem durch eine Kompetenzüberschreitung in Frage gestellt wird. Vielmehr kommt es augenscheinlich darauf an, ob der in Anspruch genommen Kompetenz eine derart große Bedeutung zukommt, dass sie ihrem Umfang nach einem der in den Verträgen geregelten Kompetenztiteln entspricht.560 Das Kriterium ist demnach nicht derart eng gefasst, dass ein Ultra552
BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (359). Von einer kompetenziellen Anreicherung der Identitätskontrolle spricht A. Schwerdtfeger, EuR 2015, 290 (296). 554 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 151). Zitation ohne Verweise. 555 D. Murswiek, EuGRZ 2017, 327 (333). 556 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 153). Positiv die Bewertung bei K. F. Gärditz, Herrschaftslegitimation und implizite Identitätskontrolle, Verfassungsblog, der Schluss sei überzeugend und „von eleganter Schlichtheit“. Als „nicht nachvollziehbar“ beschreibt L.-K. Mannefeld, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die europäische Integration, S. 241 die Einordnung. 557 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 133). 558 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 135). 559 1. Kap., B II 2 c), S. 44. 560 Siehe 2. Kap., B III 2, S. 121 f. 553
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
vires-Akt zwangsweise561 den „Grundsatz“562 der deutschen Demokratie verletzt. Fasste man den Begriff der deutschen Verfassungsidentität derart weit, dass eine individuelle Kompetenzüberschreitung diesen schon berührte, drohte eine Bagatellisierung des Begriffs und – damit einhergehend – eine Konturlosigkeit der bundesverfassungsgerichtlichen Identitätskontrolle. Die bloße Inanspruchnahme nicht vorhandener Kompetenzen im Einzelfall steht qualitativ nicht auf einer Stufe mit der Missachtung fundamentalster Verfassungsgrundsätze. Sie ist insbesondere nicht vergleichbar mit der Herrschaftsausübung generell nicht gewählter oder sonst legitimierter Hoheitsträger. Es erschließt sich zudem nicht, warum Unionshandeln, dem der Gewährleistungsgehalt der Grundrechte des Grundgesetzes entgegensteht, grundsätzlich keinen Verstoß gegen die Verfassungsidentität darstellen soll,563 die (qualifizierte) Kompetenzüberschreitung jedoch schon. Die Verfassungsidentität muss als Instrument der staatlichen Selbstbehauptung gegenüber der Union eng gefasst sein, soll sie nicht die Integration generell erschweren. b) Identitätskontrolle als spezielle Ultra-vires-Kontrolle Allerdings erschöpft sich das denkbare Spezialitätsverhältnis der Instrumente nicht im oben Aufgezeigten. Bereits im OMT-Vorlagebeschluss widmete sich das Bundesverfassungsgericht dem Verhältnis der Kontrollvorbehalte aus dem Blickwinkel der Identitätskontrolle. Dem Integrationsgesetzgeber sei es aufgrund von Art. 79 Abs. 3 GG verwehrt, der Union Kompetenzen zu Verstößen gegen die deutsche Verfassungsidentität einzuräumen.564 Aus diesem verfassungsrechtlichen Verbot folge, dass keine Kompetenzen eingeräumt werden können. Nimmt ein Unionsorgan verfassungsidentitätswidrige Handlungen vor, so bewegten diese sich damit automatisch außerhalb der primärrechtlichen Grundlagen, seien also ultra vires.565 Die Identitätskontrolle lässt sich dahingehend als Spezialfall der Ultra-vires-Kontrolle verstehen, dient sie doch der Identifikation bestimmter (weil materiell verfassungswidriger) kompetenzüberschreitender Akte.566 Die Qualifikation identitätswidriger Rechtsakte als ultra vires hat zur Folge, dass diese kein Teil der deutschen Rechtsordnung werden. Sie lösen demnach
561
Dies gilt nur insoweit, als der Akt nicht auch dem Inhalt nach identitätswidrig ist. So der Wortlaut des Art. 79 Abs. 3 GG. 563 Siehe zum Beispiel BVerfG, Beschl. v. 07.06.2000 – 2 BvL 1/97 (Bananenmarktordnung), BVerfGE 102, 147 (161 f.) im Gegensatz zu BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14 (Europäischer Haftbefehl II), BVerfGE 140, 317 (Rn. 50). 564 BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 27); BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 137). 565 So schon A. Randelzhofer, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 30. EGL. Dezember 1992, Art. 24 GG, Rn. 137. Ebenso S. Dietz, AöR 142 (2017), 78 (125). 566 J. H. Klement, ZG 29 (2014), 169 (188). 562
D. Verhältnis zu anderen Kontrollvorbehalten
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keine Normkollision aus und haben so keinen Anteil am Anwendungsvorrang des Unionsrecht.567 Für den Beobachter ergibt sich hier ein verwirrendes568 Bild: Jedes der beiden Kontrollinstrumente lässt sich als Sonderfall des jeweils anderen ansehen: Ultravires-Akte sollen immer identitätswidrig und materiell identitätswidrige Akte immer ultra vires ergangen sein. Gleichzeitig besteht das Gericht auf eine Eigenständigkeit der beiden Kontrollinstrumente. Hinsichtlich der Geltendmachung im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde spricht das Gericht aber von den Kontrollinstrumenten als „zwei Seiten einer Medaille“.569 Die Annahme eines logischen Widerspruchs scheint sich hier aufzudrängen: Wenn beide Instrumente den Anwendungsbereich des andern vollständig umfassten und zudem die gleiche Rechtsfolge hätten – logisch gesprochen also deckungsgleiche Mengen wären – so ließe sich die These von der Eigenständigkeit nicht aufrechterhalten. Die Ansicht, die Identitätswidrigkeit eines Übertragungsaktes führe zur Kompetenzlosigkeit des auf ihm führenden Unionshandelns, wird in der Literatur angegriffen. Sie setzt voraus, dass der Integrationsgesetzgeber solche Kompetenzen nicht übertragen kann, die er nicht übertragen darf. Es wird kein Unterschied zwischen der Rechtsmacht des Integrationsgesetzgebers und der Rechtmäßigkeit seines Handelns gemacht.570 Das Bundesverfassungsgericht könnte dabei derart zu verstehen sein, dass es aus der (Teil-)Nichtigkeit eines Zustimmungsgesetzes die Primärrechtswidrigkeit hierauf fußender Akte schließt.571 Der Wortlaut der OMT-Entscheidung und des Vorlagebeschlusses weist deutlich in Richtung dieses Verständnisses, indem von einer fehlenden „primärrechtlichen Grundlage“ geschrieben wird. Aus der Verfassungsbindung des Gesetzgebers bei der Verabschiedung des Zustimmungsgesetzes wird so eine vermittelte Bindung der europäischen Gewalt. Dies entspräche dem Grundsatz nemo plus iuris transferre potest quam ipse habet.572 Eine 567
Siehe 1. Kap., A II, S. 17. R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 275 spricht gar von einer vollkommenen Verwirrung, die eine abschließende Einschätzung der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts verhindere (S. 277). 569 BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 205); siehe auch C. Ohler, ZG 2020, 95 (99). 570 H. Sauer, EuR 2017, 186 (194). Sich anschließend R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 279. 571 Das Bundesverfassungsgericht sollte nicht dahingehend verstanden werden, dass jeder identitätswidrige Akt eine identitätswidrige und damit nichtige Primärrechtsgrundlage hat. Solange die Rechtsgrundlage identitätskonform ausgeübt werden kann, spricht nichts gegen ihre Wirksamkeit. Lediglich der überschießende Gehalt der Norm kann von Seiten des deutschen Verfassungsrechts nicht mitgetragen werden. 572 Niemand kann mehr Rechte übertragen als er selbst hat. So deutlich die heute nicht mehr vertretene sog. Hypothekentheorie, siehe hierzu z.B. F. Becker, Grenzüberschreitende Reichweite deutscher Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 240, Rn. 59 f.; C. Calliess, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 79. EGL. Dezember 2016, Art. 24 GG, Rn. 162; A. Adrian, Grundprobleme einer juristischen 568
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derartige, für die anderen Mitgliedstaaten nicht vorhersehbare, „Belastung“ des gemeinschaftlichen Rechts mit nationalen Verfassungsvorstellungen ist völkerrechtlich bedenklich. Die Vorgehensweise birgt zugleich die Gefahr einer völligen Fragmentierung des Unionsrechts, wenn sich andere Mitgliedstaaten ähnlich verhielten. Deutlich besser in das verfassungsgerichtliche Kontrollregime fügt sich allerdings eine andere Interpretation der OMT-Entscheidung: Das Bundesverfassungsgericht maßt sich im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle keine Entscheidung über die europäische Rechtsordnung an, sondern urteilt lediglich über die Reichweite des deutschen Zustimmungsgesetzes innerhalb der deutschen Rechtsordnung. Es akzeptiert demnach formal die Sichtweise des EuGH, wenn dieser von einer Unionsrechtskonformität des Ultra-vires-Akts ausgeht. In diesem Licht muss auch die Geltungsfrage des identitätswidrigen Akts betrachtet werden: Ein europäischer Akt, der gegen die deutsche Verfassungsidentität verstößt, mag europarechtskonform sein.573 Er ist aber nicht Teil der deutschen Rechtsordnung. Entsprechend werden auch die Integrationsgrenzen nicht an die EU weitergegeben, sondern sind lediglich als Bindung der deutschen Hoheitsgewalt zu verstehen. Die metaphorische Geltungsbrücke in das nationale Recht gilt mithin nicht unbedingt, sondern ist von der Vereinbarkeit des Akts mit der deutschen Verfassungsidentität abhängig. Identitätswidrig handelnde Unionsorgane bewegten sich damit nicht außerhalb der primärrechtlichen Grundlage, jedoch außerhalb des Integrationsprogramms.574 Es ist demnach nur folgerichtig, identitätswidrige Unionsakte als ultra vires einzustufen. Materiell identitätswidrige Akte sind demnach ein eine besondere Art von Ultra-vires-Akten, da sie nur deshalb außerhalb des Integrationsprogramms ergehen, weil entsprechende Hoheitsrechte nicht übertragen werden konnten. 2. Lösung: Trennung nach Anwendungsbereichen Das Bundesverfassungsgericht geht von einer materiellen Synchronität aus: Ultra-vires-Akte sind immer identitätswidrig und identitätswidrige Akte ergehen immer ultra vires. Lediglich die zweite Aussage vermag jedoch zu überzeugen, weshalb nach hier vertretener Ansicht die problematische Deckungsgleichheit der Kontrollinstrumente nicht in Betracht kommt. Unabhängig davon, welcher Auffassung man folgt, haben Überschneidungen auf der materiellen Ebene jedoch keine Konsequenzen für das Verhältnis der
(gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 123 f. Eingeschränkt vertreten bei V. Epping, Die Außenwirtschaftsfreiheit, S. 197 ff. 573 Dies muss gegebenenfalls der EuGH am Maßstab des Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV entscheiden. 574 So wohl auch V. Epping, Die Außenwirtschaftsfreiheit, S. 199 ff., allerdings vor der Entstehung der maßgeblichen Urteile.
D. Verhältnis zu anderen Kontrollvorbehalten
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Prüfungsvorbehalte: Aus einer wie auch immer gearteten Spezialität der Prüfungsgegenstände (Ultra-vires-Akt, beziehungsweise identitätswidriger Akt) folgt noch keine Spezialität der Prüfungen selbst. Andernfalls blieben Unterschiede in den jeweiligen Prüfungsprogrammen unberücksichtigt. Zunächst einmal ist die Identitätskontrolle in ihrem Anwendungsbereich unbestritten weiter als die Ultra-vires-Kontrolle: Während letztere auf einen europäischen Akt angewiesen ist, kann die Identitätskontrolle auch gegen ein Zustimmungsgesetz gerichtet sein und dadurch in einem rein nationalen Kontext stattfinden.575 Sie erfasst außerdem über den Demokratiegrundsatz und die Staatlichkeit der Bundesrepublik hinaus die weiteren Rechtsgüter des Art. 20 GG.576 Dadurch gibt es Fälle der Identitätskontrolle, die vom Ultra-vires-Vorbehalt nicht erfasst sind – die Identitätskontrolle kann daher kein Sonderfall sein. Zudem ist die Identitätskontrolle nicht auf die Offensichtlichkeit eines Verstoßes gegen die Verfassungsidentität angewiesen – sie ist insoweit absolut geschützt.577 Umgekehrt ist die Ultra-vires-Kontrolle teils weiter gefasst als die Identitätskontrolle: Die Berührung besonders sensibler Bereiche der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit ist zwar eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für die Annahme einer Strukturrelevanz.578 Auch in Gebieten, die nicht besonders relevant im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG sind, können strukturell erhebliche Anmaßungen vorkommen.579 Das Verhältnis der Vorbehalte scheint sich demnach nicht einfach mittels einer Spezialität beschreiben zu lassen. Aus der Perspektive des Rechtsanwenders ist das zentrale Element die Notwendigkeit beider Institute zur Beurteilung der Rechtslage.580 Selbst wenn die materielle Situation synchron ist, folgt hieraus noch nicht die Austauschbarkeit der Prüfungen. So mag ein ansonsten rechtmäßiger Akt aufgrund eines identitätswidrigen Zustimmungsgesetzes automatisch auch ultra vires ergangen sein – dennoch hilft die Ultra-vires-Kontrolle nicht bei der Identifikation der Unan-
575 P. M. Bender, ZEuS 2020, 409 (411, 418 ff.); D. Burchardt, ZaöRV 2016, 527 (545 f.). Für eine Begrenzung auf die Kontrolle von Zustimmungsgesetzen spricht sich A. Schwerdtfeger, EuR 2015, 290 (303) aus. 576 Hierauf weist C. Ohler, JM 2016, 418 (421) hin. 577 Daran zweifelnd M. Ludwigs/P. Sikora, EWS 2016, 121 (129). 578 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (307). Zusammenfassend stellt C. Ohler, JM 2016, 418 (421) fest: „Unterschiede zwischen beiden Kontrollformen ergeben sich auch im Hinblick auf die vom BVerfG angewendeten Prüfungsmaßstäbe.“ 579 Dies wäre beispielsweise bei einer weitreichenden Kompetenzanmaßung der Union im Bereich des allgemeinen Raumplanungsrechts oder des privaten Nachbarrechts der Fall. Hier hat die Union weder eine Gesetzgebungskompetenz, noch sind die Bereiche besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit des deutschen Volkes. 580 Auf eine funktionelle Erwägung stellt auch F. Schorkopf, EuZW 2009, 718 (721) ab. Ähnlich S. Dietz, AöR 142 (2017), 78 (128), die die Ultra-vires-Kontrolle als „Unterkategorie“ beibehalten möchte – letztlich aber doch entgegen der hier vertretenen Meinung von einer einseitigen Spezialität der Ultra-vires-Kontrolle ausgeht.
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
wendbarkeit im deutschen Recht: Dem Wortlaut nach kann sich ein EU-Organ schließlich auf eine Ermächtigung berufen.581 Deren Unwirksamkeit kann aber nur mittels einer Identitätskontrolle bestimmt werden. Es bedürfte daher bei der Anwendung der Ultra-vires-Kontrolle einer inzidenten Prüfung der Verletzung der Verfassungsidentität durch das Zustimmungsgesetz. Umgekehrt hilft die Identitätskontrolle nicht bei der Erkenntnis der Unanwendbarkeit eines Akts, der zwar qualifiziert kompetenzwidrig, ansonsten aber inhaltlich ohne Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 GG ergangen ist. Denn inwieweit vorliegend der demokratische Zusammenhang zwischen dem deutschen Wahlvolk und dem Rechtsakt unterbrochen wurde, ergibt sich nur aus einer Ultravires-Kontrolle anhand des Zustimmungsgesetzes und nicht aus dem materiellen Gehalt des Rechtsakts selbst. Hier bedürfte es innerhalb der Identitätskontrolle also einer inzidenten Prüfung der Ultra-vires-Eigenschaft.582 Jede Kontrolle hat damit ihren eigenen, originären Anwendungsbereich. Dies ist nicht vergleichbar mit einer Spezialitätskonstellation, in der zwar beide Kontrollen einschlägig wären, eine aber aufgrund ihrer Allgemeinheit gegenüber der spezielleren zurücktritt. Dies schließt nicht aus, dass beide Vorbehalte im Einzelfall denselben Sachverhalt erfassen können. Handelt die Union außerhalb ihrer Kompetenzen und gleichzeitig materiell verfassungsidentitätswidrig, werden beide Kontrollen zu einem positiven Ergebnis führen.583
III. Das Verhältnis zur Grundrechtkontrolle Weit weniger umstritten ist das Verhältnis der Ultra-vires-Kontrolle zur Grundrechtskontrolle. Die Grundrechtskontrolle, als Anwendung der deutschen Grundrechte auf Akte der Union oder unionsrechtlich determinierte Akte der deutschen Hoheitsgewalt, besitzt heute eine vorwiegend theoretische Relevanz.584 Während das Bundesverfassungsgericht ursprünglich eine solche Kontrolle für möglich hielt, solange die Europäische Union über keine Grundrechtsgarantien verfüge, die dem „Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat“ sind,585 hat es diese Linie mit der Entwicklung einer dichteren Grundrechte-Judikatur des EuGH verlassen.586 Heute muss ein Beschwerdeführer darlegen, dass die „gegen-
581
Ähnlich wohl A. Thiele, EuR 2017, 367 (376) Diese Variante ergibt von vorneherein nur dann Sinn, wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht von der Identitätswidrigkeit von Ultra-vires-Akten ausgeht. 583 Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn die EU-Kommission per Beschluss den Bundestag auflöste. Hierfür besteht weder eine Kompetenz noch wäre dies mit der Staatlichkeit der Bundesrepublik oder dem Demokratiegrundsatz vereinbar. 584 S. Dietz, AöR 142 (2017), 78 (119); F. Wollenschläger, in: Dreier, GG Bd. 2, Art. 23 GG, Rn. 86 m.w.N. P. M. Bender, ZEuS 2020, 409 (418) spricht von einer „Nachtwächterfunktion“. 585 BVerfG, Beschl. v. 29.05.1974 – BvL 52/71 (Solange I), BVerfGE 37, 271 (271). 586 BVerfG, Beschl. v. 22.10.1986 – 2 BvR 197/83 (Solange II), BVerfGE 79, 339 (387). 582
D. Verhältnis zu anderen Kontrollvorbehalten
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wärtige Rechtsentwicklung zum Grundrechtsschutz im europäischen [Recht], insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, den jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet“587 – angesichts der Existenz der Grundrechte-Charta eine auf absehbare Zeit wohl unüberwindbare Hürde.588 Trotz ihrer nunmehr geringen praktischen Bedeutung, hat die Solange-Rechtsprechung insoweit Einzug in die geschriebene Verfassung erhalten, als Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG der Union die Gewährleistung eines im Wesentlichen mit dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtsschutzes zur Vorgabe macht. Neben dieser allgemeinen Grundrechtskontrolle besteht weiterhin die Möglichkeit einer Kontrolle der Grundrechtswahrung im Einzelfall im Bereich der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG.589 Dies stellt sich allerdings nicht als Bestandteil der Grundrechtskontrolle im Sinne der Solange- und BananenmarktEntscheidungen dar, sondern ist ein Ausfluss der Identitätskontrolle. Art. 1 Abs. 1 GG ist von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfasst und duldet daher auch keine Verletzung im Einzelfall.590 Insoweit sei auf die Ausführungen zur Identitätskontrolle verwiesen. Seit der Entscheidung zum europäischen Haftbefehl wurde das Schicksal der allgemeinen Grundrechtskontrolle kontrovers diskutiert.591 Nach hier vertretener Ansicht gibt es jedoch keinen Grund, eine Abkehr von der BananenmarktEntscheidung anzunehmen. Bereits vor der Haftbefehl-Entscheidung war das Nebeneinander von Identitäts- und Grundrechtskontrolle fester Bestandteil des bundesverfassungsgerichtlichen Kontrollregimes. Eine Änderung ist hier nicht erfolgt.592 Prima facie mag die Ultra-vires-Kontrolle der Grundrechtskontrolle nahestehen: Im Fall von Ultra-vires-Verfassungsbeschwerden macht der Beschwerdeführer entweder eine Verletzung seines grundrechtsgleichen Rechts auf de-
587 BVerfG, Beschl. v. 07.06.2000 – 2 BvL 1/97 (Bananenmarktordnung), BVerfGE 102, 147 (161). Siehe jüngst auch BVerfG, Beschl. v. 27.04.2021 – 2 BvR 206/16 (Ökodox-Daten), NVwZ 2021, 1211, Rn. 40 f. 588 H. Sauer, NJW 2016, 1134 (1135). 589 So BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14 (Europäischer Haftbefehl II), BVerfGE 140, 317 (Rn. 40 ff.). 590 BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14 (Europäischer Haftbefehl II), BVerfGE 140, 317 (Rn. 49). Fehl geht daher die Vorstellung einer zu erreichenden „praktischen Konkordanz“ von Unionsrecht und deutscher Verfassungsidentität, so aber F. Kainer, EuZW 2020, 533 (535). 591 Für ein Fortbestehen A. Kees, Grundlagen und Grenzen der europäischen Integration, in: Scheffczyk/Wolter (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 4, S. 439, 443, 446; M. Ludwigs/P. Sikora, EWS 2016, 121 (124), kritisch im Nachgang des OMT-Urteils H. Sauer, EuR 2017, 186 (203). 592 Das Urteil bezeichnet den „Solange-Vorbehalt“ vielmehr als weiteres Kontrollinstitut, BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14 (Europäischer Haftbefehl II), BVerfGE 140, 317 (Rn. 43).
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Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
mokratische Selbstbestimmung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG geltend, oder er beruft sich auf ein spezifisch betroffenes Grundrecht. Insofern wird (mittelbar) ein Akt der Unionsgewalt an deutschen Grundrechten gemessen. Die Ultra-vires-Kontrolle setzt allerdings logisch früher an. Sie prüft, ob im Einzelfall tatsächlich Unionsrecht gilt. Ist dies nicht der Fall, so handelt es sich um einen allein im nationalen Recht angesiedelten Sachverhalt, sodass das Bananenmarkt-Kriterium nicht mehr geprüft werden muss. Nur wenn geltendes EU-Recht als Kontrollgegenstand im Raum steht, müssen die besonderen Voraussetzungen der Grundrechtskontrolle erfüllt werden. Während die Ultra-vires-Kontrolle sich also auf eine formale Prüfung der Kompetenz beschränkt, misst die Grundrechtskontrolle einen im deutschen Recht geltenden Unionsakt vollständig am Maßstab der deutschen Grundrechte.593 Indem die Grundrechtskontrolle nur aktiviert wird, wenn das europäische Grundrechtsniveau unter einen vom Grundgesetz vorgesehenen Mindeststand sinkt, ist sie auch dazu geeignet innerhalb der Bundesrepublik ein Mindestmaß an Grundrechtsschutz herzustellen. Dieses garantierte Mindestmaß an Grundrechtsschutz wird verbreitet auch als Bestandteil der deutschen Verfassungsidentität betrachtet, womit auch die Grundrechtskontrolle Art. 79 Abs. 3 GG dient.594 Der im wesentlichen vergleichbare Grundrechtsschutz des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG deckt sich insoweit mit den Vorgaben der Ewigkeitsklausel.595 Durch die Bananenmarkt-Rechtsprechung tritt dieser Aspekt gegenüber der Individualschützenden Funktion in den Vordergrund.
IV. Ergebnis Alle Kontrollvorbehalte gegenüber Akten der Europäischen Union dienen dem Schutz der deutschen Verfassungsidentität. Sie verfügen über einen eigenen Anwendungsbereich, ein eigenes Prüfungsprogramm und stehen unabhängig nebeneinander. Die Einschlägigkeit eines Instruments schließt die Anwendbarkeit eines anderen nicht aus. Unklarheiten entstehen vor allem bei der Bestimmung des Verhältnisses von der Ultra-vires-Kontrolle zu der Identitätskontrolle. Zwar dient die Existenz des
593
Als Verfahrensgegenstand dürfte derweil, entgegen der früheren Rechtsprechung, auch hier nur ein Akt der deutschen Hoheitsgewalt in Frage kommen. So kann auch im Bereich der Grundrechtskontrolle ein Unionsakt nur mittelbar geprüft werden. 594 A. Kees, Grundlagen und Grenzen der europäischen Integration, in: Scheffczyk/Wolter (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 4, S. 439, 446. Ähnlich M. Eifert/J. Gerberding, JURA 2016, 628 (632). Von einer „für die Achtung der Menschwürde unentbehrliche[n] Substanz elementarer Grundrechte in ihrer prinzipiellen Qualität“ spricht BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (343). 595 A. Kees, Grundlagen und Grenzen der europäischen Integration, in: Scheffczyk/Wolter (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 4, S. 439, 446.
E. Fazit: Gestalt und Schwächen der Ultra-vires-Kontrolle
185
Ultra-vires-Vorbehalts dem Fortbestand der faktischen Kompetenz-Kompetenz der Bundesrepublik und damit sowohl dem Schutz der deutschen Staatlichkeit als auch dem Schutz der deutschen Demokratie. Dies bedeutet jedoch nach hier vertretener Ansicht nicht, dass jeder ultra vires ergangene Akt auch individuell eine Verletzung der deutschen Verfassungsidentität darstellt – dies ist regelmäßig nicht der Fall. Die Rechtslage in Ultra-vires-Konstellationen unterscheidet sich daher von jener bei materiell identitätswidrigen Akten. Auch nach der gegenteiligen Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, wonach jeder Ultra-vires Akt eine Identitätsverletzung darstellt und umgekehrt, sind die Kontrollvorbehalte jedoch anhand ihres Anwendungsbereichs klar zu trennen. Eine Spezialität der Vorbehalte besteht daher nicht.
E. Fazit: Gestalt und Schwächen der Ultra-vires-Kontrolle Nachfolgend werden die wichtigsten Ergebnisse der ersten beiden Kapitel zusammengefasst und dabei insbesondere die identifizierten Probleme des Kontrollvorbehalts hervorgehoben. Bei der Ultra-vires-Kontrolle handelt es sich um ein Prüfungsprogramm des Bundesverfassungsgerichts, mit dem Maßnahmen von Organen und sonstigen Stellen der Union auf die Einhaltung der im Integrationsprogramm festgelegten Kompetenzgrenzen überprüft werden. Bewegt sich eine Maßnahme qualifiziert außerhalb des Integrationsprogramms, wird sie nicht Teil der deutschen Rechtsordnung. Sie beansprucht keine Geltung in der Bundesrepublik und ist damit unverbindlich für alle deutschen Stellen.596 Dem liegt die bis heute umstrittene Prämisse einer grundsätzlichen Trennung von nationaler Rechtsordnung und Unionsrechtsordnung zugrunde. Seinen Auftrag und seine Befugnis zur Kontrolle entnimmt das Bundesverfassungsgericht erstens der Notwendigkeit zur Wahrung der deutschen Staatlichkeit und zweitens der Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung eines demokratischen Legitimationszusammenhangs zwischen der Unionsmaßnahme und dem deutschen Wahlvolk.597 Die deutsche souveräne Staatlichkeit sei bedroht, wenn die Union selbst und letztverbindlich über die Reichweite der ihr übertragenen Kompetenzen entscheide und somit eine (judikative) Kompetenz-Kompetenz erlange.598 Die demokratische Legitimation von Unionsakten sei nur gewahrt, soweit die deutschen Gesetzgebungsorgane der Union Kompetenzen eingeräumt haben.599
596
Siehe 1. Kap., A II 1, S. 18 ff. Siehe 1. Kap., C II 2, S. 64 ff. 598 Siehe 1. Kap., B II 1, S. 27 ff. 599 Siehe 1. Kap., B II 2, S. 37 ff. 597
186
Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
Schon die Herleitung der Prüfungskompetenz aus der Notwendigkeit zum Schutz der deutschen Verfassungsidentität muss kritisch hinterfragt werden.600 Diese Herangehensweise ist nur dann statthaft, wenn man die Befugnis zur Prüfung als verfassungsrechtlichen Regelfall versteht und ihren Ausschluss als rechtfertigungsbedürftige Ausnahme. Zudem leidet die Begründung der Notwendigkeit des Ultra-vires-Vorbehalts auch unter dem für sie maßgeblichen Demokratiebegriff des Bundesverfassungsgerichts. Dieser stellt nicht darauf ab, dass insgesamt ein bestimmtes Maß an demokratischer Legitimation erreicht sein muss, sondern knüpft an die Wahrung der Organkompetenzen des deutschen Integrationsgesetzgebers, vor allem also des Bundestags, an.601 Auf die eigene demokratische Legitimation der handelnden Unionsorgane kommt es also nicht an. Die Kontrolle erfolgt zwar nur nach einer vorherigen Befassung des EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens, ist aber in ihrem Ergebnis nicht durch dessen Entscheidung festgelegt. Unionsrechtlich lässt sich diese mangelnde Berücksichtigung nicht rechtfertigen.602 Diese fehlende Unionsrechtskonformität hat aber keinen Einfluss auf die Befugnis zur Kontrolle im nationalen Verfassungsrecht. Die Ultra-vires-Kontrolle ist neben der Identitätskontrolle, der Grundrechtskontrolle und der formellen Übertragungskontrolle ein selbständiges Instrument zum Schutz der deutschen Verfassungsidentität aus Art. 79 Abs. 3 GG.603 Sie unterliegt damit auch nicht der verfassungsgesetzgeberischen Disposition. Auf diese Weise sichert das Bundesverfassungsgericht auch für die Zukunft seine Fähigkeit zur Einflussnahme auf den Integrationsprozess. Inhaltlich misst die Kontrolle jedwedes Unionshandeln auf Einhaltung der Verbandskompetenz der Union.604 Dabei wird der Begriff der Kompetenz jedoch sehr weit verstanden: So wird nicht nur das Vorliegen einer beschränkten Einzelermächtigung überprüft, sondern auch die Wahrung der Grundsätze der Subsidiarität und der kompetenziellen Verhältnismäßigkeit. Neben Art. 5 EUV sind auch Kompetenzschranken Teil des Prüfungsmaßstabs. An einer Auseinandersetzung damit, welche Rechtmäßigkeitsbedingungen als kompetenzbezogen zu verstehen sind, fehlt es in der bisherigen Rechtsprechung allerdings völlig. Somit droht die Ultra-vires-Kontrolle zu einer allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle zu werden, die das ganze Unionsrecht erfasst.605 Eine Überschreitung der Unionszuständigkeit wird anhand einer Methodenkontrolle festgestellt.606 Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Offen-
600
Siehe 1. Kap., C II 3, S. 68 ff. Siehe 1. Kap., B II 2 b), S. 42 f. 602 Siehe 1. Kap., C I 2 e), S. 63. 603 Siehe 2. Kap., D IV, S. 184. 604 Siehe 2. Kap., B I, S. 77 ff. 605 Siehe 2. Kap., B I 4, S. 89 f. 606 Siehe 2. Kap., B II, S. 93. 601
E. Fazit: Gestalt und Schwächen der Ultra-vires-Kontrolle
187
sichtlichkeit der Kompetenzüberschreitung ist dabei als Nichterfüllung eines Mindeststandards an juristischer Methode zu verstehen.607 Auf diese Weise soll der Unabhängigkeit der europäischen Methodik, dem grundsätzlichen Primat des EuGH zur Auslegung von Unionsrecht und den Erkenntnisgrenzen des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen werden. Problematisch ist jedoch, dass es an einer subsumtionsfähigen Definition der Offensichtlichkeit fehlt.608 Auch gibt es keine abschließende Liste von Fallgruppen, die das Gericht anwendet. Auf diese Weise werden das Kriterium der Offensichtlichkeit schwer handhabbar und Entscheidungen schwer prognostizierbar. Dies führt, wie noch zu zeigen sein wird, zu einer geringeren Wirksamkeit des Vorbehalts, da eine Antizipation durch europäische und nationale Organe und damit deren Verhaltensanpassung erschwert wird.609 Eine größere dogmatische Klarheit könnte der Kontrolle auch zu einer gesteigerten Akzeptanz verhelfen: Wer selbst die Methodik unionaler Kompetenzausübung überprüft, sollte sich im Rahmen dieser Kontrolle selbst auf ein möglichst solides methodisches Fundament stützen. Auch der oft befürchtete Missbrauch des Vorbehalts durch Gerichte anderer Mitgliedstaaten wird mit zunehmender Klarheit und Stringenz in der deutschen Dogmatik unwahrscheinlicher oder zumindest leichter als Missbrauch erkennbar.610 Unabhängig davon kann jedoch die grundsätzliche Befugnis zur Kontrolle nicht dadurch in Frage gestellt werden, dass andere Gerichte entsprechende Entscheidungen womöglich missbräuchlich nutzen.611 Die über die Offensichtlichkeit hinaus verlangte Strukturrelevanz der Kompetenzüberschreitung erfüllt zwei Funktionen: Sie soll einerseits den Bezug der Kontrolle zur Verbandskompetenz der Union sicherstellen, andererseits qualitativ geringfügige Kompetenzüberschreitungen vom Anwendungsbereich der Kontrolle ausnehmen.612 Die erstgenannte Funktion kann unter Nutzung der derzeit vom Bundesverfassungsgericht verwendeten abstrakt-generellen Formel nicht erfüllt werden. Da jede Kompetenzüberschreitung für ihre Legalität einer hypothetischen Ermächtigung bedürfte, wäre jede Kompetenzüberschreitung strukturell relevant.613 Die zweite Funktion lässt sich nicht widerspruchsfrei mit den Grundannahmen der Kontrolle vereinbaren.614 Wenn die Kompetenz-Kompetenz bei den Mitgliedstaaten liegt und die Kette demokratischer Legitimation im Einzelfall 607
Siehe 2. Kap., B III 1, S. 104. Siehe 2. Kap., B III 1 a), S. 105 ff. und c), S. 113 ff. 609 Siehe zu diesem Aspekt sogleich 3. Kap., A I 2; 3. Kap., A II 2. 610 So verweist A. Voßkuhle, Europa, Demokratie, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 338 ff. zurecht darauf, dass schon jetzt die vom Bundesverfassungsgericht gezogenen Grenzen der Kontrolle einen Missbrauch insbesondere durch polnische und ungarische Gerichte erkennbar machen. 611 Ebenso A. Voßkuhle, Europa, Demokratie, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 342 ff. 612 Siehe 2. Kap., B III 2, S. 118. 613 Siehe 2. Kap., B III 2, S. 121. 614 Siehe 2. Kap., B III 3 c), S. 127 f. 608
188
Zweites Kapitel: Die Dogmatik der Ultra-vires-Kontrolle
Bestand haben muss, so bleibt für eine Unterscheidung nach der Art der Kompetenzüberschreitung kein Raum. In der Praxis dürfte die Ultra-vires-Kontrolle vor allem in der Verfahrensart der Verfassungsbeschwerde angewandt werden, da das Bundesverfassungsgericht jedem deutschen Wahlberechtigten einen Anspruch zugesteht, „nur einer öffentlichen Gewalt ausgesetzt zu sein, die er auch legitimieren und beeinflussen kann.“615 Dies gilt unabhängig davon, ob der Einzelne inhaltlich von dem Akt betroffen ist.616 Ein solches Recht ist jedoch nicht anzuerkennen: Die Verfahrensart der Verfassungsbeschwerde wird hier genutzt, um einen möglichst umfassenden Kontrollzugriff auf die europäische Kompetenzausübung sicherzustellen, womit ihre eigentlich subjektive Ausrichtung in den Hintergrund tritt. Hier wurde eine ohne ausreichende normative Basis eine Sonderdogmatik für den Bereich der europäischen Integration kreiert, deren Grenzen noch längst nicht klar sind. Das Vorgehen kann aber als eine Reaktion der unterlassenen gesetzgeberischen Implementierung der Kontrollvorbehalte und damit gewissermaßen als Ausweichstrategie angesehen werden.617 Zu den Rechtsfolgen der Kontrolle fehlt es weitgehend an gerichtlichen Erörterungen. Aufgrund des Fehlens einer endgültigen Ultra-vires-Feststellung bis zum heutigen Tag ist das Schicksal von mit dem Ultra-vires-Akt in Zusammenhang stehenden nationalen Rechtsakten weitgehend offen. So ist beispielsweise fraglich, inwieweit nationale Parlamentsgesetze, die der Umsetzung einer Richtlinie dienen, nichtig sind.618 Ebenfalls nicht ausreichend erörtert sind die Reaktionspflichten der Verfassungsorgane im Zusammenhang mit ihrer Integrationsverantwortung, insbesondere die Anforderungen, die an eine mögliche Pflicht zum Austritt aus der Union geknüpft sind. Das Bundesverfassungsgericht zählt diese Maßnahme als Ultima Ratio zur Abwehr eines Ultra-vires-Akts auf, ohne auf die Bedeutung von Art. 23 GG für einen derartigen Schritt einzugehen.619 Die bisher herausgearbeiteten wesentlichen Probleme des Ultra-vires-Vorbehalts lassen sich also in vier Kategorien einteilen. Diese sind erstens die nicht vollständig überzeugende Herleitung aus dem nationalen Verfassungsrecht, zweitens die dogmatischen Schwachstellen hinsichtlich des Kontrollmaßstabs, drittens die nicht überzeugende verfassungsprozessuale Einbettung in das Recht auf Demokratie und viertens die unzureichende Befassung mit den Rechtsfolgen der Kontrolle.
615
BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 127). 616 Siehe 2. Kap., C IV 2, S. 155. 617 De lege ferenda wäre ein derartiger umfassender Kontrollzugriff durchaus wünschenswert. Aufgrund der damit einhergehenden zusätzlichen Kontrolle der Legislative ist jedoch nicht davon auszugehen, dass eine solche Rechtsänderung vorgenommen wird. 618 Siehe 2. Kap., C IV 4, S. 163. 619 Siehe 2. Kap., C III 3 c) bb), S. 148 f.
Drittes Kapitel
Die Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Vorschläge für eine Fortentwicklung Die Analyse des Ultra-vires-Vorbehalts hat gezeigt, dass dieser zwar zum Schutz der Souveränität der Bundesrepublik und der Gewährleistung eines bestimmten Maßes an demokratischer Legitimation erforderlich ist, aber eine Vielzahl von dogmatischen Problemen und Unklarheiten mit sich bringt. Bisher unbeachtet blieb dabei die tatsächliche Dimension: Welche Auswirkungen haben die Existenz des Vorbehalts sowie seine Anwendung im konkreten Einzelfall auf Organe der Union und der Bundesrepublik? Diese Wirkungen sollen im Folgenden dargestellt werden, um eine abschließende Bewertung des Ultra-Vires-Vorbehalts zu ermöglichen. Anschließend sollen auf Basis der dogmatischen und tatsächlichen Probleme der bisherigen Kontrollpraxis Vorschläge einer Anpassung der Kontrolle vorgebracht werden.
A. Wirkungen und Perspektiven des Ultra-vires-Vorbehalts Die Bewertung der tatsächlichen politischen Folgen eines rechtlichen Instruments ist primär keine juristische, sondern eine soziologische Aufgabe. Aus diesem Grund soll die vorliegende Arbeit auch keine umfassende Auflistung und Auswertung aller potenzieller Effekte vornehmen. Erst recht ist keine Einordnung nach politikwissenschaftlichen Standards beabsichtigt. Doch erst die folgenorientierte Betrachtungsweise ermöglicht eine umfassendere Beurteilung eines rechtlichen Instruments: Gelingt es dem Bundesverfassungsgericht bei der Rechtsanwendung „wünschenswerte“ politische oder gesellschaftliche Effekte zu erzielen, so lässt sich in einem bestimmten Sinn von einer guten Entscheidung sprechen.1 Umgekehrt können bei einem Überwiegen negativer Folgen Zweifel am verfassungsgerichtlichen Vorgehen entstehen.2 Insbesondere der Ultra-vires-Vorbehalt zieht seine Daseinsberechtigung aus der Verfolgung bestimmter Zwecke. Das Bundesverfassungsgericht entwarf das Kontrollinstrument entlang der Notwendigkeit der Wahrung der Souveränität 1
Allgemein T. Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 174. Allgemein I. Puppe, Kleine Schule des juristischen Denkens, S. 170 ff., die damit die folgenorientierte Betrachtungsweise als Korrektiv einer einseitigen teleologischen Auslegung begreift. 2
190
Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
der Bundesrepublik und der Gewährleistung eines bestimmten Maßes demokratischer Legitimation der Unionsgewalt.3 Es ist daher legitim, die Qualität der gefundenen juristischen Ergebnisse auch anhand der Eignung des Instruments zur Erfüllung seines Zwecks zu bestimmen. Erwiese sich die Ultra-vires-Kontrolle als weitgehend ungeeignet, ihre Zwecke zu erfüllen und führte dabei gleichzeitig zu einer supranationalen Rechtskrise, so wäre sie zumindest aus einer politischen Perspektive heraus abzulehnen.4 Dies entwertet nicht die juristischen Argumente, welche für die grundsätzliche Zulässigkeit des Vorbehalts sprechen. Jedoch sollten die tatsächlichen Wirkungen des Vorbehalts bei seiner konkreten Ausgestaltung mitberücksichtigt werden. Eine derartige Herangehensweise darf nicht mit methodischer Beliebigkeit verwechselt werden. Folgenüberlegungen beanspruchen keine Absolutheit, sondern treten ergänzend neben andere Argumente.5 Sie dienen nicht einem freien Gestaltungsanspruch des Rechtsanwenders,6 sondern der effektiven Umsetzung des gesetzgeberischen Willens. Welche tatsächlichen Effekte als wünschenswert oder bedenklich angesehen werden können, ist daher allein den grundgesetzlichen Wertungen zu entnehmen.7 Die folgenorientierte Betrachtungsweise dient damit der Effektivität des Rechts. Nachfolgend werden daher all jene Folgen des Ultra-vires-Vorbehalts untersucht, die hinreichend vorhersehbar und einer normativen Wertung zugänglich sind. Irrelevant sind umgekehrt solche Folgen, die entweder atypisch oder aber aus der Perspektive des deutschen Verfassungsrechts neutral zu bewerten sind. Bei der Untersuchung werden insbesondere die Erfahrungen aus den bisherigen Ultra-vires-Verfahren sowie aus vergleichbaren Verfahren aus dem EU-Ausland berücksichtigt.
I. Wirkungen innerhalb der EU Die Ultra-vires-Kontrolle ist ein Überwachungsinstrument gegenüber der Unionsgewalt.8 Nachfolgend werden daher die Wirkungen des Kontrollvorbehalts auf deren Stellen aufgezeigt. Eine gesonderte Behandlung erfährt dabei der EuGH, der in seiner Rolle als primäre kompetenzsichernde Stelle diversen Besonderheiten unterliegt. Die Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts lassen sich unter zeitlichen Gesichtspunkten in zwei Kategorien aufteilen, nämlich in jene vor Aktivierung der
3
Siehe im Einzelnen 1. Kap., B u. C, S. 26 ff. Von einer Folgenverantwortung des Bundesverfassungsgerichts für die eigene Rechtsprechung spricht auch A. Voßkuhle, Europa, Demokratie, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 343. 5 T. Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 175. 6 In dieser Hinsicht zurecht mahnend W. Hassemer, JZ 2008, 1 (7). 7 P. Raisch, Juristische Methoden, S. 186. 8 Davon zu unterscheiden ist die prozessuale Konstellation, siehe 2. Kap., C III, S. 133 ff. 4
A. Wirkungen und Perspektiven des Ultra-vires-Vorbehalts
191
Kontrolle und jene nach einer erfolgreichen Kontrolle. Die Vorfeldwirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts gründen im Wesentlichen im politischen Interesse an der Vermeidung eines Konfliktfalls zwischen unionaler und nationaler Rechtsordnung. Daher sollen zunächst das Ausmaß und die Bedeutung eines Konflikts dargestellt werden. 1. Wirkungen im Erfolgsfall a) Wirkungen auf die handelnde Unionsstelle Primär entfaltet ein Ultra-vires-Verdikt Wirkungen auf die handelnde Unionsstelle. Ihrer Maßnahme wird innerhalb der deutschen Rechtsordnung die Wirksamkeit abgesprochen. Gleichzeitig wird den deutschen Verfassungsorganen, Behörden und Gerichten eine Mitwirkung am Zustandekommen, an der Umsetzung, der Vollziehung oder der Operationalisierung des Akts untersagt.9 Zwar besteht für die europäische Stelle keine rechtliche Bindung an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dennoch wird ihre Gestaltungsfähigkeit erheblich eingeschränkt. Führt man sich den Regelfall des indirekten Verwaltungsvollzugs vor Augen, ist die Union zur Durchsetzung ihres Rechts meist auf die Mitwirkung der Mitgliedstaaten angewiesen. Es stellt sich hier also das spiegelbildliche Problem zu jenem der Integrationsverantwortung:10 Ist der deutsche Beitrag essenziell, so wird die Wirksamkeit der Maßnahme verhindert. Aus deutscher Perspektive ist dies beabsichtigt, aus jener des Unionsorgans problematisch. Darüber hinaus kann die Verweigerung zur Beteiligung an einer Maßnahme diese sogar über die Grenzen Deutschlands hinaus blockieren, wenn die deutsche Mitwirkung für den Gesamtakt unentbehrlich ist. Logistische, finanzielle oder personelle Ressourcen des einwohnerreichsten und wirtschaftsstärksten Mitgliedstaats können nicht in jedem Fall von anderen Mitgliedstaaten kompensiert werden. Beispielsweise im Bereich der Eurorettung drohte ohne deutsche Beteiligung zumindest eine Zweckverfehlung der Maßnahmen: Zwar könnte etwa das OMT-Programm theoretisch auch ohne Mitwirkung der Bundesbank durchgeführt werden – allerdings bliebe die beruhigende Wirkung auf die Märkte wohl aus.11 Zudem drohen aktive Verhinderungsmaßnahmen durch die deutschen Staatsorgane im Rahmen ihrer Integrationsverantwortung. Dem Vertrauen in die Stärke des Euros wäre kaum gedient, folgte einer Aktivierung des Programmes das Ausscheiden der Bundesrepublik aus der Währungsunion oder, schlimmer noch, aus der Union als Ganzer. Das handelnde Unionsorgan wäre jedoch nicht nur mit der fehlenden Effektivität seiner Maßnahme konfrontiert. Darüber hinaus führt die Feststellung einer Kompetenzüberschreitung zu einer kritischen Beobachtung durch die Öf-
9
BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 234). Siehe hierzu 2. Kap., C III 3 c), S. 139 ff. 11 A. Thiele, GLJ 15 (2014), 241 (249). 10
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
fentlichkeit: Das PSPP-Verfahren hat gezeigt, welche mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit sogar ein Thema auf sich ziehen kann, das eigentlich aufgrund seiner Komplexität und Bürgerferne wohl als reine Expertenmaterie gelten kann.12 In anderen Bereichen als der Währungspolitik könnte diese Beobachtung sogar noch deutlicher ausfallen. Dies ist für das Unionsorgan insbesondere deshalb bedenklich, weil mit dem Ultra-vires-Verdikt der Tadel der qualifiziert fehlerhaften Arbeit verbunden ist. Der Tatbestand der Ultra-vires-Kontrolle ist nur bei offensichtlicher Kompetenzüberschreitung erfüllt – dies führt zwar einerseits zur Zurückhaltung bei der Kontrolle, andererseits aber auch zu einem schweren Vorwurf im Falle der Aktivierung. Zwar mag dieser von der Fachöffentlichkeit größtenteils richtig eingeordnet werden13 – in der breiten Debatte kann sich dies aber anders darstellen. Insoweit liegt ein enormer öffentlicher Druck auf der handelnden Stelle. Aus dieser Situation besteht für sie kaum ein Ausweg. Zwar besteht die Möglichkeit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV gegen die Bundesrepublik; dieses wird aber, unabhängig von seinem Ausgang, wohl kaum zu einem Sinneswandel auf Seiten des Bundesverfassungsgerichts führen.14 Zudem steht mit Ausnahme der Kommission keinem Unionsorgan dieser Weg nach eigenem Ermessen zu. Insofern wäre hier für alle anderen Unionsorgane allein die Möglichkeit eines Appels an die Kommission oder an die Mitgliedstaaten (zur Einleitung eines Verfahrens nach Art. 259 AEUV) vorhanden. Somit bleibt für das handelnde Organ nur die Möglichkeit, entweder den weiteren Verlauf abzuwarten oder aber die eigene Maßnahme im Sinne des Bundesverfassungsgerichts anzupassen. Dabei ist eine Reihe von Faktoren zu berücksichtigen. Ausschlaggebend für die Kooperationsbereitschaft des Unionsorgans dürfte sein, ob der Effektivitätsgewinn bei der Anpassung der eigenen Verhaltensweise die politischen Kosten eines Nachgebens gegenüber einem mitgliedstaatlichen Gericht übersteigen. Eine pauschale Einschätzung ist demnach nicht möglich. Für ein Unterlassen jedweder Verhaltensanpassung spricht zunächst die damit verbundene faktische Akzeptanz des nationalen Kontrollvorbehalts. Dies führt nicht nur zu einer Bedrohung der institutionellen Rolle der EU-Organe, sondern eröffnet den Mitgliedstaaten auch außerhalb der vertraglich vorgesehenen Wege Einflussnahmemöglichkeiten auf europäische Entscheidungsprozesse.15 Müh-
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F. Sander, DÖV 2020, 759 (768) spricht von dem im Urteil befindlichen „Diskussionsimpuls“. 13 Sogar hieran ist zu zweifeln siehe 2. Kap., B III 1, S. 105. 14 Die gilt insbesondere, da potenzielle Zwangsgelder ihrerseits ultra vires ergehen und daher nicht gezahlt werden dürfen. Siehe im Einzelnen 3. Kap., A I c) cc), S. 207 f. 15 Dies könnte im Einzelfall für die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage durch einen Mitgliedstaat sprechen. Inwieweit Art. 344 Abs. 1 AEUV an dieser Stelle einschlägig ist, kann dahinstehen, da die Ultra-vires-Kontrolle ohnehin unionsrechtlich nicht gerechtfertigt ist.
A. Wirkungen und Perspektiven des Ultra-vires-Vorbehalts
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sam erzielte politische Kompromisse können so einseitig von einem Mitgliedstaat torpediert werden, was den Glauben an die unionalen Entscheidungsmechanismen sowohl in den Regierungen der Mitgliedstaaten als auch in der breiten Öffentlichkeit erheblich schwächen könnte. Hinzu tritt die juristische Signalwirkung eines Ultra-vires-Verdikts: Bei der Kontrolle handelt es sich zwar prima facie um eine Prüfung im deutschen Verfassungsrecht – durch die inhaltlich entscheidende Frage der Wahrung der vertraglich eingeräumten Kompetenzen entfaltet sie aber auch Bedeutung für alle anderen Mitgliedstaaten. Gelangt das Bundesverfassungsgericht zu dem Schluss, eine Maßnahme sei qualifiziert kompetenzüberschreitend, so wirft es damit ein Problem in allen anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auf. Es drohen weitere Justizkonflikte und schlimmstenfalls eine umfassende Rechtskrise im Verhältnis von Union und Mitgliedstaaten. In jedem Fall wird es der handelnden Unionsstelle daher daran gelegen sein, die eigene Unabhängigkeit von der nationalen Rechtsprechung zu betonen und die Ultra-vires-Kontrolle nicht zu legitimieren. Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Motivlage wurde das Vorgehen der EZB nach dem PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit Spannung erwartet.16 Die EZB reagierte zunächst mit einer recht knappen Pressemitteilung, wonach von der Entscheidung Notiz genommen werde.17 Allerdings wolle sie innerhalb ihres Mandats weiterhin alles erforderliche unternehmen, um die Inflation an die gesetzten Ziele anzupassen und die Maßnahmen zur Erreichung einer Preisstabilität in allen Bereichen der Wirtschaft und allen Rechtsräumen der Euro-Zone umzusetzen. Diese Betonung der eigenen Unabhängigkeit stand jedoch einer Kooperation nicht im Wege. Sie ist vielmehr Teil politischer Kommunikation und als eine Absicherung für zukünftige Konflikte zu verstehen. Tatsächlich hat die EZB gleich in zweifacher Hinsicht auf das PSPP-Urteil reagiert. Erstens hat sie der Deutschen Bundesbank eine Reihe von internen Analysen und sonstigen Dokumenten zur Verfügung gestellt, die die ausführliche Befassung mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip darlegen sollen.18 Diese Dokumente durfte die Bundesbank dem Bundestag und der Bundesregierung unter der Bedingung der Vertraulichkeit zukommen lassen.19 Diese Vertraulichkeit wurde später auf Initiative 16
Siehe hierzu beispielsweise T. Giegerich, Putting the Axe to the Root of the European Rule of Law, S. 12 ff.; T. Möllers, EuZW 2020, 503 (504 f.); C. Calliess, NVwZ 2020, 897 (903 f.). 17 ECB takes note of German Federal Constitutional Court ruling and remains fully committed to its mandate, 05.05.2020, abrufbar unter https://www.ecb.europa.eu/press/pr/date/ 2020/html/ecb.pr200505∼00a09107a9.en.html (zuletzt geprüft am 20.04.2023). Auch nachdem die EZB sich gegenüber dem Bundesverfassungsgericht kooperativ gezeigt hatte, betonte ihre Präsidentin weiter ihre Unabhängigkeit von dessen Rechtsprechung, siehe Unbekannter Autor, EZB: Konflikt ist beendet, FAZ v. 06.07.2020, S. 19. 18 Ausführlich zum Nachgang des PSPP-Urteils siehe den Tatbestand von BVerfG, Beschl. v. 29.04.2021 – 2 BvR 1651/15 (PSPP-Vollstreckungsanordnung), NJW 2021, 2187 (Rn. 5 ff). 19 BT-Drs. 19/20621, S. 2 f.
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der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in Teilen aufgehoben. Der Bundestag stellte mit breiter Mehrheit fest, dass die Analysen den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Verhältnismäßigkeit genügten.20 Zum gleichen Ergebnis kam die Bundesregierung,21 womit das PSPP-Verfahren zunächst seinen Abschluss gefunden hatte: Nach Dafürhalten der aus dem Urteil verpflichteten Träger der Integrationsverantwortung hat die EZB ihren Ultra-vires-Akt korrigiert. Das Anleihekaufprogramm konnte daher fortgeführt werden. Zweitens erörterte die EZB auf der geldpolitischen Sitzung des Rates vom 3. und 4. Juni 2020 überraschend detailliert die Verhältnismäßigkeit des PSPP.22 Die Zusammenfassungen der Sitzungen sind mit wenigen Wochen Verzögerung öffentlich zugänglich. Diese Befassung kann nur sinnvoll als Reaktion auf das Bundesverfassungsgericht verstanden werden – gleichzeitig wird allerdings durch die gewählte Form eines turnusmäßigen Protokolls der Eindruck eines Nachgebens vermieden. Bei aller zwischenzeitlich eigetretenen Kooperationsbereitschaft wäre es dennoch ex post betrachtet für die europäische Rechtsgemeinschaft vorzugswürdig gewesen, die EZB hätte sich unmittelbar im mündlichen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geäußert und damit rechtzeitig zur Vermeidung eines öffentlichkeitswirksamen „Kriegs der Richter“23 beigetragen.24 Einige Beschwerdeführer des Ausgangsverfahrens waren jedoch der Ansicht, das PSPP-Urteil sei von den Beschwerdegegnern nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden. Sie beantragten daher beim Bundesverfassungsgericht den Erlass einer Vollstreckungsanordnung nach § 35 BVerfGG,25 die primär auf Feststellung gerichtet war, dass Bundesbank die Beteiligung an dem Anleihekaufprogramm untersagt sei und Bundestag sowie Bundesregierung weiterhin dergestalt auf die EZB einwirken müssten, dass diese eine den Anforderungen des Urteils entsprechende, substantiierte und nachvollziehbare Verhältnismäßigkeitsprüfung 20 BT-Drs. 19/20621, S. 4. Dies geschah auf Basis eines gemeinsamen Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen: Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihekaufprogramm PSPP der Europäischen Zentralbank, 01.07.2020, Antrag, Az. DS. 19/20621, abrufbar unter https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/206/1920621.pdf (zuletzt geprüft am 20.04.2023). Die Fraktion die Linke enthielt sich, während die AfDFraktion den Antrag ablehnte. 21 M. Schäfers, Weg frei für die Bundesbank, FAZ v. 01.08.2020, S. 20. 22 EZB, Zusammenfassung der geldpolitischen Sitzung des Rates der Europäischen Zentralbank, 25.06.2020, abrufbar unter https://www.bundesbank.de/resource/blob/835454/d b716af56772b39378f255f151f702a7/mL/2020-06-25-account-data.pdf (zuletzt geprüft am 20.04.2023), S. 17 ff. 23 Kritisch zum häufig zu beobachtenden martialischen Sprachgebrauch A. Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (5) m.w.N. Siehe auch K. Schneider, AöR 139 (2014), 197 (199). 24 Erfreulich ist daher die Beteiligung der Kommission an der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht in Sachen EU-Wiederaufbaufonds, siehe BVerfG, Urt. v. 06.12.2022 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Urteil), WM 2022, 2451, insb. Rn. 184. 25 Grundsätzlich zum nachträglichen Anfügen von Vollstreckungsanordnungen nach § 35 BVerfGG: BVerfG, Beschl. v. 07.06.2016 – 2 BvL 3/12 (R-Besoldung Sachsen-Anhalt), BVerfGE 142, 116.
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beschließt und den Beschluss öffentlich kommuniziert, oder auf sonstige Weise für die Wiederherstellung vertragskonformer Zustände sorgt.26 Zunächst war unklar, ob dem Bundesverfassungsgericht die Maßnahmen im Nachgang zum PSPP-Urteil genügten.27 Insbesondere verlangte im Urteil einen neuen Beschluss des EZB-Rats. Weder die Übersendung bisheriger Analysen noch die Zusammenfassung einer geldpolitischen Sitzung stellten einen solchen „neuen Beschluss“ dar. In diesem Sinne könnte es zu beanstanden sein, dass Bundesregierung und Bundestag nicht auf einen formalen Beschluss drängten. Allerdings bleibt fraglich, welchen Gewinn eine derartige Form mit sich bringen würde. Allein aus der fehlenden Maßnahmenqualität folgt noch kein inhaltliches Defizit. Das Bundesverfassungsgericht hat die Anträge auf Erlass einer Vollstreckungsanordnung schließlich verworfen.28 Die Anträge seien unzulässig, jedenfalls unbegründet. Die Anträge erschöpften sich nicht allein in einer Durchsetzung des PSPP-Urteils, sondern erforderten eine umfassende rechtliche Bewertung der nach dem Urteilsspruch entstandenen Sach- und Rechtslage. Hierfür sei die Einleitung eines neuen Verfahrens erforderlich.29 Etwas anderes dürfte allenfalls dann gelten, wenn das von der in der Sachentscheidung ausgesprochenen Handlungspflicht betroffene Organ gar nicht tätig geworden sei oder nur in einer Weise, die so offensichtlich hinter den sich aus der Sachentscheidung ergebenden Anforderungen zurückbleibt, dass dies materiell einer Untätigkeit gleichkommt.30 Dies sei aber vorliegend nicht der Fall gewesen. Sowohl die Bundesregierung als auch der Bundestag hätten sich inhaltlich ernsthaft mit dem Handeln der EZB befasst und seien den im Urteil vom 5. Mai 2020 ausgesprochenen Verpflichtungen in einer Weise nachgekommen, die deutlich über ein Untätigbleiben hinausgehe.31 In der Tat bestand wenig Veranlassung für ein weiteres Tätigwerden der Verfassungsorgane: Die EZB hat sich eingehend mit den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts auseinandergesetzt. Vor allem im Rahmen der geldpolitischen Sitzung vom 3. und 4. Juni 2020 beschäftigte sich das Präsidium ausführlich mit diversen wirtschaftlichen Folgen des Programms, insbesondere mit dem Problem des Zombie-Lendings,32 mit den Auswirkungen auf die private Alters26
BVerfG, Beschl. v. 29.04.2021 – 2 BvR 1651/15 (PSPP-Vollstreckungsanordnung), NJW 2021, 2187. 27 T. Giegerich, Putting the Axe to the Root of the European Rule of Law, S. 13. 28 Kritisch zu diesem Beschluss, C. Walter, Integration 44 (2021), 211 (213). 29 BVerfG, Beschl. v. 29.04.2021 – 2 BvR 1651/15 (PSPP-Vollstreckungsanordnung), NJW 2021, 2187 (Rn. 78). 30 BVerfG, Beschl. v. 29.04.2021 – 2 BvR 1651/15 (PSPP-Vollstreckungsanordnung), NJW 2021, 2187 (Rn. 79 f.). 31 BVerfG, Beschl. v. 29.04.2021 – 2 BvR 1651/15 (PSPP-Vollstreckungsanordnung), NJW 2021, 2187 (Rn. 97 ff). 32 Siehe hierzu F. Schivardi/Sette Enrico/G. Tabellini, The Review of Corporate Finance Studies 2020, 569.
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
vorsorge und auf die Vermögen von privaten Haushalten sowie mit den Folgen der veränderten öffentlichen Refinanzierungsbedingungen.33 Dabei leugnete es die vom Bundesverfassungsgericht aufgelisteten negativen Effekte nicht grundsätzlich, auch wenn es beispielsweise hinsichtlich der Folgen auf die private Altersvorsorge noch eine mangelnde Empirie beklagte,34 sondern setzte diese Effekte in das Verhältnis mit den positiven Auswirkungen des Programms. Dabei wurde vor allem der unmittelbare Zusammenhang zwischen den wirtschaftlichen Problemen, die das PSPP beheben soll, mit dem aktuellen Niedrigzinsumfeld hervorgehoben.35 Die Relevanz der währungspolitischen Folgen, welche für eine wertende Gesamtbetrachtung zwingend herausgearbeitet werden muss, wurde so mit den wirtschaftlichen Konsequenzen verbunden. Liest man diese Passagen parallel zu den korrespondierenden Randnummern des PSPP-Urteils36, wird eine klare Bezugnahme auf die bundesverfassungsgerichtlichen Bedenken offenbar. Sie sind bei weitem ausführlicher und, was schon aus Gründen der zeitlichen Abfolge nicht verwundern kann, mehr an den Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts ausgerichtet als das ebenfalls für ultra vires erklärte Weiss-Urteil des EuGH.37 Aus den bisherigen Erfahrungen im PSPP-Verfahren lässt sich ein positives Fazit zur Kooperationsbereitschaft von Unionsorganen und damit auch zur grundsätzlichen Eignung der Ultra-vires-Kontrolle als Steuerungsinstrument ziehen.38 Beachtenswert ist jedoch die besondere Situation im PSPP-Urteil, welches sich als leicht umsetzbar erwies: Es handelte sich dabei noch nicht um eine Letztentscheidung zum Kaufprogramm, sondern lediglich um eine Feststellung der mangelnden Darlegung von Verhältnismäßigkeitserwägungen.39 Unter den vorstellbaren Ultra-vires-Konstellationen ist dies wohl jene, bei der ein Unionsorgan die geringsten politischen Kosten im Fall einer Berücksichtigung des Urteils fürchten muss.40 Insoweit wurde auch in der Literatur die geringe Menge an 33 Hierauf ebenfalls abstellend BVerfG, Beschl. v. 29.04.2021 – 2 BvR 1651/15 (PSPPVollstreckungsanordnung), NJW 2021, 2187 (Rn. 100). 34 EZB, Zusammenfassung der geldpolitischen Sitzung des Rates der Europäischen Zentralbank, 25.06.2020, abrufbar unter https://www.bundesbank.de/resource/blob/835454/d b716af56772b39378f255f151f702a7/mL/2020-06-25-account-data.pdf (zuletzt geprüft am 20.04.2023), S. 18 f. 35 EZB, Zusammenfassung der geldpolitischen Sitzung des Rates der Europäischen Zentralbank, 25.06.2020, abrufbar unter https://www.bundesbank.de/resource/blob/835454/d b716af56772b39378f255f151f702a7/mL/2020-06-25-account-data.pdf (zuletzt geprüft am 20.04.2023), S. 18. 36 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 170 ff.). 37 Hier insbesondere EuGH, Urt. v. 11.12.2018 – C-493/17 (Weiss), ECLI:EU:C:2018:1000 (Rn. 53 ff., 71 ff.). 38 An dieser Stelle kommt es noch nicht darauf an, wie die Kommission im konkreten Fall reagiert, siehe hierzu sogleich 3. Kap., A I 1 c), S. 198 ff. 39 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 235). 40 Siehe nur die öffentlich kundgetane Ansicht der EZB, die aufgeworfenen Probleme seien
A. Wirkungen und Perspektiven des Ultra-vires-Vorbehalts
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Druck auf die europäischen Institutionen angemerkt.41 Zumindest soweit die Ultra-vires-Kontrolle nicht nur als Instrument zur Erreichung eines bestimmten Ergebnisses bei der Kompetenzauslegung gesehen wird, sondern auch als Weg zur Gewährleistung einer bestimmten Qualität des Auslegungsvorgangs, erweist sich das Auftragen einer Obliegenheit zur Nachbesserung der Begründung als geeigneter Weg. Im Regelfall der endgültigen Unanwendbarkeitserklärung bliebe dem europäischen Organ zur Konfliktentschärfung wohl nur die Möglichkeit, den eigenen Akt zurückzunehmen oder den Vorstellungen des Bundesverfassungsgerichts entsprechend anzupassen. Im Falle einer Verweigerung drohten ihm die oben genannten politischen Kosten, nämlich die Verweigerung der deutschen Beteiligung an der Durchführung – mit allen Konsequenzen. Wie an späterer Stelle gezeigt wird, waren die Mitgliedstaaten in derartigen Fällen in der Vergangenheit jedoch auch bereit, selbst den Justizkonflikt durch eine Anpassung des geschriebenen Rechts oder der Rechtsprechung aufzulösen. Dies demonstriert, dass eine beharrende Haltung durchaus Erfolge bringen kann.42 b) Wirkungen auf den Gerichtshof Die Annahme eines Ultra-vires-Akts setzt immer die vorherige Befassung des EuGH voraus. Der abschließende Urteilsspruch beinhaltet damit auch eine Herausforderung des Gerichtshofs, denn der Kern der Unionsrechtswidrigkeit liegt gerade in der fehlenden nationalen Akzeptanz der unionsgerichtlichen Letztentscheidungskompetenz.43 Für den Gerichtshof hat dieses Aufbegehren eines höchsten nationalen Gerichts daher mehr noch als für andere Organe der Union eine grundsätzliche Bedeutung. Ultra-vires-Konstellationen sind für ihn Teil eines übergeordneten Konflikts um die Akzeptanz seiner Urteile. Die Frage nach dem Verhältnis der Gerichte im Mehrebenensystem erfuhr über Jahrzehnte hinweg große Aufmerksamkeit und war dabei ein ständiger Begleiter bei der Diskussion um den Fortgang der Integration.44 ohne Verwerfungen lösbar, C. Lagarde, Letter from the ECB President to Mr Sven Simon, MEP, on monetary policy, 29.06.2020, abrufbar unter https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/o ther/ecb.mepletter200629 Simon∼ece6ead766.en.pdf (zuletzt geprüft am 20.04.2023), S. 2. 41 U. R. Haltern, NVwZ 2020, 817 (822); H. Siekmann, EuZW 2020, 491 (493). 42 Siehe dazu sogleich 3. Kap., A I 1 c) cc), S. 209 ff. 43 Siehe 1. Kap., C I 1, S. 51 ff. 44 So geht H. Hirte, AnwBl 2021, 214 (214) davon aus, dass der Brexit ganz entscheidend dadurch ausgelöst wurde, dass das Vereinigte Königreich die Rechtsprechung des EuGH nicht mehr akzeptieren wollte. Ein Ende der Bindung an Entscheidungen des EuGH war daher ein wichtiges Verhandlungsziel des Vereinigten Königreichs im Rahmen des EU-Austrittsabkommens, siehe N. Nusplinger/D. Steinvorth, „Merry Brexmas“ – das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Grossbritannien ist da, NZZ v. 24.12.2020. Zur britischen Sorge vor einem Identitätsverlust durch die Rechtsprechung des EuGH siehe auch P. M. Huber, Der Staat 56 (2017), 389 (408). Ähnlich umstritten ist die Rolle des Gerichtshofs in der Schweiz bei den Debatten um das Verhältnis zur Union. Siehe zum Einfluss des EuGH auf die Rechtsprechung dieses Drittstaats M. Oesch, Europarecht, Rn. 913 ff.
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Auch wenn die Bedeutung eines Ultra-vires-Verdikts also für den Gerichtshof signifikant ist, ist seine Möglichkeit zur Reaktion äußerst beschränkt. Es fehlt ihm nicht nur an der Möglichkeit, selbst ein Vertragsverletzungsverfahren zu initiieren. Er kann darüber hinaus sein angegriffenes Urteil nicht nachträglich anpassen. Anders als den sonstigen Unionsorganen ist ihm damit der Weg der Kooperation nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zunächst abgeschnitten. Somit verbleiben nur informelle Reaktionsmöglichkeiten, wie zum Beispiel die Veröffentlichung von Pressemitteilungen. Im PSPP-Verfahren reagierte der EuGH mit einem knappen Verweis auf die Verbindlichkeit seiner Entscheidungen.45 c) Aussichten eines Vertragsverletzungsverfahrens Die wichtigsten Reaktionsmöglichkeiten auf eine erfolgreiche Ultra-vires-Kontrolle sind für die Union die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens und in diesem Rahmen die Erhebung einer Aufsichtsklage nach Art. 258 Abs. 2 AEUV. Im Folgenden sollen daher ihre Erfolgsaussichten betrachtet und ihre Zweckmäßigkeit analysiert werden. aa) Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens Bereits bei der Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 Abs. 1 AEUV verfügt die Kommission nach gefestigter, gleichwohl umstrittener Auffassung des Gerichtshofs über ein Entschließungsermessen.46 Wie bereits festgestellt, ist die Ultra-vires-Kontrolle nicht mit dem Unionsrecht vereinbar.47 Die Kommission kann daher sowohl gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts selbst als auch gegen etwaige Reaktionen deutscher Verfassungsorgane ein Vertragsverletzungsverfahren initiieren. Inwieweit dies zweckdienlich ist, hängt in hohem Maße von den Erwartungen der Kommission und dem zu erwartenden Fortgang eines solchen Verfahrens ab. Bereits im Jahr 1974 sah sich die Kommission im Nachgang der Solange-IEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts48 einer vergleichbaren Situation ausgesetzt. Dort hat das Bundesverfassungsgericht mehrere Normen des Unionsrechts, in Gestalt der Auslegung, die sie durch den EuGH erfahren haben, an den Grundrechten des Grundgesetzes gemessen und damit den Anwendungsvorrang des Unionsrechts sowie dessen Einheitlichkeit abstrakt auch für die Zu-
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EuGH, Pressemitteilung im Nachgang zum Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020, 08.05.2020, abrufbar unter https://curia.europa.eu/jcms/upload/d ocs/application/pdf/2020-05/cp200058de.pdf (zuletzt geprüft am 20.04.2023). 46 Vgl. EuGH, Urt. v. 23.5.1990 – C-72/90 (Asia Motor France/Kommission), Slg. 1990, I-2181 (Rn. 13). Siehe ausführlich, auch zur Kritik C. Nowak, Vertragsverletzungsverfahren, in: Leible/Terhechte (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht Bd. 3, § 10, Rn. 18 ff. 47 Siehe 1. Kap., C I 2 e), S. 63. 48 BVerfG, Beschl. v. 29.05.1974 – BvL 52/71 (Solange I), BVerfGE 37, 271.
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kunft gefährdet. Ohne ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, richtete die Kommission einen Brief an die Bundesregierung, in dem sie unter anderem auf die einheitliche Anwendung des Unionsrechts hinwies und die Bundesregierung bat zu prüfen, wie „die Entwicklung wieder in den Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung zurückgelenkt werden kann“ und der Kommission diese Überlegungen mitzuteilen.49 Allen voran der damalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts und Vorsitzende des für die Solange-I-Entscheidung zuständigen zweiten Senats, Walter Seuffert, sah hierin einen Versuch der Kommission, auf eine unzulässige Beeinträchtigung des Bundesverfassungsgerichts hinzuwirken und artikulierte seine Bedenken gegenüber der Bundesregierung.50 Diese verfasste daraufhin ein beschwichtigendes Antwortschreiben an die Kommission, in der sie klar machte, dass sie eine Harmonisierung von europäischer und deutscher Rechtsordnung dahingehend erreichen wolle, dass sie auf die Schaffung eines Grundrechtskatalogs in der Union hinwirke.51 Die Kommission sah in der Folge von der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik ab. Anders verlief Jahrzehnte später die Reaktion auf das PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Hier entschloss sich die Kommission zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens.52 Dabei war zum Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung das zugrundeliegende Problem, die Auseinandersetzung um die Begründung des PSPP, bereits gelöst.53 Das Verfahren richtete sich jedoch ausschließlich gegen eine behauptete Verletzung der Vorlagepflicht durch das Bundesverfassungsgericht und die Missachtung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts, nicht aber gegen das durch das Bundesverfassungsgericht an die Bundesbank gerichtete Verbot, sich an dem Anleiheaufkaufprogramm zu beteiligen, solange der EZB-Rat nicht die fehlenden Verhältnismäßigkeitserwägungen nachgeholt hat. Weder das Mahnschreiben der Kommission an die Bundesregierung noch deren Antwort sind jedoch zunächst veröffentlicht worden. Erst später sind die Dokumente durch Anfragen nach dem IFG Teilen der Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht worden.54 So 49
BArch, B 141/76424. BArch, B 141/76423. Diese Lesart ist zumindest nicht fernliegend, sodass der Kommission hier wenigstens mangelnde Sensibilität vorgeworfen werden muss. Jedoch sah sie es in der Folge zumindest nicht (mehr) als erforderlich an, dass die Bundesregierung auf das Bundesverfassungsgericht einwirkt. 51 BArch, B 136/17928. 52 Das Vertragsverletzungsverfahren wurde durch Schreiben der Europäischen Kommission an den Bundesminister für Wirtschaft und Energie vom 09.06.2021 eingeleitet. Dieses Schreiben ist nicht öffentlich, siehe aber die Auseinandersetzung mit dem Verfahren bei R. Derksen, EuZW 2021, 938 (938). 53 Hierauf verwiesen 29 Staatsrechtslehrer, die sich im Rahmen eines öffentlichen Aufrufs an die Europäische Kommission gegen den Fortbetrieb des Vertragsverletzungsverfahrens aussprachen, siehe FAZ Einspruch v. 04.07.2021. Als „ungeschickt“ bezeichnet H. Hirte, AnwBl 2021, 214 (215) die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens. 54 Der Brief der Kommission stammt vom 09.06.2021 und trägt das Zeichen INFR(2021) 50
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ergab sich die Antwort der Bundesregierung zunächst nur aus der Pressemitteilung, in der die Kommission die Einstellung des Vertragsverletzungsverfahrens bekannt gab. Das Schreiben der Kommission fasst zunächst die PSPP-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zusammen und erhebt folgende Vorwürfe gegenüber der Bundesrepublik: Indem die Ultra-vires-Kontrolle ausgeübt wurde, werden erstens die allgemeinen Grundsätze der Autonomie, des Anwendungsvorrangs, der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts missachtet und zweitens die bindende Wirkung von gemäß Art. 267 AEUV erlassenen Urteilen des Gerichtshofs und die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV missachtet. Auch die Verweigerung einer zweiten Vorlage an den EuGH stelle eine Rechtsverletzung dar. Anders als im Schreiben im Zusammenhang mit der Solange-I-Entscheidung wurde jedoch keine Forderung nach einer Lenkung der Entwicklung in den Rahmen der Gemeinschaftsordnung erhoben, sodass zumindest aus dieser Perspektive kein Übergriff in die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte moniert werden kann. Die Antwort der Bundesregierung war differenzierter als in der Pressemitteilung dargestellt und hat trotz aller unionsfreundlicher Rhetorik eben kein Verwerfungsmonopol des EuGH für das Unionsrecht anerkannt.55 Insbesondere eine von Seiten der Kommission schlicht hinzugedichtete Formulierung, die Bundesregierung werde alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um in Zukunft eine Wiederholung einer Ultra-vires-Feststellung aktiv zu vermeiden, erweckte den falschen Eindruck, die Bundesregierung respektiere womöglich die Unabhängigkeit der Justiz nicht vollumfänglich.56 Tatsächlich hat die Bundesregierung die Unabhängigkeit der des Bundesverfassungsgerichts jedoch ausdrücklich gewürdigt. Dennoch enthielt das Schreiben durchaus eine Zusicherung, die zumindest kritisch beleuchtet werden muss. So heißt es: „Die Bundesregierung wird vor diesem Hintergrund entsprechend ihrer vertraglichen Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um die vollständige Beachtung der Grundsätze der Autonomie, des Anwendungsvorrangs, sowie der Wirksamkeit und der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen, um die dem Gerichtshof durch die Verträge übertragenen Rechtsprechungskompetenzen – insbesondere die Kompetenz im Einklang mit den Verträgen das Unionsrecht ver2114; C(2021)4251 final. Die Antwort der Bundesregierung stammt vom 03.08.2021. Im politischen Betrieb ist dies teilweise offenbar noch nicht bekannt, siehe beispielsweise die Begründung der AfD zu dem Antrag BT-Drs. 20/6172, S. 5. 55 Siehe ausführlich zu den Unterschieden zwischen dem Schreiben der Bundesregierung und seiner Darstellung in der Mitteilung der Kommission G. Roth, ZIP 2022, 1142 (1142 f.). 56 Siehe hierzu die kleine Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag v. 31.01.2022, BTDrs. 20/557 sowie die wenig aufschlussreiche Antwort der Bundesregierung v. 14.02.2022, BT-Drs. 20/658. Siehe auch die besorgte Reaktion des bayerischen Staatsministers für Justiz, Georg Eisenreich, beck-aktuell v. 06.12.2021, Bayerns Justizminister fordert Aufklärung nach Einstellung des EZB-Verfahrens der EU.
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bindlich und abschließend auszulegen sowie über seine Gültigkeit zu urteilen – zu gewährleisten.“57
Entscheidend dürfte sein, welche Mittel der Regierung „zur Verfügung stehen“. Eine inhaltliche Einflussnahme auf Urteile scheidet hier selbstredend aus. Soweit lediglich zum Ausdruck gebracht werden soll, man bemühe sich im Vorfeld um Vermeidung derartiger Konfliktsituationen, beispielsweise durch aktive Verhinderung von Ultra-vires-Akten, so wäre dies unbedenklich. Es ist aber unklar, ob in einer derartigen Zusicherung wirklich ein nennenswerter Erfolg des Vertragsverletzungsverfahrens erblickt werden könnte. Auch bleibt bei der gewählten Formulierung offen, wie sich die Bundesregierung zu dem Ultra-vires-Vorbehalt konkret verhält – schließlich erkennt auch das Bundesverfassungsgericht die Kompetenz des Gerichtshofs an „im Einklang mit den Verträgen das Unionsrecht verbindlich und abschließend auszulegen sowie über seine Gültigkeit zu urteilen.“ Der Disput entsteht dort, wo der Einklang mit den Verträgen negiert wird. Die Kommission kam jedenfalls zu dem Schluss, das Vertragsverletzungsverfahren sei einzustellen. Dies mag auf den ersten Blick verwundern, da das PSPPUrteil von den deutschen Verfassungsorganen umgesetzt wurde. Die Verfassungsorgane wirkten dergestalt auf die EZB ein, dass diese in der Folge genauere Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen veröffentlichte. Dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts und der Letztentscheidungskompetenz des Gerichtshofs wurden also nicht Genüge getan. Auch gegen derart abgeschlossene Vertragsverletzungen können jedoch Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet und eine Aufsichtsklage erhoben werden.58 Diese Verfahren sind dann primär auf die Ausräumung einer Wiederholungsgefahr sowie auf die Klärung grundsätzlicher Fragen des Unionsrechts gerichtet.59 Die im Vorverfahren erwirkten Erklärungen der Bundesregierung vermögen nichts an dem grundsätzlichen Problem der nur bedingten Anerkennung des Vorrangs des Unionsrechts und der Letztentscheidungskompetenz des EuGH zu ändern. Wenn aber die Kommission mit dem Vertragsverletzungsverfahren keine Verhaltensänderung der Bundesrepublik erreichen konnte und zudem nicht bereit war, eine Klärung durch den Gerichtshof herbeizuführen, so stellt sich die Frage, weshalb ein Verfahren überhaupt eingeleitet wurde. Offenbar ging es der Kommission auch um die symbolische Wirkung eines Bekenntnisses der Bun-
57
S. 4 des Schreibens der Bundesregierung vom 03.08.2021. C. Nowak, Vertragsverletzungsverfahren, in: Leible/Terhechte (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht Bd. 3, § 10, Rn. 44 ff. 59 Das Vorliegen eines besonderen Rechtsschutzbedürfnisses, beispielsweise in Form einer Wiederholungsgefahr wurde in der Vergangenheit als Zulässigkeitsvoraussetzung für derartige Vertragsverletzungsverfahren betrachtet. Von dieser Rechtsprechung ist der EuGH mittlerweile abgerückt, siehe im Einzelnen W. Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 258 AEUV, Rn. 31 f. 58
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
desregierung zu den oben genannten Grundsätzen,60 womöglich auch gegenüber Gerichten anderer Mitgliedstaaten.61 Die fehlende Klarheit hinsichtlich der Motive der Kommission bringt weitere Probleme mit sich. Auch bei der Entscheidung über die Einleitung eines Verfahrens ist der Grundsatz der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten aus Art. 4 Abs. 1 Satz 1 EUV zu beachten.62 Außerhalb Deutschlands haben bereits die Verfassungsgerichte Tschechiens im Fall Holubec63 und Dänemarks im Fall Ajos64 eine mit der Ultra-vires-Kontrolle vergleichbare Kompetenzkontrolle durchgeführt.65 Auf diese Verfahren reagierte die Kommission nicht mit Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens.66 Im Einzelfall sollten zumindest besondere Argumente für die Initiierung einer Aufsichtsklage sprechen. Die Größe und politische Relevanz der Bundesrepublik oder der institutionelle Machtkampf zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH zählen jedenfalls nicht zu den legitimen Gründen.67 Ließe man eine derartige Differenzierung zu, wäre ein zentraler Aspekt des Gleichbehandlungsgrundsatzes, die identische Geltung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten,68 in Frage gestellt.69
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Ebenso A. Lang, Der Staat (69) 2021, 99 (121 f.). R. Mögele, EuZW 2021, 609 (610). 62 C. Nowak, Vertragsverletzungsverfahren, in: Leible/Terhechte (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht Bd. 3, § 10, Rn. 19. Allgemein zu diesem Grundsatz T. Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, S. 823 ff. 63 ´ ´ S 5/12 (Holubec). Siehe zu dieser Entscheidung Ustavnı´ soud, Urt. v. 31.01.2012 – Pl. U M. Bobek, EuConst 10 (2014), 54; A. Vince, EuR, 194; M. Faix, EuGRZ 2012, 597. Vergleichend mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 172 ff. 64 Højesteret, Urt. v. 06.12.2016 – C 15/2014 (Ajos), UfR 2017, .824H. Siehe hierzu R. Holdgaard/D. Elkan/G. K. Schaldemose, CML Rev. 55 (2018), 17. Zum Vergleich mit der Ultra-vires-Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts, siehe R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 178 ff. 65 Der französische Conseil d’E´tat hat diese Möglichkeit jedoch jüngst verworfen, siehe B. Stepanek, EuZW 2021, 701 (704). 66 Auf diese Ungleichbehandlung hinweisend C. Calliess, NVwZ 2020, 897 (904); M. Ludwigs, EuZW 2020, 530 (533); C. Möllers, Sollte die EU-Kommission Deutschland wegen des Karlsruher Ultra-Vires-Urteils verklagen? CONTRA, Verfassungsblog. 67 So aber A. Thiele, GLJ 15 (2014), 241 (248). I. Pernice, Sollte die EU-Kommission Deutschland wegen des Karlsruher Ultra-Vires-Urteils verklagen? PRO, Verfassungsblog hingegen stellt auf die grundsätzliche Bedeutung des PSPP-Falls für die Bedeutung der EZB und die Zukunft des Euro sowie auf die rechtliche Bedeutung der Debatte um den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ab. 68 S. Schill/C. Krenn, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 65. EGL. August 2018, Art. 4 EUV, Rn. 10 m.w.N. 69 Dies ist besonders kritisch, da die Gleichheit der Mitglieder Grundbedingung für das Gelingen einer freiwilligen Integration ist. Deshalb kommt dem Gleichheitsgrundsatz überragende Bedeutung in der Unionsrechtsordnung zu, siehe T. Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, S. 829. 61
A. Wirkungen und Perspektiven des Ultra-vires-Vorbehalts
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Insgesamt können im Vorverfahren wenig konkrete Ergebnisse erzielt werden. Die Bundesregierung kann weder das Urteil des Bundesverfassungsgerichts revidieren, noch kann sie eine Kontrolle für die Zukunft mit Sicherheit ausschließen. Ein Vorverfahren ergibt jenseits symbolischer Wirkungen also regelmäßig nur dann Sinn, wenn die Bereitschaft zur Erhebung einer Aufsichtsklage besteht. bb) Erfolgsaussichten einer Aufsichtsklage Bislang kam es noch nie zu einer Aufsichtsklage wegen der Annahme eines Ultravires-Akts. Angesichts der bereits festgestellten Europarechtswidrigkeit der Ultra-vires-Kontrolle70 wäre eine solche Klage regelmäßig begründet. Auch die zuweilen im Schrifttum vorgebrachten Zweifel an ihrer Zulässigkeit verfangen – wie nun gezeigt wird – im Ergebnis nicht: Zunächst ist festzuhalten, dass die Zulässigkeit nicht an einem untauglichen Verfahrensgegenstand scheitert. Es handelt sich bei dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zwar um einen Akt der deutschen Judikative – aus Sicht des Unionsrechts ist es aber nicht wesentlich, welche nationale Gewalt gegen die Verträge verstößt.71 So hat der EuGH bereits in einem Verfahren gegen die Republik Italien die Möglichkeit einer Vertragsverletzung durch mitgliedstaatliche Gerichte angenommen.72 2018 verurteilte er mit der Französischen Republik erstmals einen Mitgliedstaat wegen einer judikativen Vertragsverletzung.73 Mögliche Bedenken, die Union setze damit einen Anreiz zur Missachtung der Gewaltentrennung und der Unabhängigkeit der Justiz in den Mitgliedstaaten, müssen zwar ernst genommen werden – dies verlangt aber nicht eine komplette Aufgabe der Aufsichtsklage gegen Justizakte.74 Der EuGH kann im Regelfall davon ausgehen, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte im Anschluss an sein Urteil selbst und ohne exekutive Einflussnahme ihre Rechtsprechung anpassen. Zudem darf die Union angesichts von Art. 2, 7 und 29 EUV grundsätzlich auf die Rechtsstaatlichkeit ihrer Mitglieder vertrauen, sodass nicht mit einer illegitimen Einmischung in Angelegenheiten der Justiz zu rechnen ist. Es besteht für die mitgliedstaatlichen Exekutiven auch die Möglichkeit, legal auf die Rechtsprechung
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Siehe 1. Kap., C I 2 e), S. 63. EuGH, Urt. v. 09.12.2003 – C-129/00 (Kommission/Italien), Slg., I-14672 (Rn. 29). 72 EuGH, Urt. v. 09.12.2003 – C-129/00 (Kommission/Italien), Slg., I-14672. Im konkreten Verfahren wurde dies aufgrund eines entsprechenden Antrags der Kommission unter dem Gesichtspunkt eines uneindeutigen Legislativakts diskutiert. Dies steht im Einzelfall einer abweichenden Herangehensweise nicht im Weg, M. Breuer, EuZW 2004, 199 (201). 73 EuGH, Urt. v. 04.10.2018 – C-416/17 (Accor II), ECLI:EU:C:2018:811. Gerügt wurde vor allem die Missachtung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV durch den französischen Conseil d’E´tat. Siehe zu dem Urteil des EuGH A. Linn/B. Pignot, IStR 2019, 87; P. Schultze, IStR 2019, 233. 74 Zumal nur in Ausnahmefällen gerichtliche Vertragsverletzungen überhaupt von der Kommission verfolgt werden, siehe hierzu W. Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 258 AEUV, Rn. 28. 71
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
Einfluss zu nehmen, indem sie Gesetzesänderungen anstreben und somit zumindest für die Zukunft Konflikte der eigenen Rechtsordnung mit dem Unionsrecht ausräumen. Trotz der grundsätzlichen Möglichkeit der Aufsichtsklagen gegen Justizakte wird teils vertreten, diese seien gegen Ultra-vires-Verdikte nationaler Gerichte per se unzulässig, da der EuGH institutionell befangen sei.75 Da das nationale Urteil auch eine Entscheidung des EuGH überprüfe und für offensichtlich fehlerhaft befinde, müsse der EuGH im Vertragsverletzungsverfahren über die Vertretbarkeit seiner eigenen Rechtsauffassung entscheiden. Hierbei sei keine unvoreingenommene Befassung sichergestellt. Diese Auffassung leidet jedoch gleich unter mehreren Problemen: Die europäischen Rechtsquellen kennen keinen Grundsatz der institutionellen Befangenheit der Unionsgerichte. Ähnlich wie im deutschen Recht, vgl. § 41 ZPO, befasst sich Art. 18 EuGH-Satzung mit der individuellen Befangenheit des einzelnen Richters. Die Schöpfung eines ungeschriebenen Grundsatzes der institutionellen Befangenheit eines letztinstanzlichen Gerichts – mit der Folge eines gänzlichen Ausschlusses richterlicher Kontrolle – ist daher höchst angreifbar. Selbst wenn man dies im Grundsatz akzeptierte, wäre die Anwendbarkeit im Fall einer Ultra-vires-Kontrolle jedoch regelmäßig abzulehnen. Geht man wie hier von einer Unionsrechtswidrigkeit der Kontrolle aus, so handelt es sich hierbei um eine nationale Anmaßung der Letztentscheidungskompetenz. Eine derartige Anmaßung kann aber nicht die Exklusion des eigentlich zuständigen Gerichts, des EuGH, zur Folge haben. Auch in der Sache ist die Annahme einer Befangenheit nicht zwingend mit der oben genannten Argumentation zu begründen: Inhalt des Verfahrens ist zunächst nicht eine erneute Auseinandersetzung mit dem früheren Urteil des EuGH. Der Gerichtshof hat bereits abschließend in dieser Sache entschieden und hat sich nun allein mit der Rechtmäßigkeit einer nationalen Kompetenzkontrolle auseinanderzusetzen.76 Hierbei ist nicht davon auszugehen, dass er diese im Grundsatz akzeptiert und das Vorliegen der Voraussetzungen im Einzelfall nachprüft. Verbleibenden Zweifeln an der Neutralität der Richter könnte mit einer vom Ursprungsverfahren abweichenden Verweisung an einen Spruchkörper nach Art. 60 EuGH-VerfO begegnet werden.77 75
P. Kirchhof, NJW 2020, 2057 (Rn. 31). Andernorts wird dies zwar nicht als Prozesshindernis, aber doch als Problem wahrgenommen, siehe M. Nettesheim, ZRP 2021, 222 (224); B. Wegener, EuR 2020, 347 (356); I. Pernice, Sollte die EU-Kommission Deutschland wegen des Karlsruher Ultra-Vires-Urteils verklagen? PRO, Verfassungsblog. Viel beachtet hat sich der am PSPP-Urteil selbst beteiligte, ehemalige Präsident des Vundesverfassungsgerichts, A. Voßkuhle, ähnlich geäßert, wobei unklar bleibt, inwieweit Befangenheit hier normativ gemeint war. Siehe A. Kaufmann, „Befangener kann man nicht sein“ – Ex-BVerfG-Präsident Voßkuhle zum Streit um EZB-Urteil, in: LTO v. 22.06.2021, abrufbar unter: https://www.lto.de/r echt/justiz/j/ex-bverfg-praesident-andreas-vokuhle-zu-europischer-rechtsgemeinschaft-recht sstaatlichkeit-ezb-entscheidung-eugh-polen-ungarn/ (zuletzt geprüft am 20.04.2023). 76 Siehe sogleich 3. Kap., A I 1 c) cc), S. 205 ff. 77 Dies ist freilich nur möglich, soweit die erste Befassung mit dem Sachverhalt nicht im
A. Wirkungen und Perspektiven des Ultra-vires-Vorbehalts
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Damit stehen einer Aufsichtsklage gegen die Bundesrepublik keine grundsätzlichen Zulässigkeitshindernisse entgegen. Eine Klage wäre sodann begründet, wenn die von dem Antragsteller behaupteten Tatsachen zutreffen und sich aus diesen Tatsachen ein Verstoß gegen Unionsrecht ergibt, der dem beklagten Mitgliedstaat zuzurechnen ist.78 Mangels Schwierigkeiten auf der tatsächlichen Ebene oder bezüglich der Zurechnung kommt es allein auf den Vertragsverstoß an. Wie bereits festgestellt, verstößt die mitgliedstaatliche Ultra-vires-Kontrolle gegen das Normverwerfungsmonopol des EuGH aus Art. 19 Abs. 3 lit. b EUV, Art. 267 AEUV.79 Indem das Bundesverfassungsgericht anderen deutschen Organen die Mitwirkung an dem Unionsakt untersagt, gefährdet es die Einheitlichkeit und Effektivität des Unionsrechts. Aufsichtsklagen gegen Ultra-vires-Urteile des Bundesverfassungsgerichts haben damit, vorbehaltlich des Vorliegens der sonstigen Sachentscheidungsvoraussetzungen, Aussicht auf Erfolg.80 Daneben kann auch gegen die aus dem Urteil folgenden Maßnahmen anderer deutscher Organe vorgegangen werden. Damit wurde aber noch nichts darüber gesagt, ob eine solche Entscheidung des Gerichtshofs innerhalb der deutschen Rechtsordnung Geltung beanspruchen könnte, oder ihrerseits ultra vires erginge.81 cc) Zweckdienlichkeit einer Aufsichtsklage Auch die Erhebung einer Aufsichtsklage liegt nach Art. 258 Abs. 2 AEUV im Ermessen der Kommission. Die Kommission wird sich daher unabhängig von den Erfolgsaussichten auch mit der Zweckdienlichkeit eines derartigen Vorgehens auseinandersetzen.82 Mit einer Aufsichtsklage könnte die Kommission drei wesentliche Zwecke verfolgen: Erstens könnte sie durch ihr Vorgehen auf eine Klärung der europäischen Rechtslage hoffen. Etwaige Unklarheiten in der Sache oder im Verhältnis der Gerichte könnten in einem neuen Verfahren beseitigt werden. Zweitens könnte sie damit versuchen, das Unionsrecht im Einzelfall durchzusetzen, indem sie den Mitgliedstaat zur Änderung seines Verhaltens veranlasst. Drittens ist mit der Aufsichtsklage eine Verteidigung der europäischen Institutionen und Entscheidungsmechanismen verbunden. Die Klageerhebung wäre ein deutliches Zeichen an die sonstigen Unionsorgane und an alle Mitgliedstaaten, dass die Einheit des Unionsrechts mit den vertraglich zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigt wird. Nachfolgend sollen diese drei Hauptzwecke näher untersucht werden. Plenum erfolgte. So aber bei EuGH, Urt. v. 11.12.2018 – C-493/17 (Weiss), ECLI:EU:C:2018: 1000. 78 W. Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 258 AEUV, Rn. 34. 79 Siehe 1. Kap., C I 2 e), S. 63. 80 Ebenso U. Everling, EuR 2010, 91 (104). 81 Siehe hierzu 3. Kap., A I 1 c) cc), S. 207 f. 82 Siehe auch die ausführliche Darstellung der Zwecke bei I. Pernice, Sollte die EUKommission Deutschland wegen des Karlsruher Ultra-Vires-Urteils verklagen? PRO, Verfassungsblog.
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Die Vorstellung von der Aufsichtsklage als Möglichkeit der Klärung der Rechtslage basiert auf der Annahme, die Argumente des nationalen Gerichts und des EuGH könnten nach einem erfolgten Ultra-vires-Verdikt noch einmal ausgetauscht und das Problem anschließend einer rechtlichen Lösung zugeführt werden. Dies ist jedoch äußerst unwahrscheinlich: Der EuGH hat bereits mindestens ein Mal, nach erfolgter Vorlage, Gelegenheit zur Erörterung seiner Rechtsansicht gehabt. Dem Bundesverfassungsgericht kam bereits im Rahmen der Vorlagefrage die Möglichkeit zu, seine Bedenken gegen die Zuständigkeit der Union für eine Maßnahme vorzubringen. Agierten beide Gerichte umsichtig und reagierten auf die Ausführungen des jeweils anderen, ist von einem weiteren Verfahren in der Sache keine Klärung zu erwarten.83 Lediglich, wenn weiter relevante Unklarheiten hinsichtlich der unionsrechtlichen Lage bestehen, ergibt eine weitere Befassung des EuGH Sinn.84 Dieser Fall ist jedoch äußerst unwahrscheinlich, dürfte das Bundesverfassungsgericht doch voreilige Ultra-vires-Verdikte ohne vorherigen Austausch der Argumente scheuen. Auch die Zulässigkeit einer mitgliedstaatlichen Kompetenzüberprüfung generell bedarf zum aktuellen Zeitpunkt keiner Überprüfung, da die Unionsrechtskonformität in Anbetracht der Rechtsprechungspraxis der EuGH völlig fernliegt.85 Dies könnte sich allenfalls ändern, wenn der EuGH hier in Zukunft Unklarheiten herbeiführt. Zudem geht mit der Vorstellung der Aufsichtsklage als rechtliche Diskussionsplattform eine weitere Schwierigkeit einher: Der Mitgliedstaat wird im Verfahren nicht durch das Verfassungsgericht, sondern durch seine Regierung vertreten. Diese Regierung ist aber typischerweise selbst Beklagte im vorangegangenen Ultra-vires-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, vertritt also nicht dessen Rechtsansicht. Sie müsste demnach ihre eigenen Interessen zurückstellen und als quasi-Stellvertreter auftreten. Dies ist ihr zwar grundsätzlich zumutbar, kann aber im Einzelfall zu erheblichen Problemen führen, die im Lichte des zugrundeliegenden Interessenkonflikts bedenklich erscheinen.86 Eine Aufsichtsklage könnte aber der Behebung der Vertragsverletzung dienen. Die Rückkehr zu einem nach der Auffassung des Gerichtshofs rechtmäßigen Verhalten ist zentraler Zweck der Aufsichtsklage.87 Sie kann diese Wirkung aber nicht unmittelbar selbst herbeiführen, denn dem Urteil kommt auch innerhalb der Unionsrechtsordnung keine Kassationswirkung gegenüber der nationalen
83
C. Möllers, Sollte die EU-Kommission Deutschland wegen des Karlsruher Ultra-ViresUrteils verklagen? CONTRA, Verfassungsblog. 84 A. Lang, Der Staat (69) 2021, 99 (122). 85 Ähnlich B. Wegener, EuR 2020, 347 (356); A. Lang, Der Staat (69) 2021, 99 (122). A.A. wohl I. Pernice, Sollte die EU-Kommission Deutschland wegen des Karlsruher Ultra-ViresUrteils verklagen? PRO, Verfassungsblog, der noch Zweifel erkennt. 86 I. Pernice, Sollte die EU-Kommission Deutschland wegen des Karlsruher Ultra-ViresUrteils verklagen? PRO, Verfassungsblog. 87 U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 65. EGL. August 2018, Art. 258 AEUV, Rn. 2 f.
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Gerichtsentscheidung zu. Die Aufsichtsklage ist ihrer Natur nach eine Feststellungsklage,88 die auf eine Berücksichtigung durch die nationalen Organe angewiesen ist. In Ultra-vires-Konstellationen könnte diese in erster Linie durch das Bundesverfassungsgericht erfolgen. Besonders wichtig in der Sache ist aber nicht die gerichtliche Vertragsverletzung durch die Missachtung der Letztentscheidungskompetenz des EuGH, sondern die damit verbundene Nichtbefolgung des Unionsrechts durch deutsche Verfassungsorgane. Diese Vertragsverletzung kann auch durch die Legislative beseitigt werden: Überträgt diese der Union die erforderlichen Kompetenzen, erübrigt sich das vorausgegangene Ultra-vires-Urteil für die Zukunft. Deutlich unrealistischer dürfte dabei das Hoffen auf eine Anpassung der deutschen Rechtsprechung sein. Das Bundesverfassungsgericht setzt sich bei einem Ultra-vires-Verdikt bewusst über ein vorangegangenes Urteil des EuGH hinweg und verlässt damit den Weg der Kooperation. Ein weiteres Urteil des Gerichtshofs dürfte auch bei der Verhängung eines Zwangsgelds nach Art. 260 Abs. 2 AEUV nichts an der verfassungsrechtlichen Einschätzung ändern.89 Völlig ungeklärt ist bisher, ob das Bundesverfassungsgericht die Verhängung einer derartigen Zahlungsverpflichtung akzeptieren würde oder ihrerseits für ultra vires hielte. Angesichts der bestehenden Unionsrechtswidrigkeit der Ultra-viresKontrolle gibt es am Vorliegen der Voraussetzungen für die Auferlegung eines Zwangsgelds keine Zweifel. Dennoch beruht dieses auf einem Verhalten der Union, welches ultra vires erging. Soweit eine Verpflichtung die deutsche Rechtsordnung nicht erreicht, werden nach hier vertretener Ansicht auch Zwangsgelder, als Konsequenz der ursprünglichen Maßnahme, kein Bestandteil des deutschen Rechts. Wenn der Integrationsgesetzgeber die Union nicht zu einem Akt ermächtigt, ermächtigt er sie auch nicht zur zwangsweisen Durchsetzung desselben Akts. Aus seiner Perspektive ist bei Ultra-vires-Akten ex ante nicht erkennbar, dass für die Nichtbefolgung eine Sanktion verhängt werden kann. Folglich mangelt es auch dem Zwangsgeld an demokratischer Legitimation und ein entsprechender Beschluss erginge ultra vires.90 Durchsetzungsmechanismen für die Vollstreckung eines Zwangsgelds existieren nicht. Selbst wenn man in Art. 280, 299 AEUV entgegen seinem klaren Wortlaut eine Möglichkeit der Vollstreckung von Urteilen des Gerichtshofs gegenüber den Mitgliedstaaten erkennen möchte,91 so findet diese Vollstreckung nach 88
M. Krajewski/U. Rösslein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 62. EGL. Juli 2017, Art. 299 AEUV, Rn. 8. 89 So auch die Einschätzung bei U. R. Haltern, NVwZ 2020, 817 (823). 90 So prognostiziert T. Weck, BKR 2020, 463 (466) eine mögliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, ebenso H.-G. Dederer, JZ 2014, 313 (322). Wohl auch I. Pernice, Sollte die EU-Kommission Deutschland wegen des Karlsruher Ultra-Vires-Urteils verklagen? PRO, Verfassungsblog. Offenlassend A. Lang, Der Staat (69) 2021, 99 (123). 91 So die ganz herrschende Meinung, siehe C. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 280 AEUV, Rn. 2, 7; M. Pechstein, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar zum Europarecht, Art. 280 AEUV, Rn. 1; P.-T. Stoll/B.
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Art. 299 Abs. 2 Satz 1 AEUV durch den Mitgliedstaat selbst statt. Die Union verfügt über keine eigenen Durchsetzungsmechanismen und kann daher nicht gegen den mitgliedstaatlichen Willen agieren. Jenseits der Durchsetzungsmechanismen im engeren Sinn besteht freilich eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Sanktionierung der Bundesrepublik. Zu denken wäre beispielsweise an eine für die Bundesrepublik nachteilige Verteilung von Fördermitteln oder an die Aufrechnung mit Ansprüchen der Bundesrepublik gegen die Union.92 Als NettoZahler innerhalb der Union dürfte Deutschland hier jedoch weitaus resilienter sein als kleinere, finanzschwächere Staaten und hat im Ernstfall eine robuste Position inne.93 Sollte sich die Bundesrepublik nicht zu einer Kooperation bereit erklären, endet das Vertragsverletzungsverfahren an dieser Stelle in einer Sackgasse.94 Auswege können dann nur außerhalb des Rechts im Wege politischer Einigungen erzielt werden95 – eine für die Rechtsgemeinschaft unbefriedigende Situation aus der letztlich alle Beteiligten politisch geschwächt herausgehen.96 Die deutschen Organe müssen sich zwischen der Achtung von Entscheidungen des EuGH und des Bundesverfassungsgerichts entscheiden. Verschließt sich die Bundesrepublik gegenüber ihren unionsrechtlichen Verpflichtungen, erweist sie sich als supraund international unzuverlässiger Partner, während sich die Union als unfähig zur Durchsetzung ihres Rechts herausstellt.97 Eine derartige Situation bestärkte Rigot, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 66. EGL. Februar 2019, Art. 280 AEUV, Rn. 1; B. Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 280 AEUV, Rn. 1. A.A. aber J. Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 280 AEUV, Rn. 2. 92 Siehe auch U. Everling, EuR 2010, 91 (104); J. Bergmann/U. Karpenstein, ZEuS 2009, 529 (538). 93 Hierin besteht auch ein wesentlicher Unterschied zur Situation Polens nach dessen Weigerung zur Umsetzung der Entscheidung EuGH, Beschl. v. 21.05.2021 – C-121/21 R (Braukohletagebau Turow), ECLI:EU:C:2021:420. Als Reaktion hierauf hielt die Kommission die Auszahlung von Fördermitteln an Polen zurück. 94 Von einer „gespenstischen Aussicht“ spricht U. Everling, EuR 2010, 91 (104). 95 Ebenso U. Haltern, AöR 146 (2021), 195 (250). 96 Deshalb ist die Einschätzung bei U. Di Fabio, Der Staat 32 (1993), 191 (215) zu optimistisch, wonach ein Rechtskonflikt keine Katastrophe sei, sondern befruchtend für die klare Ausbildung einer Kompetenzabgrenzung. 97 Darüber hinaus müssen sich die Unionsorgane dem Eindruck verwehren, die Union gehe gegen verschiedene Mitgliedstaaten willkürlich mit unterschiedlicher Härte vor. So bestand zunächst die Sorge, die Union gehe gegen die grundsätzlich kooperationsbereite Bundesrepublik vor, während mit Polen und Ungarn ein Konflikt aufgrund ihrer Justizsysteme gescheut wird, siehe C. Möllers, Sollte die EU-Kommission Deutschland wegen des Karlsruher Ultra-Vires-Urteils verklagen? CONTRA, Verfassungsblog. Mittlerweile wird diese Sorge eher umgekehrt vorgetragen, siehe T. Giegerich, Das PSPP-Urteil des BVerfG und seine diversen Nachspiele, S. 9. Diese Gegenüberstellung überzeugt in keiner Richtung aufgrund der unterschiedlichen rechtlichen Ausgangssituation, siehe C. Calliess, NVwZ 2020, 897 (904). Sie kann aber dennoch eine gesellschaftliche Sprengkraft entfalten. Insoweit ist es ein Ausfluss des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten, mit einheitlichem Maß zu messen.
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vor allem im bisher integrationsoffenen Deutschland, aber auch in ganz Europa unionskritische Tendenzen.98 Auch der EuGH und das Bundesverfassungsgericht erscheinen im kooperativen Zusammenwirken als gescheitert. Aufgrund des Verharrens auf ihren jeweiligen Positionen sind sie nun mehr denn je auf den politischen Willen zur Umsetzung ihrer Entscheidungen angewiesen. Die Idee des Rechts selbst ist geschwächt, die zukünftige Arbeit im Gerichtsverbund enorm erschwert. Vor allem aber dürfte von nun an eine Anpassung der eigenen Rechtsprechung in Richtung des jeweils anderen Gerichts als Gesichtsverlust wahrgenommen werden.99 Es droht daher eine Versteinerung des Konflikts, womit die Chancen, die einer Ultra-vires-Kontrolle innewohnen, vertan wären. Eine Etablierung gemeinsamer methodischer Standards erfolgt so nicht.100 Die Kommission hat in ihre Erwägungen, ob die Erhebung einer Aufsichtsklage Sinn ergibt, dieses Worst-Case-Szenario als möglichen Ausgang miteinzubeziehen. Gleichzeitig kann sie sich auf positive Erfahrungswerte aus jenen Fällen stützen, in denen auf ein solches Verfahren verzichtet wurde. Dies betrifft die Entscheidungen der Verfassungsgerichte Tschechiens im Fall Holubec101 und Dänemarks im Fall Ajos102. Beiden Verfahren war gemein, dass sie sich gegen eine angenommene originäre Kompetenzanmaßung des EuGH durch Überschreiten seines Interpretationsspielraums gerichtet haben. Die jeweils einschlägige europäische Rechtsgrundlage war in ihrer Geltung unbestritten, lediglich die Reichweite dieser fraglich. Bei dem vielbeachteten Urteil103 des polnischen Verfassungsgerichtshofs zur europäischen Kontrolle der polnischen Justizreformen handelt es sich hingegen nicht um eine mit der Ultra-vires-Kontrolle vergleichbare Entscheidung, weil der grundsätzliche Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor dem polnischen Verfassungsrecht bestritten wurde.104 Dem Fall Holubec lag ein seit mehreren Jahren bestehender Konflikt zwi´ stavnı´ soud) und dem tschechischen dem tschechischen Verfassungsgericht (U schen Obersten Verwaltungsgerichtshof (Nejvysˇsˇ´ı spra´vnı´ soud) zugrunde. Hier-
98 G. Krings, ZRP 2020, 160 (161); C. Möllers, Sollte die EU-Kommission Deutschland wegen des Karlsruher Ultra-Vires-Urteils verklagen? CONTRA, Verfassungsblog. 99 Auch M. Ludwigs, EuZW 2020, 530 (533) sieht hierin ein Hauptargument gegen die Einleitung des Verfahrens. 100 U. R. Haltern, NVwZ 2020, 817 (823). 101 ´ ´ S 5/12 (Holubec). Siehe zu dieser Entscheidung Ustavnı´ soud, Urt. v. 31.01.2012 – Pl. U L.-K. Mannefeld, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die europäische Integration, S. 235 ff.; M. Bobek, EuConst 10 (2014), 54; A. Vince, EuR, 194; M. Faix, EuGRZ 2012, 597. 102 Højesteret, Urt. v. 06.12.2016 – C 15/2014 (Ajos), UfR 2017, .824H. Siehe hierzu R. Holdgaard/D. Elkan/G. K. Schaldemose, CML Rev. 55 (2018), 17. 103 Trybunał Konstytucyjny, Urt. v. 07.10.2021 – K 3/21. 104 Siehe hierzu A. Thiele, Wer Karlsruhe mit Warschau gleichsetzt, irrt sich gewaltig, Verfassungsblog. Im Übrigen erlauben der aktuelle Verfahrenstand sowie die besondere Situation der polnischen Justiz keine Übertragung der Erfahrungen auf den deutschen Ultravires-Vorbehalt.
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bei ging es um die Ausgestaltung des Sozialversicherungssystems nach Teilung der „Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik“ am 31. 12. 1992.105 Beide Staaten etablierten jeweils ein eigenes Sozialversicherungssystem. Die Zuordnung der Bürger zum jeweiligen System wurde anhand des Sitzes ihres Arbeitgebers zum Stichtag der Teilung vorgenommen. Im Laufe der Jahre entwickelten sich die tschechischen Rentenansprüche besser als die slowakischen. Das tschechische Verfassungsgericht entwickelte daher für tschechische Staatsbürger, die dem slowakischen Versicherungssystem angehörten, unmittelbar aus der Verfassung einen Anspruch auf Aufstockung ihrer Rentenbezüge aus tschechischen Mitteln. Die tschechische Staatsangehörige Frau Landtova´ klagte auf Aufstockung ihrer Rentenzahlungen. Der letztinstanzlich zuständige oberste Verwaltungsgerichtshof hegte allerdings schon seit längerem Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Aufstockungspraxis. Den daraus resultierenden, seit vielen Jahren schwelenden Justizkonflikt mit dem Verfassungsgericht106 suchte er nun mit Hilfe des EuGH zu lösen, indem er diesen mit der Frage nach der Vereinbarkeit des Ausgleichsanspruchs mit Art. 3 Abs. 1 der VO 1408/71107, dem Grundsatz der Gleichbehandlung, ersuchte. Der EuGH entschied, die Aufstockungspraxis verstoße gegen Unionsrecht – eine Differenzierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit stelle eine unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit dar und sei auch nicht zu rechtfertigen.108 Durch diese Beantwortung der Vorlagefrage bezog der EuGH zwangsläufig Stellung im innerstaatlichen Justizkonflikt. Nachdem der oberste Verwaltungsgerichtshof die Diskriminierung durch Ablehnung eines Ausgleichanspruchs beseitigte, erhob Frau Landtova´ Verfassungsbeschwerde gegen diese Entscheidung. Das tschechische Verfassungsgericht musste sich daher im Rahmen der Aufhebung des Urteils des Obersten Verwaltungsgerichtshofs nun auch mit der Entscheidung des EuGH auseinandersetzen. Das tschechische Verfassungsgericht kassierte das verwaltungsgerichtliche Urteil und sprach dem Urteil des EuGH seine Wirksamkeit ab.109 Dieser verkenne die Unanwendbarkeit der VO 1408/71 auf den konkreten Fall und berücksichtige nicht die Besonderheiten, die sich aus der Auflösung des tschechoslowakischen Bundesstaats ergäben.110 Damit überschreite der EuGH die ihm über-
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Übersichtlich dargestellt bei A. Vince, EuR 2013, 194 (195 ff.). Siehe hierzu M. Faix, EuGRZ 2012, 597 (598). 107 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. 108 EuGH, Urt. v. 22.06.2011 – C-399/09 (Landtova´), Slg. 2011, I-05573 (Rn. 41 ff.). 109 Siehe hierzu ausführlich A. Vince, EuR 2013, 194 (198); M. Faix, EuGRZ 2012, 597 (599 ff.). 110 ´ ´ S 5/12 (Holubec), S. 12 f. der offiziellen engUstavnı´ soud, Urt. v. 31.01.2012 – Pl. U lischsprachigen Übersetzung. 106
A. Wirkungen und Perspektiven des Ultra-vires-Vorbehalts
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tragenen Kompetenzen. Zudem habe kein faires Verfahren stattgefunden, da das Verfassungsgericht keine Möglichkeit hatte, seine Argumente vor dem EuGH selbst darzulegen.111 Problematisch war hier, dass die am Verfahren beteiligte tschechische Regierung die Ausgleichpraxis selbst als rechtswidrig bezeichnete, sodass eine objektive Erörterung des Streits kaum möglich war.112 So weigerte sich die tschechische Regierung, dem Verfassungsgericht Gehör zu verschaffen, zudem ließ der EuGH externe Einlassungen durch das Verfassungsgericht seinerseits nicht zu.113 Durch die Holubec-Entscheidung, welche durch ihr Verständnis von den Grenzen der Rechtsprechungskompetenz des EuGH mit einer Ultra-vires-Entscheidung im deutschen Recht vergleichbar ist,114 kam es zum Konflikt der Rechtsordnungen. Die Kommission sah sich also auch hier der Frage gegenübergestellt, ob ein Vertragsverletzungsverfahren und eine anschließende Aufsichtsklage Sinn ergibt. Es gelang, den Konflikt auch ohne derartige Eskalation beizulegen: Im konkreten Fall verglich sich schließlich die tschechische Verwaltung mit der Klägerin.115 In späteren, ähnlichen Streitfällen löste sich das Problem dann einerseits durch eine restriktive Anwendung der Holubec-Rechtsprechung – wohl auch aufgrund einer personellen Erneuerung des Verfassungsgerichts – andererseits durch eine legislative Neuregelung von Ausgleichszahlungen ohne Anknüpfung an das Merkmal der Staatsangehörigkeit.116 Judikative und Legislative haben also im Verbund und ohne rechtlichen Druck durch EU-Organe eine europarechtskonforme Lage hergestellt. Zu einem ähnlichen Ergebnis führte der Streit im Fall Ajos. Das dänische Höchste Gericht (Højesteret), welches als oberstes Zivilgericht funktional auch die Aufgaben eines Verfassungsgerichts ausübt, musste in einem Arbeitsrechtsstreit über eine Abfindungszahlung anlässlich einer Kündigung entscheiden. Herr Rasmussen wurde 2009 im Alter von 60 Jahren nach 25 Jahren Betriebszugehörigkeit von seinem Arbeitgeber, Ajos, entlassen.117 In der Folge erhob die Gewerkschaft Dansk Formands Forening im Namen von Herrn Rasmussen Klage gegen Ajos auf Zahlung einer Entlassungsabfindung. Nach § 2a Abs. 1 des ´ stavnı´ soud, Urt. v. 31.01.2012 – Pl. U ´ S 5/12 (Holubec), S. 13 f. U Zu diesem Problem ausführlich M. Bobek, EuConst 10 (2014), 54 (78 ff.). 113 J. Koma´rek, Playing With Matches, Verfassungsblog. 114 ´ stavnı´ soud, Urt. Diese Parallele zieht das tschechische Verfassungsgericht selbst, U ´ S 5/12 (Holubec), S. 11. Kritisch hierzu M. Faix, EuGRZ 2012, 597 v. 31.01.2012 – Pl. U (602 f.), der das fehlende Aufgreifen der bundesverfassungsgerichtlichen Beschränkungen des Prüfungsumfangs moniert. 115 M. Bobek, EuConst 10 (2014), 54 (65). 116 Die mehrstufige Geschichte der legislativen Anpassungen findet sich bei M. Bobek, EuConst 10 (2014), 54 (68 ff.). 117 Siehe hierzu ausführlich EuGH, Urt. v. 19.04.2016 – C-441/14 (Dansk Industri), ECLI: EU:C:2016:278 (Rn. 10 ff.); R. Holdgaard/D. Elkan/G. K. Schaldemose, CML Rev. 55 (2018), 17 (19 ff.). 111
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
damaligen Angestelltengesetzes118 hatte ein Arbeitnehmer, welcher mindestens 18 Jahre bei einem Arbeitgeber beschäftigt war, bei arbeitgeberseitiger Kündigung Anspruch auf eine Abfindungszahlung in Höhe von drei Monatsgehältern. Nach Abs. 3 war dieser Anspruch ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer bei seinem Ausscheiden eine Altersrente vom Arbeitgeber erhält und er dem entsprechenden Rentensystem vor Vollendung des 50. Lebensjahrs beigetreten ist. Herr Rasmussen hatte Anspruch auf eine derartige Altersrente. Statt diesen Anspruch geltend zu machen, nahm er allerdings eine neue Beschäftigung auf. Nach ständiger Rechtsprechung der dänischen Gerichte steht der Anspruch auf Zahlung einer Altersrente dem Anspruch auf Zahlung einer Abfindung auch dann im Wege, wenn er nicht geltend gemacht wird.119 Somit war der Fall bei isolierter Betrachtung der dänischen Rechtslage klar und Herrn Rasmussen stand kein Anspruch zu. Das entscheidende Zivilgericht hatte jedoch erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit von § 2a Abs. 3 des Angestelltengesetzes mit dem Unionsrecht. Die Ausnahme von dem Anspruch auf Zahlung einer Abfindung verstieße gegen die Richtlinie 2000/78 und das ungeschriebene Verbot der Altersdiskriminierung, wie es der EuGH in der Mangold-Entscheidung120 entwickelte. Daher sei ungeachtet von § 2a Abs. 3 eine Abfindung zu zahlen, eine vorherige Befassung des EuGH sei nicht notwendig. Gegen diese Entscheidung legte der unterlegene Arbeitgeber ein Rechtsmittel ein und brachte das Verfahren damit vor das Höchste Gericht. Die konkrete Auslegung des dänischen Rechts durch das Zivilgericht sei contra legem. Zudem sei es unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit nicht möglich, die eindeutige Norm des § 2a Abs. 3 des Angestelltengesetzes mittels Anwendung eines ungeschriebenen europäischen Rechtsgrundsatzes zu verdrängen. Diese Bedenken wurden vom Höchsten Gericht aufgegriffen und dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vorgelegt.121 Gefragt war zum einen, ob das Unionsrecht der dänischen Regelung überhaupt im Weg stehe und zum anderen, ob gegebenenfalls eine Abwägung zwischen dem Interesse an der Rechtssicherheit und dem Diskriminierungsschutz vorgenommen werden dürfe. Dabei verwies das Höchste Gericht auf die Möglichkeit eines Schadenersatzanspruchs gegen den dänischen Staat, sollte Herrn Rasmussen ein Anspruch gegen seinen Arbeitgeber verweigert werden. Beachtenswert war hier, dass das Gericht bei allen vorgetragenen Zweifeln an der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung des Diskriminierungsverbotes nicht die Möglichkeit der Annahme eines Ultra-vires-
118 Gesetz über die Rechtsverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Angestellten LBK Nr. 81 vom 3. 2. 2009 (Lov om retsforholdet mellem arbejdsgivere og funktionærer [Funktionærloven]). 119 R. Holdgaard/D. Elkan/G. K. Schaldemose, CML Rev. 55 (2018), 17 (19). 120 EuGH, Urt. v. 22.11.2005 – C-144/04 (Mangold), Slg. 2005, I-9981 (Rn. 75). 121 Ausführlich R. Holdgaard/D. Elkan/G. K. Schaldemose, CML Rev. 55 (2018), 17 (20 ff.).
A. Wirkungen und Perspektiven des Ultra-vires-Vorbehalts
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Akts erwähnte.122 Was auf den ersten Blick kooperativer erscheint als die konfrontative Fassung der Vorlagefragen durch das Bundesverfassungsgericht,123 wird allerdings zum Problem im Dialog der Gerichte: Je deutlicher dem EuGH das Ausmaß der Zweifel an einer bestimmten Rechtsauffassung zugetragen wird, desto mehr kann er auf diese Zweifel eingehen. Die Ultra-vires-Kontrolle kann nur dann proaktiv Einfluss auf Unionsorgane ausüben, wenn diesen die Möglichkeit einer Aktivierung im konkreten Fall bewusst ist. Dies sollte nicht als Drohung missverstanden (und formuliert) werden, sondern als transparente Darstellung der nationalen Rechtslage in der Hoffnung auf eine kooperative Lösung der Probleme. Die Entscheidung des EuGH war wenig überraschend und lag ganz auf Linie der Mangold-Rechtsprechung: Das Unionsrecht verbiete einen Ausschluss der Abfindung wegen eines bestehenden Altersrentenanspruchs.124 Auch der Verweis auf die Rechtssicherheit oder den Schutz des Vertrauens des Arbeitgebers könnten an der unmittelbaren Anwendbarkeit des Altersdiskriminierungsverbots nichts ändern.125 Die Möglichkeit einer Schadenersatzklage gegen den Staat entbände zudem nicht das nationale Gericht von der Anwendung des Diskriminierungsverbots.126 Das abschließende Urteil des Höchsten Gerichts war für die meisten Beobachter angesichts der fehlenden Vorankündigung im Vorlagebeschluss überraschend. Es wurde festgestellt, eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 2a Abs. 3 Angestelltengesetz sei nicht möglich.127 Aber auch ein Anspruch auf Zahlung einer Abfindung unmittelbar aus dem Unionsrecht sei nicht denkbar. Zwar könne der EuGH mit Wirkung für die europäische Rechtsordnung feststellen, dass eine Abfindung gezahlt werden müsse – ob diese Norm aber in der dänischen Rechtsordnung unmittelbar wirke, werde zuvorderst von dem dänischen Beitrittsakt bestimmt. Die unmittelbare Wirkung eines ungeschriebenen Rechtsgrundsatzes des Unionsrechts im Verhältnis zwischen Privaten liege dabei außerhalb des Vorhersehbaren und sei damit nicht vom Beitrittsakt umfasst. Die Parallelen zum deutschen Ultra-vires-Vorbehalt und insbesondere zur Honeywell-Entscheidung drängen sich auf. Ein wesentlicher Unterschied liegt 122 Siehe auch R. Holdgaard/D. Elkan/G. K. Schaldemose, CML Rev. 55 (2018), 17 (23), die darauf hinweisen, dass das Ultra-vires-Verdikt keineswegs erwartet wurde. 123 Siehe hierzu insbesondere die kritischen Reaktionen in der Literatur auf BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366, z.B. F. C. Mayer, EuR 2014, 473 (481 ff.). 124 EuGH, Urt. v. 19.04.2016 – C-441/14 (Dansk Industri), ECLI:EU:C:2016:278 (Rn. 21 ff.). 125 EuGH, Urt. v. 19.04.2016 – C-441/14 (Dansk Industri), ECLI:EU:C:2016:278 (Rn. 28 ff.). 126 EuGH, Urt. v. 19.04.2016 – C-441/14 (Dansk Industri), ECLI:EU:C:2016:278 (Rn. 42). 127 Angesichts des Wortlauts der Norm kann dies im konkreten Fall durchaus verwundern. Die eigene ständige Rechtsprechung wurde damit vom Höchsten Gericht in den Rang der einzig denkbaren Auslegung erhoben.
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
jedoch in der nicht vorhandenen Beschränkung durch das Kriterium der Strukturrelevanz. Zudem verweist das Höchste Gericht, insoweit ohne erkennbares Vorbild, auf seine eigene Bindung an Recht und Gesetz und damit auch auf die innerstaatliche Gewaltenteilung, die ihm eine Übernahme der Entscheidung des EuGH verbiete.128 Die dänische Regierung und der Gesetzgeber reagierten noch während die Rechtssache beim EuGH anhängig war auf die (zu diesem Zeitpunkt lediglich vermutete) Europarechtswidrigkeit des Angestelltengesetzes. Die Ausnahmeregelung des § 2a Abs. 3 wurde ersatzlos gestrichen129 – obwohl die Regierung im laufenden Verfahren vor dem EuGH selbst die Linie des Höchsten Gerichts vertrat.130 Bereits vor dem Urteil des EuGH war damit klar, dass der Rechtsstreit für zukünftige Fälle keine Rolle mehr spielen würde.131 Damit hatte die dänische Regierung auch mit Blick auf ein, zu diesem Zeitpunkt noch hypothetisches, Vertragsverletzungsverfahren ihre Bereitschaft zur Kooperation bewiesen. Es bestand somit auch nach dem Endurteil des Höchsten Gerichts kaum ein Grund, per Vertragsverletzungsverfahren Druck auf die dänische Politik aufzubauen und die kritischen Effekte eines weiteren Verfahrens vor dem EuGH in Kauf zu nehmen. Lediglich jene Altfälle, die vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes angesiedelt sind, wurden weiterhin unionsrechtswidrig entschieden. In beiden Fällen, Holubec und Ajos, ist demnach ohne Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens oder gar einer Aufsichtsklage ein aus unionsrechtlicher Sicht wünschenswertes Ergebnis erzielt worden. Freilich wurde hierfür zwar eine zumindest vorübergehende Rechtszersplitterung in Kauf genommen – diese erscheint allerdings im Verhältnis zu den Verwerfungen, welche eine Aufsichtsklage mit sich brächte, unwesentlich.132 Wenn die Hoffnung auf eine Klärung der Rechtsfrage im Vertragsverletzungsverfahren unbegründet und eine Verhaltensänderung ohne Klage vor dem EuGH realistisch ist, so bleibt auch als Argument für die Erhebung einer Aufsichtsklage vor allem die damit verbundene Symbolwirkung einer Verteidigung der europäischen Institutionen und Entscheidungsmechanismen.133 Hiergegen lässt sich im Grundsatz nichts einwenden. Es ist al-
128
Aus deutscher Perspektive handelt es sich dabei um eine Selbstverständlichkeit: Sieht das nationale Recht eine Regelung vor, dann folgt aus einer hypothetischen Nichtbeachtung immer ein Verstoß gegen die Gesetzesbindung. Deren Betonung taugt nicht als zusätzliches Argument, unterstellt sie doch vorab ein bestimmte Verständnis des nationalen Gesetzes. 129 Gesetz Nr. 52 vom 27.01.2015. 130 R. Holdgaard/D. Elkan/G. K. Schaldemose, CML Rev. 55 (2018), 17 (23). 131 Man kann hier zumindest vermuten, dass dieses Wissen die Hemmschwelle für einen Konflikt bei dem Höchsten Gericht ein Stück weit gesenkt hat. Interessant bleibt aus Sicht des dänischen Verfassungsrechts, wie in anderen Fällen mit der horizontalen Drittwirkung ungeschriebener Rechtsgrundsätze des Unionsrechts zu verfahren ist, siehe hierzu R. Holdgaard/ D. Elkan/G. K. Schaldemose, CML Rev. 55 (2018), 17 (43 ff.). 132 Ähnlich U. Haltern, AöR 146 (2021), 195 (244 ff.). 133 So der Fokus bei B. Wegener, EuR 2020, 347 (355); J. Bergmann/U. Karpenstein, ZEuS 2009, 529 (538).
A. Wirkungen und Perspektiven des Ultra-vires-Vorbehalts
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lerdings fraglich, ob dies unter Berücksichtigung der damit verbundenen Risiken ein ausreichendes Motiv sein kann.134 Damit bleibt festzuhalten, dass eine Aufsichtsklage zwar Aussicht auf Erfolg hat, ihre politische Zweckmäßigkeit aber nur in Ausnahmefällen gegeben sein wird. Lediglich wenn besondere Umstände vorliegen, die die nationale Ultravires-Entscheidung als besondere Herausforderung der Autorität des EuGH erscheinen lassen, die zum Schutz der Union eine sofortige Reaktion benötigen, könnte ein derart riskantes Vorgehen Sinn ergeben. Insbesondere im Zusammenhang mit dem PSPP-Verfahren wäre die Zweckmäßigkeit einer erneuten Einbeziehung des EuGH daher fraglich gewesen. Angesichts der einfachen Behebbarkeit der mangelnden Darlegung von Verhältnismäßigkeitserwägungen durch die EZB und der grundsätzlichen Bereitschaft der deutschen Organe zur Mitwirkung am PSPP überwogen die Risiken eines solchen Vorgehens deutlich. 2. Wirkungen qua Existenz des Vorbehalts Der Ultra-vires-Vorbehalt entfaltet seine Relevanz nicht erst mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Den Unionsorganen sind die gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und vergleichbare Instrumente anderer oberster mitgliedstaatlicher Gerichte seit mehreren Jahrzehnten bekannt. Zudem sah sich die Union in mittlerweile drei Fällen mit der mitgliedstaatlichen Feststellung eines Ultra-vires-Handelns konfrontiert, sodass die Möglichkeit einer erfolgreichen Kontrolle als realistische Möglichkeit im Raum steht. Auf diese Weise wird der mitgliedstaatliche Ultra-vires-Vorbehalt zum permanenten Begleiter europäischer Hoheitsausübung. Im Regelfall spielt dieser Umstand keinerlei Rolle. Angesichts der geringen Anzahl erfolgreicher Kontrollen und der meist unproblematischen Zuständigkeit müssen sich europäische Amtswalter meist nicht mit dem Gedanken an die nationalen Verfassungsgerichte auseinandersetzen. Die Fälle, in denen eine ernsthafte Besorgnis gegenüber einer Kompetenzkontrolle angebracht ist, sind im Vorfeld recht klar erkennbar. Aufgrund der bereits beschriebenen, hochproblematischen Wirkungen einer erfolgten Ultra-vires-Kontrolle auf europäische Stellen ist es grundsätzlich vorzugswürdig, eine derartige Konfliktsituation zu vermeiden. Mindestens ebenso wichtig wie die Wirkung im Erfolgsfall kann daher die Vorfeldwirkung des Ultra-vires-Vorbehalts sein. Er mahnt die Unionsorgane zur Einhaltung ihrer Kompetenzen. Sieht die Unionsstelle selbst von einer kompetenzüberschreitenden Maßnahme ab oder fasst der EuGH die vertraglichen Kompetenzgrenzen in einer Weise, die mit mitgliedstaatlichen Vorstellungen vereinbar ist, so ist dies auch aus der nationalen Sicht der bestmögliche Ausgang. Während die Ultra-vires-Kontrolle immer nur einzelne Maßnahmen adressieren 134
Im Falle des PSPP-Urteils eine Klage befürwortet hat F. C. Mayer, Das PSPP-Urteil des BVerfG vom 5. Mai 2020, S. 21.
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
kann und zudem zu Verwerfungen im Verhältnis von Union und Bundesrepublik führt, brächte ein restriktiveres Kompetenzverständnis der Unionsorgane selbst keine derartigen Probleme mit sich. Eine erfolgreiche nationale Reservekompetenz135 zeichnet sich dadurch aus, möglichst selten in Anspruch genommen werden zu müssen.136 Diese Situation lässt sich mit jener der sogenannten Vetoantizipation vergleichen. Bei dieser richtet ein politischer Akteur sein Verhalten an einem zu erwartenden Widerspruchsverhalten eines weiteren Akteurs aus.137 Dem Bundesverfassungsgericht kommt zwar, anders als dem EuGH im Rahmen der Nichtigkeitsklage nach Art. 264 Abs. 1 AEUV, keine Kassationsbefugnis zu. Dennoch stellt es dem handelnden Unionsorgan ein äußerst unattraktives Szenario in Aussicht, welches dieses aus eigenem Interesse bei seiner Entscheidung berücksichtigen dürfte.138 Dies gilt unabhängig von der Europarechtswidrigkeit der Ultravires-Kontrolle oder der individuellen Einschätzung des konkreten Sachverhalts durch das Unionsorgan. Bei der Kontrollpraxis handelt es sich um eine gefestigte Rechtsprechung diverser mitgliedstaatlicher Gerichte und damit um einen Faktor, mit dem es sich auseinanderzusetzen gilt. Die Wirkungen der Existenz des Ultra-vires-Vorbehalts erschöpfen sich allerdings nicht nur in einer erhofften Disziplinierung europäischer Stellen. Diese ist zwar entscheidend für den Erfolg des Kontrollinstruments, wird aber von diversen anderen Effekten begleitet. So folgt aus der Möglichkeit einer Kontrolle auch eine Obliegenheit der Unionsorgane, sich fortlaufend mit den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auseinanderzusetzen. Ebenso kann bereits die Aussicht auf einen Justizkonflikt eine erhöhte mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Von besonderer Bedeutung sind die Vorfeldwirkungen im Verhältnis zwischen den Gerichten.139 So wird der Gerichtshof durch das Bundesverfassungsgericht beispielsweise mit Kompetenzfragen befasst, die ihm ansonsten nicht zugegangen wären. a) Wirkungen auf die handelnde Unionsstelle Für die handelnden Unionsstellen entstehen durch die Existenz des Ultra-viresVorbehalts zunächst keine neue Rechtsbindungen: Die Pflicht, kompetenzgebunden zu agieren besteht ohnehin und wird bereits durch den EuGH überwacht.
135
Zum Begriff der Reservekompetenz schon BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (401). 136 Ähnlich wie hier S. Simon/H. Rathke, EuZW 2020, 500 (503). 137 Siehe grundsätzlich D. Jahn, The Veto Player Approach in Macro-Comparative Politics, in: König/Tsebelis George/Debus (Hrsg.), Reform processes and policy change, S. 43, 59 ff. Vereinzelt hat die Auswertung dieser ursprünglich politikwissenschaftlichen Kategorie auch Einzug in die juristische Forschung erhalten, siehe z.B. S. Burkhart/P. Manow, MPIfG Discussion Paper 06/03. 138 W. Kahl, DVBl 2013, 197 (206). 139 Daher wird die Situation des EuGH separat dargestellt.
A. Wirkungen und Perspektiven des Ultra-vires-Vorbehalts
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Danach bräuchte es prima facie keine Verhaltensanpassung aufgrund der Existenz des Kontrollvorbehalts. Dieser Befund wird aus gleich mehreren Gründen entkräftet. Die Ultra-viresKontrolle entfaltet nur deshalb praktische Relevanz, weil das Bundesverfassungsgericht ebenso wie andere mitgliedstaatliche Höchstgerichte nicht die Rechtsprechung des EuGH zur Kompetenzauslegung vollständig mitträgt. Diese daraus resultierende erhöhte Kontrollintensität verengt den Handlungsspielraum der handelnden Stelle. Dies gilt umso mehr, als unter den nationalen Gerichten keineswegs Einigkeit über die Ausübung der Kontrolle herrscht. Die Union sieht sich daher nicht einer mehr oder weniger einheitlichen Kompetenzkontrolle der mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte ausgesetzt, sondern einer Vielzahl leicht unterschiedlicher Instrumente. Bei allen bisher von nationalen Gerichten festgestellten europäischen Kompetenzverstößen fällt auf, dass diese nie in derselben Sache ergingen. Im Fall Ajos kam das dänische Höchste Gericht gar zu dem entgegengesetzten Ergebnis des Bundesverfassungsgerichts aus dem Honeywell-Beschluss.140 Nur das deutsche Bundesverfassungsgericht hielt das PSPP der EZB für kompetenzüberschreitend. Die handelnde Unionsstelle benötigt also, möchte sie auf die nationalen Rechtsprechungen Rücksicht nehmen, Kenntnisse von den Integrationsgrenzen aller Mitgliedstaaten, welche sich eine Kontrolle vorbehalten. Diese Beobachtung einer Vielzahl von Rechtsordnungen verursacht einen enormen Aufwand und führt zu einem hohen Maß an Rechtsunklarheit. Bereits die Antizipation von Entscheidungen eines einzelnen Gerichts kann für den Rechtsanwender äußerst schwierig sein;141 eine sichere Aussage, inwieweit eine Maßnahme zusätzlich von allen nationalen Verfassungsgerichten mitgetragen wird, erscheint kaum machbar. Zudem drohen die nationalen Kompetenzkontrollen in ihrer Summe die Handlungsspielräume stark einzugrenzen. Dies gilt insbesondere in der Zusammenschau mit den von der Kompetenzkontrolle verschiedenen Kontrollvorbehalten. Dennoch handelt es sich dabei eher um ein perspektivisches Problem – bislang ist die Bereitschaft der mitgliedstaatlichen Gerichte zur Aktivierung von Kontrollvorbehalten eher gering. Auch hinsichtlich der Rechtsfolgen unterscheidet sich die nationale Kompetenzkontrolle von jener des EuGH. Während der Konflikt mit dem Bundesverfassungsgericht mit den bereits beschriebenen Problemen verbunden ist und damit schlimmstenfalls in eine europäische Rechtskrise führt, ist das Nachspiel einer EuGH-Entscheidung vergleichsweise unproblematisch. Die unumstrittene Bindungswirkung der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat eine starke Befrie140
Die Entscheidungen richteten sich zwar gegen unterschiedliche EuGH-Urteile, hatten aber beide die Existenz und Reichweite eines ungeschriebenen Rechtsgrundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung zum Gegenstand. 141 N. Grosche, Der Staat 60 (2021), 273 (293 f.) weist zurecht darauf hin, dass die Vorhersehbarkeit von Ergebnissen durch die Anwendung des kompetenziellen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes besonders gering ist.
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
dungswirkung und führt damit zur endgültigen Beilegung des zugrundeliegenden Streits.142 Obwohl die endgültige Feststellung der Unwirksamkeit des eigenen Handelns für das europäische Organ nachteilig ist, muss in der erzielten Klarheit und Endgültigkeit ein Vorteil erblickt werden. Nicht außer Acht zu lassen sind des Weiteren die mittelbaren Folgen des Ultra-vires-Vorbehalts durch seinen Einfluss auf den EuGH. Erhöht dieser als Reaktion auf die Ultra-vires-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seine Kontrolldichte und äußert sich zudem öfter zu Kompetenzüberschreitungen, dann ist dies auch vom handelnden Organ zu berücksichtigen. Nicht zuletzt werden damit die Unionsakte sowie ihre Begründungen öffentlich. Sowohl das OMT als auch das PSPP-Verfahren haben auf diese Weise zur Transparenz bei der EZB beigetragen.143 b) Wirkungen auf den Gerichtshof Auch aus Perspektive des Gerichtshofs ist der Ultra-vires-Vorbehalt ein Faktum, das diverse Auswirkungen auf seine eigene Tätigkeit entfaltet. Inwieweit er bereit ist, hieraus Konsequenzen zu ziehen, ist mitentscheidend für die Wirksamkeit des Vorbehalts qua Existenz. Nachfolgend sollen die wichtigsten Vorfeldwirkungen des Vorbehalts auf den EuGH dargestellt sowie mögliche Folgen aufgezeigt werden. aa) Externe Kontrolle der eigenen Entscheidungen Innerhalb der Unionsrechtsordnung erfüllt der EuGH die Funktion des obersten Rechtsprechungsorgans. Seine Entscheidungen haben abschließenden Charakter und unterliegen keiner gerichtlichen Überprüfung mehr. In seinen Urteilen muss er demnach grundsätzlich nicht mehr um die Akzeptanz anderer Gerichte werben. Dies betrifft sowohl die gefundenen Ergebnisse als auch ihre Begründung. Mit dem Bundesverfassungsgericht tritt nun eine Stelle hinzu, welche die Urteile des EuGH einer spezifisch juristischen Prüfung unterzieht. Dabei ist die Kontrolle zwar bei weitem weniger engmaschig als die eines Revisionsgerichts.144 Nichtsdestoweniger handelt es sich um eine Methodenkontrolle, deren Anforderungen erfüllt werden müssen, soll ein Konflikt verhindert werden.145
142 Siehe zur Bindungswirkung von Entscheidungen des Gerichtshofs ausführlich M. Willms, Die materiell-rechtlichen Wirkungen unionsgerichtlicher Nichtigkeits- und Ungültigkeitsentscheidungen, S. 84 ff. u. passim. 143 Auf diese Transparenzfunktion verweist U. Haltern, AöR 146 (2021), 195 (216); ders., NVwZ 2020, 817 (823). 144 Siehe 2. Kap., B III 1 a), S. 108 f. 145 Hierauf auch hinweisend I. Pernice, EuR 2011, 151 (157).
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bb) Erhöhte Fach- und Medienöffentlichkeit In der Vergangenheit wurde Entscheidungen des EuGH trotz ihrer hohen rechtlichen und praktischen Relevanz häufig eine relativ geringe Aufmerksamkeit zuteil.146 Zumindest in Teilen gilt dies heute nicht mehr: Einzelne Entscheidungen, insbesondere solche mit großer Bürgernähe wie im Verbraucherschutzrecht, werden durchaus intensiv rezipiert. Dennoch steht die mediale und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Urteilen des Gerichtshofs häufig noch jener nach, die Urteile nationaler Verfassungsgerichte erfahren. Insbesondere erfolgt eine Rezeption häufig nur dann, wenn der Gerichtshof über die eigene nationale Rechtsordnung entscheidet. Die Aufmerksamkeit ist in diesem Sinne selbst dann national vorselektiert, wenn die Entscheidungen zu fremden Rechtsordnungen auch für die eigene Rechtsordnung bedeutsam sind. Auch übergeordnete Fragen nach Faktoren wie der Zusammensetzung des Gerichts, seiner institutionellen Rolle und der Art seiner Entscheidungsbegründungen rückten aber erst in den letzten Jahren in den Fokus der medialen Berichterstattung.147 Trotz seiner ganz wesentlichen Rolle für den bisherigen Fortgang der Integration,148 blieb die kritische Begleitung des Gerichtshofs durch die Medien eher gering. Ein Justizkonflikt im Mehrebenensystem generiert, wie gezeigt, ein hohes Maß an Aufmerksamkeit in Fach- und Massenmedien.149 Das öffentliche Interesse beginnt jedoch nicht erst mit dem abschließenden Ultra-vires-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Insbesondere das OMT-Verfahren wurde mit Blick auf die mögliche Feststellung einer Kompetenzüberschreitung aufmerksam verfolgt. Bereits die Verfassungsbeschwerde durch namhafte Euro-Kritiker, spätes-
146
Aus zeitgenössischer Sicht: E. Stein, AJIL 75 (1981), 1 (1). A. Alemanno, The European Court of Justice Enters a New Era of Scrutiny, Verfassungsblog. 148 Üblicherweise wird dem Gerichtshof die Rolle eines „Motors der Integration“ zugeschrieben. Grundlegend T. Stein, Richterrecht wie anderswo auch?, in: Doehring (Hrsg.), Richterliche Rechtsfortbildung, S. 619. Beispielhaft auch P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 214, Rn. 61; P. Kirchhof, NJW 2020, 2057 (Rn. 6); M. Höpner, BJS 2011, 203; M. Höpner, Sozialer Fortschritt 59 (2010), 141 (141). Kritisch hinsichtlich der Legitimität richterlicher Integrationsbemühungen H. H. von Arnim, NJW 2007, 2531 (2534). Aus der Tagespresse statt vieler R. Vaubel, Der Gerichtshof als Agent der Zentralisierung, FAZ v. 14.01.2013, S. 18. Die Bezeichnung als Ausdruck des Respekts verstehend U. Ehricke, Die Bindungswirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach deutschem Zivilprozeßrecht und nach Gemeinschaftsrecht, Vortrag v. 17.12.1997, S. 4. Zumindest einzelne Richter am EuGH lehnen die Rede vom „Motor der Integration“ ab, vgl. G. Hirsch, NJW 1996, 2457 (2465). 149 A. Alemanno, The European Court of Justice Enters a New Era of Scrutiny, Verfassungsblog. 147
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
tens aber der eindeutig formulierte Vorlagebeschluss150 waren klare Indizien für die Brisanz des Verfahrens. Sobald ein Unionsakt auch nur im Verdacht steht, ultra vires ergangen zu sein wird, ausgehend von der juristischen Fachöffentlichkeit, die Möglichkeit eines bundesverfassungsgerichtlichen Einschreitens diskutiert werden. Dies kann, wie das Beispiel der Ankündigung des OMT-Programms der EZB zeigt, anlässlich eines Akts eines Unionsorgans erfolgen. Ebenso denkbar ist dies hinsichtlich eines sich abzeichnenden potenziellen Ultra-vires-Handelns des EuGH beispielsweise im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens wie in den Rechtssachen Mangold oder Egenberger.151 Die Möglichkeit eines Justizkonflikts erhöht die Bedeutung des Falles aus Sicht der Rechtswissenschaft erheblich: Während einer Rechtssache aus sich heraus zwar eine mehr oder minder große Relevanz zukommt, vermag sie nun die Grundfragen innerhalb der Union im Spannungsverhältnis von Souveränität und Demokratie auf der einen sowie Rechtseinheit auf der anderen Seite zu berühren. Das resultierende höhere Aufkommen an begleitender wissenschaftlicher Literatur kann für die Richter am Gerichtshof sowie für die Generalanwälte eine kritische Reflexionsfläche bieten. Die Ersteinschätzung durch juristische Beobachter kann auch die Massenmedien aktivieren. Dies führt eventuell zu einer Mobilisierung von Teilen der Gesellschaft und dadurch auch der nationalen Politik, die zu öffentlichen Debatten Stellung beziehen muss. An den Grenzen der europäischen Kompetenzordnung können Urteile so nur noch schwer ohne große Aufmerksamkeit ergehen. Diese kritische Begleitung beschränkt sich nicht auf das bloße Ergebnis, sondern umfasst insbesondere die Begründung als Ausdruck der Art und Weise der europäischen Rechtsprechung. Indem das Bundesverfassungsgericht selbst die Qualität der Unionsrechtsprechung zum Kritikpunkt macht, wirft es auch ein mediales Schlaglicht auf den Aspekt der Methodik. Nicht nur in Deutschland, sondern überall in der Union werden daher Rechtsprechungslinien und konkrete Entscheidungen vor dem Hintergrund der jeweils eigenen rechtskulturellen Prägung diskutiert. cc) Erweiterter Kontrollzugriff Bis heute hat der EuGH nur einen recht eingeschränkten Kontrollzugriff auf Unionsakte. Art. 263 Abs. 4 AEUV sieht nur begrenzte Individualklagemöglichkeiten vor, weshalb der Gerichtshof in den meisten Konstellationen auf eine
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BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 55 ff.). Kritisch hierzu T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (45 f.). 151 Siehe zu Mangold beispielsweise J.-H. Bauer/C. Arnold, NJW 2006, 6. Eine Kontrolle bei Egenberger durchaus für erfolgversprechend haltend M. L. Fremuth, EuZW 2018, 723 (730 f.); a.A. P. Stein, Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht im Arbeitsrecht und seine Grenzen, S. 117 f.; J. Schubert, EuZA 2020, 320 (350 ff.); M. Jacobs, RdA 2018, 263 (267).
A. Wirkungen und Perspektiven des Ultra-vires-Vorbehalts
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Klage durch europäische Organe oder durch Mitgliedstaaten angewiesen ist. Entscheiden diese sich, beispielsweise aus politischen Gründen,152 gegen eine Klageerhebung, kann der EuGH das Unionsrecht nicht effektiv durchsetzen. Dies erfasst auch Streitfälle bezüglich der Reichweite vertraglicher Kompetenzen. Aus diesem Grund kommt dem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV eine besondere Bedeutung zu. Mitgliedstaatliche Gerichte können dem EuGH Geltungsfragen auch dann vorlegen, wenn keiner der Verfahrensbeteiligten selbst ein Verfahren vor dem EuGH anstreben könnte. Sobald die Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Vorabentscheidungsverfahrens, insbesondere die Entscheidungserheblichkeit für das Ausgangsverfahren nach Abs. 2, vorliegen, wird sich der Gerichtshof mit der Sache befassen. Die Entscheidungserheblichkeit wird ihrerseits durch die Regeln des nationalen Rechts bedingt.153 Auf diese Weise werden die Normen des nationalen Rechts zum Filter für den Zugang zum EuGH. Mit Blick auf die Ultra-vires-Kontrolle ergibt sich hier eine Besonderheit: Die Möglichkeit für den deutschen Wahlberechtigten, auf Grundlage von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG mittelbar Verfassungsbeschwerde gegen Ultra-vires-Akte zu erheben, ist gleichbedeutend mit einem nur sehr kleinen Filter für den Zugang zum EuGH. Geht das Bundesverfassungsgericht von der Möglichkeit eines Ultra-vires-Akts aus, wird der EuGH daher mit Fragen befasst, die seiner Zuständigkeit ansonsten möglicherweise entzogen wären.154 Der großzügige nationale Rechtsschutz erweitert auf diese Weise faktisch die engen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Nichtigkeitsklage. Teilweise wird daher die Erweiterung des Kontrollzugriffs des EuGH kritisch betrachtet.155 Es sei mit der Wertung des Art. 263 Abs. 4 AEUV unvereinbar, dass der Zugang über das nationale Gericht weiter reicht als jener unmittelbar zur europäischen Gerichtsbarkeit. Dieser Standpunkt berücksichtigt aber nicht die Wertungen des europäischen Verfahrensrechts: Das Vorabentscheidungsverfahren stellt eine bewusste Verknüpfung des Rechts auf Zugang zum EuGH mit dem nationalen Verfahrensrecht dar.156 Unberührt bleibt dabei die Freiheit der nationalen Rechtsordnungen, selbst über die Voraussetzungen des Zugangs zu ihren 152
Siehe C. Ohler, ZG 2020, 95 (95). Der EuGH nimmt nach erfolgter Vorlage eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit an, die nur in Ausnahmefällen widerlegt werden kann, EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400 (Rn. 25). 154 C. Ohler, ZG 2020, 95 (95). 155 So das Vorbringen der spanischen Regierung im Rahmen von EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400 (Rn. 22), ebenso L. Naujoks, Das Verhältnis zwischen BVerfG und EuGH, S. 57. Wohl auch I. Pernice, EuZW 2020, 508 (509), der den weiteren Kontrollzugriff des Bundesverfassungsgerichts verglichen mit dem EuGH zumindest als besonders begründungswürdig ansieht. 156 U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 50. EGL. Mai 2013, Art. 267 AEUV, Rn. 3. 153
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
eigenen Gerichten zu entscheiden. Die Reichweite des grundrechtsgleichen Rechts auf demokratische Selbstbestimmung mag daher unter Aspekten des deutschen Verfassungsrechts zwar weiter kritisch zu betrachten sein157 – gegen das Telos der Unionsverträge verstößt es jedoch nicht. Die rechtspolitische Bewertung des erweiterten individuellen Zugangs hängt wohl im Wesentlichen davon ab, wie der weitgehende Ausschluss innerhalb der Verträge gewürdigt wird.158 Das Bundesverfassungsgericht erhöht die normative Kontrolldichte innerhalb der Union, stärkt damit die Rolle des EuGH gegenüber den anderen Organen und unterstützt so die europäische Rechtsgemeinschaft. Befürworter einer starken Exekutive, wie sie insbesondere in Staaten ohne starke verfassungsgerichtliche Kontrolle anzutreffen sein dürften, werden hierin wohl eher einen Verlust an demokratischer Entscheidungsfreiheit erblicken. Die zusätzliche Arbeitsbelastung für den Gerichtshof dürfte jedoch kein Argument in diesem Kontext darstellen. Der Mehraufwand ist bisher sehr begrenzt und wird wohl angesichts der nicht geringen sonstigen Zulässigkeitshürden einer Verfassungsbeschwerde in der Praxis auch auf absehbare Zeit nicht nennenswert wachsen. dd) Konsequenzen Bereits die Existenz nationaler Kontrollvorbehalte fordert die institutionelle Rolle des EuGH heraus. Seine Entscheidungen stehen aus Sicht der nationalen Stellen immer unter der Bedingung eines unterbleibenden Widerspruchs durch die eigene Judikative. Hieran kann der EuGH nichts ändern: Die Betonung der eigenen Letztentscheidungskompetenz wird die nationalen Höchstgerichte nicht zur Aufgabe ihrer Vorbehalte bringen und auch nicht die Befolgungsbereitschaft der nationalen Organe verändern. Der Gerichtshof kann allenfalls bestrebt sein, die tatsächliche Anwendung der Kontrolle zu vermeiden und sie damit ihrer praktischen Relevanz zu berauben. Gleichzeitig liegt die Unabhängigkeit seiner eigenen Rechtsprechung von externen Zwängen in seinem Kerninteresse. Betrachtet man die europäische Rechtsprechung über den Verlauf der letzten Jahrzehnte, so lässt sich keine Anpassung der europäischen Kompetenzkontrolle feststellen, die sich als besondere Reaktion auf einen nationalen Ultra-viresVorbehalt verstehen ließe. Damals wie heute sind Feststellungen eines Überschreitens der europäischen Verbandskompetenz durch den EuGH äußerst selten.159 Es scheint, als hätten die oben genannten Wirkungen auf den EuGH kein Ausmaß, welches zu einer tatsächlichen Verhaltensbeeinflussung führt. Dieser Befund zeigt zwar einerseits, dass die Effektivität der bisherigen Vorfeldwirkungen auf den Gerichtshof nicht überschätzt werden sollte. Andererseits greift diese Schlussfolgerung aber noch zu kurz: Die Relevanz des Vorbehalts hat 157
Siehe 2. Kap., C IV 2, S. 154 ff. Äußerst positiv ist die Bewertung bei F. C. Mayer, NJW 2015, 1999 (2002). 159 Siehe hierzu Einl., S. 5 f. 158
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aus Sicht des Gerichtshofs sukzessive zugenommen. Der Ultra-vires-Vorbehalt des Kloppenburg-Beschlusses hat mit jenem des PSPP-Urteils nur noch wenig gemein. Das Bundesverfassungsgericht hat erst nach und nach Aussagen zu zulässigen Verfahrensgegenständen, Prüfungsbeschränkungen oder Rechtsfolgen getroffen. Erstmals im OMT-Verfahren fand ein Austausch über die Rechtsansichten im Rahmen eines Vorlageverfahrens statt. Erst im PSPP-Urteil hatte die Kontrolle im Ergebnis Erfolg. Der Ultra-vires-Vorbehalt wurde also erst innerhalb der letzten 15 Jahre „scharf gestellt“. Seine Wirksamkeit qua Existenz wird sich daher erst nach und nach zeigen, beginnend mit jenen Fällen, in denen ein tatsächlicher Interpretationskonflikt zwischen den Gerichten besteht. Die Wirkung der Kontrolle wird dabei, so die hier vertretene These, stark von ihrem konkreten Inhalt abhängen. Der Gerichtshof muss und wird seine Aufgabe als unabhängige übergeordnete Rechtsprechungsinstanz der Union wahren. Stellt sich die Kontrolle als ausgesprochen engmaschig dar oder bedrohte aus Sicht des Gerichtshofs notwendige Entscheidungsspielräume, so wäre der Konflikt unvermeidbar. Je leichter die Anforderungen umzusetzen sind und je weniger sie die Stellung des EuGH bedrohen, desto eher wird er zur Erfüllung bereit sein. Die Effektivität des Ultra-vires-Vorbehalts in seiner Vorfeldwirkung dürfte einerseits zunächst mit sinkender Kontrolldichte wachsen.160 Eine zurückhaltende Kontrolle erleichtert es, im Dialog der Gerichte nationale Bedenken und unionsrechtliche Notwendigkeiten zusammenzuführen.161 Andererseits besteht damit die Gefahr, dass der Vorbehalt seinen eigentlichen Zweck, die Gewährleistung demokratischer Legitimation und staatlicher Souveränität, verfehlt.162 Im Folgenden sollen daher die Wirkungen der bisherigen Vorlagen des Bundesverfassungsgerichts an den EuGH untersucht werden. Dargestellt wird, wie sich die Möglichkeit eines Ultra-vires-Verdikts jeweils auf das Urteil des Gerichtshofs ausgewirkt hat und wie dies im Hinblick auf die Wirksamkeit des Vorbehalts zu bewerten ist. Betrachtet man das OMT-Verfahren, so sah sich der EuGH mit konkreten Bedenken hinsichtlich der Kompetenzgemäßheit des Anleihekaufprogramms konfrontiert.163 Diese waren im Vorlagebeschluss mit dem Hinweis auf die Mög160 U. Hufeld, JVSR 2016/2017, 11 (17): „Die Aussicht auf beschädigtes Einheitsrecht soll und wird beeindrucken, solange der Beschädigungsfall nicht oder extrem selten eintritt.“ 161 Hierauf hinweisend: J. Masing, Verfassung im internationalen Mehrebenensystem, in: Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 1, Rn. 110 f. 162 Ebenso J. Masing, Verfassung im internationalen Mehrebenensystem, in: Herdegen/ Masing/Poscher/Gärditz (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 1, Rn. 113. Deshalb greift die Kontrolle bei R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 136, 141 entschieden zu kurz: Stellt die Kontrolle nur noch eine rein theoretische Option das (S. 136) und ist ihre fehlende praktische Bedeutung „Sinn und Zweck“ (S. 141) der Maßstabsbildung, so wird ihr Zweck verfehlt. Die Schutzgüter der Kontrolle fallen dann der Europarechtsfreundlichkeit zum Opfer. 163 BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 55 ff.).
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
lichkeit einer Ultra-vires-Kontrolle verknüpft.164 Inwieweit diese nationalen Einwände und das Inaussichtstellen einer Kontrolle die eigene Prüfung des EuGH leiteten und in der Sache beeinflussten, kann von außen nicht bewertet werden. Unbestritten ist jedoch, dass die Vorlage des Bundesverfassungsgerichts ursächlich für die Befassung des EuGH war – andere Verfahren zur Rechtmäßigkeit des Kaufprogramms fanden, soweit bekannt, nicht statt. Das Gauweiler-Urteil konnte von Befürwortern wie Gegnern einer mitgliedstaatlichen Kompetenzkontrolle als Enttäuschung wahrgenommen werden.165 Während die einen eine Abweisung per Prozessurteil erhofften, da sich der EuGH nicht der Logik der Ultra-vires-Kontrolle unterwerfen dürfe,166 monierten andere die geringe Dichte seiner Kompetenzkontrolle und damit eine geringe Kooperationsbereitschaft gegenüber dem Bundesverfassungsgericht.167 Nicht zu Unrecht wurde angemerkt, dass der Gerichtshof in weiten Teilen nicht der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts gefolgt ist und dementsprechend nicht alle geforderten Beschränkungen des OMT-Programms vornahm. Insbesondere in der Frage nach der Möglichkeit eines Schuldenschnitts bezogen auf die von der EZB gehaltenen Staatsanleihen bestand Uneinigkeit zwischen den Gerichten.168 Zudem äußerte der Gerichtshof keine grundsätzlichen Bedenken gegen die Unbegrenztheit des Anleihekaufprogramms in seinem Volumen169 oder gegen das Halten der Staatsanleihen bis zur Endfälligkeit.170 Er stellte lediglich fest, sowohl der Umfang der Anleihekäufe also auch die Dauer des Haltens der Anleihen müssten verhältnismäßig und insbesondere erforderlich zu Erreichung des währungspolitischen Ziels sein.171 Das Bundesverfassungsgericht deutete diese Formulierungen recht großzügig als Feststellung des Ausnahmecharakters derartiger Vorgehensweisen.172 Nur aufgrund dieser „verfassungskonformen Auslegung“173 des EuGH-Urteils konnte das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis kommen, es handle sich bei dem OMT-Programm nicht um einen Ultra-vires-Akt. Kurzerhand schrieb es seine Auslegung des 164
Hierzu T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (45 f.). Wohl gerade darin sehen C. Herrmann/C. Dornacher, EuZW 2015, 579 (583) den Vorzug des Urteils, welches „Größe im Umgang mit anderen Gerichten und Härte in der Sache“ demonstriere. 166 So schon die italienische Regierung, siehe hierzu EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400 (Rn. 11 ff.). 167 J. H. Klement, JZ 2015, 754 (754). 168 Gegen diese Möglichkeit BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 88 f.), dafür aber EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400 (Rn. 126). 169 EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400 (Rn. 88). 170 EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400 (Rn. 118). Hierzu C. Ohler, NVwZ 2015, 1001 (1005). 171 EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400 (Rn. 66 ff.). 172 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 195). 173 J. H. Klement, JZ 2015, 754 (760). 165
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EuGH-Urteils als Bedingung für die Beteiligung deutscher Organe am OMTProgramm fest.174 Damit besteht eine erhebliche Ungewissheit über die Kongruenz von deutscher und europäischer Rechtslage, die im Fall einer Aktivierung des Programms zu Spannungen führen könnte. Das OMT-Verfahren führte also nicht zu einer endgültigen Klärung der Uneinigkeiten zwischen den Gerichten. Ebenso wenig führte es zu einer besonderen Schärfung der Kompetenzordnung durch den EuGH. Dieser zeigte sich im Ergebnis recht unbeeindruckt von den Bedenken der deutschen Verfassungsrichter. Durch die bloße Androhung des Ultra-vires-Vorbehalts konnte das Bundesverfassungsgericht daher keinen größeren Einfluss auf die Unionsrechtsprechung nehmen. Ganz ähnlich dürfte sich auch die Situation nach dem verfassungsgerichtlichen Urteil zum Wiederaufbaufonds NGEU darstellen. Dort hat das Gericht ebenfalls versucht, seine eigenen Vorstellungen von der richtigen Auslegung des Unionsrechts durchzusetzen.175 Mangels Vorlage an den Gerichtshof konnte dieser sich nicht dazu äußern, ob er die im Programm festgelegten Bedingungen ebenfalls für primärrechtlich geboten hält, oder auch andere Ausgestaltungen möglich wären. Ob daher die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts in möglichen zukünftigen Verfahren vor dem Gerichtshof Bestand hätten, ist fraglich.176 Anders gelagert war ein Teil der bundesverfassungsgerichtlichen Kritik im PSPP-Verfahren. Wesentlich für die Qualifikation des EZB-Programms als ultra vires war dort letztlich nicht die eigentliche Kompetenzüberschreitung, sondern die Unmöglichkeit einer entsprechenden gerichtlichen Überprüfung mangels ausreichender Darlegung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Zentralbank.177 Unabhängig von der Frage, ob im konkreten Fall tatsächlich Kompetenzen überschritten wurden, stellt das Bundesverfassungsgericht damit formale Anforderungen an den Akt. Dieser Kontrolle kann das Organ recht einfach gerecht werden – aber auch der EuGH könnte im Rahmen seiner Gültigkeitsprüfung diese Aspekte ohne ernstliche Gefährdung der Wirksamkeit des Unionsrechts berücksichtigen. Die Begründungserfordernisse ließen sich dogmatisch überzeugend in das Unionsrecht übertragen, womit zumindest in dieser Frage ein Konflikt zwischen den Rechtsordnungen durch Kooperation gelöst werden könnte. Der EuGH würde so das Bedürfnis der nationalen Verfassungsgerichte nach einer besseren Überprüfbarkeit der Einhaltung der Kompetenzordnung anerkennen. Im Gegenzug können diese aufgrund der substantiierteren
174
BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 205 ff.). 175 BVerfG, Urt. v. 06.12.2022 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Urteil), WM 2022, 2451, insb. Rn. 149, 168. 176 Für ohnehin unzureichend hält die abweichende Meinung des Richters Müller zu BVerfG, Urt. v. 06.12.2022 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Urteil), WM 2022, 2451, insb. Rn. 24 f. die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien. 177 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 176).
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
Prüfung durch den EuGH auf dessen Prüfung vertrauen.178 Wichtig aus Sicht der Mitgliedstaaten ist nicht nur das konkrete Ergebnis einer Kompetenzprüfung. Ebenso zentral ist die Verlässlichkeit des EuGH hinsichtlich der Neutralität und der Qualität seiner Rechtsprechung. Die vom Bundesverfassungsgericht durchgeführte Methodenkontrolle ist auch Ausdruck eines Bemühens, bestimmte Vorstellungen von guter Rechtsprechung zu implementieren. Die Bedenken hinsichtlich eines Abwägungs- und Darlegungsausfalls brachte das Bundesverfassungsgericht schon im Rahmen des Vorlagebeschlusses vor.179 Dem EuGH wäre es insofern unproblematisch möglich gewesen, die EZB zum Erlass weiterer Beschlüsse zu bewegen. Diese wäre, anders als aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, hieraus auch formal verpflichtet gewesen. Bedauerlicherweise kam es hierzu nicht: Die Ausführungen der Zentralbank waren aus Sicht des EuGH ausreichend.180 Hieraus könnte gefolgert werden, der EuGH verschließe sich einer Kooperation auch in derartigen formalen Fragen und reagiere überhaupt nicht auf die Perspektive einer Ultra-vires-Kontrolle. Allerdings dürfte eine diesbezügliche Ultra-vires-Erklärung durch das Bundesverfassungsgericht noch nicht absehbar gewesen sein. Die Annahme der Kompetenzüberschreitung durch mangelhafte Begründung ist eine Erfindung des Endurteils im PSPP-Verfahren und lag damit außerhalb des für den EuGH Erwartbaren.181 Sein Urteil stellt in dieser Hinsicht also keine Reaktion auf eine mögliche Kontrolle dar. Sollte in der Zukunft eine vergleichbare Situation entstehen, wird sich der Gerichtshof daher unter anderen Vorzeichen mit den Vorlagefragen auseinandersetzen. Es spricht damit viel für einen umgekehrten Zusammenhang von Kontrolldichte und Kooperationsbereitschaft des EuGH: Knüpft die Kontrolle an ein bestimmtes Ergebnis an, welches sich vermeintlich nicht methodengerecht herleiten lässt, so ist eine inhaltliche Beeinflussung weit unwahrscheinlicher als bei einem Ansetzen an formalen Aspekten. Wichtig ist es jedoch, gegenüber dem EuGH Transparenz über die Kontrollkriterien herzustellen, damit dieser die kritischen Punkte klar erkennt und bestmöglich im Geiste der Kooperation antworten kann.182 Differenzierter noch als die Begründungserfordernisse für das handelnde Unionsorgan sind jedoch jene Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht
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Siehe auch F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik Bd. 2, Rn. 605, die Notwendigkeit einer Begründung zwingt den Richter, sich mit den Argumenten auseinanderzusetzen. 179 BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Beschluss), BVerfGE 147, 216 (Rn. 123). 180 EuGH, Urt. v. 11.12.2018 – C-493/17 (Weiss), ECLI:EU:C:2018:1000 (Rn. 29 ff.). Die Begründungspflicht wurde vom EuGH losgelöst von der Verhältnismäßigkeit betrachtet. 181 Auf die fehlende Erwartbarkeit weisen auch H.-J. Hellwig, NJW 2020, 2497 (Rn. 14) hin. 182 Siehe das abschreckende Beispiel Dänemarks im Fall Ajos, 3. Kap., A I 1 c) cc), S. 212 f.
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an den EuGH selbst stellt. Die unter anderem im PSPP-Urteil entwickelten Kriterien stellen für den Gerichtshof grundsätzlich keine allzu große Hürde da. Soweit beispielsweise eine Kohärenz innerhalb seiner Rechtsprechung verlangt wird, ließe sich eine etwaige Abweichung von der bisherigen Linie mit entsprechender Argumentation entweder als eine bewusste Abkehr von der früheren Rechtsprechung legitimieren oder aber als eine bewusste Ungleichbehandlung verschiedener Fälle aufgrund sachlicher Gründe darstellen. Diese zusätzliche Begründung hindert den Gerichtshof nicht an der Bejahung einer Kompetenz oder an der Sicherung der Effektivität des Unionsrechts. Ähnlich verhält sich dies mit anderen qualifizierten Begründungserfordernissen. Vorwürfen, bestimmte Auslegungsgrundsätze nicht beachtet oder Methoden nicht angewandt zu haben, lässt sich leicht begegnen. Nimmt der EuGH derartige Impulse durch die Mitgliedstaaten auf, kann dies der Qualität der europäischen Rechtsprechung nur zuträglich sein.183 Dies erfordert in Teilen eine noch deutlichere Abkehr von den recht knappen Entscheidungsbegründungen in französischer Tradition, die in der Frühphase des EuGH üblich waren.184 Führt man sich jedoch vor Augen, dass die Ultravires-Kontrolle in der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts ohnehin nur in jenen Fällen zum Tragen kommt, in denen besonders kritische Grenzbereiche der europäischen Hoheitsgewalt berührt sind, so lässt sich diese Obliegenheit zur qualifizierten Begründung umso leichter rechtfertigen. Zudem kann das Gericht in vielen Fällen auf die meist ausführlicheren Schlussanträge der Generalanwälte zurückgreifen.185 Angesichts der grundsätzlichen Unabhängigkeit solcher Darstellungen vom Ergebnis der Entscheidung sollte innerhalb des Spruchkörpers, auch für Fälle in denen dieser als Große Kammer aus 15 oder als Plenum aus 27 Mitgliedern besteht, Einigkeit erzielt werden können.
II. Wirkungen innerhalb der Bundesrepublik Ebenso wie auf die Unionsorgane entfaltet der Ultra-vires-Vorbehalt auch eine Reihe von Wirkungen auf Organe der Bundesrepublik. Dies betrifft vornehmlich die Verfassungsorgane, die aufgrund ihrer Integrationsverantwortung gegen Kompetenzüberschreitungen der Union einschreiten müssen, sowie jene Stellen, die an der Umsetzung des Unionsakts unmittelbar beteiligt gewesen wären.186 Nachfolgend werden die wesentlichsten dieser Wirkungen dargestellt. 183 Dies gilt umso mehr, als der EuGH bezüglich seiner Methode häufig nicht sehr transparent ist, siehe M. Jestaedt, Luxemburger Richterrecht, in: Hillgruber (Hrsg.), Gouvernement des juges, S. 21, 33 f. 184 Hierzu R. Wank, Juristische Methodenlehre, S. 433; T. Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 23 f.; M. Oesch, Europarecht, Rn. 246. Grundsätzlich zur Beratungs- und Begründungspraxis am Conseil constitutionnel siehe M. Jestaedt, JZ 2019, 473 (480 f.) 185 T. Möllers, Juristische Methodenlehre, S. 22. 186 Hierbei kann es zu Überschneidungen kommen. Z.B. ist der Bundestag bei der Umsetzung von Richtlinien sowohl ausführende nationale Stelle als auch ein von der Integrati-
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1. Wirkungen im Erfolgsfall a) Wirkungen auf die umsetzende nationale Stelle Erklärt das Bundesverfassungsgericht einen Unionsakt für ultra vires, dann ist es nationalen Verfassungsorganen, Behörden und Gerichten untersagt, am Zustandekommen der Umsetzung, Vollziehung oder der Operationalisierung von Ultravires-Akten mitzuwirken.187 So war es der Deutschen Bundesbank aufgrund des PSPP-Urteils verboten, bestandserweiternde Ankäufe von Anleihen zu tätigen oder sich an einer abermaligen Ausweitung des monatlichen Ankaufvolumens zu beteiligen, sollte die EZB nicht innerhalb von drei Monaten ausreichende Verhältnismäßigkeitserwägungen darlegen.188 Im Regelfall des indirekten Verwaltungsvollzugs ist damit eine nationale Behörde oder ein Gericht nicht nur die entscheidende Stelle für die Umsetzung des Unionsrechts, sondern auch umgekehrt für die Umsetzung des bundesverfassungsgerichtlichen Ultra-vires-Verdikts. Ihr Verhalten entscheidet letzten Endes darüber, ob der kompetenzüberschreitende Akt in Deutschland Wirkungen entfaltet oder nicht. Die Bereitschaft dieser Stellen zur Befolgung des Ultra-vires-Urteils ist also ausschlaggebend für den Erfolg der Kontrolle. Bis auf extreme Ausnahmefälle gibt es in der Bundesrepublik glücklicherweise keine Tradition des Missachtens bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen.189 In der Ultra-vires-Konstellation wird diese Gefolgschaft allerdings besonders herausgefordert: Die nationalen Stellen sehen sich einem diametral entgegengesetzten Urteil des EuGH ausgesetzt, welches den Unionsakt in seiner Wirksamkeit bestätigt. Zwar teilt das Bundesverfassungsgericht dem Hoheitsträger mit, dieses Urteil habe für ihn keinerlei Relevanz – jedoch beharrt der EuGH seinerseits darauf, das Bundesverfassungsgericht habe keine Befugnis sein Urteil zu derogieren. Im Zwiespalt von unionsrechtlichem Gebot und nationalem Verbot muss die deutsche Stelle damit eine Wahl treffen, wessen Entscheidung sie befolgt. Man sollte sich keiner Illusion darüber hingeben, dass diese Entscheidung anhand rechtlicher Kriterien getroffen würde.190 Es streiten zwar diverse juristi-
onsverantwortung erfasstes Verfassungsorgan. Die folgenden Ausführungen gehen von einer funktionalen Trennung beider Status aus. 187 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 234). 188 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 235). 189 Siehe aber als Ausnahmefall die Weigerung der Stadt Wetzlar, die einstweilige Anordnung BVerfG, Beschl. v. 24.03.2018 – 1 BvQ 18/18 (Stadthalle Wetzlar), NVwZ 2018, 819 umzusetzen. Siehe zur Reaktion des Gerichts: BVerfG, Schreiben an die Kommunalaufsichtsbehörde im Fall Wetzlar, 20.04.2018, abrufbar unter https://www.bundesverfassungsgericht. de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2018/bvg18-026.html (zuletzt geprüft am 20.04. 2023). Grundsätzlich zur politischen Ablehnung bundesvefassungsgerichtlicher Urteile: J. Collings: Phasen der öffentlichen Kritik am Bundesverfassungsgericht, in: Meinel, (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bonner Republik, S. 63 (75 und passim). 190 Ebenso T. Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnati-
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sche Argumente für die jeweilige Ansicht des EuGH191 beziehungsweise des Bundesverfassungsgerichts – beide Positionen werden aber voraussichtlich sauber begründet sein und sich als schlüssig erweisen.192 Damit rücken andere Faktoren in den Vordergrund des Entscheidungsprozesses. Auf Seiten der Exekutive dürfte eine derart wichtige Entscheidung inhaltlich von der Leitung der obersten weisungsbefugten Behörde getroffen werden. Dies kann im Einzelfall ein Bundes- oder Landesminister, aber auch beispielsweise ein Bürgermeister sein. Kaum vorstellbar erscheint jedoch die eigenmächtige Entscheidung einer weisungsgebundenen Stelle oder gar eines einfachen Sachbearbeiters innerhalb einer solchen Behörde. Die öffentliche Aufmerksamkeit im Falle eines Ultra-vires-Verdikts sowie die Tragweite der Entscheidung werden zu einer Befassung der wichtigsten Entscheidungsträger führen. Zudem ist auch eine politische Einflussnahme außerhalb formaler Weisungshierarchien äußerst wahrscheinlich: Sollte beispielsweise ein Bürgermeister eigenmächtig ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts verwerfen wollen, müsste dieser zusätzlich zu etwaigen Maßnahmen der Kommunalaufsichtsbehörde auch mit einer informellen Reaktion von Seiten der Landespolitik rechnen.193 Auch die Parteien könnten in diesem Zusammenhang maßgeblichen informellen Einfluss ausüben, beispielsweise indem sie Kandidatenposten von verfassungskonformem, beziehungsweise unionsrechtskonformem Verhalten abhängig machen oder Sach- und Personalmittel regulieren. Es ist davon auszugehen, dass deutsche Behörden einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit weit überwiegender Wahrscheinlichkeit Folge leisten werden. Für die Bundesbank gab es anlässlich des PSPP-Urteils auch ausdrückliche Äußerungen ihres damaligen Präsidenten Jens Weidmann, in denen dieser die Loyalität gegenüber dem obersten deutschen Gericht betont.194 Allgemein genießt das Bundesverfassungsgericht eine hohe soziale und politische Anerkennung in Deutschland.195 Ein offenes Opponieren gegen seine Urteile dürfte daher onalen Konstitutionalisierungsprozeß, S. 716. Für M. Nettesheim, ZRP 2021, 222 (224 f.) wäre in einem solchen Fall sogar „das Recht am Ende“. 191 Für eine generelle Befolgung von EuGH-Urteilen im Konfliktfall, W. Frenz, DVBl 2021, 1086 (1087 f.). 192 So auch die Einschätzung bei B. Wegener, EuR 2020, 347 (356). 193 So wurde im Rahmen der Corona-Krise berichtet, der bayrische Ministerpräsident Markus Söder habe persönlich in Telefonaten Druck auf Landräte ausgeübt, bestimmte Maßnahmen vorzunehmen, siehe M. Schlieben, Super-Söder versus Machtlos-Müller, ZEIT online, 21.03.2020, abrufbar unter https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-03/krisenm anagement-markus-soeder-michael-mueller-csu-spd/komplettansicht (zuletzt geprüft am 20.04.2023). 194 M. Höfling, Im Zweifel untersteht die Bundesbank deutschem Recht, WELT.DE, 16.06.2020, abrufbar unter: https://www.welt.de/wirtschaft/article209626929/EZB-Anleihe kaeufe-Im-Zweifel-untersteht-die-Bundesbank-deutschem-Recht.html (zuletzt geprüft am 20.04.2023). Dem lässt sich auch entgegentreten. So ist die Bundesbank als Teil des ESZB auch Teil der Unionsgewalt. Siehe auch F. C. Mayer, EuR 2014, 473 (492). 195 Hierauf verweist T. Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
weder vom Wähler noch von anderen Akteuren im politischen System geduldet werden. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht das zeitlich letzte Wort im Rechtsstreit um die Geltung eines Unionsakts. In einem späteren Vertragsverletzungsverfahren kann nur die Rechtswidrigkeit der deutschen Nichtbeachtung des Unionsrechts festgestellt werden, nicht aber gestaltend in das deutsche Recht eingegriffen werden.196 Gleichzeitig ist dieser Widerstand nicht völlig auszuschließen: In der Sache richtet sich ein Ultra-vires-Urteil typischerweise gegen die Position der maßgeblichen Verfassungsorgane, wirft sie Ihnen doch ein ungenügendes Einschreiten gegen einen Unionsakt vor. Im Beispiel der Eurorettung stritt die Regierung gerade für eine Zulässigkeit der geplanten und durchgeführten Anleihekaufprogramme. Exekutive und Legislative haben daher meist eine intrinsische Motivation, eher dem Urteil des Gerichtshofs zu folgen. Dennoch dürfte es sich angesichts des oben Gesagten hierbei um eine äußerst unwahrscheinliche Perspektive handeln. Dies gilt umso mehr, als die entsprechende Maßnahme ihrerseits einer judikativen Kontrolle unterliegt. Mehr noch als die Exekutive dürfte die deutsche Gerichtsbarkeit zu einer Beachtung des bundesverfassungsgerichtlichen Ultravires-Verdikts tendieren. Man ist Teil einer gemeinsamen Staatsgewalt, teilt eine Rechtskultur sowie die juristische Ausbildung und damit eine ähnliche Denkweise. Zudem können die fachgerichtlichen Urteile unmittelbar im Wege einer Verfassungsbeschwerde vor das Bundesverfassungsgericht gebracht werden – eine Befassung des EuGH mit dem nationalen Urteil kann hingegen nicht durch ein Verhalten der unterlegenen Partei erzwungen werden.197 Luxemburg ist für das deutsche Fachgericht demnach sowohl geistig als auch verfahrenstechnisch weiter entfernt als Karlsruhe. Dennoch zeigt das Beispiel im tschechischen Fall Holubec,198 dass ein Auflehnen der Gerichte gegen ein nationales Verfassungsgericht nicht vollkommen ausgeschlossen werden kann. Sollte es tatsächlich zu einem Fall kommen, in dem die Exekutive eine Entscheidung der nationalen Judikative missachtet, drohte eine ernste Verfassungskrise. Sollte eine Behörde zu dem Ergebnis kommen, die Entscheidung des Bun-
transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, S. 716, als Grund für die wahrscheinliche Befolgung des verfassungsgerichtlichen Urteils. 196 Ähnlich T. Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, S. 716. 197 Denkbar wäre allenfalls, ein Vertragsverletzungsverfahren durch Beschwerde bei der Kommission zu initiieren oder eine Vorlage per Verfassungsbeschwerde wegen eines Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zu erzwingen, vgl. BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (315 ff.); C. Thomale, EuR 2016, 510; C. D. Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 3, Art. 101 GG, Rn. 55 ff. Beide Wege dürften nicht allzu erfolgversprechend sein, wird der Kommission eine derartige Situation nicht entgangen sein und das Bundesverfassungsgericht eine neuerliche Befassung des EuGH ebenfalls kaum für gewinnbringend erachten. 198 Siehe hierzu ausführlich 3. Kap., A I 1 c) cc), S. 209 ff.
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desverfassungsgerichts sei für sie weniger verbindlich als jene des EuGH, so wird sie sich kaum von einem Urteil des lokalen Verwaltungsgerichts umstimmen lassen. Die Autorität der gesamten deutschen Justiz stünde dann auf dem Spiel. Es braucht nicht betont zu werden, welche Auswirkungen dies auf das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat haben dürfte und welchen Effekt dies auf die innere Stabilität der Bundesrepublik hätte. Die supranationale Rechtskrise könnte so zu noch weitaus ernsteren Krisenerscheinungen innerhalb Deutschlands führen. b) Wirkungen auf unbeteiligte Verfassungsorgane Die Wirkungen eines Ultra-vires-Verdikts auf die Verfassungsorgane bestehen in erster Linie aus den unmittelbaren Handlungspflichten, wie sie sich aus dem Tenor und der Urteilsbegründung ergeben. Diese sind Ausfluss aus der verfassungsrechtlichen Integrationsverantwortung. An der Bereitschaft zur Umsetzung der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Maßnahmen ist aus den soeben genannten Gründen auch hier nicht ernsthaft zu zweifeln. Die Gerichtsentscheidung bringt für Verfassungsorgane vor allem Gewissheit. Während vorab nicht klar war, ob angesichts einer Unionshandlung tatsächlich Maßnahmen ergriffen werden müssen, die Integrationsverantwortung also im Einzelfall ein Einschreiten verlangt, so existiert diesbezüglich nun eine abschließende verfassungsgerichtliche Einschätzung.199 Unter Beachtung der Urteilsbegründung werden die Verfassungsorgane – allen voran die Bundesregierung – daher auf die Beseitigung der verfassungswidrigen Situation hinwirken. Nur im Einzelfall werden ihnen konkrete Maßnahmen aufgrund einer Ermessensreduzierung auf null vorgegeben sein.200 Der Weg vor den EuGH ist nun jedenfalls nicht mehr ein sinnvolles Mittel. Seine vorherige Befassung im Rahmen einer Vorlage des Bundesverfassungsgerichts erübrigt diesen Schritt. Folglich stehen politische Kompromisslösungen im Vordergrund. Über den Verhandlungen schwebt aber, für den Fall des Scheiterns, die Möglichkeit einer Verpflichtung Deutschlands zum Austritt aus der EU. Unter den Verfassungsorganen ist sinnvollerweise eine enge Abstimmung zu suchen. Hielte beispielsweise die Regierung ein Hinwirken auf eine Anpassung der Maßnahme für aussichtsreich, sollte der Bundestag nicht auf eine Änderung der Verträge drängen. Angesichts des gemeinsamen Kurses liegt es daher nahe, einem einzigen Organ die öffentliche Kommunikation zu überantworten. Im PSPP-Verfahren hielt sich die Bundesregierung medial weitestgehend zurück und überließ somit dem Parlament die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Urteil. Angesichts der Stoßrichtung der Ultra-vires-Kontrolle in Richtung eines Schutzes der nationalen Parlamentsbefugnisse handelt es sich hierbei um
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Diese Unklarheit ist zu einem großen Teil durch die nur schwer nachvollziehbaren Prüfungsmaßstäbe des Bundesverfassungsgerichts begründet, siehe 2. Kap., B III 1 u. 2, S. 104 ff. 200 Siehe hierzu 2. Kap., C III 3 c), S. 144 ff.
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
eine sinnvolle Vorgehensweise. Gestützt auf die regierungstragende Mehrheit kann so demokratische Öffentlichkeit geschaffen werden, ohne dass hierbei ein Konflikt um das weitere Vorgehen entsteht. Hierbei obliegt der Bundesregierung vor allem die Kommunikation mit den Unionsorganen und die eigentliche Verhandlungsführung im Hintergrund. Das PSPP-Verfahren zeigte aber auch, welche Unsicherheit hinsichtlich der Folgen eines Ultra-vires-Verdikts noch besteht. Der Europaausschuss des Bundestags gab insgesamt acht Stellungnahmen von wissenschaftlichen Sachverständigen in Auftrag, deren Fokus auch auf den Handlungsoptionen des Bundestags lag.201 Bedauerlicherweise erfolgte die Auswahl der juristischen Gutachter äußerst unausgewogen zugunsten der Kritiker der Ultra-vires-Rechtsprechung,202 sodass auch in der nachfolgenden öffentlichen Anhörung203 keine ausgeglichene Information der Abgeordneten erreicht wurde.204 Zudem gab der Bundestag eine Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste in Auftrag, welche sich mit dem Urteil und den Handlungsoptionen des Parlaments auseinandersetzte.205 Den Stellungnahmen der Sachverständigen sowie der Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes weithin gemein war die Annahme eines recht kleinen Reaktionsspielraumes: Die EZB sei um die Darlegung der Verhältnismäßigkeitserwägungen zu bitten, gleichzeitig sei die Integrationsoffenheit des Bundesrepublik und die Unabhängigkeit der EZB zu betonen.206 Die Übertragung zusätzlicher Kompetenzen auf die Union kam schon aufgrund der
201 Diese Stellungnahmen sind abrufbar unter https://www.bundestag.de/webarchiv/Aus schuesse/ausschuesse19/pe1 europaeischeunion/oeffentliche anhoerungen#url=L3dlYmF yY2hpdi9BdXNzY2h1ZXNzZS9hdXNzY2h1ZXNzZTE5L3BlMV9ldXJvcGFlaXNjaG V1bmlvbi9vZWZmZW50bGljaGVfYW5ob2VydW5nZW4vNjk2MDg0LTY5NjA4NA== &mod=mod554384 (zuletzt geprüft am 20.04.2023). 202 Anders immerhin der Politikwissenschaftler M. Höpner, Stellungnahme zur Anhörung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Deutschen Bundestages am 25. Mai 2020. 203 Siehe Deutscher Bundestag, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union: Stenografisches Protokoll der 64. Sitzung, abrufbar unter https://www.bundestag.de/ resource/blob/698342/eab526d48cdca2f7345859ed507c70bf/protokoll-data.pdf (zuletzt geprüft am 20.04.2023). 204 Vielmehr waren es in Teilen die anwesenden Abgeordneten, die Standpunkte des Gerichts in die Debatte einbrachten. Beispielsweise wies MdB Amthor darauf hin, dass das Urteil hinsichtlich der Kompetenzauslegungspraxis des EuGH sinnvoll sein könnte, siehe BT, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union, Stenografisches Protokoll der 64. Sitzung, S. 24. 205 WD-BTs, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Beschlüsse der Europäischen Zentralbank zum Staatsanleihekaufprogramm. 206 WD-BTs, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Beschlüsse der Europäischen Zentralbank zum Staatsanleihekaufprogramm, S. 8 f. mit Verweis auf die Stellungnahmen der Sachverständigen. A.A. aber F. C. Mayer, Das PSPP-Urteil des BVerfG vom 5. Mai 2020, S. 23, der für ein Abwarten plädierte und auf ein Initiativhandeln der EZB hoffte.
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vom Bundesverfassungsgericht angesetzten Frist von drei Monaten nicht ernsthaft in Betracht.207 Neben der Umsetzung des konkreten Handlungsauftrags aus dem Urteil geht es also für die Verfassungsorgane auch darum, die politischen Wogen zu glätten, die im Verhältnis zur Union und den anderen Mitgliedstaaten entstanden sind. Besonders relevant ist neben der konkreten Maßnahme daher auch die Art und Weise, wie die Kommunikation mit den Unionsorganen stattfindet.208 2. Wirkungen qua Existenz des Vorbehalts a) Wirkungen auf die umsetzende nationale Stelle Das Bundesverfassungsgericht hat sich erstaunlich wenig dazu geäußert, wie nationale Behörden und Gerichte mit möglicherweise ultra vires ergangenen Unionsakten umzugehen haben. Während für Träger der Integrationsverantwortung hier konkrete Handlungsoptionen aufgezeigt wurden, fehlt es an einer vergleichbaren Maßgabe für andere Organe. Soweit Gerichte von einer qualifizierten Kompetenzüberschreitung ausgehen, steht ihnen nach den allgemeinen Regeln die Möglichkeit einer konkreten Normenkontrolle zur Verfügung.209 Sofern hierfür kein tauglicher Verfahrensgegen207 Lediglich die Bundestagsfraktion die Linke regte mit Blick auf die Zukunft eine Vertragsänderung an, nach der das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung abgeschafft und das Mandat der EZB dahingehend ergänzt werden sollte, dass die EZB die Zahlungsfähigkeit der nationalen Regierungen garantiert, siehe Fraktion Die Linke: Konflikt um die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank politisch lösen – EU-Verträge ändern und geldpolitischen Dialog mit der Bundesbank verankern, 30.06.2020, Antrag, Az. DS. 19/20552/ 30.6.2020, abrufbar unter https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/205/1920552.pdf (zuletzt geprüft am 20.04.2023), S. 3. 208 Interessant in diesem Zusammenhang sind die verschiedenen Anträge der Bundestagsfraktionen zum Umgang mit dem PSPP-Urteil. Diese enthalten recht umfangreiche Ausführungen zu den Umständen der Entscheidung und zur Bewertung der EZB-Maßnahmen und zeichnen so auch verschiedene denkbare Wege zum Umgang mit der Problematik auf, siehe: Gemeinsamer Antrag der Bundestagsfraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/DIE GRÜNEN, Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihekaufprogramm PSPP der Europäischen Zentralbank, 01.07.2020, Antrag, Az. DS. 19/20621, abrufbar unter htt ps://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/206/1920621.pdf (zuletzt geprüft am 20.04.2023); AfDBundestagsfraktion, Kritische und effektive Ausübung der sogenannten Integrationsverantwortung des Deutschen Bundestages im Zusammenhang mit Entscheidungen des Rates der Europäischen Zentralbank, 01.07.2020, Antrag, Az. DS. 19/20616, abrufbar unter https://dip 21.bundestag.de/dip21/btd/19/206/1920616.pdf (zuletzt geprüft am 20.04.2023).; Fraktion Die Linke: Konflikt um die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank politisch lösen – EUVerträge ändern und geldpolitischen Dialog mit der Bundesbank verankern, 30.06.2020, Antrag, Az. DS. 19/20552/30. 6. 2020, abrufbar unter https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/ 205/1920552.pdf (zuletzt geprüft am 14.03.2022); FDP-Bundestagsfraktion, Verhältnismäßigkeitsprüfung fristgerecht dargelegt – Kontrolle der Grenzen der Geldpolitik als Daueraufgabe ernstnehmen, 01.07.2020, Antrag, Az. DS. 19/20553, abrufbar unter https://dip21.bunde stag.de/dip21/btd/19/205/1920553.pdf (zuletzt geprüft am 20.04.2023). 209 Siehe 2. Kap., C IV 4 b), S. 164 ff.
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
stand existiert, kann es allenfalls die Verfahrensbeteiligten auf die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde hinweisen.210 Keinesfalls jedoch darf es das Unionsrecht selbst verwerfen.211 Unklarer stellt sich die Situation für Exekutivorgane dar. Im PSPP-Urteil hielt das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die Bundesbank, die keine Trägerin der Integrationsverantwortung ist, fest: „[Die] Deutsche Bundesbank [darf] an Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, die sich als Ultra-vires-Akte darstellen oder die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfassungsidentität berühren, nicht mitwirken und hat dies – wie jede deutsche Stelle – bei entsprechenden Anhaltspunkten selbständig zu prüfen.“212
Die grammatikalisch naheliegendste Deutung wäre, dass die Bundesbank nach einer selbständigen Prüfung selbst über die Verwerfung von Unionsrecht entscheidet. Dies würde verwundern: Schon im rein nationalen Kontext geht die wohl herrschende Meinung davon aus, dass die Exekutive keine Verwerfungsbefugnis für formelle Gesetze hat.213 Zudem widerliefe eine derartige Deutung dem verfassungsrechtlichen Verwerfungsmonopol: Es bliebe völlig unklar, wieso es einer Verwaltungsbehörde erlaubt sein sollte, Unionsrecht zu verwerfen, einem Fachgericht aber verboten. In beiden Fällen droht gleichermaßen eine Fragmentierung des Unionsrechts. Die Ausführung des Bundesverfassungsgerichts ist daher wohl im Zusammenhang mit der korrespondierenden Passage des OMTUrteils zu lesen: Dort hieß es noch, die Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte hätten „die Voraussetzungen eines Ultra-vires-Aktes in eigener Verantwortung zu prüfen und […] hierüber gegebenenfalls eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herbeizuführen.“214 Der Wegfall des zweiten Halbsatzes im späteren PSPP-Urteil sollte nach hier vertretener Ansicht nicht zu einer Änderung in der Sache führen. Den Behörden kommt daher zwar eine Prüfungspflicht, allerdings keine Verwerfungskompetenz zu. Eine Außerachtlassung von Ultra-vires-Akten kann daher erst nach erfolgter Feststellung durch das Bundesverfassungsgericht erfol-
210
Siehe 2. Kap., C IV 4 b), S. 168. Siehe 2. Kap., C I, S. 129 ff. 212 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 95). 213 Die wohl herrschende Meinung geht für förmliche Gesetze von einer Pflicht zur Anwendung aus, siehe BGH, Urt. v. 16.04.2015 – III ZR 333/13 (Amtshaftung wegen rechtswidriger Untersagung des Betriebs einer Sportwettenannahmestelle), BGHZ 205, 63, Rn. 44; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG Bd. 2, Art. 20 GG (Rechtsstaat), Rn. 97 f.; A.A. jedoch M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20 GG, Rn. 97 m.w.N. Das Bundesverfassungsgericht hat dies bislang offen gelassen, siehe BVerfG, Beschl. v. 10.12.2009 – 1 BvR 3151/07 (Kürzung der Zuteilung von Emissionsberechtigungen), BVerfGK 16, 418 (442). Vertiefend zum Streit M. Wehr, Inzidente Normverwerfung durch die Exekutive; O. Bachof, AöR 87 (1962). 214 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 162). 211
A. Wirkungen und Perspektiven des Ultra-vires-Vorbehalts
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gen. An den Prüfungsauftrag der Behörde kann daher allenfalls die Pflicht zur Information eines Verfassungsorgans gekoppelt sein. Diesem müssen die Gründe für die Zweifel an der Kompetenzkonformität des Unionsakts mitgeteilt werden, damit es dann im Rahmen seiner Integrationsverantwortung Abhilfe schaffen kann. Auf diese Weise ist sowohl die einheitliche und restriktive Anwendung der Ultra-vires-Kontrolle als auch die Befassung des zuständigen Organs sichergestellt. b) Wirkungen auf unbeteiligte Verfassungsorgane Die Integrationsverantwortung gebietet den deutschen Verfassungsorganen ein Einschreiten, sobald ein Unionsakt ultra vires ergeht. Entsprechend stellt sich die Ultra-vires-Kontrolle als eine externe Kontrolle des Verhaltens der Verfassungsorgane dar. Überprüft wird, ob die Verfassungsorgane die Kompetenzlage korrekt eingeschätzt sowie gebotene Maßnahmen ergriffen haben. Eine externe Kontrolle fördert grundsätzlich die effektive Wahrnehmung von Rechtspflichten. Eine Bewertung, wie häufig und wie nachdrücklich die Verfassungsorgane bestimmte Maßnahmen aufgrund ihrer Integrationsverantwortung ergreifen, ist jedoch nur schwer vorzunehmen. Lediglich in seltenen Fällen ist entsprechendes Handeln von außen erkennbar, so zum Beispiel ein Anstoß für ein Vertragsänderungsverfahren. Beratungen im Rat oder non-formales politisches Einwirken entziehen sich der öffentlichen Wahrnehmung. Es dürfte jedenfalls verfehlt sein, der Ultra-vires-Kontrolle eine entscheidende Anreizwirkung zuzuschreiben. Die bisherigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben keine Klarheit über die Maßstäbe der Kontrolle gebracht. Es ist deshalb für die Verfassungsorgane kaum möglich, Urteile mit einiger Sicherheit zu antizipieren und damit selbst die Ultra-vires-Eigenschaft eines Akts gerichtssicher zu bewerten. Bedenkt man aber die an diese Einschätzung geknüpften Folgen, schlimmstenfalls ein Austritt aus der Union, so wäre eine falsch-positive Einschätzung äußerst problematisch. Umgekehrt erscheint eine Verurteilung durch das Bundesverfassungsgericht bei falsch-negativer Bewertung vergleichsweise erträglich, zumal sich die öffentliche Aufmerksamkeit vor allem auf die Kompetenzüberschreitung der Union und den Gerichtskonflikt richtet und weniger auf die ungenügende Wahrnehmung der Integrationsverantwortung. Allein die Existenz des Ultra-vires-Vorbehalts ist daher nur sehr eingeschränkt zur Verhaltenssteuerung gegenüber den Verfassungsorganen geeignet.
III. Bewertung Bei einer zusammenfassenden Bewertung des Ultra-vires-Vorbehalts stellt sich dieser als nur eingeschränkt wirksam dar. Besonders die eigentlich wichtigen Wirkungen qua Existenz sind nur schwach ausgeprägt. Es ist nicht zu erkennen, dass der EuGH seine Kompetenzprüfung in Anbetracht einer mitgliedstaatlichen Kontrolle verschärft hätte. Auch die deutschen Verfassungsorgane drängen bis-
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
lang, soweit erkennbar, nicht initiativ auf die Anpassung von Maßnahmen der Union oder klarstellende Vertragsrevisionen.215 Diese schwache Vorfeldwirkung führt zu einer gestiegenen Wahrscheinlichkeit der Aktivierung der Kontrolle im Einzelfall. Diese Aktivierung ist allerdings mit hohen Risiken behaftet. So drohen nicht nur im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der Union sowie den anderen Mitgliedstaaten grobe Verwerfungen. Im (unwahrscheinlichen) schlimmsten annehmbaren Fall kann auch innerhalb der Bundesrepublik eine schwere Rechtsund Staatskrise entstehen. Mit der Annahme eines Ultra-vires-Akts geht das Bundesverfassungsgericht daher ein enormes Risiko ein. Die Verwirklichung der schwerwiegendsten Risiken ist aufgrund der beidseitigen Betroffenheit von Union und Bundesrepublik zwar nicht wahrscheinlich, aber dennoch im Bereich des praktisch Möglichen. Sollten Entscheidungsträger auf Seiten der Kommission zu dem Entschluss gelangen, gegenüber einer mitgliedstaatlichen Kontrolle sei durch Erhebung einer Aufsichtsklage ein Signal der Ablehnung zu senden, droht die Situation zu eskalieren. Diese Entscheidung wäre rechtlich regelmäßig nicht zu beanstanden und dürfte nicht nur von den handelnden Personen, sondern auch von dem aktuellen Zustand der Gemeinschaft und der damit verbundenen angenommenen Notwendigkeit für ein solches Signal abhängen. Aufgrund der hohen Risiken, die mit einer erfolgreichen Kontrolle verbunden sind, ist fraglich, ob diese in einem angemessenen Verhältnis zu den erreichten Zwecken steht. Schon mit Blick auf das Demokratieprinzip können hier Bedenken bestehen: Die Unionsverträge sehen für die nationalen Parlamente keine Rolle bei der Ausübung von Unionsgewalt vor. Die einmalige Rückbindung der Unionsgewalt durch den Akt der Einräumung der Hoheitsrechte ist zwar notwendig216 – im Alltag der Hoheitsausausübung spielt sie jedoch keine Rolle mehr. Für die tatsächliche Entscheidungsfindung innerhalb der Union spielt die Repräsentation durch den Rat, also durch die mitgliedstaatlichen Exekutiven, eine weitaus größere Rolle. Diese Legitimation wird durch das Europäische Parlament noch ergänzt und abgestützt.217 So hat das Bundesverfassungsgericht bereits in der Maastricht-Entscheidung festgestellt, dass im Zustimmungsgesetz zum Beitritt zu einer Staatengemeinschaft die demokratische Legitimation sowohl der Existenz der Staatengemeinschaft selbst als auch ihrer Befugnisse zu Mehrheitsentscheidungen, die die Mitgliedstaaten binden, ruht. Voraussetzung der deutschen Mitgliedschaft sei aber, dass eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflussnahme auch innerhalb 215
Die Schöpfung des Art. 136 Abs. 3 AEUV ist kein Beispiel hierfür. Dort ging es nicht um die Reichweite der Unionskompetenzen, sondern um die Vereinbarkeit mitgliedstaatlichen Handelns mit Art. 125 Abs. 1 AEUV. 216 Siehe zu dem zugrundeliegenden Demokratiebegriff 1. Kap., B II 2, S. 37 ff. 217 Siehe zur nur ergänzenden Rolle des EU-Parlaments BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (364).
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts
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eines Staatenverbundes gesichert ist.218 Die Sicherung des Legitimationszusammenhangs über das Zustimmungsgesetz schützt damit lediglich einen von mehreren Legitimationssträngen der Union. Sollte es tatsächlich wegen der Feststellung eines Ultra-vires-Akts zu einer Rechtskrise im Verhältnis zur Union oder gar zu einer deutschen Staatskrise kommen, so wäre dies ein hoher Preis für den Schutz eines einzelnen Legitimationsstrangs. Auch die Souveränität der Bundesrepublik wird durch die Feststellung der fehlenden Geltung eines Akts in der deutschen Rechtsordnung zwar geschützt – dennoch besteht für den Integrationsgesetzgeber nicht ohne Weiteres die Möglichkeit, selbst über die Frage der Einräumung der entsprechenden Kompetenzen zu entscheiden. Ultra-vires-Konstellationen vor dem Gericht zeichneten sich bisher dadurch aus, dass die Regierung und die Parlamentsmehrheit ein Interesse an der supranationalen Aufgabenwahrnehmung hatten. Bei unterstelltem politischem Willen lässt sich selbst mit einer verfassungsändernden Mehrheit eine nachträgliche Kompetenzübertragung nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 GG nur schwer umsetzen. Inwieweit eine Vertragsrevision durchführbar ist, liegt aufgrund der notwendigen Zustimmung der anderen Mitgliedstaaten weitgehend außerhalb des Einflussbereichs der deutschen Verfassungsorgane. Eine selbstbestimmte nationale Entscheidung über die Verteilung der Kompetenzen wird demnach durch das Ultra-vires-Verdikt nicht zwingend gewährleistet. Die abschließende Bewertung der Kosten-Nutzen-Relation des Ultra-viresVorbehalts muss demnach zurückhaltend ausfallen. Das Ausmaß der Förderung der verfolgten Zwecke rechtfertigt kaum die entstehenden Risiken. Eine Fortentwicklung des Vorbehalts muss daher auch darauf abzielen, die Wirkungen der Kontrolle zu effektivieren und die Verwerfungen im Staatenverbund zu minimieren.219
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts Der Ultra-vires-Vorbehalt weist demnach auch auf Ebene seiner praktischen Auswirkungen Schwächen auf. Er ist also nicht nur mit den in den ersten zwei Kapiteln dargestellten Problemen behaftet,220 sondern wirkt darüber hinaus auch nicht in der gewünschten Weise auf die politischen Akteure und den Gerichtshof ein. Trotz dieses Ergebnisses wäre es jedoch nicht überzeugend, den Ultra-viresVorbehalt gänzlich aufgeben zu wollen. Alle genannten Schwächen und Probleme ändern nichts an der Notwendigkeit und dem Auftrag zur mitgliedstaat218 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (184). Hervorhebung durch den Verfasser. 219 Zur zusammenfassenden Bewertung des eigenen Ansatzes, siehe 3. Kap., B IV, S. 284 ff. 220 Siehe zusammenfassend 2. Kap., E, S. 185 ff.
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
lichen Kompetenzkontrolle. Es ist Aufgabe des Rechtsanwenders, dieser Notwendigkeit zur Kontrolle durch Schöpfung und Gebrauch eines funktionalen Instituts Rechnung zu tragen. Daher werden konkrete Vorschläge zu einer Anpassung des Kontrollzugriffs entwickelt, die den genannten Schwierigkeiten entgegenwirken sollen.
I. Anpassungen hinsichtlich der Kontrolldogmatik Zunächst soll der Inhalt der Kontrolle konkretisiert werden. Hierzu wird ein Gegenentwurf zu dem vom Bundesverfassungsgericht genutzten Kontrollmaßstab präsentiert. 1. Grundüberlegungen zur Gewinnung der Kontrolldogmatik Das Bundesverfassungsgericht leitet seine Kontrolldogmatik vor allem aus drei Erwägungen her. Zunächst ergibt sich der Ansatzpunkt der Kontrolle in Form der Prüfung einer spezifischen Kompetenzüberschreitung aus der Notwendigkeit zur Sicherung der mitgliedstaatlichen Kompetenz-Kompetenz. Die Prüfungsbeschränkungen resultieren vorrangig aus dem Gedanken der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes sowie, zumindest im Rahmen der Verfassungsbeschwerde, der begrenzten Reichweite des Anspruchs auf demokratische Selbstbestimmung.221 Der Kontrollzweck und die Gründe der Prüfungsbeschränkung stehen in dieser Konstruktion in einem Spannungsverhältnis: Die Souveränität der Bundesrepublik und die demokratische Legitimation ihrer Hoheitsgewalt erfordern im Grundsatz eine umfassende Kontrolle, die Europarechtsfreundlichkeit eine weitestgehende Zurückhaltung. Das Bundesverfassungsgericht setzt sich indes nicht damit auseinander, wie weit die verfassungsrechtliche Notwendigkeit zur Kompetenzkontrolle konkret reicht. Zwar begründet es mit ihr die Existenz der Kontrolle – Konsequenzen für die Maßstäbe zieht es aus dieser Erwägung allerdings nicht. Dabei besteht hierfür argumentatives Potenzial: Art. 79 Abs. 3 GG verbietet nur insoweit eine Aufgabe der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle zugunsten des EuGH, wie dies zur Wahrung der Grundsätze aus Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG zwingend erforderlich ist. Dies umfasst nicht nur das „Ob“ einer verbleibenden Reservekontrolle, sondern auch das „Wie“. Auf diese Weise lässt sich ein Spannungsverhältnis, in dem beiden Polen nicht vollständig Rechnung getragen werden kann, vermeiden. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die Erkenntnis, dass jede Überantwortung mitgliedstaatlicher Kompetenzen an eine europäische Einrichtung eine abstrakte Gefährdung der deutschen Staatlichkeit darstellt. Werden europäischen Organen Kompetenzen eingeräumt, besteht die Gefahr, dass diese überschritten und auf
221
Siehe 2. Kap., B III 3 a), S. 124 ff.
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts
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diese Weise Kompetenzen auf die europäische Ebene gezogen werden, die dort nach dem Willen des Integrationsgesetzgebers nicht liegen sollen. Dies ist deshalb kritisch, da die Bundesrepublik dem EuGH das Verwerfungsmonopol für Akte europäischer Organe übertragen hat. Die Bundesrepublik hat damit zunächst den Schutz ihrer Staatlichkeit aus den eigenen Händen gegeben. Der in Art. 23 Abs. 1 GG normierte Auftrag der Verwirklichung eines vereinten Europas ist jedoch mit der Existenz einer zentralen europäischen Rechtsprechungsinstanz praktisch verbunden: Selbst eine weniger integrative Gemeinschaft, als sie die Union zum jetzigen Zeitpunkt darstellt, wäre ohne ein zentrales und übergeordnetes Gericht kaum funktionsfähig. Die Rolle, die der Gerichtshof im gesamteuropäischen Institutionengefüge einnimmt, wird durch den Inhalt der Vorschriften vorgegeben, über die er entscheidet. Die Unionsverträge enthalten grundlegende Regeln, die auf der höchsten Normstufe der Ermöglichung, Begrenzung und Steuerung politischer Herrschaft in der Union dienen.222 Sie erfüllen insofern die Funktion einer Verfassung für Europa. Die Verträge treffen daher nicht nur Sachregelungen, sondern bestimmen auch das grundsätzliche Verhältnis von Union und Mitgliedstaaten. Der EuGH als höchster Interpret der Verträge ist damit auch zentraler Wächter über die quasi-föderale Struktur der Gemeinschaft. Seine Aufgabe ist demnach nicht nur jene eines obersten Fachgerichts für das Europarecht, sondern auch die eines gesamteuropäischen Verfassungsgerichts.223 Aus Sicht des Grundgesetzes macht es einen wesentlichen Unterschied, welche Aufgabe der EuGH im konkreten Fall ausübt: Soweit der Gerichtshof nicht als oberster Hüter der quasi-föderalen Struktur tätig wird, lässt das Grundgesetz eine Rücknahme bundesverfassungsgerichtlicher Restkontrolle in den Grenzen der Verfassungsidentität zu. Die dem Bundesverfassungsgericht grundgesetzlich übertragene Aufgabe besteht nicht in der letztverbindlichen Auslegung von Unionsrecht. So wie ein Abrücken von der Heck‘schen- und der Schumann‘schen-Formel dazu führte, dass das Bundesverfassungsgericht in die Rolle einer Superrevisionsinstanz wüchse, so würde eine thematisch allumfassende, letztverbindliche Kontrolle von Unionsrecht das Gericht zum obersten Hüter der Unionsverträge machen.224 Soweit der EuGH jedoch als Hüter der quasi-föderalen Struktur der Union tätig wird, ist dies anders zu beurteilen. Entscheidet er über die Reichweite der unionalen Befugnisse gegenüber den Mitgliedstaaten, verfügt er praktisch über
222
Zu diesem materiellen Verfassungsbegriff, siehe D. Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: ders. (Hrsg.), Die Zukunft der Verfassung II, S. 11. 223 Siehe zu dieser Funktion F. Schorkopf, Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof, in: Meinel (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bonner Republik, S. 427 (439); M. Höreth, Der Europäische Gerichtshof, in: Decker/Höreth (Hrsg.), Die Verfassung Europas, S. 165; C. Walter, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 80. EGL. Juni 2017, Art. 93 GG, Rn. 80 ff. 224 Wie hier R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 110.
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
die Möglichkeit, den Integrationsprozess selbständig zu vertiefen und im Extremfall die nationale Staatlichkeit de facto aufzulösen. Die Entscheidungsfreiheit des Gerichtshofs kann hier nicht unbegrenzt sein, da andernfalls die von Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Staatlichkeit der Bundesrepublik nicht gesichert wäre.225 Der Schutz der deutschen Staatlichkeit ist Kernaufgabe des Bundesverfassungsgerichts. Nur die Auslegung bestimmter Normen durch den Gerichtshof hat Rückwirkungen auf den Stand der Integration und erfordert damit eine Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, die über die Kontrolle der Verletzung der materiellen Verfassungsidentität hinausgeht. Der Stand der Integration wird durch die Reichweite der Kompetenzen bestimmt, welche der EU übertragen worden sind. Sie sind zentraler Ausdruck dessen, wie die Bundesrepublik den Verfassungsauftrag der Verwirklichung eines vereinten Europas aus Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG und der Präambel wahrnimmt. Maßgeblich für die Frage, welche Vorschriften materieller Ansatzpunkt einer Ultra-vires-Kontrolle sein können, ist daher die noch zu unternehmende nähere Bestimmung des Kompetenzbegriffs.226 Er umfasst nach dem oben Gesagten jedenfalls nicht alle Rechtmäßigkeitsbedingungen für unionales Handeln. Aus der Erwägung der Notwendigkeit einer Sicherung des quasi-föderalen Gefüges in der Union lassen sich auch Schlüsse auf den Maßstab der Kontrolle ziehen. Auch im Bereich der Kompetenznormen gebietet das Verfassungsrecht keine vollumfängliche Kontrolle des Unionsrecht durch das Bundesverfassungsgericht. Ein vereintes Europa im Sinne des Art. 23 Abs. 1 GG lässt sich kaum umsetzen, wenn die nationalen Verfassungsgerichte dezentral über das Verhältnis der Union zu den Mitgliedstaaten entschieden. Der Grundsatz der Einheitlichkeit des Unionsrechts ist im Bereich der Kompetenzordnung von besonderer Bedeutung, da die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, sich ihrerseits der Unionsgewalt zu unterwerfen, von der ebenso großen Bereitschaft der anderen Mitgliedstaaten abhängen dürfte. Es ist daher aus der Perspektive des Grundgesetzes nicht zu beanstanden, dass die Verträge auch für diese Normen dem EuGH die Auslegungshoheit übertragen haben. Entscheidend ist jedoch, dass die Wahrung der mitgliedstaatlichen Kompetenzen im Ergebnis sichergestellt ist. Die grundsätzliche Ausgestaltung der europäischen Kompetenzordnung, also insbesondere das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, ist gleichermaßen unions- wie verfassungsrechtlicher Grundsatz.227 Bei der Auslegung der europäischen Kompetenzen muss der EuGH demnach eine Wahrung dieser Ordnung sicherstellen. Das Bundesverfassungsgericht trägt seinerseits eine Auffangverantwortung für solche institutio225 Siehe insoweit die grundsätzlichen Ausführungen zur Kompetenz-Kompetenz in BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (352). 226 Siehe dazu sogleich 3. Kap., B I 2, S. 247 ff. 227 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 185); BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (350).
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts
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nellen Ausfälle des EuGH, die im Ergebnis einen Verlust an judikativer Kontrolle bedeuteten.228 Die Anforderungen, die an den EuGH zu stellen sind, ergeben sich aus einem Gedanken der Kompensation des Verlustes nationaler verfassungsgerichtlicher Kontrolle.229 Eine Übertragung judikativer Aufgaben an den EuGH ist in diesem für die deutsche Staatlichkeit sensiblen Bereich nur insoweit statthaft, als der Verlust an nationaler judikativer Kompetenzkontrolle kompensiert wird. Da der Gerichtshof und das Bundesverfassungsgericht in der Sache zu den gleichen Normen entscheiden (auch wenn das Bundesverfassungsgericht formal am deutschen Ratifikationsgesetz anknüpft), ist eine Kompensation im Grundsatz zumindest nicht ausgeschlossen. Kompensation bedeutet dabei nicht, dass beide Gerichte in jedem Fall zu demselben Ergebnis gelangen müssten,230 sondern dass eine strukturell vergleichbare Kontrolldichte gegeben ist. Diese Notwendigkeit der strukturellen Vergleichbarkeit in der Tätigkeit der Höchstgerichte lässt sich auch an der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG festmachen: Die Ausgestaltung der Rechtsprechung ist ein wesentliches Element nationaler und europäischer Rechtsstaatlichkeit.231 Ob eine Vergleichbarkeit vorliegt, ist davon abhängig, wie der Gerichtshof seine Aufgabe praktisch ausübt. Urteile des Gerichtshofs, welche jenseits bestimmter methodischer Rahmenbedingungen ergehen und dabei die mitgliedstaatlichen Kompetenzräume beschneiden, kompensieren nicht den Verlust judikativer Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht.232 Art. 20 Abs. 1, Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG verlangen hier auch im Einzelfall eine verfassungsgerichtliche Entscheidung. Die Definition von Grenzen zulässiger Methodik innerhalb des Offensichtlichkeitskriteriums lässt sich damit als Instrument zur Gewährleistung eines Mindestmaßes an gerichtlicher Kontrolldichte verstehen, welche eine Überantwortung der Konturierung des deutschen Integrationsprogramms an den EuGH im Regelfall rechtfertigt. Die Bereitschaft zum Eingriff im Einzelfall ermöglicht demnach erst die verbindliche Befassung einer außerstaatlichen Gerichtsbarkeit im Regelfall.
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Ebenso O. Lepsius, JöR 63 (2015), 63 (74 f.). Wohl anders O. Lepsius, JöR 63 (2015), 63 (78), der die grundsätzliche Aussagekraft dieser Erwägungen für gering hält und sie vor allem einzelfallbezogen fruchtbar machen will. 230 Siehe auch die entsprechenden Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Methodenhoheit des EuGH, 2. Kap., B II 2, S. 98 f. 231 Ähnlich daher A. Thiele, EuR 2017, 367 (372), der die Ultra-vires-Kontrolle auf Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG stützt und damit die europäische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Mittelpunkt rückt. 232 T. Giegerich, ZEuS 2016, 3 (32) ist daher zuzustimmen, wenn er festhält, das Grundgesetz gebiete die effektive Überwachung der europäischen Kompetenzgrenzen durch den EuGH. Anders als dort wird hier aber davon ausgegangen, dass das Bundesverfassungsgericht dieser Effektivität nicht blind vertrauen darf, sondern sie in bestimmten Fällen sicherstellen muss. 229
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
Das Offensichtlichkeitskriterium ist jedoch bislang nicht ausreichend konkretisiert worden.233 Ziel einer Fortentwicklung der Kontrolle muss daher die Formulierung klarer und operabler Anforderungen an die Kompetenzüberschreitung sein. Zu untersuchen ist mithin, welche Konsequenzen aus dem Gedanken einer judikativen Kompensation gezogen werden können. Eine Kompensation erscheint grundsätzlich dann möglich, wenn der EuGH im Rahmen seiner judikativen Tätigkeit eine mit dem Bundesverfassungsgericht vergleichbare Funktion einnimmt. Damit wird auch der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG Rechnung getragen, welche die Verpflichtung der Union auf die Rechtsstaatlichkeit zur Bedingung für die deutsche Integration macht: Wenn der EuGH eine ähnliche Funktion wie das Bundesverfassungsgericht einnimmt, dann sind in dieser Hinsicht auch die Voraussetzungen an eine rechtsstaatliche Union erfüllt.234 Die Aufgabe des EuGH darf demnach nicht auf den Schutz der EU vor nationalen Unionsrechtsbrüchen sowie auf die Verwirklichung des Ziels einer immer engeren Union begrenzt sein. Vielmehr ist der Schutz mitgliedstaatlicher Kompetenzspielräume nur dann in ausreichender Weise sichergestellt, wenn mitgliedstaatliche und unionale Interessen gleichermaßen berücksichtigt werden. Mit Blick auf den EuGH werden hier Zweifel vorgebracht: Dieser agiere als Integrationsschutzgericht und eher als Motor der Integration denn als neutraler Vermittler.235 An dieser Stelle kann und soll keine Untersuchung des Selbstverständnisses des Gerichtshofs und der Ausgewogenheit seiner Urteile stattfinden.236 Aufgrund des Charakters der Ultra-vires-Kontrolle als Einzelfallkontrolle ist dies auch nicht notwendig. Vielmehr geht hier es um die Formulierung
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Siehe 2. Kap., B III 1, S. 106 ff. Der Umkehrschluss ist jedoch ohne Weiteres zulässig: Auch wenn der EuGH als Integrationsschutzgericht auftritt, liegt dadurch nicht reflexartig ein Rechtsstaatsdefizit der Union vor. 235 Nach D. Grimm, AnwBl Online 2021, 150 (150 f.) ist das PSPP-Urteil als eine Folge der Besorgnis des Bundesverfassungsgerichts zu erklären, dass der EuGH seine Rolle nicht als die eines neutralen Schiedsrichters zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten versteht. Bemerkenswert auch die Aussage von A. Voßkuhle, bei dem EuGH handele es sich um ein „Gericht mit Agenda“, welches die europäische Integration vorantreibe und kein neutrales Schiedsgericht sei, siehe A. Kaufmann, „Befangener kann man nicht sein“ – Ex-BVerfG-Präsident Voßkuhle zum Streit um EZB-Urteil, in: LTO v. 22.06.2021, abrufbar unter: https://www.lto. de/recht/justiz/j/ex-bverfg-praesident-andreas-vokuhle-zu-europischer-rechtsgemeinschaft-r echtsstaatlichkeit-ezb-entscheidung-eugh-polen-ungarn/ (zuletzt geprüft am 14.03.2022). M. Polzin, AöR 246 (2021), 1 (20) spricht von „Indizien für eine Institutionelle Voreingenommenheit“ beim EuGH und listet aus ihrer Sicht kritische aktuelle Urteile auf (10), m.w.N. 236 Im Ergebnis noch positiv, J. Schwarze, EuR 2013, 253; J. Schwarze, DVBl 2014, 537. Kritisch aber W. Kahl, NVwZ 2020, 824 (826 f.); P. Kirchhof, NJW 2022, 1049 (Rn. 4). M. Ruffert, JuS 2023, 277 (280) attestiert der ganzen Union aufgrund des Fehlens einer Instanz, die die tragenden Normen der Verträge verbindlich und hinreichend vorhersehbar festlegt, eine mangelnde konstitutionelle Reife. M. Jestaedt, Luxemburger Richterrecht, in: Hillgruber (Hrsg.), Gouvernement des juges, S. 21, 22 bezeichnet den EuGH als „aktivistisch“. 234
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts
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von Merkmalen, welche Urteile aufweisen müssen, damit der EuGH eine bestimmte institutionelle Rolle erfüllt.237 Zwar stammen diese Erwägungen aus einer Notwendigkeit des nationalen Rechts – nichtsdestoweniger könnte vor allem auch die Europäische Union von einer derartigen Rolle des EuGH profitieren. Mit zunehmendem Fortschreiten der Integration und damit einer Stärkung der zentralen Ebene gegenüber den föderalen Einheiten entwickelte sich diese von einem Staatenbund zu einem immer engeren Zusammenschluss, welchen das Bundesverfassungsgericht heute als Staatenverbund bezeichnet.238 Die Veränderung im Charakter der Union muss sich aus Gründen der Funktionalität auch in der Rolle ihrer Organe widerspiegeln. So wurde schon dem Europäischen Parlament in den Verträgen schrittweise eine größere Relevanz eingeräumt, was zu seinem zunehmend selbstbewussteren Auftreten geführt hat.239 Auch die Situation der Judikative hat sich über die Jahrzehnte hinweg gewandelt und hat mit jener der Gründungsphase des Gerichtshofs nur noch wenig gemein.240 Die Befugnisse des EuGH wuchsen mit Menge und Dichte des Unionsrechts,241 gerade auch im Bereich der Grundrechte.242 So werden heute auch sensible wie politisch umstrittene Sachverhalte vom Unionsrecht gestaltet oder zumindest mitgeprägt. Zudem führten auch eigene Entscheidungen wie beispielsweise das veränderte Verständnis von Grundfreiheiten als allgemeine Beschränkungsverbote zu einer gestiegenen Bedeutung des Gerichtshofs. Zusammen mit seiner Relevanz, wuchs auch seine Akzeptanz durch die mitgliedstaatlichen Gerichte, wie sich an der breiten Bereitschaft zur Befolgung seiner Urteile sowie der gestiegenen Vorlagebereitschaft nationaler Gerichte, selbst des Bundesverfassungsgerichts, erkennen lässt.243 Auch die, bis auf den Austritt des Vereinigten Königreichs, stetig steigende Größe der Union wirkt sich unmittelbar auf den EuGH aus. Sie führt zu einer höheren Anzahl von Richtern, wodurch weitere rechtskulturelle Prägungen im Gerichtshof vertreten
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Ähnlich A. Edenharter, Der Staat 57 (2018), 227, die eine Übertragbarkeit der Grundsätze zur Verringerung der richterlichen Prüfungsdichte des EGMR und des Schweizer Bundesgerichts auf den EuGH untersucht. 238 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (181). Grundlegend P. Kirchhof, Der europäische Staatenverbund, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 1009. Kritisch T. Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, S. 748 ff. 239 Siehe beispielsweise die Durchsetzung eines Spitzenkandidatensystems bei der Wahl zum Kommissionspräsidenten, hierzu T. Holzner, EuR 2015, 525. 240 Hierauf verweist auch C. Calliess, NJW 2005, 929 (933). 241 U. Hufeld, JM 2020, 331 (338). 242 Vgl. A. Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (3). 243 Siehe die statistische Analyse zur Nutzung des Vorabentscheidungsverfahrens bei H. Rösler, EuR 2012, 392. Im Jahr 2021 wurde der EuGH mit 567 Vorabentscheidungsersuchen befasst, siehe EuGH Jahresbericht 2021, S. 56, abrufbar unter https://curia.europa.eu/panor ama/2021/de/index.html (zuletzt geprüft am 20.04.2023).
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
werden. Ebenso steigt die Zahl der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, welche für das europäische Recht als Referenzgröße dienen. Mit einer steigenden Vielfalt nationaler Rechtsordnungen nimmt naturgemäß die Bedeutung jeder einzelnen ein Stück weit ab und die Bedeutung originär europäischer Rechtsanwendungskriterien wächst. Hiervon ist auch die deutsche Rechtsordnung betroffen. Die Formulierung materieller Kontrollmaßstäbe gegenüber Entscheidungen des Gerichtshofs aus der Praxis des deutschen Rechts heraus muss unter Berücksichtigung dieses Umstands besonders zurückhaltend erfolgen. Parallel zur größeren Beeinflussbarkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen durch Entscheidungen des EuGH sank auch die Abhängigkeit der Union gegenüber Entscheidungen einzelner Mitgliedstaaten. Auch aufgrund der Etablierung des Mehrheitsprinzips im Rat nach Art. 294 AEUV und der inzwischen erreichten Größe der Union stellt eine mitgliedstaatliche Verweigerungshaltung heute kaum noch eine realistische Gefahr für den Fortschritt oder gar den Bestand des Integrationsprojekts dar.244 Die Stabilität der Union zeigt sich auch angesichts ihrer jüngsten Prüfungen. Weder der Austritt Großbritanniens aus der EU noch der andauernde Streit mit Polen und Ungarn über deren politisches System führten zu ernsten Auflösungserscheinungen.245 Trotz aller Besorgnis hinsichtlich der Möglichkeit weiterer Austritte besteht doch keine akute Gefahr des Zerfalls in Richtung einer Rumpf-Union aus wenigen Mitgliedern. Vielmehr verfügt sie weiter über eine erhebliche Anziehungskraft, wie insbesondere die Vielzahl von potenziellen und tatsächlichen Beitrittskandidaten zeigt.246 Auch im Zusammenhang mit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 haben mehrere Länder ihre Bereitschaft zum Beitritt zu der Union signalisiert.247 Die Union ist weiterhin größer und international relevanter als die längste Zeit ihres Bestehens.248
244 So dürfte von einer „Politik des leeren Stuhls“, wie von Frankreich 1965 und 1966 praktiziert, heute keine grundlegende Gefahr mehr ausgehen, führte sie doch nicht mehr zu einer Beschlussunfähigkeit des Rates. 245 Angesichts der Besorgnis der genannten Staaten vor einer zu starken Zentralisierung der Union hätte eine stärker integrativ geprägte Rechtsprechung zudem wohl kaum zur Vermeidung der Krisen beigetragen. 246 Zum aktuellen Zeitpunkt sind Albanien, Nordmazedonien, Montenegro, Serbien und die Türkei Beitrittskandidaten. Bosnien und Herzegowina sowie der Kosovo sind potenzielle Beitrittskandidaten, siehe https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/enlargement-p olicy/negotiations-status en (zuletzt geprüft am 20.04.2023). 247 F. Schmidt/M. Martens/T. Gutschker, Georgien und Moldawien wollen auch, FAZ v. 04.03.2022, S. 2. 248 So hat die Union auch ohne das Vereinigte Königreich im Jahr 2021 noch einen voraussichtlichen Anteil von 14,84 % am weltweiten, kaufraftbereinigten BIP, siehe B. Urmersbach, statista, Europäische Union: Anteil am kaufkraftbereinigten globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 1980 bis 2021 und Prognosen bis 2027. Damit gehört die Union mit China und den USA zu den drei großen globalen Wirtschaftsräumen.
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts
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In der heutigen Lage wäre ein EuGH, welcher sich als „Agent der Zentralisierung“ verstünde, nicht mehr angemessen.249 Zwischen Union und Mitgliedstaaten herrscht keine ungleiche Machtverteilung mehr, die einen besonderen gerichtlichen Schutzauftrag zugunsten der Union verlangte. Entsprechend müssen Urteile wie die Van-Gend-&-Loos-Entscheidung im Kontext ihrer Zeit anders bewertet werden als vergleichbar integrationsvertiefende Urteile heute. Die Ähnlichkeiten der Union mit einem föderalen Staat verlangen nach einer neutralen obersten Rechtsprechungsinstanz, welche als europäisches Verfassungsgericht auftritt.250 Bedenklich ist daher, dass sich der Gerichtshof zwar dem Gedanken der Effektivität des Unionsrechts verpflichtet fühlt und diesen auch häufig als Auslegungsgrundsatz nutzt251 – er sich aber vergleichbarer Grundsätze zum Schutz mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen nicht bedient. Insbesondere das Subsidiaritätsprinzip spielt keine wesentliche Rolle in der europäischen Rechtsprechung.252 Von einem Wirken des EuGH als neutralem europäischem Verfassungsgericht profitiert vor allem aber die Union selbst. Es führt unmittelbar zu einer Verbesserung des Verhältnisses innerhalb des Rechtsprechungsverbundes und zu einer gestiegenen formalen wie sozialen Akzeptanz der Entscheidungen des EuGH.253 Ein steigendes Maß an judikativer Kontrolldichte kommt unmittelbar der Herrschaft des Rechts254 zugute und damit auch der Rechtsgemeinschaft nach Art. 2 EUV. Vertrauen in die Rechtsgemeinschaft ist eine wesentliche Voraussetzung für die Vornahme weiterer Integrationsschritte. Ein Mitgliedstaat, der eine expansive Auslegung von Unionskompetenzen befürchtet, könnte vor der Einräumung zusätzlicher Hoheitsrechte zurückschrecken.255 Umgekehrt kann die Rück249 So die Bezeichnung bei R. Vaubel, Der Gerichtshof als Agent der Zentralisierung, FAZ v. 14.01.2013, S. 18. 250 So schon H. von der Groeben, Aufbaujahre der Europäischen Gemeinschaft, S. 265. Ebenso J. Schwarze, DVBl 2014, 537 (539); J. Schwarze, EuR 2013, 253 (254); A. Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (3). Diese Sichtweise basiert auf der Vorstellung, die Verträge seien aus funktionaler Sicht eine Unionsverfassung, siehe beispielsweise M. Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 1045; H.-P. Ipsen, EuR 1987, 195. 251 K. Riesenhuber, Die Auslegung, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 10, Rn. 45. 252 D. Grimm, ZSE 2017, 3 (10 f.); S. Albin, NVwZ 2006, 629 (634). 253 So merkt J. Schwarze, DVBl 2014, 537 (538) zurecht an, die Rolle des EuGH als neutrales europäisches Verfassungsgericht mahne zur besonderen Achtung seiner Rechtsprechung. Dies ist konsequent, hält er doch die Rechtsprechungspraxis des EuGH für vergleichbar mit jener nationaler Verfassungsgerichte, siehe S. 542. 254 Zur Schlüsselfunktion der Herrschaft des Rechts F. C. Mayer, NJW 2017, 3631 (3634). 255 Ähnlich A. Edenharter, Der Staat 57 (2018), 227 (247); C. Calliess, NJW 2005, 929 (933). Angesichts der dezidiert euroskeptischen Haltung in einigen Mitgliedstaaten wirkt dies besonders schwer. Neue Kompetenzen werden typischerweise nur durch die Gesamtheit der Mitglieder mit Wirkung für alle eingeräumt. Insofern kann mangelndes Vertrauen nur eines Mitglieds in die ordnungsgemäße Auslegung von neuen Kompetenznormen ganze Integrationsschritte verhindern.
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
sichtnahme auf nationale Interessen das Vertrauen in die Vorzüge einer europäischen Entscheidungsfindung stärken. Auch im Einzelfall vermag ein mitgliedstaatlicher Kontrollvorbehalt positiv auf die Unionsebene einzuwirken.256 Der Versuch einer Beeinflussung des EuGH durch das Bundesverfassungsgericht fordert zwar die institutionelle Rolle des Gerichtshofs heraus – in der Sache können diese Anregungen jedoch auch unionsrechtlich sinnvoll sein.257 So können beispielsweise die im PSPP-Urteil statuierten erhöhten Anforderungen an die Begründung von Anleihekaufprogramme als erfreuliche Erhöhung von Transparenz gewertet werden.258 Die Maßstäbe des Ultra-vires-Vorbehalts sollten demnach darauf ausgerichtet sein, die Rolle des EuGH als neutrales europäisches Verfassungsgericht zu stärken. Dies dient dem Zweck, eine weitestgehende Übertragung der Rechtsprechungsaufgaben auf den EuGH zu ermöglichen, mittelbar aber auch dem Projekt der europäischen Einigung selbst. Dieser Aspekt beraubt den Ultra-vires-Vorbehalt nicht seiner kritischen Wirkungen auf die Europäische Union – jedoch kann und muss er auch als Chance für die Rechtsgemeinschaft verstanden werden. Die Erwägungen dieses Abschnitts lassen sich, ohne dass es Gegenstand dieser Arbeit wäre, auch auf die Grundrechts- und die Identitätskontrolle übertragen. Hier sind Grundfragen der Verfassung in Gestalt des unantastbaren Mindestbestands an Grundrechtsschutz beziehungsweise der sonstigen über die Verfassungsidentität gesicherten Elemente des Grundgesetzes maßgeblich für die Eröffnung des bundesverfassungsgerichtlichen Aufgabenbereichs. Auch hier kann dem EuGH nur insoweit die Rechtsprechungshoheit eingeräumt werden, als dies den Wegfall an nationaler judikativer Kontrolle kompensieren kann. Die wesentlichen in diesem Abschnitt formulierten Anforderungen an die Ultra-vires-Kontrolle lassen sich daher wie folgt zusammenfassen: Die Kontrolle muss die Rolle des EuGH als neutrales europäisches Verfassungsgericht festigen, eine größere dogmatische Klarheit als bisher aufweisen und darf dabei nicht über das nach Art. 79 Abs. 3 GG geforderte Maß an Kontrolle des EuGH hinausgehen. Nachfolgend werden daher konkrete Vorschläge vorgebracht, wie diese Kriterien erfüllt werden könnten.
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Darauf weist mit Blick auf den EuGH auch U. Hufeld, JM 2020, 331 (338) hin. So stellt A. Voßkuhle, EuGRZ 2020, 165 (170) zurecht fest, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur europäischen Einigung habe diese im Ergebnis produktiv angeleitet; siehe auch mit Blick auf das PSPP-Urteil: M. Krismann, Die Entwicklung der Ultravires-Kontrolle, in: Müller/Dittrich (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 6, S. 429, 457. 258 Ebenso U. Hufeld, JM 2020, 331 (337). Zur Transparenz als Prinzip des Unionsverfassungsrechts siehe J. Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, S. 319 ff. Siehe auch F. Riemann, Die Transparenz der Europäischen Union. 257
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2. Schärfung der Ultra-vires-Kontrolle als Instrument einer Kompetenzkontrolle Wie gezeigt, sieht das Bundesverfassungsgericht die Ultra-vires-Kontrolle zwar als Instrument der Kompetenzkontrolle, ohne jedoch das Vorliegen einer Kompetenznorm separat als Tatbestandsmerkmal zu prüfen.259 Lediglich im Rahmen der strukturellen Relevanz einer Maßnahme setzt sich das Gericht mit ihrer „praktisch kompetenzbegründenden Wirkung“ auseinander.260 Überzeugend ist dieses Vorgehen nicht. Bei der Kompetenzüberschreitung handelt es sich, wie nachfolgend verdeutlicht wird, nicht um eine nachträgliche Begrenzung des Prüfungsumfangs aus Gründen der Europarechtsfreundlichkeit, sondern um den grundlegenden Ansatzpunkt der Kontrolle. Dementsprechend kann ein fehlender Kompetenzbezug einer Rechtsüberschreitung auch nicht durch andere Faktoren substituiert werden.261 Die Bedeutung des Kriteriums ergibt sich zum einen aus dem Kontrollzweck: Wie bereits gezeigt, wird die deutsche Staatlichkeit nicht herausgefordert, wenn nationale Kompetenzbereiche durch das Unionshandeln nicht eingeengt werden.262 Zweitens ist es auch nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, über die Unionsrechtskonformität von Unionsakten letztverbindlich zu entscheiden.263 Aus der fragwürdigen Verankerung des Kompetenzbezugs innerhalb des Prüfungsprogramms des Bundesverfassungsgerichts folgen praktische Probleme. Zum einen entsteht eine Redundanz,264 wenn das Bundesverfassungsgericht innerhalb der strukturellen Relevanz prüft, ob eine Kompetenzüberschreitung einer hypothetischen Vertragsänderung bedürfte.265 Zum anderen leidet hierunter auch die argumentative Klarheit: Das Gericht setzt sich nicht damit auseinander, welche Vorschriften grundsätzlich als Ansatzpunkt der Ultra-vires-Kontrolle geeignet sind. Es fehlt auch gänzlich an einer Definition dessen, was unter Kompetenz zu verstehen ist.266 Führt man sich die Bedeutung des Kompetenzkriteriums für die Kontrolle vor Augen, ist eine Definition jedoch unabdingbar. Im Folgenden soll der Kompetenzbegriff daher präzisiert werden.
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Siehe 2, Kap., B I, S. 77. Beispielsweise BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (312). 261 So aber zumindest noch BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 151), siehe 2. Kap., B III 2, S. 119 f. 262 Siehe zum Verständnis des Bundesverfassungsgerichts 2. Kap., B I 4 a), S. 87 ff. 263 Vgl. 3. Kap., B I 1, S. 240. 264 Von einer „zirkulären Voraussetzung“ spricht A. Kees, Grundlagen und Grenzen der europäischen Integration, in: Scheffczyk/Wolter (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 4, S. 439, 454. 265 BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 151). Siehe zur Interpretation dieser Äußerung 2. Kap., B III 2, S. 121 f. 266 Siehe hierzu die Ausführungen unter 2. Kap., B I, S. 77 ff., insb. 87 ff., insbesondere hinsichtlich der Problematik von Rechtsmäßigkeitsbedingungen als Kompetenzschranken. 260
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
Die grundlegende, funktionale Unterscheidung von Kompetenznormen zu sonstigen Rechtmäßigkeitsbedingungen, den Kompetenzwahrnehmungsbedingungen,267 ist zunächst eingängig: Bei Kompetenzen handelt es sich um Ermächtigungsnormen, während Wahrnehmungsbedingungen Ge- oder Verbote darstellen. Kompetenzen dienen damit der Zuständigkeitsbegründung, während die Wahrnehmungsbedingungen diese begrenzen.268 Kompetenzwahrnehmungsschranken setzten demnach das Bestehen einer Kompetenz voraus. Jedoch sind auch Kompetenzen ihrer Natur nach inhärent begrenzt: So erstreckt sich die Kompetenz der EU zur Rechtsangleichung im Binnenmarkt nach Art. 114 AEUV naturgemäß nur auf den Binnenmarkt. Ebenso erstreckt sich im nationalen Bereich die Kompetenz einer Polizeibehörde zur Vornahme von Handlungen zur Gefahrenabwehr auf einen bestimmten sachlichen Bereich – eben den der Gefahrenabwehr. Kompetenzen sind nie uferlos, denn sie dienen ihrer Natur nach der Begründung wie Gliederung (und damit Begrenzung) von Herrschaftsgewalt.269 Insofern stellt sich die Frage, ob überhaupt ein sachlicher Unterschied besteht zwischen norminternen und normexternen Begrenzungen. Insbesondere wenn Verstöße gegen beide Begrenzungen die identische Rechtsfolge haben, ist hieran zu zweifeln.270 Jede Norm, die die Hoheitsgewalt begrenzt, lässt sich funktional als Kompetenzschranke verstehen.271 So werden auch Grundrechte als wichtigstes Mittel zur Begrenzung staatlicher Gewalt häufig als negative Kompetenzen bezeichnet.272 Die Zuordnung zu einer Kategorie, Kompetenznorm oder Kompetenzwahrnehmungsnorm, könnte zwar ausschließlich an formalen Aspekten wie dem Standort der Regelung im Gesetzestext festgemacht werden. Dies führte jedoch zu einer gewissen Beliebigkeit und teils zu wenig überzeugenden Ergebnissen, hat sich der Gesetzgeber bei der Formulierung des Gesetzestexts doch wahrschein-
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Diese werden teils auch als „Kompetenzausübungsregeln“ bezeichnet. Mit Blick auf die Unionsrechtsordnung M. Nettesheim, Kompetenzen, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 389, 391 f. Siehe auch C. Schaefer, Die nationale Kompetenz zur Ausfuhrkontrolle nach Art. 133 EG, S. 33 ff. 269 M. Nettesheim, Kompetenzen, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 389, 391. 270 Siehe auch F. C. Mayer, ZaöRV 2001, 577 (584), nach dem „sämtliche der öffentlichen Gewalt gesetzten Grenzen eben auch kompetenzbeschränkend wirken.“ Ders. erkennt Kompetenzausübungsregeln daher wohl nur im Bereich von Rechtsprinzipien an, welche die Kompetenzausübung steuern sollen, ohne im Regelfall konkrete Ergebnisse vorzugeben, siehe S. 585. 271 Anders jedoch die Begriffsbildung bei C. Schaefer, Die nationale Kompetenz zur Ausfuhrkontrolle nach Art. 133 EG, S. 35, der nur dann von einer negativen Kompetenz spricht, wenn die Beschränkung die Unionsebene und die nationale Ebene gleichermaßen erfasst. 272 Siehe z.B. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 223 m.w.N. Kritisch M. Nettesheim, Kompetenzen, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 389, 391, Fn. 9. 268
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts
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lich nicht mit dem möglichen dogmatischen Gehalt dieser Frage auseinandergesetzt. Als Beispiel lässt sich Art. 114 AEUV anführen: Die Binnenmarktkompetenz in Abs. 1 ist mit diversen Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren verbunden. Diese wären bei einer formalen Betrachtungsweise Teil der Kompetenz. Verfahrensvorschriften dienen allerdings vor allem der unionsinternen Organisation273 und hätten damit ebenso an anderer Stelle eingefügt werden können. Von einem legislativen Zufall darf der Anwendungsbereich eines nationalen Kontrollinstituts aber nicht abhängen. Daher ist eine materielle Bestimmung des Kompetenzbegriffs zu leisten. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass zum Zweck der Ultra-vires-Kontrolle keine rechtstheoretische Unterscheidung der beiden Kategorien vorgenommen werden muss. Hier geht es allein um die Bildung einer dogmatisch sinnvollen Kategorie zur Bestimmung des Anwendungsbereichs der Kontrolle. Eine Übertragbarkeit auf andere Rechtsbereiche muss demnach nicht gewährleistet werden. Die Ultra-vires-Kontrolle dient der Wahrung des Integrationsprogramms und damit der Achtung der Integrationsgrenzen, wie sie demokratisch innerhalb der Bundesrepublik beschlossen wurden. Sie soll damit sicherstellen, dass die Union nicht in neue Regelungsbereiche vordringt und damit mittelbar die Gestaltungsfähigkeit der Bundesrepublik unzulässig beschränkt. Sie dient dem Schutz vor einer sich selbst vertiefenden Integration,274 nicht aber dem Schutz vor einfach rechtswidrigem Handeln durch die Union. Ein einfach rechtswidriger, aber nicht kompetenzwidriger Akt ist vom Integrationsprogramm grundsätzlich gedeckt, da der Integrationsgesetzgeber der Union die Möglichkeit zu auch rechtswidrigem Handeln grundsätzlich eingeräumt hat. Für Kompetenzüberschreitungen kann der Gesetzgeber (mit Wirkung in der Bundesrepublik)275 keine Kompetenz einräumen,276 da dies die KompetenzKompetenz verlagerte. Zwischen der Kompetenz und anderen Rechtmäßigkeitsbedingungen besteht damit ein kategorialer Unterschied. Die Tatbestandsmerkmal des Kompetenzbezugs im Rahmen der Kontrolle ist daher keine nachträgliche Verengung des Prüfungszugriffs, sondern ihr grundlegender materieller Anknüpfungspunkt. Die so entstandene Abgrenzungsproblematik lässt sich, so die zentrale These dieses Abschnitts, mit der Nutzung einer kompetenziellen Schutznormtheorie lösen. In ihrer üblichen Verwendung dient die Schutznormtheorie der Definition jener Voraussetzungen, unter denen ein Rechtssatz ein subjektives öffentliches Recht gewährt und dient damit vor allem der Überprüfung der Antragsbefugnis 273
Diese daher überzeugend aus dem Anwendungsbereich der Ultra-vires-Kontrolle ausnehmend P. M. Bender, ZEuS 2020, 409 (423.). 274 Vgl. BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 (Lissabon), BVerfGE 123, 267 (351 f.) 275 Siehe 2. Kap., D II 1 b), S. 178 ff. 276 Ebenso C. Hillgruber, Spielräume und Grenzen des EuGH, in: Behrens/Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse des Europarechts, S. 1, 21.
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
im verwaltungsgerichtlichen Verfahren.277 Nach der heute genutzten Prüfungsformel liegt ein subjektives öffentliches Recht vor, wenn ein Rechtssatz nicht nur im öffentlichen Interesse erlassen wurde, sondern – zumindest auch – dem Schutz der Interessen einzelner Bürger zu dienen bestimmt ist.278 Maßgeblich ist demnach das durch Auslegung zu ermittelnde, gesetzlich vorgesehene Schutzinteresse. Dabei kommt es nicht nur auf die Intention des Gesetzgebers an – vielmehr sind alle Auslegungsmethoden zu nutzen und dabei auch die Einwirkungen höherer Gesetzesebenen zu beachten.279 Der Grundgedanke der Schutznormtheorie, die Notwendigkeit der Untersuchung, ob ein Rechtssatz den Interessen einer Person dient, lässt sich auf die Ultra-vires-Konstellation übertragen. Eine dementsprechend angepasste Formel lautet: Dient ein Rechtssatz des europäischen Primärrechts zumindest auch dem Schutz mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielräume, so handelt es sich dabei um eine Kompetenznorm. Andernfalls handelt es sich allenfalls um eine Kompetenzwahrnehmungsregel, die sich nicht als Ansatzpunkt einer Ultra-vires-Kontrolle eignet. Diese Formel lässt sich auf positive und negative Kompetenznormen (Kompetenzschranken) anwenden. Positive Ermächtigungsnormen müssen vor dem Hintergrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung betrachtet werden. Für finale Kompetenzen lässt sich die Notwendigkeit der korrekten Zielbestimmung als Umsetzung der in Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 EUV vorgesehenen Ermächtigungsgrenzen verstehen – und damit als Schutz der nationalen Kompetenzräume. So lässt sich beispielsweise bei Art. 114 Abs. 1 AEUV der Binnenmarktbezug einer Maßnahme unproblematisch als kompetenziell relevant feststellen. Negative Kompetenznormen müssen auf ihre Ratio untersucht werden. Beispielsweise dienen die Grundrechte der Charta allem voran dem Individualschutz.280 Verstößt eine Unionsmaßnahme gegen das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten aus Art. 8 GR-Charta, so leiden hierunter Einzelne, nicht aber die Mitgliedstaaten im Hinblick auf ihre Kompetenzinteressen. Anders ist die Vorschrift des Art. 51 Abs. 1 GR-Charta zu beurteilen: Sie dient nicht allein dem Individualinteresse der Grundrechtsträger an der Anwendung der Grundrechte, sondern existiert auch zum Schutz mitgliedstaatlicher (Grund-)rechtsviel-
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Die Schutznormtheorie geht zurück auf O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung. Hierbei handelt es sich um ständige Rechtsprechung, siehe z.B. BVerwG, Urt. v. 28.04.1967 – IV C 10/65 (Garagenbau auf dem Nachbargrundstück), BVerwGE 27, 29. 278 R. Wahl, in: Schoch/Schneider, VwGO, Grundwerk, Vorb. § 42 Abs. 2 VwGO, Rn. 95. Etwas enger die Formel bei J. Hüttenbrink, Klagearten, in: Kuhla/Hüttenbrink (Hrsg.), Der Verwaltungsprozess, S. 74, Rn. 62. 279 E. Schmidt-Aßmann, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 92. EGL. August 2020, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 128. 280 Ähnlich P. M. Bender, ZEuS 2020, 409 (423).
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts
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falt. Die Vorschrift dient auch der Eingrenzung des Anwendungsbereichs der Charta, indem sie an die „Durchführung des Rechts der Union“ anknüpft. Sie soll damit eine Rechtsvereinheitlichung außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts verhindern. Insbesondere Abs. 2 der Vorschrift zeigt die Sorge der Mitgliedstaaten vor einem Verlust von Gestaltungsräumen.281 Angesichts der sich widersprechenden Vorstellungen über die Bindung der nationalen Hoheitsgewalten an die Unionsgrundrechte zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH282 wäre die Ultra-vires-Kontrolle nach hier vertretener Ansicht einschlägig.283 Auch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität dienen der Gewährleistung mitgliedstaatlicher Gestaltungsfreiräume und sollen zentralistischen Tendenzen in der Union vorbeugen. Entgegen ihrer unionsrechtlichen Kategorisierung als Kompetenzausübungsregeln, siehe Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EUV, sind sie damit im Sinne der Ultra-vires-Kontrolle Teil der Kompetenzvorschriften.284 Freilich handelt es sich bei den genannten Fällen um besonders eindeutige Beispiele für die Anwendung einer kompetenziellen Schutznormtheorie. Ähnlich wie auch im Verwaltungsprozessrecht285 kann die Ermittlung der Schutzfunktion einer Norm im Einzelfall erhebliche Schwierigkeiten bereiten. So lassen sich Rechtssätze zum Gesetzgebungsverfahren, beispielsweise in Art. 114 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Art. 294 AEUV, zwar vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Gewährleistung demokratischer Standards erklären – insbesondere die Beteili-
281 Allerdings muss der Regelungsgehalt der Absätze klar unterschieden werden. Abs. 1 adressiert den tatsächlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts im Einzelfall, Abs. 2 die Zuständigkeiten. Da die Union allerdings nicht von allen Zuständigkeiten umfassend Gebrauch macht, gibt es Sachverhalte, die sich innerhalb der Zuständigkeit der Union bewegen, aber dennoch nicht von Normen des Unionsrechts erfasst werden. Daher betont EuGH, Urt. v. 10.07.2014 – C-198/13 (Herna´ndez), ECLI:EU:C:2014:2055 (Rn. 36) auch, dass die Zuständigkeit der Union für eine Materie nicht zu der Annahme einer Anwendbarkeit von Unionsrecht führt. 282 Die unterschiedlichen Vorstellungen kristallisieren sich am deutlichsten in den Ent˚ kerberg Fransson), ECLI:EU:C: scheidungen EuGH, Urt. v. 25.02.2013 – C-617/10 (A 2013:105, bzw. BVerfG, Urt. v. 24.04.2013 – 1 BvR 1215/07 (Antiterrordatei), BVerfGE 133, 277. Mittlerweile hat der EuGH seinen Prüfungsanspruch stärker konturiert und den Streit damit etwas entschärft, siehe EuGH, Urt. v. 10.07.2014 – C-198/13 (Herna´ndez), ECLI:EU:C: 2014:2055 (Rn. 34 ff.). Siehe grundsätzlich M. F. Starke, EU-Grundrechte und Vertragsrecht, S. 90 ff.; J. P. Terhechte, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 51 GR-Charta, Rn. 9 ff. 283 Ebenso das Bundesverfassungsgericht, siehe BVerfG, Urt. v. 24.04.2013 – 1 BvR 1215/07 (Antiterrordatei), BVerfGE 133, 277 (Rn. 91). 284 Siehe 2. Kap., B I 2 u. 3, S. 79 ff. 285 Siehe insoweit aber E. Schmidt-Aßmann, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 92. EGL. August 2020, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 130, der zurecht darauf hinweist, dass die Ermittlung der Schutzrichtung einer Norm bedeutend mehr Rechtssicherheit bringt als das Abstellen auf Interessen in jedem Einzelfall.
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
gung des Rats jedoch erfüllt durchaus die Funktion des Schutzes mitgliedstaatlicher Interessen. Trotz der Qualifikation des Rates als Unionsorgan nach Art. 13 Abs. 1 EUV dient dieser der Mitwirkung der Mitgliedstaaten an der Rechtssetzung innerhalb der Union. Dennoch dürfte ein Kompetenzbezug hier abzulehnen sein, da es sich bei dem Interesse der Mitgliedstaaten an einer Beteiligung an der Rechtserzeugung in der Union nicht um eine Frage mitgliedstaatlicher Gestaltungsräume handelt. Es kommt aus der Perspektive dieser Arbeit auch nicht auf die Beurteilung einzelner Normen des Unionsrechts auf ihre Kompetenzeigenschaft an. Wichtig ist vielmehr das Herausbilden einer operablen Definition, auf deren Basis eine argumentative Auseinandersetzung stattfinden kann. Die Offenheit des Kriteriums ist auch mit Blick auf das Verhältnis der beiden Höchstgerichte hinnehmbar: Das Bundesverfassungsgericht kann die Voraussetzungen der Ultra-vires-Kontrolle mit dem Anspruch auf Autorität definieren. Angesichts der ohnehin bestehenden Europarechtswidrigkeit des Vorbehalts droht diesbezüglich keine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Gerichtshof. In formeller Hinsicht ist die hier vorgeschlagene Schutznorm-Formel auf Normen des europäischen Primärrechts beschränkt. In der Sache kann auch das nachgelagerte Unionsrecht Rechtssätze zum Schutz mitgliedstaatlicher Gestaltungsräume beinhalten.286 Diese Rechtssätze sind jedoch nicht Ausfluss mitgliedstaatlicher Grenzziehungen im Rahmen der Zustimmungsgesetze. Die Union erlegt sich im Rahmen ihrer Gesetzgebung selbst Schranken auf, deren mögliches Übertreten aus Sicht des Integrationsgesetzgebers keine Rolle spielt. Die Union vertieft in diesem Fall nicht eigenständig die Integration, sondern nimmt die Integrationsdichte nur in unionsrechtswidriger Weise nicht freiwillig zurück. Anders liegt der Fall dann, wenn mit der Übertretung sekundärrechtlicher Vorschriften gleichzeitig eine Verletzung des Primärrechts einhergeht. Eine Besonderheit ist bei der Ultra-vires-Kontrolle von Rechtsverletzungen durch den EuGH zu beachten. Hier droht eine Aushöhlung des Kompetenzkriteriums: Jede (qualifiziert) rechtsfehlerhafte Entscheidung stellt eine Überschreitung der Rechtsprechungskompetenz des EuGH aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV dar. Es käme daher nicht darauf an, ob der Rechtsfehler bei der Anwendung einer Kompetenzvorschrift oder einer beliebigen anderen Rechtsnorm entstand. Um zu verhindern, dass die Ultra-vires-Kontrolle ihren Charakter als spezifische Kompetenzkontrolle verliert, ist daher eine doppelte Kompetenzverletzung zu fordern: Die Überschreitung der Rechtsprechungskompetenz muss ihrerseits in der fehlerhaften Auslegung einer Kompetenzvorschrift gründen.
286
Ein Beispiel wären die sogenannten Öffnungsklauseln, unter anderem im Datenschutzrecht, siehe Art. 6 Abs. 2 DSGVO. Weiterführend zu Öffnungsklauseln im Datenschutzrecht, A. Pohl, Die datenschutzrechtliche Einwilligung im Spannungsfeld von hoheitlicher Regulierung und individueller Selbstbestimmung, S. 51.
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts
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3. Trennung von Kompetenzüberschreitung und Prüfungsbeschränkung In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird bislang nicht klar zwischen dem Vorliegen einer Kompetenzüberschreitung und der Offensichtlichkeit derselben unterschieden.287 Besonders deutlich wird dies im PSPP-Urteil, in dem die Offensichtlichkeit mit Verweis auf die vorangegangenen Ausführungen knapp bejaht wird.288 Hier ist jedoch eine klare Trennung vorzunehmen. Das Bedürfnis für die Vornahme einer Ultra-vires-Kontrolle besteht nur dann, wenn das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer selbständigen Prüfung des Unionsrechts zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Kompetenzüberschreitung vorliegt. Sähe man dies anders, müsste das Bundesverfassungsgericht eine Ultra-vires-Kontrolle auch dann vornehmen, wenn ein Unionsorgan eine Kompetenznorm in offensichtlich fehlerhafter Weise zugunsten der mitgliedstaatlichen Kompetenzräume auslegte. In diesem Fall bestünde jedoch keine Gefahr für die souveräne Staatlichkeit der Bundesrepublik oder für demokratische Zurechnungszusammenhänge. In diesem ersten Schritt der Kontrolle kommt es noch nicht darauf an, ob sich ein anderes Ergebnis ebenfalls legitim begründen ließe. Derartige Erwägungen sollten schon aus Gründen der argumentativen Klarheit klar von der eigenen Auffassung des Gerichts getrennt werden. Vielmehr sollte die Annahme einer Kompetenzverletzung zum Anlass genommen werden, dem EuGH den Sachverhalt im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens vorzulegen. Kritisch erscheint daher das Vorgehen im Urteil zum EU-Wiederaufbaufonds, wo das Gericht unter Verweis auf die fehlende Offensichtlichkeit der Kompetenzüberschreitung sogar von der Vorlage absah.289 Hier wird insbesondere die Chance auf eine Erhöhung der gerichtlichen Kontrolldichte und einer Kooperation mit dem EuGH vertan. 4. Verzicht auf das Kriterium der Strukturrelevanz Wie bereits dargestellt, lässt sich das Kriterium der Strukturrelevanz nicht mit dem Demokratiekonzept des Bundesverfassungsgerichts vereinbaren. Der Demokratiegrundsatz kennt keine unbedeutenden Bereiche, innerhalb derer auf Legitimation verzichtet werden könnte.290 Das Kriterium ist daher vollständig aufzugeben. Eine Begrenzung der Ultravires-Kontrolle auf spezifische Kompetenzverstöße wird durch die hier vorgeschlagene Aufwertung der Kompetenzüberschreitung zu einem echten Tatbestandsmerkmal gewährleistet. Eine darüberhinausgehende Schwere des Kompetenzverstoßes ist nicht zu fordern. 287
Siehe ausführlicher 2. Kap., B III 1 a), S. 107 f. BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 155 f.), 289 BVerfG, Urt. v. 06.12.2022 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Urteil), WM 2022, 2451 (Rn. 236). 290 Siehe ausführlich 2. Kap., B III 3 c), S. 127 ff. 288
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
In der Praxis dürfte hierdurch keine deutlich erhöhte Zahl an Verfahren zu befürchten sein: Bisher hat das Bundesverfassungsgericht nur in der Rechtssache Honeywell die Strukturrelevanz einer Kompetenzüberschreitung abgelehnt.291 In diesem Fall hätte unter Anwendung des hier vorgeschlagenen Prüfungsmaßstabs aber bereits die Prüfung der (doppelten) Kompetenzüberschreitung ergeben, dass der EuGH keine Kompetenzvorschriften fehlerhaft ausgelegt hat: Zwar mag seine Anwendung der Richtlinie 2000/78/EG und die Herleitung des ungeschriebenen Grundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung offensichtlich fehlerhaft gewesen sein – er bewegte sich aber innerhalb dessen, wozu die Union nach Art. 13 EGV292 ermächtigt war.293 5. Fortentwicklung des Kriteriums der Offensichtlichkeit – das Kriterium der verfassungsrechtlichen Beachtlichkeit Mit dem Wegfall des Kriteriums der Strukturrelevanz wächst die Bedeutung des Offensichtlichkeitskriteriums. Auch ohne den Filter eines Schwerekriteriums muss die Kontrolle inhaltlich auf das verfassungsrechtlich notwendige Maß begrenzt sein. Das Bundesverfassungsgericht versteht die Ultra-vires-Kontrolle als Kontrolle der zur Kompetenzherleitung angewandten Methoden. Verlässt ein Unionsorgan bei der Anwendung einer Kompetenznorm den Bereich des noch vertretbaren, so soll eine offensichtliche Kompetenzverletzung vorliegen.294 In der Sache beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht jedoch gerade nicht auf eine Kontrolle der Vertretbarkeit. Auch eine sorgfältige und tiefgründige Argumentation auf Seiten der europäischen Organe soll eine Offensichtlichkeit der Kompetenzüberschreitung nicht ausschließen. Das Bundesverfassungsgericht trägt zwar Argumente vor, warum seine Rechtsansicht die Überzeugende sein soll – ohne jedoch zu zeigen, warum diese Argumente eine andere Auffassung völlig ausschließen sollen.295 Schon deshalb geht der Ausdruck „Offensichtlichkeit der Kompetenzüberschreitung“ am eigentlichen Inhalt der Prüfung vorbei und sollte ersetzt werden. Für den außenstehenden Rechtsanwender ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nur schwer vorhersehbar, denn es ist nicht im Voraus erkennbar, welche Argumente das Gericht im konkreten Fall für überzeugender hält. Dieser Befund wird durch die immer noch überschaubare Anzahl an Entscheidungen zur Kontrolle sowie die Bereitschaft des Gerichts zur fortwährenden
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Siehe 2. Kap., B III 2, S. 118 f. Dieser entspricht dem heutigen Art. 19 Abs. 1 AEUV. 293 So im Ergebnis auch BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (313). 294 Z.B. BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 112 f.), siehe 2. Kap., B III 1, S. 104 ff. 295 Siehe 2. Kap., B III 1 a), S. 111. 292
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts
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Anpassung der Maßstäbe noch verstärkt. Nachfolgend werden daher konkrete Anforderungen an die Kompetenzausübung durch Unionsorgane formuliert, deren Überschreiten nach hier vertretener Ansicht zu einer offensichtlichen Kompetenzüberschreitung führt. Dabei wird die Abkehr von dem Maßstab der Vertretbarkeit gefordert. Bei der Ultra-vires-Kontrolle geht es nicht um die Identifikation unvertretbarer Rechtsanwendungsfehler durch Unionsorgane. Vielmehr prüft sie Akte der Unionsgewalt darauf, ob sie hinter jenen Anforderungen zurückfallen, die das Grundgesetz generell an die Auslegung von Kompetenznormen stellt. Wie bereits gezeigt, ist eine selbständige unionale Entscheidung über die Reichweite von Kompetenznormen nur so weit möglich, als die nationale Kompetenzhoheit gesichert und die souveräne Staatlichkeit der Bundesrepublik im Ergebnis geschützt bleibt. Für den EuGH bedeutet dies, dass er seine Aufgabe bei der Kompetenzkontrolle unionaler Maßnahmen in einer Art und Weise wahrnehmen muss, dass er funktional die Rolle eines europäischen Verfassungsgerichts erfüllt.296 Andernfalls muss das Bundesverfassungsgericht seine ruhende Funktion als Hüter der deutschen Staatlichkeit wieder aufleben lassen. Dieser Gedanke hat auch Folgen für die Maßstäbe, die an die Kompetenzauslegung anderer Unionsorgane anzulegen sind. Auch andere Organe können im Rahmen ihrer Aufgabenwahrnehmung zunächst unabhängig von nationalen Stellen über die Reichweite ihrer Kompetenzen entscheiden. Auch hierdurch darf die Kompetenzordnung nicht ausgehöhlt werden. Fällt der EuGH im konkreten Fall als europäisches Verfassungsgericht aus, insbesondere durch eine unzureichende Beantwortung der Fragen des Bundesverfassungsgerichts im Vorabentscheidungsverfahren, muss das Bundesverfassungsgericht die Funktion als Richter über die supranationale Kompetenzordnung übernehmen. Es darf die Kompetenzauslegung des Unionsorgans also nicht nach spezifisch nationalen Vorstellungen beurteilen, sondern muss die Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung vor Auge behalten. Im Verhältnis zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Unionsorgan obliegt es grundsätzlich dem Unionsorgan, die Eigenheiten der Unionsrechtsordnung zu definieren. Die Grenzen dieser Auslegungsfreiheit ergeben sich auch hier aus der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG. Ist die Auslegung durch ein Unionsorgan strukturell nicht mehr mit den deutschen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit vereinbar, ist es verfassungsrechtlich verboten, dieser Stelle die eigenmächtige Konkretisierung ihrer Kompetenzen zu überlassen. Der „Vorwurf“ an Unionsorgane besteht also nicht in der fehlerhaften Anwendung von europäischem Recht, sondern in der Ausübung ihrer Kompetenzen in einer Art und Weise, die die deutsche Verfassung nicht mehr mittragen kann, da ansonsten die Basis für die nationale Kompetenzübertragung nicht mehr bestünde.297 An den EuGH können dabei aufgrund seiner Aufgabe als europäisches 296 297
Siehe 3. Kap., B I 1, S. 240 f. Hier sei noch einmal klargestellt, dass es sich nicht um eine Hypothek für die Unions-
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
Verfassungsgericht naturgemäß höhere Anforderungen hinsichtlich seiner Argumentation gestellt werden als an sonstige Organe. Nur der EuGH hat eine spezifisch institutionelle Aufgabe als Hüter der (auch deutschen) Kompetenzen. Für den so umrissenen Maßstab wird statt des Ausdrucks „Offensichtlichkeit“ jener der „verfassungsrechtlichen Beachtlichkeit“ vorgeschlagen. Auf diese Weise wird deutlich, dass sich die Grenzen der für die Bundesrepublik hinnehmbaren Kompetenzausübungen aus der Verfassung selbst ergeben. Gleichzeitig wird durch die Wahl eines inhaltlich neutralen Begriffs Raum für die Vielgestalt der diversen verfassungsrechtlichen Anforderungen gegeben. Die nachfolgend zu entwickelnden einzelnen Anforderungen decken sich trotz des unterschiedlichen Ansatzes teilweise mit jenen, die das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Offensichtlichkeit annimmt. Im Verhältnis zum EuGH wird, wie bereits gezeigt, auf die strukturelle Vergleichbarkeit europäischer mit nationaler verfassungsgerichtlicher Kontrolle abzustellen sein.298 Relevant ist daher nicht, welche Faktoren eine Entscheidung methodisch völlig unvertretbar erscheinen lassen, sondern welche Vorgehensweisen auf Seiten des Gerichtshofs dieser Vergleichbarkeit im Wege stehen. Eine Methode mag auch vertretbar sein, wenn sie der deutschen Rechtstradition zuwiderläuft – sie ist dann aber aus Sicht des Grundgesetzes nicht zulässig zur Anwendung des in Deutschland Geltung beanspruchenden Unionsrechts. Angesichts der konkreten Handhabung des Kriteriums der Offensichtlichkeit durch das Bundesverfassungsgericht ist durch die Anwendung dieser alternativen Formel die Prüfungsdichte der Ultra-vires-Kontrolle nicht zwingend erhöht. Problematisch im Sinne dieser Formel wären Entscheidungen des EuGH, die Zweifel an seiner Bereitschaft zur Einnahme der Position des neutralen Mittlers aufkommen lassen sowie Kompetenzherleitungen anderer Organe, die strukturell hinter deutschen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit zurückbleiben. Bei der Schaffung von Fallgruppen ist auf diverse Faktoren Rücksicht zu nehmen. Dies sind insbesondere die Lehren, die aus der Wirkungsanalyse des Kontrollvorbehalts gezogen wurden: Knüpft die Kontrolle vornehmlich an formale Faktoren an und beinhaltet eine grundsätzliche Offenheit gegenüber den vom EuGH zu findenden Ergebnissen, ist sie wirkungsvoller und die Gefahr für einen Justizkonflikt deutlich verringert.299 Zudem müssen auch die Anforderungen an die Beachtlichkeit die spezifische Rolle des EuGH als europäisches Verfassungsgericht achten und fördern.300
rechtsordnung handelt, da die Gültigkeit des Ultra-vires-Akts in dieser Rechtsordnung nicht bestritten wird, siehe 2. Kap., D II 1 b), S. 179 f. 298 Siehe 3. Kap., B I 1, S. 240 f. 299 Siehe 3. Kap., A I 2 b) dd), S. 226 f. 300 Siehe 3. Kap., B I 1, S. 242 ff.
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts
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a) Formale Anforderungen an die Kompetenzherleitung Bei der Entwicklung formaler Anforderungen an die Kompetenzherleitung durch europäische Organe muss zwischen dem EuGH und den sonstigen Unionsorganen differenziert werden. Die Anforderungen an Art und Tiefe einer Kompetenzdarlegung müssen schon aus Gründen der Funktionalität unterschiedlich ausgestaltet sein. Nicht jede Unionsstelle hat die Zeit oder die Mittel, hochkomplexe Erwägungen vorzunehmen. Zudem besteht regelmäßig nur für den Gerichtshof die Möglichkeit und die Notwendigkeit, sich mit Argumenten einer nationalen Stelle (hier dem Bundesverfassungsgericht) argumentativ auseinanderzusetzen. Auf die Argumentation der sonstigen Unionsorgane kommt es dann an, wenn entweder der EuGH mit der Frage noch nicht befasst wurde oder aber sein Urteil bereits als ultra vires verworfen wurde. Beides wird später im Abschnitt dargestellt. Die wesentliche Voraussetzung für die strukturelle Vergleichbarkeit des EuGH mit dem Bundesverfassungsgericht ist, wie gezeigt, seine Bereitschaft, die Funktion eines neutralen Mittlers zwischen den rechtlichen Interessen der Union und der Mitgliedstaaten einzunehmen. Die Aufgabe des neutralen Mittlers lässt sich jedoch nur schwer an konkreten materiellen Voraussetzungen festmachen, ohne dabei die Autorität des EuGH über seine eigene Methodik zu missachten. Unzweifelhaft jedoch zeigt sich die Bereitschaft des Gerichtshofs zur Achtung der mitgliedstaatlichen Interessen in seinem Umgang mit den nationalen Gerichten.301 Wenn das Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens Zweifel an der Kompetenzkonformität eines Unionsakts vorbringt, vokalisiert es die mitgliedstaatlichen Interessen an der Wahrung der Kompetenzordnung302 und führt entsprechende juristische Argumente an.303 Es ist daher unabdingbar, dass sich der Gerichtshof in qualifizierter Weise mit dem Vorbringen auseinandersetzt.304 Das Bundesverfassungsgericht ist damit die Instanz, welche eine erste Auswahl juristischer Argumente vornimmt. Es kann sich beispielsweise auf teleologische Erwägungen oder den historischen Willen der Vertragsunterzeichner stützen. Der EuGH muss dann die Vorlagefrage nach hier vertretener Ansicht auch
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Kritisch sieht hier D. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 351 die Entscheidungen des EuGH zur Euro-Rettung und führt hierauf auch das Ergebnis des PSPP-Urteils zurück. Er misst der Bereitschaft des EuGH zur Befassung mit den Argumenten des Bundesverfassungsgerichts also unmittelbar Entscheidungsrelevanz bei. 302 Treffend bezeichnet A. Lang, Der Staat (69) 2021, 99 (108) die Ultra-vires-Kontrolle als Rechenschaftspflicht-Mechanismus. 303 So spricht C. Nierhauve, jurisPR-BKR 2/2017 Anm. 1 von den Richtern am Bundesverfassungsgericht als „streitbare Anwälte nationaler Verfassungsrechte“. 304 Ähnlich R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 134; C. Calliess, NJW 2005, 929 (933). Ebenso J. H. Klement, JZ 2015, 754 (760). Nach diesen ist Unvertretbarkeit einer Rechtsansicht relativ und jeweils im konkreten Rechtserzeugungszusammenhang zu bestimmen.
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
unter entsprechender Rücksichtnahme auf die einzelnen Argumente beantworten. Diese Antwort kann auch beinhalten, dass der Gerichtshof bestimmte Argumente für fehlerhaft, nicht entscheidend oder gar für völlig irrelevant hält. Dies ist Ausdruck seiner grundsätzlichen Methodenhoheit – im Fall des Widerspruchs ist jedoch eine problemorientierte Begründung und eine transparente Darlegung entsprechender Erwägungen erforderlich.305 Äußerst kritisch ist vor diesem Hintergrund das fehlende Aufgreifen eines zentralen Arguments des Bundesverfassungsgerichts im Gauweiler-Verfahren zu werten.306 Das Gericht wies darauf hin, dass die Ausgestaltung des OMT-Programms zu einer Finanzierung von Staatshaushalten führe, in der Sache den Wirtschaftshilfeprogrammen EFSF und ESM gleichkomme, diese aber in der Höhe um ein vielfaches übersteigen könne.307 Es drohte demnach eine Umgehung der Volumenbegrenzungen der genannten Wirtschaftsprogramme – ohne dass hieran neue Auflagen, wie in Art. 13 Abs. 3 ESM-V, geknüpft wären. Dieses Problem ließ der EuGH vollständig unkommentiert.308 In der Rechtssache Weiss lehnte der EuGH ferner eine Befassung mit der Frage der Risikoverteilung bei Ausfällen von Anleihen als „hypothetisch“ ab.309 Ein Vorteil des dargelegten formalen Ansatzes liegt darin, dass der EuGH seine eigene Rechtsprechung damit im Lichte der Methodik zumindest einer Referenzrechtsordnung begründen muss. Eine Entfremdung der europäischen Methodik von den gemeinsamen mitgliedstaatlichen Überzeugungen könnte damit nicht im Verborgenen stattfinden, sondern müsste sich im Diskurs mit den Gerichten, aber auch in der öffentlichen Auseinandersetzung behaupten. Gleichzeitig verfügt der Gerichtshof über eine größere Freiheit zur eigenen Rechtsgestaltung, als dies bei einem primär materiellen Prüfungsansatz der Fall wäre. Das Bundesverfassungsgericht gibt mit der Vorlage eine gewisse Prüfungsdichte für das Urteil des EuGH vor. Der Gerichtshof ist zwar unionsrechtlich nicht zur Beantwortung einzelner dogmatischer Erwägungen gezwungen310 – sollte dies aber aus Gründen juristischer Umsicht dennoch tun. Eine Koopera-
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R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 243 f. So auch J. H. Klement, JZ 2015, 754 (760); W. Kahl, NVwZ 2020, 824 (826). 307 BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 80 ff.). 308 F. C. Mayer, NJW 2015, 1999 (2001). Es finden sich weitere Beispiele für eine fehlende oder zumindest bedenklich oberflächliche Behandlung von bundesverfassungsgerichtlichen Argumenten. Zu nennen sei im OMT-Verfahren der Einwand, Kompetenzen der EZB müssten aufgrund der geringen demokratischen Legitimation der Zentralbank besonders eng ausgelegt werden, BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 59). 309 EuGH, Urt. v. 11.12.2018 – C-493/17 (Weiss), ECLI:EU:C:2018:1000 (Rn. 159 ff.). Siehe hierzu U. Hufeld, JVSR 2016/2017, 11 (30 ff.). Zurecht merkt P. M. Bender, ZEuS 2020, 409 (414 f.) an, der EuGH bediene sich im Umgang mit dem Bundesverfassungsgericht keiner „freundlichen Sprache“. 310 J. H. Klement, JZ 2015, 754 (760). 306
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts
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tion dient der vertrauensvollen Zusammenarbeit im Gerichtsverbund und unmittelbar der Vermeidung von Justizkonflikten. Aus Perspektive des Bundesverfassungsgerichts ist es daher sinnvoll, die Zweifel am Vorliegen einer Kompetenz ausführlich zu begründen.311 Dabei kann es auch ein spezifisch deutsches Verständnis von der Auslegung einzelner Normen zugrunde legen. Die Qualität der gesamteuropäischen Rechtsprechung kann von einer derartigen Auseinandersetzung nur profitieren. Formale Anforderungen an Urteile des EuGH werfen jedoch das Problem der möglicherweise schwierigen Umsetzbarkeit auf. In einem Kollegialorgan, welches nach Art. 16 Abs. 4 EuGH-Satzung mit bis zu 27 Richtern entscheidet, ist bereits die Verständigung auf ein bestimmtes Ergebnis mitunter mühsam.312 Die Einigung auf einen konkreten Begründungsweg kann sich noch ungleich schwieriger gestalten. Die fehlende Möglichkeit des Verfassens von Sondervoten erhöht die Bedeutung von Absprachen und Kompromissen innerhalb des Spruchkörpers. Besonders die Vielzahl der rechtskulturellen Prägungen der am Verfahren beteiligten Richter erschwert jedoch die Ausgangslage.313 Gelegentlich werden daher einzelne umstrittene Argumente aus den Entscheidungsbegründungen gekürzt, wenn über diese keine Einigung erzielt werden kann.314 Nichtsdestoweniger ist der EuGH fraglos zum Verfassen qualitativ und quantitativ ansprechender Urteilsbegründungen in der Lage und hat dies in vielen Entscheidungen bewiesen.315 Eine auf konkrete Argumente gerichtete Ultra-vires-Kontrolle setzt noch einen zusätzlichen Anreiz, sich zu diesen Aspekten zu äußern. Werden Argumente aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts nicht ausreichend gewürdigt, oder entstehen mit einem Urteil des EuGH neue Unklarheiten, so kann eine erneute Vorlage sachdienlich sein.316 Ist dies der Fall und stehen einer erneuten Vorlage keine sonstigen Hindernisse, wie beispielsweise unionsrechtliche Zulässigkeitshürden, entgegen, so gebietet die Europarechts-
311
R. Stotz, Die Rechtsprechung des EuGH, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 20, Rn. 9 weist generell darauf hin, dass die Qualität der Entscheidung des EuGH mit der Qualität des Vorbringens korreliert. 312 Ausführlich zu diesem Problem S. A. E. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 80 ff. 313 U. Kischel, VVDStRL 77 (2017), 285 (304 f.); R. Stotz, Die Rechtsprechung des EuGH, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 20, Rn. 3; S. A. E. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 81; N. Colneric, ZEuP 2005, 225 (230 f.). 314 S. A. E. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 81 m.w.N.; N. Colneric, ZEuP 2005, 225 (231). 315 Als Musterbeispiel für eine ausführlich begründete Entscheidung des gesamten Plenums kann die Entscheidung zum Recht auf einseitige Rücknahme der Mitteilung einer Austrittsabsicht aus der Union gelten, EuGH, Urt. v. 10.12.2018 – C-621/18 (Wightman u.a.), ECLI:EU:C:2018:999. 316 Dies war im Rahmen des PSPP-Verfahrens gerade nicht der Fall; die Argumente waren hier erschöpfend ausgetauscht, siehe U. Haltern, AöR 146 (2021), 195 (227 ff.).
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
freundlichkeit des Grundgesetzes eine zweite Vorlage ebenso wie die vorangegangene.317 Nicht möglich ist es indes, bei fehlenden Ausführungen des EuGH auf die Anträge der Generalanwälte zu rekurrieren.318 Zwar finden sich dort regelmäßig vertiefte dogmatische Ausführungen und sogar Auswertungen der Fachliteratur – sie sind allerdings nicht Teil des Urteils.319 Es bleibt daher offen, inwieweit der Gerichtshof die Begründungen des Generalanwalts mitträgt oder ob lediglich eine Übereinstimmung im Ergebnis vorliegt, solange kein ausdrücklicher Verweis erfolgt.320 Handlungen anderer Unionsorgane werden nur dann vom Bundesverfassungsgericht auf ihre Ultra-vires-Eigenschaft hin überprüft, wenn ein vorheriges Urteil des EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens selbst ultra vires erging. Das Bundesverfassungsgericht hat im Rahmen seiner selbständigen Überprüfung des PSPP-Beschlusses der EZB bereits eigene Grundsätze zu den Darlegungsanforderungen geschaffen.321 Aus den Verlautbarungen der EZB müssen sich demnach die maßgeblichen Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ergeben. Dieser Gedanke lässt sich wohl abstrahieren, wonach grundsätzlich alle kompetenziell relevanten Erwägungen problemorientiert begründet sein müssen. Auf diese Weise wird den Verfassungsorganen ermöglicht, die Kompetenzherleitung des Organs auf ihre Vertretbarkeit hin zu untersuchen. So kann es wohl auch verstanden werden, wenn Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts darauf hinweisen, das PSPP-Urteil sei nicht als Ende des Diskurses zu verstehen, sondern als Verhinderung der einseitigen Schließung des Diskurses durch den EuGH.322 Aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts kann hier Zurückhaltung hinsichtlich der Art der Begründung geübt werden. Eine Verdopplung der Begründungsmaßstäbe für europäische Organe, einmal aus dem europäischen und einmal aus dem nationalen Recht stammend, ist weder praktisch sinnvoll noch verfassungsrechtlich geboten. Der Ultra-vires-Vorbehalt zielt nicht primär darauf ab, Transparenz in der Union herzustellen, oder gar individuell betroffenen Bürgern ein höheres Maß an Grundrechtsschutz durch Verfahren zu garantieren. Es geht vielmehr um die Nachvollziehbarkeit der Kompetenzausübung als notwendiges Korrelat zu der Befugnis zur eigenständigen Kompetenzauslegung. Dement317 Siehe hierzu EuGH, Beschl. v. 05.03.1986 – C-69/85 (Wünsche III), Slg., 1986, 947 (Rn. 15); U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 50. EGL. Mai 2013, Art. 267 AEUV, Rn. 103. 318 A.A. selbst bei fehlender Bezugnahme in der Entscheidung des EuGH: R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 135. 319 Hierauf weist auch N. Colneric, ZEuP 2005, 225 (231) hin. 320 Anders ist dies zu bewerten, wenn der Gerichtshof an einer Stelle auf die Schlussanträge verweist und kein Zweifel über die Reichweite dieses Verweises besteht. 321 Siehe BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 167). Siehe auch 2. Kap., B III 1 c), S. 116 ff. 322 So A. Voßkuhle, Europa, Demokratie, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 325.
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sprechend verlangt auch das Bundesverfassungsgericht keine bestimmte Form der Begründung, sondern rekurriert auch auf Pressemitteilungen und sonstige öffentlichen Äußerungen von Unionsorganen.323 Zudem ist auch das Nachreichen von Erwägungen möglich: Das Gericht eröffnete der EZB die Möglichkeit zur Nachbesserung seiner Darlegungen innerhalb einer Dreimonatsfrist nach Verkündung des Urteils.324 Erst recht muss dann ein Nachreichen vor der Urteilsverkündung, insbesondere im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, möglich sein. Für Träger der Integrationsverantwortung ist es daher sinnvoll, auf die Unionsorgane auf politischem Wege zwecks nachträglicher Darlegung einzuwirken und auf diese Weise den Ultra-vires-Akt zu „heilen“.325 Das Bundesverfassungsgericht hat damit bereits im Rahmen der PSPP-Entscheidung die Ultra-vires-Kontrolle auch auf formale Aspekte der Kompetenzherleitung bezogen. Dies ist vollumfänglich zu begrüßen – es gilt jedoch diesen Aspekt auch gegenüber Urteilen des EuGH in den Fokus zu rücken.326 b) Materielle Anforderungen an die Kompetenzherleitung Auch eine an formalen Aspekten anknüpfende Kontrolle kann materielle Aspekte nicht vollständig außer Acht lassen.327 Dies zeigt schon die (ausschließlich theoretische) Möglichkeit, auf einzelne Argumente mit völligem Unsinn zu antworten, der nicht einmal den Anschein einer juristischen Auseinandersetzung erweckt. Auch das Bundesverfassungsgericht hat daher bereits Beispiele für eine Überschreitung des Auslegungsspielraums formuliert. aa) Entleerung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung Auch wenn das Bundesverfassungsgericht den Zweck des Ultra-vires-Vorbehalts nunmehr vor allem in seiner demokratiesichernden Wirkung verortet, ist dieser
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BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 176). BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 235). Kritisch V. Skouris, EuR 2021, 3 (24), der zurecht anmerkt, dies lasse sich kaum mit einer Verankerung der Ultra-vires-Kontrolle in der Menschenwürde des Wahlberechtigten vereinbaren. 325 Das Bundesverfassungsgericht selbst spricht in diesem Kontext nicht von Heilung. Jedoch besteht kein kategorialer Unterschied zwischen einer Heilung beispielsweise nach § 45 VwVfG und der vorliegenden Konstellationen, der eine unterschiedliche Begrifflichkeit erforderlich machen würde. Lediglich im Ausgangspunkt besteht im nationalen Verwaltungsrecht ein nichtiger Verwaltungsakt, während ein Ultra-vires-Akt überhaupt kein Teil der deutschen Rechtsordnung ist. Im Ergebnis bringt dieser Unterschied jedoch keine Konsequenz mit sich. Ebenfalls von Heilung spricht beispielsweise R. Mögele, EuZW 2021, 609 (609). 326 Siehe auch 3. Kap., A I 2 b) dd), S. 226 f. 327 Ebenso Müller in seiner abweichenden Meinung zu BVerfG, Urt. v. 06.12.2022 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Urteil), WM 2022, 2451, Rn. 43. 324
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
formal betrachtet ein Instrument zur Sicherung der Kompetenz-Kompetenz der Bundesrepublik.328 Es ist daher konsequent, all jene Kompetenzherleitungen als unzulässig zu erachten, welche nicht nur im Einzelfall oder in einer überschaubaren Anzahl von Konstellationen zu einer unzulässigen Kompetenzannahme führen, sondern das Kompetenzgefüge allgemein erschüttern. Bedient sich der Gerichtshof eines Argumentationsmusters, welches die Begrenzungen der Einzelermächtigungen grundsätzlich beseitigt, so muss die Ultra-vires-Kontrolle aktiviert werden können. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn die finalen Kompetenzen derart interpretiert würden, dass eine bloße Zielbehauptung eine Kompetenz abschließend begründete. Insofern besteht eine Ähnlichkeit mit dem vom Bundesverfassungsgericht genutzten Schwerekriterium im Rahmen der Strukturrelevanz.329 Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass dieses Merkmal nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts eine notwendige Bedingung zur Annahme eines Ultra-vires-Akts ist. Hier soll ihm jedoch die Funktion einer hinreichenden, aber nicht notwendigen Bedingung zukommen. Außerdem sieht das Bundesverfassungsgericht Strukturrelevanz bereits bei einer Kompetenzüberschreitung als gegeben an, die ihrem Umfang nach vertraglich fixierten Kompetenzen gleichsteht.330 Eine darüber hinausgehende grundsätzliche Ineffektivierung der Kompetenzgrenzen ist nicht gefordert. Trotz der Thematisierung im Rahmen der Strukturrelevanz macht auch das Bundesverfassungsgericht den Gedanken der grundsätzlichen Entleerung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung im Rahmen der Offensichtlichkeit fruchtbar. Demnach sei eine Auslegung, die gegen die Ratio der Kompetenzordnung verstößt, methodisch nicht mehr vertretbar. Aus diesem Grund wurde im PSPP-Verfahren die Kombination aus der weitgehend ungeprüften Übernahme der von der EZB vorgetragenen währungspolitischen Zielsetzung und der die faktischen Wirkungen ausblendenden Verhältnismäßigkeitsprüfung für unzureichend erachtet.331 Dem ist, vorbehaltlich der grundsätzlichen Einwände gegen einen Unvertretbarkeitsmaßstab, zuzustimmen: Der wirksame Schutz mitgliedstaatlicher Kompetenzräume ist fraglos der wesentliche Zweck des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. Insofern verstößt jede Missachtung dieses Prinzips gegen das Telos von Art. 5 Abs. 1 EUV.
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So auch noch deutlich BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (194 f.). 329 Deutlich BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (307). Siehe 2. Kap., B III 2, S. 118 ff. 330 BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (312). Siehe 2. Kap., B III 2, S. 121 f. 331 BVerfG, Beschl. v. 10.10.2017 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Beschluss), BVerfGE 147, 216 (Rn. 155 i.V.m. Rn. 133 ff.), siehe 2. Kap., B III 1 c), S. 116 ff.
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bb) Tatsächliche und logische Fehlerhaftigkeit Auch sofern eine Kompetenzherleitung nicht zu einer generellen Entleerung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung führt, kann sie im Einzelfall ein für die Bundesrepublik nicht akzeptabler Vorgang sein. Die Aufgabe der Rechtsprechung erschöpft sich nicht im formalen Eingehen auf bestimmte Aspekte und der grundsätzlichen Achtung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. An Rechtsprechungsprozesse lassen sich auch im Einzelfall konkrete inhaltliche Erwartungen knüpfen, welche auch vom EuGH eingehalten werden müssen, damit die Bundesrepublik seine Rechtsprechung als verbindlich erachten kann. Die Formulierung dieser inhaltlichen Erwartungen bei gleichzeitiger Achtung der Methodenhoheit des EuGH ist gleichwohl das Kernproblem bei der Ausgestaltung des Beachtlichkeitskriteriums. Eine Kompetenz zur Vornahme fehlerhafter Entscheidungen besteht jedoch nicht. Um einem Rechtsanwender einen Fehler im engeren Sinne vorwerfen zu können, muss eine bestimmte Problematik allerdings mit Gewissheit bewertbar sein – Gewissheit im Umgang mit Normen ist jedoch nur äußerst schwer zu erreichen. Juristische Methodik ist immer selbstreferenziell.332 Die Wahl der verwendeten Methoden durch Richter erfolgt zum Zweck der bestmöglichen Wahrnehmung ihrer Aufgabe – die ihrerseits gesetzlich begründet ist. Methoden können daher zwar mehr oder weniger gut geeignet sein, um ein Ziel, beispielsweise die Ermittlung des objektiven Sachgehalts eines Rechtssatzes, zu erreichen – es fehlt aber an Kriterien zur Bewertung ihrer Richtigkeit.333 Die Beliebigkeit der Methode korrespondiert mit einer Offenheit der Rechtsanwendung: Fehler im engeren Sinne sind nur dort auszumachen, wo entweder Irrtümer auf tatsächlicher Ebene bestehen oder innerhalb der juristischen Begründungen gegen die Gesetze der Logik verstoßen wird.334 Subsumiert ein Unionsorgan einen fehlerhaft ermittelten Sachverhalt unter eine Kompetenznorm, dann kann über die Fehlerhaftigkeit dieser Rechtsanwendung grundsätzlich Beweis erhoben werden.335 Hierbei muss zwingend zwischen Tatsachen und Wertungen unterschieden werden. Nur die Zugrundelegung einer fehlerhaften Tatsache löst zwingend die Ultra-vires-Kontrolle aus. Auch muss der Union im Falle von unklaren Sachlagen eine eigene Tatsachenermittlung zugestanden werden. Nur wenn sich die Union einer fundierten Ermittlung verschließt, kann eine Kontrolle in Betracht kommen. Dies erscheint nur bei vorsätzlichem Verhalten möglich und dürfte daher nur theoretische Relevanz haben.
332 So die Formulierung bei A. Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 761. 333 Genau hieran krankt der Vertretbarkeitsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts, siehe 2. Kap., B II 3, S. 99 ff. 334 Für eine derartige logische Kontrolle auf logische Widerspruchsfreiheit auch R. Pracht, Residualkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts, S. 134. 335 Vgl. insoweit auch § 529 ZPO.
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Im Falle von einfachen Missverständnissen hingegen kann eine erneute Vorlage an den EuGH Klärung bringen. Weitaus bedeutsamer ist die Möglichkeit einer logisch fehlerhaften Begründung. Logisch fehlerhaft bedeutet hier nicht, dass sich eine Kompetenzherleitung als Reihe von logisch zwingenden Operationen darstellen muss. Einem solchen Anspruch dürfte wohl kaum eine juristische Begründung jemals gerecht werden.336 Vielmehr darf die Herleitung einer Kompetenz keine Widersprüchlichkeiten aufweisen, indem beispielsweise nicht miteinander vereinbare Prämissen genutzt werden.337 Ebenso darf eine logische Operation nicht in ihr Gegenteil verkehrt werden, sodass sich ein Schluss als logisch ausgeschlossen darstellt. Im OMT-Verfahren argumentierte ein Beschwerdeführer in Richtung einer Widersprüchlichkeit der Begründung der Gauweiler-Entscheidung des EuGH.338 Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ging hierauf jedoch nicht näher ein. cc) Missachtung mitgliedstaatlicher Rechtstraditionen Die inhaltliche Kontrolle von Kompetenzherleitungen kann sich jedoch nicht in einer Überprüfung unter logischen Gesichtspunkten erschöpfen. Da das Grundgesetz nur dann eine Überantwortung der Auslegung von Kompetenznormen an den EuGH zulässt, wenn eine grundsätzliche Vergleichbarkeit seiner Tätigkeit mit jener des Bundesverfassungsgerichts gegeben ist, muss sich diese Vergleichbarkeit auch in der genutzten Methodik niederschlagen. Auch wenn eine Methodik nicht objektiv falsch sein kann, so kann sie jedoch aus deutscher Perspektive derart wesensfremd sein, dass das Grundgesetz ihrer Anwendung im Wege steht. Die Integrationsoffenheit des Grundgesetzes gebietet jedoch, dass der Vergleichsmaßstab nicht allein die deutsche Rechtspraxis ist – vielmehr muss auch den Eigenheiten der Rechtstraditionen der anderen Mitgliedstaaten Rechnung getragen werden. Die Methode des EuGH muss demnach Ausfluss der gemeinsamen Rechtskultur der Mitgliedstaaten sein. Eine Entscheidung des EuGH, bei der sich dieser beispielsweise auf den Willen Gottes beriefe, um eine Kompetenz zu begründen, wäre zwar nicht logisch fehlerhaft – sie könnte sich dennoch nicht als für Deutschland verbindliche Rechtsprechung begreifen lassen. Auch das Bundesverfassungsgericht geht von einer Begrenztheit der Methodenschöpfungskompetenz des EuGH aus.339 Dem Gerichtshof ist zwar die Schöpfung eigener, gänzlich neuer Methoden gestattet. Sie findet aber dort ihre Grenze, wo sie den mitgliedstaatlichen Methoden und Grundsätzen willkürlich entgegenläuft, sich also nicht mit den besonderen Erfordernissen der Supranationalität340 begründen lässt. Als Ansatzpunkt lässt sich damit folgende Formel 336
R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 17. R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 65. 338 D. Murswiek, Die Eurokrise vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 672. 339 Im Ansatz schon BVerfG, Beschl. v. 06.07.2010 – 2 BvR 2661/06 (Honeywell), BVerfGE 126, 286 (307). Siehe im Einzelnen 2. Kap., B II 3, S. 101. 340 Vor allem hierauf stellt P. M. Bender, ZEuS 2020, 409 (419) ab. 337
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nutzen: Eine Methodik ist immer dann unzulässig, wenn davon auszugehen ist, dass sie von den Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten übereinstimmend nicht mitgetragen wird.341 Erforderlich ist daher auf Seiten des Bundesverfassungsgerichts ein Rechtsvergleich, der darlegt, dass eine gewählte Methode keinen Ursprung in einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung hat und zudem nicht mit gemeinsamen Grundsätzen vereinbar ist.342 Diese Hürde ist recht hoch: Der EuGH kann damit auch Methoden verwenden, die dem deutschen Recht völlig fremd sind und beispielsweise dem Common Law343 entstammen. Auch das Unionsrecht selbst sieht den Rechtsprechungsauftrag des Art. 19 EUV nicht losgelöst von nationalen Rechtsvorstellungen.344 Im PSPP-Urteil weist das Bundesverfassungsgericht zurecht auf Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 340 Abs. 2 AEUV hin, die die mitgliedstaatlichen Rechtstraditionen zum Ausgangspunkt für die Rechtsprechung des EuGH machen.345 Zudem hatten die Vertragsstaaten bei der Schaffung der gemeinsamen europäischen Gerichtsbarkeit ihre jeweiligen eigenen Rechtstraditionen sowie jene der anderen Mitglieder vor Augen. Vor diesem Hintergrund müssen die Begriffe „Auslegung“ und „Anwendung“ des Unionsrechts in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV betrachtet werden. Die Ultra-vires-Kontrolle trägt der Union damit an dieser Stelle keine zusätzliche materielle Schranke aus dem deutschen Recht auf, sondern sichert die ohnehin schon vertraglich festgehaltenen Anforderungen an die Rechtsprechungstätigkeit. Den EuGH trifft demnach im Bereich der Methodenschaffung eine Obliegenheit zur Rechtsvergleichung.346 Er muss diese Erwägungen zwar nicht in seinen Urteilen darlegen, kann damit jedoch ihre Überzeugungskraft steigern. Aufgrund seiner höheren personellen Kompetenz hinsichtlich einer gesamteuropä-
341 Ähnlich T. Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß, S. 713 f. Dies bedeutet nach hier vertretener Auffassung nicht, dass andere oberste Gerichte übereinstimmend von einem Ultra-vires-Akt ausgehen müssten. Dies scheitert schon daran, dass nicht alle Mitgliedstaaten einen derartigen Kontrollvorbehalt etabliert haben. 342 Fast umgekehrt schlägt M. Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 72. EGL. Juli 2014, Art. 79 GG, Rn. 173 vor, ein Ultra-vires-Akt könnte am ehesten dann angenommen werden, wenn „er dem auch für die anderen Vertragspartner klar erkennbaren Willen des deutschen Zustimmungsgesetzgebers eindeutig widerspricht und zugleich die (weichen) völkerrechtlichen Auslegungsmaßstäbe verletzt.“ Dies eignet sich aber nicht zur Maßstabsbildung, denn es ist ja gerade fraglich, welche Akte das im Grundsatz offene Integrationsprogramm verlassen und damit dem Willen des Integrationsgesetzgebers entgegenlaufen. 343 Auch nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU verbleibt mit Irland zumindest ein Mitgliedstaat, der eindeutig diesem Rechtskreis zugeordnet werden muss, siehe G. Dannemann, Anglo-amerikanischer Rechtskreis, in: Oberreuter (Hrsg.), Staatslexikon. 344 J. H. Klement, ZG 29 (2014), 169 (192); P. M. Huber, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 19 EUV, Rn. 14. Ähnlich M. Pechstein/C. Drechsler, Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 7, Rn. 12. 345 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 112). 346 C. Calliess, NJW 2005, 929 (933).
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ischen Rechtsvergleichung ist er womöglich in der Lage, die Verwurzelung seiner Rechtsprechung in den gemeinsamen Rechtstraditionen besser darzustellen, als dies das Bundesverfassungsgericht von außen erkennen kann.347 Eine Ultra-viresKontrolle, die eine Verwurzelung der Rechtsprechung des EuGH in gesamteuropäischen Rechtstraditionen fordert, wirkt auch als Instrument der Herausbildung einer gemeinsamen europäischen Methodik.348 dd) Verstoß gegen die Kontinuitätspflicht Selbst wenn der EuGH auf alle ihm vorgelegten Fragen in einer Art und Weise antwortet, die die Kompetenzordnung als solche unberührt lässt und dabei zulässige Methoden auf eine logisch unbedenkliche Weise anwendet, kann ein Urteil im Einzelfall die mitgliedstaatlichen Kompetenzen in nicht akzeptabler Weise beeinträchtigen. Entscheidungen des Gerichtshofs ergehen immer auch im Kontext seiner bisherigen Rechtsprechung und dürfen daher nicht isoliert betrachtet werden. Wendet der Gerichtshof in verschiedenen, gleich gelagerten Fällen unterschiedliche Argumentationen an, so kann dies unmittelbare Auswirkungen auf das Ergebnis seiner Entscheidung haben. Jede Herangehensweise mag für sich betrachtet dabei völlig unproblematisch sein – aufgrund seines großen Entscheidungsspielraums kann der EuGH aber mit der Auswahl seines Begründungswegs das Ergebnis steuern. Es besteht daher die Gefahr einer willkürlichen Rechtsprechung unter dem Deckmantel legitimer juristischer Tätigkeit. An dieser Stelle zeigt sich die Bedeutung der Dogmatik im Recht. Dogmatik speichert Erkenntnisse einzelner Auslegungsprozesse und abstrahiert sie auf einer übergeordneten Ebene. Sie gibt dem Rechtsanwender damit eine systematische Orientierung, wie vergleichbare Fälle und normative Vorgaben zu behandeln sind. Dogmatik bildet damit die Basis für eine kontinuierliche Handhabung des Rechtssystems.349 Nur eine kontinuierliche Handhabung des Rechts garantiert eine rationalisierte, systematische Anwendung europäischer (Kompetenz-) Normen.350 Aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts ist deshalb dem Gerichtshof eine Kontinuitätspflicht aufzuerlegen.351 Der EuGH darf nur dann von einer vorhe-
347 Zu den Auswirkungen der Multinationalität am EuGH, siehe auch U. Kischel, VVDStRL 77 (2017), 285 (304 f.). 348 M. Polzin, AöR 246 (2021), 1 (17). 349 G. Kirchhof/S. Magen, Dogmatik: Rechtliche Notwendigkeit und Grundlage fächerübergreifenden Dialogs, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, S. 151, 154 mit Verweis auf M. Jestaedt, Wissenschaftliches Recht, in: Kirchhof/Magen/ Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, S. 117, 126. 350 Ein Plädoyer für Transparenz bei veränderten Rechtsansichten findet sich auch bei dem ehemaligen Präsidenten des EuGH, V. Skouris, EuR 2021, 3 (14). 351 Ähnlich A. Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 947 ff., C. Calliess, NJW 2005, 929 (933).
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rigen Linie abweichen, wenn er entweder die Besonderheiten des jeweiligen Falles verdeutlicht oder sich expressis verbis von der bisherigen Praxis distanziert und eine neue Praxis begründet.352 Dem EuGH muss zwar die Möglichkeit zur Fortentwicklung seiner Dogmatik zukommen – er hat diesen Entwicklungsprozess aber im Einzelfall rational darzustellen.353 Ein derartiger Maßstab respektiert die notwendigen Gestaltungsräume, die der Gerichtshof für seine Aufgabenwahrnehmung benötigt.354 Auch im PSPP-Urteil berief sich das Bundesverfassungsgericht auf die Unvereinbarkeit des Weiss-Urteils mit der sonstigen Rechtsprechung des EuGH.355 Diesem Vorgehen ist nach dem hier vertretenen Ansatz grundsätzlich zuzustimmen, jedoch war die Ausführung im konkreten Fall äußerst fragwürdig: Das Bundesverfassungsgericht beschränkte sich nicht darauf, Widersprüchlichkeiten zwischen dem Gauweiler und dem Weiss-Urteil darzulegen, sondern verglich auch grundverschiedene Konstellationen.356 So ist es noch überzeugend, wenn das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Art. 123 AEUV prüft, ob die Ausführungen des EuGH in den Urteilen Gauweiler und Weiss miteinander vereinbar sind. Es stellt fest, es sei widersprüchlich für das OMT-Programm von einem Verbot der Ankündigung von Anleihekäufen auszugehen,357 gleichzeitig aber für das PSPP diese Vorankündigung als positiven Beitrag zur Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit herauszustellen.358 Hier könnte man in der Tat zunächst an eine Unvereinbarkeit der Ausführungen denken. Jedoch stellt der EuGH klar, dass private Marktteilnehmer weiterhin keine Gewissheit darüber haben dürften, ob bestimmte Anleihen tatsächlich im Rahmen des PSPP auf den Sekundärmärkten angekauft werden.359 Ein Unterschied zum OMT-Programm besteht darin, dass im PSPP Anleihekäufe vorab klar begrenzt sind. Gibt die EZB im Rahmen des PSPP bekannt, nur in vergleichsweise geringem Volumen am Sekundärmarkt tätig zu werden, 352 Eine derartige Kontinuitätspflicht wurde in der Forschung teils auch dem Bundesverfassungsgericht auferlegt (siehe T. Exner, DÖV 2012, 540 (542 f.), dort sogar mit der Forderung nach einer veränderten Sachlage als Voraussetzung für eine Abweichung. Sie ist also keineswegs eine völlig neue Idee. Der wesentliche Unterschied im Rahmen der Ultra-viresKontrolle besteht darin, dass dort mit dem Bundesverfassungsgericht eine kontrollierende Instanz existiert. 353 Siehe auch die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, „ohne nähere Begründung“ sei eine Abweichung durch den EuGH unzulässig, BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 153). 354 F. Sander, DÖV 2020, 759 (763). 355 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 146 ff.). 356 Siehe 2. Kap., B III 1 c), S. 117. 357 EuGH, Urt. v. 16.06.2015 – C-62/14 (Gauweiler), ECLI:EU:C:2015:400 (Rn. 106 f.). 358 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 185) mit Verweis auf EuGH, Urt. v. 11.12.2018 – C-493/17 (Weiss), ECLI:EU:C:2018:1000 (Rn. 111 f.). 359 EuGH, Urt. v. 11.12.2018 – C-493/17 (Weiss), ECLI:EU:C:2018:1000 (Rn. 117).
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
dann wirkt die Ankündigung einer Gewissheit der Marktteilnehmer sogar eher entgegen, da sie dann von der geringen individuellen Ankaufwahrscheinlichkeit Kenntnis erhalten. Eine Entwertung des Kriteriums der weitgehenden Ungewissheit von Mitgliedstaaten und Marktteilnehmern liegt damit nicht vor. Das Bundesverfassungsgericht hat also zunächst einen sinnvollen Prüfungszugang gewählt, um die Kontinuität der Rechtsprechung des Gerichtshofs sicherzustellen. Lediglich dem Ergebnis kann hier nicht gefolgt werden. Schon im Ansatz fragwürdig ist jedoch der Vergleich der Weiss-Entscheidung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Grundrechten, den Grundfreiheiten und der Beihilfenkontrolle.360 Das Bundesverfassungsgericht erkennt selbst an, dass es sich bei Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV um eine spezielle kompetenzielle Verhältnismäßigkeit handelt.361 Aufgrund der Verschiedenheit zum individualschützenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muss keine identische Dogmatik geschaffen werden. Dem EuGH darf nur dann eine Obliegenheit zur Begründung von Abweichungen zu früheren Entscheidungen aufgetragen werden, wenn dem Betrachter sich die Logik dieser Abweichung nicht ohne weiteres erschließen kann, weil entweder kein sinnvoller Grund erkennbar ist oder verschiedene, einander ausschließende Gründe in Betracht kommen. Dies war hier nicht der Fall. An Maßnahmen anderer Unionsorgane sind im Ergebnis dieselben Anforderungen zu richten: Sie sind zwar nicht mit derselben Erwartung an Stabilität und Letztverbindlichkeit verbunden wie Entscheidungen des Gerichtshofs. Sonstige Organe werden deshalb nicht in gleicher Weise dogmatisierend tätig, womit das Bedürfnis nach innerer Kontinuität zunächst sinkt. Aus Sicht der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen macht es jedoch keinen Unterschied, ob willkürliche Ergebnisse durch den EuGH oder durch andere Organe produziert werden. Insoweit schützt die auch im europäischen Recht bekannte Selbstbindung der Verwaltung362 auch die Mitgliedstaaten. c) Zusammenfassung Zusammenfassend wird für die Ultra-vires-Kontrolle folgender Prüfungsaufbau vorgeschlagen: 1. Inanspruchnahme von Hoheitsrechten durch eine Stelle der Union 2. Verstoß gegen eine Kompetenznorm (Schutznorm) zu Lasten der Bundesrepublik 3. Verfassungsrechtliche Beachtlichkeit des Verstoßes
360 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 146 ff.). 361 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 133) mit Verweis auf die kompetenzschützende Funktion. 362 H. D. Jarass, in: Jarass, GR-Charta, Art. 20 GR-Charta, Rn. 22.
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts
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– Verstoß gegen die formalen Anforderungen an die Kompetenzherleitung und/oder – Entleerung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und/oder – Tatsächliche oder logische Fehlerhaftigkeit und/oder – Missachtung mitgliedstaatlicher Rechtstraditionen und/oder – Verstoß gegen die Kontinuitätspflicht. Es wird demnach klar zwischen dem Normverstoß und seiner Beachtlichkeit getrennt. So sind beispielsweise logische Fehler in einem Urteil dann hinnehmbar, wenn sich die Union im Ergebnis aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts oder des Trägers der Integrationsverantwortung keine Kompetenzen angemaßt hat. Der Ultra-vires-Vorbehalt dient nicht abstrakt der Kontrolle der Qualität von Entscheidungen des EuGH, sondern spezifisch der Sicherung mitgliedstaatlicher Gestaltungsräume. Im Zentrum der verfassungsrechtlichen Beachtlichkeit stehen die formalen Anforderungen an die Argumentation des Gerichtshofs oder des handelnden Organs. Das Ergebnis der Auslegung ist im Grundsatz zweitrangig, solange eine ausreichende Achtung mitgliedstaatlicher Perspektiven und Interessen gegeben ist. Im Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und EuGH dienen die formalen Anforderungen auch der Sicherstellung des gerichtlichen Dialoges, welcher zur Zusammenarbeit im Gerichtsverbund unerlässlich ist.
II. Anpassung des verfassungsprozessualen Zugriffs Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Schöpfung des Anspruchs auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der Hoheitsgewalt aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG für jeden wahlberechtigten Bürger eine Möglichkeit geschaffen, (mittelbar) gegen Ultra-viresAkte vorzugehen.363 Damit ist die Verfassungsbeschwerde die zentrale Verfahrensart für die Aktivierung des Vorbehalts geworden. Nach hier vertretener Ansicht fehlt es dem Einzelnen jedoch an einer ausreichenden individuellen Betroffenheit in seinen Rechten durch eine unionale Kompetenzüberschreitung.364 Er kann sich vielmehr nur dann gegen ein Tun oder Unterlassen der deutschen Hoheitsgewalt zur Wehr setzen, wenn dieses ihn in einem Grundrecht selbst, gegenwärtig und unmittelbar365 verletzen könnte. Es besteht demnach kein Anspruch auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation jeder ausgeübten Hoheitsgewalt, sondern lediglich ein Anspruch darauf,
363
Siehe 2. Kap., C IV 2, S. 154 f. Siehe 2. Kap., C IV 2, S. 155 ff., insb. S. 159. 365 Fehlerhaft wäre es hier, die Unmittelbarkeit deshalb zu verneinen, weil die Verletzung nur aufgrund eines europäischen Akts zustande kommt. Vielmehr wirkt Unionsakt nur gemittelt über Maßnahmen der deutschen Hoheitsgewalt. Diese selbst wirkt jedoch unmittelbar. 364
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
nicht von unlegitimierter Hoheitsgewalt in seinen Rechten beschränkt zu werden. Demnach korrespondiert die objektiv-rechtliche Integrationsverantwortung der deutschen Verfassungsorgane nur dann mit einem subjektiven Recht des Einzelnen, wenn der Schutzbereich eines Grundrechts berührt ist.366 Hierbei kommt jedes Grundrecht in Betracht. Insbesondere kann auch unter Berufung auf die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG Verfassungsbeschwerde erhoben werden. Die prozessuale Einengung ist daher überschaubar. Außerhalb dieser Konstellationen kommt dadurch den weiteren Verfahrensarten eine größere Bedeutung zu. Hiervon unberührt bleibt das Recht des Einzelnen aus Art. 38 GG, gegen die Entleerung der Gesetzgebungsbefugnisse des Bundestags vorzugehen.367 Hierbei geht es jedoch nicht um die Kompetenzwidrigkeit des Handelns der Union, sondern um die Auswirkungen auf die Gestaltungsfähigkeit des deutschen Parlaments.
III. Klärung der Rechtsfolgen Die Konsequenzen der Feststellung eines Ultra-vires-Akts wurden in der Rechtsprechung bislang nur angedeutet. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass das Bundesverfassungsgericht noch keine Maßnahme als endgültig ultra vires einstufte und im Falle des PSPP der EZB die Möglichkeit zur Heilung einräumte. Unklarheiten hinsichtlich der Rechtsfolgen sind damit unter praktischen Gesichtspunkten zunächst tolerierbar. Nichtsdestoweniger stellt sich die Frage, welche Rechtsfolgen an ein Ultra-vires-Verdikt geknüpft sind: Werden nationale Umsetzungsmaßnahmen unwirksam? Dürften deutsche Organe den Unionsakt weiterhin berücksichtigen, oder ist ihnen dies verwehrt? 1. Umfang der Unwirksamkeit nationaler Umsetzungsakte Das Bundesverfassungsgericht äußert sich dahingehend wie folgt: „[Ein Ultra-vires-Akt] ist in Deutschland unanwendbar und entfaltet für deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte keine Wirkung. Diese dürfen weder am Zustandekommen noch an Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung von Ultra-viresAkten mitwirken.“368
Das Gericht nimmt also ein Verbot zur Umsetzung des Akts an. Es führt hierfür aber weder eine Rechtsgrundlage an noch äußert es sich zu den Konsequenzen für den Fall, dass eine Umsetzung bereits stattfand. 366 Anders das Bundesverfassungsgericht, für das die Integrationsverantwortung untrennbar mit Art. 38 GG verbunden ist, BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 97). Siehe hierzu 2. Kap., C IV 2, S. 154 f., 160. 367 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (171 f.). 368 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 234). Ähnlich BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 162).
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts
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Ein Umsetzungsverbot ergibt sich nicht ohne Weiteres aus der fehlenden Geltung von Ultra-vires-Akten im nationalen Recht. Diese führt zunächst dazu, dass es sich bei der Maßnahme um ein rechtliches Nullum handelt. Es fehlt an einem argumentativen Zwischenschritt von der Unbeachtlichkeit eines Akts zum Umsetzungsverbot. Daher sind die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zumindest unklar. In der Folge werden deshalb die Auswirkungen einer Ultra-vires-Feststellung genauer untersucht. a) Nationale Legislativakte Die Annahme eines Verbots der Umsetzung von Unionsakten nach dem feststellenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts würde zur materiellen Rechtswidrigkeit und damit zur Nichtigkeit eines späteren Parlamentsgesetzes führen.369 Diese Rechtsfolge wäre unter demokratischen Gesichtspunkten bedenklich: Möglicherweise ist das Vorhaben auch unabhängig von einer europäischen Regelung im Interesse des Gesetzgebers. Ein so verstandenes Umsetzungsverbot würde dem Parlament die Vornahme bestimmter Akte untersagen, unabhängig davon, ob diese materiell gegen Vorschriften des Grundgesetzes verstoßen.370 Zwar droht ohne ein Umsetzungsverbot, dass nationale Parlamente zwecks Konfliktentschärfung mit der Union Richtlinien gleichwohl umsetzen oder Begleitgesetze erlassen – dies geschieht dann aber im Bewusstsein der fehlenden rechtlichen Verpflichtung und ist daher unter demokratischen Gesichtspunkten unproblematisch.371 Die Annahme eines so verstandenen Umsetzungsverbots erscheint daher nicht haltbar. Es handelt sich dann aus der Perspektive des nationalen Rechts lediglich nicht mehr um eine Umsetzung, sondern um einen ausschließlich nationalen Hoheitsakt. Vor diesem Hintergrund ist nicht völlig klar, wie das Bundesverfassungsgericht den Begriff des Umsetzungsverbots definiert und in der Folge, wie es sich zu dem Problem verhält. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob bereits in Kraft getretene (vermeintliche) Umsetzungsgesetze mit Feststellung des Vorliegens eines Ultra-vires-Akts ex tunc rechtswidrig werden. So wären beispielsweise Umsetzungsgesetze von Richtlinien in der Folge nichtig. Zu dieser Fragestellung existiert bislang nur wenig juristische Forschung.372 Jedoch stellt sich ein vergleichbares Problem bei 369 So jedenfalls nach dem ganz überwiegend vertretenen Nichtigkeitsdogma, H. Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 54. EGL. Juni 2018, § 78 BVerfGG, Rn. 7. 370 Wie hier auch R. Hutka, Gemeinschaftsrechtsbezogene Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der deutschen Verwaltung gegenüber Rechtsnormen nach europäischem Gemeinschaftsrecht und nach deutschem Recht, Fn. 1420. 371 Ebenso F. C. Mayer, EuR 2014, 473 (481). Anders wohl schon BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (188). 372 Zu verweisen ist aber auf R. Hutka, Gemeinschaftsrechtsbezogene Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der deutschen Verwaltung gegenüber Rechtsnormen nach europäischem Gemeinschaftsrecht und nach deutschem Recht, S. 385 f.; mit Einschränkungen auch J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 174 ff.
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
der Nichtigkeitserklärung von Richtlinien wegen formeller Rechtswidrigkeit durch den EuGH: Hat der nationale Gesetzgeber hier bereits Umsetzungs- oder Begleitgesetze erlassen, ist auch hier das Schicksal dieser Akte fraglich.373 Ein grundlegender Unterschied zur Ultra-vires-Konstellation besteht nicht. Für die fortwährende Gültigkeit deutscher legislativer Umsetzungsakte streitet zunächst eine formalistische Betrachtung: Der deutsche Gesetzgeber374 hat formell ordnungsgemäß ein materiell rechtmäßiges Gesetz beschlossen und damit selbst die notwendige demokratische Legitimation vermittelt.375 Gegen diese Position werden jedoch Vorbehalte vorgebracht: Ein nationaler Gesetzgeber, welcher von einer Verpflichtung zur Umsetzung oder Operationalisierung von Unionsrecht ausgeht, stellt den Inhalt dieses Grundakts nicht erneut zur Debatte. So kamen in der Vergangenheit bereits Gesetze zustande, die dem eigentlichen Willen der parlamentarischen Mehrheit zuwiderliefen.376 Insofern könnte es an einem parlamentarischen Willensbildungsprozess fehlen, der ausreichende demokratische Legitimation vermittelt. Tritt der nationale Gesetzgeber ähnlich einem Erfüllungsgehilfen auf, so verstoßen dieser Ansicht nach seine Gesetze bei Wegfall des Grundakts gegen das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG und sind damit materiell verfassungswidrig.377 Weiterhin wird eingewandt, es fehle entsprechenden Gesetzen an einer ordnungsgemäßen Begründung, da hier regelmäßig auf die Verbindlichkeit des Unionsrechtsakts verwiesen wird.378 Zuletzt wird vorgetragen, ohne wirksame unionsrechtliche Grundlage fehle es dem nationalen Gesetzgeber an einer „gemeinschaftsrechtlichen Ermächtigung“ zur Verabschiedung eines Gesetzes.379
373 Eine Übersicht der vertretenen Meinungen findet sich bei WD-BTs, Folgen der Nichtigkeit eines europäischen Rechtsaktes für den mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt, S. 4 ff. 374 Dies bezieht sich ebenso auf die Landesparlamente bei Berührung der Länderzuständigkeit. 375 Hierauf stützen sich J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 175 f.; I. Dervisopoulos, Nichtigkeitsklagen, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, § 7, Rn. 124; R. Hutka, Gemeinschaftsrechtsbezogene Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der deutschen Verwaltung gegenüber Rechtsnormen nach europäischem Gemeinschaftsrecht und nach deutschem Recht, S. 385; M. Röttinger, EuZW 1993 (120). 376 M. Payandeh, DVBl 2007, 741 (744) mit konkretem Beispiel. Kritisch zur „unpolitischen Folgsamkeit“ des Gesetzgebers auch U. Hufeld, Anwendung des europäischen Rechts in Grenzen des Verfassungsrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 215, Rn. 12. 377 M. Payandeh, DVBl 2007, 741 (743 f.). 378 M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 20. EGL. August 2002, Art. 249 EGV, Rn. 186. Mittlerweile hat dieser jedoch diese Ansicht aufgegeben, siehe M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 48. EGL. August 2012, Art. 288 AEUV, Rn. 171. 379 R. Scholz, Europäisches Gemeinschaftsrecht und innerstaatlicher Verfassungsrechtsschutz, in: Friauf/Scholz (Hrsg.), Europarecht und Grundgesetz, S. 53, 64.
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts
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Der letztgenannte Einwand ist zumindest in Ultra-vires-Konstellationen völlig fernliegend, denn er verkehrt die Logik der abgeleiteten Herrschaftsmacht in ihr Gegenteil: Der nationale Gesetzgeber ist nicht auf eine Ermächtigung durch die Union angewiesen, sondern umgekehrt die Union auf Ermächtigungen nach Art. 5 EUV.380 Nur dort, wo der Union eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz nach Art. 3 Abs. 1 AEUV übertragen wurde, darf der nationale Gesetzgeber nicht mehr eigenständig tätig werden – an einer solchen Kompetenz fehlt es in Ultra-vires-Situationen aber gerade. Sofern vorgebracht wird, eine hinsichtlich der Umsetzungsverpflichtung fehlerhafte Gesetzesbegründung führe zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, wird die geringe Bedeutung verkannt, die das Grundgesetz grundsätzlich Gesetzesbegründungen beimisst. Diese sind im Regelfall nicht verfassungsrechtlich vorgeschrieben.381 Zudem entsteht für den Rechtsanwender hier keine inakzeptable Konfusion über den materiellen Gehalt des Gesetzes. Doch auch gegen den Einwand mangelnder demokratischer Legitimation lassen sich gewichtige Gegenargumente anbringen: Auch wenn der nationale Gesetzgeber sich für unionsrechtlich gebunden hält, so ist doch jeder Abgeordnete in seinem individuellen Abstimmungsverhalten frei. Zudem sind Bundestag und Bundesrat als Träger der Integrationsverantwortung in der Lage, vor dem Bundesverfassungsgericht gegen Ultra-vires-Akte vorzugehen. Ihnen steht demnach im Falle einer möglichen Kompetenzüberschreitung ein alternatives Verhalten zur Umsetzung zur Verfügung. Einer dennoch vorgenommenen Umsetzung könnte somit ein vorsätzliches Element hinsichtlich des Ergebnisses beigemessen werden. Zudem stellt sich die Frage, wie jene Fälle unterschieden werden sollen, in denen der nationale Gesetzgeber das Ergebnis des Unionsakts mitträgt von solchen, in denen eine Umsetzung nur widerwillig geschieht. Sofern eine Umsetzung inhaltlich gewollt ist, wäre gerade der Wegfall der Norm demokratisch bedenklich. Eine „kollektive Motivforschung“ wäre mit erheblichen Unsicherheiten verbunden,382 zumal hier auch innerhalb der Parlamentsmehrheit unterschiedliche Auffassungen bestehen können. Es besteht aber gerade kein Automatismus dergestalt, dass ein empirisches Fehlurteil des Gesetzgebers zu einer Verfassungswidrigkeit des Gesetzes führen müsste.383 Zuletzt hätte die ex tunc Nichtigkeit auch eine Vielzahl von praktisch bedenklichen Effekten: Würde man die Umsetzungsgesetze zu Richtlinien als nichtig ansehen, wären zahlreiche ausführende Exekutiv- und Judikativakte anfechtbar. Dies bringt ein erhebliches Maß an Verwaltungsaufwand und Rechtsunsicherheit bei der Bewertung von Einzelfällen mit sich. Offen bliebe zudem, wie mit den 380
Ähnlich J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 177. Siehe hierzu K. Graßhof, in: Graßhof, Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 219. EGL. Februar 2023, Vorb. zu den Art. 70 ff., Rn. 9 m.w.N. 382 WD-BTs, Folgen der Nichtigkeit eines europäischen Rechtsaktes für den mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt, S. 6. 383 K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, S. 950. 381
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
verbleibenden deutschen Gesetzen und Rechtsverordnungen umzugehen wäre, die später in Kenntnis der unionsrechtlich scheindeterminierten Normen beschlossen wurden. So könnte der ex tunc Wegfall von Artikelgesetzen zu einem unübersichtlichen oder unvollständigen Rumpf-Gesetz führen.384 Vorzugswürdig ist hier eine Lösung, nach der das Parlament aktiv das Gesetz aufheben kann, nachdem das Vorliegen eines Ultra-vires-Grundakts festgestellt wurde.385 Die Unbeachtlichkeit eines Unionsrechtsakts durch Ultra-vires-Feststellung führt in jedem Fall zu der vollumfänglichen Anwendbarkeit des deutschen Rechts: Es gibt kein wirksames Unionsrecht, das nationale Regelungen verdrängen könnte. Dementsprechend hat sich das deutsche Umsetzungsgesetz auch an dem deutschen höherrangigen Recht auszurichten. Daher muss auch der Verstoß gegen deutsche Grundrechte in Betracht gezogen werden.386 Insoweit kann die Rüge eines europäischen Grundaktes als ultra vires dazu dienen, eine Überprüfung des Sachverhalts nach Maßgabe der Grundrechte des Grundgesetzes zu ermöglichen. b) Nationale Exekutiv- und Judikativakte Für die deutschen Gerichte und Behörden stellt sich die Situation anders dar. Sie müssen ihre Entscheidungen auf Basis geltender Normen treffen. Insofern können sie ihre Maßnahmen nicht unmittelbar auf den Ultra-vires-Akt stützen. Das Verbot der Umsetzung, Vollziehung und Operationalisierung von Ultra-viresAkten ist insoweit Ausfluss des Vorbehalts des Gesetzes beziehungsweise der richterlichen Bindung an Recht und Gesetz. Dennoch ist es den Exekutiv- und Legislativstellen nicht verboten, auf Basis des geltenden deutschen Rechts zu jenen Ergebnissen zu kommen, die dem ultra vires ergangenen Akt entsprechen. Bereits getroffene Maßnahmen leiden unter einer fehlenden Rechtsgrundlage: Das Ultra-vires-Urteil erkennt die Rechtslage nicht nur mit Wirkung für die Zukunft, sondern stellt die fehlende Geltung des Unionsakts im nationalen Recht ex tunc fest. Inwieweit derart rechtswidrige Maßnahmen wirksam bleiben oder anfechtbar sind, richtet sich nach den allgemeinen Regeln zur Bestands- beziehungsweise zur Rechtskraft.387 384 WD-BTs, Folgen der Nichtigkeit eines europäischen Rechtsaktes für den mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt, S. 7. 385 Ebenso J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 176; WDBTs, Folgen der Nichtigkeit eines europäischen Rechtsaktes für den mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt, S. 6 f. A.A. M. Payandeh, DVBl 2007, 741 (745). Eine vermittelnde Lösung könnte in der bloßen Unvereinbarerklärung entsprechender Gesetze durch das Bundesverfassungsgericht liegen, siehe J. Blüggel, Unvereinbarerklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht. 386 R. Hutka, Gemeinschaftsrechtsbezogene Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der deutschen Verwaltung gegenüber Rechtsnormen nach europäischem Gemeinschaftsrecht und nach deutschem Recht, S. 386. 387 Ebenso wohl C. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 264 AEUV, Rn. 5.
B. Vorschläge für eine Fortentwicklung des Vorbehalts
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Soweit Gerichte und Behörden nationales Recht anwenden, welches auf Grundlage des ausbrechenden Unionsrechts ergangen ist, so besteht kein Problem. Die grundsätzliche Verfassungskonformität von Umsetzungs- und Begleitgesetzen zu Ultra-vires-Akten führt, vorbehaltlich der sonstigen Voraussetzungen, zur Rechtmäßigkeit der Gesetzesanwendung. Im Bereich dieses mittelbaren mitgliedstaatlichen Vollzugs von Unionsrecht hat die Ultra-vires-Feststellung demnach keine direkten Konsequenzen.388 Entsprechend kann sich ein Betroffener gegen derartige Exekutivmaßnahmen oder Urteile auch nicht mit der Berufung auf eine Kompetenzüberschreitung der Unionsorgane zur Wehr setzen. c) Konsequenzen für das Verfassungsprozessrecht Die gefundenen Ergebnisse wirken sich unmittelbar auf das Verfassungsprozessrecht aus: Ein Hoheitsakt ist nur dann ein tauglicher Beschwerdegegenstand, wenn er den Antragsteller möglicherweise in seinen Rechten verletzt. Ist der nationale Akt, der im Zusammenhang mit dem Unionsakt ergeht, nicht rechtswidrig, liegt eine Rechtsverletzung nicht vor – eine Beschwerde wäre dahingehend unbegründet. Ein Bürger wird durch ein Gesetz nicht in seinen Grundrechten verletzt, nur weil dieses auf einer ultra vires ergangenen Richtlinie beruht. Eine hierauf gestützte Verfassungsbeschwerde hätte also keinen Erfolg. Gleiches gilt für ein Vorgehen gegen eine Anwendung eines solchen Gesetzes durch die Verwaltung oder die Gerichte. In der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts kann sich der Bürger dennoch gegen den Ultra-vires-Akt zur Wehr setzen, indem er die unterlassene Wahrnehmung der Integrationsverantwortung durch Verfassungsorgane und mithin eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 38 Abs. 1 GG rügt. Da bislang nicht klar ist, ob das Bundesverfassungsgericht von einer Nichtigkeit der Umsetzungsgesetze ausgeht, sollte auch in Konstellationen, in denen eine subjektive Betroffenheit durch den Ultra-vires-Akt vorliegt, immer eine Verletzung des Rechts auf Demokratie gerügt werden. Nach hier vertretener Auffassung kommt dem Bürger in den beschriebenen Konstellationen jedoch mangels Verletzung in eigenen Rechten keine Beschwerdemöglichkeit zu. 2. Anpassungen der Handlungspflichten deutscher Organe Das Ultra-vires-Verdikt beeinflusst nicht nur die Wirksamkeit von Rechtsakten. Es stellt auch verbindlich die Notwendigkeit eines Eingreifens der Verfassungsorgane aufgrund ihrer Integrationsverantwortung fest. Diese Handlungs- und Unterlassungspflichten bestehen zwar schon zuvor und sind insbesondere deshalb ein prozessualer Anknüpfungspunkt des Ultra-vires-Verfahrens.389 Nichts-
388 389
J. U. Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, S. 179 f. Siehe 2. Kap., C III 3, S. 139 ff.
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
destoweniger liegt erst mit dem Urteil Gewissheit für die Verantwortungsträger vor. Auf den ersten Blick scheint die Ultra-vires-Problematik mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts beseitigt: Der Unionsakt entfaltet mit Feststellung seiner fehlenden Geltung in der deutschen Rechtsordnung keine Wirkungen mehr im deutschen Recht. Damit besteht prima facie für die sonstigen Verfassungsorgane keine Notwendigkeit und somit keine Pflicht mehr, selbst tätig zu werden. a) Pflicht zur Wiederherstellung verfassungskonformer Zustände Im PSPP-Urteil machte das Bundesverfassungsgericht jedoch deutlich, dass die Pflicht der Verfassungsorgane zur Beseitigung der Ultra-vires-Lage fortbesteht: Bundesregierung und Bundestag seien aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken. Sie müssten ihre Rechtsauffassung gegenüber der EZB deutlich machen oder auf sonstige Weise für die Wiederherstellung vertragskonformer Zustände sorgen.390 Die (negative) Integrationsverantwortung erschöpft sich demnach nicht im Schutz der deutschen Rechtsordnung vor der Wirksamkeit von Ultra-viresAkten, sondern ist auch auf eine Harmonisierung der Rechtsordnungen gerichtet.391 Wenn das Bundesverfassungsgericht vom Ziel der „Wiederherstellung vertragskonformer Zustände“ spricht, meint dies, unter Achtung der dualistischen Prämisse des Gerichts, nichts anderes als eine Beseitigung des Widerspruchs zwischen der vom EuGH konkretisierten Unionsrechtsordnung und den Grenzen des vom Bundesverfassungsgericht konkretisierten Integrationsprogramms. Diese Harmonisierungsaufgabe ist genuin europafreundlich: Die Beseitigung des Rechtskonflikts führt dazu, dass die Bundesrepublik ihren unionsrechtlichen Verpflichtungen vollumfänglich nachkommen und sich somit als verlässliches Mitglied in die Union einbringen kann. Auch deshalb greift die Kritik an der vornehmlich negativ gefassten Integrationsverantwortung zu kurz.392 Die bereits aufgezählten Möglichkeiten zur Wahrnehmung der Integrationsverantwortung393 gelten im Grundsatz ebenso nach einem Urteilsspruch. Lediglich eine Verhinderung der Entstehung des Akts wird regelmäßig nicht mehr möglich sein, vielmehr kann allenfalls seine Aufhebung angestrebt werden. 390
BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 232), Hervorhebung durch den Verfasser. 391 Siehe M. Krismann, Die Entwicklung der Ultra-vires-Kontrolle, in: Müller/Dittrich (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bd. 6, S. 429, 439. 392 Siehe 2. Kap., C III 3 a), S. 141 f. Diese europafreundliche Funktion der Kontrolle greift auch GA Tanchev auf, EuGH, Schlussanträge des GA v. 17.12.2020 – C-824/18 (Ernennung von Richtern zum Obersten Gerichtshof), ECLI:EU:C:2020:1053 (Rn. 84). Er hält aber, insoweit unionsrechtlich konsequent, die Erklärung der Unwirksamkeit des Ultra-vires-Akts für rechtswidrig. 393 Siehe 2. Kap., C III 3 c), S. 144 ff.
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aa) Problemstellung: Grenzen der Gestaltungsfähigkeit der Verfassungsorgane Das Bundesverfassungsgericht hat sich jedoch bislang nicht mit den Grenzen der Leistungsfähigkeit des Konzepts der Integrationsverantwortung auseinandergesetzt. Bereits in einer abweichenden Meinung zum OMT-Beschluss merkte die Richterin Lübbe-Wolff an, es bestehe die Gefahr für „große Wüstenwanderungen, die zu keiner Quelle führen“.394 Weder erwähne die Senatsmehrheit, ob die potenziellen Maßnahmen kumulativ, alternativ oder sukzessiv vorzunehmen seien, noch sei eine bestimmte Reihenfolge vorgegeben. Zudem stellt sich die in der abweichenden Meinung nicht aufgeworfene Frage nach der Effektivität der zur Auswahl stehenden Maßnahmen.395 Nach hier vertretener Auffassung würde die Vorgabe einer Reihenfolge der gebotenen Maßnahmen weder der Unabhängigkeit der Verfassungsorgane gerecht noch ist sie in der Sache notwendig: Die Verfassungsorgane werden aus eigenem Antrieb jene Maßnahmen ergreifen, die die geringsten politischen Kosten mit sich bringen, also vor allem jene, die keine oder wenige Verwerfungen mit Unionsorganen oder anderen Mitgliedstaaten nach sich ziehen.396 Nur wenn eine Verhaltensweise keine Aussicht auf Erfolg hat, dürfte wohl eine stärker eskalierende Maßnahme gewählt werden. Auf der politischen Eskalationsleiter existiert so eine Vielzahl von Stufen, bevor die Ultima Ratio, der Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union, ergriffen werden muss. Problematisch hieran ist, dass diese vorrangig zu wählenden Maßnahmen keineswegs Erfolg garantieren. Dadurch wird die Austrittsverpflichtung zu einem nicht ausgeschlossenen Szenario. Eine Verhinderung oder eine Rücknahme eines Ultra-vires-Akts sind dann schwer zu erreichen, wenn die handelnde Unionsstelle nicht auf die Mitwirkung eines deutschen Organs angewiesen ist. Sofern ein Organ nicht aus mitgliedstaatlichen Vertretern zusammengesetzt ist oder der deutsche Vertreter schlicht überstimmt werden kann, ist man auf das Finden politischer Kompromisse angewiesen.397 Als Hindernis hierzu dürfte sich ironischerweise auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts selbst erweisen. Wissen Verhandlungspartner von einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung der deutschen Seite zur Erwirkung eines bestimmten Ergebnisses, so schwächt dies die deutsche Verhandlungsposition. Kaum annehmbare Bedingungen bei der Suche nach Kompromissen könnten hier die Folge sein. 394
Abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff zu BVerfG, Beschl. v. 14.01.2014 – 2 BvR 2728/13 (OMT-Beschluss), BVerfGE 134, 366 (Rn. 128). 395 Kritisch beispielsweise C. Calliess, NVwZ 2020, 897 (898). 396 Siehe zu der Offenheit der Handlungsoptionen auch 2. Kap., C III 3 c) bb), S. 147. Ausführlich H. Gött, EuR 2014, 514 (522 ff.). 397 Aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts erfolgreich war zum Beispiel die Aufnahme diverser klarstellender Protokollerklärungen im Beschluss des Rates über die vorläufige Anwendung von CETA, die die Annahme eines Ultra-vires-Akts ausschließen, siehe BVerfG, Beschl. v. 09.02.2022 – 2 BvR 1368/16 (CETA-Beschluss III), NVwZ 2022, 541, Rn. 172 ff.; siehe grundsätzlich zur Tragweite dieses Beschlusses M. Ruffert, JuS 2022, 467.
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
Nahezu ausgeschlossen ist die Möglichkeit einer politischen Verhinderung oder Beseitigung des Akts dann, wenn die handelnde Unionsstelle politische Unabhängigkeit genießt, wie dies bei der EZB und dem EuGH der Fall ist.398 Hier kann eine Einwirkung nur in dem Rahmen gefordert werden, den das Unionsrecht als zulässig erachtet. In den die Anleihekaufprogramme betreffenden Verfahren stellte sich daher die Frage, wie die Verfassungsorgane überhaupt ihre Integrationsverantwortung wahrnehmen konnten. So kann die im PSPP-Urteil geforderte Darlegung einer Rechtsauffassung gegenüber der EZB noch als akzeptabel angesehen werden399 – jegliche Formen des Ausübens politischen Drucks sind jedoch nach Art. 130, Art. 282 Abs. 3 AEUV unzulässig. Praktisch keinerlei Einfluss haben die deutschen Verfassungsorgane auf den EuGH.400 Misst dieser beispielsweise einer Verordnung in unvertretbarer Weise einen bestimmten Inhalt bei, so fehlt es deutschen Staatsorganen an legitimen Mitteln der Einwirkung.401 Zudem besteht nicht die Möglichkeit einer Klage vor dem Gerichtshof gegen dessen eigenes Urteil. Hier sind also die Handlungsoptionen für die Verfassungsorgane äußerst beschränkt: Gelingt keine Änderung der Rechtsgrundlage, entweder in Gestalt eines veränderten Sekundärrechtsakts oder einer Vertragsänderung, dann droht der Austritt der Bundesrepublik aus der Union. Das primäre Effektivitätsproblem der Integrationsverantwortung ist daher weniger die fehlende Möglichkeit zur Harmonisierung der Rechtsordnungen, sondern zur gleichzeitigen Mitwirkung an der Union. bb) Lösungsvorschlag: einseitige Übertragung von Hoheitsrechten Eine Lösung dieses Effektivitätsproblems könnte in der Schaffung einer zusätzlichen Handlungsmöglichkeit für den Integrationsgesetzgeber liegen. Die Bundesrepublik könnte der Union einseitig die fehlenden Hoheitsrechte übertragen und somit das komplexe und schwierig umzusetzende Verfahren zur Änderung der Verträge vermeiden.402 Ohne die Notwendigkeit einer Zustimmung der an398
Für die EZB siehe z.B. G. Krings, ZRP 2020, 160 (160). Wie hier H. Siekmann, EuZW 2020, 491 (493); S. Simon/H. Rathke, EuZW 2020, 500 (502). Ablehnend I. Pernice, EuZW 2020, 508 (510); B. Wegener, EuR 2020, 347 (353 f., 359). Kritisch C. Calliess, NVwZ 2020, 897 (903); J. Dietze/M. Kellerbauer u.a., EuZW 2020, 525 (528). Ganz grundsätzlich darf aber politische Unabhängigkeit nicht mit Unabhängigkeit von rechtlicher Kontrolle gleichgesetzt werden, siehe P. Kirchhof, NJW 2020, 2057 (Rn. 29 f.). 400 Lediglich im Vorfeld kann die Bundesregierung im Rahmen einer Erklärung versuchen, den Gerichtshof von einem bestimmten Standpunkt zu überzeugen. 401 R. Hofmann/A. Heger, EuGRZ 2020, 176 (186). Die Verfasser gehen davon aus, Fälle einer eigenen Kompetenzüberschreitung des EuGH, ohne vorheriges Ultra-vires-Handeln einer anderen Stelle seien fernliegend. Die Honeywell-Konstellation, bei der eine intra-viresRichtlinie im Verdacht stand, ultra vires ausgelegt worden zu sein, zeigt das Gegenteil. 402 In diese Richtung argumentiert C. D. Classen, BT, Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union, Stellungnahme zum Urteil des BVerfG vom 5.5.2020 für den Europaausschuss des Deutschen Bundestages, S. 12. Deutlicher noch in der mündlichen An399
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deren Mitgliedstaaten stünde so ein schnelleres und effektiveres Mittel zur Wahrnehmung der Integrationsverantwortung zur Verfügung. Ein derartiges Vorgehen wäre nicht beispiellos: Am 25.05.1993 hat der UNSicherheitsrat mit der Resolution 827(1993) die Einrichtung eines internationalen Tribunals zur Bestrafung von Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen für Jugoslawien beschlossen. Die Rechtsgrundlage hierfür war jedoch äußerst fragwürdig. Die Einrichtung eines Strafgerichts wurde als Maßnahme der Friedenssicherung im Sinne des siebten Kapitels der UN-Charta verstanden. Jedoch dürfte der Zweck eines Gerichts weniger in der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Frieden zu finden sein als in der sozialen Ordnungsfunktion nach Erreichen des Friedens.403 Angesichts dieser Problematik hielt es die Bundesregierung für erforderlich, diese Resolution ex post zu legitimieren. Das Jugoslawien-Strafgerichtshof-Gesetz404 (YUGStrGHG) sollte ausweislich der Gesetzesbegründung nicht nur notwendige Ausführungsbestimmungen enthalten, sondern darüber hinaus auch die erforderlichen Hoheitsrechte nach Art. 24 Abs. 1 GG einräumen.405 Diese Praxis stieß zum damaligen Zeitpunkt, soweit ersichtlich, nicht auf Widerspruch.406 Mit Blick auf Ultra-vires-Konstellationen erwägt das Bundesverfassungsgericht diese Möglichkeit dennoch nicht. Ausdrücklich lehnt es die Möglichkeit der Erteilung eines Mandatsgesetzes ab, wonach der deutsche Vertreter im Rat in der Form eines Gesetzes ermächtigt würde, dem Ultra-vires-Handeln zuzustimmen.407 Auch dürfe der Gesetzgeber die Bundesregierung nicht dazu ermächtigen, einem Ultra-vires-Akt von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union zuzustimmen.408 Damit wurde die hier vertretene Ansicht zwar nicht expressis verbis abgelehnt – offensichtlich steht das Bundesverfassungsgericht einem einseitigen mitgliedstaatlichen Vorgehen aber ablehnend gegenüber. Insbesondere da es nur die tendenziell impraktikable Möglichkeit einer Vertragsänderung nennt,409 nicht aber
hörung, siehe Deutscher Bundestag,Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union: Stenografisches Protokoll der 64. Sitzung, abrufbar unter https://www.bundestag.de/ resource/blob/698342/eab526d48cdca2f7345859ed507c70bf/protokoll-data.pdf (zuletzt geprüft am 20.04.2023) S. 15. 403 Detailliert bei B. Graefrath, NJ 1993, 433 (434 f.). 404 Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien vom 10.04.1995. 405 Entwurf des YUGStrGHG, BT-Drs. 13/57, S. 7. 406 Sogar als Gegenbeispiel zur unzulässigen Aufdrängung von Hoheitsrechten nutzt O. Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 24 GG, Rn. 31 den Fall. 407 BVerfGE 157, 332; BVerfG, Urt. v. 02.03.2021 – 2 BvE 4/16 (CETA-Mandatsgesetz), BVerfGE 157, 1 (Rn. 65). Allgemein zu diesem Urteil siehe B. Riedl, EuR 2020, 631. 408 BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 (Bankenunion), BVerfGE 151, 202 (Rn. 144). 409 Z.B. BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 170).
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Drittes Kapitel: Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts und Fortentwicklung
die der einseitigen Übertragung von Hoheitsreichten, ist davon auszugehen, dass es wohl von der Unmöglichkeit des einseitigen Vorgehens ausgeht. Entsprechende Bedenken können sich gleichermaßen aus dem Unionsrecht und dem nationalen Verfassungsrecht ergeben. Nach Art. 5 Abs. 2 EUV sind die Einzelermächtigungen vertraglich einzuräumen. Dies spricht zunächst gegen eine Hoheitsübertragung nur durch Gesetz. Allerdings ist aus Sicht des EuGH die streitige Kompetenz in den Verträgen bereits eingeräumt worden. Er müsste demnach die Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts einnehmen, um in dem Gesetz eine Hoheitsübertragung zu sehen. Ansonsten handelt es sich aus Sicht des Unionsrechts um einen rein deklaratorischen Akt, dem Art. 5 Abs. 2 EUV nicht im Wege steht. Daher liegt auch keine teils für unzulässig gehaltene410 Aufdrängung von Hoheitsrechten vor. Die Auflösung des Jurisdiktionskonflikts dient letztlich der Effektivität des Unionsrechts und wird daher von diesem nicht verhindert. Auch unter Zugrundelegung eines klassischen völkerrechtlichen Maßstabs dürfte nichts gegen die einseitige Übertragung sprechen: Es existiert keine völkerrechtliche Norm, die eine Öffnung der nationalen Hoheitsordnung gegenüber fremden Akten verbietet.411 Insbesondere begründet ein solches Verhalten keine Verpflichtungen für den begünstigten Staat. Das Grundgesetz verlangt dem Wortlaut nach keinen Vertrag für die Einräumung von Hoheitsrechten. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG spricht lediglich von einer Übertragung „durch Gesetz“. Zwar müsste hier wohl analog Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG der verfassungsändernde Gesetzgeber tätig werden,412 dennoch bedürfte es nicht der Mitwirkung der anderen Mitgliedstaaten oder der Union. Betrachtet man den Schutzzweck der Ultra-vires-Kontrolle, so spricht nichts gegen dieses Vorgehen: Die demokratische Legitimation der supranationalen Gewalt wird durch den deutschen Gesetzgeber vermittelt. Die Beteiligung der anderen Mitgliedstaaten erfüllt hierfür keine Funktion. Mit Blick auf die Souveränität der Bundesrepublik ist ein Vorgehen, bei dem man nicht auf die Zustimmung anderer Hoheitsträger angewiesen ist, sogar vorzugswürdig. Auch aus der Natur der Hoheitsübertragung lassen sich keine überzeugenden Einwände gegen ein einseitiges Vorgehen anbringen. Nur wenn man sie, entgegen der heute ganz herrschenden Meinung, als einen quasi-dinglichen Akt ansähe,413 wäre die Notwendigkeit einer Zustimmung zur Kompetenzübertragung ebenso
410 M. Niedobitek, Das Recht der grenzüberschreitenden Verträge, S. 425 f.; R. Streinz, in: Sachs, GG, Art. 24 GG, Rn. 24; O. Rojahn, in: von Münch/Kunig, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 24 GG, Rn. 31. Eine entsprechende Aussage findet sich in H. P. Aust, in: von Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 24 GG nicht mehr. 411 Insoweit kann sich die Bundesrepublik hier auf das Lotus-Prinzip berufen, siehe StIGH, Urt. v. 07.09.1927 (Lotus-Entscheidung), P.C.I.J. (ser. A) No. 10 1927 (Rn. 44). 412 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.02.2020 – 2 BvR 739/17 (Einheitliches Patentgericht), BVerfGE 153, 74 (Rn. 97); J. G. v. Luckner, EuR 2021, 209 (216 ff.). 413 Siehe 2. Kap., C III 1, S. 134 f.
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zu bejahen wie die Notwendigkeit einer Annahme für eine wirksame Eigentumsübertragung. Versteht man die Einräumung von Hoheitsrechten hingegen als Öffnung der eigenen Rechtsordnung gegenüber fremden Hoheitsakten, so wird dieser Zustimmungsakt obsolet. Es liegt dann in den Händen der EU oder der internationalen Organisation, inwieweit diese Öffnung genutzt wird. Doch selbst wenn man von der Notwendigkeit einer Annahme ausginge, so würde dies nur einen annehmenden Akt der Union voraussetzen, nicht aber eine Vertragsänderung unter Beteiligung der anderen Mitgliedstaaten. Die Verfassungsorgane verfügen damit im Kollektiv über eine realistische Möglichkeit, ihre Integrationsverantwortung wirksam wahrzunehmen, ohne dass ein Austritt aus der Union erforderlich wäre. Eine Harmonisierung der nationalen und der unionalen Rechtslage kann so zwar nur für die Zukunft erreicht werden – mehr ist aber aus Sicht der Integrationsverantwortung nicht erforderlich: Auch das vom Bundesverfassungsgericht geforderte Einwirken auf die EZB zur Nachreichung von Darlegungen zur Verhältnismäßigkeitsprüfung ändert nichts an der vorübergehenden Ultra-vires-Qualität des PSPP. Die Integrationsverantwortung ist demnach nicht auf die Beseitigung vergangener Kompetenzüberschreitungen, sondern auf ihre Beendigung in der Zukunft ausgerichtet. Sie verlangt daher keine Befassung mit abgeschlossenen Sachverhalten.414 cc) Ultima Ratio: der Austritt aus der EU Durch die zusätzliche Handlungsoption, die auch als Reaktion auf Kompetenzüberschreitungen unabhängiger Organe genutzt werden kann, sinkt die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme der Ultima Ratio. Dennoch ist diese nicht völlig verzichtbar: Ohne diese Möglichkeit wäre die Bundesrepublik bei einem Scheitern des Verhinderns des Ultra-vires-Akts zur nachträglichen Einräumung von Hoheitsrechten gezwungen. Die Integrationsverantwortung liefe leer, wenn sie den nationalen Gesetzgeber zum Nachvollzug europäischer Maßnahmen verpflichtete und somit die Hoheit über den Integrationsprozess faktisch auf die supranationale Ebene verlagerte. Der drohende Austritt aus der EU wirkt deshalb auch als abschreckender Faktor auf die Unionsorgane. Gleichzeitig diszipliniert er die deutschen Verfassungsorgane zur effektiven Wahrnehmung ihrer Integrationsverantwortung: Sollten diese aus politischen Gründen Verhandlungen und mögliche Konflikte mit Vertretern der Union und der anderen Mitgliedstaaten scheuen, droht mit der Austrittsverpflichtung ein äußerst unattraktives Szenario.415 Mit einem Austritt aus der Union endet nach Art. 50 Abs. 3 Satz 1 EUV die vertragliche Bindung des Mitgliedstaats.416 Wie das Beispiel des Vereinigten Kö414 Insoweit lässt sich eine Parallele zur Nichtigkeitsklage vor dem EuGH ziehen, siehe U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 65. EGL. August 2018, Art. 258 AEUV, Rn. 1 ff. 415 Siehe auch 2. Kap., C III 3 c) bb), S. 148 f. 416 Siehe zu den Rechtsfolgen A. Thiele, EuR 2016, 281 (301 f.).
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nigreichs zeigte, handelt es sich dabei jedoch um keinen einfachen oder kurzfristig zu bewerkstelligenden Prozess. Zudem widerspricht er dem eindeutigen Integrationsauftrag des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG. Insofern stellt sich die Frage, ob sich ein Austritt überhaupt normativ rechtfertigen ließe.417 Teils wird vertreten, ein Austritt der Bundesrepublik aus der Europäischen Union sei stets verfassungswidrig.418 Diese Ansicht verkennt jedoch, dass die Integrationsverpflichtung an die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG geknüpft ist. Sofern eine supranationale Organisation diese Grundsätze nicht erfüllt, ist die Bundesrepublik nicht zu einer Beteiligung an dieser konkreten Gemeinschaft verpflichtet. Zwar dürfte auch bei einer offensichtlichen beziehungsweise verfassungsrechtlich beachtlichen Kompetenzüberschreitung die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit der Union nicht grundsätzlich infrage gestellt sein419 – jedoch zeigt die Struktursicherungsklausel bereits, dass die Integrationsverpflichtung in der EU nicht ohne Bedingungen gilt. Zudem geht die Integrationsverpflichtung anderem Verfassungsrecht nicht vor.420 Insbesondere verdrängt sie nicht die von Art. 79 Abs. 3 GG besicherten Grundsätze der Art. 1 und 20 GG. Hierin liegt die Rechtfertigung einer Austrittsverpflichtung in Ultra-vires-Konstellationen: Ist die Erfüllung des Integrationsauftrags nur unter Duldung einer andauernden Souveränitäts- und Demokratieverletzung möglich, so ist dieser normative Konflikt durch einen Austritt aus der Union aufzulösen. Sofern allerdings andere Möglichkeiten zur Konfliktvermeidung bestehen, sind diese zu nutzen. Die Ultima-Ratio-Eigenschaft des Austritts ist demnach nicht nur ein Ausfluss politischer Vernunft, sondern auch rechtlicher Natur. Steht der Bundesrepublik beispielsweise eine ebenso wirksame Minusmaßnahme, wie der Austritt lediglich aus der Währungsunion zur Verfügung, ist von dieser Gebrauch zu machen.421 417 Eine „Abstimmungslaune“ rechtfertigt den Austritt nicht, siehe U. Hufeld, Anwendung des europäischen Rechts in Grenzen des Verfassungsrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 215, Rn. 80. Ähnlich C. Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 50 EUV, Rn. 5. 418 M. Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 1045, 1071; J. A. Frowein, EuR 1995, 315 (318, 320). Zwar a.A., aber wohl für Ultra-vires-Konstellationen ablehnend T. Groß, EuR 2018, 387 (403 ff.). 419 Dies dürfte vielmehr in Konstellationen der Identitätskontrolle Relevanz entfalten. Anders jedoch A. Thiele, EuR 2017, 367 (374). 420 U. Hufeld, Anwendung des europäischen Rechts in Grenzen des Verfassungsrechts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 215, Rn. 80: „Die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union steht legitimatorisch unter dem Gesetz der Freiheit.“ Ähnlich A. Guckelberger, ZEuS 2012, 1 (19), wonach die Mitwirkungspflicht an der Union im Kontext der gesamten Verfassungsordnung zu sehen sei. 421 Diese Austrittsmöglichkeit ist vertraglich nicht vorgesehen, besteht aber nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts, siehe U. Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 140 AEUV, Rn. 49 ff. Diese Option ausdrücklich erwähnend BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 (Maastricht), BVerfGE 89, 155 (204). Für eine Anwendung des Art. 50 EUV nach dem Grundsatz maiore ad minus M. Seidel, EuZW 2007, 617.
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Gleichwohl kann die Nachrangigkeit des Austritts nicht bedeuten, dass keine andere theoretische Möglichkeit zur Harmonisierung der Rechtsordnungen bestehen darf. Die Bundesrepublik könnte – in den Grenzen ihrer Verfassungsidentität – den Konflikt immer durch eine Übertragung der fehlenden Hoheitsrechte auflösen. Dies kann aus den zu Beginn des Abschnitts dargelegten Gründen keine vorrangige Maßnahme sein. Nachrangigkeit kann daher nur bedeuten, dass die deutschen Verfassungsorgane ernsthafte vorrangige Bemühungen um eine politische Beseitigung des Konflikts unternehmen müssen. Dazu gehört beispielsweise der Anstoß zu einer Unionsrechtsänderung dergestalt, dass die Rechtsansicht des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich in den Verträgen normiert wird, aus der Perspektive des EuGH also eine Kompetenzrücknahme stattfindet. b) Pflicht zur Abmilderung tatsächlicher Auswirkungen des Ultra-vires-Akts Jenseits der Pflicht, eine Harmonisierung von deutscher Rechtsordnung und Unionsrechtsordnung herbeizuführen, geht das Bundesverfassungsgericht auch von einer Verpflichtung aus, tatsächliche Wirkungen eines Ultra-vires-Akts „so weit wie möglich“ abzumildern.422 Zwar kann das Bundesverfassungsgericht die rechtlichen Wirkungen des Ultra-vires-Akts in der deutschen Rechtsordnung beseitigen, seine tatsächlichen Auswirkungen kann es jedoch nur sehr bedingt beeinflussen. Dieses Problem zeigt sich besonders bei Realhandeln der Union. Insofern erscheint es zunächst konsequent, diese Aufgabe den exekutiven und legislativen Verfassungsorganen mit ihrer besonderen Gestaltungsfähigkeit aufzutragen. Jedoch verfügen auch der Gesetzgeber und die Regierung nicht über unbegrenzte Möglichkeiten zur Gestaltung der Wirklichkeit. Führte beispielsweise ein kompetenzwidriges Verhalten der EZB zu einem Einbruch der Wirtschaft im Euroraum, so könnten die Verfassungsorgane dem nur begrenzt entgegenwirken. Konkrete wirtschaftliche Effekte sind zuvorderst vom Verhalten der privaten Marktteilnehmer abhängig. Dieses entzieht sich aufgrund der individuellen Freiheit des Einzelnen einer umfassenden Regelung durch den Staat. Es ist deshalb schlicht nicht möglich, Verfassungsorgane auf ein bestimmtes Ergebnis zu verpflichten. Auch eine Pflicht, Wirkungen „so weit wie möglich“ zu verhindern, ist nicht operabel. Nähme man diese Formel ernst, so wäre der Staat notfalls auch zur vollständigen Neuordnung seiner Wirtschaft verpflichtet, nur um bestimmte Effekte der Unionsmaßnahme zu verhindern. Überzeugender ist es daher, die Folgenbeseitigung eines Ultra-vires-Handelns in das Ermessen der demokratisch legitimierten Verfassungsorgane zu stellen.
422 BVerfG, Urt. v. 05.05.2020 – 2 BvR 859/15 (PSPP-Urteil), BVerfGE 154, 17 (Rn. 231); BVerfG, Beschl. v. 15.04.2021 – 2 BvR 547/21 (EU-Wiederaufbaufonds-Eilantrag), BVerfGE 157, 332 (Rn. 111).
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c) Pflicht zur Vornahme einer parlamentarischen Plenardebatte Damit sind die zentralen Reaktionspflichten für Verfassungsorgane materiell definiert und auf effektive Erreichung eines bestimmten Zustands (Wiederherstellung der verfassungsgemäßen Ordnung, beziehungsweise Abmilderung der tatsächlichen Auswirkungen) gerichtet. Darüber hinaus verlangt das Bundesverfassungsgericht auch die Befassung in einer bestimmten Form: Unabhängig von der konkret zu wählenden Reaktion bedürfe es bei einem vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Ultra-vires-Handeln im Vorfeld jedenfalls einer Plenardebatte, da der Bundestag seine Repräsentationsfunktion grundsätzlich in seiner Gesamtheit wahrnehme. Entscheidungen von erheblicher Tragweite wie die Entschließung darüber, welche Wege zur Wiederherstellung der Kompetenzordnung beschritten werden sollen, habe grundsätzlich ein Verfahren vorauszugehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten und das die Volksvertretung dazu veranlasst, Notwendigkeit und Umfang der zu beschließenden Maßnahmen in öffentlicher Debatte zu klären.423 Diese Pflicht zur Herstellung demokratischer Öffentlichkeit ist zu begrüßen. Der Bundestag ist nicht nur Träger der Integrationsverantwortung und muss somit über seine eigene Reaktion beraten. Er ist darüber hinaus auch dasjenige Organ, dessen Zuständigkeit durch eine Ultra-vires-Kontrolle geschützt wird.424 Es ist vor diesem Hintergrund sinnig, dass der politischen Debatte um den Umgang mit einem entsprechenden Urteil insgesamt eine Bühne gegeben wird. Auf diese Weise erhält beispielsweise die Opposition eine Gelegenheit, den Umgang der Bundesregierung mit dem Urteil öffentlich zu kritisieren. Im Rahmen des PSPP-Urteils wurde von dieser Möglichkeit rege Gebrauch gemacht.425
IV. Konsequenzen des Ansatzes Der hier präsentierte Ansatz teilt mit jenem des Bundesverfassungsgerichts viele wesentliche Merkmale. Es handelt sich um eine bundesverfassungsgerichtliche Letztkontrolle über die Kompetenzwahrnehmung von Organen der Union, die nur zurückhaltend ausgeübt wird. Die Unterschiede hinsichtlich der Zulässigkeit von Ultra-vires-Verfassungsbeschwerden, des Prüfungsmaßstabs und der Rechtsfolgen haben jedoch tatsächliche Effekte auf die beteiligten Akteure. Diese Konsequenzen werden im Folgenden dargestellt.
423 BVerfG, Beschl. v. 29.04.2021 – 2 BvR 1651/15 (PSPP-Vollstreckungsanordnung), NJW 2021, 2187 (Rn. 93); BVerfGE 157, 332; BVerfG, Urt. v. 02.03.2021 – 2 BvE 4/16 (CETAMandatsgesetz), BVerfGE 157, 1 (Rn. 80). In Ansätzen schon BVerfG, Urt. v. 21.06.2016 – 2 BvE 13/13 (OMT-Programm), BVerfGE 142, 123 (Rn. 172). 424 Siehe 1. Kap., B II 2 b), S. 43. 425 Siehe zur parlamentarischen Debatte BVerfG, Beschl. v. 29.04.2021 – 2 BvR 1651/15 (PSPP-Vollstreckungsanordnung), NJW 2021, 2187 (Rn. 98 f., 104 ff.)
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Durch die Ablehnung des Anspruchs auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der Hoheitsgewalt werden bestimmte Sachverhalte einer Verfassungsbeschwerde entzogen. In Fällen ohne Grundrechtsberührung können daher nur die Antragsberechtigten der abstrakten Normenkontrolle, des BundLänder-Streits sowie des Organstreitverfahrens eine Ultra-vires-Kontrolle herbeiführen. Es liegt dann im Ermessen politischer Entscheidungsträger, insbesondere der Oppositionsfraktionen im Bundestag, inwieweit eine Kontrolle stattfindet. Inhaltlich ist die Kontrolle auf die Überschreitung oder Verletzung von Kompetenznormen begrenzt und damit thematisch eingeengt. Eine Kompetenznorm liegt vor, wenn ein Rechtssatz des europäischen Primärrechts zumindest auch dem Schutz mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielräume dient. Dadurch verliert das Bundesverfassungsgericht seine Letztentscheidungskompetenz über Fragen des Unionsrechts, soweit diese nicht mit Kompetenzverlusten auf Seiten der Mitgliedstaaten einhergehen. Die Rolle des EuGH wird insoweit spiegelbildlich gestärkt. Durch die Aufgabe des Kriteriums der strukturellen Relevanz wird in den Fällen, in denen nationale Kompetenzen betroffen sind, auch auf geringfügige Überschreitungen kontrolliert und somit eine dichtere Kontrolle vorgenommen. Dabei dient der Kontrollmaßstab zuvorderst der Herbeiführung eines höchstgerichtlichen Dialogs. Die formalen Anforderungen an die Entscheidungen des EuGH und damit an die Antworten auf die Vorlage des Bundesverfassungsgerichts sollen weniger den Gerichtshof an der Findung eines konkreten Ergebnisses hindern, als die grundsätzliche Achtung der mitgliedstaatlichen Positionen sicherstellen. Die materiellen Anforderungen an die Kompetenzherleitung sollen diesen Dialog lediglich in eine bestimmte, unter rechtsstaatlichen Grundsätzen gebotene Form lenken. Hierdurch sind die inhaltlichen Konflikte zwischen den Gerichten zunächst leichter zu lösen. Der EuGH kann durch ausführlichere Begründungen und das Eingehen auf die Bedenken des Bundesverfassungsgerichts den Ultra-viresVorwurf vergleichsweise leicht entkräften. Damit wächst für den Gerichtshof der Rechtfertigungsdruck im Konfliktfall: Es erschiene im Sinne einer fruchtbaren Zusammenarbeit im Gerichtsverbund kaum erklärlich, warum man der Anforderung an eine zusätzliche Begründung nicht nachkommen sollte. Indem der EuGH zur Offenlegung seiner Erwägungen zu den mitgliedstaatlichen Kompetenzinteressen angehalten wird, steigt auch die Transparenz seiner Entscheidungen. Sie werden damit sowohl für die nationalen Höchstgerichte als auch für die Öffentlichkeit überprüfbarer. Ergebnisse und Begründungen dürften dadurch in höherem Maße Gegenstand eines Diskurses werden, der langfristig Auswirkungen auf neue Urteile entfalten könnte. Verglichen mit den bisher kaum auszumachenden Wirkungen des Ultra-vires-Vorbehalts auf die Rechtsprechung des EuGH hat dieser Ansatz damit das Potenzial, die mitgliedstaatlichen Kompetenzbereiche besser zu schützen und gleichzeitig die Rechtskultur der Union fortzuentwickeln.
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Die Rolle des EuGH wird dabei weniger herausgefordert als bei einer primär ergebnisbezogenen Kontrolle. Zudem profitiert die Rechtsstaatlichkeit der Union im Sinne des Art. 2 EUV unmittelbar, wenn der Gerichtshof auf die Anforderungen des deutschen Rechts an die Ausgestaltung seiner Urteilsbegründungen eingeht. Zeigt der EuGH seine Bereitschaft zur Achtung mitgliedstaatlicher Kompetenzinteressen ebenso klar wie seine Bereitschaft zur Gewährleistung der Effektivität des Unionsrechts, dann steigert dies auch die Bereitschaft zur Vertiefung der Integration durch die vertragliche Begründung neuer Hoheitsrechte. Aus Sicht der deutschen Verfassungsorgane bringt der vorgestellte Ansatz vor allem mehr Klarheit bei der Identifikation von Ultra-vires-Akten. Dadurch kann bereits im Vorfeld, ohne Bruch des Unionsrechts, eine politische Vermeidung des Kompetenzkonflikts angestrebt werden. Sollte es dennoch zu einem Ultra-viresVerdikt des Bundesverfassungsgerichts kommen, steht ihnen mit der einseitigen Übertragung von Hoheitsrechten eine zusätzliche, effektive Möglichkeit zur Verfügung, den Konflikt zu lösen.
Schluss Kompetenzkonflikte zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten betreffen Kernfragen der europäischen Einigung. Sie haben nicht nur die Tiefe der Integration auf einem bestimmten Feld zum Gegenstand, sondern werfen das übergeordnete Problem der grundsätzlichen Kompetenzhoheit auf. An ihm kristallisieren sich unterschiedliche Vorstellungen zur Demokratie in Europa, zum Verhältnis von Souveränität und Vertragsbindung sowie zur richtigen politischen Herrschaftsausübung in Europa. Wird dieser Konflikt zwischen zwei Höchstgerichten mit dem Anspruch auf Letztverbindlichkeit ausgetragen, so ist auch die Idee der Herrschaft des Rechts selbst betroffen. Angesichts dessen kann die Schärfe, mit der die juristische Auseinandersetzung um den Ultra-vires-Vorbehalt geführt wird, kaum verwundern. Gleichwohl darf der Ultra-vires-Vorbehalt nicht auf seine kritischen Folgen für die Integration reduziert werden: Bei ihm handelt es sich nicht um einen nationalistischen Reflex der Dezentralisierung, sondern um ein Instrument zur Sicherung der primärrechtlichen Kompetenzgrundlagen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zielt gerade nicht darauf ab, rechtliche Bindungen der Bundesrepublik zu verringern oder etablierte Kompetenzausübungen der Union nachträglich zu delegitimieren. Eine Befassung mit dem Ultra-vires-Vorbehalt muss daher die gegenseitigen legitimen Interessen im Verfassungsverbund gleichermaßen berücksichtigen. Die Ergebnisse dieser Arbeit lassen sich in folgende Kernaussagen überführen: 1. Der Ultra-vires-Vorbehalt kann, obwohl er eine Herausforderung für die Rechtsgemeinschaft darstellt, auch ein wichtiger Faktor für ihre Fortentwicklung sein. Klar formulierte Prüfungsmaßstäbe können Organen der Union als Rahmen für ihre Kompetenzwahrnehmung dienen. Transparent ausgesprochene mitgliedstaatliche Erwartungen an die Rolle des Gerichtshofs können diesem einen Anreiz geben, die Interessen der Union und der Mitgliedstaaten gleichermaßen zu berücksichtigen und so seine Aufgabe als europäisches Verfassungsgericht wahrzunehmen. Gestaltet man die Kriterien der Kontrolle offen für eine eigenständige unionale Rechtsentwicklung aus, erfolgt kein unzulässiges Aufdrängen spezifisch nationaler Rechtsvorstellungen. Vielmehr bietet der Vorbehalt dann die Chance, die Rechtsstaatlichkeit der Union entscheidend zu stärken.
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Schluss
Eine mögliche Stärkung rechtsstaatlicher Standards ermöglicht schließlich auch die Fortentwicklung der Union als Ganze. Nur wenn der Gerichtshof als neutraler Schiedsrichter in supranationalen Kompetenzkonflikten agiert, besteht die rechtliche Möglichkeit zu einer weitreichenden Überantwortung des Schutzes nationaler Verfassungsgüter. Nur wenn die europäischen Institutionen als glaubwürdige Hüter nationaler Interessen auftreten, besteht auch die politische Bereitschaft zu einer substanziellen Vertiefung der Integration. 2. Diese Wirkungen kann der Ultra-vires-Vorbehalt jedoch nur dann erreichen, wenn seine Maßstäbe klar sind und inhaltlich die Förderung dieser Wirkungen mit im Blick haben. Genau hier nutzt die Rechtsprechung die sich bietenden Potenziale bislang nicht in dem gebotenen Maße. Sie versäumt es, ausreichend klare Anforderungen an die europäische Kompetenzwahrnehmung zu formulieren. Der Maßstab der Offensichtlichkeit vermag weder die genannten Wirkung zu erzielen noch die an ihn gerichteten Erwartungen zu erfüllen. Zudem ist die Vorstellung der Ultra-vires-Kontrolle als Kontrolle auf Fehler der Unionsorgane schon im Ansatz verkehrt: Es geht bei ihr nicht um die Identifikation von Fehlern, sondern um die Identifikation solcher Kompetenzherleitungen, die die Verfassung aus verschiedenen Gründen nicht mittragen kann. 3. Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, dass das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht nicht die Rolle als Hüter des Unionsrechts aufträgt. Vielmehr hat das Bundesverfassungsgericht sicherzustellen, dass durch die Übertragung der Rechtsprechungshoheit auf den EuGH kein Ausfall gerichtlicher Kontrolle dergestalt stattfindet, dass funktional kein verfassungsgerichtlicher Schutz der deutschen souveränen Staatlichkeit und der Demokratie mehr gegeben ist. Der „Vorwurf“ gegenüber europäischen Organen liegt demnach nicht in der fehlerhaften Anwendung europäischen Rechts, sondern in der fehlenden Wahrnehmung ihrer vom Grundgesetz vorausgesetzten institutionellen Funktion durch mangelnde Beachtung mitgliedstaatlicher Kompetenzinteressen. Diese fehlende Beachtung besteht in erster Linie nicht aus der Feststellung eines bestimmten Ergebnisses, sondern aus der fehlenden Würdigung von nationalen Argumenten und Belangen bei der Auslegung von Kompetenznormen. 4. Ein richtig verstandener Ultra-vires-Vorbehalt muss zum Ziel haben, bereits durch seine Existenz dergestalt auf Unionsorgane einzuwirken, dass diese die mitgliedstaatlichen Kompetenzinteressen angemessen würdigen. Auf diese Weise wird die Aktivierung der Kontrolle im Einzelfall entbehrlich. Dem Ultra-viresVorbehalt werden seine bedenklichsten Konsequenzen damit weitgehend genommen und er kann so einen positiven Beitrag zum Gelingen des Integrationsprojekts leisten.
Zusammenfassung in Thesen 1. Der Ultra-vires-Vorbehalt fordert die europäische Rechtsgemeinschaft heraus. Er gefährdet die Einheit des Unionsrechts und die Zusammenarbeit im Gerichtsverbund. Als rein formales Kontrollinstrument, das sich nicht auf materielle Gewährleistungen des Grundgesetzes stützt, ist es daher besonders rechtfertigungsbedürftig.1 2. Der Ultra-vires-Vorbehalt ist Ausfluss eines Spannungsverhältnisses: Die Union ist beim gegenwärtigen Stand der Integration auf die mitgliedstaatliche Einräumung von Hoheitsrechten angewiesen. Gleichzeitig beansprucht ihr Recht einheitliche Geltung mit Vorrang vor dem nationalen Recht. Aus der mitgliedstaatlichen Perspektive ist das Wachen über die Kompetenzeinhaltung ebenso geboten, wie es die Beanspruchung des gerichtlichen Letztentscheidungsmonopols aus Sicht der Union ist.2 3. Beide Pole in diesem Spannungsverhältnis schließen sich gegenseitig aus. Eine Auflösung des Konflikts ist unter Achtung beider Standpunkte daher nicht möglich.3 4. Die hohe praktische Relevanz der Kontrolle ergibt sich einerseits aus den umfangreichen Unionskompetenzen, andererseits aus der bisher äußerst zurückhaltenden eigenen Kompetenzkontrolle des EuGH. Eine Reservekontrolle wird immer dann virulent, wenn die Regelkontrolle schwach ausgeprägt ist.4 5. Der Ultra-vires-Vorbehalt stellt keine Ausnahme vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts dar. Vielmehr spricht die Einstufung eines Akts als ultra vires diesem die Rechtsqualität in der deutschen Rechtsordnung vollständig ab. Daher ist die Formulierung „Durchbrechung des Anwendungsvorrangs“ vorzugswürdig.5 6. Der Ultra-vires-Vorbehalt fußt auf einem dualistischen Modell des Unionsrechts. Die Möglichkeit des Auseinanderfallens von europäischer und nationaler Rechtsordnung ist dem Kontrollinstrument daher inhärent.6
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Einl., S. 2. Einl., S. 3. 3 Einl., S. 3 f. 4 Einl., S. 4 ff. 5 1. Kap., A II, S. 17. 6 1. Kap., A III, S. 25 f. 2
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Zusammenfassung in Thesen
7. Die unterschiedlichen Standpunkte von EuGH und Bundesverfassungsgericht hinsichtlich Natur und Geltungsgrund des Unionsrechts ergeben sich aus der jeweiligen Perspektive der Gerichte und sind innerhalb des jeweiligen normativen Rahmens tragfähig. Dies ist aufgrund der Unabhängigkeit beider Rechtsordnungen nicht zu beanstanden.7 8. Der Ultra-vires-Vorbehalt verfolgt mehrere Zwecke, von denen der Schutz der Staatssouveränität der Bundesrepublik einerseits sowie der Schutz der Demokratie und Volkssouveränität andererseits gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Bei der rechtsstaatsdienenden Funktion des Vorbehalts handelt es sich um eine bloße Reflexwirkung ohne eigenständige Bedeutung.8 9. In der Praxis spielt heute vor allem der Schutz der Demokratie und Volkssouveränität eine entscheidende Rolle. Der vom Bundesverfassungsgericht genutzte Demokratiebegriff meint dabei den spezifischen Legitimationszusammenhang vom deutschen Staatsvolk über den Bundestag zur Union. Durch diese Fokussierung allein auf den nationalen Legitimationsstrang der Unionsgewalt ist der Schutz der Demokratie faktisch ein Schutz der Integrationskompetenz des Bundesgesetzgebers.9 10. Das Bundesverfassungsgericht verdeutlicht damit, dass es auf die eigene demokratische Legitimation der Unionsorgane nicht ankommt. Indem Demokratieschutz mit dem Schutz der Befugnisse des nationalen Gesetzgebers gleichgesetzt wird, nähert das Bundesverfassungsgericht die Volkssouveränität der Staatssouveränität weitgehend an.10 11. Der Ultra-vires-Vorbehalt ist mit dem Unionsrecht nicht vereinbar. Der EuGH beansprucht ein Normverwerfungsmonopol für das Unionsrecht. Das Bundesverfassungsgericht kann in Fällen sogenannter Nichtakte Unionsrecht zwar ausnahmsweise selbst verwerfen – es darf dies jedoch nicht gegen den erklärten Willen des EuGH tun. Auch die Entscheidung des Gerichtshofs in der Sache Taricco II bietet keine Rechtfertigung für den Ultra-vires-Vorbehalt.11 12. Die Ultra-vires-Kontrolle ist verfassungsrechtlich geboten. Sie bedarf als Prüfungsmodus des materiellen Rechts keiner besonderen Ermächtigung. Umgekehrt wäre zu begründen, warum die Kontrolle nicht statthaft sein sollte.12 13. Eine mögliche Beschränkung der Kontrollbefugnis findet sich in den Zustimmungsgesetzen zu den Unionsverträgen. Inwieweit der dort vorgenommene Verzicht auf eine nationale Letztentscheidung in Kompetenzfragen zulässig ist, richtet sich nach den Regeln des Grundgesetzes.13
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1. Kap., A II 3, S. 23 ff. 1. Kap., B II 1–4, S. 27 ff. 9 1. Kap., B II 2 b), S. 42 ff. 10 1. Kap., B II 2 b), S. 43 ff. 11 1. Kap., C I, S. 49 ff. 12 1. Kap., C II 3, S. 69 f. 13 1. Kap., C II 4, S. 70 ff. 8
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14. Eine Aufgabe der Letztentscheidungskompetenz ist insbesondere dort verboten, wo die die Grundentscheidung des Integrationsgesetzgebers zum Umfang der deutschen Mitwirkung an der Union berührt wird. Dies ist gerade in Kompetenzfragen der Fall.14 15. Der Ultra-vires-Vorbehalt befindet sich bislang in einem steten Wandel und wird noch immer neu konturiert. Dies erschwert eine Einschätzung der Rechtslage, insbesondere für die Träger der Integrationsverantwortung, erheblich.15 16. Jede Inanspruchnahme von Hoheitsrechten durch eine beliebige Stelle der Union kann Gegenstand der Ultra-vires-Kontrolle sein. Auf die Rechtsförmlichkeit kommt es nicht an.16 17. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die Ultra-vires-Kontrolle als Kompetenzkontrolle. Es prüft dabei, ob sich die Maßnahme innerhalb der Grenzen der Schrankentrias des Art. 5 EUV bewegt und ob sie gegen Kompetenzschranken verstößt. Welche Normen Kompetenzschranken darstellen, klärt das Gericht nicht.17 18. Die Prüfung der kompetenziellen Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle ist eine Reaktion auf das Gauweiler-Urteil des EuGH. Prüft dieser Fragen, die nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts relevant für eine Abgrenzung der Kompetenzsphären sind, innerhalb einer bestimmten Norm, so erstreckt sich die Ultra-vires-Kontrolle auch auf die Einhaltung dieser Bestimmung. Das Bundesverfassungsgericht ist im Rahmen seiner Kompetenzprüfung nicht an die unionsrechtliche Einordnung einer Norm als kompetenzbegründend gebunden.18 19. Das Bundesverfassungsgericht überdehnt seinen Prüfungszugriff, indem es Verstöße gegen sekundärrechtliche Vorschriften mit in den Anwendungsbereich der Ultra-vires-Kontrolle einbezieht. Sekundärrecht spiegelt sich nicht im nationalen Integrationsprogramm wider, sondern ist autonom gesetztes Unionsrecht.19 20. Die Ultra-vires-Kontrolle ist eine Kontrolle der zur Kompetenzherleitung angewandten juristischen Methodik. Da das Bundesverfassungsgericht dabei aber dem EuGH die grundsätzliche Methodenhoheit zugesteht, entstehen Unklarheiten. Es fehlt an klaren meta-methodischen Maßstäben an denen europäische Methodik gemessen werden könnte.20 21. Der Ausdruck der „Fehlertoleranz“, die gegenüber dem EuGH geübt werde, ist aufzugeben. Das Bundesverfassungsgericht ist dem EuGH hierar-
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1. Kap., C II 4, S. 72. 2. Kap., S. 73. Zur Offensichtlichkeit; 2. Kap., B III 1, S. 73; 3. Kap., A II 2 b), S. 104 ff. 16 2. Kap., A, S. 73 ff. 17 2. Kap., B I 5, S. 92. 18 2. Kap., B I, 3, S. 86 f. 19 2. Kap., B I 4 b), S. 90 ff. 20 2. Kap., B II 2 u. 3, S. 95 ff. 15
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chisch nicht übergeordnet und verfügt im Rahmen üblicher juristischer Meinungsverschiedenheiten auch sonst über keine Legitimation, dem EuGH Fehler vorzuwerfen. Ist eine Rechtsauffassung des Gerichtshofs methodisch korrekt begründbar, so ist sie kein Fehler. Ist sie nicht zu begründen, so wird vom Bundesverfassungsgericht keine Toleranz geübt.21 22. Das Bundesverfassungsgericht leitet die Beschränkungen seines Prüfungsumfangs einheitlich aus der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes her. Es stützt sich teils zusätzlich auf die Grenzen des jeweiligen subjektiven Kontrollanspruchs – dieser individualrechtliche Begründungsstrang hat aber keine weiteren Konsequenzen.22 23. Der Offensichtlichkeitsmaßstab verengt die Prüfung im Ergebnis nicht auf eine Vertretbarkeitskontrolle. Vielmehr wird allgemein die argumentative Überzeugungskraft einer Rechtsansicht geprüft. Der Ausdruck „Offensichtlichkeit der Kompetenzüberschreitung“ ist daher irreführend. Die Definitionen, mit denen das Bundesverfassungsgericht operiert sind teils widersprüchlich und inhaltlich zu unbestimmt.23 24. Die vorgebliche Anwendung eines Vertretbarkeits- oder Willkürmaßstabs führt zu einem vermeidbaren öffentlichen Konfliktpotential. Die Annahme eines Ultra-vires-Akts ist ohne schwere Vorwürfe an europäische Institutionen nicht mehr möglich. Diese Wortwahl wird dem eigentlich integrationsfreundlichen Offensichtlichkeitsmerkmal nicht gerecht.24 25. Der Offensichtlichkeitsmaßstab ist Ausfluss einer Grenzziehungsobliegenheit im Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und EuGH. Er dient der Sicherung der vertraglich vorgesehenen Rolle des EuGH als oberstem Rechtsprechungsorgan der Union. Die deutsche Verfassungsordnung erkennt dies als legitimes Ziel an und steht daher dem Offensichtlichkeitskriterium grundsätzlich nicht entgegen.25 26. Bei der Strukturrelevanz handelt es sich um ein Kriterium, welches erstens den Kompetenzbezug der Ultra-vires-Kontrolle sichern soll und zweitens ein bestimmtes Mindestmaß an Schwere der Kompetenzüberschreitung verlangt. Auch wenn die genauen Maßstäbe noch immer unklar sind, werden Kompetenzverletzungen in Randbereichen der Integration durch dieses Kriterium einer mitgliedstaatlichen Überprüfung entzogen.26 27. Das Kriterium der Strukturrelevanz ist aufzugeben. Soweit es den Kompetenzbezug der Kontrolle sichert, ist es obsolet, da es in dem Tatbestandsmerkmal der Kompetenzverletzung aufgeht. Soweit es darüber hinaus eine Schwere der Kompetenzverletzung verlangt, ist es verfassungswidrig.27 21
2. Kap., B II 4, S. 102 f. 2. Kap., B III 3 a), S. 124 ff. 23 2. Kap., B III 1 a), S. 105 ff. 24 2. Kap., B III 1, S. 104 f. 25 2. Kap., B III 3 b), S. 126 f. 26 2. Kap., B III 2, S. 118 ff. 27 2. Kap., B III 3 c); S. 127 ff. 22
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28. Nur das Bundesverfassungsgericht ist zur Ultra-vires-Kontrolle befugt. Eine selbständige Kontrolle durch die Fachgerichte würde die Rechtseinheit in der Union um ein Vielfaches mehr gefährden, ohne dass hiermit notwendigerweise größerer Rechtsschutz einherginge.28 29. Die vom Bundesverfassungsgericht angenommene verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Vorlage einer Gültigkeitsfrage an den EuGH vor Ausspruch eines Ultra-vires-Verdikts ist begrüßenswert. Sie ist jedoch inhaltlich identisch mit der unionsrechtlichen Vorlageverpflichtung aus Art. 267 Abs. 3 AEUV.29 30. Unionsakte sind kein zulässiger Verfahrensgegenstand vor dem Bundesverfassungsgericht. Allein Maßnahmen mit europäischer Rechtsgrundlage sowie Verstöße gegen die Integrationsverantwortung können vor dem Verfassungsgericht geltend gemacht werden.30 Durch diese Verengung des Verfahrensgegenstands entstehen keine Schutzlücken.31 31. Der Begriff der Maßnahme mit europäischer Rechtsgrundlage ist weit zu verstehen. Jeder nationale Akt, der zeitlich nach einem Unionsakt erlassen wurde und mit diesem in einem notwendigen Denkzusammenhang steht, lässt sich hierunter subsumieren.32 32. Die Integrationsverantwortung ist die Verantwortung der deutschen Verfassungsorgane für die Beteiligung der Bundesrepublik am Integrationsprozess. Sie beinhaltet die Verantwortung, über Art Tiefe der deutschen Beteiligung am Integrationsprozess selbst zu entscheiden. Im Kontext der Ultra-vires-Kontrolle mündet sie in einer Pflicht zum Wachen über die Einhaltung des Integrationsprogramms.33 33. Die Integrationsverantwortung weist den deutschen Verfassungsorganen eine rechtsschützende Funktion zu. Dies ist notwendig, weil es dem Bundesverfassungsgericht an eigenen Möglichkeiten zur Einwirkung auf die Union mangelt.34 34. Die Ultra-vires-Kontrolle kann im Rahmen der meisten Verfahrensarten aktiviert werden. Am relevantesten ist die Verfassungsbeschwerde. Soweit ein Beschwerdeführer durch einen Unionsakt inhaltlich selbst betroffen ist, ist dies unproblematisch.35 35. Ein weitergehender „Anspruch auf Demokratie“ ist abzulehnen. Ihm fehlt es an einer hinreichenden Individualisierung, die eine Unterscheidung vom objektiven Verfassungsrecht ermöglicht. Ohne hinreichenden gesetzlichen Ansatz-
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2. Kap., C I, S. 129 ff. 2. Kap., C II, S 132 ff. 30 2. Kap., C III 1, S. 133 ff. 31 2. Kap., C III 4, S. 151 f. 32 2. Kap., C III 2, S. 138 f. 33 2. Kap., C III 3 a), S. 139 ff. 34 2. Kap., C III 3 b), S. 143 f. 35 2. Kap., C IV 2, S. 153 ff. 29
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punkt wurde mit ihm eine unzulässigen Sonderdogmatik für den Bereich der europäischen Integration geschaffen.36 36. Durch die ausufernde Möglichkeit zur Verfassungsbeschwerde, wird sich zu wohl jedem denkbaren Ultra-vires-Akt ein Beschwerdeführer finden. Dadurch kann der gesamte Integrationsprozess vom Bundesverfassungsgericht überwacht werden, womit seine Macht im Gefüge der deutschen Gewalten enorm wächst. Mit der Stärke der Verfassungsbeschwerde korrespondiert ein weitgehender Bedeutungsverlust der sonstigen Verfahrensarten.37 37. Eine konkrete Normenkontrolle unmittelbar gegen Unionsakte ist nicht zulässig. Eine Ausnahme zur Notwendigkeit eines deutschen Verfahrensgegenstands vor dem Bundesverfassungsgericht existiert nicht. Es tun sich dadurch auch keine inakzeptablen Schutzlücken auf.38 38. Der Bund-Länder-Streit entfaltet immer dann Relevanz, wenn eine Unionsmaßnahme im Kompetenzbereich der Länder ergeht oder wenn sich ein Land gegen den Willen eines anderen Landes oder des Bundes an einem Ultra-viresAkt beteiligt.39 39. Entgegen der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist die Ultra-viresKontrolle auch in Verfahren des Eilrechtsschutzes statthaft, da die Möglichkeit einer späteren Ungültigkeitserklärung durch den EuGH die akute Rechtsverletzung nicht ausschließt.40 40. Der Ultra-vires-Vorbehalt dient wie alle Kontrollvorbehalte im Zusammenhang mit der europäischen Integration der Verfassungsidentität Deutschlands und damit den von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Rechtsgütern. Dieser gemeinsame Schutzzweck ändert jedoch nichts daran, dass alle Kontrollvorbehalte eigenständig nebeneinanderstehen.41 41. Die formelle Übertragungskontrolle unterscheidet sich von der Ultravires-Kontrolle dahingehend, dass sie die Wirksamkeit der nationalen Kompetenzeinräumung unabhängig von einer Inanspruchnahme durch die Union prüft. Sie ist damit der Ultra-vires-Kontrolle zeitlich vorgelagert und kann im Einzelfall ihrer Vermeidung dienen.42 42. Ultra-vires-Akte verletzen entgegen der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts regelmäßig nicht die Verfassungsidentität der Bundesrepublik. Die Gegenansicht bagatellisiert den Begriff der Verfassungsidentität und überstrapaziert damit den Gewährleistungsgehalt des Art. 79 Abs. 3 GG. Die einzelne Kompetenzüberschreitung negiert noch nicht die Kompetenzordnung als Ganze.43
36
2. Kap., C IV 2, S. 155 ff. 2. Kap., C IV 2, S. 159 ff. 38 2. Kap., C IV 4 b), S. 164 ff. 39 2. Kap., C IV 5, S. 169 ff. 40 2. Kap., C IV 6, S. 172 f. 41 2. Kap., D IV, S. 184 f. 42 2. Kap., D I, S. 174 ff. 43 2. Kap., D II 1 a), S. 177 f. 37
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43. Der Ultra-vires-Vorbehalt muss auch an seinen tatsächlichen Folgen gemessen werden, da es sich bei ihm um ein Instrument handelt, das seine Legitimität aus der Erreichung bestimmter Zwecke zieht.44 44. Ein Unionsorgan besitzt grundsätzlich nur wenige Handlungsoptionen, sobald es mit einem Ultra-vires-Verdikt konfrontiert wird. Es kann lediglich seine eigene Maßnahme im Sinne des Bundesverfassungsgerichts anpassen oder auf die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik hinwirken.45 45. Auch der EuGH verfügt über keine Möglichkeit, selbständig gegen ein Ultra-vires-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorzugehen. Er ist insoweit auf die Erhebung einer Aufsichtsklage angewiesen.46 46. Die Kommission kann im Falle einer erfolgreichen Ultra-vires-Kontrolle ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik einleiten. Ein solches Verfahren bietet aber nur wenig Potenzial für die Herstellung einer unionsrechtskonformen Situation. Ihm dürfte, sofern keine Bereitschaft für die Erhebung einer Aufsichtsklage besteht, primär eine symbolische Funktion zukommen.47 47. Eine Aufsichtsklage gegen die Bundesrepublik hätte regelmäßig Aussicht auf Erfolg. Nur in Ausnahmefällen dürfte sie jedoch zweckdienlich sein: Sie ist nicht geeignet, den zugrundeliegenden Konflikt zwischen den Höchstgerichten auszuräumen.48 48. Die bisherigen Fälle nationaler Kompetenzkontrolle haben die Möglichkeit einer Konfliktbeseitigung ohne Eskalation bewiesen.49 49. Eine Aufsichtsklage droht eine europäische Rechtskrise auszulösen. Eine derartige Situation hinterließe, unabhängig vom Ausgang, keine Gewinner.50 50. Mögliche Zwangsmaßnahmen gegen die Bundesrepublik aufgrund eines Ultra-vires-Urteils ergehen ihrerseits ultra vires.51 51. Die Wirkungen, die der Ultra-vires-Vorbehalt qua Existenz entfaltet, sind mindestens ebenso wichtig wie seine Wirkungen im Falle der Aktivierung. Er erfüllt seine Aufgabe zum Schutz der nationalen Demokratie und Eigenstaatlichkeit bereits dann, wenn er die Unionsorgane im Vorfeld zu einer Respektierung der Kompetenzgrenzen bewegt. Eine Reservekontrolle erweist sich demnach vor allem dann als erfolgreich, wenn sie selten genutzt werden muss.52 52. Aus Sicht der Unionsorgane kann es Sinn ergeben, sich auf den Ultravires-Vorbehalt einzustellen und eigene Handlungen entsprechend anzupassen.
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3. Kap., A, S. 189 f. 3. Kap., A I 1 a), S. 191 ff. 46 3. Kap., A I 1 b), S. 197 f. 47 3. Kap., A I 1 c) aa), S. 198 ff. 48 3. Kap., A I 1 c) bb) u. cc), S. 203 ff. 49 3. Kap., A I 1 c) cc), S. 214 f. 50 3. Kap., A I 1 c) cc), S. 206 ff. 51 3. Kap., A I 1 c) cc), S. 207 f. 52 3. Kap., A I 2, S. 215 f. 45
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Die Vermeidung von Konflikten mit den Mitgliedstaaten kann insbesondere den eigenen Maßnahmen zu größerer Effektivität verhelfen.53 53. Bisher war der von dem Ultra-vires-Vorbehalt ausgehende Anreiz zur Kompetenzschärfung gering. Eine wesentliche Anpassung in der Rechtsprechungslinie des EuGH kann nicht beobachtet werden.54 54. Die Bereitschaft der Unionsorgane, vor allem des EuGH, zur Verhaltensanpassung hängt erheblich von der Ausgestaltung der Kontrolle ab. Je mehr diese ein bestimmtes Ergebnis vorgibt, desto schwieriger erscheint die Berücksichtigung. Der mit dem PSPP-Urteil eingeschlagene Weg der Statuierung von Darlegungs- und Begründungserfordernissen könnte demnach Raum für mehr Kooperation schaffen.55 55. Durch die Ultra-vires-Kontrolle erhält der Gerichtshof häufiger die Gelegenheit, sich zur Gültigkeit von Unionsakten zu äußern. Der Kontrollvorbehalt stärkt damit die Rolle der europäischen Judikative gegenüber den anderen Gewalten.56 56. Mit dem Ultra-vires-Urteil werden deutsche Organe zur Missachtung geltenden Unionsrechts verpflichtet. Sie stehen damit vor der Wahl, welcher Rechtsnorm sie Folge leisten, jener des deutschen Verfassungsrechts oder jener des Unionsrechts. Diese Wahl dürfte eher nach politischen, denn nach rechtlichen Motiven erfolgen und mir hoher Wahrscheinlichkeit auf die Befolgung des bundesverfassungsgerichtlichen Urteils fallen.57 57. Deutschen Behörden kommt keine Verwerfungskompetenz für Ultra-vires-Akte zu.58 58. Die Integrationsverantwortung kann von den Verfassungsorganen im Vorfeld eines Ultra-vires-Urteils kaum sinnvoll wahrgenommen werden. Die Maßstäbe der Kontrolle sind zu unklar, um eine Prognose für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu treffen. Zudem stehen die Risiken einer falschpositiven Einschätzung einer Kompetenzüberschreitung in keinem Verhältnis zu den Folgen einer falsch-negativen Beurteilung.59 59. Der Ultra-vires-Vorbehalt ist bislang nur eingeschränkt wirksam. Seine Erfolge bei der Verfolgung des Schutzzwecks stehen nicht in angemessenem Verhältnis zu den Risiken seiner Aktivierung. Es bedarf daher einer Fortentwicklung des Instruments.60 60. Eine grundsätzliche Übertragung der Auslegungshoheit auf den EuGH in Kompetenzfragen ist nur statthaft, wenn dieser das rechtsstaatliche Defizit durch
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3. Kap., A I 2 a), S. 216 ff. 3. Kap., A I 2 b) dd), S. 222 f. 55 3. Kap., A I 2 b) dd), S. 223 ff. 56 3. Kap., A I 2 b) cc), S. 220 ff. 57 3. Kap., A II 1 a), S. 228 f. 58 3. Kap., A II 2 a), S. 234 f. 59 3. Kap., A II 2 b), S. 235. 60 3. Kap., A III, S. 235 ff. 54
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den Ausfall bundesverfassungsgerichtlicher Kontrolle kompensiert. Dies ist der Fall, soweit eine strukturelle Vergleichbarkeit der Rechtsprechungstätigkeiten vorliegt.61 61. Hierfür muss der EuGH als europäisches Verfassungsgericht auftreten, welches die Interessen von Union und Mitgliedstaaten gleichermaßen berücksichtigt. Er darf demnach nicht einseitig als Motor der Integration agieren. Hieraus ergeben sich konkrete Anforderungen an die Maßstabsbildung der Ultravires-Kontrolle. Das Bundesverfassungsgericht trägt eine Auffangverantwortung für solche institutionellen Ausfälle des EuGH, die im Ergebnis einen Verlust an judikativer Kompetenzkontrolle bedeuteten.62 62. Erfüllt der EuGH seine Aufgabe als neutrales europäisches Verfassungsgericht nicht, bedarf es einer Reaktivierung der durch die Verträge abbedungenen eigenen Kompetenzkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, da andernfalls eine Rechtsschutzlücke drohte. Nur eine Bereitschaft zur Kontrolle im Einzelfall rechtfertigt die Übertragung der Rechtsprechungskompetenz im Regelfall.63 63. Von einem Auftreten des EuGH als europäisches Verfassungsgericht profitiert auch die Union selbst. Es stärkt die Rechtsgemeinschaft und erhöht die Integrationsbereitschaft der Mitgliedstaaten.64 64. Die Reichweite des Ultra-vires-Vorbehalts findet dort ihre Grenze, wo allein über europäisches Recht gestritten wird und die quasi-föderalen Interessen der Bundesrepublik in der Union nicht betroffen sind. Nur dort droht eine Auflösung der deutschen souveränen Staatlichkeit durch selbständige Vertiefung der Integration.65 65. Die Ultra-vires-Kontrolle muss als spezifische Kompetenzkontrolle geschärft werden. Zu diesem Zweck ist eine kompetenzielle Schutznormtheorie anzuwenden. Dient ein Rechtssatz des europäischen Primärrechts zumindest auch dem Schutz mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielräume, so handelt es sich dabei um eine Kompetenznorm. Andernfalls handelt es sich allenfalls um eine Kompetenzwahrnehmungsregel, die sich nicht als Ansatzpunkt einer Ultra-vires-Kontrolle eignet.66 66. Im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle muss das Bundesverfassungsgericht zunächst prüfen, ob es die europäischen Kompetenzen im konkreten Fall selbst für überschritten hält. Eine Kontrolle ist auch bei unzulässiger Auslegung einer Kompetenznorm durch den EuGH nicht statthaft, wenn Kompetenzen im Ergebnis nicht überschritten sind.67
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3. Kap., B I 1, S. 238 ff. 3. Kap., B I 1, S. 240 ff. 63 3. Kap., B I 1, S. 241. 64 3. Kap., B I 1, S. 245 f. 65 3. Kap., B I 1, S. 240. 66 3. Kap., B I 2, S. 247 ff. 67 3. Kap., B I 3, S. 253. 62
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67. Ein Offensichtlichkeitskriterium knüpft an die Vorstellung der Erkennbarkeit eines methodischen Fehlers durch Unionsorgane an. Es passt nicht zu dem hier vorgeschlagenen Ansatz. Daher ist der Ausdruck „verfassungsrechtliche Beachtlichkeit“ zu bevorzugen.68 68. Eine Kompetenzüberschreitung ist verfassungsrechtlich beachtlich, wenn das handelnde Unionsorgan die äußersten Grenzen überschreitet, die das Grundgesetz der Auslegung von Kompetenzen setzt. Zu prüfen ist, ob Stellen der Union ihre Kompetenzen in einer Weise auslegen, die noch in strukturell vergleichbar zur deutschen Vorstellung von Rechtsanwendung ist. Die Ultra-vires-Kontrolle knüpft damit an der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG an.69 69. Zentral ist damit, ob formal eine ausreichende Berücksichtigung der nationalen kompetenziellen Interessen stattfand. Diese muss nachvollziehbar für die Mitgliedstaaten sein. Das Unionsorgan muss die Kompetenzherleitung problemorientiert begründen. Für den EuGH geschieht dies in Form einer Antwort auf die Argumente des Bundesverfassungsgerichts in der Vorlage zum Vorabentscheidungsverfahren.70 70. Im Falle von Unklarheiten nach einer Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefrage kann eine weitere Vorlage sachdienlich sein. Ist dies der Fall, verbietet die Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes eine vorherige Ultravires-Erklärung.71 71. Eine Kompetenzherleitung, welche die Kompetenzordnung der Verträge in grundsätzlicher Weise negiert, ist offensichtlich fehlerhaft.72 72. Geht ein Unionsorgan von tatsächlich fehlerhaften Prämissen aus oder gerät seine Kompetenzherleitung logisch widersprüchlich, so ist dies verfassungsrechtlich beachtlich.73 73. Eine beachtliche Kompetenzüberschreitung liegt darüber hinaus vor, wenn ein Unionsorgan, insbesondere der EuGH, mit seiner Kompetenzherleitung gegen gesamteuropäische Rechtstraditionen verstößt. Dies ist der Fall, wenn davon auszugehen ist, dass die Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten eine entsprechende Begründung nicht mittragen. Abweichungen von gemeinsamen Rechtsüberzeugungen sind damit unzulässig, wenn sie keine Ursache in den Besonderheiten der Natur der Union finden.74 74. Nur eine kontinuierliche Handhabung des Rechts garantiert eine rationalisierte, systematische Anwendung europäischer (Kompetenz-)Normen. Daher ist dem EuGH eine Kontinuitätspflicht aufzuerlegen: Er darf nur dann von
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3. Kap., B I 5, S. 254 ff. 3. Kap., B I 5, S. 255 f. 70 3. Kap., B I 5 a), S. 257 ff. 71 3. Kap., B I 5 a), S. 259. 72 3. Kap., B I 5 b) aa), S. 261 f. 73 3. Kap., B I 5 b) bb), S. 263 f. 74 3. Kap., B I 5 b) cc), S. 264 ff. 69
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einer bisherigen Linie abweichen, wenn er dies transparent als Abkehr kennzeichnet oder aber die Besonderheiten des Einzelfalls verdeutlicht.75 75. Aus Sicht der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen macht es keinen Unterschied, ob willkürliche Ergebnisse durch den EuGH oder durch andere Organe produziert werden. Insoweit schützt die Selbstbindung europäischer Organe auch die Mitgliedstaaten. Etwaige Abweichungen von früheren Auffassungen müssen besonders begründet werden.76 76. Die Feststellung eines Ultra-vires-Akts kann kein Umsetzungsverbot für die nationale Legislative begründen. Auch führt sie nicht zur Nichtigkeit bereits verabschiedeter Umsetzungsgesetze.77 77. Für Exekutivorgane und für Gerichte besteht ein Umsetzungs-, Vollzugsund Operationalisierungsverbot nur, wenn mit dem Ultra-vires-Verdikt die Rechtsgrundlage ihres Handelns wegfällt. Können sie sich weiterhin auf einen nationalen Rechtsakt stützen, steht ihnen – aus Sicht der deutschen Rechtsordnung – eine freiwillige Umsetzung des Unionsakts offen.78 78. Die Pflichten aus der Integrationsverantwortung erschöpfen sich in Ultravires-Konstellationen nicht in der Beseitigung der rechtlichen Wirkung eines kompetenzüberschreitenden Akts im deutschen Recht. Notwendig ist darüber hinaus eine Harmonisierung von nationaler und europäischer Rechtsordnung.79 79. Die Verfassungsorgane verfügen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht über das Instrumentarium, um ihre Integrationsverantwortung wirksam wahrzunehmen. Zu oft bliebe ihnen nur der Austritt aus der Union zur Harmonisierung der Rechtsordnungen.80 80. Zusätzlich zu den vom Bundesverfassungsgericht aufgeführten Handlungsoptionen besteht die Möglichkeit einer einseitigen Übertragung von Hoheitsrechten durch die Bundesrepublik. Der Integrationsgesetzgeber kann auch ohne die Beteiligung der anderen Mitgliedstaaten demokratische Legitimation herstellen.81 81. Die Möglichkeit des Austritts aus der Union ist ein unverzichtbares Letztmittel zur Wahrnehmung der Integrationsverantwortung. Nur so kann eine unionsrechtliche Bindung mit Sicherheit beseitigt werden.82 82. Ein Austritt aus der Union ist im Lichte der deutschen Integrationsverpflichtung nur zulässig, wenn alle anderen Mittel zur Beseitigung des Konflikts, mit Ausnahme der Einräumung der angemaßten Kompetenzen, keinen Erfolg
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3. Kap., B I 5 b) dd), S. 266 ff. 3. Kap., B I 5 b) dd), S. 268. 77 3. Kap., B III 1 a), S. 271 ff. 78 3. Kap., B III 1 b), S. 274 f. 79 3. Kap., B III 2, S. 276 ff. 80 3. Kap., B III 2 a) aa), S. 277 f. 81 3. Kap., B III 2 a) bb), S. 278 ff. 82 3. Kap., B III 2 a) cc), S. 281 ff. 76
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Zusammenfassung in Thesen
versprechen. Von den Verfassungsorganen sind ernstliche vorherige Bemühungen zur Beseitigung des Rechtskonflikts zu verlangen.83 83. Die vom Bundesverfassungsgericht statuierte Pflicht zur weitestmöglichen Beseitigung der tatsächlichen Folgen eines Ultra-vires-Akts ist abzulehnen. Sie überstrapaziert die Gestaltungskraft der Verfassungsorgane und ist zudem nicht operabel.84 84. Begrüßenswert ist die vom Bundesverfassungsgericht statuierte Pflicht des Bundestags, im Anschluss an ein Ultra-vires-Verdikt eine Plenardebatte vorzunehmen. Auf diese Weise wird die demokratische Gestaltungsfähigkeit des Bundestags in Integrationsfragen auch prozedural abgesichert.85 85. Der Ultra-vires-Vorbehalt kann das europäische Projekt stärken, indem er rechtsstaatliche Standards einfordert und damit einen Anreiz zur Fortentwicklung der Rechtsgemeinschaft schafft.86
83
3. Kap., B III 2 a) cc), S. 282 f. 3. Kap., B III 2 b), S 283. 85 3. Kap., B III 2 c), S 284. 86 3. Kap., B IV; Schluss, S. 284 ff. 84
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Sachverzeichnis Abgeleitetes Unionsrecht 90–92 Abwägungs- und Darlegungsausfall 108 f., 226, 257–261 Ajos 10, 202, 211–214 Allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts 59 f., 100 Altersdiskriminierung, Verbot der 91 f., 122, 153 f., 212–213 Anknüpfungspunkt, materiell-rechtlicher 77–93, siehe auch Kompetenz, Begriff der Anknüpfungspunkt, prozessualer 133– 152, siehe auch Verfahrensgegenstand Anwendungsvorrang, Durchbrechung des 17–24 Anwendungsvorrang 13–25 Aufsichtsklage 203–215, siehe auch Vertragsverletzungsverfahren Austritt aus der Europäischen Union 281–283 Bail-out-Verbot 40, 88 Bananenmarkt-Entscheidung 135, 183– 185 Bankenunion 79 f., 90 f. Beachtlichkeit, verfassungsrechtliche 254–257 Befangenheit 204 Brexit 197, 244 Brückenklausel 25, 140 Brückenmodell 18 f., siehe auch Geltungsbrücke Bundesverfassungsgericht, Kontrollmonopol des 129–132 Bundesverfassungsgericht, Macht des 160 Bund-Länder-Streit 169–172
Controlimiti-Vorbehalt, siehe TariccoRechtsprechung Costa/E.N.E.L-Entscheidung 20–23 Demokratie, Anspruch auf 125, 155– 160, 188 Demokratie als Schutzgut der Kontrolle 37–47 Diskurstauglichkeit 108, 258–261 Dogmatik, Funktion der 266 Doppelwirkungen im Recht 46 f. Duale Legitimation der europäischen Hoheitsgewalt 39–43, 127 Dualismus, völkerrechtlicher 19–21, 24 f., 134 Effet-utile 56, 63, 99 Eigenheiten des Unionsrechts 60–62, 86, 96–98, 109, 255 Eilrechtschutz 62 f., 172 f. Einheitliches Patentgericht 157 f., siehe auch formelle Übertragungskontrolle Enumerationsprinzip, verfassungsprozessuales 69, 152 Erkenntnisgrenzen des Bundesverfassungsgerichts 101–103, 187 Europäische Zentralbank 74–76, 79–83, 87–92, 108, 111–118, 193–202, 215, 223–227, 260–262 Europäischer Gerichtshof – Befangenheit des ~ 204 – Entscheidungsfindung im Spruchkörper 227, 259 – Rolle des ~ 5, 197 f., 218–227, 238– 247 – Verwerfungsmonopol 3, 51–64 – Vorlagepflicht 50–52, 132 f., 259 f., 264
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Sachverzeichnis
Europäisches Verfassungsgericht 241– 246, 255 f., siehe auch Europäischer Gerichtshof, Rolle des ~ Europarechtsfreundlichkeit 19, 52 f., 66, 69, 103 f., 124–128, 132, 173, 215– 226, 238, 242 Ewigkeitsgarantie 22, 31 f., 44 f., 48, 66, 69, 119, 143, 146, 158, 174–184, 238–241, 282 Excès du pouvoir 58 Exekutivakte im Zusammenhang mit Ultra-vires-Akten 67 f., 203 f., 228– 232, 274 f., 282 Fachöffentlichkeit 8, 67, 107 f., 192, 199, 219 f., 260 Fehlertoleranz 102 f., 106 f. Fernsehrichtlinie 170 f. Finalität europäischer Kompetenzen 78, 86 f., 113–118 Folgen des Ultra-vires-Vorbehalts, siehe Wirkungen Formelle Übertragungskontrolle 157– 159, 174–176, 184 f. Geltungsbrücke 18–20, 75, 180 Geltungsgrund des Unionsrechts 13–25, 74 f., 134, 180 Generalanwälte, Rolle der 227, 260 Gerichtsverbund 105, 209, 259, 269, 285, siehe auch Kooperationsverhältnis Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten 202, 208 Grundrechtseingriff als Voraussetzung der Strukturwirksamkeit 119 Grundrechtskontrolle 73 f., 134, 163, 182–185, 246 Heck’sche Formel 70 f., 239 Holubec-Entscheidung 10, 202, 208– 211, 214 f., 230 Hypothekentheorie, völkerrechtliche 134 f., 179 Identitätskontrolle 54 f., 103, 119 f., 144, 176–182, 184 f., 246 Immer engere Union 6, 242 f.
Implied-powers-Doktrin 99 Institutionensetting 66, 98, 118, 128 Integrationskompetenz des Gesetzgebers 161 f., 169 f., 178–181, 183 Integrationsprogramm 1 f., 17, 30–32, 91, 139 f., 180, 249, siehe auch Zustimmungsgesetz Integrationsverantwortung 139–151, 169 f., 191, 231, 233–235, 269 f., 275–281 Integrationsverpflichtung 282 f. Judikativakte im Zusammenhang mit Ultra-vires-Akten 273–275 Jugoslawien-Strafgerichtshof-Gesetz 279 Justizkonflikt, siehe Rechtskrise Kette der demokratischen Legitimation 2, 38 f., 45, 48, 127 Kloppenburg-Beschluss 28–30, 103 Kompetenz, Begriff der 77–92, 247–253 Kompetenz-Kompetenz 29–37, 43, 49, 65 f., 72, 127, 187 f., 238, 249, 261 f., siehe auch Staatssouveränität Kompetenzschranke 84 f., 87–92, 246– 253 Kompetenzüberschreitung, siehe Anknüpfungspunkt, materiell-rechtlicher Kompetenzverletzung, doppelte 91 f., 252 Kontinuitätspflicht 117 f., 266–268 Kontrollmonopol des Bundesverfassungsgerichts 124, 129–132, 143, 234 Kooperationsverhältnis 1, 52 f., 103 f., 118, 192–196, 222–227 Landtová, siehe Holubec-Entscheidung Legislativakte im Zusammenhang mit Ultra-vires-Akten 207, 211, 230, 271–274 Letztentscheidungskompetenz, Beanspruchung der 20, 32, 50, 55, 63–66, 196–198, 222, 285 Logik als Rechtskriterium 110, 263 f. Luxemburger Kompromiss 149 f.
Sachverzeichnis Maastricht-Vertrag 39 f., Medienöffentlichkeit 67, 106, 219 f., 229–231, 284 f. Mehrebenensystem 4, 13, 177, 219 Menschenwürde 41, 44 f., 123, 173, 183 Meta-Methodik 96–99, 101 Methodik als Maßstab der Ultra-viresKontrolle 48, 93–103, 107–111, 116– 118, 186 f., 226 f., 241 f., 254–269 Monismus, völkerrechtlicher 21–23 Monopol zur Kontrolle, siehe Kontrollmonopol des Bundesverfassungsgerichts Motor der Integration 5, 219, 242, siehe auch Europäischer Gerichtshof, Rolle des ~ Nachgelagertes Unionsrecht als Kontrollmaßstab 90–92, 252 Next-Generation-EU, siehe Wiederaufbaufonds Nichtakt 16, 56–62 Normenkontrollverfahren 136, 162–169, 171 f., 233 Notwendigkeit der Kontrolle 65 f., 238– 246, siehe auch Ultra-vires-Kontrolle, Zwecke Offensichtlichkeit 104–118, 123–127, 254–257, siehe auch Beachtlichkeit, verfassungsrechtliche OMT-Programm, Grundzüge des ~ 75 f., 86, 224 Organstreitverfahren 67, 161 f. Organzuständigkeit für die Ultra-viresKontrolle 66–68 Pflicht zur Wiederherstellung verfassungskonformer Zustände 276 Plenardebatte im Bundestag 114, 284 Polen 7, 10, 208, 244 Popularverfassungsbeschwerde 155– 160, 269 f. Primärrecht als Kontrollgegenstand 25 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 2, 32–34, 240, 261–263
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Prozessualer Anknüpfungspunkt 133– 152, siehe auch Verfahrensgegenstand Prüfungsauftrag im Verfassungsrecht 64–72, 239–246 Prüfungsbefugnis im europäischen Recht 49–63, 203–205 Ratifikationsgesetz zu den Unionsverträgen 18, siehe auch Zustimmungsgesetz Reaktionspflichten der Organe der Bundesrepublik 144–151, 275–284 Rechtsbeugung 110 f. Rechtsfolgen des Ultra-vires-Verdikts 163, 270–275 Rechtsförmlichkeit 75 Rechtsfortbildung 94, 99–101 Rechtsgemeinschaft 1, 9, 173, 194, 208, 222, 245 f., 287 Rechtskraft 58–61 Rechtskrise 26, 190, 193–195, 228–231, 236 f. Rechtsschutzlücke 136, 145, 151 f., 168 f. Rechtsstaatlichkeit 47 f., siehe auch Rechtsgemeinschaft Rechtstraditionen 22, 61, 76, 96–98, 256, 264–266 Rechtsverweigerungsverbot 70 Rechtswandel 97 f., siehe auch Rechtsfortbildung Reservefunktion 3, 6, 216 Sanktion 76, 205–209 Schrankentrias 80, 92 Schumann’sche Formel 70 f., 239 Schutznorm, kompetenzrechtliche 249– 254, siehe auch Kompetenz, Begriff der Schutzpflicht 147, 161 Schwerekriterium 120, 128, 262, siehe auch Strukturrelevanz Scope of law 92 Sekundärrecht als Prüfungsmaßstab, siehe nachgelagertes Unionsrecht als Kontrollmaßstab
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Sachverzeichnis
Solange-Rechtsprechung 4, 68 f., 104, 135, 182 f., 198–200 Souveränität 3, siehe auch Staatssouveränität und Volkssouveränität Spezialitätsverhältnis, siehe Ultra-viresKontrolle, Verhältnis zu anderen Kontrollvorbehalten SSM-Verordnung 79, 89, siehe auch Bankenunion Staatenverbund 30 f., 243 Staatssouveränität 27–37, 43, 75, 134 f., 237, 280, siehe auch KompetenzKompetenz Staatsvolk 32, 36 –40, 137, 154, 236 f., siehe auch Volkssouveränität Strukturrelevanz 80, 118–123, 127–129, 175, 181, 214, 253 f., 262 – sukzessive 128 Subsidiarität 5, 79 f., 151, 245, 251 Subsidiaritätsklage 151 Taricco-Rechtsprechung 53–56 Übermaßverbot 83–86 Ultra-vires-Kontrolle – Begriff 1 – grundsätzlicher Meinungsstand 2, 8 f., 224 – Herleitung 9, 13–72 – integrationsfördernde Effekte 69, 245 f., 285, 287 f. – Notwendigkeit der 66–68, 238–246 – Rechtsfolgen 163, 270–275 – Reservefunktion 3, 6, 216 – unionsrechtliche Befugnis zur ~ 49– 63, 203–205 – verfassungsrechtlicher Auftrag zur ~ 64–72, 239–246 – Verhältnis zu anderen Kontrollvorbehalten 174–184 – Vorbildwirkung 9 f., 187 – Vorfeldwirkungen, siehe Wirkungen, qua Existenz – Wirkungen, siehe Wirkungen – Zuständigkeit für die ~ 66–68 – Zwecke 25–49, 239–246 Umsetzungsakte, Unwirksamkeit der 138 f., 270–275
Unabhängigkeit der EZB 46, 232, 278 Unabhängigkeit der Gerichte 193, 199– 203, 222, 278 Ungarn 7, 10, 208, 244 Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung 87–92 Verbotsvorschrift, siehe Kompetenzschranke Verfahrensarten 151–173 Verfassungsbeschwerde 153–161, 269 f. Verfassungsgebende Gewalt 31, 35, 44 Verfassungsidentität 34 f., 53–55, siehe auch Ewigkeitsgarantie und Identitätskontrolle Verfassungsprozessrecht 129–152 Verfassungsvertrag 15 Verhältnismäßigkeit 80–87, 108, 177, 122, 128, 193–197 Vertragsverletzungsverfahren 57, 192, 198–215 Vertrauensgrundsatz 203 Vertretbarkeitskontrolle 101–103, 105– 112, 254–256, siehe auch Offensichtlichkeit Verwerfungsmonopol für Normen des Unionsrechts 3, 51–64 Vetoantizipation 4, 215 f. Volkssouveränität 37–45, 176 Vollstreckungsanordnung 194–196 Vollzugstheorie, völkerrechtliche 95, 280 f. Vorbildwirkung 9 f., 187 Vorlagepflicht an den Europäischen Gerichtshof 50–52, 132 f., 259 f., 264 Vorrang des Unionsrechts, siehe Anwendungsvorrang Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie 113 f. Wiederaufbaufonds 115 f. Willkür 5, 58 f., 80, 102, 106, 117–119, 127, siehe auch Vertretbarkeitskontrolle Wirkungen der Ultra-vires-Kontrolle 4, 189–237 – auf deutsche Institutionen 227–235 – auf EU-Institutionen 189–227
Sachverzeichnis – bei erfolgter Kontrolle 189–215, 228–233 – qua Existenz 215–227, 233–235
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Zustimmungsgesetz 17–30, 51, 93, 95, 179–182, 236 f., siehe auch Integrationsprogramm Zwangsgeld 207 f. Zweck der Ultra-vires-Kontrolle, siehe Ultra-vires-Kontrolle, Zwecke der