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German Pages 677 Year 2008
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Band 35
Die Supplikations- und Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen Eine Untersuchung am Beispiel der Kurmark unter Friedrich Wilhelm II. (1786–1797)
Von Birgit Rehse
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
BIRGIT REHSE
Die Supplikations- und Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Begründet von Johannes Kunisch Herausgegeben im Auftrag der Preußischen Historischen Kommission, Berlin von Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer und Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll
Band 35
Die Supplikations- und Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen Eine Untersuchung am Beispiel der Kurmark unter Friedrich Wilhelm II. (1786–1797)
Von Birgit Rehse
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0943-8629 ISBN 978-3-428-12591-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Danksagung Diese Arbeit wurde am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen; die Disputation erfolgte am 20. November 2006. Bei meiner Arbeit habe ich von vielen Seiten Unterstützung erfahren. Mein Dank geht an erster Stelle an Frau Professor Dr. Claudia Ulbrich, Freie Universität Berlin, die das Dissertationsprojekt von Anfang an intensiv betreut und mich in allen Arbeitsphasen mit Rat und Tat sowie mit Kritik und Ermutigung engagiert unterstützt und gefördert hat. Auch Herrn Professor Dr. Thomas Max Safley, University of Pennsylvania, möchte ich für die Unterstützung und für seine Anregungen und Kritik ganz herzlich danken. Mein Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Wolfgang Neugebauer und Herrn Professor Dr. Frank-Lothar Kroll, die meine Dissertation in die Reihe Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte bei Duncker & Humblot aufgenommen haben. Mein Dank gilt auch der Heinrich-Böll-Stiftung, die mir mit einem Stipendium in der Anfangsphase des Projekts die Recherche in Archiven und Bibliotheken ermöglicht hat. Dankbar bin ich der Jacques Koerfer-Stiftung, der Ernst-ReuterGesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V., dem Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin für die Gewährung von Frauenfördermitteln und der Aleksandra-Stiftung, die mit Zuschüssen zu den Druckkosten die Publikation überhaupt erst möglich gemacht haben. Für interessante Diskussionen und Denkanstöße möchte ich mich bei den Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Forschungscolloquiums Frühe Neuzeit an der Freien Universität Berlin, insbesondere bei meinen Mitdoktoranden und -doktorandinnen, bedanken. Viele wertvolle Anregungen verdanke ich Frau Dr. Isabel Richter, die sich seit vielen Jahren kritisch mit meinen Texten auseinandersetzt. Es ist immer wieder eine Freude, mit ihr zu diskutieren. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Mann, Friedemann Walther, der das Dissertationsprojekt durch alle Arbeitsstadien hindurch begleitet und mich in meiner Arbeit stets ermutigt hat. Er wurde nie müde, konkrete Fragen mit mir zu erörtern und meine Texte kritisch zu lesen – viele Änderungsvorschläge habe ich ihm zu verdanken. Auch bei Dietlind Walther und Cosima Grohmann möchte ich mich für den unermüdlichen Einsatz beim Korrekturlesen bedanken. Rückhalt gaben mir auch viele meiner Freundinnen und Freunde, die meinem Vorhaben viel Verständnis entgegenbrachten. Besonders möchte ich Judith Koch
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Danksagung
danken, die stets ein offenes Ohr für mich hat und mir eine verständnisvolle Ratgeberin ist. Zum Gelingen der Arbeit trug ebenso Silke Diehr bei, die sich je nach Bedarf als kritische Zuhörerin oder als Babysitter einbrachte. Damit ermöglichte sie mir etliche Stunden, die ich mich voller Konzentration der Arbeit widmen konnte. Dankbar bin ich auch für die Geduld meiner kleinen Tochter Carla, die mir genügend Freiräume ließ, die Arbeit zu einem Ende zu bringen. Zum Schluss möchte ich meinen Eltern ganz herzlich danken, die mir nicht nur das Studium ermöglicht, sondern im Bedarfsfall immer präsent waren und mich in meinen Entscheidungen stets unterstützt haben. Berlin im September 2007
Birgit Rehse
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Fragestellung, Grundannahmen, methodischer Zugang und Aufbau der Arbeit
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II. Die Forschung zur Geschichte der Gnade und des Supplizierens . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Quellengrundlage: Autopsie der Akten, Bestandsgeschichte und Quellenauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Quellenkritische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. „Der Krone ihr schönstes Vorrecht“ – Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Die kulturgeschichtliche Dimension: Begriffsklärung und ideengeschichtliche Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. „Gnade vor Recht“ – Gnadenverständnisse in theologischen und philosophischen Diskursen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Zum Begriff Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Gnadenverständnis(se) in theologischen Diskursen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Gnade als Machtinstrument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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d) Gnadenverständnis(se) im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Supplizieren – Begrifflichkeit und Praktiken im Wandel der Zeit . . . . . . . . . . . .
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a) Klärung des Begriffsfeldes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Zur Geschichte des Supplizierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Die rechts- und verwaltungsgeschichtliche Dimension: Das Gnaden- und Supplikationswesen in Brandenburg-Preußen im Spiegel der Edikte und Verordnungen im Kontext des Normativitätsdiskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Das Supplizieren und Begnadigen im Spannungsfeld von Herrschaftsinstrument und Missbrauch (15. – 17. / 18. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Supplikation und Gnade im Rahmen der Verwaltungsreformen unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. im Kontext des Bestätigungsrechts und des Machtspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3. Das Supplikations- und Gnadenwesen unter Friedrich Wilhelm II. . . . . . . . . . . 109 4. Supplizieren, Gnade und Machtspruch an der Wende zum 19. Jahrhundert . . 121
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Inhaltsverzeichnis III. Die Dimension der Praxis: Das Gnadenbitten unter Friedrich Wilhelm II. . . . . . . 129 1. Die Entstehung von Suppliken: Ratgeben, Konzipieren und Ausfertigen . . . . 129 a) Fachkundige Schreiber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 b) Eine Frage der Perspektive: Hilfe aus dem sozialen Umfeld oder Winkelschriftstellerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 c) Suppliken von eigener Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 d) Amtlich protokollierte Gnadenbitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 e) Motivation und Einflussnahme der Schreiber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 f) Die Bedeutung der Supplikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 2. Die Physis der Suppliken: Form, Stil, Aufbau und narrative Muster . . . . . . . . . 150 a) Stempelpapier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 b) Formaler Aufbau der Suppliken und narrative Muster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 c) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3. Die inhaltliche Zielsetzung von Gnadenbitten: Von der Abolition bis zur Hafterleichterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 a) Nicht näher spezifizierte Bitten um Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 b) Bitte um Beschleunigung des Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 c) Bitte um Freilassung während des Untersuchungsarrestes . . . . . . . . . . . . . . . . 177 d) Bitte um Revision bzw. um Zulassung zur Appellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 e) Bitte um Niederschlagung des Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 f) Bitte um Freispruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 g) Bitte um gänzlichen Straferlass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 h) Bitte um Strafverkürzung bzw. Freilassung von zu lebenslanger Haft Verurteilten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 i) Bitte um Umwandlung einer Festungs- bzw. Zuchthausstrafe in eine Gefängnisstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 j) Bitte um Umwandlung einer Festungsstrafe in eine Zuchthausstrafe . . . . . . 185 k) Bitte um Umwandlung einer Gefängnisstrafe in eine Geldbuße . . . . . . . . . . . 185 l) Bitte um Strafaufschub bzw. Aussetzung der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 m) Deliktspezifische Bitte: Heiratserlaubnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 n) Deliktspezifische Bitte: Wiederherstellung der Ehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 o) Deliktspezifische Bitte: Strafverschärfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 p) Bitte um Stundung oder um Niederschlagung der Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . 189 q) Bitte um Aufhebung der Landesverweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 r) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Inhaltsverzeichnis
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4. Die Zeitläufe des Supplizierens: Zeitpunkte und Häufungen . . . . . . . . . . . . . . . 193 a) Zeitpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 aa) Krönung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 bb) Jahrestag der Krönung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 cc) Huldigungstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 dd) Geburtstag des Herrschers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 ee) Geburt eines Thronerben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 ff) Rückkehr aus dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 gg) Religiöse Feste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 hh) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 b) Häufungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 aa) Die Quote des Gnadenbittens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 bb) Strategien bei häufigem Supplizieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 cc) Hartnäckiges Supplizieren und der Umgang der Obrigkeit damit . . . 208 dd) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 B. „Allerunterthänigster Knecht“ und „gehorsamste Magd“ – Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen sowie ihrer Argumente und Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Gnadenbitten in eigener Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 2. Gnadenbitten von Eheleuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 3. Gnadenbitten von Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 4. Gnadenbitten von Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 5. Gnadenbitten von Geschwistern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 6. Gnadenbitten von Anverwandten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 7. Gnadenbitten der Brotherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 8. Gnadenbitten aus der Nachbarschaft und dem Arbeitsumfeld . . . . . . . . . . . . . . 308 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
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Inhaltsverzeichnis 9. „Ich als Obrigkeit“ – Gnadenbitten der lokalen Obrigkeit und des Militärs 317 a) Lokale Obrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 b) Militär . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 10. Fürbitten aus dem Haus der Hohenzollern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 II. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 1. Zwischenbilanz zu Supplikationsmustern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 a) Supplikationsmuster im Hinblick auf die Beziehungsstruktur zwischen Supplizierenden und Nutznießern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 b) Supplikationsmuster im Hinblick auf soziale Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 c) Supplikationsmuster in generativer Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 d) Supplikationsmuster in geschlechterspezifischer Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . 351 2. Zwischenbilanz zu Motiven und Interessenlagen des Supplizierens . . . . . . . . 357 a) Supplizieren in der Funktion als außer- bzw. nachgerichtliche Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 b) Faktor Interesse: Supplizieren mit dem Wirtschaftsargument als Mittel zur Verhinderung des wirtschaftlichen Ruins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 c) Faktor Interesse: Supplizieren als Mittel zur Sicherung von Entscheidungskompetenz und Mitsprachemöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 d) Faktor Interesse: Supplizieren als Mittel zur Klärung von Erbfragen . . . . 364 e) Faktor Interesse: Supplizieren als Mittel zur Ehrenrettung . . . . . . . . . . . . . . 366 f) Faktor Emotion: Supplizieren mit dem Topos Mitleid als Mittel zur Authentifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 g) Faktor Pflicht: Supplizieren als Mittel zur Pflichterfüllung . . . . . . . . . . . . . 370 h) Explizite und implizite Motive und die gesellschaftliche Funktion des Supplizierens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373
C. „Will Ich die gebetene Gnade angedeihen laßen“ – Obrigkeitliche Handlungsmuster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 I. Supplikationen und Fürsprachen – Der Weg durch die Behörden . . . . . . . . . . . . . . . 376 1. Das Prüfen von Supplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 a) Das Verhältnis zwischen dem Geheimen Rat und dem Justizdepartement 376 b) Eingangsbearbeitung der Suppliken in der Kanzlei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 c) Die Justizminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 d) Bearbeitung von Mediatsupplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
Inhaltsverzeichnis
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e) Bearbeitung von Immediatsupplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 f) Der Kontext: Die Bestätigung des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 g) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 2. „Zu dieser Gnade wird empfohlen“ – Fürsprachen aus dem Justizapparat . . . 395 a) Fürsprachen der Justizminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 b) Fürsprachen des Ober-Appellationssenats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 c) Fürsprachen der Kriminaldeputation des Instruktionssenats . . . . . . . . . . . . . . 406 d) Fürsprachen der Stadtgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 e) Fürsprachen der Justizämter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 f) Fürsprache einer Strafvollzugsanstalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 g) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 II. Der Erfolg des Gnadenbittens – Begnadigungsformen und Gnadenbegründungen 424 1. „Gäntzliche Begnadigung verdient“ – Verzicht auf Bestrafung . . . . . . . . . . . . . . 428 a) General-Pardon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 b) Vergebung der Geschädigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 c) Mangel an Beweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 d) Fehlender Vorsatz und Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 e) Kritischer Gesundheitszustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 f) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 2. „Gnade für Recht“ – Begnadigung von zum Tode Verurteilten . . . . . . . . . . . . . . 440 a) Verzicht auf Waffengebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 b) Fehlender Vorsatz, Motivlosigkeit und Unzurechnungsfähigkeit . . . . . . . . . . 442 c) Indizien für moralische Besserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 d) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 3. „Loßlassung“ von zu lebenslanger Haft Verurteilten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 a) Geänderte Gesetzesgrundlage zum Kindsmord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 b) Indizien für moralische Besserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 c) Allerhöchste Vergebung im Fall von Majestätsbeleidigung und Herrschaftskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 d) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 4. „Die noch übrige Straf-Zeit erlassen“ – Strafverkürzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 a) General-Pardon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 b) Mangel an Beweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 c) Fehlender Vorsatz und Fahrlässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465
12
Inhaltsverzeichnis d) Verzicht auf Waffengebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 e) Jugendlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 f) Ermittlungsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 g) Geänderte Gesetzesgrundlage zum Kindsmord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 h) „Conservation“ der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 i) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 5. „In via gratia“ – Umwandlung in eine mildere Strafform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 a) Gefängnis anstelle Festung bzw. Zuchthaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 aa) Umgang mit „boshaften verderbten Mißethätern“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 bb) Kritischer Gesundheitszustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 cc) Schutz des neugeborenen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 dd) Schutz der Familienehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484 ee) Erhalt der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 ff) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 b) Geldbuße anstelle Gefängnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 aa) Unverhältnismäßigkeit zwischen persönlicher Schuld und Strafmaß 493 bb) Unschuld und Unwissenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 cc) Erhalt der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 dd) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 c) Sonstige Strafumwandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 d) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 6. Aufschub des Strafantritts und vorübergehende Aussetzung der Strafe . . . . . . 503 a) Erhalt der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 b) Schutz des neugeborenen Lebens und Versorgung der Kinder . . . . . . . . . . . . 513 c) Kritischer Gesundheitszustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 518 d) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 7. Sonstige Strafmilderungen und Verfahrenserleichterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 a) Aufhebung der Landesverweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 b) Entlassung aus dem Arbeitshaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 c) Niederschlagung der Kosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 d) Beschleunigung des Prozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540
Inhaltsverzeichnis
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III. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 1. Zwischenbilanz zur Gnadenquote und zur Typologie der Begnadigungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 a) Gnadenquote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542 b) Typologie der Begnadigungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 2. Zwischenbilanz zu den Gründen für eine Begnadigung und den damit verbundenen Motiven der Obrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 a) Neubewertung der im Verfahren angewandten Rechtsnormen im Sinne einer Selbstkorrektur der Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 b) Neubewertung des Verhältnisses zwischen Tat und Schuld . . . . . . . . . . . . . . . 555 c) Folgen und Wirkungen des Strafvollzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 d) Bewertung der moralischen Gnadenwürdigkeit der verurteilten Person . . . 562 e) General-Pardon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 f) Begründungszwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 3. Zwischenbilanz zu den Akteuren: Die obrigkeitlichen Entscheidungsträger, die Begnadigten und ihre Supplikanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 a) Die obrigkeitlichen Entscheidungsträger und ihre Zuständigkeit . . . . . . . . . 571 b) Die begnadigten Männer und Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 c) Die Supplikanten und Supplikantinnen der Begnadigten . . . . . . . . . . . . . . . . . 582 Ergebnisse und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 I. Zur Supplikationspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 II. Zur Gnadenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 650 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661
Abkürzungsverzeichnis Abtlg.
Abteilung
a. d.
an dem / der
AGO
Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten
AJM
Allgemeine Juristische Monatsschrift
ALR
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten
APuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte
Art.
Artikel
AT
Altes Testament
Aufl.
Auflage
Bearb.
Bearbeiter
bearb. v.
bearbeitet von
bes.
besonders
bspw.
beispielsweise
bzgl.
bezüglich
bzw.
beziehungsweise
Bd. / Bde.
Band / Bände
BRD
Bundesrepublik Deutschland
ca.
circa
CCM
Corpus Constitutionum Marchicarum
chap.
chapter
DDR
Deutsche Demokratische Republik
ders. / dies. / dess.
derselbe / dieselbe bzw. dieselben / desselben
d. h.
dass heißt
ebd.
ebenda
erw.
erweitert
Ex.
Exodus
f.
folgende (Seite)
Fn.
Fußnote
fol. / Fol.
folio / Folio (Blatt)
Frankfurt a. M.
Frankfurt am Main
geb.
geborene
Gen.
Genesis
Abkürzungsverzeichnis GG
Geschichte und Gesellschaft
GG
Grundgesetz
griech.
griechisch
GStA PK
Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz
GWU
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
HA
Hauptabteilung
Halbbd.
Halbband
Hg.
Herausgeber / in
HRG
Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte
hrsg. v.
herausgegeben von / vom
HZ
Historische Zeitschrift
i. S.
im Sinne
insg.
insgesamt
JbG
Jahrbuch für Geschichte
15
J.-C.
Jesus Christus
Jh.
Jahrhundert
Kap.
Kapitel
lat.
lateinisch
Lit.
Littera
NCCPBPM
Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium Praecipue Marchicarum
ND
Neudruck
No
Numero
Nr.
Nummer
NT
Neues Testament
o. D.
ohne Datum
o. J.
ohne Jahr
ÖZG
Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften
orig.
original
r.
recto (Vorderseite eines Blattes)
Rep.
Repositur
resp.
respektive
Röm.
Römerbrief (NT)
s.
siehe
S.
Seite
Sp.
Spalte
Suppl.
Supplement
Teilbd.
Teilband
16
Abkürzungsverzeichnis
Tit.
Titel
u. a.
unter anderem
u. ä.
und ähnliches
v.
verso (Rückseite eines Blattes)
v. (d.)
von der (Namenszusatz)
verehel.
erehelichte
verw.
verwitwete
vgl.
vergleiche
VSWG
Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
www.
world wide web
z. B.
zum Beispiel
ZfG
Zeitschrift für Geschichtswissenschaft
ZfHF
Zeitschrift für Historische Forschung
zit. nach / in / aus
zitiert nach / in / aus
ZRG (GA)
Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung
Einleitung I. Fragestellung, Grundannahmen, methodischer Zugang und Aufbau der Arbeit Fragestellung In der vorliegenden Arbeit wird die Supplikations- und Gnadenpraxis in der Spätphase des Absolutismus in Brandenburg-Preußen untersucht. Dabei wird der Fragestellung nachgegangen, welche Akteure beim Supplizieren und Begnadigen beteiligt waren und auf welche Weise sie dabei vorgingen, um zu erfahren, welche Machtverhältnisse dies jeweils ausdrückte und hervorbrachte. Es gilt, daraus Rückschlüsse auf die Funktionsweise und die Legitimation von Herrschaft Ende des 18. Jahrhunderts zu ziehen. Die Studie widmet sich in zweifacher Hinsicht einem Forschungsdesiderat: zum einen im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand – denn Supplikations- und Gnadenpraxis in Bezug auf strafrechtlich Verurteilte wurden bislang kaum auf einer vergleichbar breiten Quellengrundlage untersucht –, und zum anderen im Hinblick auf den Untersuchungszeitraum – also die wenig erforschte Herrschaft Friedrich Wilhelms II. Die Studie untersucht das Phänomen am Beispiel von Supplikationen und Begnadigungen von strafrechtlich Angeklagten und kriminalgerichtlich Verurteilten in der Kurmark unter König Friedrich Wilhelm II. (1786 – 1797).1 Gesichtet wurden rund 1.000 Fälle, in denen Untertanen und Untertaninnen um Erlass oder Milderung einer Strafe supplizierten. Eine Auswahl der Quellen, die 272 Fallakten mit insgesamt 611 Suppliken umfasst, wird einer qualitativen Analyse und in Bezug auf einige zentrale Aspekte auch einer quantitativen Analyse unterzogen. Bei den Gnadenbitten handelt es sich zum einen um Immediatsuppliken, die direkt an den Monarchen in seiner Funktion als Gnadenträger gerichtet waren und auch von ihm entschieden wurden, und zum anderen um Mediatsuppliken auf zentralbehördlicher Ebene, die im konkreten Fall an das Justizdepartement respektive an den Geheimen Rat adressiert waren und von einem Justizminister in Abstimmung mit den Geheimen Räten im Auftrag des Landesherrn entschieden wurden. Das Bitten um Gnade und die Gewährung von Gnade werden hier als aufeinander bezogene und voneinander abhängige Praktiken verstanden, die zugleich 1 In Einzelfällen wurden auch Gnadenakte berücksichtigt, die vom Thronfolger, Friedrich Wilhelm III., bewilligt wurden, vorausgesetzt, der Gnadenfall wurde bereits zur Zeit der Regierung von Friedrich Wilhelm II. verhandelt (zur Begründung s. u. zur Quellengrundlage).
18
Einleitung
Machtverhältnisse ausdrücken. Daher wird das Handeln der an der Supplikationspraxis als auch an der Gnadenpraxis beteiligten Männer und Frauen nachvollzogen. Im Vordergrund steht dabei, die Strategien, Motive und Interessen der Handelnden zu rekonstruieren: Was bewog die Bittsteller und Bittstellerinnen zur Supplikation und was bewog die obrigkeitlichen Akteure zur Begnadigung? In Bezug auf die Supplikationspraxis wird dabei folgenden Fragen nachzugehen sein: Für wen baten die Supplikanten und Supplikantinnen um Gnade und in welcher Beziehung standen sie zu den Personen, für die sie supplizierten? In welcher Form brachten sie ihre Gnadenbitten vor den Thron und welcher Strategien und Argumentationsmuster bedienten sie sich? Welche Motive gaben sie für ihr Handeln an? Betrachtet man die Gnadenpraxis, so drängen sich folgende Fragen auf: Wie verfuhr die Obrigkeit mit Supplikationen und auf welche Weise wurde begnadigt? Unter welchen Bedingungen wurde eine Begnadigung von einer gerichtlich verhängten Strafe gewährt und welche mutmaßlichen Motive verfolgte die Obrigkeit dabei? Von der Analyse der Machttechniken des Supplizierens und Gnadegewährens bzw. -verwehrens wird erwartet, dass sie Machtverhältnisse in verschiedenen Dimensionen enthüllt, nicht nur zwischen Untertanen und Obrigkeit, sondern auch zwischen den Supplizierenden und den zur Begnadigung Vorgeschlagenen sowie zwischen den einzelnen obrigkeitlichen Akteuren. Die Machtverhältnisse lassen wiederum Rückschlüsse auf das Funktionieren von Herrschaft in Brandenburg-Preußen Ende des 18. Jahrhunderts zu. Die Wahl des Untersuchungsgebietes und des Zeitraums geht auf folgende Überlegungen zurück: Das friderizianische bzw. nachfriderizianische BrandenburgPreußen stellt das Paradebeispiel für die so genannte Epoche des aufgeklärten bzw. des späten Absolutismus, auch Reformabsolutismus genannt, dar.2 Insbesondere 2 Zur Einschätzung Preußens als Modellstaat des Absolutismus in der aktuellen Diskussion vgl. Martin Wrede, Stichwort: Absolutismus; in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, 1. Bd., Stuttgart 2005, Sp. 24 – 34, hier Sp. 28 f. und vgl. Gerrit Walther / u. a., Stichwort: Aufklärung; in: ebd., Sp. 791 – 830, hier Sp. 810, 826. Diese Einschätzung teilte auch die rechts- und verwaltungsgeschichtliche Historiographie zu Brandenburg-Preußen Ende des 19. / Anfang 20. Jh., wenngleich ihre Interpretation des Absolutismus preußischer Prägung kritisch zu sehen ist, da sie ihn aufgrund seiner administrativen Strukturen und legislatorischen Neuerungen durchweg als Erfolgsgeschichte feiert – vgl. Otto Hintze, Einleitende Darstellung der Behördenorganisation und allgemeinen Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrich II.; in: Acta Borussica. Denkmäler der preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, hrsg. v. d. Akademie der Wissenschaften (Berlin 1892 – 1932), 6.1. Bd., Berlin 1901; vgl. Adolf Stölzel, Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung, dargestellt im Wirken seiner Landesfürsten und obersten Justizbeamten, 2 Bde., 2. Aufl., Berlin 1989 (ND der Aufl. von 1888); vgl. Conrad Bornhak, Geschichte des Preußischen Verwaltungsrechts, 3 Bde., Berlin 1884 – 1886, hier bes. 2. Bd. / 1885 und Conrad Bornhak, Preußische Staats- und Rechtsgeschichte, Berlin 1903. Beispielhaft für die darauf folgende Schwerpunktsetzung in der Forschung vgl. Aufsatzsammlung von Eberhard Schmidt, Beiträge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaats, Berlin 1980; vgl. Aufsatzsammlung Otto Büsch / Wolfgang Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische Geschichte 1648 – 1945. Eine Anthologie, 3 Bde., Berlin / New York 1981 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; 52). Als Überblick vgl. Hartung, Fritz, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom
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die Kurmark Brandenburg – bestehend aus den Residenzen und den vier Hauptkreisen Altmark, Prignitz, Mittelmark und Uckermark3 – gilt als „Keimzelle“ 4 der staatsrechtlichen Entwicklung Brandenburg-Preußens und seiner Zentralbehörden. Die Kurmark nimmt auch deshalb eine Sonderstellung ein, weil sie von den dort ansässigen Zentralbehörden direkt verwaltet wurde, während es in den übrigen preußischen Provinzen eigene Provinzialverwaltungen gab, die den Zentralbehörden untergeordnet waren.5 Für die Kurmark als Untersuchungsgebiet spricht auch, dass man beim Kerngebiet der brandenburg-preußischen Herrschaft von einer historisch gewachsenen Beziehung zwischen den Hohenzollern und ihren Untertanen ausgehen kann. Mit Blick auf die bisherigen Befunde der Supplikationsforschung scheint die geographische Nähe zwischen dem Aufenthaltsort des Monarchen und dem Wohnort der um Gnade bittenden Untertanen und Untertaninnen das Supplizieren befördert zu haben.6 Die in der Kurmark lebenden Angeklagten bzw. Verurteilten und ihre Angehörigen hatten somit theoretisch die Möglichkeit, Suppliken dem Monarchen in seiner Residenz persönlich zu überreichen. Auch waren Informationen über die Gnadenpraxis eines jeden Herrschers in der Nähe des Hofes leichter zu erhalten als in fernen Provinzen. Der Untersuchungszeitraum wird auf die Regierungszeit von Friedrich Wilhelm II. – vom 17. August 1786 bis zum 16. November 1797 – eingegrenzt. Charakteristisch für seine Herrschaft war das „Nicht-mehr“ und das „Noch-nicht“ .7 Sein Staatswesen funktionierte auf der Grundlage der durch Friedrich Wilhelm I. und 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 8. Aufl., Stuttgart 1950, S. 118 – 123; vgl. Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, 2 Bde., Karlsruhe 1954 / 1966, hier 2. Bd. / 1966, S. 307 – 315, S. 387 – 391; vgl. Walther Hubatsch, Brandenburg-Preußen, Verwaltungsentwicklung von 1713 – 1803; in: Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh (Hg.), Deutsche Verfassungsgeschichte, 1. Bd., Stuttgart 1983, S. 892 – 941. 3 Zur Bezeichnung Kurmark: Die Markgrafschaft Brandenburg erwarb die Kur- und Erzkämmererwürde am 30. April 1415 zunächst unter Vorbehalt und dann endgültig am 18. April 1417 unter dem Hohenzoller Burggraf Friedrich von Nürnberg – vgl. Eberhard Schmidt, Kammergericht und Rechtsstaat. Eine Erinnerungsschrift, Berlin 1968, hier S. 2. Zur territorialen Frage der Kurmark und der Neumark vgl. Hermann Caemmerer, Der Begriff der Kurmark im 17. und 18. Jahrhundert; in: Forschungen zur Brandenburgischen Geschichte 29 (1916), S. 1 – 5. 4 Zit. nach: Jürgen Kloosterhuis, Von der Repositurvielfalt zur Archiveinheit. Die Etappen der Tektonierung des Geheimen Staatsarchivs; in: ders. (Hg.), Archivarbeit für Preußen. Arbeitsbericht 2, Berlin 2000, S. 47 – 71, hier S. 53. 5 Vgl. Walther Hubatsch, Friedrich der Große und die preußische Verwaltung, Köln / Berlin 1973, hier S. 158. 6 So bspw. der Befund von André Holenstein – vgl. André Holenstein, Bittgesuche, Gesetze und Verwaltung. Zur Praxis „guter Policey“ in Gemeinde und Staat des Ancien Régime am Beispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach); in: Peter Blickle (Hg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, 25. Bd. der Beihefte der Historischen Zeitschrift, München 1998, S. 325 – 357, hier S. 330 f. 7 So die treffende Einschätzung von Wolf Jobst Siedler anlässlich der Ausstellung „Friedrich Wilhelm II. und die Künste. Preußens Weg zum Klassizismus“ der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, Berlin-Brandenburg, Juli bis September 1997; zit. in: Der Tagesspiegel
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Friedrich II. reformierten Verwaltung und Justiz8 sowie auf der gesetzlichen Grundlage des 1794 kodifizierten Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten9, welches nachträglich die Normauslegung und Rechtspraxis der vorhergehenden Jahrzehnte weitgehend fixierte. Verwaltung und Justiz hatten in einem gewissen Maße eine hierarchische Ausdifferenzierung in Form eines Instanzenzuges mit Ansätzen einer abgegrenzten Zuständigkeit erfahren, so dass in der nachfriderizianischen Epoche ein für das Ancien Régime vergleichsweise hoher Grad an bürokratischer Herrschaft zu konstatieren ist.10 Grundannahmen Es muss hier – wie bei allen neueren Forschungen zu diesem Untersuchungszeitraum – mit dem Paradoxon umgegangen werden, sich einerseits auf Begriffe wie Absolutismus und Aufklärung11 zu beziehen, sich andererseits aber der Kritik und vom 20. Juli 1997, S. 23. Auch Stölzel betont die bruchlose Fortführung der Justizreformen unter Friedrich Wilhelm II. – vgl. Stölzel 1989 / 1888, 2. Bd., S. 299. Zur Biographie und Regierung Friedrich Wilhelms II. vgl. Gustav Sichelschmidt, Friedrich Wilhelm II. Der Vielgeliebte und seine galante Zeit. Eine Biographie, Berg am See 1993; vgl. W. M. Freiherr von Bissing, Friedrich Wilhelm II. König von Preußen. Ein Lebensbild, Berlin 1967; vgl. HansJoachim Neumann, Friedrich Wilhelm II. Preußen unter den Rosenkreuzern, Berlin 1997; vgl. Erich Bleich, Der Hof des Königs Friedrich Wilhelm II. und des Königs Friedrich Wilhelm III., Berlin 1914. Als Einschätzung der Regierung durch einen Zeitgenossen vgl. Louis Philippe Ségur, Geschichte der vorzüglichsten Begebenheiten unter der Regierung Friedrich Wilhelms II. König von Preussen, Paris 1801. 8 Neben Stölzels Einschätzung revidieren auch jüngere Studien das Bild Friedrichs II. als fortschrittlich gefeierten Reformer insofern, als nachgewiesen werden konnte, dass ein Großteil grundsätzlicher Neuerungen bereits unter Friedrich Wilhelm I. initiiert wurde – vgl. Stölzel 1989 / 1888, 2. Bd., S. 138; vgl. Timothy Blanning, Frederick the Great and Enlightened Absolutism; in: H. M. Scott (Hg.), Enlightened Absolutism. Reform and Reformers in Later Eighteenth-Century Europe, Michigan 1990, S. 265 – 288, hier bes. S. 268. Allein für den Bereich der Justizpolitik betonen u. a. Hubatsch und Schmidt die reformerischen Leistungen von Friedrich II. – vgl. Hubatsch 1973; vgl. Eberhard Schmidt, Die Justizpolitik Friedrichs des Grossen; in: ders., Beiträge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaats, Berlin 1980, S. 305 – 323; vgl. Eberhard Schmidt, Staat und Recht in Theorie und Praxis Friedrichs des Großen; in: ebd., S. 150 – 209. 9 Zur Bewertung des ALR beispielhaft vgl. Rudolf Vierhaus, Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten als Verfassungsersatz?; in: Barbara Dölemeyer / Heinz Mohnhaupt (Hg.), 200 Jahre Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten. Wirkungsgeschichte und internationaler Kontext, Frankfurt a. M. 1995, S. 1 – 21. 10 Der Begriff bürokratische Herrschaft lehnt sich an Max Webers Definition an, die u. a. besagt, dass Herrschaft nach den Prinzipien der behördlichen Kompetenzzuständigkeit und der Amtshierarchie mit Instanzenzug funktioniert – vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 1. Bd., 2. Halbbd., Tübingen 1956, S. 559 – 587. Zur Bürokratisierung Brandenburg-Preußens vgl. Gerd Spittler, Abstraktes Wissen als Herrschaftsbasis. Zur Entstehungsgeschichte bürokratischer Herrschaft im Bauernstaat Preussen; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 3 (1980), S. 574 – 604. 11 Zur Klärung des Begriffs vgl. Walther u. a. 2005; vgl. Rudolf Vierhaus, Was war Aufklärung? Göttingen 1995 und vgl. dazu die Sicht eines Zeitgenossen: Immanuel Kant, Beantwor-
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der Konstruiertheit der Begriffe bewusst zu sein.12 Ziel der Arbeit ist es nicht, den Sinn eines geschichtswissenschaftlichen Konstrukts wie aufgeklärter Absolutismus zu beurteilen, auch wenn Skepsis gegenüber geschichtswissenschaftlichen Kategorien wie dem aufgeklärten bzw. späten Absolutismus bzw. dem Reformabsolutismus angebracht ist.13 Schließlich muss man der Aufklärung zugestehen, dass einige ihrer Reformideen das Funktionieren von Verwaltung und das Selbstverständnis von Herrschaft beeinflusst haben. Da es gilt, diesen Umstand auch sprachlich wiederzugeben, ist es unumgänglich, auf Begriffe wie absolutistisch und aufklärerisch zurückzugreifen.14 So wird in dieser Studie der Begriff aufgeklärter Absolutismus in Anlehnung an Hans Erich Bödeker und Ulrich Herrmann zeitlich, räumlich und thematisch weit gefasst, um die einander überlappenden Phasen der Entwicklung, die regionalen und lokalen Besonderheiten und die „konkurrierenden aufklärerischen Traditionen“ mit einzubeziehen. Aufklärung wird hiernach als eine Kultur im Sinne eines „grundlegenden Akkulturations- und Bildungsvorgangs“, „als Sinnbildungsprozeß, als Weltaneignung sowie als Transformation menschlicher Umweltwahrnehmung in Handlungsmotive“ verstanden, die sich zu einer „Reformbewegung mit äußeren und inneren institutionellen und mentalitären Grenzen“ entwickelte.15 Im Laufe der Frühen Neuzeit gelang es den Territorialherren, das Gnadenrecht den Ständen abzuringen und es fortan als landesherrliches Reservatrecht zu beanspruchen. Unter Gnade ist eine nicht normierbare Gunst zu verstehen, auf welche die supplizierenden Untertanen keinen Anspruch geltend machen konnten; vielmehr war die Gnade von der Willkür des Gnadenträgers abhängig.16 Mit Blick auf tung der Frage: Was ist Aufklärung?; in: ders., Werke in sechs Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, 6. Bd., Darmstadt 1964, S. 51 – 61. 12 So wird der Begriff Absolutismus zum historiographischen Mythos erklärt – vgl. Wrede 2005, Sp. 33 f. Auch Vertreter der „alten Schule“ wie Fritz Hartung erkennen Einwände gegen generalisierende Epochenbegriffe an, dennoch kommt die Analyse bestimmter Phänomene der preußischen Verfassungsgeschichte nicht ohne eine derartige Begrifflichkeit aus – vgl. Hartung 1950, hier S. 120. 13 Neuere Studien stellen die Gültigkeit des Begriffs aufgeklärter Absolutismus als historiographisches Konstrukt in Frage – vgl. H. M. Scott, Introduction: The Problem of Enlightened Absolutism; in: ders. (Hg.), Enlightened Absolutism. Reform and Reformers in Later Eighteenth-Century Europe, Michigan 1990, S. 1 – 35 und S. 343 – 347; vgl. Hans Erich Bödeker / Ulrich Herrmann, Einleitung: Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien; in: dies. (Hg.), Über den Prozeß der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien, Göttingen 1987, S. 9 – 13. 14 Auch für Martin Wrede ist der Begriff Absolutismus als Signum der Epoche nicht ersetzbar – vgl. Wrede 2005, Sp. 34. 15 Bödeker / Herrmann 1987, S. 10 f. 16 Zum Begriff der Gnade vgl. Hermann Krause, Stichwort: Gnade; in: Adalbert Erler / Ekkehard Kaufmann (Hg.), Handbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 1. Bd., Berlin 1971, Sp. 1714 – 1719; vgl. Johann Heinrich Zedler, Grosses Vollständiges Universal-Lexikon, 64 Bde., Graz 1961 – 1964 (ND der Aufl. von 1732 – 1754), hier Stichwort: Gnade, 11. Bd. 1961 / 1735, S. 2; vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 33. Bde., München 1984, hier Stichwort: Gnade, 8. Bd., 1984, Sp. 505 – 560.
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die Absolutismusforschung17 muss allerdings bezweifelt werden, dass landesherrliche Willkür schrankenlos walten konnte. Zahlreiche Studien haben nach der Kritik von Gerhard Oestreich18 am Absolutismusbegriff nachgewiesen, dass die absolutistische Herrschaft trotz ihres Absolutheitsanspruchs in ihrer Durchsetzung stets faktisch beschränkt war: Dies betrifft zum einen die Macht der einzelnen Territorialherren nach Außen, die dadurch beschnitten war, dass sie in das Reich eingebunden waren. Zum anderen wurde aber auch die Macht der Territorialherren innerhalb ihrer Herrschaft dadurch beschränkt, dass eine effektive Exekutive vor Ort durch lokale intermediäre Gewalten verhindert wurde.19 In Anlehnung an den Befund von Rainer Polley20 wird daher der Frage nachgegangen, ob sich der Widerspruch zwischen dem absolutistischen Herrschaftsanspruch und seiner tatsächlichen Herrschaftspraxis auch in der Gnadenpraxis widerspiegelt. Hinzu kommt, dass der absolutistische Herrschaftsanspruch Ende des 18. Jahrhunderts mehr und mehr in die Kritik geriet. So bestand eine zentrale Forderung des Aufklärungsdiskurses darin, die landesherrliche Willkür durch die Verbindlichkeit des Rechts einzuschränken. Verbunden mit dieser Forderung war die Maxime des so genannten Gesetzesstaates:21 Damit wurde propagiert, dass die Herrschaft 17 Zur Historiographie der Absolutismusforschung vgl. Rudolf Vierhaus, Absolutismus; in: Ernst Hinrichs (Hg.), Absolutismus, Frankfurt a. M. 1986, S. 35 – 62; vgl. Ernst Hinrichs, Zum Stand und zu den Aufgaben gegenwärtiger Absolutismusforschung; in: ders. (Hg.), Absolutismus, Frankfurt a. M. 1986, S. 7 – 32. 18 Als historiographischer Wendepunkt in der Absolutismusforschung in Bezug auf die These von der Dysfunktionalität der absolutistischen Souveränitätsdoktrin vgl. Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus; in: ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 179 – 197 (zuerst erschienen in: VSWG 55 (1968), S. 329 – 347). 19 Zu diesem Befund beispielhaft für die jüngere Forschung vgl. Reinhard Blänkner, „Absolutismus“ und „frühmoderner Staat“. Probleme und Perspektiven der Forschung; in: Rudolf Vierhaus u. a. (Hg.), Frühe Neuzeit – Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen, Göttingen 1992, S. 48 – 74; vgl. Ronald G. Asch / Heinz Duchhardt, Einleitung: Die Geburt des „Absolutismus“ im 17. Jahrhundert. Epochenwende der europäischen Geschichte oder optische Täuschung?; in: dies. (Hg.), Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550 – 1700), Köln / Weimar / Wien 1996, S. 3 – 24. Für Brandenburg-Preußen vgl. Peter Baumgart, Wie absolut war der preußische Absolutismus?; in: Manfred Schlenke (Hg.), Preußen. Beiträge zu einer politischen Kultur, Berlin 1981, S. 89 – 105, hier S. 91, 98 f. 20 Bereits Rainer Polley hat in seinem Aufsatz auf der Grundlage von Normtexten zum Supplikationswesen Ende des 18. Jh. auf diesen Widerspruch verwiesen – vgl. Rainer Polley, Das nachfriderizianische Preußen im Spiegel der rechtlichen Behandlung von Immediatsuppliken an den König; in: Hans Hattenhauer / Götz Landwehr (Hg.), Das nachfriderizianische Preußen 1786 – 1806. Rechtshistorisches Kolloquium vom 11. – 13. Juni 1987 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Heidelberg 1988, S. 345 – 361, hier S. 347. 21 Der Begriff Gesetzesstaat wird hier i. S. einer Handlungsmaxime verstanden, nach welcher der Monarch der Gültigkeit gesetzter Normen ein stärkeres Gewicht gegenüber den ad hoc-Entscheidungen in der politischen Praxis verleiht. Nicht haltbar ist es hingegen, wenn man den Begriff als faktische Herrschaftspraxis des aufgeklärten Absolutismus auffassen
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ihrer – vorgeblich – absoluten Gewalt durch Anerkennung des von ihr selbst gesetzten Rechtskanons Grenzen auferlegte.22 Nimmt man als Arbeitshypothese an, dass die Maxime vom Gesetzesstaat zumindest teilweise Einfluss auf das Herrschaftsverständnis nahm, so liegt die Vermutung nahe, dass dies zu einer weiteren Verschärfung des Widerspruches zwischen absolutistischem Herrschaftsanspruch und politischer Praxis führte.23 Diese Diskrepanz im Kontext der Gnadenpraxis in der so genannten Sattelzeit aufzuspüren, soll Teil der hier gestellten Aufgabe sein. Konkret geht es um die Frage, wie weit sich der Monarch bei Gnadenakten Ende des 18. Jahrhunderts auf der Skala zwischen Willkür und Gesetz in die eine oder andere Richtung bewegte. Auch stellt sich die Frage, ob die Ende des 18. Jahrhunderts den Staatsapparat erfassende Bürokratisierung und Rationalisierung Einfluss auf die Supplikations- und Gnadenpraxis hatte. Eine weitere Grundannahme besteht darin, dass das Supplizieren einen Einblick in das Funktionieren der frühneuzeitlichen Gesellschaft gewährt. Zahlreiche landesherrliche Verlautbarungen in frühneuzeitlichen Herrschaften versprechen den Untertanen und Untertaninnen, ihr Anliegen mit einer Supplikation dem Landesherrn direkt unterbreiten zu können. In der Forschung wird davon ausgegangen, dass diese Möglichkeit nicht nur theoretisch bestand, sondern auch von den Untertanen rege in Anspruch genommen wurde – und zwar von allen gesellschaftlichen Schichten.24 Dies lässt vermuten, dass die Untertanen in den Suppliken ihrem Verwollte. Näheres zum Gesetzesstaat vgl. Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands, München 1990, hier S. 188. 22 Inwieweit so genannte aufgeklärte Monarchen diese Handlungsmaxime tatsächlich in ihrer Herrschaftspraxis befolgten, bleibt unklar und erfordert weitergehende Untersuchungen. Bereits 1949 meldete Georges Lefèbvre Skepsis gegenüber dem angeblichen Reformeifer der so genannten aufgeklärten Monarchen an: Seiner Meinung nach war dieser „jeux d’esprit“ ein intellektuelles „Täuschungsmanöver“, mit dem die Herrscher Ende des 18. Jahrhunderts allein die Absicht verfolgten, ihre Macht zu erhalten – eine Sichtweise, die von der marxistischen Interpretation des aufgeklärten Absolutismus übernommen wurde – vgl. Georges Lefèbvre, Der aufgeklärte Despotismus (1949); in: Karl Otmar Freiherr von Aretin (Hg.), Der Aufgeklärte Absolutismus, Köln 1974, S. 77 – 38. 23 Zur These vom immanenten Widerspruch des aufgeklärten Absolutismus vgl. Karl Otmar Freiherr von Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund, 2. Aufl., Göttingen 1993, hier S. 29; vgl. Karl Otmar Freiherr von Aretin, Einleitung: Der Aufgeklärte Absolutismus als europäisches Problem; in: ders. (Hg.), Der Aufgeklärte Absolutismus, Köln 1974, S. 11 – 51, hier S. 42 – 44. 24 Vgl. Helmut Neuhaus, Reichstag und Supplikationsausschuß. Ein Beitrag zur Reichsverfassungsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1977, S. 299; vgl. Otto Ulbricht, Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel; in: Winfried Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996; S. 152; vgl. Rosi Fuhrmann / Beat Kümin / Andreas Würgler, Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung; in: Peter Blickle (Hg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, Beiheft 25 der Historischen Zeitschrift, München 1998, S. 269; vgl. Renate Blickle, Supplikationen und Demonstrationen. Mittel und Wege der Partizipation im bayerischen Territorialstaat; in: Werner Rösener (Hg.), Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis
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ständnis von Herrschaft Ausdruck verliehen. Das Supplizieren in strafrechtlichen Angelegenheiten tangiert aber nicht nur das Verhältnis zwischen dem Supplikant bzw. der Supplikantin und dem Landesherrn, sondern betrifft auch die angeklagte bzw. verurteilte Person, für die eine Begnadigung erbeten wurde. Vom Verhältnis zwischen der supplizierenden Person und dem Nutznießer der Gnade wird ebenfalls Aufschluss über das Funktionieren der Gesellschaft erwartet. Es wird der Frage nachzugehen sein, wie dieses Verhältnis beschaffen war, und was dies über die Motive des Supplizierens und damit über die Funktion der Supplikation aussagt. Methodischer Zugang Neben der Rekonstruktion von rechtshistorischen Aspekten des Supplikationsund Gnadenwesens in Brandenburg-Preußen nimmt die vorliegende Studie eine dezidiert sozialhistorische Perspektive ein. Es werden Fragestellungen der Rechtsund Verwaltungsgeschichte mit sozialgeschichtlichen Fragen nach der Lebenswirklichkeit verknüpft. Theoretische und methodische Bezugspunkte bilden dabei die Alltagsgeschichte, die historische Anthropologie, die historische Kriminalitätsforschung sowie die Frauen- und Geschlechtergeschichte. Einen Anknüpfungspunkt an die Alltagsgeschichte und die historische Anthropologie bildet das Erkenntnisinteresse an den Lebensbedingungen der Angeklagten bzw. Verurteilten und der Supplizierenden mit ihren alltäglichen Problemen und Lösungsstrategien sowie den in Verhaltensmustern sich widerspiegelnden kollektiven Werten und Mentalitäten. 25 Ihre Konflikte und Nöte, die sie zur strafrechtlich zur Moderne, Göttingen 2000, S. 278; vgl. Andreas Würgler, Voices from Among the „Silent Masses“: Humble Petitions and Social Conflicts in Early Modern Central Europe; in: International Review of Social History 46 (2001); Supplement 9: Petitions in Social History, hrsg. v. Lex Heerma van Voss, S. 151 – 169, S. 11 – 34, hier S. 16. 25 Zum Anliegen der Alltags- wie auch der Mikrogeschichte vgl. beispielhaft Alf Lüdtke, Einleitung: Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte?; in: ders. (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a. M. / New York 1989, S. 9 – 47, hier S. 9 – 13; vgl. Hans Medick, Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie; in: Joachim Matthes (Hg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Göttingen 1992 (Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, Sonderband; 8), S. 167 – 178; vgl. Carlo Ginzburg, Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß; in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 169 – 192; vgl. Alf Lüdtke, Stofflichkeit, Macht-Lust und Reiz der Oberflächen. Zu den Perspektiven von Alltagsgeschichte; in: Winfried Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen 1994, S. 65 – 80; vgl. Hans Medick, Mikro-Historie; in: Schulze 1994, S. 40 – 53; vgl. Martin Dinges, „Historische Anthropologie“ und „Gesellschaftsgeschichte“. Mit dem Lebensstilkonzept zu einer „Alltagskulturgeschichte“ der frühen Neuzeit; in: ZfHZ 24 (1997), S. 179 – 214; vgl. Jürgen Schlumbohm (Hg.), Mikrogeschichte – Makrogeschichte: komplementär oder inkommensurabel? Mit Beiträgen von Maurizio Gribaudi, Giovanni Levi und Charles Tilly, Göttingen 1998 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft; 7); vgl. Jakob Tanner, Historische Anthropologie zur Einführung, Hamburg 2004 (Zur Einführung; 301).
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verfolgten Handlung brachten, vor allem aber ihre Ängste und Hoffnungen, die sie zur Supplikation motivierten, sollen hier – soweit es für die Fragestellung sinnvoll ist – rekonstruiert werden. Dazu wird die insbesondere in der Alltagsgeschichte bzw. in der Mikrogeschichte angewandte Methode aufgegriffen, Quellen gegenden-Strich zu lesen und zu dialogisieren, um ihren Kontext sichtbar zu machen.26 Berührungspunkte mit der historischen Kriminalitätsforschung27 liegen insofern auf der Hand, als Supplikation und Gnade in das Spannungsfeld zwischen Normen, abweichendem Verhalten und Sanktionen eingreifen. Von Bedeutung ist die in der Kriminalitätsforschung vertretene Prämisse, dass Kriminalität keine Wirklichkeit an sich ist, sondern ein Konstrukt:28 Jede Gesellschaft produziert Kriminalität, um ihren Normen und Werten durch einen ständigen Abgrenzungsprozess Gültigkeit zu verleihen. Den Justizakten kommt somit ein hoher Erkenntniswert zu, da sie die Grenzziehung zwischen dem abweichendem Verhalten und den gültigen Normen bzw. Werten dokumentieren. Dabei wird in der vorliegenden Studie die Fokussierung auf ein Delikt vermieden, vielmehr werden das Supplizieren und die Gnadenpraxis deliktübergreifend analysiert.29 In Bezug auf die vorliegenden Quellen stellen sich die Fragen, welche Vorstellungen von Recht und Unrecht die vor Gericht stehenden bzw. die supplizierenden Männer und Frauen besaßen, über welche Handlungsspielräume sie verfügten und wie sie diese nutzten, um die Sanktionspraxis in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Beschäftigung mit Fragen der Alltags- und Kriminalitätsgeschichte führt zu der Erkenntnis, dass dem Geschlecht eine zentrale Bedeutung bei der Interpretation 26 Quellen gegen-den-Stich zu lesen meint, nicht nur nach dem eigentlichen Sinn und Zweck einer Quelle, sondern nach dem Nicht-Gesagten, nach dem Uneigentlichen zu fragen. Die Bezeichnung Dialogisierung der Quellen geht auf Hans Medick zurück – vgl. Medick 1992, S. 171. 27 Zum Anliegen der historischen Kriminalitätsforschung vgl. Fritz Sack, Kriminalität, Gesellschaft und Geschichte: Berührungsängste der deutschen Kriminologie; in: Kriminologisches Journal 19 (1987), S. 241 – 268, hier S. 247; vgl. Gerd Schwerhoff, Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung; in: ZfHZ 29 (1992), S. 385 – 414, hier S. 387; vgl. Dirk Blasius, Kriminologie und Geschichtswissenschaft. Bilanz und Perspektiven interdisziplinärer Forschung; in: GG 14 (1988), S. 136 – 149, hier S. 147; vgl. Gerd Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung, Tübingen 1999 (Historische Einführungen; 3). Zum Forschungsstand der historischen Kriminalitätsforschung vgl. den Sammelband von Andreas Blauert / Gerd Schwerhoff (Hg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2000. 28 Vgl. Schwerhoff 1999, S. 9 – 14, bes. S. 10. 29 Damit findet das von Andrea Griesebner und Monika Mommertz gehaltene Plädoyer für verstärkt deliktüberschreitende und qualitative Analysen der historischen Kriminalitätsforschung Berücksichtigung – vgl. Andrea Griesebner / Monika Mommertz, Fragile Liebschaften? Methodologische Anmerkungen zum Verhältnis zwischen historischer Kriminalitätsforschung und Geschlechtergeschichte; in: Andreas Blauert / Gerd Schwerhoff (Hg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2000, S. 205 – 232, hier S. 215.
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der Kontexte zukommt.30 Auf das besondere Verhältnis von Kriminalität und Geschlecht als zwei sozial generierten und kulturell veränderbaren Konstrukten wurde in der Forschung mehrfach hingewiesen.31 Das Handeln von Männern und Frauen in der Geschichte sowie die Konstruktion ihrer Identitäten lassen sich mit der in der Frauen- und Geschlechtergeschichte32 verwandten analytischen Kategorie Gender33 sichtbar machen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Geschlecht eine mehrfach relationale Kategorie34 ist, welche mit anderen Kategorien wie sozialer Stand, Alter, Familienstand, religiöse und ethnische Zugehörigkeit u. a. zu kombinieren ist, ohne dass dabei die jeweiligen Kategorien hierarchisiert werden. 30 Allgemein zum Verhältnis zwischen der historischen Kriminalitätsforschung und der Frauen- und Geschlechtergeschichte vgl. Griesebner / Mommertz 2000, S. 205 – 232. 31 Vgl. Claudia Ulbrich, „Kriminalität“ und „Weiblichkeit“ in der Frühen Neuzeit. Kritische Bemerkungen zum Forschungsstand; in: Martina Althoff / Sibylle Kappel (Hg.), Geschlechterverhältnis und Kriminologie, 5. Beiheft des Kriminologischen Journals 1995, S. 208 – 220; vgl. Heide Wunder, „Weibliche Kriminalität“ in der Frühen Neuzeit. Überlegungen aus der Sicht der Geschlechtergeschichte; in: Otto Ulbricht (Hg.), Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 1995, S. 39 – 61. Zur grundsätzlichen Problematik vgl. Carmen Gransee / Ulla Stammermann, Kriminalität als Konstruktion von Wirklichkeit und die Kategorie Geschlecht. Versuch einer feministischen Perspektive, Pfaffenweiler 1992. 32 Beispielhaft zur neueren Debatte vgl. Brigitte Studer, Von der Legitimation- zur Relevanzproblematik. Zum Stand der Geschlechtergeschichte; in: Veronika Aegerter / Nicole Graf / Natalie Imboden / u. a. (Hg.), Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte, Beiträge der 9. Schweizerischen Historikerinnentagung 1998, Zürich 1999, S. 19 – 30; vgl. Karin Hausen, Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte; in: Hans Medick / Ann Charlott Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven, Göttingen 1998, S. 15 – 55. 33 Gender wird – in Abgrenzung zum biologisch definierten Sex – als das soziale Geschlecht verstanden. Zur historischen Forschung mit der analytischen Kategorie Gender vgl. Joan W. Scott, Gender: A Useful Category of Historical Analysis; in: dies., Gender and the Politics of History, New York 1988, S. 28 – 50, hier S. 31. Auch wenn Joan W. Scott die Nützlichkeit der Kategorie Gender aufgrund ihrer ambivalenten Rezeptionsgeschichte mittlerweile in Frage stellt, so wird in diesem Instrument für die hier verfolgte Fragestellung sehr wohl ein brauchbares methodisches Werkzeug gesehen – vgl. Joan W. Scott, Millenial Fantasies. The Future of „Gender“ in the 21st Century; in: Claudia Honegger / Caroline Arni (Hg.), Gender – die Tücken einer Kategorie. Beiträge zum Symposion anlässlich der Verleihung des Hans-Sigrist-Preises 1999 der Universität Bern an Joan W. Scott, Zürich 2001, S. 19 – 37 (in dt. Übersetzung s. ebd., S. 39 – 63), hier bes. S. 22, 26, 29. Zur Rezeption der Kritik vgl. Claudia Opitz, Gender – eine unverzichtbare Kategorie der historischen Analyse. Zur Rezeption von Joan W. Scotts Studien in Deutschland, Österreich und der Schweiz; in: Honegger / Arni 2001, S. 95 – 115. 34 Zu Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie vgl. Andrea Griesebner, Geschlecht als mehrfach relationale Kategorie. Methodologische Anmerkungen aus der Perspektive der Frühen Neuzeit; in: Veronika Aegerter / Nicole Graf / Natalie Imboden / u. a. (Hg.), Geschlecht hat Methode. Ansätze und Perspektiven in der Frauen- und Geschlechtergeschichte, Beiträge der 9. Schweizerischen Historikerinnentagung 1998, Zürich 1999, S. 129 – 137, hier S. 134. Bereits Joan Scott u. a. plädierten für eine Verknüpfung von Gender mit anderen Kategorien wie etwa Klasse, Rasse u. a. – vgl. Scott 1988, S. 30; vgl. Hausen 1998, S. 54 f.
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Beabsichtigt ist vielmehr eine Dezentrierung der Kategorie Geschlecht35, indem sie stets in Relation zu anderen Differenzkategorien gesetzt wird. Eine Studie, die Handlungsräume und soziale Praktiken von historischen Subjekten geschlechterspezifisch untersucht, findet dabei einen Anknüpfungspunkt im Konzept vom doing gender36, welches die interaktive Herstellung von Geschlecht untersucht.37 Dieses Konzept bietet sich an, um zum einen die in den Suppliken vorgetragenen Argumentationsmuster und zum anderen die Gnadendekrete auf ihre Geschlechterspezifika hin zu befragen. Die der Studie zugrunde liegenden Prämissen sowie die methodische Herangehensweise verdienen eine Erläuterung. Die hier bereits eingeführten Begriffe Gnaden- bzw. Herrschaftspraxis sind in Anlehnung an das Herrschaftsverständnis von Alf Lüdtke zu verstehen. Ausgangspunkt seiner Überlegung bildet die Max Webersche Definition von Herrschaft: Herrschaft bedeutet, die Menschen so zu erziehen, dass sie aus eigenem Impuls genau das anstreben, was sie aus der Sicht des Herrschenden tun sollen.38 Herrschaft ist bei Max Weber eine Form der Übermächtigung, die von den Betroffenen als rechtmäßig anerkannt wird. Lüdtke kritisiert Webers Definition als zu kategorisch und statisch, da in ihr Herrschende und Beherrschte als getrennte Untersuchungsobjekte verstanden werden, so dass der Blick auf mögliche Übergänge zwischen den Handlungsformen verstellt ist.39 Das 35 Zur Dezentrierung der Kategorie Geschlecht vgl. Andrea Griesebner / Christina Lutter, Geschlecht und Kultur. Ein Definitionsversuch zweier umstrittener Kategorien; in: dies. (Hg.), Beiträge zur historischen Sozialkunde, Sondernummer 2000: Geschlecht und Kultur, S. 58 – 64, hier S. 63; zur Definition von Geschlecht vgl. ebd., S. 61 – 63. Siehe dazu auch das Prinzip der Enthierarchisierung von Kategorien im Programm der „Nicht-Einheit der Geschichte“ von Karin Hausen – vgl. Hausen 1997, S. 54 f., 35. 36 Das doing gender-Konzept geht von der Prämisse aus, dass mit Hilfe des sozialen Geschlechts (gender) die von den Subjekten gewählte Geschlechtszugehörigkeit (social membership) in einem Interaktionsprozess ständig aufs Neue reproduziert und somit bestätigt wird (processual validation of that membership) – vgl. Candace West / Don H. Zimmerman, Doing Gender; in: Judith Lorber / Susan A. Farrell (Hg.), The Social Construction of Gender, Newbury Park / London / New Delhi 1991, S. 13 – 37. 37 Vgl. Claudia Ulbrich, Überlegungen zur Erforschung von Geschlechterrollen in der ländlichen Gesellschaft; in: Jan Peters (Hg.); Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften. Über Resistenz und Herrschaftsverhalten in ländlichen Sozialgebilden der Frühen Neuzeit, Göttingen 1995 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 120), S. 359 – 364, hier S. 363. 38 Definition von Herrschaft bei Max Weber: „HERRSCHAFT soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ – Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 1. Bd. / 1. Halbbd., Tübingen 1956, § 16, S. 28 f. 39 Vgl. Alf Lüdtke, Einleitung: Herrschaft als soziale Praxis; in: ders. (Hg.), Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozialanthropologische Studien, Göttingen 1991, S. 9 – 63, hier S. 10 f. An Lüdtkes grundsätzlicher Kritik ändert auch Webers Ausdifferenzierung der legitimen Herrschaft in die drei reinen Typen von legaler Herrschaft, traditioneller Herrschaft und charismatischer Herrschaft nichts Grundsätzliches – vgl. Weber, 1. Bd. / 2. Halbbd., 2. Abschnitt, 1956, , S. 551 – 558, zur Definition der Herrschaftstypen s. S. 551, 552, 555.
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Statische der Weberschen Definition wird augenfällig, wenn man wie Lüdtke ein Erkenntnisinteresse an den Handlungsspielräumen der Beherrschten hat, also danach fragt, wie Gehorchenwollen entsteht und wie Glaube an Legitimität produziert wird.40 Nimmt man Lüdtkes Anforderungen an eine Untersuchung von Herrschaft auf, so bietet beispielsweise auch der weniger kategorisch formulierte Ansatz der Motivationsmacht konstruktive Anknüpfungspunkte.41 Eigens für dieses Erkenntnisinteresse entwickelt Lüdtke einen Ansatz, den er Herrschaft als soziale Praxis42 bezeichnet. In dem Konzept greift er auf den Praxisbegriff von Pierre Bourdieu zurück:43 Bourdieu verfolgt eine praxeologische Erkenntnisweise, indem er nach der Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix des Habitus forscht, also dem Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und ihren Praktiken, um damit die Systeme dauerhafter Dispositionen als strukturierende Strukturen in den Blick zu bekommen.44 Lüdtke greift diese TheoVgl. Lüdtke 1991, S. 11. Unter Motivationsmacht wird das Potential verstanden, auf die Willensbildung Anderer so einzuwirken, dass sie ein Verhalten zeigen, welches von den Mächtigen beabsichtigt und schließlich von beiden Seiten erwünscht ist. Im Gegensatz zur Konfliktmacht wirkt Motivationsmacht mit dem Willen Anderer – vgl. Peter Baumann, Motivationsmacht – die ethische Herausforderung an die Mächtigen, in: Ulrich Arnswald / Jens Kertscher (Hg.), Die Autonomie des Politischen und die Instrumentalisierung der Ethik, Heidelberg 2002, S. 127 – 146, hier bes. S. 131 – 133. Hierbei handelt es sich um einen Ansatz, der in dem von Lüdtke entwickelten Konzept der Herrschaftspraxis noch nicht berücksichtigt werden konnte, der sich mit diesem aber in Einklang bringen lässt, da er Lüdtkes Anforderungen an eine offene Betrachtungsweise gerecht wird. 42 Vgl. Lüdtke 1991, S. 12 – 18. Lüdtke definiert den Begriff Praxis wie folgt: „Praxis meint die Formen, in denen sich die Menschen die Bedingungen ihres Handelns und Deutens aneignen, in denen sie Erfahrungen produzieren, Ausdrucksweisen und Sinngebungen nutzen – und ihrerseits neu akzentuieren. Im Aneignen werden Agenten, die funktionieren, zu Akteuren, die deuten und vorführen, forcieren oder sich verweigern.“ – Lüdtke 1994, S. 72 und vgl. Alf Lüdtke, Anregungskraft und blinde Stellen. Zum Alphabet des Fragenstellens nach Marx, in: ders. (Hg.), Was bleibt von marxistischen Perspektiven in der Geschichtsforschung? Göttingen 1997, S. 7 – 32, hier S. 21 f. 43 Bourdieu entwickelte eine Theorie der Praxis, um damit eine Wissenschaft von den Praxisformen und praktischen Handlungen betreiben zu können. Seine praxeologische Erkenntnisweise bezieht das objektive Wissen (politische Kräfteverhältnisse wie z. B. ökonomische Rahmenbedingungen) sowie phänomenologische oder interaktionistische Erkenntnisse (symbolische Kräfteverhältnisse wie z. B. die primäre Erfahrung des Subjekts mit seiner sozialen Welt) mit ein. – Vgl. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1976, hier S. 146 – 189, bes. S. 139, 147 – 149. Zur Rezeption von Bourdieu vgl. Lüdtke 1991, S. 12 f. 44 Der Habitus ist ein Produkt der Einprägungs- und Aneignungsarbeit der Subjekte und ist damit zwar ein subjektives, aber nicht individuelles System verinnerlichter Strukturen. Der Habitus bringt als ein dauerhaft begründetes Erzeugungsprinzip einer Gesellschaft ständig Praxisformen und Praktiken hervor. Umgekehrt gewendet: Die Praxis ist Produkt der dialektischen Beziehung zwischen einer konkreten Situation und einem als System dauerhafter Dispositionen begriffenen Habitus. Somit ist der Habitus als ein Produkt der Geschichte anzusehen, welches zugleich auch Geschichte erzeugt. – Vgl. Bourdieu 1976, S. 164 f., 169, 182, 188. 40 41
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rie auf und wendet sie auf sein historisches Erkenntnisinteresse an. Dabei geht er von der Annahme aus, dass die Verknüpfung von gesellschaftlichen Normen und individuellen Erfahrungen der Sinnlichkeit45 zu einer Aneignung46 führt, die sich wiederum im individuellen Handeln als Praktik ausdrückt.47 In Anlehnung an Alf Lüdtke wird hier von einem Praxisbegriff ausgegangen, bei dem angenommen wird, dass sich die Akteure die Bedingungen ihres Handelns durch eigene Erfahrung oder Erfahrung anderer (etwa Schreiber, Gerichtsverteidiger oder erfahrene Supplizierende aus dem sozialen Umfeld) angeeignet haben, und dass diese Erfahrungswerte dem Agieren neue Akzente verleihen. Die Suppliken geben allerdings selten Auskunft über Erfahrungen, so dass diese in der Regel nicht rekonstruiert werden können. Bei einer Analyse des Handelns gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass Handlungsimpulse und die Wahl der Praktiken möglicherweise auf Erfahrungswerte aus dem sozialen Umfeld zurückgehen. Es geht also darum, den Blick darauf zu lenken, wie die Akteure ihren Handlungsspielraum nutzen. Dabei ist der Kontext des Alltags bei der Analyse von sozialen Praktiken stets mit zu berücksichtigen. Wie bereits Gadi Algazi angemerkt hat, richtet sich der Fokus durch einen handlungsorientierten Quellenzugang stärker auf die Wirkungen der Praktiken als auf ihre Bedeutungen.48 Dahinter steht der handlungsund weniger sinnorientierte Kulturbegriff how to do what, nach dem Kultur als ein heterogenes System von Repertoires für das Handeln der Akteure zu verstehen ist.49 Demnach liefert Kultur den Akteuren weniger eine sinnstiftende Interpretation der Welt, vielmehr bietet sie ihnen eine Werkzeugkiste an möglichen Handlungsoptionen.50 Ein Verständnis von Praktiken als gesellschaftlich produzierte, wiederhol- und erkennbare Handlungen eröffnet den Zugang zu den hier interessierenden Aspekten. Vor dieser Folie reduzieren sich das individuelle Gnadenbitten 45 Lüdtke weist in Anlehnung an Bourdieus symbolische Kräfteverhältnisse darauf hin, dass neben verbalen auch nonverbale Erfahrungen zu berücksichtigen sind, da Herrschaft „in besonders fühlbarer Weise solche Wirklichkeiten einbezieht, die nicht in Sprache aufgehen.“ – Lüdtke 1991, S. 17. 46 Aneignung ist hier im Sinne von Karl Marx zu verstehen. Marx begreift Aneignung nicht als „unmittelbaren, einseitigen Genuss“ im Sinne des „Besitzens“ oder „Habens“; vielmehr eigne sich der Mensch in jedem seiner „Verhältnisse zur Welt“ – also durch alle „Organe seiner Individualität“ wie „Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben“ – die „menschliche Wirklichkeit“ auf sinnliche Art und Weise an; somit stellt sich die menschliche Wirklichkeit als ebenso vielfältig wie menschliche Wesensbestimmungen und Tätigkeiten dar. – Karl Marx, Nationalökonomie und Philosophie. Über den Zusammenhang der Nationalökonomie mit Staat, Recht, Moral und bürgerlichem Leben (1844); in: ders., Die Frühschriften, hrsg. v. Siegfried Landshut, Stuttgart 1953, S. 225 – 316, hier S. 239 f. 47 Vgl. Lüdtke 1991, S. 17 f. 48 Vgl. Gadi Algazi, Kulturkult und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires; in: L’Homme 11 (2000) 1, S. 105 – 119, hier S. 108 f. 49 Vgl. Algazi 2000, S. 113 f. 50 Das Verständnis von Kultur als Repertoire von Optionen für das Handeln erweitert Bourdieus sozial determinierten Habitus-Ansatz – zu Bourdieu vgl. Algazi 2000, S. 114.
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und der fallspezifische Gnadenentscheid nicht auf eine singuläre Handlung eines einzelnen Subjekts, sondern werden als kulturspezifische Praktiken identifiziert, die Teil einer Praxisform – konkret der Supplikations- und Gnadenpraxis – sind und politische Machtverhältnisse wie symbolische Kräfteverhältnisse zum Ausdruck bringen.51 Einen weiteren Bezugspunkt sowohl der Lüdtkeschen Herrschaftspraxis als auch dieser Studie bildet das field-of-force-Konzept von E. P. Thompson.52 Dabei wird von der Prämisse ausgegangen, dass Herrschaft von zahlreichen Akteuren mit unterschiedlichen Handlungsspielräumen in einem offenen und variabel konzipierten societal field-of-force, einem gesellschaftlichen Kräftefeld, praktiziert wird.53 Mit dem Konzept wird die Dichotomie von Herrschenden und Beherrschten aufgebrochen. Gegenseitige Abhängigkeiten von Herrschenden und Beherrschten werden aufgespürt, Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkeiten hinterfragt sowie spezifische Handlungsspielräume aufgedeckt.54 Um Handlungsspielräume von Untertanen und Untertaninnen stärker in den Blick zu bekommen, geht Lüdtke der Frage nach subtilen Formen der Distanzierung bzw. der Widerspenstigkeit und des Eigen-Sinns (im Hegelschen Sinne) gegenüber der Obrigkeit nach.55 Das Konzept 51 In dieser Studie wurde sich bewusst gegen einen kommunikationstheoretischen Ansatz entschieden, den z. B. André Holenstein für die Untersuchung des Klagens, Supplizierens und Anzeigens wählte. Der hier in Anlehnung an Alf Lüdtke verfolgte handlungsorientierte Ansatz wird nach Auffassung der Verfasserin den hier im Mittelpunkt stehenden Praktiken im Hinblick auf non-verbales Handeln, Gestik und Symbolik eher gerecht, ohne dabei die kommunikative Ebene zu vernachlässigen – vgl. André Holenstein, Klagen, anzeigen und supplizieren. Kommunikative Praktiken und Konfliktlösungsverfahren in der Markgrafschaft Baden im 18. Jahrhundert; in: Magnus Eriksson / Barbara Krug-Richter (Hg.), Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16. – 19. Jahrhundert), Köln / Weimar / Wien 2003, S. 335 – 369, hier bes. S. 337 – 341. 52 Edward Palmer Thompson gehört der englischen Tradition der humanistisch-marxistischen Historiographie an, die sich dem Ziel verschrieben hat, Geschichte from below und nicht Geschichte of below zu schreiben. Zum Konzept der moral economy of the poor am Beispiel der Brotunruhen im 18. Jahrhundert in England vgl. Edward Palmer Thompson, Patrizische Gesellschaft, plebeische Kultur; in: ders., Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1980. Zur Rezeption von Thompsons Konzept vgl. Peter King, Edward Thompson’s Contribution to Eighteenth-Century Studies. The Patrician-Plebeian Model ReExamined; in: Social History 21 (1996) 2, S. 215 – 228. Zur Aktualität marxistischer Ansätze vgl. Alf Lüdtke, Anregungskraft und blinde Stellen. Zum Alphabet des Fragenstellens nach Marx; in: ders. (Hg.), Was bleibt von marxistischen Perspektiven in der Geschichtsforschung? Göttingen 1997, S. 7 – 32. Konkret zu E. P. Thompson vgl. ebd., S. 20. 53 Zum Begriff societal field-of-force vgl. Edward Palmer Thompson, Eighteenth-century English Society: Class Struggle Without Class?; in: Social History 3 (1978) 2, S. 133 – 165, hier S. 151. 54 So Lüdtkes Lesart des Konzepts vom Kräftefeld – vgl. Lüdtke 1991, S. 13 – 15. 55 Vgl. Lüdtke 1991, S. 50. Mit Eigen-Sinn greift Lüdtke auf Hegels Metapher vom Herrn und Knecht zurück: Die Übermächtigkeit des Herrn gegenüber dem Knecht ist offensichtlich. Doch auch der Herr steht in Abhängigkeit zum Knecht, zum einen, da er ohne dessen Arbeit nicht existieren kann, zum anderen aber, da er auf die Anerkennung als Herr durch den
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vom Kräftefeld ermöglicht es, das Handeln der Beherrschten sichtbar zu machen und berichtigt somit das in der Geschichtswissenschaft verbreitete Bild von den Herrschenden als alleinige Akteure der Gesellschaft. Das Konzept der Herrschaft als soziale Praxis eröffnet eine Perspektive, das Handeln der Untertanen und Untertaninnen wie der Obrigkeit sichtbar zu machen, indem es Herrschaft als einen Prozess des Aushandelns mit Hilfe von Praktiken begreift. Bei der Untersuchung des Supplizierens und Begnadigens erweist sich diese Sichtweise als hilfreich, denn sie nimmt sowohl die Angeklagten bzw. Verurteilten und die supplizierenden Männer und Frauen mit ihren Schreibern als auch den Monarchen und seine Minister, Richter und sonstige Staatsdiener als handelnde Akteure mit je eigenen Strategien und Interessen wahr. Es gilt hierbei zu berücksichtigen, dass E. P. Thompson sein Konzept des Kräftefeldes mit Blick auf die ländlich strukturierte frühmoderne Gesellschaft Englands, in der soziale Beziehungen durch den direkten Kontakt face-to-face und durch das gegenseitige Aufeinanderangewiesensein geprägt sind, entwickelt hat. Mit Blick auf die stark ländlich aber in Bezug auf die Residenzien zugleich auch städtisch geprägte Kurmark ist anzunehmen, dass sich die hier untersuchte Gesellschaft im Vergleich zu Thompsons Untersuchungsgebiet nicht durch eine ähnlich enge face-to-face-Beziehung auszeichnet. Nach Ansicht der Verfasserin kann das Kräftefeld-Konzept dennoch zur Anwendung kommen, da zahlreiche der hier analysierten Beziehungen eine vergleichsweise starke soziale Enge aufweisen, wie etwa die Beziehung der Supplizierenden zu den Nutznießern der Gnadenbitten oder jene zwischen Untertanen und lokaler Obrigkeit. Bei der Analyse wird zudem der Umstand keineswegs vernachlässigt, dass die einzelnen Akteure über recht unterschiedliche Handlungsspielräume verfügen, je nachdem, welcher Akteursgruppe man angehört: derjenigen, welche Beschwerden und Bitten vortrug, oder derjenigen, welche Suppliken prüfte und Gnade verwehrte oder gewährte. Mit Akteursgruppen zu operieren, bedeutet aber nicht, von einem dualistischen Interpretationsmodell auszugehen, welches auf der Annahme beruht, dass „die“ Obrigkeit eine „festgefügte homogene Handlungseinheit“ darstellt, der als Objekt ihres Ordnungswillens eine „einfach nivellierte Untertanengesellschaft“ gegenübersteht.56 Knecht angewiesen ist, um die Funktion des Herr-Seins ausfüllen zu können. Für den Knecht eröffnen die Arbeit und die Anerkennung des Herrn einen gewissen Spielraum, den Hegel Eigensinn nennt. Begründet ist dieser Eigensinn in der Freiheit, die auch der Knechtschaft in begrenztem Maße innewohnt – vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1986, hier S. 150 – 155, bes. S. 155. 56 Hier wird Holensteins Hinweis aufgegriffen, nach den Interpretations- und Handlungsspielräumen der „obrigkeitlichen Verwaltungspraktiker“ im Hinblick auf „Aneignung, Auslegung und Realisierung der gesetzlichen Anforderungen“ zu fragen – zit. nach: André Holenstein, Gesetzgebung und administrative Praxis im Staat des Ancien Régime. Beobachtungen an den badischen Vogt- und Rügegerichten des 18. Jahrhunderts; in: Barbara Dölemeyer / Diethelm Klippel, Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit, Berlin 1998 (ZfHF, 22. Beiheft), S. 171 – 197, hier S. 196 in Anlehnung an Alf Lüdtke.
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Das der Untersuchung zugrunde liegende Verständnis von Praxis lehnt sich ebenfalls an Lüdtkes Konzept an. Gewinnbringend ist der Ansatz vor allem in Bezug auf die Aneignung von kulturellen Techniken: Welche Vorgaben zum Supplizieren gab es, und wie nutzten die Supplikanten und Supplikantinnen den ihnen verbleibenden Handlungsspielraum aus, um ihre Gnadenbitten zu authentisieren? Wie instrumentalisierten sie die Supplikation zugunsten einer Person aus ihrem sozialen Umfeld für ihre eigenen Interessen? Welche Vorstellungen über Schuld und Unschuld, über gerechte und ungerechte Strafen, über Rechte und Pflichten verbanden sich mit den Gnadenbitten? Welche Monarchenbilder werden in den Suppliken suggeriert und inwieweit wurden sie strategisch eingesetzt?57 Bleibt zusammenzufassen, dass in der Arbeit von der Prämisse ausgegangen wird, dass Herrschaft durch eine Gemengelage von unterschiedlichen Praktiken produziert wird, an der sowohl die obrigkeitliche Ebene als auch die Untertanen und Untertaninnen Anteil hatten. Das Gnadenbitten und das Gewähren oder Verwehren von Gnade werden daher hier im Spannungsfeld von Machtverhältnissen, juristischer Norm und administrativer Praxis58 sowie den Handlungsspielräumen und Motiven der einzelnen Akteure verortet. Aufbau der Arbeit Die Supplikations- und Gnadenpraxis stellt ein im Ancien Régime allgemein verbreitetes Phänomen dar, welches unterschiedliche, sich gegenseitig beeinflus57 Zu erwarten sind bspw. Monarchenbilder, die auf Konzepte des Paternalismus und des naiven Monarchismus zurückgehen. Zum Paternalismus vgl. Christiane Eifert, Paternalismus und Politik. Preußische Landräte im 19. Jahrhundert, Münster 2003. Zum naive monarchism vgl. David Martin Luebke, Serfdom and Honour in Eighteenth-Century Germany; in: Social History 18 (1993), S. 143 – 161; vgl. ders., His Majesty’s Rebels. Communities, Factions and Rural Revolt in the Black Forest, 1725 – 1745, Ithaca / London 1997. Zum Topos des Landesvaters und zum königlichen Tugendkanon vgl. Monika Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland und England von 1640 bis 1848, Göttingen 1993. Zum Paternalismuskonzept vgl. Edgar Melton, The Decline of Prussian „Gutsherrschaft“ and the Rise of the Junker as Rural Patron, 1750 – 1806; in: German History 12 (1994) 3, S. 334 – 350; vgl. Robert M. Berdahl, Preußischer Adel: Paternalismus als Herrschaftssystem; in: Hans-Jürgen Puhle / Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, S. 123 – 145; vgl. Edward Palmer Thompson, Die „moralische Ökonomie“ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert; in: ders., Plebejische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1980, S. 67 – 130 und S. 332 – 347; vgl. Bengt Algot Sørensen, Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert, München 1984; vgl. D. Reid, Industrial Paternalism: Discourse and Practice in Nineteenth-Century French Mining and Metallurgy; in: Comparative Studies in Society and History 27 (1985), S. 579 – 607. 58 Zur methodischen Unterscheidung von Gesetzgebung und administrativer Praxis beispielhaft André Holenstein – vgl. André Holenstein, Gesetzgebung und administrative Praxis im Staat des Ancien Régime. Beobachtungen an den badischen Vogt- und Rügegerichten des 18. Jahrhunderts; in: Barbara Dölemeyer / Diethelm Klippel, Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit, Berlin 1998 (ZfHF, 22. Beiheft), S. 173 f. und S. 192 – 197.
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sende Erscheinungsformen aufweist. Ausgehend von der etymologischen Herleitung der Begrifflichkeiten werden die von der Forschung ausgemachten Ursprünge des Gnadenrechts und des Gnadenbittens skizziert [s. A.I.].59 Angerissen werden zudem Diskurse im kulturhistorischen Kontext, die die Gnaden- und Supplikationspraxis im Ancien Régime beeinflussten, sowie allgemeine normative Rahmenbedingungen, welche den sozialen Praktiken ihren formalen Rahmen gaben [s. A.I.1. und A.I.2.]. Im Anschluss werden die Erkenntnisse auf das hier ausgewählte Untersuchungsgebiet herunter gebrochen und mit den rechts- und verwaltungsgeschichtlichen Rahmenbedingungen des Supplizierens und der Gnade verbunden, wobei auch die Entwicklungen vor und nach dem Untersuchungszeitraum in den Blick genommen werden [s. A.II.]. Untersucht wird, wie sich das Gnaden- und Supplikationswesen im Spiegel der Edikte und Verordnungen im Kontext des Normativitätsdiskurses in Brandenburg-Preußen darstellt. Dabei wird auch auf den Machtspruch und das königliche Bestätigungsrecht als mit dem Gnadenwesen eng verknüpfte Rechtsbereiche einzugehen sein [s. A.II.1. – A.II.4.]. Im Folgenden werden allgemeine Erscheinungsformen des Gnadenbittens herausgearbeitet, wie sie sich in den vorliegenden Quellen aus der Kurmark unter Friedrich Wilhelm II. (1786 – 1797) widerspiegeln. Zu berücksichtigen ist dabei, inwieweit die oben umrissenen normativen Vorgaben die soziale Praktik des Supplizierens prägten [s. A.III.]. Grundsätzliche Modalitäten des Gnadenbittens sind zu klären: So zielt die Frage nach der Entstehung von Suppliken auf die Akteure im Hintergrund, also auf die Rolle der Ratgeber und Schreiber beim Supplizieren [s. A.III.1.]. Ein kritischer Umgang mit den Quellen verlangt ebenso wie die eingangs gestellte Frage nach Techniken des Supplizierens, das Produkt näher in Augenschein zu nehmen. Auseinandergesetzt wird sich daher mit der Physis der Suppliken in Bezug auf Form, Stil, Aufbau und narrative Muster [s. A.III.2.]. Ein wesentlicher Beitrag zum Verständnis der Supplikationspraxis stellt die Frage nach den inhaltlichen Zielsetzungen der Gnadenbitten dar [s. A.III.3.]. Aufschluss über die Aneignung des Supplizierens als kulturelle Praktik geben die Zeitläufe des Gnadenbittens: Konkret werden hier die für das Supplizieren gewählten Zeitpunkte bzw. Anlässe sowie Häufungen von Supplikationen in einem Gnadenfall untersucht [s. A.III.4.]. Das zweite Kapitel widmet sich den Hauptakteuren des Supplizierens, also den Männern und Frauen, die für sich selbst bzw. für eine ihnen nahe stehende Person um Begnadigung von einer gerichtlich zuerkannten Strafe baten. Wie oben ange59 Die Betrachtung der Gnade steht dabei zu Anfang, weil ihre Existenz letztlich die Voraussetzung dafür ist, dass überhaupt suppliziert werden konnte. Während bei der theoretischen Annäherung an das Phänomen diese Reihenfolge gewählt wurde, wird bei der Untersuchung der Praxis die Abfolge der Handlungsschritte berücksichtigt: Da den Begnadigungen eine Supplikation oder eine Fürsprache vorausging, wird demzufolge erst das Supplizieren [s. B.], dann die Begnadigung [s. C.] Thema sein.
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kündigt, gilt es, das gesellschaftliche Kräftefeld zu rekonstruieren, in dem sich das Supplizieren abspielte. Dies wird hier im besonderen Maße durch das Verhältnis zwischen den supplizerenden Männern und Frauen und den Nutznießern der Gnadenbitten bestimmt. Daher wird zu fragen sein, welche Gruppen an Bittstellern und Bittstellerinnen bezogen auf ihr Verhältnis zu der zu begnadigenden Person auszumachen sind [s. B.I.]. Unter Verhältnis wird dabei nicht nur der Bezug zur angeklagten bzw. verurteilten Person verstanden, vielmehr spielen Kategorien wie Geschlecht, Alter und soziale Herkunft ebenfalls eine Rolle. Die Ergebnisse werden danach untersucht, welche Supplikationsmuster sich abzeichnen. Dabei wird der Frage nachgegangen, inwieweit das Supplizieren allen Mitgliedern der Gesellschaft, unabhängig vom sozialen Stand, Alter und Geschlecht, offen stand (These der Allzugänglichkeit) [s. B.II.1.]. Abschließend werden die häufigsten Argumentationsmuster und angeführten Motive aufgegriffen, um Hinweise auf die Interessenlagen der Supplizierenden zu erhalten; dies verspricht wiederum Aufschluss über die Funktionen des Supplizierens [s. B.II.2.]. Standen im vorigen Kapitel die supplizierenden Männer und Frauen im Mittelpunkt, so widmet sich das dritte Kapitel den obrigkeitlichen Entscheidungsträgern. Ziel ist es, die Handlungsmuster der obrigkeitlichen Akteure in der Gnadenpraxis offen zu legen. Dies bedeutet, das Kräftefeld, in dem über Supplikationen entschieden wurde, und den Handlungsspielraum, den die einzelnen Akteure besaßen, herauszuarbeiten [s. C.I.]. Welchen Weg eine Supplikation bis zu ihrer Entscheidung durchlief und welche obrigkeitlichen Akteure damit beschäftigt waren, soll mit Hilfe einer Geschäftsganganalyse ermittelt werden [s. C.I.1.]. Neben der Prüfung von Supplikationen stand den Staatsdienern im Justizapparat die Möglichkeit offen, aus eigener Initiative eine verurteilte Person für eine Begnadigung vorzuschlagen: Wer in welchem Fall und mit welcher Begründung eine solche Fürsprache abgab, ist zu klären [s. C.I.2.]. Anschließend beschäftigt sich die Studie mit dem Erfolg des Gnadenbittens. Anhand der vorgefundenen Gnadenakte wird eine Typologie der Begnadigungsformen unter Berücksichtigung der jeweiligen Begründungen ausgemacht [s. C.II.]. Folgende Fragen drängen sich hierbei auf: Wie häufig und unter welchen Bedingungen wurde den verurteilten Männern und Frauen eine Begnadigung gewährt? Und wie sah diese aus? Es gilt, das Spektrum unterschiedlicher Begnadigungsformen und ihre jeweiligen Qualitäten aufzuzeigen [s. C.II.1. – C.II.7.]. Ein Nachteil des hier gewählten Vorgehens, die Supplikations- und die Gnadenpraxis analytisch getrennt voneinander zu betrachten, wird allerdings hier augenfällig: Da das Supplizieren bzw. das Fürsprechen und das Gnadegewähren Aspekte ein- und desselben Falles sind, kommt es vor, dass immer wieder auf eine konkrete Fallakte einzugehen ist, Wiederholungen sind daher kaum zu vermeiden. In einer Zwischenbilanz wird die Quote der Begnadigungen festgestellt und die Begnadigungsformen gemessen an der Häufigkeit ihres Vorkommens zusammenfassend beurteilt [s. C.III.1.]. Es werden außerdem Antworten auf die Fragen gesucht, welche Gründe als gnadenwürdig galten und welche Motive die Obrigkeit
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mit einer Begnadigung verfolgte [s. C.III.2.]. Zum Abschluss wird der Fokus auf die begnadigten Personen und die Supplizierenden, die mit ihren Gnadenbitten Erfolg hatten, gerichtet [s. C.III.3.]. Abschließend werden die zentralen Ergebnisse zur Supplikations- und Gnadenpraxis im Untersuchungsgebiet zusammengetragen. Im Sinne der Ausgangsüberlegungen ist zu fragen, welche Rückschlüsse daraus im Hinblick auf die Funktionsweise und die Legitimation von Herrschaft im aufgeklärten Absolutismus Ende des 18. Jahrhunderts zu ziehen sind.
II. Die Forschung zur Geschichte der Gnade und des Supplizierens Die juristische Forschung in Deutschland blickt auf eine lange Tradition der Auseinandersetzung mit dem Gnadeninstitut – allerdings unter Vernachlässigung des Supplikationswesens – zurück. Die Frage nach der Rechtsnatur des Gnadenaktes im Rahmen der jeweiligen Herrschaftsform wurde immer wieder diskutiert: So setzte mit dem Kaiserreich um 187160 eine rechtswissenschaftliche Debatte ein, die nach einer vorübergehenden Flaute erst wieder im Nationalsozialismus bzw. in der Nachkriegszeit61 auflebte. Ab den Fünfziger Jahren62 geriet das Thema Gnade ein wenig ins Abseits, bis es nach der Wiedervereinigung von jüngeren rechtsphilosophischen Arbeiten in der Bundesrepublik Deutschland wieder aufgenommen wurde, wie zum Beispiel in denen von Christian Mickisch und Dimitri Dimoulis.63 60 Vgl. Julius Plochmann, Das Begnadigungsrecht, Erlangen 1845; vgl. J. C. F. L. Carl Lueder, Das Souveränitäts-Recht der Begnadigung, Leipzig 1860; vgl. Daniel Loeb, Das Begnadigungsrecht. Eine reichsrechtliche Studie, Worms 1881; vgl. Hugo Elsas, Ueber das Begnadigungsrecht, hauptsächlich vom staats- und strafproceßrechtlichen Standpunkte aus. Ein Beitrag zur Dogmatik des gegenwärtig in Deutschland geltenden Rechts, Mannheim 1888; vgl. Sally Davidsohn, Das Begnadigungsrecht. Ein Beitrag zur Lehre von der Berechtigung, von dem Wesen und von den Erscheinungsformen der Gnade, Berlin 1902; vgl. Konrad Beyerle, Von der Gnade im Deutschen Recht, Rede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers und Königs am 27. Januar 1910 im Namen der Georg-August-Universität, Göttingen 1910. 61 Die Beiträge wurden zumeist in Form von rechtswissenschaftlichen Dissertationen veröffentlicht, deren Qualität sehr heterogen ausfällt: Vgl. Heinrich Frangen, Gnadenwesen und Strafmilderung in Preußen, Köln 1927; vgl. Fritz Grau / Karl Schäfer, Das Preußische Gnadenrecht, Berlin 1931; vgl. Wilhelm Grewe, Gnade und Recht, Hamburg 1936; vgl. Reinhard Wever, Gnade und Recht, Heidelberg 1948; vgl. Maximilian Schuster, Das Begnadigungsrecht – eine staatsrechtliche Betrachtung, München 1949. 62 Vgl. Ilse Hupe, Das Gnadenrecht. Eine rechtsphilosophisch-historische Betrachtung, Frankfurt a. M. 1954; vgl. Wolfgang Waldstein, Untersuchungen zum römischen Begnadigungsrecht. Abolitio – Indulgentia – Venia, Innsbruck 1964; vgl. Richard Drews, Das deutsche Gnadenrecht. Gesamtdarstellung, Köln / Bonn / München 1971. 63 Zur Geschichte des Gnadeninstituts vom Altertum bis zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aus rechtsphilosophischer Sicht vgl. Georg Flor, Gottesgnadentum und Herrschergnade. Über menschliche Herrschaft und göttliche Vollmacht; in: Bundesanzeiger
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Anknüpfungspunkte bieten vereinzelt sowohl die jüngeren als auch die älteren rechtswissenschaftlichen Studien in Bezug auf den historischen Gnadendiskurs aus rechtsphilosophischer Perspektive sowie auf die juristische Definition und Funktion der unterschiedlichen Spielarten des Gnadenrechts (ius aggratiandi, ius mitigandi, Evokationsrecht, Abolition, restitutio famae). Einen ersten Anstoß zur Untersuchung der Supplikationspraxis aus rechtshistorischer Perspektive lieferte Werner Hülles Anlageplan für eine Dissertation von 1973.64 Eine Studie, die sich mit dem Supplizieren befasst, kommt nicht umhin, sich mit Hülles Vorschlägen zur Terminologie des Begriffsfeldes Supplikation bzw. Supplik kritisch auseinanderzusetzen. Hülle stellt fest, dass Suppliken nicht nur im Bereich der Justiz bzw. des Strafvollzugs eingingen: Bittschriften wurden u. a. auch mit der Absicht verfasst, sich Privilegien in Form von Rechten, aber auch von materiellen Vorteilen zu sichern. Unter Begnadigung verstand man in der Frühen Neuzeit generell die Gewährung eines persönlichen Vorteils durch obrigkeitliche Gunstbezeugung. Diese „unüberschaubare und vielgestaltige Masse von Vorstellungen“ näher zu untersuchen, befand Hülle jedoch „als rechtshistorisch unergiebig“ und beschränkte sein Vorhaben daher auf Supplikationen in Rechtssachen.65 Aus Sicht der heutigen Geschichtswissenschaft bleibt festzustellen, dass Hülle das Potential, das dieser Quellengattung innewohnt, nicht erkannt hat. Dies erklärt sich vor allem durch die Ausrichtung der damaligen historischen Forschung, waren doch zu Beginn der siebziger Jahre neuere Ansätze der Sozialgeschichte noch im Begriff, sich zu etablieren. Während Hülles Verdienst darin liegt, die Erforschung von Suppliken angeregt zu haben, er sein Forschungsvorhaben aber nie umsetzte, kommt Helmut Neuhaus die Rolle des Pioniers zu: In den siebziger Jahren untersucht Neuhaus die Suppliken an den Reichstag und die Bildung eines Supplikationsausschusses aus ver43 (1991) 119a (2. Juli). Christian Mickisch weitet seine rechtsphilosophische Analyse der Gnade auf ihre Bedeutung in der Rechtfertigungslehre des theologischen Diskurses aus – vgl. Christian Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat. Grundlinien einer rechtsdogmatischen, staatsrechtlichen und verfahrensrechtlichen Neukonzeption, Frankfurt a. M. / Berlin / Bern / u. a. 1996, hier S. 46 – 74. Einen anderen Ansatz wählt dagegen Dimitri Dimoulis: Der historische Abriss der rechtsphilosophischen Kontroverse über Begnadigung dient ihm als Ausgangspunkt für eine rechtsvergleichende Analyse des heute existierenden Gnadeninstituts in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich, Italien und Griechenland – vgl. Dimitri Dimoulis, Die Begnadigung in vergleichender Perspektive. Rechtsphilosophische, verfassungs- und strafrechtliche Probleme, Berlin 1996. 64 Vgl. Werner Hülle, Das Supplikenwesen in Rechtssachen, Anlageplan für eine Dissertation; in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 90 (1973), S. 194 – 212. Einen Überblick über den derzeitigen Stand der Forschung gibt Andreas Würgler – vgl. Andreas Würgler, Bitten und Begehren. Suppliken und Gravamina in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung; in: Cecilia Nubola / Andreas Würgler (Hg.), Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14. – 18. Jahrhundert), Tagungen in Trient vom 25. – 26. November 1999 und vom 14. – 16. Dezember 2000, Berlin 2005 (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient; 19), S. 17 – 52. 65 Zit. aus: Hülle 1973, S. 194.
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fassungsgeschichtlicher Perspektive.66 Die Ergebnisse auf Reichsebene ergänzt er einige Jahre später um eine Studie zu einem Territorium: Am Beispiel der Landgrafschaft Hessen Ende des 16. Jahrhunderts macht Neuhaus eine quantifizierende Bestandsaufnahme der Anliegen, die sich in Suppliken widerspiegeln.67 Neben Gnadensupplikationen68 zur Erlangung von Privilegien und Justizsupplikationen in Rechtssachen [zur Begrifflichkeit s. A.I.2.] macht Neuhaus mit den Gravamina der Landstände an den Reichstag einen dritten Bereich des Supplikationswesens aus.69 Neuhaus’ Studie basiert auf einem Supplikenregister, in dem der Empfang von Suppliken lediglich tabellarisch vermerkt wurde, nicht aber auf Suppliken im Original. Die Geschichtswissenschaft stößt hier an Grenzen der Quellenüberlieferung, denn Suppliken haben häufig nicht den Weg ins Archiv gefunden und wenn doch, so ahnt man häufig nichts von ihrer Existenz, da sie, wie im vorliegenden Fall, „zufällig“ Bestandteil von bislang nicht erschlossenen Aktenbeständen unterschiedlicher Behörden sind. So beschränkt sich beispielsweise die Projektgruppe um Ludwig Schmugge zur päpstlichen Pönitentiarie primär auf die Analyse der in den Supplikenregistern aufgeführten Anliegen.70 Etwas günstiger steht es um die Überlieferung von Gravamina an Ständeversammlungen, da ihren Absendern größere Beachtung geschenkt wurde als supplizierenden gemeinen Untertanen. Für die Frühneuzeitforschung sind Gravamina von großem Interesse, weil sie als politischer Ausdruck korporativ-ständischer Interessen im Rahmen frühneuzeitlicher Staatenbildung verstanden werden.71 Eine 66 Vgl. Helmut Neuhaus, Reichstag und Supplikationsausschuß. Ein Beitrag zur Reichsverfassungsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1977. 67 Vgl. Helmut Neuhaus, Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen. Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert; in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 28 (1978), S. 110 – 190 (1. Teil) und 29 (1979), S. 63 – 97 (2. Teil). 68 Angeregt von Neuhaus’ Studie rücken Gnadensupplikationen ins Visier der Forschung. Eine Vorstellung von der thematischen Breite der durch Supplikation erbetenen Privilegien – wie z. B. Nobilitierungen und Adelsprädikate, Wappenverleihungen, Privilegien für Jagd, Forst und Erze, Namensänderungen, Legitimierungen unehelich Geborener u. a. – liefert z. B. Reiner Puschnig (Hg.), Gnaden und Rechte: Das steirische Siegelbuch. Ein Privilegienprotokoll der innerösterreichischen Regierung 1592 – 1619, Graz 1984. 69 Vgl. Neuhaus 1979, S. 63 – 97. Zu Gravamina vgl. Andreas Würgler, Bitten und Begehren. Suppliken und Gravamina in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung; in: Nubola / Würgler 2005, S. 17 – 52, hier zum Begriff S. 19 – 23, zu Forschungsfeldern S. 23 – 28, zu Resultaten S. 29 – 33. 70 Vgl. Repertorium poenitentiariae Germanicum. Verzeichnis der in den Supplikenregistern der Pönitentiarie vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, hrsg. v. Deutschen Historischen Institut in Rom, bearb. v. Ludwig Schmugge, Hildegard Schneider-Schmugge u. a., bisher 5 Bde., Tübingen 1996 – 2002; vgl. Ludwig Schmugge, Suppliche e diritto canonico: il caso della „Penitenzieria“, in: Hélène Millet (Hg.), Suppliques et requêtes: Le gouvernement par la grâce en Occident (XIIe – XVe siècle), les actes du colloque international organisé à Rome les 9, 10 et 11 novembre 1998 par l’École française de Rome, Rom 2003 (Collection de l’École Française de Rome; 310), S. 207 – 231. 71 Als Überblick zur Forschung über Gravamina vgl. Würgler 2005, bes. S. 29 – 33. Einzelne Studien zu Gravamina vgl. Andreas Würgler, Desideria und Landesordnungen. Kommu-
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Forschungsgruppe um Peter Blickle untersucht anhand von Gravamina, aber auch von Suppliken, Beschwerden und Petitionen die Einflussnahme von Gemeinden auf den Staat.72 Aus dem Gewohnheitsrecht, sich als Kollektiv mit einer Gravamina oder als einzelner Untertan mit einer Supplik den unmittelbaren Zugang zum Monarchen zu verschaffen, entwickelt sich Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts die Petition, in der politische Vorstellungen und Forderungen artikuliert und an unterschiedliche Institutionen adressiert wurden.73 Die sozialgeschichtliche Forschung zum 19. Jahrhundert hat in der Petition bzw. Beschwerde eine zentrale Quellengattung entdeckt, um Aufschluss über die politische Dimension von rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Konflikten zwischen den Bürgern und dem Staat zu erhalten. Petitionen vermitteln beispielsweise zur Erforschung der Revolution von 1848 nützliche Informationen über soziale Hintergründe und den Grad der Politisierung in der Bevölkerung.74 Doch auch in anderen Zusammenhängen75, wie zum Beispiel in der Arbeitswelt im Zeitalter der naler und landständischer Einfluß auf die fürstliche Gesetzgebung in Hessen-Kassel 1650 – 1800; in: Peter Blickle (Hg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, 25. Bd. der Beihefte der Historischen Zeitschrift, München 1998, S. 149 – 208; vgl. Rosi Fuhrmann, Amtsbeschwerden, Landtagsgravamina und Supplikationen in Württemberg zwischen 1550 und 1629; in: Blickle 1998, S. 69 – 147; vgl. Cecilia Nubola / Andreas Würgler (Hg.), Forme della comunicazione politica in Europa nei secoli XV – XVIII. Suppliche, gravamina, lettere / Formen der politischen Kommunikation in Europa vom 15. – 18. Jahrhundert. Bitten, Beschwerden, Briefe, Contributi / Beiträge zur Tagung vom 29. November bis 1. Dezember 2001, Bologna / Berlin 2004 (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento; 14 / Schriften des ItalienischDeutschen Historischen Instituts in Trient; 14), hier II. Teil, S. 117 – 307; vgl. dies. 2005. 72 Vgl. Peter Blickle, Einführung: Mit den Gemeinden Staat machen; in: ders. (Hg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, Beiheft 25 der Historischen Zeitschrift, München 1998, S. 1 – 20, hier S. 15. 73 Als ein Beitrag dazu versteht sich z. B. die Studie von Andreas Würgler über Protestbewegungen im 18. Jahrhundert, in der er Verbindungslinien zwischen Suppliken im Sinne einer Beschwerde und Petitionen mit politischen Forderungen nachspürt – vgl. Andreas Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995, hier S. 323 f.; vgl. auch Würgler 1998 und Würgler 2001. Zur Entwicklung von der Supplik zur Petition vgl. auch Rupert Schick, Petitionen. Von der Untertanenbitte zum Bürgerrecht, 3. Aufl., Heidelberg 1996. 74 Beispielhaft vgl. Carola Lipp / Lothar Krempel, Petitions and the Social Context of Political Mobilization in the Revolution of 1848 / 49: A Microhistorical Actor-Centred Network Analyses; in: International Review of Social History 46 (2001); Supplement 9: Petitions in Social History, hrsg. v. Lex Heerma van Voss, S. 151 – 169; vgl. Dietrich Mohme, Das Petitionsrecht im Vormärz, Pfaffenweiler 1992; vgl. Gudrun Gersmann, Literarischer Untergrund und Revolution – die Karriere des Pierre Manuel; in: Winfried Schulze (Hg.), Aufklärung, Politisierung und Revolution, Pfaffenweiler 1991, S. 9 – 31; vgl. Manfred Köhler, Die nationale Petitionsbewegung zu Beginn der Revolution 1848 in Hessen. Eingaben an das Vorparlament und an den Fünfzigerausschuß aus Hessen (März bis Mai 1848), Darmstadt 1985; vgl. Johann Heinrich Kumpf, Petitionsrecht und öffentliche Meinung im Entstehungsprozeß der Paulskirchenverfassung 1848 / 49, Frankfurt a. M. / Bern / New York 1983. 75 Zu Petitionen an lokale Vertreter der Exekutive im 19. Jh. vgl. Jörg Karweick, „Tiefgebeugt von Nahrungssorgen und Gram“. Schreiben an Behörden; in: Siegfried Grosse / Martin Grimberg / Thomas Hölscher / Jörg Karweick (Hg.), „Denn das Schreiben gehört nicht zu
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Industrialisierung76, können Petitionen als Gradmesser für soziale Unzufriedenheit herangezogen werden. Neben der Geschichtswissenschaft befasst sich auch die Rechtswissenschaft seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Frage nach der verfassungsrechtlichen Garantie des Petitionsrechts.77 Das Thema Petitionswesen findet zurzeit international Beachtung: Eine Forschergruppe um Lex Heerma van Voss beschäftigt sich mit Petitionspraktiken in unterschiedlichen Kulturkreisen und Epochen.78 Aus den Studien über Petitionen, Gravamina und Gnaden- und Justizsupmeiner täglichen Beschäftigung“. Der Alltag kleiner Leute in Bittschriften, Briefen und Berichten aus dem 19. Jahrhundert. Ein Lesebuch, Bonn 1989, S. 17 – 88; vgl. Joachim Eibach, Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens, Frankfurt a. M. / New York 1994; vgl. Annett Büttner, Hoffnungen einer Minderheit. Suppliken jüdischer Einwohner an den Hamburger Senat im 19. Jahrhundert, Münster 2003. Zu Petitionen an Besatzungsmächte vgl. Uwe Andrae, Die Rheinländer, die Revolution und der Krieg 1794 – 1798. Studie über das rheinische Erzstift Köln unter der Besatzung durch die französischen Revolutionstruppen 1794 – 1798 im Spiegel von Petitionen, Düsseldorfer Schriften zur neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Nr. 37, Essen 1994. 76 Zur Arbeitswelt vgl. Klaus Tenfelde / Helmuth Trischler (Hg.), Bis vor die Stufen des Throns. Bittschriften und Beschwerden von Bergleuten im Zeitalter der Industrialisierung, München 1986; für das 18. / 19. Jh. vgl. Petra Rentschler, Lohnarbeit und Familienökonomie. Zur Frauenarbeit im Zeitalter der Französischen Revolution; in: Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.), Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und neue Weiblichkeit, 1760 – 1830, Frankfurt a. M. 1989, S. 223 – 246; als Quellensammlung vgl. Werner Conze / Wolfgang Zorn (Hg.) und Rüdiger Moldenhauer (Bearb.), Die Petitionen an den Deutschen Handwerker- und Gewerbe-Kongreß in Frankfurt 1848, Boppard a. R. 1994; vgl. Ken Lunn / Ann Day, Deference and Defiance: The Changing Nature of Petitioning in British Naval Dockyards; in: International Review of Social History 46 (2001); Supplement 9: Petitions in Social History, hrsg. v. Lex Heerma van Voss, S. 131 – 150. 77 Die bislang vorliegenden Arbeiten gehen allerdings nicht auf die Bedeutung, die dem Supplikationswesen als Vorläufer des Petitionswesens zukommt, ein – vgl. August Theodor Woeniger, Das Petitionsrecht und die preußische Verfassung. Ein Beitrag zur Berurtheilung der preußischen Verfassungsgesetze vom 3. Februar 1847, Leipzig 1847; vgl. Hans Ludwig Rosegger, Petitionen, Bitten und Beschwerden. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte moderner Verfassungen in rechtsvergleichender Darstellung, Berlin 1908; vgl. Karl Becker, Die Entwicklung des Petitions- und Beschwerderechtes in ausländischen und deutschen Verfassungen bis z[um] J[ahr] 1848, Greifswald 1913; vgl. Georg Krause, Das Petitionsrecht nach dem Staatsrecht Preussens und des Reiches, Greifswald 1916; vgl. Paul Stommel, Das Petitionsrecht des deutschen Reichstags und des preußischen Landtags, Greifswald 1916; vgl. Erich Haupt, Das Petitionsrecht (Eingaberecht), Breslau 1927. Zum Petitionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland vgl. Diether H. Hoffmann, Das Petitionsrecht, Frankfurt a. M. 1959; vgl. Hartwig Sengelmann, Der Zugang des einzelnen zum Staat abgehandelt am Beispiel des Petitionsrechts. Ein Beitrag zur allgemeinen Staatslehre, Hamburg 1965; vgl. Karl Korinek, Das Petitionsrecht im demokratischen Rechtsstaat, Tübingen 1977; vgl. Michael Terbille, Das Petitionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland. Genese, Geltungsgrund und Ausgestaltung, Münster 1980. Zum Petitionsrecht der DDR vgl. Felix Mühlberg, Bürger, Bitten und Behörden. Geschichte der Eingabe in der DDR, Berlin 2004; vgl. Jonathan R. Zatlin, Ausgaben und Eingaben: Das Petitionsrecht und der Untergang der DDR; in: ZfG 45 (1997) 10, S. 902 – 917. 78 Die Zeitschrift International Review of Social History widmet dem Petitionswesen einen Sonderband, in dem die Petition nicht nur als ein europäisches (hierzu Beispiele aus
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pliken gewinnt man Kenntnisse über die unterschiedlichen Spielarten des Supplizierens, die notwendig sind, um das Besondere der hier analysierten Suppliken herauszuarbeiten und diese im Kontext der verschiedenen historischen Bedingungen zum Supplizieren verorten zu können. Mehr Anknüpfungspunkte für die vorliegende Fragestellung bietet indes die Forschung, die Suppliken in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellt. Studien zur frühneuzeitlichen Protestforschung belegen, wie fruchtbar sich Suppliken als Quellen erweisen, um Aufschluss über die Denk- und Handlungsweisen der „kleinen Leute“ zu erhalten.79 Otto Ulbricht analysiert Suppliken beispielsweise daraufhin, wie Gutsuntertanen auf die Durchsetzung der Leibeigenschaft in Schleswig zu Beginn des 17. Jahrhunderts reagiert haben.80 Aufgrund ihres hohen Informationswertes über das Leben einzelner Personen sind Suppliken als Ego-Dokumente (zum Begriff s. u. Quellenkritische Überlegungen) zu verstehen; dies haben Claudia Ulbrich81, Otto Ulbricht82 und Isabel Richter83 nachgewiesen. Berücksichtigt Italien, Frankreich, England, Deutsches Reich), sondern als ein kulturübergreifendes Phänomen, welches von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, in China, Indien, Lateinamerika und im slawischen Gebiet praktiziert wurde bzw. wird, vorgestellt wird – vgl. Lex Heerma van Voss (Hg.), Petitions in Social History; in: International Review of Social History, 46 (2001), Supplement 9; 2002 als Monographie mit identischem Titel in Cambridge veröffentlicht. Als Einführung zum Thema Petition vgl. Lex Heerma van Voss, Introduction, in: ebd., S. 1 – 10. Zum Bittwesen in Russland vgl. Margareta Mommsen, „Hilf mir, mein Recht zu finden“. Russische Bittschriften von Iwan dem Schrecklichen bis Gorbatschow, Frankfurt a. M. / Berlin 1987. 79 Vgl. Claudia Ulbrich, Der Charakter bäuerlichen Widerstands in vorderösterreichischen Herrschaften; in: Winfried Schulze (Hg.), Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa, Stuttgart 1983, S. 202 – 216; vgl. Mathias Hattendorff, Begegnung und Konfrontation der bäuerlichen Bevölkerung mit Herrschaftsrepräsentanten im Spiegel von Bittschriften (am Beispiel des holsteinischen Amtes Rendsburg zwischen 1660 und 1720); in: Ulrich Lange (Hg.), Landgemeinde und frühmoderner Staat. Beiträge zum Problem der gemeindlichen Selbstverwaltung in Dänemark, Schleswig-Holstein und Niedersachsen in der frühen Neuzeit, Sigmaringen 1988 (Kieler Historische Studien; 32), S. 149 – 163; vgl. Thomas Robisheaux, Rural Society and the Search for Order in Early Modern Germany, Cambridge 1989. Zu den Ergebnissen eines Projekts unter der Leitung von Peter Blickle vgl. Peter Blickle / Wim Blockmans (Hg.), Resistance, Representation, and Community. The Origins of the Modern State in Europe, Oxford 1997; vgl. Claudia Ulbrich, Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, Wien / Köln / Weimar 1999. Als Beispiel zur aktuellen Protestforschung außerhalb Europas, hier zum ostindischen Kulturkreis des 18. Jh., vgl. Potukuchi Swarnalatha, Revolt, Testimony, Petition: Artisanal Protests in Colonial Andhra; in: International Review of Social History 46 (2001); Supplement 9: Petitions in Social History, hrsg. v. Lex Heerma van Voss, S. 107 – 129. 80 Vgl. Otto Ulbricht, „Angemaßte Leibeigenschaft“. Supplikationen von schleswigschen Untertanen gegen ihre Gutsherren zu Beginn des 17. Jahrhunderts; in: Demokratische Geschichte 6 (1991), S. 11 – 34. 81 Vgl. Claudia Ulbrich, Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahrnehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts; in: Winfried Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 207 – 226.
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man die jüngsten Überlegungen der interdisziplinären Selbstzeugnisforschung zur Definierung von Selbstzeugnissen84, so kann man die Suppliken auch diesen zurechnen [s. u.]. Trotz ihrer Formalisierung und Verschriftlichung durch professionelle Schreiber weisen Suppliken Elemente einer mündlichen Darstellung der Bittsteller und Bittstellerinnen auf und können somit dicht an das Individuum heranführen. Der Befund ist für einen quellenkritischen Umgang mit den vorliegenden Justizsuppliken bedeutsam. Vor allem kann davon ausgegangen werden, dass Suppliken zwar strategisch konzipiert sind, zugleich aber aufgrund der Nähe zu den betroffenen Untertanen in gewissem Maße auch Lebenswirklichkeit abbilden. Nachdem das Thema Supplizieren 1996 auf einem Forum des 41. Deutschen Historikertages vorgestellt worden war85, ist das Thema europaweit in den Brennpunkt der Mittelalter-86 und Frühneuzeitforschung gerückt. Einig ist man sich darin, dass das Potential der Quellengattung Supplik für sozialgeschichtliche Fragestellungen vor allem darin liegt, Hintergründe von sozialen Konflikten und Revolten der Frühen Neuzeit aufzudecken.87 Derzeit läuft ein internationales Projekt zum Thema Petizioni, Gravamina e Suppliche nella prima Età Moderna in Europa (secoli XIV – XVIII) unter der Leitung von Cecilia Nubola und Andreas Würgler am Istituto storico italo-germanico in Trient.88 Die interdisziplinär arbeitende ForVgl. Ulbricht 1996, S. 149 – 174. Vgl. Isabel Richter, Das Abseits als unsicherer Ort. Gnadengesuche politischer Gefangener im Nationalsozialismus als autobiographische Texte; in: ÖZG 13 (2002) 2, S. 57 – 83. Auch wenn sich der Befund auf Gesuche in der Zeit des Nationalsozialismus bezieht, so kann er hier dennoch methodisch herangezogen werden. Dabei sind allerdings die völlig unterschiedlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu beachten, die sich z. B. im Grad der Alphabetisierung manifestieren. So schrieben Bittsteller und Bittstellerinnen in der NS-Zeit ihre Gesuche in der Regel selbst. Und weil sie sich nicht an komplizierten Courtoisien und Formalismen halten mussten, wie sie in der Frühen Neuzeit verlangt wurden, wirken die Gesuche im Vergleich zu Suppliken vom Ende des 18. Jh. persönlicher und unmittelbarer. 84 Vgl. Gabriele Jancke / Claudia Ulbrich (Hg.), Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, Göttingen 2005 (Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung; 10). 85 Vgl. 15. Sektion des 41. Deutschen Historikertages unter der Leitung von Peter Blickle: Supplizieren: Zur Politik der Untertanen; in: Stefan Weinfurter / Frank Martin Siefarth (Hg.), Geschichte als Argument. Berichtsband des 41. Deutschen Historikertages in München vom 17. bis 20. September 1996, München 1997, S. 104 – 108. 86 Vgl. Hélène Millet (Hg.), Suppliques et requêtes: Le gouvernement par la grâce en Occident (XIIe – XVe siècle), les actes du colloque international organisé à Rome les 9, 10 et 11 novembre 1998 par l’École française de Rome, Rom 2003 (Collection de l’École Française de Rome; 310). 87 Neben Peter Blickle, Otto Ulbricht, Rosi Fuhrmann, Beat Kümin, André Holenstein, Gerd Schwerhoff u. a. hat zuletzt Andreas Würgler darauf verwiesen – vgl. Würgler 2001, S. 20, 22; zu den anderen Autoren s. u. 88 Näheres zum Projekt Petizioni, Gravamina e Suppliche nella prima Età Moderna in Europa (secoli XIV – XVIII) am Istituto storico italo-germanico (ISIG), angebunden am Istituto trentino di cultura vgl. www.itc.it. Zu Veröffentlichungen aus diesem Projekt vgl. Nubola / Würgler 2002, vgl. dies. 2004; vgl. dies. 2005. 82 83
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schergruppe untersucht soziale, kulturelle, politische, juristische und administrative Aspekte der Geschichte des Supplizierens in Deutschland, Italien, Österreich, Schweiz und Frankreich in der Frühen Neuzeit.89 Die zahlreichen Studien belegen den Nutzen, den Suppliken – im Vergleich zu Gravamina – als Quellen zur Erforschung von Konflikten bieten: Suppliken spiegeln alltägliche Problemlagen wider; ihnen liegt eine hohe Konfliktdynamik zwischen Untertanen und Obrigkeit zugrunde, da sie relativ spontan entstehen; an ihnen lassen sich spezifische Strategien im Umgang mit Konflikten ablesen – und der Erfolgsgrad von Supplikationen, in dem die supplizierenden Untertanen ihre Interessen im Wege der Gnade durch zu setzten vermochten, ist dabei nicht zu unterschätzen.90 Die unterschiedlichen Ergebnisse dieser Studien zeigen aber auch, dass regionale Befunde nicht verallgemeinert werden dürfen.91 Ein Vergleich der Supplikationspraxen in unterschiedlichen Herrschaften erweist sich jedoch im Hinblick auf bestimmte Aspekte als fruchtbar: Eine vergleichende Studie von Rosi Fuhrmann, Beat Kümin und Andreas Würgler, widmet sich dieser Frage und untersucht Unterschiede und Gemeinsamkeiten in Norm und Praxis des Supplikationswesens am Beispiel von supplizierenden Gemeinden in England, im Herzogtum Württemberg und in Hessen-Kassel.92 Sie zeigen, dass es sehr wohl Gemeinsamkeiten über Grenzen hinweg gibt. Zum Beispiel erfüllte die Kollektivsupplikation in allen drei unterschiedlichen Herrschaften eine Ventilfunktion für sozialen Unmut: Die supplizierenden Gemeinden wiesen auf soziale Missstände hin, die der gesetzlichen Regelung bedurften, und wirkten auf diese Weise mittelbar auf die Gesetzgebung ein. Aus obrigkeitlicher Sicht dienten Suppliken, insbesondere kollektiv verfasste Bitten und Beschwerden, als „erstrangiger Informationskanal“ für einen Staat, der „die herrschaftlich-administrative Durchdringung und Kontrolle des Lokalen“ anstrebte – somit kommt der Supplikation die Funktion eines Sensors und Frühwarnsystems für lokalen Problemstau und Krisenlagen zu.93 89 Vgl. Cecilia Nubola / Andreas Würgler, Einführung; in: dies. 2005, S. 7 – 16, hier S. 7; zuerst erschienen unter: Suppliche e „Gravamina“: politica, administrazione, giustizia in Europa (secoli XIV – XVIII), atti del Primo e Secondo Seminario del Progetto Petizioni, „Gravamina“ e Suppliche nella Prima Età Moderna in Europa (secoli XIV – XVIII), Trento 25 – 26 novembre 1999 e 14 – 16 dicembre 2000, Bologna 2002 (Annali dell’Istituto storico italogermanico in Trento; 59). 90 Vgl. Würgler 2005, S. 34 – 37. 91 Zum Beispiel gibt Cecilia Nubola einen Überblick über die Vielfalt von Möglichkeiten des Supplizierens in Italien – vgl. Cecilia Nubola, Die „via supplicationis“ in den italienischen Staaten der frühen Neuzeit (15. – 18. Jahrhundert); in: dies. / Würgler 2005, S. 53 – 92. 92 Vgl. Rosi Fuhrmann / Beat Kümin / Andreas Würgler, Supplizierende Gemeinden. Aspekte einer vergleichenden Quellenbetrachtung; in: Peter Blickle (Hg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, 25. Bd. der Beihefte der Historischen Zeitschrift, München 1998, S. 267 – 323. 93 Zit. aus: Fuhrmann / Kümin / Würgler 1998, S. 320 und zu weiteren gemeinsamen Ergebnissen vgl. ebd., S. 319 – 321. Diese Funktion des Supplikationswesens konnte Gerd Schwerhoff auch für eine städtische Obrigkeit – in diesem Fall handelt es sich um den Rat der Stadt Köln – nachweisen – vgl. Gerd Schwerhoff, Das Kölner Supplikenwesen in der Frühen Neu-
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Auch André Holenstein sieht die Bedeutung, welche die Supplikation für die Obrigkeit – in diesem Fall der Markgraf von Baden(-Durlach) um 1798 / 1799 – bei der Herrschaftsausübung im Lokalen hatte: Holenstein nimmt an, dass die Obrigkeit bewusst rechts- und verwaltungsrelevante Vorgänge durch gesetzliche Vorgaben zum Supplizieren bewilligungspflichtig machte, um ein Instrument auf zentralstaatlicher Ebene zu schaffen, mit dem sie in Einzelfällen direkt Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen im Sinne ihrer Policeygesetze nehmen konnte.94 Peter Schuster und Steffen Wernicke stellen die These auf, dass der obrigkeitlichen Gnadenpraxis die allgemeine Funktion zukommt, Macht- und Friedenssicherung sowie Herrscherdarstellung zu gewährleisten und den jeweiligen Bedürfnissen der Zeit anzupassen.95 Ihre These gründet auf der Untersuchung der Urfehde zum einen in Konstanz im Spätmittelalter, zum anderen in Regensburg im 15. Jahrhundert. Die vom Konstanzer Rat betriebene Gnadenpraxis war mit der Versöhnung und Unterwerfung des Begnadigten nicht nur auf die innenpolitische Ebene ausgerichtet; vielmehr war für die Reichsstadt dabei auch die außenpolitisch Ebene wesentlich, da zahlreiche Supplikationen von auswärtigen Adligen bzw. benachbarten Städten eingereicht wurden, so dass die Entscheidung über den Gnadenakt auch außenpolitischen Erwägungen gehorchten. Auch wenn die Urfehdebriefe bzw. Suppliken, die diesen Studien zugrunde liegen, andere Anliegen transportieren als die hier untersuchten Bitten um Straferlass bzw. -milderung, so lohnt es sich doch, der Frage nach funktionalen Gemeinsamkeiten des Supplizierens mit dem anderer Herrschaften nachzugehen: Das gilt für die Ventilfunktion des Supplizierens ebenso wie für die Funktion der Gnade zur Macht- und Friedenssicherung zeit. Annäherungen an ein Kommunikationsmedium zwischen Untertanen und Obrigkeit; in: ders. / Georg Mölich (Hg.), Köln als Kommunikationszentrum. Studien zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte, 4. Bd. der Reihe: Der Riss im Himmel. Clemens August und seine Epoche, Köln 2000, S. 473 – 496, hier S. 482, 489. Eine ähnliche Funktion schreibt Jonathan R. Zatlin auch dem Petitionswesen der DDR zu – vgl. Zatlin 1997, S. 903. 94 Vgl. André Holenstein, Bittgesuche, Gesetze und Verwaltung. Zur Praxis „guter Policey“ in Gemeinde und Staat des Ancien Régime am Beispiel der Markgrafschaft Baden (-Durlach); in: Peter Blickle (Hg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, 25. Bd. der Beihefte der Historischen Zeitschrift, München 1998, S. 325 – 357, hier S. 357; vgl. ders., „Ad supplicandum verweisen“. Supplikationen, Dispensationen und die Policeygesetzgebung im Staat des Ancien Régime; in: Nubola / Würgler 2005, S. 167 – 210. 95 Vgl. Peter Schuster, Eine Stadt vor Gericht. Recht und Alltag im spätmittelalterlichen Konstanz, Paderborn / München / Wien 2000, hier zur Gnade S. 273 – 311, s. bes. S. 306, 311; vgl. Steffen Wernicke, Von Schlagen, Schmähen und Unendlichkeit. Die Regensburger Urfehdebriefe im 15. Jahrhundert; in: Andreas Blauert / Gerd Schwerhoff (Hg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2000, S. 379 – 404, hier S., 403 f. Die konkreten Ergebnisse präsentiert Wernicke in Kürze in Form einer Dissertation mit dem Arbeitstitel: Friedenssicherung oder soziale Kontrolle? Die Regensburger Urfehdebriefe (1326 – 1617). Regensburger Urfehdebriefe liegen bereits in Form einer Quellenedition vor – vgl. Steffen Wernicke / Martin Hoernes (Hg.), „Umb di unzucht die ich handelt han ( . . . )“. Quellen zum Urfehdewesen, St. Katharinen 1990 (Halbgraue Reihe zur Historischen Fachinformatik, hrsg. v. Manfred Thaller, Max-Planck-Institut für Geschichte, Serie A: Historische Quellenkunde; 9).
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sowie Herrscherdarstellung auf innenpolitischer Ebene – um beispielsweise Eingriffsmöglichkeiten der Obrigkeit im Lokalen zu schaffen – aber auch auf außenpolitischer Ebene. Die Funktion des Supplizierens aus der Sicht der Untertanen beleuchtet Renate Blickle. Indem sie Supplikationen an den Landesherrn nach bäuerlichen Handlungsspielräumen im Konflikt mit lokalen Obrigkeiten in Bayern befragt, erhält sie Aufschluss über unterschiedliche Techniken der Konfliktlösung, die von Untertanen und Untertaninnen im Wege des gütlichen Verhandelns, des Schiedsverfahrens bis hin zum Prozess vor dem Hofgericht sukzessive ausgenutzt wurden.96 Die Supplikation sieht Renate Blickle als Logo einer Gesellschaftsform, „deren Ordnung auf Hierarchie und deren Legitimation auf Gnade beruhend gedacht wurden und deren Kommunikationssystem daher einen Bitt- mit einem Gebotskreislauf verflocht.“97 Auf Beobachtungen dieser Art gründet die hier gesetzte Prämisse, das Supplizieren und das Gnadegewähren bzw. -verwehren als eine aufeinander bezogene Praxis zu verstehen. Die Frage, wie Untertanen und Untertaninnen ihren Handlungsspielraum beim Supplizieren taktisch geschickt zu nutzen wussten, belegt eine Studie von Renate Blickle zur Übergabe einer Supplik:98 Die Bauern sammelten sich zu regelrechten Protestzügen und zogen aus ihren Dörfern zur Residenz, um ihrem Anliegen bei der persönlichen Übergabe der Supplik an den Landesherrn durch eine entsprechende Inszenierung zusätzlich Nachdruck zu verleihen. Damit entstand eine breite Öffentlichkeit, und zugleich demonstrierten die Bittsteller und Bittstellerinnen auf diese Weise Einheit und Einigkeit. Blickle konstatiert, dass im Aktions-Typus Zug-gen-Hof eine frühneuzeitliche Form der Demonstration im Sinne einer appellativen Meinungskundgebung zu politischen Fragen zu sehen ist.99 Vor diesem 96 Vgl. Renate Blickle, Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern. Ein Beitrag zu den Varianten rechtlicher Verfahren im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit; in: Peter Blickle (Hg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, Beiheft 25 der Historischen Zeitschrift, München 1998, S. 241 – 266. Das Supplizieren als ein Mittel des Aushandelns zu begreifen, dies ist ein Ansatz, der auch auf Gnadenbitten um Straferlass bzw. -milderung zu beziehen ist. Dieser interaktive Ansatz verspricht mehr Erkenntnisgewinn, als beispielsweise der These von Carl A. Hoffmann nachzugehen, nach der das Supplizieren zu einem Ritual verkommen sei, welches keine Bedeutung mehr habe. Vgl. Carl A. Hoffmann, Die gesellschaftliche Bedeutung von Suppliken im Strafrechtsverfahren des 16. Jahrhunderts. Das Beispiel Augsburg, in: Cecilia Nubola / Andreas Würgler (Hg.), Forme della comunicazione politica in Europa nei secoli XV – XVIII. Suppliche, gravamina, lettere / Formen der politischen Kommunikation in Europa vom 15. – 18. Jahrhundert. Bitten, Beschwerden, Briefe, Contributi / Beiträge zur Tagung vom 29. November bis 1. Dezember 2001, Bologna / Berlin 2004 (Annali dell’Istituto Storico Italo-Germanico in Trento; 14 / Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient; 14), S. 73 – 94, hier S. 92. 97 Blickle 2000, S. 289. 98 Vgl. Blickle 2000, bes. S. 313, 315. Neben grundsätzlichen Bemerkungen zur Begriffsgeschichte der Supplikation findet sich hier außerdem eine Analyse des in Bayern praktizierten Supplikationsverfahrens – vgl. ebd., S. 274 – 278 und S. 278 – 289.
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Hintergrund stellt sich die Frage, ob auch die in der Kurmark lebenden Untertanen und Untertaninnen ihre Justizsuppliken persönlich übergeben konnten und wie das Supplizieren in Brandenburg-Preußen inszeniert wurde. Während die Forschung mittlerweile einige Ergebnisse im Bereich der politisch motivierten Kollektivsupplikationen vorweisen kann, sind die für die vorliegende Studie relevanten Justizsupplikationen, bei denen um Milderung bzw. Erlass einer gerichtlich verhängten Strafe gebeten wurde, noch relativ wenig erforscht. Justizsuppliken werden zwar in einigen Untersuchungen erwähnt, da sie in der jeweiligen Quellengrundlage aber eine untergeordnete Rolle spielen, sind Anknüpfungspunkte kaum gegeben.100 Die Erkenntnis, dass in der Frühen Neuzeit eine starke Diskrepanz zwischen Strafnorm und Strafpraxis bestand, lässt nach der Bedeutung und der Funktion von Gnade fragen: Gnade ist als ein konstitutiver Bestandteil der frühneuzeitlichen Strafpraxis anzusehen, darin sind sich die unterschiedlichen Autoren einig, auch wenn sie je nach Untersuchungsgebiet zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen in Bezug auf die Gnadenquote gelangen.101 Nach Karl Härter kam den obrigkeit99 Mit dem Hinweis auf das Phänomen Zug-gen-Hof falsifiziert Renate Blickle die in der Sozial- und Kulturgeschichte vertretene These, nach der die Demonstration eine Erscheinung der Moderne sei, welche vor 1790 nicht existiert hätte – vgl. Blickle 2000, S. 316 f. Auch die Behauptung von Jonathan R. Zatlin, dass das absolutistische Supplikationswesen Öffentlichkeit angeblich nicht kenne, wird damit widerlegt – vgl. Zatlin 1997, S. 903. 100 So auch die Studie von Gerd Schwerhoff, die auf einer „Probebohrung“ in einem Supplikenbestand des Kölner Stadtarchivs basiert, in dem sich neben Gnaden- auch Justizsupplikationen befinden, innerhalb der Überlieferung stellen letztere jedoch eine Randerscheinung dar – vgl. Schwerhoff 2000. Dazu zählt z. B. der Aufsatz von Nadia Covini, die sich mit den Suppliken in der Kanzlei der Sforza Ende des 15. Jh. beschäftigt: Der Großteil der dort vorgefundenen Suppliken betrifft Bewilligungen und Vergünstigungen unterschiedlicher Art sowie Bitten um eine schiedsrichterliche Entscheidung in zivilrechtlichen Angelegenheiten, aber nur in geringem Umfang Bitten um Begnadigung in strafrechtlichen Angelegenheiten – vgl. Nadia Covini, Die Behandlung der Suppliken in der Kanzlei der Sforza: Von Francesco Sforza bis Ludovico il Moro; in: Nubola / Würgler 2005, S. 133 – 165. Ähnliches gilt für den Aufsatz von Marina Garbellotti, welche Suppliken an einen Stadtrat von Untertanen mit und ohne Bürgerrecht und von Fremden vergleicht, deren Anliegen aber meistenteils die Gewährung bestimmter Privilegien betraf – vgl. Marina Garbellotti, Die Privilegien des Wohnsitzes. Suppliken von Bürgern, Einwohnern und Fremden an den Rat von Rovereto (17. – 18. Jahrhundert); in: Nubola / Würgler 2005, S. 211 – 239. Auch die Studie über das Supplikationswesen im päpstlichen Kirchenstaat des 17. Jh. von Irene Fosi bietet kaum Anknüpfungspunkte für die Untersuchung von Justizsuppliken, weil der Geschäftsgang in der päpstlichen Kanzlei im Mittelpunkt der Untersuchung steht, und Fosi stärker Gnadensuppliken und Beschwerden als Quellenbeispiele heranzieht – vgl. Irene Fosi, „Beatissimo Padre“. Suppliken und Denkschriften im barocken Rom; in: Nubola / Würgler 2005, S. 275 – 291. 101 Vgl. Andrea Griesebner, „In via gratiae et ex plenitudine potestatis“. Strafjustiz und landesfürstliche Gnadenakte im Erzherzogtum Österreich unter der Enns des 18. Jahrhunderts; in: Frühneuzeit-Info 11 (2000) 2, S. 13 – 27, hier S. 21 f.; vgl. dies., Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert, Wien / Köln / Weimar 2000, hier S. 132 f., 296 f.; vgl. Wernicke 2000, S. 400; vgl. Schuster 2000, S. 273 – 311, s. bes. S. 288; vgl. Ulinka Rublack, Magd, Metz’ oder Mörderin. Frauen vor
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lichen Gnadenakten die Funktion der Flexibilisierung des starren frühneuzeitlichen Strafrechts zu.102 Härter erkennt im Supplizieren eine Praxis des „Aushandeln[s] von Sanktionen zwischen Landesherr[n] und Untertanen“.103 Er erklärt dies mit den eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten, die ein Inquisitionsverfahren – im Vergleich zum Akkusationsverfahren – den Angeklagten im Prozess bot, so dass eine Moderation der Strafart oder des Strafmaßes nur noch im Wege der Supplikation möglich war.104 Die These bezüglich des Aushandelns wird ebenfalls von Harriet Rudolph für Osnabrück Ende des 18. Jahrhunderts105 und Ulinka Rublack für Württemberg im 16. / 17. Jahrhundert106 vertreten. In der so genannten Sattelzeit verengten sich allerdings die Handlungsspielräume der Untertanen und Untertaninnen, so die Beobachtung von Rublack. Sie konstatiert für Ende des 18. Jahrhunderts eine Tendenz zur Bürokratisierung der Gnade, die den Erfolg des Gnadenbittens stark beschnitten habe.107 Andrea Griesebner hingegen kann diese Behauptung für das Erzherzogtum Österreich unter der Enns des 18. Jahrhunderts nicht nachvollziehen: Obwohl die Gnadenbitten für Verurteilte häufig gewährt wurden und somit der Großteil der Strafen nicht wie vorgesehen vollzogen wurde, lässt sich nach Griesebner in den Gnadenvorgängen kein nennenswerter Spielraum für Aushandlungsprozesse der Untertanen und Untertaninnen nachweisen.108 Auch Carl A. Hoffmann gelangt zu dem Befund, dass den Supplizierenden in Augsburg frühneuzeitlichen Gerichten, Frankfurt a. M. 1998, S. 87; vgl. Andreas Bauer, Das Gnadenbitten in der Strafrechtspflege des 15. und 16. Jahrhunderts. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung von Quellen der Vorarlberger Gerichtsbezirke Feldkirch und des Hinteren Bregenzerwaldes, Frankfurt a. M. / Berlin / Bern / u. a. 1996, hier S. 104, 201. Zur These des Sanktionsverzichts in der frühneuzeitlichen Strafpraxis vgl. Andreas Blauert / Gerd Schwerhoff, Vorbemerkung; in: dies. (Hg.), Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1993, S. 7 – 15, hier S. 8; vgl. Schwerhoff 1992, S. 391. 102 Vgl. Karl Härter, Das Aushandeln von Sanktionen und Normen. Zu Funktion und Bedeutung von Supplikationen in der frühneuzeitlichen Strafjustiz; in: Nubola / Würgler 2005, S. 243 – 274, hier S. 267. 103 Vgl. Karl Härter, Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat: Inquisition, Entscheidungsfindung, Supplikation; in: Andreas Blauert / Gerd Schwerhoff (Hg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2000, S. 459 – 480, hier zit. S. 479 und vgl. S. 478 – 480; vgl. ders. 2005, S. 273 f. 104 Vgl. Härter 2005, S. 248. 105 In Osnabrück konnte offenbar nicht nur das Rechtsurteil, sondern sogar das Rechtsverfahren ausgehandelt werden – vgl. Harriet Rudolph, „Sich der höchsten Gnade würdig zu machen“. Das frühneuzeitliche Supplikenwesen als Instrument symbolischer Interaktion zwischen Untertanen und Obrigkeit; in: Nubola / Würgler 2005, S. 421 – 449, hier S. 422. 106 So Ulinka Rublack: „Sie [die Strafmaße] wurden sowohl durch außergerichtlich vorgetragene Bitten oder Bestechungen als auch durch gerichtlich vorgebrachte Milderungsbitten ausgehandelt.“ – Rublack 1998, S. 87 und vgl. S. 87 – 96. Allerdings bleibt Rublack ihren Lesern und Leserinnen eine nachvollziehbare Beweisführung für diese Annahme schuldig. 107 Vgl. Rublack 1998, S. 104. Auch für diesen Aspekt gilt die oben geäußerte Kritik. 108 Vgl. Griesebner (Frühneuzeit-Info) 2000, S. 22; vgl. dies. (Wahrheiten) 2000, S. 133, 296 f.
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im 16. Jahrhundert kein Spielraum zur Aushandlung gegeben war.109 Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Ergebnisse stellt sich die Frage, wie in Brandenburg-Preußen der Handlungsspielraum der Supplikanten und Supplikantinnen beschaffen bzw. wie es um ihre Erwartungen bestellt war. Geht man der Frage nach dem Aushandeln von Strafe nach, so bietet die von Martin Dinges aufgestellte These zur Justiznutzung in der Frühen Neuzeit einen Anknüpfungspunkt: Dinges geht davon aus, dass Untertanen und Untertaninnen Gerichte als ein obrigkeitliches Angebot betrachteten und es in ihrem Interesse zu nutzen wussten. Demnach wurde das Gericht eingeschaltet, nicht um den Konflikt tatsächlich an die obrigkeitliche Sphäre abzugeben und dort gerichtlich entscheiden zu lassen, sondern als Mittel zum Zweck, um mit einer Klage die eigene Position im Konflikt zu stärken, der auf der Ebene der sozialen Kontrolle ausgetragen wurde. Folglich ging der Kläger nicht davon aus, dass der Prozess tatsächlich zu Ende geführt wurde – was die hohe Zahl an nicht formgerecht abgeschlossenen Verfahren in der Frühen Neuzeit erklären würde.110 Vor diesem Hintergrund stellt das Gnadenbitten (i. S. von Begnadigung kriminalgerichtlich Angeklagter bzw. Verurteilter) ebenfalls eine Praktik der Justiznutzung dar, bei der sich die supplizierenden Männer und Frauen das obrigkeitliche Angebot für eigene strategische Ziele aneigneten.111 Es gilt zu klären, inwieweit dies für den Untersuchungszeitraum zutrifft. Das Konzept hilft, das Supplizieren nicht auf eine Reaktion auf die Verhaftung bzw. Verurteilung zu reduzieren, sondern nach weiteren möglichen Absichten bei der Aneignung obrigkeitlicher Angebote zur eigenen Interessenswahrnehmung zu fragen. Einen methodischen Anknüpfungspunkt bietet hier die Studie von Arlette Farge und Michel Foucault über die lettres de cachet im Frankreich des 18. Jahrhunderts.112 In diesen Gesuchen wurde allerdings nicht um Strafmilderung, sondern – ganz im Gegenteil – um die Verhaftung oder Verbannung einer Person ohne reguläres Gerichtsverfahren gebeten. Da Farge und Foucault bei ihrer Untersuchung dezidiert die Perspektive der Supplizierenden einnehmen, können sie nachweisen, dass Verhaftungen auf der Grundlage der lettres de cachet, welche allgemein als Instrument der absolutistischen Willkür gelten, in erster Linie auf den Denunziationswillen der Bevölkerung zurückgingen. Dieser Befund war insofern inspirierend für das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung, als damit wiederholt belegt wird, dass auch in der Frühen Neuzeit Untertanen und Untaninnen einen Handlungsspielraum besaßen, der weit über den direkten Wirkungsbereich als gemeiner Vgl. Hoffmann 2004, S. 92. Vgl. Martin Dinges, Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit; in: Andreas Blauert / Gerd Schwerhoff (Hg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konflikte und Kultur-Historische Perspektiven 1, Konstanz 2000, S. 503 – 544, hier S. 504 f. 111 Vgl. Dinges 2000, S. 535. 112 Vgl. Arlette Farge, Michel Foucault (Hg.), Familiäre Konflikte: Die „Lettres de cachet“. Aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1989. 109 110
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Mann oder Frau hinausreichte, vorausgesetzt, sie wussten um die Machtverhältnisse und das Funktionieren des absolutistischen Herrschaftssystems und konnten dies zu ihren Gunsten nutzten. Einen ideengeschichtlichen Zugang zum Gnadengewähren entwickelt HeinzDieter Kittsteiner: In der so genannten Sattelzeit macht er einen Wandel in der Ethik des Gnadendiskurses aus. Am Beispiel verschiedener Darstellungen des Gleichnisses vom verlorenen Sohn stellt Kittsteiner die These auf, dass im 18. Jahrhundert die Gnade durch den Diskurs der Aufklärung vom Konzept der Tugend abgelöst wurde: Konnte der Gnadenträger zuvor noch auf die Reue des Sünders über sein deviantes Verhalten mit Gnade als nachfolgendes Gewissen reagieren, so übernahm die Tugend Ende des 18. Jahrhunderts die Rolle des vorhergehenden Gewissens. Tugend wurde als vorgängige Triebkontrolle von einem moralisch integren und gläubigen Untertanen erwartet.113 War bis in das 18. Jahrhundert noch eine Buße nach der Sünde möglich, die dann von freudvoller Gnade gekrönt wurde, so bemaß sich die Sünde am Ende des 18. Jahrhunderts am Grad der Vorsätzlich-keit und an mildernden Umständen – so blieb nur noch Raum für eine wehmütige Gnade.114 Dahinter steht nach Kittsteiner ein säkularisiertes Sündenverständnis: Der Sünde wurde die religiöse Bedeutung genommen, stattdessen besaß sie fortan nur noch moralische Bedeutung als eine rein weltliche Angelegenheit.115 Die These beruht zwar auf der Interpretation religionsgeschichtlicher Quellen, sie könnte aber auch für das hier zu untersuchende Gnadenverständnis relevant sein. Einen wichtigen Impuls für die Analyse der Suppliken liefert die Studie über die lettres de rémission im Frankreich des 16. Jahrhunderts116 von Natalie Zemon 113 Als Beispiel für eine Fallstudie vgl. Heinz-Dieter Kittsteiner, Die Buße auf dem Schafott. Weltliches Urteil und göttliche Gnade im 18. Jahrhundert; in: Edith Saurer (Hg.), Die Religion der Geschlechter. Historische Aspekte religiöser Mentalitäten, Wien / Köln / Weimar 1995 (L’Homme Schriften; 1), S. 213 – 243. Zur These vgl. Heinz-Dieter Kittsteiner, Von der Gnade zur Tugend. Über eine Veränderung in der Darstellung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn im 18. und frühen 19. Jahrhundert; in: Norbert W. Bolz / Wolfgang Hübener (Hg.), Spiegel und Gleichnis. Festschrift für Jacob Taubes, Würzburg 1983, S. 135 – 148, hier S. 135 – 137 und zum nachfolgenden bzw. vorhergehenden Gewissen s. S. 136. 114 Vgl. Kittsteiner 1983, S. 140 – 142. 115 Vgl. Bernhard Groethuysen, zit. in: Kittsteiner 1983, S. 192. 116 In diesem Zusammenhang wird auf weitere Arbeiten verwiesen, die sich ebenfalls von Davis’ Studie haben inspirieren lassen – vgl. Claude Gauvard, „De Grâce Especial“. Crime, État et société en France à la fin du moyen âge, Paris 1991; vgl. Gilbert Shapiro / John Markoff, Officially Solicited Petitions: The „cahiers de doléances“ as a Historical Source; in: International Review of Social History 46 (2001); Supplement 9: Petitions in Social History, hrsg. v. Lex Heerma van Voss, S. 79 – 106; vgl. Claude Gauvard, Le roi de France et le gouvernement par la grâce à la fin du moyen âge: genèse et développement d’une politique judicaire; in: Hélène Millet (Hg.), Suppliques et requêtes: Le gouvernement par la grâce en Occident (XIIe – XVe siècle), les actes du colloque international organisé à Rome les 9, 10 et 11 novembre 1998 par l’École française de Rome, Rom 2003 (Collection de l’École Française de Rome; 310), S. 371 – 404, 430 f.
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Davis:117 Es steht die Frage im Vordergrund, wie die Menschen ihre Geschichte(n) erzählten, konkret welcher Erzähltechnik und Strategien sie sich bedienten und auf welche kulturellen Konstruktionen sie dabei zurückgriffen. Mit der primär aus der Literaturwissenschaft bekannten Fragestellung und Herangehensweise geht es Natalie Zemon Davis vor allem darum, die traditionelle Grenze zwischen historischen Dokumenten als vorgebliche Faktendarstellung und literarischen Texten als Fiktion bewusst aufzuheben und damit den quellenkritischen Blick auf fiktionale Bestandteile historischer Dokumente zu schärfen.118 Historische Quellen einer literaturwissenschaftlichen Analyse von Sprache und Symbolik zu unterziehen, war auch der Ansatz, den Geoffrey Koziol in seiner geschichtswissenschaftlichen Studie über das frühmittelalterliche Gnadenbitten in Frankreich verfolgt.119 Koziol versteht das Supplizieren als ein von Supplikant bzw. Supplikantin und Gnadenträger gemeinsam ausgeübtes kulturelles Ritual der Macht, bei dem Ambivalenz, Emotion und Heuchelei ihren festen Platz haben. Seiner Meinung nach erfüllt die Gnade die Funktion, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse beständig neu zu reproduzieren und zu legitimieren.120 Es gilt zu klären, ob und inwiefern dies auch für Brandenburg-Preußen zutrifft. Auch im Hinblick auf die geschlechterspezifische Analyse der lettres de cachet ist die Studie von Farge und Foucault gewinnbringend für die vorliegende Arbeit. Andrea Griesebner fragt nach geschlechterspezifischen Strategien und Argumentationsmustern in Justizsuppliken im Erzherzogtum Österreich unter der Enns.121 Konstruktionen von Schichts-, Alters- und Geschlechtszugehörigkeit, die beim Supplizieren taktisch eingesetzt wurden, arbeitet auch Renate Blickle in einer Fallstudie zu Bayern in der Frühen Neuzeit heraus.122
117 Vgl. Natalie Zemon Davis, Der Kopf in der Schlinge. Gnadengesuche und ihre Erzähler, Berlin 1991. 118 Davis’ historisch-literaturwissenschaftlicher Ansatz fordert dazu auf, eine interdisziplinäre Perspektive einzunehmen. Bei dem hier ausgewählten Untersuchungsraum liegt es nahe, sich mit der Rezeption des Werkes von Heinrich v. Kleist in der Germanistik vertraut zu machen. – Vgl. Renate Just, Recht und Gnade in Heinrich von Kleists Schauspiel „Prinz Friedrich von Homburg“, Göttingen 1993; vgl. Arthur Kaufmann, Recht und Gnade in der Literatur, Stuttgart / München / Hannover / u. a. 1991. 119 Vgl. Geoffrey Koziol, Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France, Ithaca / London 1992; vgl. ders., The Early History of Rites of Supplication; in: Hélène Millet (Hg.), Suppliques et requêtes: Le gouvernement par la grâce en Occident (XIIe – XVe siècle), les actes du colloque international organisé à Rome les 9, 10 et 11 novembre 1998 par l’École française de Rome, Rom 2003 (Collection de l’École Française de Rome; 310), S. 21 – 36, 423. 120 Vgl. Koziol 1992, S. 289 – 324. 121 Vgl. Griesebner (Frühneuzeit-Info) 2000; vgl. dies. (Wahrheiten) 2000. 122 Vgl. Renate Blickle, Die Supplikantin und der Landesherr. Die ungleichen Bilder der Christina Vend und des Kurfürsten Maximilian I. vom rechten „Sitz im Leben“ (1629); in: Eva Labouvie (Hg.), Ungleiche Paare. Zur Kulturgeschichte menschlicher Beziehungen, München 1997, S. 81 – 99.
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Was taktische Elemente in Justizsupplikationen anbelangt, so kann hier außerdem an folgende Studien angeknüpft werden: Isabel Richter hat zum Beispiel Gnadengesuche politischer Gefangener im Nationalsozialismus auf ihre Strategien hin befragt. Die vom Volksgerichtshof verurteilten Männer und Frauen, die um eine Begnadigung baten, versuchten, sich von ihrem bisherigen Lebensweg und ihrer politischen Überzeugung zu distanzieren, und machten regelrechte Angebote, um ihren „Bewährungswillen“, sich in die nationalsozialistische Volksgemeinschaft zu integrieren, zu unterstreichen.123 Obwohl die grundlegenden Unterschiede hinsichtlich der politischen Systeme und der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Ancien Régime und im Nationalsozialismus offensichtlich sind, ist anzunehmen, dass auch in den hier zu analysierenden Suppliken Besserungsgelöbnisse und Integrationsangebote gemacht wurden. Zum Beispiel war Reue auch in Gnadenbitten um Strafmilderung im Kontext von Mordprozessen in Frankreich des 18. Jahrhunderts ein Schlüsselwort, so Christian Desplat zum Parlement de Navarre.124 Renate Blickle beschäftigt sich mit dem Interzessionswesen und streift damit – unabhängig vom Supplikentypus und dem Anliegen – ein anderes taktisches Element des Supplizierens, nämlich die Dankesform. Sie beobachtet, dass Supplikanten und Supplikantinnen im katholisch geprägten Bayern des 16. / 18. Jahrhunderts dem Gnadenträger anboten, ihn als Dank für die Gewährung ihrer Gnadenbitte in eine Gebetsfürbitte einzuschließen.125 Die von Blickle herausgearbeiteten Parallelen zwischen dem diesseitigen und dem jenseitigen Interzessionswesen lassen allerdings vermuten, dass diese Form des Gegenreichnisses für empfangene Hilfe stark konfessionell geprägt war.126 Bezogen auf die hier vorliegenden Suppliken wäre infolgedessen zu fragen, welche Dankesformen Supplikanten und Supplikantinnen im mehrheitlich lutherisch geprägten Brandenburg-Preußen wählten. Die bisher aufgeführten Studien widmen sich anderen Untersuchungsgebieten; sie haben keinen Bezug zu Brandenburg-Preußen. Die Forschung zum preußischen Zit. aus: Richter 2002, S. 63 und vgl. S. 62 – 73. Vgl. Christian Desplat, La grâce royale. Lettres de grâce enregistrées par le parlement de Navarre au XVIIIe siècle; in: Revue de Pau et du Béarn 10 (1982), S. 83 – 99. Zum Supplikationswesen in Frankreich der Frühen Neuzeit vgl. auch Maïté Etchechoury, Les maîtres des requêtes de l’hôtel du roi sous les derniers Valois 1553 – 1589, Paris 1991; vgl. Sylvie Nicolas, Les derniers maîtres des requêtes de l’ancien régime (1771 – 1789), dictionnaire prosopographique, Paris 1998. 125 Vgl. Renate Blickle, Interzession. Die Fürbitte auf Erden und im Himmel als Element der Herrschaftsbeziehungen; in: Nubola / Würgler 2005, S. 293 – 322. 126 So stellt Blickle z. B. fest, dass die bayerischen Supplikanten und Supplikantinnen das Gebet an die Obrigkeit explizit von der Vorleistung – nämlich der Gewährung der Gnade – abhängig machten. Vor diesem Hintergrund stellt Blickle die Hypothese auf, dass in Suppliken aus Territorien mit evangelischem Bekenntnis Gebet und Verdienst vermutlich nicht in direkter Abhängigkeit zueinander gebracht wurden, da dies der reformatorischen Glaubenslehre widersprochen hätte – vgl. Blickle 2005, S. 317. 123 124
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Supplikations- und Gnadenwesen beschränkt sich bislang auf wenige Aufsätze etwa zu jüdischen Bittstellern127 und auf die Erwähnung einzelner Suppliken wie etwa Gnadensuppliken zum Schulwesen128. Eine systematische Auseinandersetzung mit dem Bittschriftenwesen in Brandenburg-Preußen fordert daher Hannelore Lehmann ein, die sich in ihrem Aufsatz mit Gnadensuppliken unterschiedlicher Anliegen aus der Zeit von Friedrich dem Großen auseinandersetzt und zu dem Schluss gelangt, dass sie typische soziale Probleme ihrer Zeit widerspiegeln.129 Von zentraler Bedeutung für die vorliegende Studie ist indes der Aufsatz von Rainer Polley aus dem Jahr 1988: Er bietet einen Überblick über die normativen Vorgaben zum Supplikationswesen in Brandenburg-Preußen. Der Rechtshistoriker und Archivar stößt dabei auf einen in dieser Studie aufgegriffenen Widerspruch [s. o. Grundannahmen] zwischen den Herrscherpflichten und den Herrschaftsinteressen der spätabsolutistischen Monarchie: Die Pflicht des Landesherrn bestand einerseits darin, sich Bitten und Beschwerden seiner Untertanen gegenüber der Verwaltung und Justiz anzuhören und Missstände zu beheben, um seine Herrschaft zu legitimieren; andererseits sah sich der Monarch in der Pflicht, die Entscheidungen der Staatsorgane, insbesondere der Justiz zu unterstützen, um ihre Funktionsfähigkeit, Integrität und Würde zu bewahren und damit letztlich seine Herrschaft zu festigen.130 Die Standardwerke zur brandenburg-preußischen Rechts- und Verwaltungsgeschichte aus dem 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert gehen auf das Supplikationswesen nur am Rande ein.131 Im Mittelpunkt des Interesses stehen dort die mit der 127 Vgl. Selma Stern, Der preussische Staat und die Juden, Dritter Teil: Die Zeit Friedrichs des Großen, Tübingen 1971 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts; 24 / 1 und 24 / 2); vgl. Erika Herzfeld, Juden in Brandenburg-Preußen. Beiträge zu ihrer Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. v. Irene Diekmann / Hermann Simon, Berlin 2001. 128 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preussen, Berlin / New York 1985 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; 62); vgl. Wolfgang Neugebauer (Bearb. und Hg.), Schule und Absolutismus in Preussen. Akten zum preußischen Elementarschulwesen bis 1806, Berlin / New York 1992 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; 83 – Quellenwerke; 8). 129 Es handelt sich dabei um einzelne Suppliken vor allem das Zunft-, Handels- und Gastwirtschaftswesen sowie die Ansiedlung von Zugezogenen betreffend, die zu 76 unvollständigen Vorgängen in der behördlichen Zuständigkeit des Potsdamer Steuerrats gehören – vgl. Hannelore Lehmann, Zum Bittschriftenwesen in fridericianischer Zeit. Zur Erforschung des preußischen Bittschriftenwesens; in: Felix Escher (Hg.), Collectanea Brandenburgensia, Festschrift für Eckart Henning zum 65. Geburtstag, Berlin 2004 (Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte im Auftrag der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg e. V.; 55), S. 77 – 92, hier bes. S. 85 – 92. 130 Vgl. Polley 1988, S. 347. 131 Beispielhaft vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 82 – 125; vgl. Friedrich Holtze, Geschichte des Kammergerichts in Brandenburg-Preußen, 3. Bd., Berlin 1901, hier S. 388 – 417 und S. 451 – 478; vgl. Bornhak, 1903, S. 77 f., 134, 251 – 257; vgl. Stölzel 1989 / 1888, 2. Bd., S. 3 – 22, 92 – 140.
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Supplikation verknüpften landesherrlichen Reservatrechte, mittels derer der Monarch in die Rechtsanwendung eingreifen konnte, nämlich der Machtspruch in Zivilrechtsprozessen und das königliche Bestätigungsrecht in Strafrechtssachen.132 Für die vorliegende Studie erwiesen sich diese Ausführungen als hilfreich sowohl im Hinblick auf die Autopsie der Akten als auch zur Verortung einzelner Behörden im brandenburg-preußischen Regierungs-, Verwaltungs- und Justizapparat Ende des 18. Jahrhunderts.133 Zum Stand der Forschung bleibt festzuhalten, dass Forschungsergebnisse zur Supplikations- und Gnadenpraxis in einzelnen frühneuzeitlichen Territorien bisher lediglich in Form von Aufsätzen vorliegen; Monographien auf breiter Quellenbasis mit quantifizierendem Zugang stehen indes noch aus.134 Zudem beschäftigt sich die Mehrheit der Studien mit spezifischen Spielarten des Supplizierens (lettres de cachet, lettres de rémission, Gravamina, Petitionen, Gnadensuppliken etc.), die mit den hier im Mittelpunkt stehenden Justizsuppliken nur bedingt verglichen werden können. Eine Geschichte des Supplizierens und der Gnade, die auf breiter Quellenbasis sowohl das Gnadenbitten in Strafrechtssachen als auch die Begnadigung berücksichtigt, wurde noch nicht geschrieben – diese Forschungslücke ein Stück weit zu schließen, dazu möchte diese Arbeit einen Beitrag leisten.
III. Quellengrundlage: Autopsie der Akten, Bestandsgeschichte und Quellenauswahl Autopsie der Akten Die vorliegende Untersuchung basiert in erster Linie auf Akten der brandenburgpreußischen Zentralbehörde für Justiz, die im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) unter der archivisch noch nicht erschlossenen Repositur 49 der I. Hauptabteilung geführt sind und aus Einzelfallakten bestehen, welche unter anderem auch Gnadenvorgänge dokumentieren; Supplikenjournale auf zentralbehördlicher Ebene liegen für den vorliegenden Untersuchungszeitraum jedoch nicht vor.135 Ausgeschlossen wurden hingegen die Bestände des Branden132 Bei Verfahren, die im Machtspruch oder mit einer Urteilsbestätigung endeten, handelte es sich nicht um einen Gnadenakt, auch wenn mitunter Bittschreiben dabei eine Rolle spielten. Beispielhaft zum Machtspruch und zum königlichen Bestätigungsrecht vgl. Eberhard Schmidt, Rechts- und Machtsprüche der preußischen Könige des 18. Jahrhunderts (1943); in: ders., Beiträge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaats, Berlin 1980, hier S. 210 – 246; vgl. ders., Die Justizpolitik Friedrichs des Grossen; in: ders. 1980, S. 305 – 323; vgl. Werner Ogris, Friedrich der Große und das Recht; in: Oswald Hauser (Hg.), Friedrich der Große in seiner Zeit, Köln / Wien 1987, S. 47 – 92. 133 Zuletzt vgl. Wolfgang Neugebauer, Das preußische Kabinett in Potsdam; in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 44 (1993), S. 69 – 115. 134 So die jüngste Bilanz von Andreas Würgler und Hannelore Lehmann – vgl. Nubola / Würgler 2005, S. 46 f., 49 und vgl. Lehmann 2004, S. 77.
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burgischen Landeshauptarchivs, da dort aufgrund des Archivsprengels keine oberbehördlichen Provenienzen vorzufinden sind, denen die Bearbeitung von Immediatsuppliken oblag. Eine von der Verfasserin durchgeführte Behörden- und Geschäftsganganalyse ergab, dass die sich in den Vorgängen niederschlagenden Zuständigkeiten beim Justizdepartement lagen, dem Fachressort des Geheimen Rats136 für die Rechtsaufsicht, welches aufgrund seiner Entstehungsgeschichte die strukturelle Einbindung in den Rat behielt.137 Dies bedeutet, dass die Provenienzangabe durch das Geheime Staatsarchiv dahingehend korrigiert werden muss. Denn in der Beständeübersicht des GStA PK wird die Repositur 49 unter der Bezeichnung Fiscalia geführt und in einem Literaturhinweis auf das Fiskalat verwiesen, welches somit als Provenienz ausgegeben wird.138 Die sich in den Akten widerspiegelnden Zuständigkeiten lagen aber zu keiner Zeit beim Fiskalat139, sondern beim Justizdepartement. Die irrtümliche Provenienzangabe in der Beständeübersicht ist vermutlich auf die mehrdeutige Bezeichnung im Findmittel aus dem 18. / 19. Jahrhundert zurückzuführen. Der Bestand trägt dort folgenden Titel: Fiskalische Sachen, verübte öffentliche Untaten und derselben Bestrafung in der Chur Brandenburg.140 Vordergründig erscheint es logisch, aus dem Bestandstitel das Fiskalat als Provenienz 135 Bei der Recherche nach Supplikenjournalen konnte lediglich ein Journal für die brandenburgischen Städte, Ämter und Gemeinden aus dem Jahr 1702 ausgemacht werden, in dem aber keine Justiz-, sondern ausschließlich Gnadensupplikationen aufgeführt sind (z. B. Gnadengeld und Gnadenbrot, Baugenehmigungen, Vormundschaftsfragen und sonstige Privilegien) – vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 21, No 127, Fasz. 126. 136 Der Geheime Rat firmiert in den Quellen Ende des 18. Jahrhunderts häufig unter der Bezeichnung Geheimer Etatsrat. Zur Geschichte der Kompetenzen des Geheimen Rates vgl. F. J. Kühns, Die Ressortverhältnisse des preußischen Geheimen Staatsraths bis in das 18. Jahrhundert; in: Zeitschrift für Preußische Geschichte und Landeskunde, 8 (1871), S. 141 – 170. Zum Justizdepartement vgl. Stölzel 1989 / 1888, 2. Bd., S. 306. 137 Vgl. Kühns 1871, S. 170; vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 82 – 125. 138 Vgl. Waltraud Elstner, Die Bestände der I. und II. Hauptabteilung des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem nach ihrer Rückführung. Ein Überblick; in: Jürgen Kloosterhuis (Hg.), Aus der Arbeit des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1996, S. 155 – 199, hier S. 168. Bei dem Literaturverweis handelt es sich um: Eberhard Schmidt, Fiskalat und Strafprozeß. Archivalische Studien zur Behördenorganisation und des Strafprozessrechtes in Brandenburg-Preußen, München / Berlin 1921. Der irrtümliche Hinweis auf Schmidts Untersuchung des Fiskalats ist vermutlich ohne weitere Überprüfung aus der älteren Beständeübersicht übernommen worden – vgl. Ernst Müller / Ernst Posner, Übersicht über die Bestände des Geheimen Staatsarchivs zu Berlin-Dahlem, 1. Bd.: I. Hauptabteilung, Leipzig 1934, hier S. 54 f. 139 Die Akten der Rep. 49 enthalten keinen Hinweis auf eine Mitwirkung der fiskalischen Beamten bzw. des Generalfiskals (Amtsträger von 1763 bis 1798 / 99 war D’Anières). Dies gilt auch für den Zeitraum vor 1738, in welchem der Generalfiskal noch umfangreiche Zuständigkeiten innehatte, die in den folgenden Jahren schrittweise auf den Justizminister übergingen. Zum Generalfiskal vgl. Schmidt 1921, S. 106 – 116; vgl. ders. 1968, S. 26 f.; vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 194 – 197. 140 Zit. aus: GStA PK, Allgemeines Repertorium (Rep.), 5. Bd., o. D., fol. 55.
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abzuleiten – schließlich war der Fiskal unter anderem im Besitz des Behördenaufsichtsrechts gegenüber der Justiz in Sachen Prozessverschleppung und Justizverweigerung141 – die Aktenlage zeigt jedoch, dass dieser Schluss zu kurz greift. Zur Verwirrung trägt auch der mehrdeutige Gebrauch des Begriffs Repositur im Geheimen Staatsarchiv bei: Unter Repositur wird dort erstens eine eigenständige Provenienz im archivischen Sinne, zweitens ein Strukturteil einer Provenienz oder aber drittens eine sachthematische Sammlung nach Pertinenzprinzip verstanden.142 Die innere Ordnung der Repositur 49 [s. u.] belegt, dass es sich hierbei um einen Bestand handelt, dem ein Pertinenzsystem als Strukturprinzip zugrunde liegt. Interpretiert man die überlieferte Bestandsbezeichnung hingegen als eine Sammlung zu Fiskalischen Sachen, die sich am archivischen Ordnungssystem nach Pertinenzprinzip143 orientiert, so ist die Bestandsbezeichnung so zu verstehen, dass sie auf die generelle Wahrnehmung fiskalischer Interessen des Landesherrn durch eine zentrale Behörde in ideeller Hinsicht (z. B. Behördenaufsicht, Gewährleistung der Rechtspflege) hinweist.144 Folgt man dieser Lesart, so dokumentiert die Repositur 49 die ideelle fiskalische Interessensphäre des Landesherrn, in diesem Fall wahrgenommen durch das Justizdepartement. Die Vorgänge sind aus der vom Justizdepartement im Auftrag des Landesherrn ausgeübten Rechtsaufsicht in der Kurmark erwachsen. Es handelt sich konkret um eine nach Deliktgruppen geordnete Überlieferung der beim Justizdepartement angefallenen Einzelfallakten zu kriminalgerichtlichen Angelegenheiten. Die Repositur beinhaltet ausschließlich Akten mit dem territorialen Bezug Kurmark (einschließlich Neumark).145 So tragen die im Justizdepartement angefertigten Kon141 Die Behördenaufsicht durch den Fiskal war allerdings ein Paradoxon, denn dieser unterstand den Verwaltungs- und Justizkollegien und insbesondere dem Chefminister der Justiz, also jenen Behörden, die er zu kontrollieren hatte – vgl. Schmidt 1921, S. 148. Zu den Tätigkeitsbereichen des Fiskals vgl. ebd., S. 49 – 54. 142 Zur Problematik des Begriffs Repositur im Geheimen Staatsarchiv vgl. Kloosterhuis 2000, S. 62 f. 143 Mit dem Pertinenzprinzip werden Archivbestände – ohne Rücksicht auf die Entstehungszusammenhänge der Unterlagen – nach einer sachlogischen Klassifikation strukturiert, also nach sachlichen, personellen oder territorialen Betreffen geordnet – vgl. Johannes Papritz, Archivwissenschaft, 4 Bde., 2. Aufl., Marburg 1983, hier 3. Bd., Teil 3.1, S. 1 – 8. 144 Die Wahrnehmung fiskalischer Interessen des Landesherrn in materieller Hinsicht, konkret das Eintreiben von Prozesskosten, gehört nicht zu der Aufgabe einer Zentralbehörde, sondern obliegt der jeweiligen Behörde bzw. dem Gericht, bei dem ein solcher Vorgang anhängig war. 145 Die Kurmark bestand im 18. Jh. aus den vier Hauptkreisen Altmark, Prignitz, Mittelmark und Uckermark, hinzu kamen die Residenzen. Obwohl der Bestand formal die Kurmark als geographische Provenienz angibt, enthält er ebenfalls einige Fälle, die vor der Neumärkischen Regierung gerichtlich verhandelt wurden. Die Neumark bildet jedoch einen von der Kurmark unabhängigen Verwaltungsbezirk mit einem gesonderten Departement beim Generaldirektorium und einer eigenen Justizbehörde. Was allerdings neumärkische Verwaltungsangelegenheiten auf zentralstaatlicher Ebene anbelangte, so wurden diese zusammen mit kurmärkischen Betreffen verhandelt. Zur territorialen Frage der Kur- und Neumark vgl.
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zepte auf der ersten Seite oben mittig den Vermerk „Chmk“, der sich als Churmarck auflösen lässt und auf die Existenz einer kurmärkischen Abteilung innerhalb des Justizdepartements hinweist. Der enge territoriale Bezug erklärt sich aus der Sonderstellung der Kurmark: Sie wurde von den dort ansässigen Zentralbehörden direkt mitverwaltetet.146 Als oberste Justizbehörde war das Justizdepartement daher zum einen für ganz Brandenburg-Preußen, zum anderen auch direkt und ohne Zwischeninstanz für die Kurmark zuständig.147 Der sich in den Quellen niederschlagende Aufgabenbereich des Justizdepartements lässt sich weiter konkretisieren: Die Akten der Repositur 49 dokumentieren die Wahrnehmung des königlichen Bestätigungsrechts in der Kurmark, welches an das Justizdepartement – konkret an das Departement von der Churmark oder Kurmärkisches Special-Departement – als begutachtende Stelle delegiert worden war.148 Das Bestätigungsrecht bedeutet, dass Kriminalgerichtsurteile ab einem bestimmten Strafmaß der Bestätigung des Monarchen in seiner Funktion als oberster Richter bedurften, bevor sie rechtskräftig wurden und vollstreckt werden konnten.149 Dies war der Fall bei Ehr- oder Leibesstrafen, Festungshaft, Todesstrafen oder Landesverweisungen, bei der Bestrafung von Vergehen wie Majestätsbeleidigung oder dem Duellieren.150 Der Geschäftsgang vollzog sie wie folgt: Die jeweils zuständigen Gerichte der Kurmark – zumeist die Kriminaldeputation des Kammergerichts und die Stadtgerichte – waren mit der Untersuchung und der Beweisführung der Strafrechtsverfahren betraut. Nach Abschluss ihrer Ermittlungen in einem Fall erstellten sie ein so genanntes Rechtsgutachten, welches einen Extract aus den Untersuchungsakten und den juristisch begründeten Vorschlag für das Urteil umfasste. Das Rechtsgutachten wurde zusammen mit den Verfahrensakten beim JustizdeparCaemmerer 1916, S. 1 – 5; vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 83; zur neumärkischen Provinzialverwaltung vgl. ebd., S. 369 – 379. 146 Vgl. Hubatsch 1973, S. 158. 147 Neben dem Justizdepartement weisen auch andere Zentralbehörden bzw. Gerichte eine Doppelzuständigkeit für das gesamte Herrschaftsgebiet und speziell für die Kurmark auf, so z. B. das Oberkonsistorium – vgl. Hubatsch 1973, S. 158. 148 Aus den älteren Akten der Repositur 49 geht hervor, dass die Zuständigkeit in Sachen Bestätigungsrecht und Supplikation für die Kurmark schon lange zuvor beim Justizdepartement lag. Die Adresskalender weisen jedoch ein solches Spezialressort offiziell erst für den Zeitraum von 1790 bis 1798 aus – s. Stichwort: Justiz-Departement; in: Adress-Kalender der Königlich-Preußischen Haupt- und Residenz-Stadt Berlin, besonders der daselbst befindlichen hohen und niederen Collegien, Instanzien und Expeditionen. Mit Approbation der Königlich Preußischen Academie der Wissenschaften, Berlin 1790 – 1794; vgl. Handbuch über den Königlich Preussischen Hof und Staat, Berlin 1794 – 1798. 149 Zum Bestätigungsrecht vgl. Schmidt 1980, S. 311; vgl. Regge 1985, S. 369 f.; vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 43, 84. Das Bestätigungsrecht als Kontrolle ex officio galt ausschließlich für Strafrechtssachen; für Zivilrechtssachen gab es dies hingegen nicht – vgl. Schmidt 1968, S. 22. 150 Vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 128 f.
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tement mit der Bitte eingereicht, das Urteil zu konfirmieren. Auf der Grundlage der Akten prüfte der mit dieser Aufgabe betraute Justizminister das Verfahren und formulierte ein Votum, welches er den Geheimen Räten des Geheimen Rats bzw. des Justizdepartements vortrug; nur bei harten Strafen – wie beispielsweise bei langjährigen Festungs- und Zuchthausstrafen und bei der Todesstrafe – wurde das Urteil vom Monarchen selbst bestätigt.151 Das Prozedere galt auch bei Abänderungen der zuerkannten Strafen, also bei Supplikationen mit der Bitte um Erlass oder Milderung der Strafe ergangener Kriminalurteile.152 Ein Gnadengesuch wurde in dem hier relevanten Zeitraum im Justizdepartement von einem der Justizminister, zumeist vom chef de justice, auf der Grundlage des Rechtsgutachtens geprüft; über sein Votum wurde im Geheimen Rat kollegial entschieden. Beim weiteren Vorgehen muss berücksichtigt werden, um welche Variante es sich handelt, denn die Repositur 49 beinhaltet sowohl Mediatsupplikationen als auch Immediatsupplikationen, also Gnadenbitten, die entweder von der Zentralbehörde oder vom Monarchen entschieden wurden. Lag eine Mediatsupplikation vor, so blieb es bei der Entscheidung des Geheimen Rats respektive des Justizdepartements. Eine Immediatsupplikation war erst dann möglich, wenn für die konkrete Gnadenbitte bereits eine Resolution vom Geheimen Rat bzw. Justizdepartement vorlag, sich die supplizierende Person damit aber nicht zufrieden gab und eine weitere Supplik einreichte. Der Justizminister prüfte wiederum das Anliegen und trug sodann dem Monarchen sein Votum vor; die hoheitliche Entscheidung galt als endgültig. In dieser Studie werden nicht nur die Immediatsupplikationen, sondern auch die Mediatsupplikationen als Teil der landesherrlichen Gnadenpraxis begriffen und folgerichtig werden beide Supplikentypen als Quellengrundlage berücksichtigt. Denn beide Formen des Gnadebittens wurden auf derselben Ebene – im Justizdepartement als kurmärkische Provinzial- und zugleich Zentralbehörde – verhandelt und im direkten Auftrag des Landesherrn von derselben Person – einem Justiz151 Dieser Vorgang lässt sich aus den Schriftwechseln und Vermerken der Einzelfallakten der Repositur 49 Fiscalia der I. Hauptabteilung Geheimer Rat im GStA PK rekonstruieren. Zu Angelegenheiten mit immediater Vorlage vgl. Martin Haß, Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen; in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 22. Bd., Leipzig 1909, S. 201 – 255, hier S. 211. Für die Bestätigungsvorgänge war um 1740 laut Acta Borussica innerhalb des Justizdepartements das Kriminalkollegium zuständig. Bei diesem Gremium handelt es sich Otto Hintze zufolge um keine selbständige Behörde, sondern um einen Ausschuss des Ministeriums, welcher lediglich mit der Begutachtung der eingesandten Akten beschäftigt war; personell bestand es aus den Justizministern und den Direktoren der obersten Gerichtshöfe – vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 128 f. Im hier untersuchten Zeitraum konnte ein solches Gremium allerdings nicht mehr ausgemacht werden; die Bearbeitung der kurmärkischen Strafrechtsfälle in Bezug auf Urteilsbestätigung und Gnadenbitten oblag nun einem der Justizminister. 152 Dies belegt die Geschäftsganganalyse der Einzelfallakten der Rep. 49. Auch Otto Hintze erwähnt die Gnadenprüfung im Zusammenhang mit der Urteilsbestätigung – vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 87 – 92, s. bes. S. 89, 128 f.
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minister – geprüft und mit einem Votum versehen.153 Auch die preußische Schriftgutverwaltung traf insofern keinen Unterschied zwischen Mediat- und Immediatsupplikationen, als beide in derselben Einzelfallakte der Repositur des Kurmärkischen Special-Departements der Justiz abgelegt wurden.
Bestandsgeschichte Die Repositur 49 der I. Hauptabteilung umfasst insgesamt 57 laufende Meter bei einer Laufzeit von 1530 bis 1808 mit vereinzelten Dokumenten bis 1850. Das Verhältnis zwischen der langen Laufzeit und dem Bestandsumfang lässt vermuten, dass es sich bei der Überlieferung nur um einen Teil der Akten, die ursprünglich im Justizdepartement in dieser Zuständigkeit angelegt worden waren, handelt. Die Beständeübersicht bestätigt dies: „Die Repositur [49] hat in ihrem Bestand durch weitgehende Kassationen eingebüßt.“154 Mit anderen Worten ist das übrige Schriftgut den Bewertungsmaßstäben der Archivare des 19. Jahrhunderts und der kriegsbedingten Aktenvernichtung zum Opfer gefallen. Dieser Umstand muss bei der Einschätzung von Qualität und Quantität der Überlieferung berücksichtigt werden. Eine im Geheimen Staatsarchiv verfasste Bestandsgeschichte gibt Aufschluss über etwaige Überlieferungslücken. Ihr ist zu entnehmen, dass man in der Tat nicht genau nachvollziehen kann, ob alle Akteneinheiten dieser Repositur nach ihrer Odyssee seit dem Zweiten Weltkrieg wieder im Magazin reponiert wurden: Während der alliierten Angriffe auf Berlin 1943 wurde die Repositur 49 zusammen mit anderen Beständen in die Schächte des Salzbergwerks bei Staßfurt und Schönebeck in der Nähe von Magdeburg ausgelagert.155 Die US-amerikanischen Besatzer verfügten, dass das 1945 dort aufgefundene Archivgut durch eine westalliierte Fachkommission grob gesichtet und Teile nach Großbritannien und in die USA abtransportiert wurden. Diese Archivalien wurden später dem damaligen westdeutschen Teil des Geheimen Staatsarchivs zurückgegeben. Das übrige Archivgut ereilte ein anderes Schicksal: Die nachrückenden sowjetischen Besatzer unterstellten das Archivgut der Sowjetischen Militäradministration (SMAD). Ursprünglich lautete der Befehl der SMAD, sämtliches Archivgut als Beutegut in die UdSSR 153 Supplikationen an die untere und mittlere Gerichts- und Verwaltungsebene (z. B. Strafvollzugsanstalten und Gerichte) – werden hier hingegen für die Untersuchung der landesherrlichen Gnadenpraxis als nicht aussagekräftig angesehen, da die mitunter fern vom Monarchen agierenden lokalen Behörden nicht unter einer mit den Zentralbehörden vergleichbaren Kontrolle des Landesherrn standen, und folglich eine anderweitig ausgerichtete Herrschaftspraxis verfolgen konnten. Eine stichprobenartige Recherche ergab außerdem, dass Fälle mit Supplikationen bspw. an das Kammergericht nicht überliefert sind. 154 Vgl. Müller / Posner 1934, S. 54 f. 155 Zur Bestandsgeschichte vgl. Joachim Lehmann, Von Staßfurt und Schönebeck nach Merseburg. Nachkriegsschicksale eines deutschen Archivs; in: Jürgen Kloosterhuis (Hg.), Aus der Arbeit des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1996, S. 131 – 154.
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abzutransportieren. Tatsächlich wurden jedoch nur Akten zur Arbeiterbewegung in das Zentrale Staatsarchiv nach Moskau überführt, während das übrige Schriftgut vorerst im Salzbergwerk verblieb. Erst im Dezember 1949 entschied der SMAD über den Verbleib der Archivalien: Die in den Salzschächten eingelagerten rund 1.400 Tonnen Akten wurden in 90 Eisenbahnwaggons im Januar 1950 nach Merseburg transportiert. Dort magazinierte man sie in einer zum Archiv umfunktionierten Villa. Erst nach der Wiedervereinigung 1990 konnten die zwischen beiden deutschen Staaten aufgeteilten Bestände des Geheimen Staatsarchivs Preußens wieder zusammengeführt werden. Das Merseburger Archiv wurde aufgelöst und die Akten wurden 1993 nach Berlin überführt, wo sie heute im Lesesaal des Stammhauses in Dahlem einzusehen sind.156 Da der Bestand bislang noch keiner Revision unterzogen wurde, ist nicht garantiert, dass die Akten die Kriegs- und Nachkriegswirren vollständig überstanden haben, also tatsächlich im Magazin des GStA unter der im Findbuch ausgewiesenen Signatur gelagert sind.157 Bei der Arbeit mit diesem Bestand muss also beachtet werden, dass es sich um eine unvollständige Überlieferung gemessen am ursprünglichen Schriftgutaufkommen handelt.
Quellenauswahl Für eine Quellenauswahl ist es notwendig, das äußere und innere Ordnungsprinzip des jeweiligen Bestandes zu berücksichtigen. Die Repositur 49 wurde – zusammen mit den übrigen so genannten alten Reposituren – im Jahr 1637 durch den Registrator Johannes Zernitz angelegt und in dieser Ordnung bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts weitergeführt.158 Die Ordnung der Repositur 49 orientiert sich am Pertinenzprinzip, wenngleich der Zuschnitt des Bestandes – gleichsam zufällig – provenienzgerecht159 ausfällt.160 Die Repositur 49 ist nach sachsystematischen Be156 Diese Einschränkung gilt nicht für den vorliegenden Untersuchungszeitraum; die Akten waren durchweg in einem den Umständen entsprechend passablen Zustand. 157 Das Repertorium weist explizit darauf hin, dass bei diesem Bestand mit Kriegsverlust zu rechnen ist; vgl. Müller / Posner 1934, S. 54 f. 158 Zur Geschichte des GStA vgl. Kloosterhuis 2000, S. 57 f.; vgl. Carl Wilhelm Cosmar, Geschichte des Königlich-Preußischen Geheimen Staats- und Kabinettsarchivs bis 1806, hrsg. v. Meta Kohnke, Köln 1993. 159 Provenienz bezeichnet den Grundsatz, das Archivgut nach organisatorischer Herkunft zu ordnen und zu einem Bestand zusammenzufassen – im Gegensatz zur sachlogischen Klassifikation nach dem Pertinenzprinzip. Das Provenienzprinzip erleichtert nicht nur das Auffinden von Dokumenten analog zur Hierarchie und zu den Geschäftsbereichen der Verwaltung, sondern vermittelt darüber hinaus auch den für die Analyse notwendigen Entstehungszusammenhang. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird in deutschen Archiven in der Regel das Provenienzprinzip angewandt; im GStA PK 1881 per Regulativ eingeführt. – Zur Geschichte des GStA PK vgl. Kloosterhuis 2000, S. 61 f. Zum Begriff Provenienzprinzip vgl. Papritz 1983, 3. Bd., Teil 3.1, S. 8 – 29; vgl. Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze für die staatlichen Archive der Deutschen Demokratischen Republik, hrsg. v. d. Staatlichen Archivverwaltung
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treffen gegliedert und umfasst 17 Litterae, die für unterschiedliche Gruppen von Straftatbeständen bzw. Strafarten stehen.161 Die den Litterae zugeordneten Einzelfallakten waren ursprünglich in einer chronologischen Reihung, die sich leider nicht bis heute erhalten hat. In ihrer Gesamtheit bilden die Akten eine umfangreiche Fallaktenserie, die durch den so genannten Parallelismus membrorum162 gekennzeichnet ist. Damit bezeichnet der Archivwissenschaftler Johannes Papritz einen Strukturtyp, bei dem die einzelnen aus einem abgrenzbaren Geschäftsvorfall erwachsenen Akteneinheiten163 autark und verbindungslos gleichwertig nebeneinander stehen und sich zu einer Serie von eigenständigen Einheiten addieren. Für den Umgang mit den Quellen folgt daraus, dass sich dieser Strukturtyp in besonderem Maße für die Bildung eines Samples eignet. Es kann davon ausgegangen werden, dass die hier getroffene Quellenauswahl, keinen Kontext zerstört. Das Repertorium stellt das einzige Findmittel für die Repositur 49 dar. Ihm sind einzelne Angaben aus dem 17. bis 19. Jahrhundert zur inneren Ordnung des Bestandes zu entnehmen; weitergehende Hinweise etwa auf Umfang oder Laufzeit einzelner Litterae fehlen indes, da der Bestand noch nicht archivisch erschlossen ist.164 Dies hatte eine aufwendige Quellenrecherche zur Folge: Es mussten notwendigerweise sämtliche Akteneinheiten aller 17 Litterae in dem fraglichen Zeitraum (nebst Vor- und Nachlaufzeiten einzelner Akten) auf das Vorhandensein von Gnadenfällen geprüft werden. Insgesamt wurden 982 Fallakten in der Regierungszeit von König Friedrich Wilhelm II. (17. August 1786 bis 16. November 1797) ausgemacht, die mündlich oder schriftlich eingegangene Suppliken und abschlägig oder positiv beschiedene Gnadendekrete aufweisen. Dabei gilt es zu beachten, dass die Laufzeit einiger Fallim Ministerium des Innern der Deutschen Demokratischen Republik, Potsdam 1964, hier § 19, S. 19. 160 Das Phänomen trifft auf zahlreiche der alten Reposituren im GStA PK zu – vgl. Kloosterhuis 2000, S. 58. 161 Vgl. Müller / Posner 1934, S. 54 f. Die Litterae der Rep. 49 im einzelnen: A für Adulteria, B für Sühnegeld und Pardon, C für Schlägerei, D für Diebstahl, E für Strafsachen, F für Landesverweisung, G für Gefängnis, H für Homicidia, I für Injuria, K für Raub und Betrug, L für Landesverrat und Brandstiftung und Mordbrenner, M für Aufruhr und Tumult, N für Zauberei und Vergiftung, O für Kipper und Silberschmelzer, P für Vaganten (kassiert), Q für konfiszierte Bücher und R für Staatsprozesse. 162 Zum Begriff Parallelismus membrorum vgl. Papritz 1983, 2. Bd., Teil 2.1, S. 429 – 433; vgl. Johannes Papritz, Methodik der archivischen Auslese und Kassation bei zwei Strukturtypen der Massenakten; in: Der Archivar 18 (1965) 2, Sp. 117 – 132, hier Sp. 125. 163 Es handelt sich hierbei um Einzelfallakten bzw. Betreffsakten. Zum Begriff Einzelfallakte vgl. Angelika Menne-Haritz, Schlüsselbegriffe der Achivterminologie, Lehrmaterialien für das Fach Archivwissenschaft, 2. Aufl., Marburg 1999, S. 61. Zum Begriff Betreffsakte vgl. Das Lexikon Archivwesen der DDR, hrsg. v. Ministerium des Innern der Deutschen Demokratischen Republik und der Staatlichen Archivverwaltung, Berlin 1977, hier 191. 164 Allgemeines Repertorium des GStA PK, 5. Bd., Rep. 48 – 63, 67 A; darin: Rep. 49, fol. 55 – 88.
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akten bereits vor der Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. einsetzt bzw. über sie hinaus reicht. Diese Gnadenfälle wurden in die Untersuchung mit einbezogen, da die von seinem Vorgänger bzw. Nachfolger getroffenen Entscheidungen wesentlich zum Kontext des Vorgangs gehören. Folglich umfasst die Quellengrundlage auch einzelne Gnadenfälle, die zwar unter Friedrich Wilhelm II. schwerpunktmäßig verhandelt wurden, teilweise aber Urteile und Gnadendekrete von Friedrich II. und Friedrich Wilhelm III. aufweisen. Diese am Kontext orientierte Auswahl an Fallakten bildet die generelle Arbeitsgrundlage der Studie. Beim Auswahlverfahren wurde ein Sample aus 272 Fallakten gebildet, das als Grundlage für die quantitativen Berechnungen dient. Eine weitergehende Selektion war deshalb angebracht, da sich zahlreiche der 710 Fallakten der Littera E (Strafsachen)165 aufgrund ihres geringen Evidenz- und Informationswertes166 als wenig aussagekräftig erwiesen. Es handelt sich hierbei um stark standardisierte Gnadenvorgänge, bei denen das Justizdepartement respektive der Geheime Rat bei Vorlage der Supplik ad hoc, ohne Konsultation der Gerichte oder der Strafvollzugsanstalten, dekretierte – in der Regel mit negativem Tenor. Da die Akten der Littera E keine Rechtsgutachten der Gerichte oder Schreiben mit vergleichbarem Informationswert beinhalten, geht aus ihnen – weil die Suppliken und die Gnadendekrete dies in der Regel verschweigen – nicht einmal das Delikt, der Tathergang, der Prozessverlauf oder das Urteil mit dem Strafmaß hervor. Eine Kontextualisierung dieser Fälle ist somit nicht möglich. Da der Erkenntnisgewinn dieser Akten gering ist, wurde die Littera E bei der Analyse der Supplikations- und Gnadenpraxis nicht näher berücksichtigt. Anders ist es um die Aussagekraft der Fallakten der übrigen Litterae bestellt. Die 272 Fallakten besitzen einen hohen Evidenz- und Informationswert und wurden daher für die detaillierte Auswertung herangezogen. Anders als bei den Strafsachen der Littera E enthalten diese Akten neben den Suppliken und den abschlägig oder positiv beschiedenen Dekreten auch Kabinettsorder aus der Feder von Friedrich Wilhelm II., Berichte der Gerichte (vor allem des Kammergerichts und der Stadtgerichte) bzw. der Strafvollzugsanstalten (vor allem des Gouvernements der Festung 165 Anders als die übrigen Litterae enthalten die Fälle der Littera E unterschiedliche minderschwere Delikte wie etwa minderschwerer Diebstahl, geringfügiger Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit, leichte Injuriafälle u. a. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Delikten das geringe Strafmaß in Gestalt einer Gefängnisstrafe von maximal einer Woche. 166 Unter Evidenzwert ist die Abbildqualität des Verwaltungshandelns in den Akten zu verstehen, d. h., der Quellenwert bemisst sich daran, inwieweit die Akten Zweck und Funktion einer Aufgabenerledigung widerspiegeln, also Aufschluss über Entscheidungsprozesse, Organisation, Aufgabenerledigung u. ä. geben. Der Informationswert hingegen bemisst sich an der Bedeutung des Akteninhalts, d. h., er orientiert sich an den in den Akten enthaltenen Informationen über Personen, Organisationen, Objekte und Phänomene. Die Begriffe wurden von dem in den USA lebenden deutschen Archivar Schellenberg 1956 geprägt und erleben seit der deutschen Übersetzung seiner Schrift eine Renaissance in der Archivwissenschaft – vgl. Theodore R. Schellenberg, Die Bewertung modernen Verwaltungsschriftguts, Marburg 1990, hier S. 27 – 30, 99.
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Tabelle 1 Verteilung der Suppliken auf die einzelnen Deliktgruppen der Litterae Delikt
I. HA Rep. 49 Litterae
Anzahl der Fallakten mit Gnadenbitte / n 1786 – 1797
Anzahl der Suppliken (ohne Fürsprachen)
Diebstahl
Littera D
109
204
Raub & Betrug
Littera K
38
122
Homicidia
Littera H
31
65
Schlägerei
Littera C
28
64
Injuria
Littera I
27
44
Adulteria
Littera A
20
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Brandstiftung
Littera L
8
8
Aufruhr & Tumult
Littera M
7
31
Sühnegeld
Littera B
2
7
Zauberei & Vergiftung
Littera N
2
4
272
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Insgesamt Hier: Ausgewählte Quellengrundlage
167
Spandau), aber auch anderer Behörden an das Justizdepartement sowie Konzepte über die im Geheimen Rat gehaltenen Vorträge und die im revidierten Konzept erhaltenen Weisungen an das Kammergericht oder an die Stadtgerichte168, an die Kriegs- und Domänenkammern169 und an andere Behörden.170 Erst mit Hilfe die167 In folgenden Litterae der Rep. 49 befand sich kein Fall, in dem eine schriftliche oder mündliche Gnadenbitte gestellt wurde bzw. Gnade verhandelt wurde: Littera G für Gefängnis erwies sich als irrelevant für die hier behandelte Gnadenpraxis, da sich unter dieser Klassifikation lediglich Bitten vor allem des Auslands um Verhaftung bzw. Auslieferung von mutmaßlichen Straftätern finden; d. h. der Titel Gefängnis bezieht sich nicht auf eine gerichtlich verhängte Strafe, sondern auf die Arretierung von verdächtigen Straffälligen. Unter der Klassifikation Landesverweisung (Littera F) sind Fälle von Ausländern (insbes. Sachsen und Schwaben) gefasst, die nach Absitzen ihrer Haftstrafe des Landes verwiesen wurden bzw. Ahndungen bei Zuwiderhandlungen gegen das Verdikt; für den hier fraglichen Zeitraum liegt jedoch keine Supplikation vor. Auch unter Littera L 1 Landesverrat und Spionage findet sich kein Gnadenfall. Die Teilbestände Konfiszierte Bücher (Littera Q), Falschmünzerei (Littera O) und Vaganten (Littera P) sind nicht auffindbar; entweder sind sie der Kassation zum Opfer gefallen oder aber es handelt sich um Kriegsverluste. 168 Den Stadtgerichten oblag ein Teil der Kriminalgerichtsbarkeit in den Grenzen der zu einer administrativen Einheit zusammengefassten Residenzstädte Friedrichswerder, Dorotheenstadt und Friedrichsstadt. Obwohl es sich um ein einzelnes Gericht handelt, tradierte sich die Bezeichnung Stadtgerichte. Die Gerichtsverfassung von 1710 und die 1728 erlassenen Bestimmungen regelten die Zuständigkeit zwischen den Stadtgerichten und dem Magistrat, dem die Gerichte untergeordnet waren – vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 366 f. 169 Seit der Zusammenlegung der Amtskammern mit den Kriegskommissariaten 1723 zu ursprünglich 9, später 12 streng kollegial organisierten Kriegs- und Domänenkammern avan-
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ser breiten Überlieferung lassen sich die Gnadengesuche hinreichend kontextualisieren. Einige dieser Fallakten weisen zudem eine Besonderheit auf: Sie beinhalten Fürsprachen171 aus dem Justizapparat. In 28 Fällen ergriffen Justizminister, Richter und Strafvollzugsadministratoren die Initiative, um auf mildernde Umstände hinzuweisen, die aus ihrer Sicht eine mildere Bestrafung der verurteilten Person rechtfertigt als jene, die das Gesetz vorschrieb. Der Studie liegen als engere Quellengrundlage folglich 272 Fallakten172 zugrunde, in denen 327 Gnadenfälle173 mit 611 Suppliken174 und 28 Fürsprachen175 dokucierten diese zu den wichtigsten Provinzialverwaltungsbehörden, die dem General-OberFinanz-Kriegs- und Domänen-Direktorium untergeordnet waren. – vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 218 – 227; vgl. Hubatsch 1973, S. 155 – 158; vgl. Wolfgang Neugebauer, Die Hohenzollern. Anfänge, Landesstaat und monarchische Autokratie bis 1740, 1. Bd., Stuttgart / Berlin / Köln 1996, S. 200;. Zur Entwicklung der kurmärkischen Kriegs- und Domänenkammer vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 341 – 345. 170 Ein Dekretschreiben ist ein Schreiben der Weisung des Landesherrn bzw. der in seinem Auftrag handelnden Behörden im objektiven Stil (3. Pers. Sgl.); eine Kabinettsorder bzw. -ordre ist ein Schreiben der Weisung des Landesherrn im stilus litterarum (1. Pers. Sgl.). Zur aktenkundlichen Klassifikation von Behördenschriftgut des 18. Jahrhunderts vgl. das Standardwerk von Heinrich Otto Meisner, Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Leipzig 1950, s. zur systematischen Aktenkunde S. 130 – 212; vgl. Gerhard Schmid, Aktenkunde des Staates, 2 Teile. Lehrbrief für das Fachschulfernstudium für Archivare an der Fachschule für Archivwesen Potsdam, Potsdam 1959 (Manuskript). Neueste Studie zur Aktenkunde vgl. Jürgen Kloosterhuis, Amtliche Aktenkunde der Neuzeit. Ein hilfswissenschaftliches Kompendium; in: Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 45 (1999), S. 465 – 563, hier bes. S. 508 – 549. 171 Der Begriff Fürsprache wurde hier bewusst gewählt. Auch wenn es sich inhaltlich betrachtet um Gnadenbitten handelt, so gehen diese Fürsprachen auf Amtspersonen zurück, die mit der Prüfung von Supplikationen beauftragt waren und stellen somit eine Form herrschaftlichen Handelns dar und sind daher nicht unter dem Begriff Suppliken zu subsumieren. 172 Fallakte meint hier den vom Justizdepartement bzw. von den Gerichten definierten Vorgang, wie er zur Verhandlung gekommen ist und physisch eine einzelne, nach den Regeln der preußischen Schriftgutverwaltung fadengeheftete Akte darstellt. Eine Fallakte kann auch mehrere Personen, die an einer strafrechtlich geahndeten Tat beteiligt waren, betreffen. Für jede dieser Personen kann – muss aber nicht – eine Gnadenbitte vorliegen. Mit anderen Worten kann eine Fallakte mehrere Gnadenfälle umfassen, deren Anzahl nicht unbedingt identisch mit den in der Fallakte verhandelten Personen sein muss. Zur Einschränkung der Quellenbasis von ursprünglich 982 Fallakten auf 272 Fallakten s. Einleitung / Quellengrundlage. 173 Der Begriff Gnadenfall ist in der brandenburg-preußischen Schriftgutverwaltung nicht gebräuchlich. Vielmehr dient er hier als Konstrukt, um eine abstrakte Größe zu veranschaulichen: Unter Gnadenfall, verkürzt hier auch Fall genannt, wird ein gerichtlich verhandeltes und entschiedenes Prozessverfahren verstanden, in dessen Verlauf oder im Anschluss daran für eine Person um Gnade gebeten wurde. Dies ist unabhängig davon, ob die angeklagte bzw. verurteilte Person dies selbst tat, ob Andere aus ihrem sozialen Umfeld eine Gnadenbitte für sie vortrugen oder ob eine Fürsprache [s. u.] aus dem Justizapparat vorlag. Da der Gnadenfall an ein Individuum gebunden ist, ist folglich die Gesamtzahl der Gnadenfälle identisch mit der Anzahl der angeklagten bzw. verurteilten Personen, für die um Gnade gebeten wurde. Dies bedeutet jedoch nicht, dass damit die Gesamtheit aller kurmärkischen Untertanen und
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mentiert sind, welche insg. 693 Gnadenbitten176 für 327 Angeklagte bzw. Verurteilte177 beinhalten.178 Zum besseren Verständnis der Zuständigkeit und der Arbeitsweise verschiedener Behörden wurden auch weitere Bestände zu Rate gezogen.179 Untertaninnen, die in dem hier gewählten Zeitraum vor Gericht standen und deren Fälle zur Bestätigung an das Justizdepartement gelangten, gemeint sind, sondern eben nur jene, für die um Gnade gebeten wurde. 174 Der Begriff Supplik meint hier das physisch in einer Akte vorliegende Schreiben von Untertanen und Untertaninnen – als Einzelpersonen oder Personenverband, als Privatperson oder als Amtsperson – an die Obrigkeit mit der Bitte um Gnade. Da mitunter in einer Supplik Gnadenbitten für mehrere Personen formuliert werden und diese einzelnen Bitten primär Gegenstand der Untersuchung sind, wird hier der Begriff Supplik von dem der Gnadenbitte [s. u.] unterschieden. Für die Suppliken wird bewusst eine Zitierweise gewählt, bei der die Supplikanten und Supplikantinnen nach ihrer Beziehung zu der Person, für die sie um Gnade baten, bezeichnet werden. Wenn also bspw. von einer Gnadenbitte der Ehefrau die Rede ist, bedeutet dies, dass die Supplikantin in ihrer Funktion als Ehefrau für ihren Ehemann vorsprach; entsprechend gilt dies für die Bezeichnung der Suppliken von Vätern, Müttern, Kindern, Geschwistern, Anverwandten, der Nachbarschaft, der Brotherrschaft, der lokalen Obrigkeit und der vorgesetzten Militärkommandeure. 175 Als Fürsprachen werden hier Bitten bezeichnet, die aus dem Justizapparat stammen. In einzelnen Fällen ergriffen Justizminister und Richter des Kammergerichts, der Stadtge-richte und Staatsdiener der Justizämter die Initiative, um eine Begnadigung im Sinne einer Strafmilderung für Verurteilte zu erbitten, wenn ihnen angesichts mildernder Umstände das gesetzlich vorgesehene Strafmaß zu hart erschien. Es handelt sich folglich um obrigkeitliche Instanzen, die von Amts wegen bei der Prüfung von Supplikation involviert waren. Somit kommt den Fürsprachen eine Sonderstellung unter den Gnadenbitten zu [s. C.I.2]. 176 Der Begriff Gnadenbitte ist eine Konstruktion, mit deren Hilfe die Zahl an einzelnen Fürbitten festgehalten werden soll. Hierunter werden sämtliche Bitten um Gnade gezählt, gleichgültig, ob sich die in einer Fallakte enthaltenen Fürbitten auf ein und dieselbe oder auf unterschiedliche Personen beziehen. Die Gnadenbitte ist nicht mit dem in der Akte physisch vorhandenen Schreiben zu verwechseln [zur Supplik s. o.]. Denn hier werden alle Bitten im Einzelnen berücksichtigt, wenn in einer Supplik für mehrere Personen zugleich um Gnade gebeten wurde: So wird bspw. eine Supplik, in der für ein Ehepaar um Strafverschonung gefleht wurde, als zwei Gnadenbitten verstanden. Ebenfalls als zwei Gnadenbitten wird eine Supplik gezählt, die zwar nur eine zur Begnadigung vorgeschlagene Person benennt, aber von zwei Supplizierenden unterschrieben wurde. Wenn allerdings ein Personenverband, wie etwa die Kinder eines Elternteils oder eine Gemeinde, mit einer nicht definierbaren Anzahl von Einzelpersonen kollektiv supplizierte, dann zählt dies in der Regel als eine Gnadenbitte. 177 Zur Zählung der Angeklagten bzw. Verurteilten vgl. Erläuterung zum Gnadenfall [s. o.]. 178 Zur Zitierweise der Quellen: Da der Bestand noch nicht erschlossen ist, gibt es bislang kein gültiges System zur formalen Identifizierung der einzelnen Dokumente. Die Archivsignatur bezeichnet lediglich die Litterae und das jeweilige Aktenpaket. Da die zahlreichen Einzelfallakten innerhalb eines Pakets häufig ungeordnet (in wenigen Fällen grob chronologisch geordnet) sind, ist es ein mühsames Unterfangen, einzelne Dokumente wieder aufzufinden. Um dies ein wenig zu erleichtern, werden hier die einzelnen Fallakten namentlich benannt (aus ökonomischen Gründen durch Abkürzung der ausführlichen originalen Aktentitel) und die Schriftstücke aktenkundlich bezeichnet. Soweit vorhanden, wird auch die Foliierung angegeben, doch wurde diese nur bei einzelnen Akten vorgenommen. Die Familiennamen wurden insofern vereinheitlicht, als die in der Akte am häufigsten gebrauchte orthographische Variante übernommen und die weibliche Endung beim Familiennamen von
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IV. Quellenkritische Überlegungen Quellenkritische Überlegungen sind notwendig, um Texte angemessen interpretieren zu können. Von Bedeutung hierfür ist beispielsweise die aus der Bestandsgeschichte hervorgehende Tatsache, dass die vorgefundenen Akten unvollständig und zufällig überliefert sind, nachdem sie nicht nur der archivischen Kassation, sondern auch den Mäusen, dem Tintenfraß und der kriegsbedingten Aktenauslagerung und -verschleppung getrotzt haben. In jedem Fall eignet sich der Bestand ohne Einschränkung für eine qualitative Analyse.180 Für eine empirische Analyse bedeutet dies allerdings, dass kein Ergebnis, das Repräsentativität für sich beanspruchen kann, erzielt werden kann, da die ursprüngliche Grundgesamtheit,181 also die exakte Summe aller zu diesem Zweck angelegten Gnadenvorgänge, eine unbekannte Größe bleibt – ein methodisches Problem, welches im Grunde bei fast allen Analysen, die auf historische Quellen basieren und damit auf die Zufälligkeit der Überlieferung setzen müssen, der Fall ist. Dennoch eignet sich die als Quellengrundlage definierte Fallaktenserie sowohl in quantitativer (272 Fallakte mit 693 Gnadenbitten) als auch in struktureller Hinsicht (Parallelismus membrorum), um Aussagen zur Größenordnung bestimmter Merkmale – wie z. B. das Verhältnis der supplizierenden Männer und Frauen zu den Angeklagten bzw. Verurteilten oder die unterschiedlichen Begnadigungsformen – zu treffen. Dabei gilt es allerdings zu
Frauen (z. B. „Guthschmidtin“ wird zu „Guthschmidt“) weggelassen wurde, wenn sie nicht integraler Bestandteil des Namens war. Außerdem wurden Berufsbezeichnungen – außer bei Zitaten – an die geläufige Schreibweise leicht angepasst. Für eine bessere Lesbarkeit wurden zusammengehörige Bestandteile eines Wortes, die in der Quelle auseinander geschrieben, aber nur durch ein eng gesetztes Spatium getrennt wurden, hier durch einen Bindestrich gekennzeichnet (z. B. wird „Vater Land“ zu „Vater-Land“). 179 Weitere Bestände im GStA PK: I. HA Rep. 84 Justizdepartement; I. HA Geheimer Rat, Rep. 9 Allgemeine Verwaltung; II. HA Generaldirektorium, Abteilung 3 Generaldepartement und Abteilung 14 Kurmark; I. HA Geheimer Rat, Rep. 21 Brandenburgische Städte, Ämter und Kreise. Für die Arbeit als irrelevant erwies sich hingegen der viel versprechende Titel Begnadigungen der I. HA Geheimer Rat, Rep. 9 Allgemeine Verwaltung, Lit. CC – DD. Denn Begnadigung wird hier ausschließlich als Schenkung bzw. Privilegienverleihung verstanden (z. B. Gnadenpensionen, Befreiung von Abgaben, Schenkung von Gütern und Rechten), nicht jedoch im Sinne einer Strafmilderung. Ebenso wenig wurden Fälle mit Suppliken im Bestand I. HA Rep. 84 a Justizministerium, 2.5.1. Akten des Justizdepartements 1784 – 1808 berücksichtigt, da diese ausschließlich aus der Regierungszeit von König Friedrich Wilhelm III. stammen. 180 Bei einer qualitativen Analyse geht es um das Verstehen sozialer Kontexte als Erkenntnisziel. Für eine qualitative Analyse spricht zum einen der Umstand, dass die Quellen nur bruchstückhaft überliefert sind [s. Einleitung / Bestandsgeschichte]. Zum anderen wird diese Herangehensweise durch die gewählte Fragestellung nahe gelegt, die einen starken Kontextbezug erfordert. 181 Unter Grundgesamtheit werden „alle potenziell untersuchbaren Einheiten, die ein gemeinsames Merkmal aufweisen“ verstanden; Repräsentativität kann wiederum nur gewährleistet sein, wenn die Grundgesamtheit bekannt ist – zit. n.: Jürgen Bortz, Statistik für Sozialwissenschaftler, 5. Aufl., Berlin / Heidelberg / New York 1999, hier S. 748.
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berücksichtigen, dass sich diese prozentualen Größenangaben stets auf die hier getroffene Quellenauswahl beziehen und damit unter dem Verdikt der unbekannten Grundgesamtheit stehen. Die Unvollständigkeit der Überlieferung mindert jedoch nicht den Erkenntniswert der hier untersuchten Justizakten.182 Diese Quellen besitzen eine hohe Aussagekraft über das Funktionieren, die Normen und die Werte einer Gesellschaft. Sie dokumentieren Momente, in denen die Gesellschaft nicht mehr reibungslos funktionierte, da gegen ihre Werte und Normen verstoßen wurde. In den Akten schlägt sich folglich nieder, was im jeweiligen historischen Kontext als kriminell definiert und aus der Gesellschaft ausgegrenzt wurde. In gewisser Hinsicht kann damit umgekehrt auf den Wertekanon der Gesellschaft geschlossen werden. Gleichzeitig sind sie Ausdruck eines Deutungskonflikts, bei dem mehrere Parteien denselben Sachverhalt interessegeleitet und vor dem Hintergrund bestimmter Machtverhältnisse kontrovers kommentieren. Mit den Justizakten, vor allem aber mit den darin enthaltenen Suppliken, ist dank der „glückliche[n] Indiskretion der Inquisitoren“183 ein schriftlicher Überrest einer von Mündlichkeit geprägten frühneuzeitlichen Kultur überliefert. Als hilfreich für die Analyse erweist sich, dass sich im Verwaltungshandeln gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Tendenz zur Bürokratisierung ausbreitete, die sich im Grad der Verschriftlichung von Entscheidungsprozessen niederschlägt. Im Umgang mit frühneuzeitlichen Schriften sollte allerdings stets das Nicht-Dokumentierte mitbedacht werden, da vieles mündlich verhandelt und beschlossen wurde, ohne dass man es dem Papier anvertraute. Es ist davon auszugehen, dass neben den überlieferten Supplikationen weitere mündlich verhandelte Gnadenfälle in unbekannter Zahl existierten, die folglich in den Akten keine Spuren hinterlassen haben: Dies könnte beispielsweise für Gnadenbitten gelten, die dem Monarchen von Bittstellern und Bittstellerinnen auf seinem Weg persönlich vorgetragen worden waren und die der Gnadenträger fern von seiner Bürokratie auf der Stelle zu entscheiden pflegte.184 Im Wissen um die blinde Stelle in der Überlieferung wird aus den hier zusammengetragenen Ergebnissen nicht der Anspruch abgeleitet, die Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen abschließend zu erläutern. Für die Quellenkritik ist der Entstehungszweck der Schriftstücke von großer Bedeutung. Die vorliegenden Justizakten wurden – mit Ausnahme der Suppliken – 182 Die Überlieferung der Rep. 49 im GStA ist zudem bedeutsam, weil Suppliken häufig nicht als archivwürdig bewertet wurden und daher in zahlreichen Archiven der Kassation zum Opfer fielen – vgl. Würgler 2001, S. 18. 183 Zit. aus: Winfried Schulze, Ego-Dokumente: Annäherungen an den Menschen in der Geschichte?; in: Bea Lundt / Helma Reimöller (Hg.), Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters, Köln / Weimar / Wien 1992, S. 417 – 450, hier S. 429. 184 Zu Beispielen für mündlich verhandelte Gnadenbitten vgl. Blickle 1998, vgl. Blickle 2000, vgl. Holenstein 1998, S. 330 f.
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von den Staatsdienern des Justizapparates mit der Absicht angelegt, die aus ihrer Sicht für das Bestätigungs- bzw. Gnadenverfahren relevanten Aspekte schriftlich festzuhalten. Die Kanzleischreiber übersetzten zum Beispiel alltagssprachliche Ausführungen in juristische Termini, die nicht aus dem Munde eines Bauern oder einer Magd stammten.185 Die mündlichen Ausführungen der verhörten Männer und Frauen wurden also auf die Aussagen beschränkt, die für die juristische Klärung des Sachverhalts notwendig erschienen, und bezüglich Aufbau und Stil in eine bürokratische Logik gebracht. Im preußischen Berichtswesen wurden zum Beispiel knappe, auf das Wesentliche beschränkte Darstellungen verlangt, bei denen selbst die erforderlichen Courtoisien verhältnismäßig schnörkellos ausfallen. Beim Umgang mit Schriftstücken gerichtlicher bzw. behördlicher Provenienz muss folglich beachtet werden, dass nicht nur der Inhalt, sondern auch die bei der Behördenkorrespondenz verwandte Sprache vom Wortlaut der mündlichen Aussagen der verhörten Männer und Frauen abweicht. Justizakten spiegeln einen Fall im juristischen Relevanzsystem wider und sind vor allem ein Beleg für die herrschenden Machtverhältnisse und die obrigkeitliche Deutungshoheit. Mit dieser Einschränkung eröffnen sie erst in zweiter Linie einen gewissen Einblick in den Lebensalltag der Untertanen und Untertaninnen. Dabei gilt wiederum zu berücksichtigen, dass die vor Gericht befragten Männer und Frauen das Verschweigen bestimmter Umstände als bewusste Taktik einzusetzen wussten.186 Die spezifische Zweckorientiertheit und die sprachliche Eigenheit dieser Quellengattung müssen daher stets mitberücksichtigt werden.187 185 Allgemein zur Transformation von mündlichen Aussagen bei Verschriftlichung vgl. Michaela Hohkamp, Vom Wirtshaus zum Amtshaus; in: Werkstatt Geschichte 6 (1997) 16 (April), S. 8 – 18, hier S. 10. Zum Grad der Verfremdung von Zeugenaussagen vgl. Ulbrich 1996, S. 218. 186 Regina Schulte, Silke Göttsch und Katharina Simon-Muscheid weisen z. B. auf die Strategie des Verschweigens bei Aussagen vor Gericht hin – vgl. Regina Schulte, Das Dorf im Verhör. Brandstifter Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts, Oberbayern 1848 – 1910, Hamburg 1989, hier S. 29 f.; vgl. Silke Göttsch, Zur Konstruktion schichtenspezifischer Wirklichkeit. Strategien und Taktiken ländlicher Untertanen vor Gericht; in: Brigitte Bönisch-Brednich / Rolf W. Brednich / Helge Gerndt (Hg.), Erinnern und Vergessen. Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses in Göttingen 1989, Göttingen 1991, S. 443 – 452, hier S. 444 f.; vgl. Katharina Simon-Muscheid, Reden und Schweigen vor Gericht. Klientelverhältnisse und Beziehungsgeflechte im Prozessverlauf; in: Mark Häberlein (Hg.), Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15. – 18. Jahrhundert), Konstanz 1999, S. 35 – 52; hier S. 50 – 52. Methodische Überlegungen über das Schweigen vgl. Peter Burke, Randbemerkungen zu einer Sozialgeschichte des Schweigens; in: ders., Reden und Schweigen. Zur Geschichte sprachlicher Identität, Berlin 1993, S. 65 – 81, bes. S. 75. 187 Zu diesem Befund gelangt u. a. David Warren Sabean bereits in den achtziger Jahren – vgl. David Warren Sabean, Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit, Berlin 1986, hier S. 32 – 40. Die Einschätzung von Helga Schnabel-Schüle, dass der „Wahrheitsgehalt der Strafprozeßakten“ höher als „gemeinhin üblich“ sei, wird hier dagegen nicht geteilt – vgl. Helga Schnabel-Schüle, Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg, Köln / Weimar / Wien 1997, hier S. 25.
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Auch wenn man davon ausgeht, dass Justizakten primär den Umgang der Obrigkeit mit Macht und die Durchsetzung ihres Werteverständnisses dokumentieren, weisen sie dennoch Spuren auf, die auf das mitunter anders gelagerte Werte- und Rechtsverständnis sowie auf die Interessenlage und auf strategische Überlegungen der Untertanen und Untertaninnen schließen lassen. Eine solche Diskrepanz kann bei den vorliegenden Quellen beispielsweise zwischen den Zeilen eines Rechtsgutachtens ermittelt oder aber durch einen Vergleich der Suppliken mit den Behördenschreiben herausgearbeitet werden. Denn es liegt nahe zu vermuten, dass Untertanen und Untertaninnen, die sich, ihre Angehörigen oder sonstige Personen ihres sozialen Umfeldes durch die Justiz ungerecht behandelt sahen, in der Supplikation die letzte Möglichkeit erblickten, sich Gerechtigkeit bzw. zumindest günstigere Bedingungen zu verschaffen. Die Suppliken verdienen eine gesonderte Betrachtung, da sie nicht aus behördlicher bzw. gerichtlicher Provenienz, sondern aus der Feder der supplizierenden Untertanen und Untertaninnen bzw. der ihrer Schreiber stammen. Man würde den in den Suppliken geschilderten Geschichten aufsitzen, ginge man davon aus, dass die darin behaupteten Umstände tatsächlich voll und ganz den Ereignissen und der Lebenswirklichkeit der Bittsteller und Bittstellerinnen entsprächen. Denn nicht nur die Behördenschreiben, sondern auch die Suppliken sind in hohem Maße zweckorientiert und folgen narrativen Mustern. Beim Verfassen einer Supplik musste jedes Wort auf seine Nützlichkeit abgewogen werden. Die nötige fachkundige Hilfe beim Aufsetzen von Suppliken erhielten die Supplikanten und Supplikantinnen von Schreibern, die sie mit ihrem Anliegen beauftragten. Beispielsweise ist davon auszugehen, dass das Ausmaß des Vergehens, dessen sich die Angeklagten bzw. Verurteilten vor Gericht zu verantworten hatten, in den Suppliken heruntergespielt wurde, um die Strafe als eine besonders harte und letztlich nicht verdiente Bürde erscheinen zu lassen. Ebenfalls muss angenommen werden, dass in Suppliken gezielt Taktiken, wie zum Beispiel Reuebekundungen und Besserungsgelöbnisse, eingesetzt wurden, um dem Monarchen als oberstem Richter und Gnadenträger Genugtuung zu geben und zu dokumentieren, dass die Strafe ihren Zweck bereits erfüllt habe. So sehr Suppliken auch als Ausdruck einer Strategie zu verstehen sind, so mussten sie doch, um zu überzeugen, in ihrer Darstellung in einem hohen Maße authentisch wirken.188 Den Supplizierenden dürfte bekannt gewesen sein, dass Behauptungen, wie zum Beispiel, unschuldig verurteilt worden oder einem existentiellen Notstand ausgesetzt zu sein, im Rahmen des Supplikationsvorgangs nachgeprüft wurden. Mit anderen Worten: Die Darstellung in Suppliken durfte sich nicht zu weit von den für das soziale Umfeld nachvollziehbaren Umständen entfernen. Darf man die in den Suppliken dargelegten Umstände nicht unbedingt als reell verstehen, so sollten sie dennoch als realistisch189 gelesen werden, nicht nur des188 Dies betont z. B. auch Isabel Richter in Bezug auf Gnadengesuche im Nationalsozialismus – vgl. Richter 2002, S. 64.
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halb, weil sie sich nicht zu weit von den nachweisbaren Fakten entfernen durften, sondern vor allem um der speziellen kommunikativen Wirklichkeit190 beim Supplizieren gerecht zu werden. Entscheidend ist nicht, ob eine Geschichte wahr ist, sondern wie sie konstruiert ist. Konstruktionen von Geschichten sind deshalb realistisch, weil sie überzeugen wollen und daher plausibel sein müssen, folglich auf die gesellschaftlichen (imaginierten) Werte verweisen. Beim Supplizieren handelt es sich um ein hoch komplexes, strategisch angelegtes Konfliktlösungsmittel, bei dem sich tatsächlich Erlebtes mit strategischen Überlegungen zu einer real-fiktionalen Gemengelage verbindet. Dabei wird letztlich nicht zu klären sein, welchen Anteil das tatsächlich Vorgefallene bzw. das von den Akteuren Empfundene und welchen Anteil das strategische Moment ausmachen. Eine jede Aussage ist vielmehr danach zu befragen, an welche Erwartungen sie appellierte, wem sie nützte und welche Motive damit vermutlich verfolgt wurden. Dieser Befund verringert aber keineswegs die Aussagekraft der Quellen – ganz im Gegenteil: Gerade in der Konstruiertheit der Argumente und Appelle liegt der Wert der Suppliken für die Geschichtswissenschaft. Um Erfolg zu haben, mussten Suppliken das obrigkeitliche Gnadenverständnis bedienen, also der obrigkeitlichen Gnadensemantik entsprechen. Demnach spiegeln sich in den Strategien mit all ihren fiktionalen Aspekten eben jene Werte und Herrschaftsverhältnisse der Gesellschaft wider, die im Kontext der Gnade relevant sind. Bei vordergründiger Quellenlektüre erscheinen die Suppliken nicht nur konstruiert, sondern geradezu stereotyp. Das gilt sowohl für den Aufbau als auch für den Stil sowie für die Art und Weise, wie eine Gnadenbitte vorgetragen wird. Das erklärt sich teilweise dadurch, dass bei Schreiben von Untertanen an die Obrigkeit respektive an den König klare Vorgaben bezüglich der Courtoisie einzuhalten waren. Darüber hinaus weisen Suppliken unterschiedlicher Absender auch inhaltliche Übereinstimmungen hinsichtlich der angeführten Argumente und der verwandten Strategien auf. Solche Stereotypien bieten die Chance, narrative Muster aufzudecken, die Aufschluss über die der jeweiligen Beziehung zugrunde liegenden Macht- und Geschlechterverhältnisse geben. Entkleidet man aber die Suppliken ihres Formalismus, dann offenbaren sie individuelle Geschichten, Erzählweisen und Argumente. Die Unterscheidung zwischen dem Typischen und dem Besonderen setzt freilich genaue Kenntnis einer großen Menge von gleichartigen Dokumenten voraus.191 189 Karl Härter geht noch einen Schritt weiter: Er misst den Darstellungen in Suppliken nicht nur ein hohes Maß an Plausibilität bei, sondern erkennt sie als „historische Realität“ an. Er begründet dies damit, dass Behauptungen in den Suppliken von Amts wegen überprüft wurden, vergisst dabei aber vielleicht die vielen Graustufen, die zwischen einer nachweislich falschen Behauptung und einer tendenziösen und übertreibenden, aber doch nicht falschen Darstellung eines Sachverhalts liegen – vgl. Härter 2005, S. 251. 190 Dagmar Günther schlägt dieses methodische Vorgehen in Bezug auf Autobiographien vor; es lässt sich nach Meinung der Verfasserin aber auch auf Suppliken übertragen – vgl. Dagmar Günther, „And Now for Something Completely Different“. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft; in: HZ 272 (2001), S. 25 – 61, hier S. 32.
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Nimmt man das Besondere der einzelnen Suppliken, die bruchstückhaften und versteckten Aussagen zur Person, in den Blick, so kann man Suppliken der Kategorie Ego-Dokument192 bzw. Selbstzeugnis [s. u.] zuordnen. Unter Ego-Dokument ist folgendes zu verstehen: „Gemeinsames Kriterium aller Texte, die als Ego-Dokumente bezeichnet werden können, sollte es sein, daß Aussagen oder Aussagepartikel vorliegen, die – wenn auch in rudimentärer und verdeckter Form – über die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner Gemeinde, seinem Land oder seiner sozialen Schicht Auskunft geben oder sein Verhältnis zu diesen Systemen und deren Veränderungen reflektieren. Sie sollten individuell-menschliches Verhalten rechtfertigen, Ängste offenbaren, Wissensbestände darlegen, Wertvorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen und -erwartungen widerspiegeln.“193
Auch Suppliken kann man in dieser Definition wieder finden.194 Suppliken geben beispielsweise Auskunft über die Selbstdarstellung in der Rolle als Fürsprecher für Angeklagte bzw. Verurteilte und als supplizierende Untertanen – und spiegeln damit letztlich die herrschenden Machtverhältnisse wider. Darüber hinaus vermitteln Suppliken einen gewissen Einblick in den Lebensalltag mit seinen Problemen und Existenzängsten. Auch Wertvorstellungen haben in Suppliken einen zentralen Platz, denn vor diesem Hintergrund werden das Vergehen der angeklagten bzw. verurteilten Person und ihre Reue erklärt. Aufgegriffen wird der Ansatz, Ego-Dokumente nach dem Grad der Freiwilligkeit der Aussage zu differenzieren, 191 Diesen Anspruch kann die Studie aufgrund ihrer Quellenbasis von 982 Fallakten und der detaillierten Analyse von 272 Fallakten mit insgesamt 611 Suppliken erheben. 192 Der Begriff Egodocument wurde 1958 vom niederländischen Historiker Jacob Presser geprägt. Vor allem durch die seit den neunziger Jahren andauernde geschichtswissenschaftliche Debatte um Ego-Dokumente erfuhr der Begriff eine Erweiterung: Unter Ego-Dokumenten werden nicht nur Texte verstanden, die von einem historischen Subjekt in der Absicht, ein Selbstzeugnis abzulegen, geschrieben wurden (z. B. Tagebücher, private Briefe etc.). Auch bestimmten Schriftstücken der behördlichen Überlieferung kann der Charakter von Ego-Dokumenten zugeschrieben werden, denn auch diese können einen gewissen Einblick in die Wertvorstellungen und Erfahrungen, die individuelles Handeln bestimmen, offenbaren. 193 Schulze 1992, S. 435. Dieser grundlegende Aufsatz wurde 1996 in einem vom Autor selbst herausgegebenen Buch erneut veröffentlicht – vgl. Winfried Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 11 – 30, hier S. 28. 194 Der Einschätzung von Gerd Schwerhoff und Andreas Würgler wird hier nicht zugestimmt: Würgler spricht den in seinem Untersuchungsgebiet vorgefundenen Suppliken und Petitionen den Charakter eines Ego-Dokuments ab, während Schwerhoff lediglich Zurückhaltung übt. Beide Autoren leugnen zwar nicht, dass diese Quellengattung Aufschluss über das menschliche Denken, Handeln und Fühlen in historischer Perspektive zu leisten vermag. Dennoch überwiegt ihre Skepsis, da die Suppliken ihrer Meinung nach ein zu begrenztes Anliegen vermitteln, überdies zu stereotyp, zu formalisiert und im hohen Maße strategisch angelegt sind; außerdem wurden sie von professionellen Schreibern zu Papier gebracht, die auch inhaltlich auf das Schreiben Einfluss nahmen – vgl. Schwerhoff 2000, S. 488 f.; vgl. Würgler 2005, S. 42; vgl. ders. 2001, S. 32. Dieser Auffassung kann insofern nicht gefolgt werden, als ein Text laut Definition bereits als ein Ego-Dokument gelten kann, wenn lediglich Aussagepartikel des Schriftstücks Rückschlüsse auf die Selbstwahrnehmung der Menschen zulassen – zur Definition von Ego-Dokumenten s. o. Quellenkritische Überlegungen.
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also nach der sozialen Distanz und nach den Machtbeziehungen zwischen dem Ego und dem Schreiber.195 Überträgt man den Gedanken auf Suppliken, so muss ihnen ein gewisser Grad an Freiwilligkeit attestiert werden, wenngleich man berücksichtigen muss, dass sie Ausdruck einer Notlage sind.196 Aufgrund ihrer Freiwilligkeit und Spontanität erkennt auch Andreas Würgler in Suppliken ein „Gegengewicht zur herrschaftlichen Optik, die den meisten anderen Quellen inhärent ist“.197 Der Aspekt der sozialen Distanz ist geradezu konstitutiv für Form, Stil und Inhalt von Suppliken, die ein Kommunikationsmedium zwischen supplizierenden Untertanen bzw. Untertaninnen und dem Monarchen darstellen. Es gilt, die in den Suppliken und Rechtsgutachten enthaltenen Selbstauskünfte nicht nur zu ermitteln, sondern diese nach dem Grad der Vermitteltheit, des Zwangs oder der Freiwilligkeit sowie nach den ihnen zugrunde liegenden Machtbeziehungen zu befragen. Suppliken sind nicht nur als Ego-Dokumente, sondern auch als Selbstzeugnisse gemäß dem Verständnis der jüngsten Selbstzeugnisforschung zu lesen. Die Definition von Selbstzeugnis198 unterscheidet sich nicht so sehr von jener der Ego-Dokumente; sie ist allerdings weiter gefasst, indem sie mit einem offenen Quellen- und Gattungsverständnis arbeitet – und dadurch lässt sich mit dem Begriff Selbstzeugnis letztlich sogar besser operieren. So ist mit dieser Zuordnung zugleich die von der Selbstzeugnisforschung favorisierte methodische Herangehensweise der Personkonzepte verbunden: „Selbstzeugnisse sind Texte, in denen Menschen sich selbst beschreiben – zumindest ausschnittweise –, und damit sind sie aufschlußreich vor allem auf der Ebene dargestellter und praktizierter Personkonzepte, also im Bereich der sozialen, körperlichen Person und ihres Handelns.“199
Auch wenn für Suppliken gilt, dass ihnen Aussagen zur handelnden Person häufig nur in bruchstückhafter und verdeckter Weise zu entnehmen sind, so ist in ihnen dennoch ein „explizites Selbst“ auszumachen, welches „selbst handelnd oder leidend in Erscheinung tritt“ und „explizit auf sich selbst Bezug“ nimmt.200 Mit der Vgl. Ulbrich 1996, S. 217. Vgl. ebd., S. 217, 219. 197 Würgler 2005, S. 44. 198 Vgl. Jancke / Ulbrich 2005, S. 10 – 12, 25. 199 Jancke / Ulbrich 2005, S. 25. 200 Zit. aus: Benigna von Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert; in: Historische Anthropologie 2 (1994) 3, S. 462 – 471, hier S. 463. In einem Punkt kann die von Krusenstjern formulierte Definition von Selbstzeugnissen allerdings nicht mitgetragen werden: Krusenstjern geht davon aus, dass Selbstzeugnisse „selbst verfaßt“ und „selbst geschrieben“ werden, ein Umstand, der auf Suppliken nur selten zutrifft – zit. aus: ebd., S. 470. In diesem Zusammenhang wird auf die Selbstzeugnisforschung verwiesen, die sich von einer an der Autobiographie angelehnten Definition verabschiedet hat und mit einem an Schreib- und Kommunikationspraktiken orientierten Textsortenbegriff arbeitet – vgl. Jancke / Ulbrich 2005, S. 10. 195 196
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Kategorie Person öffnet sich der Blick für das Eingebundensein der handelnden Personen in horizontale und vertikale Beziehungen und wirft damit die Frage nach Gruppenkulturen und Geschlechterordnungen auf.201 Dieser Ansatz kann beispielsweise dazu beitragen, die Beziehungen zwischen den supplizierenden Männern und Frauen und den von ihnen zur Begnadigung vorgeschlagenen Angeklagten bzw. Verurteilten zu beleuchten. Die quellenkritischen Überlegungen machen deutlich, dass die Texte nicht als authentischer Ausdruck von historischer Lebenswirklichkeit verstanden werden können. Vielmehr stellen sie ein Mosaik subjektiv dargestellter Wirklichkeiten dar. Sowohl die Texte aus den Federn der Staatsdiener als auch die der Untertanen sind durch ihre jeweils spezifischen Machtverhältnisse und Strategien geprägt. Die hier ausgewählten Quellen werden folglich als eine im hohen Maße strategisch motivierte Kommunikation begriffen, die von juristischen, geschlechterspezifischen und emotional wirkenden Argumentationsmustern durchzogen ist und sich vor dem Hintergrund asymmetrischer Machtbeziehungen vollzieht. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoller, nach den offenkundigen bzw. mutmaßlichen Absichten und Strategien der Handelnden, weniger aber nach den faktischen und fiktionalen Anteilen des in den Suppliken Dargelegten zu fragen, denn Spekulationen über die vermeintliche Wahrheit des Faktischen führen letztlich in eine Sackgasse.
201 Vgl. Jancke / Ulbrich 2005, S. 25; vgl. Natalie Zemon Davis, Bindung und Freiheit. Die Grenzen des Selbst in Frankreich des 16. Jahrhunderts; in: dies., Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit. Studien über Familie, Religion und die Wandlungsfähigkeit des sozialen Körpers, Berlin 1986, S. 7 – 18 und S. 133 – 135, hier S. 7.
A. „Der Krone ihr schönstes Vorrecht“1 – Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen I. Die kulturgeschichtliche Dimension: Begriffsklärung und ideengeschichtliche Kontexte 1. „Gnade vor Recht“2 – Gnadenverständnisse in theologischen und philosophischen Diskursen a) Zum Begriff Gnade Unter Gnade ist allgemein Nachsicht, Milde und Gunst zu verstehen. Gnade zeichnet sich durch ihre positive Bedeutung im Sinne einer Begünstigung aus. Sie kann nur erbeten, nicht aber verlangt werden, und wird folglich aus freien Stücken zugesagt – einen rechtmäßigen Anspruch auf Gnadengewährung gibt es also nicht. Charakteristisch für die Gnade ist, dass sie in der Regel ein Über- bzw. Unterordnungsverhältnis voraussetzt.3 So bedeutet Gnade laut Deutschem Wörterbuch der Brüder Grimm so viel wie: „Erbarmen, das ein Höhergestellter einem Geringeren freiwillig entgegenbringt“4, oder: „die unverdiente Neigung eines Höhern, einem Geringern Wohlthaten zu erweisen“, so der Eintrag im Krünitz, einer einschlägigen Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts.5 1 Zit. aus: Bericht der Kriminaldeputation des Kammergerichts vom 20. Oktober 1796 / Fallakte Anna Dorothea Devouschack; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 38. 2 Zit. aus: Karl Simrock, Die deutschen Sprichwörter, Frankfurt a. M. 1846, hier S. 202. 3 Das asymmetrische soziale Beziehungsgefüge kommt auch im Gebrauch des Wortstammes als Bestandteil eines Titels bzw. einer Anrede zum Vorschein: Zum Beispiel Allergnädigster als Anrede für Kaiser und gekrönte Häupter, Königliche Gnaden für Prinzen, Fürstliche Gnaden bis zum 17. Jh. für weltliche und geistliche Fürsten oder Gnädigster Herr als allgemeine höfliche Anrede – vgl. Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines RealWörterbuch aller Künste und Wissenschaften von einer Gesellschaft Gelehrten, hier Stichwort: Gnade, 12. Bd., Franckfurt am Mayn 1778, S. 673 – 696, hier S. 694 f.; vgl. Johann Georg Krünitz, Oekonomisch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirthschaft, und der Kunst-Geschichte, in alphabetischer Ordnung, hier Stichwort: Gnade, 19. Bd., Berlin 1780, S. 237 – 239, hier S. 239; vgl. Zedler 1961 / 1735, Stichwort: Gnade, 11. Bd., Sp. 1; mit etymologischen Belegen vgl. Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache, hrsg. v. d. Deutschen Akade-mie der Wissenschaften zu Berlin, 9 Bde., Weimar 1939 – 1951, hier Stichwort: Gnade, 4. Bd., Sp. 963 – 974, hier Sp. 964 f. 4 Vgl. Grimm / Grimm 1984, Stichwort: Gnade, 8. Bd., Sp. 512. 5 Krünitz 1780, Stichwort: Gnade, 19. Bd., S. 238; vgl. Deutsche Encyclopädie 1778, Stichwort: Gnade, 12. Bd., S. 686.
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Die Wurzeln der Gnade lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Mit der Gnade verband sich sowohl in der griechischen als auch in der römischen Antike die Vorstellung von Milde (griech. øëÜíèrùðïí oder ÷Üréñ bzw. lat. clementia oder indulgentia) als zentrale Tugend des hellenistischen Gottko¨nigs bzw. des vergo¨ttlichten ro¨mischen Kaisers.6 Als Wiedergabe des lateinischen gratia7 stammt das Wort Gnade etymologisch aus dem althochdeutschen ginaˆda bzw. dem mittelhochdeutschen genaˆde, was soviel bedeutet wie sich niederlassen bzw. sich herabneigen. Dies ist zum einen als gestische Handlung, zum anderen im u¨bertragenen Sinne als Hilfe bzw. Beistand oder auch Ruhe bzw. Glu¨ck zu verstehen.8 Historisch betrachtet gibt es zahlreiche Erscheinungsformen der Gnade, da sie alle Arten von Vergünstigungen umfasst. Neben dem Erlass bzw. der Milderung von Strafen bezogen sich Gnadenakte auch auf die so genannten Gnadensachen, worunter die Verleihung jeglicher Art von Privilegien verstanden wurde.9 Die Erscheinungsform der Gnade, welche hier von Interesse ist, ist der obrigkeitliche 6 Zur Gnade in der Antike vgl. Johann Georg Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts. Eine systematische Darstellung mit den Vorschriften des Bundes und der Länder, Anmerkungen und Sachregister, München 1976, S. 7; vgl. H.-J. Becker, Stichwort: Gnadenrecht; in: Lexikon des Mittelalters, 4. Bd., München / Zürich 1989, Sp. 1521 f.; vgl. Grewe 1936, S. 41 – 67; vgl. Hupe 1954, S. 4 – 36. Konkret zum römischen Begnadigungsrecht im Wege der abolitio, indulgentia, venia vgl. Flor 1991, S. 38 – 54; vgl. Lueder 1860, S. 15 – 55 und ausführlich dazu vgl. Waldstein 1964. 7 Lateinisch gratia meint die Anmut, die Grazie, die Liebenswürdigkeit, aber auch das Ansehen, die Beliebtheit, darüber hinaus auch die Gunst, die man genießt und die Gunst, die man erweist im Kontext des Sich-Neigens, worunter auch die Gefälligkeit, der Gefallen, die Nachsicht, letztlich auch der Dank verstanden wurde, woraus sich im christlichen Kontext die Gnade, insbesondere die Gnade Gottes, die Gnadengabe und die Huld entwickelte – vgl. Edwin Habel / Friedrich Gröbel (Hg.), Mittellateinisches Glossar. Mit einer Einführung von Heinz-Dieter Heimann, 2. Aufl., Paderborn / München / u. a. 1989 (ND der 2. Aufl.), hier Stichwort: gratia, Sp. 170. Zur Begriffserläuterung vgl. A. Peters, Stichwort: Gnade; in: Joachim Ritter / Rudolf Eisler (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 3. Bd., Basel / Stuttgart 1974, Sp. 707 – 713, hier Sp. 707. 8 Für die germanische Frühzeit wurde nachgewiesen, dass Gnade im Sakralbereich und in der Herrschaftssphäre praktiziert wurde – zu den germanischen Wurzeln vgl. Krause 1971, Sp. 1715; vgl. Hupe 1954, S. 37 – 41; vgl. Beyerle 1910, S. 4 f. Zur Etymologie vgl. Grimm / Grimm 1984, Stichwort: Gnade, 8. Bd., Sp. 505 – 511; vgl. Deutsches Rechtswörterbuch 1939 – 1951, Stichwort: Gnade, 4. Bd., Sp. 963 – 974. 9 Unter Gnadensachen verstand man zum Beispiel Standeserhöhungen, das Tragen von Titeln und Wappen sowie die Vergabe von Ämtern und Würden. Gnadensachen wurden zeitgenössisch unterteilt wie folgt: 1. „pure Gnadensachen“, bei denen die Rechte Dritter nicht tangiert wurden (z. B. Legitimation unehelich geborener Personen); 2. „Gnaden und Freiheiten“ einer einzelnen Person (z. B. Standeserhöhung); 3. bezüglich Personen und Sachen (z. B. Druckfreiheit); 4. allein Sachen betreffend (z. B. Stadt- oder Marktrecht) – vgl. Johann Jacob Moser, Von der Landes-Hoheit in Justiz-Sachen; in: ders., Neues teutsches Staatsrecht, Franckfurt am Mayn / Leipzig 1773, hier 17. Abtlg., 7. Teilbd., S. 1 f. und zu den Privilegienarten vgl. ebd., S. 11 – 87; vgl. Deutsche Encyclopädie 1778, Stichwort: Gnadensachen; 12. Bd., S. 711 f. Beispielhaft als Quellensammlung zu Gnadensachen vgl. Reiner Puschnig (Hg.), Gnaden und Rechte: Das steirische Siegelbuch. Ein Privilegienprotokoll der innerösterreichischen Regierung 1592 – 1619, Graz 1984.
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Gnadenakt, einer angeklagten bzw. verurteilten Person den Erlass bzw. eine Milderung der kriminalgerichtlich verhängten Strafe zu gewähren.10 Diese Form der Gnade besitzt eine außerrechtliche Natur, indem sie nicht das Urteil an sich modifiziert, sondern lediglich auf den Strafvollzug mildernd einwirkt. In diesem Zusammenhang ist zum Umgang mit der Begrifflichkeit anzumerken, dass der Gnadenakt im Gegensatz zum Gerichtsurteil nicht zur Judikative gehört, sondern bei der Exekutive angesiedelt ist, woraus folgt, dass es sich bei einem Gnadenakt weder um einen Rechtsakt noch bei der Supplikation um ein Rechtsmittel handelt.11 b) Gnadenverständnis(se) in theologischen Diskursen Stark geprägt wurde das Gnadenverständnis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit durch religiöse Vorstellungen von Gnade. Die christlichen Konfessionen verstehen unter gratia das Heilshandeln Gottes, also das dem Menschen zugewandte Erbarmen Gottes.12 Bereits in der Bibel ist ein Monismus der Gnade präsent: So wird im Alten Testament das von Erbarmen und Güte geprägte Verhalten Gottes gegenüber den Menschen und im Neuen Testament die Selbsthingabe Jesu Christi als Ausdruck göttlicher Gnade aufgefasst.13 Die Interpretation der Gnade Gottes führte zu unterschiedlichen Lehrmeinungen – so zum Beispiel zur pelagianischen und augustinischen Gnadenauffassung.14 Der Gnadenstreit wirkt 10 Vgl. Deutsche Encyclopädie 1778, Stichwort: Aggratiation / Begnadigung, 1. Bd., S. 298. Zum Gebrauch des Begriffs Gnade im weltlichen Sinne vgl. Grimm / Grimm 1984, Stichwort: Gnade, 8. Bd., Sp. 530 – 552; vgl. Deutsches Rechtswörterbuch 1939 – 1951, Stichwort: Gnade, 4. Bd., Sp. 972 – 974; vgl. Krause 1971, Sp. 1714 – 1719, bes. Sp. 1714. 11 Auch wenn in dem Untersuchungszeitraum die Trennung der Gewalten noch nicht vollzogen ist, so sollte dies dennoch beim Gebrauch der Begriffe in der Forschung berücksichtigt werden. Zum außerrechtlichen Charakter der Gnade vgl. Drews 1971, S. 4; vgl. Grewe 1936, S. 38. 12 Vgl. Georg Kraus, Stichworte: Gnade; Gnadenlehre; Gnadensysteme; Gnadentheologische Irrlehren; Rechtfertigung; in: Wolfgang Beinert (Hg.), Lexikon der katholischen Dogmatik, 3. Aufl., Freiburg / Basel / Wien 1991, S. 201 – 209; S. 209 – 211; S. 212 – 214; S. 214 – 216; S. 434 – 436, hier bes. S. 201. 13 Zur Monismusthese vgl. Gilbert Greshake, Geschenkte Freiheit. Einführung in die Gnadenlehre, 2. Aufl., Freiburg / Basel / Wien 1981, hier S. 32. Im AT wird die Vorstellung von Gnade mit dem griechischen Begriff ÷Üréñ verbunden, was soviel meint wie die erwiesene Gunst bzw. die zuneigende Huld, aber auch der geschuldete Dank (Gen. 6, 8; Ex. 33, 12). Im NT ra¨umt insbesondere der Apostel Paulus der Gnade die zentrale Rolle bei der Rechtfertigung, also beim Heilshandeln Gottes am einzelnen Menschen, ein: Nach dem paulinischen Versta¨ndnis ist die Gnade ein Geschenk Gottes an die Menschen, ein Geschenk, welches bedingungslos und damit an keinerlei Verdienst oder Vorleistung gebunden ist und allein durch den Glauben erlangt werden kann (Ro¨m. II, 6) – vgl. Peters 1974, Sp. 707 – 713; vgl. Kraus 1991, S. 201 f., 209, 212, 434; vgl. Mickisch 1996, S. 47 – 49. 14 Die beiden gegensätzlichen Positionen im Gnadenstreit wurden von Augustinus (y 430) und Pelagius (y um 425) eingenommen: Die augustinische Lehre ging von der Vorstellung aus, dass die menschliche Natur durch die Erbsünde verderbt sei und zu ihrem Heil die Gnade
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bis in die Scholastik15 hinein und bildete schließlich einen zentralen Grund für die Spaltung der Konfessionen.16 Im reformatorisch-katholischen Disput herrschte zwischen den Vertretern der Konfessionen in einem Punkt Einigkeit: nämlich, dass das Heil nur durch Gottes Gnade in die Welt gelangt, woraus folgt, dass sich der Mensch nicht selbst erlösen kann. Spaltend wirkte jedoch die von den Reformatoren17 eingenommene Theozentrik, mit der sie sich von der Anthropozentrik der scholastischen Lehre abgrenzte. Martin Luther (y 1546) vertrat die Auffassung, dass der Mensch aus sich selbst heraus nichts vermöge und daher auf die Alleinwirksamkeit der unverdienbaren Gnade Gottes angewiesen sei (sola gratia). Das Konzil von Trient (1545 – 1563) lehnte die reformatorische Gnadenlehre ab: Die Katholiken argumentierten gegen die völlige Passivität des Menschen im Heilsgeschehen; sie beharrten vielmehr auf dem positiven Effekt, den die Gnade Gottes im Menschen Gottes benötige (sola gratia). Pelagius hingegen gestand dem Menschen zu, das Heil aus eigener Kraft durch Verdienste erlangen zu können. Aufgrund des so hoch bewerteten menschlichen Willens wurde das pelagianische Gnadenverständnis 418 auf dem Konzil von Karthago und 431 auf dem Konzil von Ephesus als theologische Irrlehre verworfen. Es fand aber in abgemilderter Form Eingang im Semipelagianismus, der beim menschlichen Handeln im Heilsgeschehen nunmehr die Gnade Gottes voraussetzte und den Heilsakt somit in Abhängigkeit von Gottes Willen sah. Doch auch der Semipelagianismus 529 wurde auf der 2. Synode von Orange abgelehnt. – Zum Gnadenstreit Augustinus contra Pelagius bzw. Semipelagianismus vgl. Kraus 1991, S. 202 f., 214 f.; vgl. Peters 1974, Sp. 708; vgl. Greshake 1981, S. 41 – 56, bes. S. 47; vgl. Mickisch 1996, S. 49 – 51. 15 In der Frühscholastik wurde das Verdienst menschlichen Handelns im Heilsgeschehen in gewissem Maße anerkannt. Thomas von Aquin (y 1274) betonte jedoch – in Anlehnung an Augustinus – die Unvollkommenheit und Sündenhaftigkeit der menschlichen Natur, welche der Gnade wesensnotwendig bedürfe. Nach dieser Auffassung sind menschliche Verdienste als bloße Wirkungen von Gottes Handeln zu interpretieren. – Zur Scholastik vgl. Kraus 1991, S. 203 f., 212; vgl. Greshake 1981, S. 56 – 73, bes. S. 66 f. und S. 81 – 88; vgl. K. Reinhardt, Stichwort: Gnadenstreit; in: Joachim Ritter / Rudolf Eisler (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 3. Bd., Basel / Stuttgart 1974, Sp. 713 f.; vgl. Peters 1974, Sp. 709. Zu einzelnen Vertretern der Frühscholastik vgl. L. Scheffczyk, Stichworte: Gnade bzw. Gnadenlehre; in: Lexikon des Mittelalters, 4. Bd., München / Zürich 1989, Sp. 1519 – 1521, hier Sp. 1519 f. 16 Nicht nur die katholische und die reformierte Kirche, sondern auch die West- und Ostkirche vertraten jeweils ein anderes Gnadenverständnis – vgl. Kraus 1991, S. 202 f.; vgl. Greshake 1981, S. 34 – 56. 17 Neben Martin Luther lehnten auch andere reformatorische Theologen jeden Selbstrechtfertigungsversuch mit der Begründung ab, dass jede Rechtfertigung allein durch Gott geschehe. Ulrich Zwingli vertrat die Vorstellung, dass die Gnade, nicht aber menschliche Werke, Heil bringe. Philipp Melanchthon sah den Menschen der Erbsünde unterworfen und als ohnmächtigen Sünder im guten Tun auf Gottes Gnade angewiesen. Auch Johannes Calvin vertrat die Auffassung, dass allein Gott den Menschen zum Heil oder zur Verwerfung erwähle und dass seine Gnade durch das Erlösungswerk Jesu Christi begründet und im Heilswerk des Heiligen Geistes verwirklicht sei. Zum Gnadenbegriff Martin Luthers und der protestantischen Orthodoxie vgl. Gerhard Müller, Die Rechtfertigungslehre. Geschichte und Probleme, Gütersloh 1977, hier S. 54 – 69, bes. S. 60 – 62; vgl. Kraus 1991, S. 204 f., 209 f.; vgl. Otto Hermann Pesch / Albrecht Peters, Einführung in die Lehre von Gnade und Rechtfertigung, Darmstadt 1981, hier S. 222 – 226.
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bewirken könne.18 Fortan standen sich die nunmehr konfessionell orientierten Gnadenverständnisse gegenüber: Während die protestantische Lehre von der Unverdienbarkeit der Gnade ausgeht, wird dem Menschen in der katholischen Anthropologie eine vom Gnadenspender eigenständige Stellung eingeräumt. Daraus folgt, dass der Mensch nach katholischer Auffassung seine Begnadigung in einem gewissen Maße zu verdienen vermag. c) Gnade als Machtinstrument Beeinflusst vom christlichen Gnadenverständnis wurde die Barmherzigkeit zur Handlungsmaxime des Herrschers im Mittelalter. Mit ihr ging die Gnade als zentraler Topos in den Kanon der Herrschertugenden19 ein, wie ein Sprichwort belegt: „Gnade ziemt wohl bei der Macht“20. Das Herrschaftsverständnis dieser Zeit basiert auf dem Gottesgnadentum, dem die Vorstellung von der Transzendierung der staatlichen Ordnung durch eine metaphysische Weihe zugrunde lag.21 Die Auffassung, dass Herrschaft in Gott begründet und durch Gottes Willen legitimiert sei, fand beispielsweise Ausdruck in dem Attribut Dei gratia bzw. von Gottes Gnaden, welches im 13. Jahrhundert in den fränkischen Herrschertitel aufgenommen wurde. Ein Sprichwort veranschaulicht, wie eng landesherrliche Gnade mit der Gnade Gottes zusammengedacht wurde: „Niemand als Gott und die Herren können Gnade tun“.22 18 Zum reformatorischen-katholischen Disput vgl. Peters 1974, Sp. 709 f.; vgl. Greshake 1981, S. 73 – 80; vgl. Mickisch 1996, S. 55 – 66. 19 Zur Herrschertugend vgl. Becker 1989, Sp. 1521 f.; zum mittelalterlichen Gnadenwesen vgl. ebd., S. 68 – 81, S. 97 – 107. Die Tugenden des „guten Fürsten“ gleichen den Fähigkeiten, die einem guten Familienvater abgefordert wurden – vgl. Cecilia Nubola, Die „via supplicationis“ in den italienischen Staaten der frühen Neuzeit (15. – 18. Jahrhundert); in: Dies. / Würgler 2005, S. 53 – 92, hier S. 57. Herrschertugenden waren z. B. zentrales Thema der Fürstenspiegel – vgl. Bruno Singer, Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation. Bibliographische Grundlagen und ausgewählte Interpretationen: Jakob Wimpfeling, Wolfgang Seidel, Johann Sturm, Urban Rieger, München 1981, hier zu den Fürstenspiegeln von 1400 bis 1600, S. 51 – 144 und vom 17. bis 20. Jahrhundert, S. 147 – 167. 20 Zit. nach: Simrock 1846, S. 202. 21 Vgl. Krause 1971, Sp. 1717; vgl. Hupe 1954, S. 37 – 65; vgl. Grewe 1936, S. 41, 88. Zum Gottesgnadentum vgl. Otto Brunner, Vom Gottesgnadentum zum monarchischen Prinzip. Der Weg der europäischen Monarchie seit dem hohen Mittelalter; in: Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen, hrsg. v. Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, 3. Bd. der Vorträge und Forschungen, Konstanz 1956, S. 279 – 305, hier bes. S. 285; vgl. Antonio García y García, El poder por la gracia de Dios: aspectos canónicos; in: Hélène Millet (Hg.), Suppliques et requêtes: Le gouvernement par la grâce en Occident (XIIe – XVe siècle), les actes du colloque international organisé à Rome les 9, 10 et 11 novembre 1998 par l’École française de Rome, Rom 2003 (Collection de l’École française de Rome; 310), S. 233 – 249. 22 Zit. nach: Ruth Schmidt-Wiegand (Hg.), Deutsche Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. Ein Lexikon, München 1996, hier S. 148.
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Ausgeübt wurde das mittelalterliche Gnadenrecht vom König bzw. vom Fürsten – etwa beim Verzicht auf einen Huldentzug – im Rahmen seiner richterlichen Funktion.23 Das so genannte Richten nach Gnade24 stellte im Mittelalter eine zentrale Praktik der Begnadigung von Verurteilten dar, welche der Richter gewähren konnte, um die Strenge des Rechts abzumildern.25 Hoffnung auf Gnade machten sich Untertanen aller Stände und nutzten dazu die Möglichkeit der Supplikation.26 Gnade als Herrenrecht stellt allerdings nur eine Facette des Gnadenwirkens dar. Im Mittelalter existierte eine Vielzahl von Gnadenpraktiken, die nicht an den Herrscher gebunden waren und zum Teil nicht einmal eine bestimmte Standeszugehörigkeit voraussetzten. Beim Losbitten zum Beispiel legte eine unbeteiligte Person unmittelbar vor der Hinrichtung Fürbitte für den Verurteilten ein.27 Das mittelalterliche Gnadenwesen beschränkte sich keineswegs auf die Begnadigung von Verurteilten. Auch im Kontext des Ritter- und Minnewesens wurde zum Beispiel Gnade geübt: Sie bezeichnete dort die Gunst einer höhergestellten Frau gegenüber einem ihr sozial nachgestellten Mann.28 In der Frühen Neuzeit ging der Variantenreichtum des mittelalterlichen Gnadenwesens verloren. Im Zuge des allmählichen Ausbaus landesherrlicher Gewalt wurden Gnadenpraktiken vom Landesherrn als Reservatrecht beansprucht und solche, die nicht an seine Person gebunden waren, wurden Schritt für Schritt untersagt.29 Von Interesse war dabei vor allem das symbolische Kapital30 der Gnadenhoheit, das sich nicht nur zur Inszenierung von Herrschaft eignete, sondern auch zur Legitimierung von Herrschaft beitrug. Darüber hinaus wurde das Gnadenrecht auch wegen seines fiskalischen Nutzens zu einem Streitpunkt zwischen Landesherrn 23 Vgl. Krause 1971, Sp. 1715 – 1718; vgl. Becker 1989, Sp. 1521 f.; vgl. Beyerle 1910, S. 9 – 19. Zum Huldeverlust vgl. B. Diestelkamp, Stichwort: Hulde und Huldeverlust; in: HRG, 2. Bd., Berlin 1978, Sp. 255 – 259 und Sp. 259 – 262. 24 Zum Sprichwort: „Richten nach Recht oder nach Gnade“ vgl. Grimm / Grimm 1984, Stichwort: Gnade, 8. Bd., Sp. 535 – 540, bes. Sp. 535, 537; vgl. M. Neidert / W. Sellert, Stichwort: Richten nach Gnade; in: HRG, 4. Bd., Berlin 1990, Sp. 1030 – 1032; vgl. Flor 1991, S. 102 – 105. 25 Vgl. Josef Kohler, Urteile nach Recht und Urteile nach Gnade und die Fürbitte; in: Archiv für Strafrecht und Strafprozess, 60 (1913), S. 339 – 343. 26 Vgl. Fuhrmann / Kümin / Würgler 1998, S. 269, 302; vgl. Koziol 1992, S. 78, 81 – 86. 27 Belegt sind unterschiedliche Praktiken des Losbittens: Zum Beispiel konnte ein zum Tode Verurteilter durch eine Äbtissin vom Strick losgeschnitten oder durch das Heiratsversprechen einer ehrbaren Jungfrau vom Tode errettet werden. Auch der Scharfrichter durfte Gnade walten lassen: In seiner Hand lag das Leben eines jeden zehnten zum Tode Verurteilten, d. h., er konnte ihn nach dem Urteilsspruch richten oder ihm nach Gutdünken das Leben schenken – vgl. Adalbert Erler, Stichwort: Losbitten; in: HRG, 3. Bd., Berlin 1984, Sp. 47 – 48; vgl. Becker 1989, Sp. 1522; vgl. Rublack 1998, S. 96 – 104; vgl. Beyerle 1910, S. 15 – 18. 28 Vgl. Grimm / Grimm 1984, Stichwort: Gnade, 8. Bd., Sp. 540. 29 Beispielsweise war das Losbitten fortan verboten – vgl. VI 12 Art. 2 § 2 Landrecht des Königreiches Preußen von 1721; vgl. Erler 1984, Sp. 47 f. 30 Begriff in Anlehnung an Bourdieu 1976, hier II. Teil, bes. S. 335 – 357.
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und lokalen Obrigkeiten.31 Vor allem das Recht zur Begnadigung von Verurteilten versuchten die Landesherrn im Laufe des 16. Jahrhunderts als Hoheitsrecht zu gewinnen, um damit die Macht der Landstände zu schmälern. Auf Reichsebene wurde zum Beispiel mit der Strafprozessordnung Constitutio Criminalis Carolina von 1530 / 1532 das Richteramt von der Gnadenhoheit getrennt, was zur Folge hatte, dass Richter fortan kein milderes Strafmaß, als von den Gesetzen vorgeschrieben, verhängen durften.32 Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde in den Territorialstaaten des Ancien Régime das Recht zur Begnadigung von Angeklagten bzw. Verurteilten zum Reservatrecht des Landesherrn in seiner Funktion als Souverän und oberster Richter erklärt.33 Das frühneuzeitliche Begnadigungsrecht umfasst erstens das Recht, Strafen aufzuheben (ius aggratiandi), zu mildern oder umzuwandeln (ius mitigandi), auch in Form eines General-Pardon oder einer Amnestie; zweitens das Evokationsrecht, laufende Verfahren an sich zu ziehen; drittens das Recht, im Wege der Abolition bei laufenden Verfahren eine Milderung oder Niederschlagung anzuordnen; und viertens das Recht zur Wieder-Ehrlichmachung der in ihrer Ehre getroffenen Personen (restitutio famae).34 Neben der Begnadigung im engeren Sinne wurde auch die Verleihung von Privilegien zu einem landesherrlichen Gnadenakt erklärt. Beide Spielarten des Gnadenwirkens, sowohl das Recht zur Begnadigung als auch die Verleihung von Privilegien, gingen als Reservatrecht des Landesherrn in die Gesetzbücher des 18. Jahrhunderts ein.35
31 So war es z. B. üblich, dass Richter mildere Strafen verhängten, wenn die Verurteilten zusätzlich Geldbußen an sie leisteten; diese Praktik wurde in der Carolina untersagt – vgl. Plochmann 1845, S. 28 f.; vgl. Grewe 1936, S. 94. 32 Vgl. Art. 150 und 205 CCC – vgl. Josef Kohler / Willy Scheel, Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. Constitutio Criminalis Carolina, kritisch herausgegeben mit einer Falttafel, Aalen 1968 (ND der Aufl. von 1900), hier S. 80 f., 105; vgl. Krause 1971, Sp. 1718. 33 Vgl. Moser 1773, 17. Abtlg., 2.3. Teilbd., S. 2; vgl. Lueder 1860, S. 64; vgl. Beyerle 1910, S. 19; vgl. Schätzler 1976, S. 8; vgl. Grewe 1936, S. 95. 34 Zum Kanon des Begnadigungsrechts vgl. Enzyklopädien des 18. / 19. Jh. wie z. B. Justus Christoph Leist, Lehrbuch des teutschen Staatsrechts, Göttingen 1803, hier § 151, S. 483 f. und vgl. Moser 1773, 17. Abtlg., 7. Teilbd., S. 63 – 67, konkret zur Restitutio Famae vgl. ebd., S. 67 – 70 und zur Abolition vgl. ebd., S. 70 – 72; zur Abolition vgl. Samuel Oberländer (Hg.), Lexicon Juridicum Romano Teutonicum. Das ist: vollständiges Lateinisch-Teutsches Juristisches Hand-Lexicon, Nürnberg 1726, hier die Stichwörter Aboliren, Abolitio, Abolitio publica / generalis, Abolitio specialis / privata, S. 3 f. Weitere Erläuterungen dazu in der Gnadenforschung vgl. Grewe 1936, S. 12; vgl. Davidsohn 1903, S. 32 – 56. 35 Für den hier interessierenden Untersuchungsraum s. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, zur Begnadigung vgl. § 9 ALR II 13 und zur Privilegienverleihung vgl. § 7 ALR II 13.
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d) Gnadenverständnis(se) im 18. Jahrhundert Im 18. Jahrhundert wird die Begnadigung von Angeklagten bzw. Verurteilten als die „unverdiente Neigung durch Erlassung der Milderung der verdienten Strafe“36 bezeichnet – bereits in der Wortwahl spiegelt sich die huldvolle Geste des Gnadenträgers wider. Aufgrund ihres außerrechtlichen Charakters wurde die Gnade als etwas dem Recht Entgegengesetztes aufgefasst. Gnade bedeutet nach Zedlers Universal-Lexikon alles, „wozu uns kein Recht verbindet. Dahero wird Gnade dem Verdienst entgegen gesetzt.“37 Die Gegensätzlichkeit von Recht und Gnade spiegelt sich auch in zahlreichen Sprichwörtern wider: „Gnade [auch: geht] vor Recht“ oder auch „Gnade [auch: geht] für Recht“ und „Gnade ist besser denn Recht“.38 Das Gnadenrecht verpflichtete den Landesherrn dazu, sich die Bitten und Beschwerden seiner Untertanen anzuhören, um sodann seinen „Liebes-Bezeugungen derer hohen gegen die niedrigern“39 durch Gnade Ausdruck zu verleihen. In den Sprichwörtern wird Gnade stets als etwas Positives begriffen, als etwas, was sich auf eine höhere Weihe als das Recht berufen konnte. Das Verständnis und die Bewertung von Gnade im Sinne der Begnadigung von Angeklagten und Verurteilten wandelten sich vor dem Hintergrund des Aufklärungsdiskurses zum Ende des 18. Jahrhunderts: Die Entwicklung ging hin zu einem säkularisierten, rationalisierten und verrechtlichten Gnadenverständnis, welches den Handlungsspielraum des Landesherrn durch die bestehenden Gesetze beschränkt sehen wollte.40 Der französische Staatstheoretiker Charles de Montesquieu (1689 – 1755) gehört noch zu den Verteidigern des Begnadigungsrechts in einer Monarchie. Er postulierte, dass die Gnade Teil der Staatsräson sei: 36 Zit. aus: Krünitz 1780, Stichwort: Gnade, 19. Bd., S. 238 f. Im Vergleich dazu wirkt die Gnadendefinition im 19. Jh. weitaus rationaler und spiegelt damit wiederum ein gewandeltes Verständnis von Herrschaft wider: „Aufhebung einer gesetzlich verdienten Strafe durch die höchste Gewalt im Staate“ – zit. aus: Zickler, Begnadigung, Begnadigungsrecht, Abolition, Amnestie; in: Julius Weiske (Hg.), Rechtslexikon für Juristen aller teutschen Staaten enthaltend die gesammte Rechtswissenschaft, 1. Bd., Leipzig 1839, S. 791 – 813, hier S. 793. 37 Zedler 1961 / 1735, Stichwort: Gnade, 11. Bd., Sp. 1. 38 Zit. nach: Simrock 1846, S. 202 und nach: J. Eiselein (Hg.), Sprichwörter und Sinnreden des deutschen Volkes in alter und neuer Zeit, Freiburg 1840, hier S. 245 und nach: SchmidtWiegand 1996, S. 147; Deutsches Rechtswörterbuch 1939 – 1951, Stichwort: Gnade, 4. Bd., Sp. 971. 39 Zit. aus: Zedler 1961 / 1735, Stichwort: Gnade, 11. Bd., Sp. 1. Auch bei Krünitz ist die Rede von einer Monarchenpflicht – vgl. Krünitz 1801, Stichwort: Majestäts-Recht, 83. Bd., S. 9 – 11. 40 Vgl. Hupe 1954, S. 115, 118; vgl. Wever 1948, S. 97. Entwicklungen, welche die Gnade betreffen, spiegeln sich auch im Supplizieren wider: Fuhrmann, Kümin und Würgler sprechen von einem Trend des Supplikationswesens hin zur „Formalisierung und Bürokratisierung“ – vgl. Fuhrmann / Kümin / Würgler, S. 321.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen „Dans les monarchies où l’on est gouverné par l’honneur, qui souvent exige ce que la loi défend, elle [la clémence] est plus nécessaire“.41
Nach Montesquieus Verständnis basierte die monarchische Herrschaft auf der Garantie von Gesetz und Ehre. Die beiden Grundsätze konnten allerdings im Einzelfall zu einem Widerspruch der Interessen führen, wie dies beispielsweise beim Duell der Fall war: Die Ehre verlangte eine solche Genugtuung, das Gesetz hingegen untersagte sie. In der Gnade erkannte Montesquieu die Macht, durch Vergebung eine Interessenskollision für alle Seiten in befriedigender Weise aufzuheben. Auch der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) räumte der Macht der Vergebung im Gnadenwirken einen hohen Rang ein: „( . . . ) denn ihr [der Souveränität des Monarchen] nur kommt die Verwirklichung der Macht des Geistes zu, das Geschehene ungeschehen zu machen, und im Vergeben und Vergessen das Verbrechen zu vernichten ( . . . ).“42
Gnade hatte nach Hegel die Macht, das Geschehene ungeschehen zu machen. Die Macht des Geistes könne bewirken, dass die Rechtsanwendung zwar beeinflusst, das Recht aber nicht aufgehoben würde. Hegel sah hierin „eine der höchsten Anerkennungen der Majestät des Geistes“, die allein dem Monarchen gebühre.43 Von dem Großteil der Aufklärer wurde die Gnade allerdings anders bewertet: Der Macht des Souveräns begegnete man im Zeitalter der Aufklärung mit steigendem Misstrauen. Vor diesem Hintergrund wurde Gnade geradezu als Gegensatz zum positiven Recht aufgefasst und mehr und mehr mit Willkür gleichgesetzt.44 Daraus wurde der Grundsatz abgeleitet, die Gnadenpraxis nach der iusta causa aggratiandi auszurichten, was bedeutet, dass ein Gnadenakt einer Rechtfertigung bedurfte.45 Es wurden dabei Bedenken gegenüber der Gnade aufgegriffen, die bereits im 17. Jahrhundert von einigen Naturrechtlern geäußert wurden: Die Rechtsgelehrten Benedikt Carpzow (1595 – 1666) und Samuel v. Pufendorf (1632 – 1694) hatten gefordert, das Majestätsrecht auf Begnadigung einzuschränken, weil auch der Gnadenakt das ausgewogene Verhältnis von Strafzweck und Strafe zu berücksichtigen habe.46 Nach Pufendorfs Ansicht unterlag die Begnadigung daher einem 41 Charles de Montesquieu, De l’esprit des lois, hrsg. v. Gonzague Truc, 2 Bde., Paris 1949, hier 1. Bd., Livre VI, Chap. XXI, S. 101. 42 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse; in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hrsg. v. Hermann Glockner, Stuttgart / Cannstatt 1964 (ND der 4. Aufl.), hier 7. Bd., § 282, S. 392. 43 Zit. aus: Hegel 1964, ebd.; vgl. Hupe 1954, S. 96 – 107. 44 Vgl. Schätzler 1976, S. 3; vgl. Hupe 1954, S. 88; vgl. Davidsohn 1903, S. 10. 45 In ihrer Untersuchung des Gnadenverständnisses einzelner Persönlichkeiten der Aufklärung kommt auch Renate Just zu dem Ergebnis, dass diese den Grundsatz der iusta causa aggratiandi vertraten – vgl. Just 1993, S. 72 – 76. Zum Gnadenverständnis in der Naturrechtslehre vgl. auch Hupe 1954, S. 66 – 86, hier bes. S. 81. 46 Eine Begnadigung konnte aus der Sicht von Carpzow und Pufendorf etwa durch Reue, Versprechen auf Besserung oder herausragende Verdienste der zu begnadigenden Person
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Rechtfertigungszwang.47 Vor allem Pufendorfs von theologischer Dogmatik losgelöstes naturrechtliches Rechtsverständnis fand in Brandenburg-Preußen starke Beachtung.48 Im 18. Jahrhundert verschärfte sich die Kritik an der Gnade. Auch Immanuel Kant (1724 – 1804), dessen Werk in Brandenburg-Preußen in weiten Kreisen rezipiert wurde, gehörte zu den vehementen Kritikern der Gnade: „Das Begnadigungsrecht ( . . . ) ist wohl unter allen Rechten des Souveräns das schlüpfrigste, um den Glanz seiner Hoheit zu beweisen und dadurch doch im hohen Grade unrecht zu thun.“49
Wurde das landesherrliche Reservatrecht, Begnadigungen zu gewähren, meist als der Inbegriff königlicher Macht gerühmt, so geriet es bei Kant zu einem höchst ambivalenten Instrument. Seiner Ansicht nach wurde es zwar mit der Absicht eingesetzt, Unbill zu verhindern, letztlich aber leistete es dem Unrecht Vorschub: Denn die „Straflosigkeit (impunitas criminis)“ stellte nach Kants Auffassung „das größte Unrecht“ dar.50 Aus diesem Grund sprach der Philosoph dem Souverän die Berechtigung, das Begnadigungsrecht auszuüben, ab. Ähnlich hatte zuvor der italienische Strafrechtsgelehrte Cesare Beccaria (1738 – 1794) in seinem Werk Dei delitti e delle pene [Über Verbrechen und Strafen] von 1764 argumentiert, welches auch in Brandenburg-Preußen Beachtung fand. Auch Beccaria sah in der Begnadigung eines Verurteilten eine Ungerechtigkeit gegenüber der „öffentlichen Wohlfahrt“.51 Gerechtigkeit und Milde lobte er zwar als Tugenden, sie sollten jedoch nicht „in den einzelnen Urteilen“, sondern im Gesetzbuch „leuchten“.52 Als Folge eines inkonsequenten Strafvollzugs prophezeite er den Verlust der Präventionswirkung von Strafe.53 Die Gnade war für Beccaria Ausdruck einer rückständigen Gesellschaft, in der Begnadigungen als reine Willkür, als „Gewalttaten der Macht“ erscheinen mussten.54 Gewährleistete eine Herrschaft humane Strafen und gerechte Gesetze, so sprach Beccaria der Begerechtfertigt werden. Die Auffassung der beiden Rechtsgelehrten ist wiederum durch Johannes Althusius alias Althaus (1557 – 1638) und Hugo Grotius alias Huig de Groot (1583 – 1645) beeinflusst – vgl. Hupe 1954, S. 66 – 86; vgl. Samuel A. Pufendorf, De jure naturae et gentium (1672), hrsg. v. Gottfried Mascovius, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1967 (ND der Aufl. von 1759), hier 1. Bd., Lib. I, Cap. VI, § XVII, S. 108 – 110. 47 Vgl. Pufendorf 1967 / 1672, 1. Bd., Lib. I, Cap. VI, § XVII, S. 109. 48 Vgl. Hupe 1954, S. 66 – 86. 49 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797); in: Kants Werke, 6. Bd., Berlin 1914, hier § 49 E II, S. 337. 50 Zit. aus: ebd. 51 Zit. aus: Cesare Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, übersetzt von Wilhelm Alff, Frankfurt a. M. 1966 (ND der Aufl. von 1764), hier Artikel XLVI: Über Begnadigungen, S. 156 f., bes. S. 157. 52 Zit. aus: ebd., S. 156. 53 Vgl. ebd., S. 156 f., bes. S. 157. 54 Zit. aus: ebd., S. 157.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
gnadigung jede Legitimität ab. Daher rühmte er nicht die Gnade, sondern die „vollkommene Gesetzgebung“ als „das schönste Vorrecht des Thrones, ( . . . ) das erwünschteste Kennzeichen des Herrschertums“.55 Vergleichbare Einwände brachten andere Kritiker, wie beispielsweise der englische Philosoph und Rechtsgelehrte Jeremy Bentham (1748 – 1832), der Sprachforscher und Bildungstheoretiker Karl Wilhelm v. Humboldt (1767 – 1835) und der Jurist Paul Johann Anselm v. Feuerbach (1775 – 1833) vor:56 Auch sie misstrauten der Gerechtigkeit des Herrscherhandelns und erblickten darin die Gefahr der Willkür. Eindrücklich warnten sie vor dem Wirkungsverlust der Gesetze im Falle einer „unrichtigen“ Anwendung der Gnade und plädierten daher für die Einschränkung bzw. Abschaffung der landesherrlichen Gnadenpraxis.57 Zum weiteren Schutz gegen die Willkür des Souveräns durch Gnadenakte forderten verschiedene Aufklärer, dass der einzelne Untertan in seinen Rechten und mit seinem Eigentum geschützt werden solle. Monarchen, die den aufklärerischen Ideen gegenüber aufgeschlossen waren, nahmen die Aufforderung zur Selbstbeschränkung der Macht des Herrschers ein Stück weit auf – was beispielsweise auch für die Hohenzollern galt. Dies hatte dann auch Einfluss auf die Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen.58 Auch wenn sich die aufklärerische Sichtweise mehr und mehr durchsetzte, existierten im 18. Jahrhundert unterschiedliche Vorstellungen von Gnade nebeneinander, welche beispielsweise auch Ausdruck in der Literatur fanden.59 Eine philosophische Auseinandersetzung über unterschiedliche Gnadenverständnisse in Zit. aus: ebd., S. 156. Zu den Kritikern der Gnade vgl. Davidsohn 1903, S. 10 – 12; zu Bentham vgl. ebd., S. 11 f. und vgl. Hupe 1954, S. 87 – 108, zu Humboldt und Feuerbach vgl. ebd., S. 91 f. Zu den Verteidigern der Gnade vgl. Davidsohn 1903, S. 12 – 16. 57 Vgl. Hupe 1954, S. 109, S. 114, 88. 58 Zum Beispiel nahm Friedrich II. die Kritik am königlichen Machtspruch auf und verkündete, dass er vom Machtspruch keinen Gebrauch machen, sondern die Entscheidung in Rechtsfällen ausschließlich den Gerichten überlassen wolle [s. A.II.2.]. – Zum Machtspruch vgl. Werner Ogris, Stichwort: Machtspruch; in: HRG, 3. Bd., Berlin 1984, Sp. 126 – 128, hier Sp. 126. Beispielhaft zu der Haltung einzelner aufgeklärter Staatsrechtler in BrandenburgPreußen s. A.II.4. 59 Eine literarische Verarbeitung der Gnadenthematik findet sich u. a. in „Michael Kohlhaas“ von Heinrich v. Kleist, in „Libussa“ von Franz Grillparzer, in „Maß für Maß“ von William Shakespeare, in „Faust“ von Johann Wolfgang v. Goethe und in „Die Räuber“ von Friedrich Schiller – vgl. Heinrich v. Kleist, Michael Kohlhaas; in: Heinrich von Kleists Werke in sechs Teilen, hrsg. v. Hermann Gilow / Willy Manthey / Wilhelm Waetzoldt, 2. Bd., 4. Teil: Erzählungen, Berlin / Leipzig / Wien / u. a. o. J., S. 21 – 108; vgl. Franz Grillparzer, Libussa; in: Grillparzers ausgewählte Werke: in acht Bänden, hrsg. und mit Einleitungen und erläuternden Anmerkungen versehen v. Moritz Necker, 5. Bd., Leipzig 1902 (Neue Leipziger Klassiker-Ausgaben); vgl. William Shakespeare, Maß für Maß, neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Frank Günther, Cadolzburg 2004; vgl. Johann Wolfgang v. Goethe, Faust I, hrsg. v. Erich Trunz, Hamburger Ausgabe Band 3, 7. Aufl., Hamburg 1964; vgl. Friedrich v. Schiller, Die Räuber: ein Schauspiel, mit einem Kommentar von Wilhelm Grosse, Frankfurt a. M. 2005 (Suhrkamp Basis Bibliothek; 67). 55 56
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literarischer Form stellt zum Beispiel das Drama Prinz Friedrich von Homburg von Heinrich v. Kleist aus dem Jahr 1811 dar. Der Autor verleiht den unterschiedlichen rechtsethischen Positionen mit den einzelnen Protagonisten jeweils eine Stimme.60 So ist der Gnadenträger, Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, ein Befürworter des rationalen Gnadenrechts. Er sieht sich generell aus Gründen des Staatswohls und der Rechtssicherheit an das Gesetz und damit an die vom Gericht gefällten Urteile gebunden. Unter Begnadigung versteht er lediglich ein Mittel der Staatsräson, welches nur in Ausnahmesituationen angewandt werden darf.61 Prinzessin Nathalie verkörpert hingegen das lutherische Gnadenverständnis, nach welchem dem Menschen die Gnade aus reinem Mitleid und purer Barmherzigkeit, also unverdient, zuteil wird.62 Sie steht für die religiöse, konfessionell gebundene Auffassung, die in der Bevölkerung zwar verbreitet war, in der Staatssphäre aber längst keine Rolle mehr spielte. Ganz anders die Haltung des Prinzen von Homburg, der glaubt, durch seine verwandtschaftliche Verbindung mit dem Kurfürsten, vor allem aber durch seinen militärischen Erfolg, einen Anspruch auf Gnade zu haben.63 Gnade kann nach diesem Verständnis verdient werden. Für das Gnadenverständnis der militärischen Würdenträger im Prinz Friedrich von Homburg ist zum einen die kritische Einstellung gegenüber der Justiz, zum anderen der konfessionsungebundene Glaube an eine höhere Macht ausschlaggebend: Sie erblicken in der Gnade das Mittel zur Korrektur von gerichtlichen Fehlurteilen, um einem „höheren Recht“ als der positiven Rechtsnorm Geltung zu verschaffen.64 60 Zur literaturwissenschaftlichen Deutung von Kleists Werk vgl. Renate Just, Recht und Gnade in Heinrich von Kleists Schauspiel „Prinz Friedrich von Homburg“, Göttingen 1993, hier S. 95 – 122. 61 Kurfürst an seine Nichte, Prinzessin Natalie von Oranien: „Dich aber frag’ ich selbst: darf ich den Spruch, / Den das Gericht gefällt, wohl unterdrücken? / – Was würde wohl davon die Folge sein? ( . . . ).“ Kurfürst an den Obristen Kottwitz: „( . . . ) das Gesetz will ich, / Die Mutter meiner Krone aufrecht halten ( . . . ).“ – Heinrich v. Kleist, Prinz Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel; in: Heinrich von Kleists Werke in sechs Teilen, hrsg. v. Hermann Gilow / Willy Manthey / Wilhelm Waetzoldt, 1. Bd., 3. Teil: Erzählungen, Berlin / Leipzig / Wien / u. a. o. J., S. 207 – 295, hier IV. Akt, 1. Auftritt und V. Akt, 5. Auftritt, S. 269 f., 256. 62 Prinzessin Natalie von Oranien an den Kurfürsten: „O Herr! Was sorgst du doch? Dies Vaterland! / Das wird; um dieser Regung deiner Gnade, / Nicht gleich, zerschellt in Trümmern, untergehn. / Vielmehr, was du, im Lager auferzogen, / Unordnung nennst, die Tat, den Spruch der Richter, / Erscheint mir als die schönste Ordnung erst: / Das Kriegsgesetz, das weiß ich wohl, soll herrschen, / Jedoch die lieblichen Gefühle auch.“ – v. Kleist, Homburg, IV. Akt, 1. Auftritt; in: Waetzoldt (o. J.), S. 269 f. 63 Prinz von Homburg an den Grafen Hohenzollern: „Und um das Schwert, das ihm [dem Kurfürsten] den Sieg errang, / Schlingt sich vielleicht ein Schmuck der Gnade noch ( . . . ) Und er [der Kurfürst], er sollte lieblos jetzt die Pflanze, / Die er selbst zog, bloß weil sie sich ein wenig / Zu rasch und üppig in die Blume warf, / Missgünstig in den Staub daniedertreten? / Das glaubt’ ich seinem schlimmsten Feinde nicht ( . . . ).“– v. Kleist, Homburg, III. Akt, 1. Auftritt; in: Waetzoldt (o. J.), S. 260; Homburg zu sich selbst: „Mein Vetter Friedrich will den Brutus spielen ( . . . ).“ – ebd., II. Akt, 10. Auftritt; in: ebd., S. 258. 64 Obrist Kottwitz an den Kurfürsten: „Herr, das Gesetz, das höchste, oberste, / ( . . .) Das ist das Vaterland, das ist die Krone, / Das bist du selber, dessen Haupt sie trägt. / Was küm-
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
Das von Kleist solchermaßen typologisierte Spektrum an Gnadenverständnissen ist ein Beleg für die Bedeutung, die der Gnade im gesellschaftlichen Diskurs in der so genannten Sattelzeit an der Wende zum 19. Jahrhundert zukommt.
2. Supplizieren – Begrifflichkeit und Praktiken im Wandel der Zeit a) Klärung des Begriffsfeldes Gnade impliziert Flehen und Bitten – so führt die Beschäftigung mit der Gnade zum Begriffsfeld Supplizieren. Etymologisch stammt das Wort aus dem Lateinischen: supplicare als knien meint im Kontext der Fürbitte soviel wie demütig bitten, jemanden flehentlich bitten. Der Terminus supplicium bedeutet Hinrichtung bzw. harte Strafe im Zusammenhang mit Niederknien zum Empfang einer Bestrafung. Zugleich wird mit supplicium auch das Flehen und die demütige Bitte zu einer Gottheit oder zu einem Menschen bezeichnet, supplicium ist der lateinische Begriff für Bittschrift.65 Was die in der vorliegenden Studie verwandte Terminologie angeht, so orientiert sich diese am Gebrauch der Begriffe in den hier ausgewählten Quellen: In den Akten werden Supplik und Supplikation in Bezug auf ihre Anliegen inhaltlich synonym verstanden. Allein in formaler Hinsicht ist eine Differenzierung möglich: Während die Supplik das eigentliche Bittschreiben meint, bezeichnet die Supplikation das Verfahren. Daher wird hier der Begriff Supplik im Sinne des materialisierten Schriftstücks66 verwandt. Bezeichnungen wie Gesuch, Gnadengesuch, Gnadenbitte, Bitte, Bittschrift, Allerunterthänigstes Promemoria, Antrag, Vorstellung etc. werden in den hier untersuchten Quellen als Synonyme zur Supplik gebraucht. In diesem Text werden sie jedoch – mit Ausnahme der Synonyme Bitte und Gesuch – vermieden, um keine Verwirrung zu stiften. Unter Supplikation wird hier der durch eine Supplik ausgelöste Vorgang verstanden, der die Genese des Gnadenverfahrens umfasst: das Formulieren und Aufsetzen einer Bittschrift, das Einreichen, das Prüfen des Anliegens durch die Zentralbehörden, die entweder vom Justizminister respektive von den Geheimen Räten oder vom Monarchen gefasste Entscheidung über die Gnadenbitte, das Konzipieren und Mundieren des mert dich, ich bitte dich, die Regel ( . . . ).“ – v. Kleist, Homburg, V. Akt, 5. Auftritt; in: Waetzoldt o. J., S. 285. 65 Vgl. Habel / Gröbel 1989, Stichworte: supplex, supplicare, supplicatio, supplicium, alle Sp. 391 f. Zum etymologischen Hintergrund vgl. Neuhaus 1977, S. 74. Auch frühneuzeitliche Enzyklopädien verweisen auf die römischen Wurzeln des Begriffsfeldes – vgl. Zedler 1962 / 1744, Stichwort: Supplicatio, 41. Bd., Sp. 365; vgl. Krünitz 1841, Stichwort: Supplicatio, 178. Bd., S. 497 – 498. 66 In Anlehnung an die Begriffserläuterung der Supplik als Bittschreiben in frühneuzeitlichen Enzyklopädien – vgl. Zedler 1962 / 1744, Stichwort: Supplic (etc.), 41. Bd., Sp. 364 und vgl. Krünitz 1841, Stichwort: Supplik, 178. Bd., S. 499.
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Dekretschreibens an die Adresse der Supplikanten und Supplikantinnen sowie die entsprechenden Anweisungen an die Gerichte und Strafvollzugsanstalten. Unter der Fülle der dargestellten Anliegen, die in frühneuzeitlichen Suppliken vorgebracht wurden, widmet sich diese Studie ausschließlich einer Gattung, nämlich den Suppliken in Sachen Straferlass bzw. -milderung ergangener Kriminalurteile. Dieser Typus wird hier – in Abgrenzung zu Gnadensuppliken im Sinne von Bitten um persönliche Begünstigungen – als eine Variante der Justizsuppliken verstanden. Die Bezeichnungen Gnaden- und Justizsupplikationen dienen dazu, das breite Spektrum der Anliegen, die im Rahmen von frühneuzeitlichen Supplikationen vorgebracht wurden, zumindest grob zu differenzieren. Eine solche grundlegende Kategorisierung der Suppliken wird in der Oekonomisch-technologischen Encyclopädie von Johann Georg Krünitz vorgenommen: „Nach Verschiedenheit des Gegenstandes giebt es zweierlei Bittschreiben oder Suppliken; man bittet nämlich entweder um Justiz oder Gerechtigkeit, oder um eine Gnade ( . . . ).“67
Es handelt sich hierbei um eine tradierte Einteilung in unterschiedliche Kategorien des Supplizierens. So unterscheidet auch Johann Jacob Moser in seinem Werk über das deutsche Staatsrecht zwischen „pure[n] Gnadensachen“, welche keine Rechte Dritter betreffen, und „halbe[n] Justiz- oder Policey- und halbe[n] Gnadensachen“.68 Suppliken wurden aufgrund ihres Anliegens in die zentralen Kategorien Gnadensachen und Justizsachen unterteilt. Die Forschung orientiert sich bei ihrer Suche nach einer präzisen Terminologie an der zeitgenössischen Kategorisierung: Gnadensupplik bzw. -supplikation wird in der Regel für das Supplizieren in Gnadensachen und Justizsupplik bzw. -supplikation als Bezeichnung für das Supplizieren in Justiz- und Verwaltungssachen verwandt.69 Dabei meint Gnadensupplik bzw. -supplikation die Bitte um Gewährung einer Gunst, welche beispielsweise in der Verleihung von Privilegien, Dispensen und Lizenzen bestand.70 Anliegen von Gnadensupplikationen konnten beispielsweise folgende sein: Steuernachlass anlässlich einer Hochzeit oder Kindstaufe, Einsetzung bzw. Versetzung in Ämter der Verwaltung, des Militärs oder der Kirche, Befreiung vom Zunftgeld, Besoldungsaufbesserungen, Stipendien, Armenunterstützung, Hilfe für Waisen, Geleiterteilung für Fremde etc.71 Krünitz 1841, Stichwort: Supplik, 178. Bd., S. 499. Zit. aus: Moser 1773, 17. Abtlg., 7. Teilbd., S. 1 f. Den beiden Kategorien fügte der Staatsrechtler eine weitere hinzu: zum ersten die Gattung der Gnaden und Freiheiten, die allein eine Person betreffen, zum zweiten die Gattung, die Personen und Sachen angeht und zum dritten allein auf Sachen bezogene Anliegen – vgl. ebd., S. 2. 69 Neben den Bezeichnungen Gnaden- / Justizsupplik bzw.- supplikation wird auch der Begriff Rechtssupplik / -supplikation [s. u.] gebraucht – vgl. Hülle 1973, S. 194, allerdings mit Änderungsvorschlägen [s. u.]; mit Quellenbeispielen vgl. Neuhaus 1978, S. 116 – 172; vgl. Neuhaus 1977, S. 114 – 128; vgl. Ulbricht 1996, S. 150 f.; vgl. Schwerhoff 2000, S. 476 f. 70 Vgl. Deutsche Encyclopädie 1778, Stichwort: Gnadensachen, 12. Bd., S. 711 – 712. 71 Vgl. Neuhaus 1978, S. 116 – 132 und vgl. Schwerhoff 2000, S. 478 – 483. Neuhaus spricht hier ausdrücklich von Gnadensupplikation, allerdings subsumiert er ebenfalls die 67 68
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
Begrifflich sind die Justizsuppliken / -supplikationen von den Gnadensuppliken / -supplikationen zu unterscheiden. Zedler erläutert diese Spielart des Supplizierens folgendermaßen: „( . . . ) die geführte schrifftliche Beschwerde über einig erlittenes Unrecht, mit angeführter Bitte, ihm kürtzlich zu Erstattung desselben zu verhelffen, oder den Weg Rechtens darüber zu verstatten, oder endlich auch das in Sachen vorher gefällte Urtheil, wodurch man sich allzusehr beschwert zu seyn befindet, oder glaubet, nach vorhergegangener Revidirung derer darüber gehaltenen Acten zu mildern, und zu verbessern.“72
Der Sammelbegriff Justizsupplik / -supplikation bezeichnet demnach Anliegen, welche die Justiz, das Recht oder die Verwaltung betreffen. Wie vielfältig die hierunter subsumierten Anliegen waren, vermittelt der Krünitz in seiner Erläuterung zur Supplik: „Die Bittschriften, worin um Justiz gebeten wird, sind wieder sehr mannigfaltig, und hierher gehören: die Klagelibelle, die Exceptionsschriften, die Repliken, die Dupliken, die Bittschriften um ein Mandat, um Wiederherstellung in den vorigen Stand, die Appellations-, Revisions-Libelle ec. ec.“73
Unter Justizsupplik / -supplikation werden Bitten um Zulassung zu einem Prozess, Beschwerden oder Klagen gegenüber obrigkeitlichen Entscheidungen sowie Bitten um Milderung von Gerichtsurteilen subsumiert. Charakteristikum der Justizsupplik / -supplikation ist, dass stets eine Gegenpartei involviert war.74 Dieser Kategorie ordnet Helmut Neuhaus Bitten aus dem Bereich zivilrechtlicher Konfliktlösungen zu, wie zum Beispiel Ansprüche auf Schuldeinlösungen, Anerkennung von Rechtsverhältnissen zur Besitzstandswahrung, Einlösen von Eheversprechen, Heiratserlaubnisse etc.75 Neuhaus zufolge fallen Supplikationen aus dem strafrechtlichen Bereich – konkret aus dem hier relevanten Bereich der Straf- und Bußsachen – ebenfalls unter die Bezeichnung Justizsupplikation.76 Karl Härter hingegen schlägt eine weitergehende Differenzierung der Justizsupplikationen in Angelegenheiten zivil- oder strafrechtlicher Natur vor.77 Für das brandenburgpreußische Supplikationswesen erscheint eine solche Kategorisierung nicht nur Bitten um peinlichen Straferlass darunter – vgl. ebd., S. 124. Eine solche Zuordnung wird hier nicht mitgetragen, da diese Variante nach Auffassung der Verfasserin eindeutig dem Rechts-, Justiz- und Verwaltungsbereich angehört und somit unter die Kategorie Justizsupplik bzw. -supplikation fällt. 72 Zedler 1962 / 1744, Stichwort: Supplic (etc.), 41. Bd., Sp. 364. 73 Krünitz 1841, Stichwort: Supplik, 178. Bd., S. 499. 74 Vgl. Ulbricht 1996, S. 151. 75 Vgl. Neuhaus 1978, S. 138 – 172. 76 Im Hinblick auf die Zuordnung der Straf- und Bußsachen verstrickt sich Neuhaus in einen Widerspruch: Während er diese Anliegen der Justizsupplikation zuschreibt, zählt er zugleich Bitten um Begnadigung von peinlichen Strafen sowie die Befreiung von Bußzahlungen unter die Gnadensupplikation – vgl. ebd., S. 124, 139. Zu Anliegen von Justizsupplikationen im Bereich der Strafjustiz vgl. Härter 2005, S. 246. 77 Vgl. Härter 2005, S. 245.
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sinnvoll, sondern auch machbar. Die Feststellung von Andreas Würgler, dass sich die Unterscheidung von Gnaden- und Justizsupplikation nicht an den Quellen nachvollziehen lasse,78 kann zumindest für diesen Untersuchungsraum nicht bestätigt werden: Der hier untersuchte Bestand enthält – neben anderen Dokumenten – ausschließlich Justizsuppliken zu Strafrechtsfällen; davon getrennt sind Gnadensuppliken, die in einem anderen Bestand mit der Bezeichnung Begnadigungen vorliegen.79 Kritik an den zeitgenössischen Begriffen Gnaden- und Justizsupplik übt Werner Hülle. Er ist der Meinung, dass der Begriff Justizsupplik als Abgrenzung zur Gnadensupplik zu eng gefasst sei, da die unter Justizsupplik subsumierten Bitten als „Abwehrmittel“ gegen „drohenden Rechtsverlust“, aber genauso als „Anfechtungsmittel“ gegen „rechtsverletzendes Handeln“ eingesetzt wurden.80 Daher plädiert Hülle dafür, den Ausdruck Justizsupplik durch den weiter gefassten Terminus Rechts-Supplik zu ersetzen, um auf diese Weise eine Unterscheidung zur GnadenSupplik herzustellen.81 Die Rechts-Supplik ist laut Hülle: „( . . . ) das ungeschriebene, aber dauernd geübte Schutzmittel, das auf ein verletztes oder gefährdetes Rechtsgut des Petenten oder ein ihn belastendes Justizgeschehen ( . . . ) bezogen und zumeist dem Landesfürsten als dem Hort des Rechtes zur unmittelbaren Abhilfe unterbreitet wurde.“82
Unter Rechts-Supplik soll das außergerichtliche, formlose Schutzmittel verstanden werden. Diesem Vorschlag folgend müsste man die hier verhandelten Bitten um Erlass bzw. Milderung der Strafe als ein außergerichtliches Abwehr- oder Anfechtungsmittel interpretieren und als Rechts-Supplik bezeichnen. In Abgrenzung zu dieser Funktion schlägt Hülle vor, den Begriff Supplikation in Anlehnung an die supplicatio des antiken römischen Rechts nur für das „formalisierte Rechtsmittel gegenüber richterlichen Erkenntnisakten“ zu verwenden.83 Hülles Terminologie erweist sich insofern als problematisch, als die Differenzierung zwischen Supplik und Supplikation nicht dem Sprachgebrauch der Frühen Neuzeit entspricht.84 Auf Brandenburg-Preußen kann Hülles Terminologie nicht Vgl. Würgler 2005, S. 19 – 23. Zum Beispiel Begnadigungen mit Häusern, Äckern, Weinbergen, Wiesen, Gärten, Fischereien, Bierbrauereien, Jagdrecht, Pachtbefreiungen, Befreiungen von öffentlichen Abgaben, Kontributionen und Einquartierungen, Gnadengehalt, Kostgeld, Unterstützungen etc. – vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 9, Lit. CC – DD. 80 Zit. aus: Hülle 1973, S. 194. 81 Vgl. ebd. 82 Ebd., S. 197. 83 Zit. aus: ebd., S. 198 und vgl. ders., Stichwort: Supplikation; in: HRG, Berlin 1991, Sp. 91 – 92; zum römischen Recht vgl. ders. 1973, S. 195 f. Diese von Hülle vertretene Rezeptionsthese ist allerdings kritisch zu sehen – vgl. Blickle 2000, S. 275 f., Anm. 44. 84 Weder für Bayern, Kurmainz oder Köln kann die definitorische Unterscheidung von Supplik und Supplikation nachvollzogen werden – vgl. Blickle 2000, S. 281, Anm. 70; vgl. Härter 2005, S. 245; vgl. Schwerhoff 2000, S. 477. Dass Hülles Terminologie Widersprüche 78 79
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übertragen werden: In Edikten und Verordnungen sowie in den Fallakten werden Supplikationen im Sinne von Hülle als Supplicat, Supplique, Beschwerde, Gesuch, Vorstellung etc. bezeichnet; selten stößt man hingegen auf den Begriff Supplikation.85 Auch in frühneuzeitlichen Nachschlagewerken kann die von Hülle konstruierte Definition nicht nachvollzogen werden: Zedler widmet zwar der Supplik wie der Supplikation je einen gesonderten Artikel, jedoch liegt dem keine klare terminologische Trennung im Sinne von Werner Hülle zugrunde.86 Ausführlich mit dem begrifflichen Kontext beschäftigt sich das Lexicon Juridicum Teutonicum: Doch während supplicatio und supplicationis remedium als verfahrenstechnische Bezeichnungen verwandt werden, fehlt der Begriff Supplik.87 Daraus folgt, dass Supplik und Supplikation offenbar nicht als ein relevantes Gegensatzpaar aufgefasst wurden, wie Hülle es versteht. Die Problematik zeigt, dass man dem Phänomen eher gerecht wird, wenn man die Begrifflichkeit aus den Quellen statt aus theoretischen Überlegungen ableitet. Daher orientiert sich die vorliegende Studie nicht an Hülles ambivalenter Terminologie.
b) Zur Geschichte des Supplizierens Man muss akzeptieren, dass die Wurzeln des Bittwesens in „verfassungsgeschichtlichen Nebelzonen“88 liegen und die Erforschung des angeblichen Ursprungs auf Spekulation aufbaut. Geht man indes von der etymologischen Herkunft des Begriffes Supplizieren aus, so lässt sich eine Traditionslinie bis zum Römischen Reich verfolgen: Unter supplicatio ist im Zivilprozess der Kaiserzeit die Eingabe von Bittschriften von Privatpersonen an den Kaiser zu verstehen. In der nachklassischen Zeit entwickelte sich diese Institution zum ordentlichen Rechtsmittel des Appellationsersatzes.89 Das Supplikationswesen überlebte den fördert, zeigt sich beispielsweise in folgenden Studien, die mit seinen Begriffen arbeiten – vgl. Neuhaus 1978, S. 120 f.; vgl. Ulbricht 1996, S. 151 f. Zur Kritik an Hülles Terminologie vgl. Blickle 2000, S. 281 f., s. auch Anm. 73 – 75. 85 Zu Edikten und Verordnungen vgl. Corpus Constitutionum Marchicarum und Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium Praecipue Marchicarum, hrsg. v. Christian Otto Mylius [s. A.II.]; zu den Fallakten vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 49 [s. A.III.]. 86 Vgl. Zedler 1962 / 1744, Stichwort: Supplicatio, 41. Bd., Sp. 364 – 369, und Stichwort: Supplic (etc.), ebd., Sp. 364. Bereits Renate Blickle hat darauf verwiesen, dass die Begriffe Supplikation und Supplik häufig synonym verwandt werden – vgl. Blickle 2000, S. 281, Anm. 70. 87 Vgl. Oberländer 1726, Stichwort: Supplicatio, S. 673 und Stichwort: Supplicationis Remedium, S. 673 und Stichwort: Supplicans, S. 673 und Stichwort: Supplicare, S. 673 und Stichwort: Suppliciter, S. 673. 88 Zit. aus: Kumpf 1983, S. 23. 89 Zur supplicatio an den römischen Kaiser vgl. Neuhaus 1977, S. 74 – 78; vgl. Hülle 1973, S. 195 f. In der Vorkaiserzeit meint supplicatio den im römischen Reich öffentlich begangenen „Bußtag“ bzw. „das Dankfest„ mit Opfern sowie Dank- und Bittgebeten zur Versöhnung der Götter.
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Niedergang des römischen Reichs, nur dass es sich nun an anderen Adressaten orientierte. Zum Beispiel sind seit dem 5. Jahrhundert Suppliken an den Papst nachgewiesen, institutionalisiert wurde das päpstliche Supplikationswesen im 14. Jahrhundert mit der Einrichtung der Poenitentiaria Apostolica.90 Das frühmittelalterliche Bittwesen war vor allem auf den König ausgerichtet, dem als Inhaber der Gerichtsgewalt nicht nur die Rechtsprechung, sondern auch die Pflicht oblag, sich die Nöte und Bitten der Untertanen anzuhören.91 Erste Ansätze, dem Bittwesen ein geregeltes Verfahren zu geben, finden sich im 13. Jahrhundert.92 In den deutschen Sprachraum gelangte der lateinische Begriff Supplikation erst um 1500 im Zuge der Rezeption des römischen Rechts.93 Eine allmähliche Verbreitung erfuhr der Begriff schließlich durch die starke Zunahme des Schriftverkehrs im 16. Jahrhundert und hielt sich – seit Ende des 17. Jahrhunderts häufig in seiner französischen Form supplique – bis etwa 1800.94 Parallel zum Nieder90 Die Supplikenregister dokumentieren zum einen Gesuche in Justizsachen und zum anderen Bitten um allgemeine Gnadenerweise. Sowohl Laien als auch Geistliche baten den Pontifex maximus um die Gewährung von Dispensen (z. B. bei nicht erlaubten Heiratsverbindungen oder bei nichtehelicher Geburt) und Absolutionen (z. B. für kirchliche Weihen), um die Aufhebung einer angedrohten Exkommunikation oder um die Lossprechung von Gelübden, Fasten- und Beichtgeboten, aber auch von Delikten. Als Quellenedition vgl. Repertorium poenitentiariae Germanicum 1996 – 2002. Zur Entwicklung des päpstlichen Supplikationswesens vgl. Neuhaus 1977, S. 79 – 83; vgl. Hélène Millet, Introduction; in: dies. (Hg.), Suppliques et requêtes: Le gouvernement par la grâce en Occident (XIIe – XVe siècle), les actes du colloque international organisé à Rome les 9, 10 et 11 novembre 1998 par l’École française de Rome, Rom 2003 (Collection de l’École française de Rome; 310), S. 1 – 18; vgl. Anne-Marie Hayez, Les demandes de bénéfices présentées à Urbain V: une approche géographico-politique; in: ebd., S. 121 – 150; vgl. Pascal Montaubin, L’administration pontificale de la grâce au XIIIe siècle: l’exemple de la politique bénéficiale; in: ebd., S. 321 – 342; vgl. Patrick Zutshi, The Origins of the Registration of Petitions in the Papal Chancery in the First Half of the Fourteenth Century; in: ebd., S. 177 – 191 und vgl. weitere Beiträge in diesem Sammelband. 91 Vgl. Neuhaus 1977, S. 83 – 87. 92 Eine erste Regelung fand das Supplikationswesen bspw. in der sizilianischen Kanzleiordnung von Friedrich II. – vgl. Neuhaus 1977, S. 85 – 87. 93 Es ist zu vermuten, dass der Landesherr – in seinem Bestreben, die Gnade zu seinem Reservatrecht zu deklarieren – das Gnadenbitten durch ältere Rechtstraditionen zu legitimieren suchte und sich dabei auf das römische Recht berief, welches in jener Epoche eine Renaissance erlebte. So waren es die fürstlichen Kanzleien, welche den Begriff Supplikation aus der römischen Rechtssprache aufnahmen. Der Begriff Supplikation erscheint beispielsweise in den Mandaten und Landesordnungen von Tirol, Württemberg und Bayern – vgl. Blickle 2000, S. 274, Anm. 41; zu Württemberg vgl. Fuhrmann / Kümin / Würgler 1998, S. 288. 94 Vgl. Blickle 2000, S. 274. Zu Herkunft und Gebrauch (mit Beispielen) der Begriffe vgl. Grimm / Grimm 1984, Stichwort: Supplizieren, 20. Bd., Sp. 1253 – 1255; Stichwort: Supplik, ebd., Sp. 1249; Stichwort: Supplikat, ebd., Sp. 1251; Stichwort: Supplikation, ebd., Sp. 1251 f.; s. auch Stichwort: Supplikantie, ebd., Sp. 1251 bzw. bis zum 16. Jahrhundert auch Stichwort: Supplikatz, ebd., Sp. 1253; vgl. auch Stichwort: Supplikant, ebd., Sp. 1250 f. und Stichwort: Supplikantin, ebd., Sp. 1251. Helmut Neuhaus datiert die allmähliche Ablösung der lateinischen Wurzel des Begriffes durch Verbreitung der französischen Wortform supplique auf die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert – vgl. Neuhaus 1977, S. 88; vgl. Grimm / Grimm 1984, Stichwort: Supplikation, Sp. 1252.
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gang des Obrigkeitsstaates im Laufe des 19. Jahrhunderts verschwand allmählich die Bezeichnung Supplikation. Die Funktion des Supplizierens blieb jedoch im Kern erhalten und spiegelt in Bezeichnungen wie Petition, Eingabe oder später auch Antrag das gewandelte Verhältnis zwischen Staat und Staatsbürgern wider.95 Mit der Bezeichnung Supplikation verband sich keineswegs ein neuartiges Phänomen; vielmehr wurde die längst bestehende Einrichtung des Bittwesens lediglich neu benannt, wie Renate Blickle feststellt: „Mit der Supplikation importierte man Ende des Mittelalters keine Institution, sondern ein Wort. Einer existenten Einrichtung wurde ein neues Etikett verpaßt.“96
Auch Otto Ulbricht und Gerd Schwerhoff bestätigen die These von Helmut Neuhaus, dass das Supplizieren ein „überlieferter Brauch“ ist, der geradezu als „konstitutiv für jedes Gemeinwesen“ anzusehen ist, welcher aber erst im Laufe der Frühen Neuzeit zu geschriebenem Recht wurde.97 Bereits die Forschung des 19. Jahrhunderts spricht im Hinblick auf das Recht, Bitten bzw. Petitionen und Beschwerden vorzubringen, von einer „Urinstitution der staatenbildenden Gesellschaft“98, welches im Prinzip „zu jeder Zeit gestattet war“.99 Mit Rosi Fuhrmann, Beat Kümin und Andreas Würgler wird hier davon ausgegangen, dass es sich beim Supplizieren um einen „in nahezu allen Kulturen und Epochen rege benutzten Kommunikationskanal zwischen Untertanen und Obrigkeit“ handelt.100 95 Vgl. Grimm / Grimm 1984, Stichwort: Supplik, 20. Bd., Sp. 1249; vgl. Fuhrmann / Kümin / Würgler 1998, S. 303; vgl. Neuhaus 1977, S. 311, Anm. 69; vgl. Rosegger 1908, S. 104. Bei der Entwicklung vom demütigen Supplizieren hin zum Petitionieren i. S. von politischen Forderungen sei hier am Rande auf die Bedeutung der Gravamina als Wegbereiter hingewiesen: In ihnen wandten sich Kommunen oder Landstände mit ihren Bitten politischen Inhalts korporativ an den Landesherrn. Zum Begriff vgl. Würgler 2005, S. 19 – 23, zu Forschungsfeldern S. 23 – 28, zu Resultaten S. 29 – 33. Der Terminus Petition ist keine Erfindung des 19. Jh., sondern wurde bereits im Frühmittelalter im Kontext des Supplizierens verwandt, so z. B. im frühmittelalterlichen Frankreich – vgl. Koziol 1992. Beispielhaft zur sozialgeschichtlichen Forschung zum Petitionswesen im 19. Jh. vgl. Fuhrmann 1998; vgl. Würgler 1998; vgl. Eibach 1994; vgl. Mohme 1992; vgl. Tenfelde / Trischler 1986; vgl. Kumpf 1983; als Quellensammlung vgl. Conze / Zorn 1994. 96 Blickle 2000, S. 275. 97 Zit. aus: Neuhaus 1978, S. 114, 113; vgl. ders. 1977, S. 97; vgl. Ulbricht 1996, S. 152; vgl. Schwerhoff 2000, S. 476. 98 Zit. aus: Rosegger 1908, S. 1. Dazu vgl. auch August Theodor Woeniger: „Das heiligste, unveräußerlichste Recht eines jeden Volks ist das Petitionsrecht, DAS RECHT DER BITTE, sei es nun des Einzelnen, der Corporation, der Commun oder der ganzen Nation an die verfassungsmäßigen Leiter und Regierer des Staats.“ – Woeniger 1847, S. 11; vgl. Bornhak 1901, S. 405 f. 99 Zit. aus: Martin Haß, Die kurmärkischen Stände im letzten Drittel des sechzehnten Jahrhunderts, München / Leipzig 1913, S. 78. 100 Zit. aus: Fuhrmann / Kümin / Würgler 1998, S. 267; vgl. Würgler 2001, S. 16. Das Supplizieren stellt eine Kommunikationsform dar, die auch in anderen Kulturen praktiziert wurde und wird. Beispielhaft zur griechischen Antike vgl. R. Zelnick-Abramovitz, Supplication and Request: Application by Foreigners to the Athenian Polis; in: Mnemosyne 51 (1998), S. 554 –
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Vor diesem Hintergrund ist die so genannte Rezeptionsthese fragwürdig, welche besagt, dass das Auftauchen der Supplikation in der deutschen Sprache mit den Anfängen des Supplikationswesens gleichzusetzen sei.101 Mit dieser Behauptung wird die frühneuzeitliche Supplikation auf eine Rezeption der römischen Rechtstradition reduziert. Die Kritik an dieser These schließt allerdings nicht aus, dass sich einzelne Aspekte des frühneuzeitlichen Supplikationswesens tatsächlich am römischen Recht anlehnten. Als problematisch wird hier jedoch angesehen, dass damit eine „höchst fragwürdige Kontinuitätenkette“102, so die Kritik von Renate Blickle, konstruiert wird, und alle nicht-römischen Wurzeln und Praktiken des Bittwesens damit ausgeblendet werden. Die Tatsache, dass sich hinter dem zeitgenössischen Begriff Supplikation eine Vielfalt an inhaltlichen Zielsetzungen und Formen je nach Absender und Adressat verbirgt, erklärt Renate Blickle damit, dass ursprünglich unterschiedliche Praktiken wie Beschwerde, Klage, Bitte oder Petition unter dem Begriff Supplikation subsumiert wurden: „Bei seiner Einführung in die deutsche Sprache war dem Terminus Supplikation die Funktion eines verwaltungstechnischen Pauschalbegriffs übertragen worden, unter dessen Fittiche alles geschoben werden konnte, was an Initiativen von seiten der Untertanen an den Landesfürsten herangetragen wurde. Man subsumierte dem Begriff die Instrumente der Untertanen, die ihnen legal ermöglichten, in Form von Wünschen, Bitten, Beschwerden, Klagen, Benachrichtigungen der Obrigkeit gegenüber auf direkte Weise Position zu beziehen und Meinung zum Ausdruck zu bringen.“103
Für die These spricht auch, dass neben dem Begriff Supplik stets eine Reihe von Synonymen – wie zum Beispiel Suchen, Bitten, Anbringen, Vorstellung, Memorial bzw. Memorabile104 oder Desideria105 – im Umlauf waren, deren etymologische 573; zu Altägypten vgl. Oktave Guérod, Enteuxeis: requêtes et plaintes adressées au roi d’Egypte au IIIe siècle avant J.-C., Hildesheim 1988; zu Russland vgl. Margareta Mommsen, „Hilf mir, mein Recht zu finden“. Russische Bittschriften von Iwan dem Schrecklichen bis Gorbatschow, Frankfurt a. M. / Berlin 1987; zu Japan vgl. L. S. Roberts, The Petition Box in 18th Century Tosa; in: Journal of Japanese Studies 20 (1994), S. 423 – 458; weitere außereuropäische Beispiele aus den Vereinigten Staaten von Amerika, China, Indien, Lateinamerika und aus dem slawischen Raum vgl. van Voss 2001. 101 Die Rezeptionsthese wird u. a. von Eberhard Schmidt, Werner Hülle und Gero Dolezalek vertreten – vgl. Hülle 1973, S. 197; vgl. Hülle 1998, Sp. 91; vgl. Dolezalek 1998, S. 95; vgl. Eberhard Schmidt, Die Maximilianischen Halsgerichtsordnungen für Tirol (1499) und Radolfzell (1506) als Zeugnisse mittelalterlicher Strafrechtspflege, Schloss Bleckede a. d. Elbe 1949, S. 205. Seine These stützt Schmidt auf den Begriff Supplication, der in den Halsgerichtsordnungen des 15. Jahrhunderts verwandt wurde, z. B. Verordnung von Erzherzog Sigmund vom 7. März 1487, S. 112 – 114, hier S. 114. Zur Kritik an der Rezeptionsthese vgl. Blickle 2000, S. 275 f. 102 Zit. aus: Blickle 2000, S. 276. 103 Ebd., S. 278. Zum Spektrum der Anliegen und Verfahren vgl. Dolezalek 1998, Sp. 96; vgl. Neuhaus 1979, S. 88. 104 Vgl. Meisner 1950, S. 181; vgl. Würgler 2005, S. 19 – 23. Als Beispiel zur Varianz der Begrifflichkeit vgl. Cecilia Nubola, Supplications between Politics and Justice: The Northern
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Wurzeln vor Beginn des 16. Jahrhunderts zu datieren sind. Rosi Fuhrmann, Beat Kümin und Andreas Würgler erklären die summarische Bezeichnung von Bitten, Beschwerden und Klagen als Supplikation als ein Phänomen der Territorialisierung, in deren Verlauf die Territorialherren bestrebt waren, das Recht, die Gerichtsbarkeit, die Friedewahrung und Konfliktbewältigung zu vereinheitlichen und zu zentralisieren.106 In dem Maße, in dem die Obrigkeit die Zuständigkeit für alle Angelegenheiten, die als Bitte vorgetragen wurden, für sich beanspruchte, gelang es ihr zunehmend, Rechtsstreitigkeiten und Interessenkonflikte in großer thematischer Breite dem Primat landesherrlicher Friedewahrung und Rechtsetzung zu unterwerfen und damit an sich zu ziehen. Den supplizierenden Untertanen und Untertaninnen wurde damit für eine Vielzahl von Anliegen eine „scheinbar umfassend legitimierte gnädige Obrigkeit“ als Adressat angeboten, die über das Monopol legitimer Gewaltanwendung verfügte. So gesehen kann man das Supplikationswesen als erfolgreiche Institutionalisierung des staatlichen Gewaltmonopols zur Sicherung des sozialen Friedens interpretieren.107 Eine Annäherung an das, was man im 18. Jahrhundert unter dem Begriffsfeld Supplik bzw. Supplikation verstand, bieten frühneuzeitliche Enzyklopädien. Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexikon definiert Supplik als: „( . . . ) eine demüthige, flehentliche, und bewegliche Bitte, ins besondere aber eine BittSchrifft, ein unterthänig Bitt-Schreiben ( . . . ).“108
Supplik bezeichnet eine Bittschrift, in der um eine Gunst gefleht wird, die der Adressat nicht notwendig zu gewähren braucht. Wie das Wort unterthänig andeutet, wurde eine Bitte üblicherweise von einem Tiefergestellten an einen Höhergestellten and Central Italian States in the Early Modern Age; in: Petitions in Social History; in: International Review of Social History 46 (2001); Supplement 9: Petitions in Social History, hrsg. v. Lex Heerma van Voss, S. 35 – 56. Cecilia Nubola untersucht für den nord- und zentralitalienischen Raum die unterschiedlichen Supplikationstypen (u. a. anonyme Denunziationen) mit ihren spezifischen Anliegen im Zusammenhang mit der Gnadenpraxis des jeweiligen Gnadenträgers. 105 Zum Begriff Desideria vgl. Andreas Würgler, Desideria und Landesordnungen. Kommunaler und landständischer Einfluss auf die fürstliche Gesetzgebung in Hessen-Kassel 1650 – 1800; in: Peter Blickle (Hg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, Beiheft 25 der Historischen Zeitschrift, München 1998, S. 149 – 208. 106 Vgl. Fuhrmann / Kümin / Würgler 1998, S. 288. 107 Zit. aus: Fuhrmann / Kümin / Würgler 1998, S. 288 f. Auch André Holenstein geht davon aus, dass die landesherrliche Obrigkeit rechts- und verwaltungsrelevante Vorgänge durch gesetzliche Vorgaben zum Supplizieren gezielt bewilligungspflichtig machte, um auf zentralstaatlicher Ebene ein Instrument zu schaffen, mit dem die Obrigkeit in Einzelfällen direkt Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen im Sinne ihrer Policeygesetze nehmen konnte – vgl. Holenstein 1998, S. 357; vgl. ders. 2005, S. 171, 189. 108 Zedler 1962 / 1744, Stichwort: Supplic (sowie Supplicat, Supplication und Supplications-Schrifft), 41. Bd., Sp. 364. Ähnlich definiert Krünitz die Supplik als „das Bittschreiben, die Bittschrift, ein schriftlicher Aufsatz, worin man einen Obern um etwas bittet.“ – Krünitz 1841, Stichwort: Supplik, 178. Bd., S. 499 – 501, hier S. 499.
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gerichtet; jedoch gibt es vereinzelt auch die Konstellation, dass ein Höhergestellter an einen Tiefergestellten supplizierte, so vor allem im privaten Umfeld.109 Über die Ungewissheit, wie über eine Supplik entschieden wird, berichtet zum Beispiel das Sprichwort: „Gnade hat kein Warum, ist [auch: wie] Ebbe und Flut“.110 Trotz oder gerade wegen der Unberechenbarkeit der Gnade darf die Bedeutung des Supplizierens für die Herrschaftspraxis der Frühen Neuzeit nicht unterschätzt werden. Das Supplizieren stellt faktisch ein den Untertanen – unabhängig vom Geschlecht, von der Standes- und Religionszugehörigkeit – zustehendes „Grundrecht“ dar, bevor es als solches durch Verfassungen im modernen Sinne garantiert wurde. Renate Blickle sieht im „Grundsatz der Allzugänglichkeit“ das entscheidende Merkmal des Supplizierens.111 Dies betont auch ein Sprichwort, das besagt: „Supplicieren und Appelieren ist Niemand verboten“.112 Die Forschung ist sich darin einig, dass „sich alle Stände des Mittels der Supplikation bedienten, vom Hausarmen bis zum Landesherren“113, dass Vertreter aller Berufe und Rangstufen114 ihre Bitten „als „einzelne oder als Abgeordnete einer Gemeinde oder Gruppe“115 ihrer jeweiligen Obrigkeit vorbringen konnten. Bislang ist die Forschung allerdings den Beweis schuldig geblieben, ob die Allzugänglichkeit des Supplizierens tatsächlich auch für Angehörige aller Religionen116, für alle ethnischen und randständigen Gruppen wie etwa Vaganten galt [s. B.II.1.b)]. 109 Mit Supplikationen an Privatpersonen befasst sich schwerpunktmäßig eine Publika-tion des Forschungsprojekts des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient – vgl. Cecilia Nubola / Andreas Würgler (Hg.), Forme della comunicazione politica in Europa nei secoli XV – XVIII. Suppliche, gravamina, lettere / Formen der politischen Kommunikation in Europa vom 15. – 18. Jahrhundert. Bitten, Beschwerden, Briefe, Contributi / Beiträge zur Tagung vom 29. November bis 1. Dezember 2001, Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, Quaderni 14 / Bologna / Berlin 2004, (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient; 14). 110 Zit. aus: J. Eiselein 1840, S. 245 und Simrock 1846, S. 202. 111 Zit. aus: Blickle 2000, S. 278. 112 Zit. nach: Eiselein 1840, S. 585 und Simrock 1846, S. 544 und Schmidt-Wiegand 1996, S. 291. 113 Zit. aus: Fuhrmann / Kümin / Würgler 1998, S. 269; vgl. Würgler 2001, S. 16. 114 Vgl. Ulbricht 1996, S. 152, hier in Anlehnung an Neuhaus’ Aufzählung der in der Liste des Regensburger Reichstags von 1546 alphabetisch aufgeführten Supplikanten und Supplikantinnen: „Ob Reichsstand oder einfachster Untertan, ob Adeliger oder Bürger, Geistlicher oder Weltlicher, Mann oder Frau, ob Kurfürst, Fürst, Graf, Ritter oder Prälat, ob Bürgermeister oder Ratsherr, ob Erzbischof, Bischof, Abt, Prior, Kanonikus oder Priester, ob Sekretär, Schreiber, Wundarzt und Barbier, Richter, Leinenweber, Buchdrucker oder Metzger ( . . . ).“ – Neuhaus 1977, S. 299. 115 Zit. aus: Blickle 2000, S. 278. 116 Einzig zu Supplikationen von (Schutz-)Juden liegen Ergebnisse vor – vgl. André Holenstein, Bitten um den Schutz. Staatliche Judenpolitik und Lebensführung von Juden im Lichte von Schutzsupplikationen aus der Markgrafenschaft Baden(-Durlach) im 18. Jahrhundert; in: Rolf Kießling / Sabine Ullmann (Hg.), Landjudentum im deutschen Südwesten während der Frühen Neuzeit, Berlin 1999, S. 97 – 153; vgl. ders. 2003, S. 351.
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Der Grundsatz des freien Zugangs der Untertanen zum Souverän korrespondierte mit dem Gnadenrecht des Landesherrn [s. A.I.1.c)]. Das paternalistische Herrschaftsverständnis verpflichtete den Landesherrn, sich die Beschwerden seiner Untertanen anzuhören und seiner „Liebe“117 gegenüber dem Volk im Gnadenwirken Ausdruck zu verleihen. Ignorierte eine Obrigkeit indes die Bitten ihrer Untertanen, so haftete sich ihr unweigerlich „eine Fama von Amtsmißbrauch, Härte und Unfähigkeit“ an, die letzten Endes die Legitimation ihrer Herrschaft untergraben konnte.118 Supplikationen konnten in einem gewissen Maße Handlungsdruck erzeugen.
II. Die rechts- und verwaltungsgeschichtliche Dimension: Das Gnaden- und Supplikationswesen in Brandenburg-Preußen im Spiegel der Edikte und Verordnungen im Kontext des Normativitätsdiskurses 1. Das Supplizieren und Begnadigen im Spannungsfeld von Herrschaftsinstrument und Missbrauch (15. – 17. / 18. Jahrhundert) Das Supplizieren mit Hilfe eines Regelwerks zu kanalisieren, wurde aus der Sicht der Obrigkeit notwendig, als die Zahl der Suppliken seit dem 15. Jahrhundert kontinuierlich angestiegen war.119 Dies lag zum einen daran, dass immer mehr Menschen – über den Klerus hinaus – lesen und schreiben konnten. Reformen im Kanzleiwesen erleichterten den Griff zu Feder und Papier für Untertanen mit einem persönlichen Anliegen: Man rückte allmählich vom Lateinischen als Amtssprache ab und akzeptierte nun auch Schreiben in deutscher Sprache. Hinzu kam, dass mit der Papierherstellung das Hadernpapier das Pergament als Schreibmaterial ablöste, wodurch das Briefaufsetzen nun für breitere Schichten bezahlbar wurde.120 Die ersten Verordnungen zur Regelung des Supplikations- und Gnadenwesens im Untersuchungsraum entstanden im Zusammenhang mit dem Ausbau des Gnadenrechts als Reservatrecht des Landesherrn121 [s. A.I.1.]: Gegenüber den Ständen reklamierte Kurfürst Joachim I. Nestor (1499 – 1535) 1534 das Recht, Begnadigungen auszusprechen, für sich, musste sich jedoch dahingehend beschränken, nicht Zit. aus: Zedler 1961 / 1735, Stichwort: Gnade, 11. Bd., Sp. 1. Zit. aus: Blickle 2000, S. 266. 119 Vgl. Hülle 1973, S. 198. 120 Zur Geschichte des Papiers vgl. Wolfgang Wächter, Buchrestaurierung, Leipzig 1981, hier S. 15 – 27, bes. S. 19. 121 Auch wenn hier generell die Auffassung vertreten wird, dass Gesetzestexte nicht auf einen Autor zurückzuführen sind, sondern im behördlichen Entstehungskontext betrachtet werden müssen, wird hier eine personalisierte Darstellungsform gewählt, da die Normen eng mit der Person des jeweiligen Landesherrn in seiner Funktion als oberster Gesetzgeber verbunden waren. 117 118
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über Supplikationen in noch schwebenden Gerichtsverfahren zu entscheiden.122 Diese Regelung lag im Interesse der Stände, da die Rechtsprechung zumeist in den Händen der Fürsten in ihrer Funktion als Richter lag. An diese Vereinbarung hielten sich auch die nachfolgenden Herrscher: Diesbezügliche Verordnungen wurden 1538 unter Kurfürst Joachim II. (1535 – 1571) und 1572 unter Kurfürst Johann Georg (1571 – 1598) erlassen und 1602 unter Kurfürst Joachim Friedrich (1598 – 1608) erneut bestätigt.123 Als der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm (1640 – 1688) das Gnadenrecht im Machtkampf gegen die Stände 1653 als landesherrliches Reservatrecht errungen hatte, galt ihm der Gnadenakt und damit verbunden das Supplizieren an seine Person als unverzichtbare Symbolik seiner Herrschaftsmacht.124 Dennoch akzeptierte auch der Große Kurfürst – zumindest theoretisch – den Grundsatz, nicht in schwebende Verfahren einzugreifen.125 Im Laufe des 17. Jahrhunderts stellte die Menge der täglich eingereichten Suppliken den Geheimen Rat126 vor administrative Probleme. Schwierigkeiten bereitete ihm aber auch die von den Supplikanten und Supplikantinnen gewählte Darstellungsweise, bei der die Umstände zum Teil unverständlich bzw. unvollständig formuliert oder mitunter bewusst nicht der Wahrheit gemäß wiedergegeben wurden. Daher beklagten die Geheimen Räte, dass die eingereichten Suppliken: „( . . . ) zum öftern so unförmlich eingerichtet seyn, daß man daraus den Einhalt und was gebethen wird, kaum oder gar nicht verstehen kan, sondern fast errathen muß, in denselben auch mehrmahlen verschiedene falsche narrata angeführet, die Wahrheit aber und nöthige 122 Vgl. Landtagsrezess an Johannis Baptistae [24. Juni] 1534; in: Corpus Constitutionum Marchicarum (CCM), hrsg. v. Christian Otto Mylius, 6. Teil, Berlin / Halle 1751, No XVI, Sp. 25 – 30, hier Sp. 26. 123 Vgl. Landtagsrezess an Michaelis [29. September] 1538; in: CCM 1751, 6. Teil, No XX, Sp. 43 – 54, hier Sp. 46; vgl. Landtagsrezess am Montag nach Viti [16. Juni] 1572; in: CCM 1751, 6. Teil, No XXXVI, Sp. 102 – 114, hier Sp. 107; vgl. Landesrevers vom 11. März 1602; in: CCM 1751, 6. Teil, No LVIII, Sp. 151 – 166, hier Sp. 157. 124 Dass die Kurfürsten nicht gewillt waren, Einschränkungen dieses einmal errungenen Reservatsrechts hinzunehmen, dafür steht der von Johann Jacob Moser angeführte Fall aus der Kurmark: Als die Juristische Fakultät einen Delinquenten eigenmächtig lediglich mit einer Landesverweisung – streng nach Gesetzesvorlage – statt mit dem Tode bestrafen wollte, wurde sie vom Kurfürst scharf zurechtgewiesen, denn: „Die Erlassung peinlicher Strafen in ordentlicher Weise“ sei „allemal ein Stück der Landshoheit“ – zit. nach: Moser 1773, 17. Abtlg., 7. Teilbd., S. 64. 125 Vgl. Landtagsrezess vom 26. Juli 1653; in: CCM 1751, 6. Teil, No CXVIII, Sp. 425 – 466 [s. A.I.c) und d)]. 126 Der 1604 geschaffene Geheime Rat wurde mit der Ratsordnung vom 4. Dezember 1651 zur zentralen Verwaltungsbehörde mit 19 Departements nach Territorial- und Realressorts für alle kurfürstlichen Länder umorganisiert – vgl. beispielhaft Fritz Hartung, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 8. Aufl. Stuttgart 1950, hier S. 92 – 127, bes. S. 108; vgl. Wolfgang Neugebauer, Zur neueren Deutung der preußischen Verwaltung im 17. und 18. Jahrhundert in vergleichender Sicht; in: Otto Büsch / Wolfgang Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische Geschichte 1648 – 1947. Eine Anthologie, Berlin / New York 1981, 2. Bd., S. 541 – 597, hier S. 543 – 545.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen zur Sachen dienende Umbstände hingegen verschwiegen, auch Zeit und Ort, wann und wo sie datiret, nicht darinn gesetzet werden.“127
So lässt sich an der Beschwerde über „falsche narrata“ ablesen, welche verwaltungstechnischen Schwierigkeiten Supplikationen bereiteten: Die darin unterbreiteten Anliegen ließen sich von der obersten Zentralbehörde, dem Geheimen Rat, kaum in ihrem jeweiligen lokalen Kontext einordnen. Wollte man dem Sachverhalt auf den Grund gehen, so war eine zeitraubende Rücksprache mit den Amtspersonen auf der lokalen Ebene unvermeidbar. Auf diese Weise hätte der Geheime Rat aber den lokalen Behörden letztlich die Definitionsmacht über die jeweilige Angelegenheit überlassen. Dies sollte vermutlich vor allem bei Justizsupplikationen im Sinne von Beschwerden vermieden werden, da damit die lokale Obrigkeit, gegen die sich die Klagen richteten, zur maßgeblichen Auskunftsquelle und Beurteilungsinstanz wurde. Sollten Supplikationen auf zentraler Ebene unabhängig von der lokalen Ebene entschieden werden, so war man in der Regel auf die Darstellung der Angelegenheiten in den Suppliken angewiesen – und die waren in hohem Maße interessegeleitet und weit davon entfernt, dem Grundsatz der Objektivität zu folgen. Vor diesem Hintergrund ist die oben zitierte Mahnung der Obrigkeit an die Adresse der Supplikanten und Supplikantinnen zu verstehen, ihre Anliegen verständlich, vollständig und vor allem sachlich korrekt darzulegen – ein hilflos anmutender Versuch, die Supplikationspraxis im Sinne der Obrigkeit zu beeinflussen. Die Mahnung zielt vermutlich in erster Linie auf Justizsupplikationen im Sinne von Beschwerden ab und erst in zweiter Linie auf andere Formen der Justizsupplikation, unter anderem auch auf die hier interessierenden Justizsupplikationen im Sinne von Gnadenbitten um Straferlass für kriminalgerichtlich Verurteilte [s. A.I.2.]. Aus der Sicht der Obrigkeit handelt es sich hierbei um eine grundsätzliche Problematik des mediaten und immediaten Supplizierens in Justizsachen, so dass das Edikt letztlich auf alle hierunter fallenden Formen der Supplikation zu beziehen ist.128 Den oben dargelegten Missstand versuchte Kurfürst Friedrich III. bzw. König Friedrich I. (1688 – 1713)129 mit dem Edikt vom 10. Oktober 1691 zu beheben. 127 Edikt vom 10. Oktober 1691; in: CCM 1737, 2. Teil, No LXXV, Sp. 197 – 198, hier Präambel, Sp. 197. 128 Während es in den Quellen Belege dafür gibt, dass sich Gesetze und Verordnungen zum Supplikationswesen in der Regel nicht nur auf Beschwerden, sondern auch auf Justizsupplikationen insgesamt beziehen [s. A.II.3.], so muss offen bleiben, ob auch Gnadensupplikationen (i. S. von Schenkungen, Privilegierungen) unter diese Vorgaben fallen. Dies ist in diesem konkreten Fall durchaus denkbar, da es sich bei den genannten Vorgaben um formale Merkmale handelt, deren Beachtung auch die Bearbeitung von Gnadensupplikationen erleichtern würde. Berücksichtigt man allerdings, dass Gnadensupplikationen in BrandenburgPreußen eine Sonderstellung einnahmen und nicht mit Justizsupplikationen vermengt wurden, so spricht dies wiederum für die Annahme, dass sie auch im Hinblick auf gesetzliche und administrative Vorgaben gesondert behandelt wurden [s. Einleitung / Quellengrundlage]. 129 Kurfürst Friedrich III. erhielt mit dem Krontraktat vom 16. November 1700 vom Kaiser die Erlaubnis, die Königswürde für das Herzogtum Preußen anzunehmen. Die Krönung fand am 18. Januar 1701 in Königsberg statt; fortan nannte er sich König Friedrich I. in Preußen.
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Darin verlangte er, wie schon 1689 in einer vorangegangenen Verordnung, beim Supplizieren bestimmte Formalia einzuhalten: So sollte zum Beispiel auf jeder Supplik Datum, Ort und Betreff vermerkt werden.130 Das Edikt wandte sich zwar auch an die Supplizierenden, doch in erster Linie richtete es sich an die Schreiber der Gesuche. Den Advokaten, Prokuratoren und Schreiberlingen brachte die Obrigkeit seit jeher großes Misstrauen entgegen: „Ingleichen daß viele Schreiber und Vaganten sich hin und wieder in Bier- und Weinhäuser, oder andern Gesellschafften einschleichen, und ob sie nicht etwas zu klagen haben, ausforschen, auch unterm Vorwand, daß sie ihnen supplicata verfertigen und gute resolutiones verschaffen könten, ein Stück Geld sich geben lassen, hernachmahls öffters falsche decreta und Rescripta ihnen vorzeigen, solche sich theuer bezahlen lassen und die Leute schändlich betriegen, ja wohl gar auff den Dörffern herum lauffen, bey den Bauren und Unterthanen sich angeben, und ob sie nicht etwas wieder ihre Obrigkeit zu klagen haben, vernehmen, dieselbe zu Ungehorsam und Wiedersetzlichkeit auffhetzen, ihnen supplicata verfertigen, solche mit Unwahrheiten und falschen narratis anfüllen, und dadurch die Bauren nicht allein umbs Geld bringen, sondern auch verursachen, daß so wohl denenselben, als auch ihrer Obrigkeit, viel Ungelegenheit, Verdruß und Schaden daraus entstehet.“131
Bestimmte Gnadenbitten und Beschwerden wurden demnach als eine Form des Ungehorsams gegenüber der Obrigkeit angesehen. Das Edikt widmet sich allgemein dem Supplizieren, zielt aber in erster Linie auf Justizsupplikationen im Sinne von Beschwerden, konkret auf Beschwerden der Untertanen „wieder ihre Obrigkeit“, die jene mitunter als Zeichen des Aufruhrs verstand und bei ihr Angst vor einem sich in der ländlichen Bevölkerung ausbreitenden und gegen sie gerichteten Widerstand wachrief. Die zentrale Obrigkeit ging aber offenbar nicht davon aus, dass die in einer Beschwerde zum Ausdruck kommende Haltung tatsächlich auf die supplizierenden Untertanen zurückging. Vielmehr erblickte sie in den Schreibern die eigentlichen Urheber des Ungehorsams: Ihrer Meinung nach waren es vor allem die so genannten Winkelschriftsteller, welche die Bevölkerung angeblich aus finanziellem Eigeninteresse aufwiegelten. Da aber die Obrigkeit davon ausgehen musste, dass die Schreiber nicht nur für die Beschwerden verantwortlich waren, sondern auch Gnadenbitten für Verurteilte und andere Supplikationsanliegen aufnahmen, muss das Edikt auch auf die hier interessierenden Justizsupplikationen in kriminalgerichtlichen Sachen bezogen werden. Das Edikt war eine deutliche Warnung an die Adresse der Schreiber: So wurde die Unterschrift der Konzipienten auf der Supplik eingefordert, um somit mögliche Missetäter identifizieren und bestrafen zu können; gedroht wurde ihnen mit Geldbuße, Leibesstrafe und Landesverweisung.132 Den Schreibern wurde zudem auferlegt, den Wahrheitsgehalt und die Hintergründe eines Anliegens gründlich zu erforschen: 130 Vgl. Edikt vom 10. Oktober 1691; in: CCM 1737, 2. Teil, No LXXV, Sp. 197 f. und vgl. Verordnung vom 28. September 1689; in: CCM 1737, 2. Teil, No LXXI, Sp. 191 – 194. 131 Edikt vom 10. Oktober 1691; in: CCM 1737, 2. Teil, No LXXV, Sp. 197 f. 132 Vgl. Edikt vom 10. Oktober 1691; in: CCM 1737, 2. Teil, No LXXV, Sp. 197 f.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen „Daß diejenigen, so die supplicata verfertigen, nach der wahren Beschaffenheit der Sache sich fleißig erkundigen, auch vor allen Dingen nicht verschweigen sollen, ob die Sache irgendwo in litis pendentia hange, oder ob sie bereits gar per rem iudicatam abgethan, und so wenig diese und andere eigentliche Umbstände außlaßen, als darinne nichts anführen sollen, so nicht der Wahrheit gemäß, und sie klärlich zu erweisen sich getrauen.“133
Das Risiko, von der Obrigkeit wegen Behauptung unwahrer Tatsachen zur Verantwortung gezogen zu werden, lag somit nicht bei den Supplikanten und Supplikantinnen, sondern bei den von ihnen beauftragten Schreibern. Trotz der Strafandrohung hinterließ das Edikt offenbar kaum Eindruck bei der Bevölkerung. Denn aus der Sicht der Obrigkeit ließen sich die Bittsteller und Bittstellerinnen sowie ihre Schreiber weiterhin dieselben Fehler zuschulden kommen. Kurfürst Friedrich III. bzw. König Friedrich I. sah sich daher genötigt, alle zwei bis vier Jahre fast wortgleiche Edikte zur Erinnerung an die Anforderungen beim Supplizieren zu erlassen.134 Die Vorgaben zum Supplizieren gingen schließlich 1709 in die Kammergerichtsordnung ein.135 Die Gültigkeit der vorherigen Edikte, die sich einzelnen Aspekten des Supplizierens widmeten, bekräftigte Friedrich I. nochmals zusammenfassend im Edikt von 1710. Wie schon seine Vorgänger verzichtete auch er darauf, in schwebende Gerichtsverfahren einzugreifen: Er legte fest, dass bei Supplikationen in laufenden Prozessen die jeweiligen Gerichte zuständig seien; die Untertanen sollten ihr Anliegen beim Monarchen immediat nur dann vorstellen können, wenn im jeweiligen Fall eine sententia definitiva vorliege oder wenn es sich um Beschwerden über die Justiz handelte.136 Außerdem sollte die Menge der „dergestalt überhand genommen[en]“ Suppliken dadurch eingedämmt werden, dass bestimmte Anliegen teils unter Androhung von Strafe vom Supplizieren ausgenommen wurEdikt vom 10. Oktober 1691; in: CCM 1737, 2. Teil, No LXXV, Sp. 197 f. So 1694, 1697, 1699, 1703 – vgl. Edikt vom 12. Dezember 1694; in: CCM 1737, 2. Teil, No LXXXI, Sp. 203 – 206; vgl. Edikt vom 18. Dezember 1697; in: CCM 1737, 2. Teil, No LXXXIIX, Sp. 211 – 214; vgl. Edikt vom 31. Juli 1699; in: CCM 1737, 2. Teil, No XCI, Sp. 215 – 218; vgl. Edikt vom 9. Januar 1703; in: CCM 1737, 2. Teil, No CII, Sp. 343 – 344. Die einzige Neuerung bestand darin, dass Suppliken ab 1703 in doppelter Ausführung abgegeben werden sollten, ansonsten fertigte die Geheime Kanzlei gegen Gebühr eine Abschrift an – vgl. Patent vom 19. Juni 1703; in: CCM 1737, 2. Teil, No CIV, Sp. 345 – 346. Allgemein zum Supplikationswesen unter Friedrich I. vgl. Stölzel 1989 / 1888, 2. Bd., S. 11 – 17. 135 In der Kammergerichtsordnung wird u. a. unter Androhung von Strafe verlangt, dass Suppliken „( . . . ) förmlich und deutlich, ohne anzügliche Worte und unnöthige Weitläuffigkeit verfasset, und darin die wahre und eigentliche Beschaffenheit der Sachen ( . . . ) klar exprimiret werden“; die Suppliken sollten in doppelter Abschrift, versehen mit den Unterschriften sowohl der Supplikanten als auch der Concipienten, und gegebenenfalls mit Abschriften von bereits vorliegenden Urteilen und Resolutionen als Anlage eingereicht werden – zit. aus: Kammergerichtsordnung vom 1. März 1709; in: CCM 1737, 2. Teil, No CXIX, Sp. 357 – 500, hier zum Supplizieren Sp. 401 – 405. Allgemein zur Kammergerichtsordnung vgl. Stölzel 1989 / 1888, 2. Bd., S. 18 – 22. 136 Vgl. Edikt vom 17. März 1710; in: CCM 1737, 2. Teil, No CXXIV, Sp. 503 – 508. 133 134
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den.137 Ebenfalls unter Strafe wurde das „übermäßige“ Supplizieren gestellt, wenn die supplizierenden Untertanen „mit Ihrer Ungestüm so lange continuiren, bis sie dadurch etwas Wiederrechtliches zu erhalten vermeynen“ und sich nicht mit den ergangenen Resolutionen zufrieden gaben.138 Zudem wurde eine Strafe bei anstößigem, respektlosem Stil oder bei unwahren Behauptungen angesetzt. Eine zentrale Neuerung bestand im Anwaltszwang beim Aufsetzen von Suppliken. Dies bedeutete, dass nur noch die an den Gerichten zugelassenen Advokaten und Prokuratoren Suppliken anfertigen durften.139 Obwohl die Anordnungen zum Supplizieren so häufig wiederholt wurden, musste sich Friedrich I. zum Ende seiner Regierungszeit eingestehen: „( . . . ) was gestalt Wir mißfällig wahrgenommen, daß, ob Wir gleich bereits hiebevor umb die Supplicanten in denen Schrancken guter Ordnung zu halten, verschiedene Edicta ergehen lassen, solche dennoch so wenig gefruchtet ( . . . ).“140
Der Herrscher erblickte in der „Vermessenheit“ mancher Supplikanten und Supplikantinnen eine „schändliche Mißbrauchung Unserer Gnade“.141 Die Supplikationspraxis hatte bewirkt, dass sich die Einstellung des Landesherrn zur Gnade – hier nicht nur auf die Begnadigung von Verurteilten, sondern allgemein auf die Gewährung von Vergünstigungen bezogen [s. A.I.1.a)] – gewandelt hatte: Im 16. Jahrhundert waren Supplikation und Gnade noch willkommene Instrumente im Machtkampf des Landesherrn gegen die Stände, die dazu dienten, Interessenkonflikte zu zentralisieren und damit das Gewaltmonopol und die Sicherung des sozialen Friedens auf landesherrlicher Ebene zu institutionalisieren [s. A.I.2.b)].142 Als die Gnade zu einem landesherrlichen Reservatrecht deklariert worden war und den Untertanen das immediate Supplizieren in Gnaden- und Justizsachen zugestanden wurde, offenbarten sich die problematischen Aspekte des Supplikations- und Gnadenwesens, wie etwa die interessegeleitete und oftmals unklare Darstellung der Anliegen.
137 Zit. aus: Edikt vom 17. März 1710; in: CCM 1737, 2. Teil, No CXXIV, Sp. 503 f. Dies betraf allerdings nicht das Supplizieren für Angeklagte bzw. Verurteilte, sondern die Bitten um Vergünstigungen wie den Ehedispens wider dem „Göttlichen Recht“ oder die Vergabe von Ämtern oder die Bitte um Almosen. 138 Zit. aus: Edikt vom 17. März 1710, in: CCM 1737, 2. Teil, No CXXIV, Sp. 503 f. 139 Vgl. Edikt vom 17. März 1710; in: CCM 1737 2. Teil, No CXXIV, Sp. 503 – 508. 140 Edikt vom 17. März 1710; in: CCM 1737, 2. Teil, No CXXIV, Sp. 503 – 508; vgl. Stölzel 1989 / 1888, 2. Bd., S. 16. 141 Zit. aus: Edikt vom 17. März 1710; in: CCM 1737, 2. Teil, No CXXIV, Sp. 503 f. 142 Vgl. Fuhrmann / Kümin / Würgler 1998, S. 288 f. und vgl. Blickle 2000, S. 278.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
2. Supplikation und Gnade im Rahmen der Verwaltungsreformen unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. im Kontext des Bestätigungsrechts und des Machtspruchs Für das 18. Jahrhundert gilt es zu klären, wie sich das Supplikations- und Gnadenwesen in die Ausübung landesherrlicher Herrschaft einfügte. Im Folgenden wird das Funktionieren von Justiz und Verwaltung, wie es sich in den Reformen des 18. Jahrhunderts widerspiegelt, nach seiner Relevanz für das Supplizieren sowie das Gnadegewähren bzw. -verwehren befragt. Zu berücksichtigen sind dabei auch das landesherrliche Bestätigungsrecht in Strafrechtssachen sowie der landesherrliche Machtspruch, also Rechtsinstrumente, die mit dem Gnadenrecht eng verbunden sind. Der Thronfolger, König Friedrich Wilhelm I. (1713 – 1740), verfolgte mit umfangreichen Verwaltungsreformen die stärkere Selbstkontrolle der Staatsorgane.143 Organisiert wurden die Behörden mit kollegialer Beschlussfassung nach dem Prinzip des Instanzenzugs mit detaillierter Aufgabenbeschreibung und relativ klaren Aufsichtsverhältnissen durch Berichts- und Inspektionspflichten.144 Neben dem Militär und den Finanzen zielte die Reform inhaltlich auf die Justiz als „GrundSeule“145 des Staates. Auch das Supplikations- und Gnadenwesen entging der Neuorganisation nicht. In ihm sah der Soldatenkönig augenscheinlich ein Hemmnis seines vordringlichen Anliegens, der Hebung „der so nöthigen Authorität und Estimation derer hohen und niedrigen Gerichten“146. Aus diesem Grund verpflichtete sich Friedrich Wilhelm I. ebenfalls dem Grundsatz, dass rechtsanhängige Sachen von den Gerichten entschieden werden sollten und gedachte daher, nicht 143 Im Zuge der Reformen wurde 1713 das Generalkriegskommissariat als Verwaltungsund Finanzkollegium mit der Zuständigkeit für die Generalkriegskasse geschaffen; als zweite landesherrliche Finanzbehörde wurde das Generalfinanzdirektorium gegründet, welches u. a. die Generaldomänenkasse als Nachfolge für die Geheime Hofkammer (bestehend seit 1689) verwaltete. Die Interessenskollision zwischen den beiden obersten Finanzbehörden wurde 1722 / 23 mit deren Zusammenlegung im General-Ober-Finanz-Kriegs- und Domänen-Direktorium, kurz Generaldirektorium genannt, als oberste Verwaltungsbehörde mit den auf Provinzialebene nachgeordneten Kriegs- und Domänenkammern aufgehoben. Mit den außenpolitischen Angelegenheiten wurde 1728 das Kabinettsministerium bzw. Departement der auswärtigen Angelegenheiten betraut – vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 147 – 182; vgl. Stölzel 1989 / 1888, 2. Bd., S. 39 – 140, bes. S. 92 – 99; vgl. Hartung 1950, S. 107 – 112; vgl. Conrad 1966, S. 309; vgl. Neugebauer 1981, S. 543 – 561. Zur Einschätzung bzgl. der Selbstkontrolle vgl. Polley 1988, S. 349; vgl. Hubatsch 1983, S. 895. 144 Vgl. Polley 1988, S. 349. Der Begriff Instanz bzw. Instanzenzug beschränkt sich hierbei nicht auf die Judikative, im 18. Jh. wurde er vielmehr generell für die Organisation der Verwaltung benutzt und wird hier als zeitgenössische Terminologie verwandt. 145 Zit. aus: Justizordnung vom 21. Juni 1713; in: CCM 1737, 2. Teil, No CXXXI, Sp. 517 – 550, hier Präambel, Sp. 518. Zur Justizreform 1737 – 1740 vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 82 – 105. 146 Zit. aus: Justizordnung vom 21. Juni 1713; in: CCM 1737, 2. Teil, No CXXXI, Sp. 525.
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auf laufende Gerichtsverfahren Einfluss zu nehmen. Auch bei Beschwerden gegen die Justiz galt bei Androhung von Strafe, dass Suppliken erst nach Ausschöpfen der gerichtlichen Instanzen den Zentralbehörden respektive dem Monarchen übermittelt werden durften.147 Bevor Supplikationen dem Monarchen immediat unterbreitet wurden, sollten die Anliegen zuerst auf zentralbehördlicher Ebene geprüft und „licht-scheuende Supplicata“148 ausgesondert werden: Je nach Anliegen der Supplikationen sollten Kriegs- und Domänensachen im Generaldirektorium149 bearbeitet werden; für Justizsachen war der Geheime Rat150 in seiner Funktion als Justizaufsichtsorgan bzw. seit 1729 das Justizdepartement zuständig. Dort war es konkret der chef de justice (seit 1747 zugleich Großkanzler), dem seit 1737 die Rechtsaufsicht im Auftrag des Landesherrn oblag und der im Edikt vom 10. Februar 1738 als oberste Beschwerdeinstanz des Supplikationswesens ausgewiesen wurde.151 Den Schreibern von Suppliken machte Friedrich Wilhelm I. einige Auflagen: Zugelassen waren ausschließlich juristisch geschulte und von der Obrigkeit zugelassene Advokaten und Prokuratoren. Sie durften Bittgesuche nur noch in Fällen ausfertigen, in denen keine laufenden Gerichtsverfahren mehr anhängig waren. Zudem sollten sie nicht nur für den angemessenen Stil der Supplik, sondern auch für den Wahrheitsgehalt des darin angeführten Anliegens haften.152 Trotz der umfang147 Diesen Grundsatz bekräftigte Friedrich Wilhelm I. wiederholt – vgl. Erklärung zur Justizordnung (21. Juni 1713) vom 1. Oktober 1714; in: CCM 1737, 2. Teil, No CXXXV, Sp. 553 – 556; vgl. Verordnung vom 4. August 1718; in: CCM 1737, 2. Teil, No CLXXI, Sp. 637 – 638; vgl. Edikt vom 17. August 1718; in: CCM 1737, 2. Teil, No CLXXIII, Sp. 643 – 646; vgl. Patent vom 27. April 1726; in: CCM 1737, 2. Teil, No CCXXXVI, Sp. 777 – 780; vgl. Edikt vom 10. Februar 1738; in: CCM 1744, Cont. I, No X, Sp. 127 – 132. 148 Zit. aus: Edikt vom 17. August 1718; in: CCM 1737, 2. Teil, No CLXXI, Sp. 637 f. 149 Vgl. Patent vom 27. April 1726; in: CCM 1737, 2. Teil, No CCXXXVI. Zum Generaldirektorium s. Fn. 143. 150 Durch die Reformen 1713 – 1728 [s. Fn. 143] wurde die ursprünglich umfassende Zuständigkeit des Geheimen Rats stark eingeschränkt: Neben seiner bis zum ersten Drittel des 18. Jh. weiterbestehenden Funktion als kollegial organisierte Vereinigung aller Minister der Zentralbehörden blieben dem Rat allein die Zuständigkeiten in Sachen Justiz und Kultus, welche aber faktisch von Fachdepartements wahrgenommen wurden – vgl. Kühns 1871, S. 159 – 170; vgl. Hartung 1950, S. 111; vgl. Conrad 1966, S. 309; vgl. Neugebauer 1981, S. 553. 151 Das Edikt von 1738 belegt, dass die Bearbeitung von Suppliken konkret an den Justizminister Samuel v. Cocceji delegiert wurde (Cocceji wurde am 5. November 1737 zum chef de justice ernannt, 1747 erfolgte die Verleihung des Titels des Großkanzlers); vgl. Edikt vom 10. Februar 1738; in: CCM 1744, Cont. I., No X, hier Artikel 3 und 5, Sp. 129. Zur Entstehungsgeschichte des Edikts vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 9, Lit. X 1 G, No 4, fol. 160 – 172; vgl. Stölzel 1989 / 1888, 2. Bd., S. 120 f., 125, 127 und vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 89, 94 f., 97. Zum Justizdepartement vgl. Eberhard Schmidt, Rechtsentwicklung in Preußen (1929); in: ders., Beiträge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaates, Berlin 1980, S. 65 – 149, hier S. 84 – 95; vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 82 – 125. 152 Vgl. Justizordnung vom 21. Juni 1713; in: CCM 1737, 2. Teil, No CXXXI, Sp. 547; vgl. Erklärung zur Justizordnung (21. Juni 1713) vom 1. Oktober 1714; in: CCM 1737,
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
reichen Vorgaben gingen unzählige Suppliken zu „abgethanen“ und „abgedroschenen Sachen“ ein, so dass Friedrich Wilhelm I. in einem Wutanfall 1739 eine Verordnung erließ, nach der die Eingabe einer jeden Supplik an den darauf folgenden acht Tagen unter Androhung der Todesstrafe verboten war: „( . . . ) alsdann S[eine] K[önigliche] M[ajestät] einen solchen [Supplikanten bzw. Advokaten oder Prokuratoren] ohne Gnade aufhängen und neben ihn einen Hund hängen lassen wollen.“153
Es ist zu bezweifeln, dass es bei diesem befristeten Supplikationsverbot tatsächlich zu den angedrohten Folgen kam.154 König Friedrich II. von Preußen (1740 – 1786) knüpfte mit seinen Neuerungen an die von seinem Vater eingeführte Verwaltungsorganisation an und führte das Reformwerk bruchlos fort.155 In der Justiz setzte Friedrich II. zum Teil neue Akzente: Die Justizreformen156 orientierten sich weitgehend an aufklärerischen
2. Teil, No CXXXV; vgl. Verordnung vom 16. April 1725; in: CCM 1737, 2. Teil, No CCXXIX, Sp. 743 – 762, hier Sp. 751; vgl. Edikt vom 2. Januar 1729; in: CCM 1737, 2. Teil, No CCLIII, Sp. 799 – 800; vgl. Reskript vom 22. Juni 1738; in: CCM 1744, Cont. I, No XXIX, Sp. 171 – 176, hier Sp. 173. 153 Verordnung aus dem Jahr 1739 (ohne Tagesdatum); zit. nach: Schmidt 1980, S. 234. 154 Vgl. Lehmann 2004, S. 81 f. unter Bezugnahme auf Carl Friedrich Benekendorf, Karakterzüge aus dem Leben König Friedrich Wilhelm I. nebst verschiedenen Anecdoten von wichtigen unter seiner Regierung vorgefallenen Begebenheiten, und zu der damaligen Zeit sowohl im Militär- als Civil-Stande angestellt gewesenen merkwürdigen Personen, 3 Bde. in 12 Sammlungen, Berlin 1787 – 1798 (ND 1982), hier 1. Bd., 3. Smlg., Abschnitt 26, S. 28 f. 155 So auch die Einschätzung von Stölzel 1989 / 1888, 2. Bd., S. 138 und Peter Baumgart, Tendenzen der spätfriderizianischen Verwaltung im Spiegel der Acta Borussica; Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preussens im 18. Jahrhundert, bearb. v. demselben, Gerd Heinrich, 16. Bd. / 2. Teil (Januar 1778 – August 1786), Hamburg / Berlin 1982, S. XXI – XXXVII, hier S. XXI. Zu den Reformen unter Friedrich II. gehört u. a. der Zuschnitt der Departements: Schritt für Schritt wurde das Territorialprinzip eingeschränkt und die Departements nach Sachressorts ausgerichtet. Neben dem Justizdepartement, dem Departement der auswärtigen Angelegenheiten und dem Generaldirektorium zur Verwaltung der Finanzen richtete Friedrich II. folgende Departements nach dem Realprinzip ein: 1746 das Departement für Kriegssachen, 1766 das Departement für Zoll und Akzise, 1768 das Departement für Bergwerks- und Hüttenwesen und 1770 das Departement für Forsten; daneben bestanden allerdings weiterhin territoriale Zuständigkeiten fort – vgl. Hubatsch 1973, S. 146 – 167. 156 Niederschlag fand diese Reform in verschiedenen Kodifizierungen: im Codex Fridericianus (1747 – 1749) und im Corpus Juris Fridericianum (1781); letzterer ging in die Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten (1793) sowie in die Entwürfe zum Allgemeinen Gesetzbuch für die Preußischen Staaten (1784; 1792) ein, die in revidierter Form als Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten 1794 in Kraft gesetzt wurden. Außerdem wurde u. a. die Möglichkeit des Prozessierens auf höchstens drei Instanzen beschränkt, die Prozessdauer auf maximal ein Jahr begrenzt, das Gerichtspersonal professionalisiert, das Sportelwesen verstaatlicht, 1756 eine Jurisdiktionskommission als Schlichtungsinstanz bei Kompetenzstreitigkeiten eingerichtet sowie die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Abgrenzung zur Kammerjustiz geklärt – vgl. Hartung 1950, S. 118 – 123; vgl. Schmidt 1980 (1929), S. 100 – 104; vgl. Hubatsch 1973, S. 212 – 221.
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Grundsätzen wie der Säkularisierung und Humanisierung der obrigkeitlichen Strafpraxis sowie der Rationalisierung der Strafe in dem Sinne, dass sich Vergehen und Strafmaß proportional zueinander verhalten sollten.157 Ein Wandel vollzog sich im Herrschaftsverständnis, welches sich in Ansätzen an die Idee des Gesellschaftsvertrages anlehnte. Friedrich II. vertrat eine säkularisierte und rationale Auffassung vom Verhältnis zwischen Monarch und Untertanen: Eine Absage erteilte er sowohl der religiösen Herrschaftslegitimation im Gottesgnadentum als auch der Dynastieherrschaft. Er verstand sich vielmehr als erster Diener seines Staates, als naturrechtlich legitimierten Teil des Staates mit der ihm auferlegten Pflicht, „für das Wohl der Gesellschaft zu arbeiten“.158 Stärker als der Soldatenkönig betrieb Friedrich II. eine monarchische Autokratie aus dem Kabinett heraus, getragen von seinem ausgeprägten Misstrauen gegenüber einer Eigenmächtigkeit seiner Staatsdiener.159 Der Regierungsstil Friedrichs II. prägte auch den Umgang mit dem Supplizieren in Justizsachen: Anders als seinen Vorfahren waren ihm Suppliken, in denen sich Untertanen über das Vorgehen der Behörden oder Gerichte beschwerten, als Kontrollinstrument gegenüber seinen Staatsdienern willkommen.160 Da ihm an einem direkten Zugang der Untertanen 157 Belege dafür finden sich beispielsweise in der Einschränkung der Todesstrafe, der Abschaffung der Folter und der Peinigungsstrafen, der Absage an Kirchen- und Hurenstrafen sowie an andere Ehrstrafen und der Milderung des Strafmaßes. Als Zweck der Bestrafung galt – neben der Sicherung und der Verbrechensverhütung – nun auch die Besserung und die Rehabilitierung – vgl. Ogris 1987, S. 66 – 76. Auch die neuere Forschung zu BrandenburgPreußen gesteht zumindest der Justizreform einen deutlich aufklärerischen Einfluss zu – vgl. Blanning 1990, S. 283, 287 f.; vgl. Regge 1985, S. 372; für die ältere Forschung vgl. Schmidt 1980, S. 306 – 308. 158 Friedrich II. in seinem Testament vom 8. Januar 1769; zit. aus: v. Oppeln-Bronikowski 1925, S. 15. Zum Staatsverständnis Friedrich II. vgl. Schmidt 1980 (1936), S. 153 – 172; vgl. Otto Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk (1415 – 1915). Fünfhundert Jahre vaterländische Geschichte, Berlin 1987 (ND der Aufl. von 1915), hier S. 400. 159 Zwar begründete Friedrich Wilhelm I. die monarchische Selbstregierung in Brandenburg-Preußen, doch erst unter Friedrich II. erhielt die Kabinettsregierung die spezifisch preußische Ausprägung. Fortan mussten die Kollegien auf die Präsenz des Monarchen verzichten und verkehrten nun primär schriftlich mit ihm; auf ihre Berichte hin erhielten sie seine Befehle in Form von Kabinettsorder aus dem Kabinett. Auf diese Weise pflegte der misstrauische Monarch die Minister voneinander fern zu halten und verpflichtete sie allein auf seine Person, wobei er sie jedoch häufig überging, indem er ohne Rücksicht auf die behördliche Hierarchie direkt in Vorgänge der nachgeordneten Stellen eingriff. – Vgl. Neugebauer 1993, S. 74 – 78; vgl. Baumgart 1982, S. XXIII; vgl. Schmidt 1980 (1929), S. 95 – 109; vgl. ders. 1980 (1936), S. 165 – 172; vgl. Hartung 1950, S. 112; vgl. Conrad 1966, S. 310; vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 61 f.; vgl. Polley 1988, S. 350 f.; vgl. Neugebauer 1981, S. 554 – 558; vgl. Hubatsch 1973, S. 222, 225. Die Kabinettsregierung schlug sich aktenkundlich in dem so genannten „preußischen Stilbruch“ nieder: Friedrich Wilhelm I. führte 1713 die Kabinettsorder als ein schlichtes, sachliches Befehlsschreiben im Ich-Stil ein. – Vgl. Kloosterhuis 1999, S. 527 – 529; vgl. Neugebauer 1993, S. 77 f.; vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 65 f. 160 Diese Beobachtung machten u. a. Kugler und Hintze – vgl. Franz Kugler / Adolph Menzel, Geschichte Friedrichs des Grossen, Leipzig 1840, hier S. 582 f.; vgl. Hintze 1987, S. 396. Zahlreiche Anekdoten ranken sich um die so genannte Bittschriftenlinde in der Nähe
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
zu seinem Thron lag, hielt er sich nicht an die Einhaltung des Grundsatzes, dass Justizsupplikationen erst nach Ausschöpfung des gerichtlichen Instanzenzuges immediat eingereicht werden durften.161 Auch wenn Friedrich II. den in den Suppliken vorgetragenen Anliegen gegenüber aufgeschlossen war, so musste er doch feststellen, dass seine Untertanen „in denen grössesten Kleinigkeiten, und mehrentheils in ungerechten Sachen“ supplizierten und ihn als Gnadenträger damit behelligten, anstatt ihr Anliegen den zuständigen Gerichten vorzutragen.162 Die Untertanen erhofften sich von einem Gnadendekret offenbar eher Hilfe und Gerechtigkeit als von einem Gerichtsurteil. Die Folge davon war, dass die Justizkollegien oft mehr Zeit in die Bearbeitung von Beschwerdesachen als in ihre Justizverfahren investieren mussten, so die Klage des Geheimen Justizrates Ernst Ferdinand Klein.163 Diesen Missstand führte jedoch Friedrich II. keineswegs auf seine Gnadenpraxis zurück, sondern machte dafür „gewinnsüchtige Schriftsteller“ verantwortlich: Jene würden „die Umstände entweder verkehrt und verstümmelt angeben, oder auch wohl fälschlich vorstellen.“164 Wie schon Friedrich I. und Friedrich Wilhelm I. wies er den Geheimen Rat und die Gerichte an, nur noch von zugelassenen Advokaten verfertigte und unterschriebene Suppliken anzunehmen.165 Im Rahmen der Justizreform wurde das Supplikationswesen auch bei der angestrebten Beschleunigung der Verfahren mit einbezogen: Die Staatsdiener im Justizdepartement wurden angehalten, die bislang übliche zweimonatige Bearbeitungszeit von Suppliken auf maximal vier Wochen zu verkürzen.166 Friedrich II. bezog Stellung, wie er – zumindest theoretisch – seine Funktion als Gnadenträger und als oberster Gerichtsherr auszuüben gedachte. Er vertrat die des Potsdamer Schlosses, unter der Supplikanten in Blickweite des Arbeitszimmers des Monarchen zu warten pflegten, in der Hoffnung, ihre Bittschriften dem König persönlich überreichen zu können – und nicht selten hatten sie Erfolg damit. – Vgl. Johann Georg Theodor Grässe, Sagenbuch des Preußischen Staats, Glogau 1868, hier S. 128 f. Ein Stich von Adolph Menzel zeigt wartende Supplikanten unter der Bittschriftenlinde – vgl. Abbildung in: Kugler / Menzel 1840, S. 583. Zur Bearbeitung von Supplikationen unter Friedrich II. vgl. Neugebauer 1993, S. 98, 107, 110; vgl. Lehmann 2004, S. 82 – 85 unter Bezugnahme auf Anton Friedrich Büsching, Character Friedrichs des zweyten, Koenigs von Preussen, Halle 1788, zur Bittschriftenlinde vgl. Lehmann 2004, S. 86. 161 Alle unter Friedrich II. erlassenen Verordnungen zum Supplizieren blenden diesen Aspekt aus – vgl. Polley 1988, S. 351 und ebd., Anm. 27. 162 Zit. aus: Edikt vom 10. Oktober 1746; in: CCM 1748, Cont. III, No XXII, Sp. 89 – 90. 163 Vgl. Ernst Ferdinand Klein, Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den preussischen Staaten, 26 Bde., Berlin / Stettin 1788 – 1809, hier 16. Bd., Berlin / Stettin 1798, S. 375. 164 Zit. aus: Edikt vom 26. Juni 1747; in: CCM 1748, Cont. III, No XVI, Sp. 169 – 170. 165 Vgl. Edikt vom 10. Oktober 1746; in: CCM 1748, Cont. III, No XXII; vgl. Edikt vom 26. Juni 1747; in: CCM 1748, Cont. III, No XVI; vgl. Reskript vom 1. September 1749; in: CCM 1751, Cont. IV, No LXXVII, Sp. 183 – 184. 166 Vgl. Bescheid an das Tribunal zu Berlin vom 19. September 1747; in: CCM 1748, Cont. III, No XXXII, Sp. 197 – 200.
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Auffassung, dass die Aufgabe des Monarchen darin bestand, Recht zu gewähren, nicht aber Recht zu sprechen:167 „Je me suis résolu de ne jamais troubler le cours des procédures: c’est dans les tribunaux où les lois doivent parler et où le souverain doit se taire ( . . . ).“168
Er formulierte damit den Grundsatz, dass der Monarch den Gang der Rechtssprechung nicht durch sein Eingreifen behindern sollte. Nicht nur der Abolition, also der Niederschlagung eines laufenden Prozesses, wurde damit eine Absage erteilt. Vielmehr sollte die Justiz urteilen können, ohne dass ein landesherrlicher Gnadenakt die Entscheidung vorwegnahm. Dies bedeutet, dass Gnade prinzipiell erst nach Abschluss des Gerichtsverfahrens gewährt werden sollte. Damit legte sich Friedrich II. eine Selbstbeschränkung in Bezug auf seine Gnadenpraxis (i. S. der Begnadigung von Verurteilten) auf. In anderer Hinsicht hielt Friedrich II. jedoch an seiner Funktion als oberster Gerichtsherr fest: Das landesherrliche Bestätigungsrecht bei Strafsachen, welches dem Landesherrn die Möglichkeit einräumte, Gerichtsurteile vor ihrer Verkündung zu genehmigen und dabei die Strafe zu mildern, zu kassieren oder zu verschärfen, schränkte er nicht ein.169 An dieser Stelle auf dieses landesherrliche Recht einzugehen, ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass die hier untersuchten Akten aus der Wahrnehmung des Bestätigungsrechts erwachsen sind [s. Einleitung / Quellengrundlage]. Vielmehr muss das Bestätigungsrecht in Bezug auf die Supplikationspraxis in engem Zusammenhang mit dem Gnadenrecht gesehen werden: So konnten sich Bittsteller und Bittstellerinnen von Supplikationen, die sie während des laufenden Verfahrens einreichten, zwar keine Gnadenakte, wohl aber im Rahmen der Urteilsbestätigung ein milderes Strafmaß erhoffen. Neben dem Gnadenrecht bildet folglich auch das landesherrliche Bestätigungsrecht eine normative Rahmenbedingung, welche die Supplikationspraxis prägte.170 Das Bestätigungsrecht war den ständischen Gerichtsherren von den Hohenzollern abgerungen worden: Zu Zeiten des Großen Kurfürsten war der Rechtsanspruch im Grunde nur theoretisch formuliert, erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts fand die Urteilsbestätigung allmählich Anwendung in der Militärgerichtsbarkeit, in Duell-Sachen und bei Landesverweisungen. Friedrich Wilhelm I. gelang es mit der Kriminalordnung von 1717 und dem Preußischen Landrecht von 1721, Vgl. Hubatsch 1973, S. 212. Friedrich II. in seinem Testament von 1752; zit. in: Georg Küntzel (Hg.), Die Politischen Testamente der Hohenzollern nebst ergänzenden Aktenstücken, Leipzig / Berlin 1911, 2. Bd., Friedrich der Große, Das Politische Testament von 1752, S. 1 – 84, hier S. 3. 169 Vgl. Regge 1985, S. 369; vgl. Schmidt 1980, S. 310 f. 170 Der Exkurs zum landesherrlichen Bestätigungsrecht dient dazu, die Supplikation und die Gnade im Kontext der mit ihnen in engem Zusammenhang stehenden Rechtsinstrumente und die theoretischen Auswirkungen auf deren Praxisform darzustellen. Es würde den Rahmen dieser Studie allerdings sprengen, systematisch und quellenbasiert der Frage nachzugehen, welchen Einfluss das Bestätigungsrecht auf die Supplikations- und Gnadenpraxis hatte, zumal dies eine Verschiebung des Akzents in Richtung Strafrechtspraxis bedeuten würde. 167 168
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ständische Gerichtsprivilegien einzuschränken, indem u. a. Urteile auf Todesstrafen sowie auf Ehr- und Leibesstrafen in bestimmter Höhe bestätigungspflichtig wurden; ab 1732 war schließlich für sämtliche auf Todesstrafe oder Festungshaft lautende Urteilsvorschläge der Gerichte eine Bestätigung des Monarchen vor der rechtskräftigen Urteilsverkündung notwendig.171 Die Gerichte setzten in den entsprechenden Fällen Rechtsgutachten auf, welche durch Geheime Räte, und später durch das Justizdepartement geprüft wurden; Gültigkeit erhielt das Urteil erst durch die Genehmigung des Monarchen.172 Auch unter Friedrich II. hielt man an diesem Grundsatz fest: „( . . . ) keine Lebens-Strafe noch auch harte Leibes-Strafe darf ohne Eure Königliche Majestaet eigenhändige Confirmation vollzogen werden.“173
In diesem Wissen konnten sich Untertanen Hoffnung machen, dass Supplikationen bei bestätigungspflichtigen Urteilen angemessene Beachtung fanden, da die Fälle dem Monarchen unterbreitet wurden. So entwickelte sich das königliche Bestätigungsrecht zusammen mit der Supplikation zu einem regelrechten Instrument der Justizkontrolle gegenüber den Gerichten. Während das königliche Bestätigungsrecht in Strafrechtssachen dem Monarchen nach Abschluss des Gerichtsverfahrens Eingriff in die Rechtspflege gewährte, wurde sein Einwirken auf laufende zivilrechtliche Verfahren seit Mitte des 17. Jahrhunderts als Machtspruch bezeichnet.174 Ursprünglich war diese Bezeichnung 171 Vgl. Cap. X § IX Kriminalordnung von 1717 und vgl. III 6 Art. 1 § 7 Preußisches Landesrecht von 1721; vgl. Regge 1985, S. 369; vgl. Schmidt 1980, S. 219 – 223; vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 43, 84, 216. 172 Die im Geheimen Staatsarchiv unter der Repositur 49 archivierten Akten dokumentieren diesen Vorgang: Hier hinterließ das Justizdepartement seine Spuren bei der Prüfung von eingesandten Rechtsgutachten zur Urteilsbestätigung und von Justizsuppliken. Diese Praxis lässt sich seit 1708 belegen – vgl. Martin Haß, Über das Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen; in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 22. Bd., Leipzig 1909, S. 201 – 255, hier S. 211. 173 Acta wegen Milderung der Criminalia Strafen vom 23. April 1779; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A 1, Pak. 15.964, fol. 115. Diesen Eindruck gewinnt man auch aus der Überlieferung für den Zeitraum 1740 – 1786 in der Rep. 49, I. HA im GStA PK. Friedrichs Festhalten am Bestätigungsrecht belegt überdies eine am 28. September 1772 für Westpreußen ergangene Verordnung: „Niemand soll mit wichtigen Leibes-, Gefängnis-, Zuchthaus- und Festungsstrafen belegt werden, ohne daß nach den verschiedenen Graden dieser Strafen entweder unser Etatsministerium allhier in Berlin oder Wir selbst das Erkenntnis auf den Uns darüber gethanen Vortrag bestätigt haben.“ – zit. in: Schmidt 1980, S. 222. 174 Auch der Exkurs zum Machtspruch dient, wie schon der Exkurs zum Bestätigungsrecht, der Kontextualisierung von Supplikation und Gnade. Bei Verfahren, die im Machtspruch oder mit einer Urteilsbestätigung endeten, handelte es sich nicht um einen Gnadenakt, auch wenn Bittschreiben dabei eine Rolle spielen konnten. Unter Machtspruch ist der „Eingriff des Monarchen in die Rechtspflege durch Entscheidung eines Rechtsfalles in einer Sache selbst oder durch Anweisung an das Gericht, in einem bestimmten Sinne zu verfahren oder eine bestimmte Entscheidung zu fällen.“– Ogris 1984, Sp. 126; vgl. Meisner 1950, S. 311 f.; vgl. Schmidt 1980, S. 210 – 246.
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nicht negativ konnotiert, da sie als Übersetzung des Lateinischen sententia ex plenitudine potestatis auf den Träger der Souveränität in seiner Eigenschaft als höchster Richter verweist und vor allem dazu diente, den formal-institutionellen Gegensatz zum Rechtsspruch durch das Gericht zu veranschaulichen.175 Doch gegen Ende des 18. Jahrhunderts wandelte sich diese Auffassung. Da im frühneuzeitlichen Justizwesen die Gebiete des Straf- und Zivilrechts unterschiedlich geregelt waren, wurde das Eingreifen des Landesherrn für jedes Rechtsgebiet anders bewertet: In Strafsachen akzeptierte man das Eingreifen des Monarchen in laufende Gerichtsverfahren in seiner Funktion als oberster Richter und in Ausübung des landesherrlichen Bestätigungsrechts. In Zivilprozessen hingegen war der Machtspruch des Monarchen in die Kritik des aufklärerischen Diskurses geraten: Das Eingreifen des Herrschers wurde fortan als Willkürakt verstanden, weil man die Gerechtigkeit gefährdet sah, wenn beispielsweise die Sicherheit des Eigentums und die Freiheit der Untertanen durch einen Machtspruch beschränkt würden.176 Der Rechtshistoriker Eberhard Schmidt führt diese Auffassung auf den „Wandel der Stellung der Justiz im Gesamtorganismus des Staates“ und auf die veränderte Bedeutung von Gesetzen im Laufe des 18. Jahrhunderts zurück: Dahinter steht letztlich die Idee einer Gewaltenteilung, nach der die Justiz von der Exekutive unabhängig sein sollte.177 Unter dem Einfluss aufklärerischen Gedankenguts178 bezog Friedrich II. eine kritische Position gegenüber dem landesherrlichen Recht auf den Machtspruch in Zivilrechtssachen. In seinem Politischen Testament verkündete er 1752 den offiziellen Verzicht auf dieses Recht.179 Mehrere von ihm überlieferte Aussprüche scheinen diese Haltung zu untermauern: „Il ne convient point au souverain qu’il fasse intervenir son autorité par la décision des procès; les lois seules doivent régner, et le devoir du souverain se borne à les protéger.“180
Und: „Ich bin weit entfernt, Mich einer unmittelbaren Entscheidung anzumaaßen; dies würde ein Machtspruch sein, und Ihr [gemeint ist Minister Münchhausen] wißt, daß ich solche verabscheue.“181 Zur Unterscheidung zwischen Machtspruch und Rechtsspruch vgl. Schmidt 1980, S. 213. Vgl. Schmidt 1980, S. 214; vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 89 f.; vgl. Meisner 1950, S. 312. 177 Zit. aus: Schmidt 1980, S. 214 und vgl. ebd., S. 313. 178 Belegt ist Friedrichs Auseinandersetzung mit den Werken von Samuel v. Pufendorf, Christian Wolff, John Locke, Niccolò Machiavelli, Charles Louis Montesquieu und Voltaire – vgl. Ogris 1987. Dies mag den Mythos vom Philosophen auf dem Thron begründet haben, allerdings übersieht diese Zuschreibung, dass Friedrichs Politik nicht frei war von Widersprüchen – vgl. Blanning 1990, S. 287 f. 179 Vgl. Friedrich II. in seinem Testament von 1752; zit. in: Küntzel 1911, 2. Bd., S. 3; s. auch seine 1768 schärfer formulierte Kritik am Machtspruch – vgl. Schmidt 1980, S. 312. Die (verbale) Abkehr vom Machtspruch sprach Friedrich II. zwar erst 1752 aus, doch erste Überlegungen in diese Richtung datieren auf das Jahr 1748 – vgl. Bornhak 1903, S. 252; vgl. Schmidt 1980, S. 216 – 218. 180 Friedrich II. 1768; zit. in: Schmidt 1980, S. 312. 175 176
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Zu dieser Selbstbeschränkung der Macht mag Friedrich II. neben aufklärerischer Kritik etwas anderes bewogen haben: das herrschaftspraktische Kalkül, das Ansehen der Justiz zu stärken, indem er zu den Urteilen seiner Gerichte stand. Schließlich bestand das Bestreben der Herrscher im 18. Jahrhundert darin, die Justiz und die Verwaltung als ein effizientes Instrument zur Zentralisierung der Herrschaft im Lande auszubauen, indem Funktionsfähigkeit, Integrität und Würde der Gerichte und Behörden gestärkt wurden. Landesherrliche Gnadenakte, die Entscheidungen von Gerichten und Behörden auf die Bitte von Supplikanten hin wieder aufhoben, trugen nämlich nicht unbedingt dazu bei, das Vertrauen in das rechtmäßige Handeln der Justiz bzw. der Verwaltung zu stärken182 – wenngleich die Gnadenpraxis Friedrichs II. an vielen Stellen dieser These widerspricht.183 Dieser Prozess wurde in Brandenburg-Preußen von einem sich zunehmend herausbildenden Selbstbewusstsein der Justiz und der Behörden begleitet, welche sich als Garant der Gerechtigkeit auch gegenüber der Willkür des Monarchen verstanden.184 Die Gnade tangierte also das Verhältnis zwischen monarchischer Selbstregierung und den Kompetenzen des Justiz- und Verwaltungsapparates.185 Trotz der von Friedrich II. formulierten Vorsätze intervenierte der Monarch bei einigen laufenden Gerichtsverfahren.186 So auch 1779 infolge einer Supplik im legendären Müller-Arnold-Prozess187, der als „Justizkatastrophe“188 in die 181 Friedrich II.; zit. in: Stölzel 1989 / 1888, 2. Bd., S. 280 f. Zum Vorrang der Gesetze: „Den Spruch vom Cammergerichte Kann ich nicht umwerfen. Das seindt die Gesetze des Landes“ oder „( . . . ) meine Schuldigkeit ist die Gesetze zu unterstützen und nicht umzuwerfen.“ – Friedrich II.; zit. in: Georg Borchardt (Hg.), Die Randbemerkungen Friedrichs des Großen, 1. Teil, Potsdam o. J., vgl. S. 91 – 97, hier S. 91 und 92. 182 Auf diesen Umstand verweist bereits Rainer Polley – vgl. Polley 1988, S. 347 f. 183 Auch wenn Friedrich II. eine den supplizierenden Untertanen entgegenkommende Gnadenpraxis betrieb und häufig Begnadigungen aussprechen sollte, so geschah dies mit der Absicht, angebliche Justizirrtümer und Fehlentscheidungen der Staatsdiener zu korrigieren – so gesehen sollten gerade die Gnadenakte dazu beitragen, das Vertrauen der Untertanen in die Herrschaft zu stärken. 184 Vgl. Schmidt 1980, S. 214. 185 Auf diesen Zusammenhang wies bereits Polley hin – vgl. Polley 1988, S. 349. 186 Beispielsweise wies Friedrich 1747 das Obertribunal an, wie es im Rechtsstreit des Bischofs Sinzendorf gegen protestantische Dörfer zu entscheiden habe. Einem Bauern gab er 1748 auf dessen Supplik hin in einem Rechtsstreit mit dem Halberstädter Domkapital Recht – vgl. Schmidt 1980, S. 214 f.; für weitere Beispiele vgl. Meisner 1950, S. 312. 187 Friedrich II. rechtfertigte seinen Machtspruch durch den angeblichen Justizirrtum, den das Gericht aus seiner Sicht an den Müllersleuten begangen hatte. Überliefert ist hierzu Friedrichs Ausspruch: „Hier ist ein Exempel nöthig, weilen die Canaillen [gemeint sind die Richter] enorm von Meinem Namen Mißbrauch gemacht haben, um gewaltige und unerhörte Ungerechtigkeit auszuüben.“ – Friedrich II., zit. nach: Geheimer Rat und Staatsminister v. Zedlitz, zit. in: Borchardt o. J., S. 97. Näheres zum Müller-Arnold-Prozess vgl. David Martin Luebke, Frederick the Great and the Celebrated Case of the Millers Arnold (1770 – 1779). A Reappraisal; in: Central European History 32 (1999), S. 379 – 408; vgl. Bornhak 1903, S. 251 – 257; vgl. Malte Diesselhorst, Die Prozesse des Müllers Arnold und das Eingreifen Friedrichs des Großen, Göttingen 1984.
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Geschichte einging – denn das königliche Wort stand nicht nur im Widerspruch zur Entscheidung des Gerichts, sondern es unterstellte den Richtern zu Unrecht Parteilichkeit; in diesem Fall war Friedrich II. der Verdrehung der Tatsachen in der Darstellung der supplizierenden Müllersleute aufgesessen.189 Hier offenbart sich ein eklatanter Widerspruch zwischen dem politischen Anspruch bzw. dem theoretischen Rechtsverständnis und der praktischen Justizpolitik Friedrichs II.190 Der Fall Müller Arnold ist ein Beleg dafür, dass Friedrichs monarchische Autokratie keineswegs vor der Justiz halt machte, sondern bisweilen Formen einer Kabinettsjustiz191 annahm. Friedrich II. gab seinen Anspruch auf absolute Macht letztlich nie auf und war daher nicht gewillt, gänzlich auf Machtsprüche und Willkürakte zu verzichten; er legte sich lediglich eine „freiwillige Selbstbeschränkung“ auf.192
3. Das Supplikations- und Gnadenwesen unter Friedrich Wilhelm II. Friedrich Wilhelm II. (1786 – 1797) verfolgte eine andere Regierungspolitik als sein Onkel: Unter ihm wurde die selbstherrliche Kabinettsjustiz eingeschränkt und der Staatsapparat gestärkt.193 Dies hatte auch Auswirkungen auf die Rechts- und Gnadenpolitik: Kaum mit den königlichen Insignien ausgestattet, revidierte Friedrich Wilhelm II. den Machtspruch seines Onkels im Müller-Arnold-Prozess, entließ die verhafteten Richter aus der Festung, stellte sie wieder in seine Dienste und ordnete eine Wiedergutmachung an.194 In einer diesbezüglichen Kabinettsorder stellte 188 So die Einschätzung von Eberhard Schmidt – vgl. Schmidt 1980, S. 223; vgl. auch Conrad 1966, S. 387. 189 Dem Müllerehepaar drohte die Enteignung der Mühle, da es mit der Pacht im Verzug war. Die Müllersleute brachten 1771 eine Klage ein, da ihnen durch einen Karpfenteich in der Nachbarschaft angeblich das Wasser für die Mühle abgegraben wurde. Durch alle Instanzen hindurch erhielten die Müllersleute eine Ablehnung ihrer Klage, so dass sie sich schließlich 1779 mit einer Immediatsupplikation an den Monarchen selbst wandten. Friedrich II. erließ einen Machtspruch, demzufolge die Müllersleute entschädigt und mehrere hochrangige Richter wegen angeblicher Parteilichkeit entlassen und mit Festungshaft bestraft wurden – vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 9, Lit. Y, Abtlg. 2, Fasz. 1 – 2; vgl. Luebke 1999, Frederick the Great and the Celebrated Case of the Millers Arnold (1770 – 1779). A reappraisal. Auch die ältere Forschung hat sich ausführlich mit diesem Machtspruch beschäftigt – vgl. beispielhaft Bornhak 1903, S. 251 – 257; vgl. Schmidt 1980, S. 316 – 323 und ders., ebd. (1943), S. 223 – 227, S. 236 – 246. Als bebilderte Anekdote fand der Fall Müller Arnold auch Eingang in das Werk von Kugler / Menzel 1840, S. 583 – 586. 190 So auch die Einschätzung von Hubatsch 1973, S. 227. 191 Der von den Aufklärern abwertend gebrauchte Begriff Kabinettsjustiz überträgt das Prinzip der Kabinettsregierung auf die Justizpolitik – vgl. Regge 1985, S. 369. 192 Zit. aus: Baumgart 1981, S. 103. 193 So auch die Einschätzung von Rainer Polley – vgl. Polley 1988, S. 353. 194 Vgl. Kabinettsorder vom 14. November 1786; zit. in: Bornhak 1903, S. 256; vgl. Schmidt 1980, S. 322.
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er die Verfügung seines Vorgängers als Irrtum dar, versuchte aber zugleich dessen Entscheidung wie folgt zu entschuldigen: „[Der] ruhmwürdige Justizeifer Unseres in Gott ruhenden Onkels Majestät [ist] durch unvollständige, der wahren Lage der Sache nicht angemessene Berichte übel unterrichteter und präoccupirter Personen verleitet worden.“195
Offenbar hatte die Müller-Episode Friedrich Wilhelm II. dafür sensibilisiert, dass das Handeln des Monarchen Ende des 18. Jahrhunderts keineswegs vor dem Vorwurf der Ungerechtigkeit gefeit war: Die Reaktionen auf den Machtspruch Friedrichs II. zeigten hinlänglich, dass auch ein Monarch in den Augen der Zeitgenossen fehlbar im Urteil sein konnte und sich somit kritisierbar machte.196 Mit der Rehabilitierung der von Friedrich II. bestraften Staatsdiener beabsichtigte Friedrich Wilhelm II. aber keineswegs, eine kritische Haltung gegenüber der Justizpolitik seines Onkels zu beziehen. Er fand nichts Kritikwürdiges an dem Umstand, dass Friedrich II. ein gerichtliches Gutachten in sein Gegenteil verwandelt hatte. Dem Neffen ging es vielmehr um die sachliche Richtigstellung und vor allem darum, die Gültigkeit der Gesetze zu betonen und dem Kammergericht sein Ansehen wieder zu geben.197 Diese Haltung spiegelt sich wenig später in einer Kabinettsorder wider, in der Friedrich Wilhelm II. eine Gnadenbitte mit folgenden Worten zurückweist: „( . . . ) dem Recht muß überall freyen Lauf gelaßen und nichts Gegen die Landes-Gesetze gestattet werden. Dieß ist ein unveränderlicher Grundsatz Meiner Regierung.“198
Die Rehabilitierung der Justiz hatte allerdings negative Folgen für die Untertanen. Wie Rainer Polley aufzeigt, musste fortan das Fehlverhalten einer Behörde durch die Supplikanten belegt werden: Die Beweislast bei Verwaltungs- bzw. Justizirrtümern oder Verweigerungen von Amtshandlungen lag nun bei den Untertanen, während die Justiz grundsätzlich die Rechtmäßigkeit ihres Handelns für sich in Anspruch nehmen konnte.199 195 Kabinettsorder vom 14. November 1786 – zit. in: Bornhak 1903, S. 256 und zit. in: Stölzel 1989 / 1888, 2. Bd., S. 300. 196 Die Tatsache, dass der Geheime Justizrat Ernst Ferdinand Klein seine kritische Haltung gegenüber der von Friedrich angeordneten Bestrafung der Richter veröffentlichen konnte, belegt, dass es sich bei dieser Einschätzung um eine verbreitete Meinung handelte – vgl. Klein 1788, 1. Bd., Vorbemerkung S. XXXIX. Auch der Kriminalsenat des Kammergerichts kritisierte den Machtspruch Friedrichs II., indem er in einem Gutachten vom 26. Dezember 1779 die beschuldigten Richter von jeder Schuld freisprach – vgl. Schmidt 1980, S. 321. Weiteres zur Resonanz vgl. Diesselhorst 1984, S. 67 f. 197 So auch die Einschätzung von Stölzel – vgl. Stölzel 1989 / 1888, 2. Bd., S. 300. 198 Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Kabinettsorder in Abschrift vom 28. Januar 1787 / Fallakte Abraham Ebel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.175, fol. 348. Vgl. dazu auch die Haltung von Friedrich Leopold Kircheisen und Carl Gottlieb Svarez, zweier prominenter Staatsrechtler, die unter Friedrich Wilhelm II. dienten, und denen der Monarch u. a. die juristische Ausbildung seines Thronfolgers anvertraute [s. A.II.4.]. 199 Vgl. Polley 1988, S. 355.
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Auch Friedrich Wilhelm II. enthielt sich nicht dem Machtspruch: In der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit bediente er sich, wenn auch äußerst selten, dieser Möglichkeit, um seinen Willen gegenüber der Justiz durchzusetzen. So kulminierte der Streit zwischen dem Monarchen und dem Kammergericht über den so genannten Zopfschulzen-Prozess 1792 in einem Machtspruch, der Ausdruck einer Kabinettsjustiz war, die erneut die Unabhängigkeit der Gerichte von der Exekutive in Frage stellte.200 Als Landesvater fühlte sich Friedrich Wilhelm II. verpflichtet, sich die Nöte seiner Untertanen anzuhören und gegebenenfalls Unbill im Wege des königlichen Gnadenwirkens abzuwenden: „Höchstdieselben sind nun zwar Niemanden den Weg zu Dero Thron zu verschränken, geneyget, sondern wollen demselben, wie bis jetzt geschehen, auch noch ferner huldreichst Gehör gestatten, weil Höchstdero Landesväterliche Absicht lediglich und allein dahin gehet, das Glück eines jeden Dero Unterthanen bestmöglichst zu befördern, ihn in billigen Stücken zufrieden zu stellen, auch ihn besonders wider gegründetes Unrecht und Bedruck kräftigst zu schützen.“201 200 Der Gielsdorfer Prediger Johann Heinrich Schulz wurde wegen seiner Glaubensauffassung beim Konsistorium angezeigt: Er ignorierte den lutherischen Katechismus sowie bestimmte Gebete in seinen Gottesdiensten und trug zudem einen Zopf anstelle der schwarzen Bockshaar-Perücke, welche für protestantische Geistliche die übliche Haartracht war. Außerdem wurde ihm zur Last gelegt, die Gemeinde gegen die Obrigkeit aufgewiegelt zu haben. Der Kläger war der Pächter des Gutes Hirschfelde, der von Schulz wegen Misshandlung seiner Untertanen vor Gericht gebracht und dafür rechtskräftig verurteilt worden war. Das Konsistorium konnte dem Prediger nichts nachweisen und ließ die Sache ruhen. Eine Denunziation bewirkte, dass sich nun Johann Christoph v. Woellner als Chef des Geistlichen Departements und engster Vertrauter des Monarchen in die Angelegenheit einmischte. In Folge dessen wurde ein Prozess vor dem Kammergericht unter der Leitung von Kircheisen angestrengt. In einer Kabinettsorder vom 15. Dezember 1791 tat der Monarch kund, dass er den Prediger des Amtes enthoben sehen wollte. Das Gericht hingegen sprach Schulz von den Vorwürfen frei, stellte allerdings fest, dass Schulz keine lutherische, sehr wohl aber eine christliche Lehre vertrat und daher in seinem Amt als Prediger weiterhin zu dulden sei. Vor dem Hintergrund des Religionsediktes gegen die Verfälschung der protestantischen Lehre vom 9. Juli 1788 wurde das Urteil von Friedrich Wilhelm II. als Provokation empfunden. Dem Tenor des Urteils erteilte er daher keine königliche Konfirmation, sondern änderte es dahingehend ab, dass Schulz vom Predigeramt suspendiert werden sollte. Erst Friedrich Wilhelm III. ließ 1798 eine Revision des Prozesses zu, bei dem das Geheime Obertribunal das für Schulz entlastende Urteil vom 7. März 1799 bestätigte, und Schulz wurde wieder in den Dienst als Prediger aufgenommen. – Ausführlich zum Zopfschulzen-Prozess vgl. Johannes Tradt, Der Religionsprozeß gegen den Zopfschulzen (1791 – 1792). Ein Beitrag zur protestantischen Lehrpflicht und Lehrzucht in Brandenburg-Preußen gegen Ende des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. / Berlin / Bern / u. a. 1997; vgl. Werner Hülle, Der Religionsprozeß des preußischen Kammergerichtes gegen den „Zopfschulzen“ (1792). Vorgeschichte, Verlauf, Folgen; in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 93 (1981), S. 528 – 558; vgl. Adolf Stölzel, Carl Gottlieb Svarez. Ein Zeitbild aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, Berlin 1885, hier S. 320 – 370; vgl. Holtze 1901, 3. Bd., S. 388 – 417 und S. 451 – 478. 201 Zit. aus: Deklaration vom 24. Juni 1787; in: Novum Corpus Constitutionum PrussicoBrandenburgensium Praecipue Marchicarum (NCCPBPM), 8. Bd., Berlin 1791, No LXXI, Sp. 1487 – 1490, hier Sp. 1487.
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Das hier formulierte Selbstverständnis des Herrschers geht auf ein gewandeltes paternalistisches Monarchenbild zurück, welches seit Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur auf Aspekte des Konzepts vom Gottesgnadentum zurückgreift, sondern diese mit einem aufklärerischen Verständnis von Herrschaftslegitimation vereint: So gehört beispielsweise der Schutz der Untertanen zum tradierten Pflichtenkanon eines absolutistischen Herrschers. Die erklärte Absicht des Monarchen, das Glück seiner Untertanen zu fördern, verweist dagegen auf aufklärerisches Ideengut. Zum Beispiel beschreibt Carl Gottlieb Svarez als Anhänger eines aufklärerisch inspirierten Rechtsverständnisses die Pflichten eines Regenten Mitte bzw. Ende des 18. Jahrhunderts wie folgt: „Er [der Regent] sorgt dafür, daß jeder unter ihnen [den Unterthanen] seine Kräfte und Fähigkeiten, seiner eignen Einsicht und Neigung gemäß, zur Beförderung seiner Glückseligkeit frei gebrauchen könne.“202
Unter Glück verstand man Ende des 18. Jahrhunderts, dass jeder Untertan den ihm von der Ständegesellschaft zugewiesenen Platz auch tatsächlich einzunehmen vermochte. Voraussetzung dazu war das Wohl der Untertanen, welches mit bestimmten Freiheiten – so vor allem dem Recht auf Eigentum und dem Schutz vor Willkür203 – als verbunden gedacht wurde. Die Glückseligkeit nahm in der politischen Theorie des aufgeklärten Absolutismus eine Schlüsselstellung ein, denn in ihr lag der Staatszweck – oder in den Worten Friedrich Wilhelms II. „die landesväterliche Absicht“ [s. o.] – begründet.204 Die Ausführlichkeit, mit der Krünitz sich in seiner Enzyklopädie dem Glück widmet, belegt u. a., welche zentrale Bedeutung dem Begriff Ende des 18. Jahrhunderts zukam: Glück meint demnach einen Umstand, „wodurch unsere Wohlfahrt auf das möglichste, wenigstens in einem sehr hohen Grade, verbessert wird“.205 Weiter liest man, dass Glück „eine Verknüpfung von Umständen“ sei, welche „unserm Verlangen gemäß erfolget“, dies aber „nicht unmittelbar in unserer Gewalt“ liege.206 Daraus folgt, dass ein Herrscher, der das Glück seiner Untertanen förderte, damit etwas schuf, das nicht in der „Gewalt“ des Gemeinen lag, sondern der „Gewalt“ einer höheren Sphäre vorbehalten war.207 So gesehen, kann man auch aus dieser Sentenz einen marginalen Überrest der VorstelCarl Gottlieb Svarez; zit. aus: Stölzel 1885, S. 304. Das Recht auf Eigentum und das Einhalten von Gesetzen stellten u. a. eine zentrale Legitimation der Herrschaft Ende des 18. Jahrhunderts dar. Eben weil z. B. beim Machtspruch mit Willkür und Eingriffen in das Eigentumsrecht zu rechnen war, geriet dieser im aufklärerischen Diskurs in Kritik – s. u. und s. A.II.4. und vgl. Schmidt 1980, S. 214. 204 Zur Glückseligkeit als Staatszweck vgl. Diethelm Klippel, Die Philosophie der Gesetzgebung. Naturrecht und Rechtsphilosophie als Gesetzgebungswissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert; in: Barbara Dölemeyer / Diethelm Klippel (Hg.), Gesetz und Gesetzgebung im Europa der Frühen Neuzeit, Berlin 1998 (ZfHF, 22. Beiheft), S. 225 – 247, hier S. 238 f. 205 Krünitz 1780, Stichwort: Glück, 19. Bd., S. 205 – 210, hier S. 207. 206 Ebd., S. 205. 207 Krünitz geht zwar nicht auf die königliche Glücksstiftung ein, verweist aber auf eine höhere Sphäre, da er das Glück als etwas von Gott Geschaffenes verstand – vgl. ebd., S. 208 f. 202 203
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lung über die königliche Allmacht herauslesen, wie sie sich etwa in der Idee vom Gottesgnadentum manifestiert. Das Selbstbild Friedrich Wilhelms II. war offenbar geprägt von unterschiedlichen Traditionslinien, denn er machte Anleihen beim Gottesgnadentum und beim Paternalismus, verstand sich zugleich auch als aufgeklärter Monarch, der für das Wohl der Gesellschaft arbeitete.208 Es war eine Sache anzukündigen, die Klagen und Beschwerden der Untertanen wohlwollend zur Kenntnis zu nehmen und ihnen Unrecht und Bedruck im Wege der Gnade zu nehmen, die Konfrontation mit der Supplikationspraxis war indes eine andere: So gibt es zeitgenössische Stimmen, die bemängelten, dass unter diesem Herrscher Supplikationen unbeantwortet blieben.209 Die supplikationseifrigen Untertanen stellten die Geduld von Friedrich Wilhelm II. auf die Probe. Schon wenige Monate nach der Thronbesteigung entlud sich der königliche Unmut darüber, dass einzelne Bittsteller „durch beharrliches ungestümes Queruliren, Machtsprüche zu ihrem Vortheil zu erzwingen vermeynen“.210 Mit dem Publikandum vom 8. November 1786 sollte die „Widerspenstigkeit“ dieser Untertanen gegenüber ihrer Grund- und Gerichtsobrigkeit künftig unterbunden werden, so die Vorstellung des Gesetzgebers.211 Auch wenn die Weisung primär auf Supplikationen im Sinne von Beschwerden zielte, so belegt doch der darin gebrauchte Begriff des Machtspruchs, dass auch andere Formen der Justizsupplikation von der Regelung betroffen waren. Hier stellt sich – wie bei den übrigen Gesetzen und Verordnungen zum Supplikationswesen – ein analytisches Problem: Die Obrigkeit war sich der unterschiedlichen Anliegen von Gnadenbitten und Beschwerden, die unter Justizsupplikationen subsumiert wurden, wohl bewusst – nutzte sie diese doch dazu, ein landesherrliches Gewaltmonopol zur Wahrung und Sicherung des inneren Friedens auszubauen [s. A.I.2.b)].212 Genauso mehrdeutig wie der Begriff Supplikation benutzt wurde, behandelte die Obrigkeit die unterschiedlichen Supplikationsformen in ihren Weisungen in der Regel nicht getrennt voneinander, so dass einzelne Passagen auf bestimmte Supplikationsformen, andere Passagen wiederum auf das Supplizieren allgemein zu beziehen sind. Indizien belegen, dass die Anordnungen nicht nur für Beschwerden, sondern auch für Justizsupplikationen im Sinne von Gnadenbitten um Strafmilderung für kriminalgerichtlich verurteilte Delinquenten 208 Sentenz in Anlehnung an das Selbstbild von Friedrich II. – vgl. Testament von Friedrich II. vom 8. Januar 1769; zit. in: Oppeln-Bronikowski 1925, S. 15; vgl. Schmidt 1980 (1936), S. 153 – 172. Mit dem Zitieren von Friedrich II. soll aber nicht zugleich behauptet werden, dass Friedrich Wilhelm II. das Monarchenbild und das Herrschaftsverständnis seines Vorgängers insgesamt teilte. Allein die unterschiedlichen Herrschaftspraktiken [s. o. und s. A.II.2.] lassen vermuten, dass hinter dem obrigkeitlichen Handeln der beiden Monarchen unterschiedliche Konzepte standen, dennoch finden sich in den Aussagen und im Handeln der Monarchen einzelne vergleichbare Aspekte, die dem Zeitgeist geschuldet sind. 209 Zit. nach Neugebauer 1993, S. 96. 210 Zit. aus: Publikandum vom 8. November 1786; in: GStA PK, II. HA, Abtlg. 3, Tit. XLII, No 11, fol. 23 – 24, hier fol. 23 v. 211 Zit. aus: ebd. 212 Vgl. Fuhrmann / Kümin / Würgler 1998, S. 288 f.
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relevant sind.213 Aus diesem Grunde werden die obrigkeitlichen Regelungen zum Supplikationswesen hier entsprechend einbezogen. Entgegen der obrigkeitlichen Bewertung sehen die Supplikanten ihre Anliegen als zutiefst gerechtfertigt an und fühlten sich weder der Widerspenstigkeit noch des Ungehorsams schuldig. Die Zahl der Suppliken sank daher auch angesichts der verschärften Regeln keineswegs. Und so fühlte Friedrich Wilhelm II. sich weiterhin „durch eine unsägliche Menge von Vorstellungen aus den Provinzien belästiget“, die an ihn – wie er sich ausdrückte – „unstatthafte Forderungen“ stellten und ihn mit Anliegen, die von den zuständigen Behörden längst entschieden worden waren, konfrontierten.214 Daher sah er sich gezwungen, weitere Weisungen zur Regulierung des Supplikationswesens zu erlassen. Mit der Deklaration vom 24. Juni 1787 wurde den Untertanen der Zugang zum Monarchen zwar garantiert, zugleich aber wurde damit die freizügige Supplikations- und Gnadenpraxis unter Friedrich II. insofern beschränkt, als sie für das Supplizieren wieder ein formalisiertes Verfahren vorschrieb.215 Für Supplikationen allgemein – und zwar unabhängig davon, ob es sich um Gnadenbitten oder Beschwerden in Justiz- oder Gnadensachen handelte [s. A.I.2.a)] – wurde ein so genannter dreistufiger Instanzenzug auf mittlerer, zentraler und immediater Ebene eingerichtet. Suppliken sollten fortan zuerst bei den Provinzialkollegien – also je nach Anliegen bei den Justizkollegien oder den Kriegs- und Domänen-Kammern der jeweiligen Provinz – beschieden werden. Diese waren nun befugt, die Anliegen nicht nur zu untersuchen, sondern sie auch „in Seiner Königlichen Majestät höchsten Namen nach Recht und Billigkeit zu entscheiden“.216 Gaben sich die Bittsteller mit dieser Entscheidung nicht zufrieden, so konnte eine weitere Supplik je nach Anliegen beim Generaldirektorium oder beim Justizdepartement eingereicht wer213 Z. B. geht aus den hier untersuchten Akten hervor, dass der so genannte Instanzenzug nicht nur für Justizsupplikationen i. S. von Beschwerden, sondern auch für Supplikationen i. S. von Gnadenbitten um Strafmilderung für kriminalgerichtlich verurteilte Delinquenten Gültigkeit hatte [s. u.] – vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 9, Lit. X, Abtlg. 1 B, Fasz. 173, fol. 33, 32. Des Weiteren lässt sich an den Quellen nachvollziehen, dass für die hier interessierende Supplikationsform z. B. auch die Vorschrift galt, dass Suppliken nur von Schreibern aufgesetzt werden durften, die von der Obrigkeit zugelassen waren [zur Umsetzung s. A.III.1.a)]. Außerdem geht aus manchen Passagen der Verordnungen hervor, dass sie sich sowohl auf Supplikationen i. S. von Beschwerden als auch Gnadenbitten in Justiz- und Gnadensachen beziehen, obwohl sie primär auf die Beschwerden ausgerichtet zu sein scheinen – vgl. Publikandum vom 17. März 1798; in: NCCPBPM 1801, 10. Bd., No XVIII, Sp. 1597 – 1606, hier Sp. 1599 – 1600 [s. A.II.4.]. Da die hier untersuchten Quellen lediglich Justiz-, aber keine Gnadensuppliken beinhalten, kann nicht geklärt werden, ob die genannten Gesetze und Verordnungen auch Auswirkungen auf Gnadensupplikationen (i. S. von Schenkungen und Privilegien) hatten [s. A.I.2.a)]. 214 Zit. aus: Deklaration vom 24. Juni 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXI, Sp. 1487 – 1490. 215 Vgl. ebd. und vgl. als Vorgang in: GStA PK, II. HA, Abtlg. 3, Tit. XLII, No 11, fol. 2. 216 Zit. aus: Deklaration vom 24. Juni 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXI, Sp. 1487.
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den. Nur wenn die Bittsteller die Resolution dieser beiden Zentralbehörden nicht akzeptierten, durften sie sich mit einer dritten Supplik an den König selbst wenden. Für die in den hier untersuchten Akten vorkommenden Supplikanten und Supplikantinnen bedeutete dies, dass sie sich zuerst mit einer Gnadenbitte mediat an das Justizdepartement zu wenden hatten; erst im Falle einer Ablehnung der Bitte bestand die Möglichkeit einer immediaten Supplikation an Friedrich Wilhelm II. Die Deklaration sah außerdem vor, dass bei jeder Supplikation die Entscheidung der so genannten letzten Instanz beigefügt werden sollte, um auf das aufwändige Einholen von Berichten verzichten zu können.217 Bevor dem Monarchen eine Gnadenbitte vorgetragen wurde, sollte zuvor durch die beiden Zentralbehörden geklärt werden, „ob der Beschwerdeführer wahren Grund zu klagen habe, oder als ein unruhiger Querulant, bestraft zu werden verdiene“.218 Der so genannte Instanzenzug stellt einen ohnmächtigen Versuch dar, die große Menge an Supplikationen zu kanalisieren und die Anzahl an Immediatsupplikationen und damit die Arbeitsbelastung Friedrich Wilhelms II. zu verringern.219 Zehn Tage nach Erlass der Deklaration wurde dafür gesorgt, dass ihr Inhalt „zu jedermanns Wissenschaft gebracht“ wurde.220 Die Deklaration wurde im Wortlaut in Zeitungen und Intelligenz-Blättern publiziert. Außerdem hatte die Hofdruckerei insgesamt 2.000 Exemplare gedruckt. Diese wurden über das Justizdepartement, die Kriegs- und Domänenkammern, den Staatsminister in Schlesien sowie über verschiedene Staatsdiener wie etwa den Generalfiskal an die jeweiligen nachgeordneten Stellen mit der Auflage weitergereicht, die Deklaration zu verbreiten.221 Die Bekanntmachung des in der Deklaration vom 24. Juni 1787 angeordneten Verfahrens erfolgte rund drei Wochen später im Publikandum vom 12. Juli 1787.222 Der Erlass sollte „nicht nur gewöhnlichermaßen publicirt“, sondern darüber hinaus auch bei Zusammenkünften der Dorfgemeinden, der Innungen und Gewerke sowie von den Kanzeln verlesen und an Kirchtüren angeschlagen wer217 Vgl. Polley 1988, S. 353. Der Begriff Instanz bzw. Instanzenzug war nicht der Justiz vorbehalten, sondern wurde im 18. Jh. generell für die Organisation der Verwaltung benutzt und wird hier als zeitgenössische Terminologie verwandt. 218 Zit. aus: Deklaration vom 24. Juni 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXI, Sp. 1488. 219 Aus den Akten geht das Motiv der Obrigkeit deutlich hervor: Die Deklaration vom 24. Juni 1787 solle „die Einschränkung des Immediat-Supplicirens der Unterthanen“ bewirken – zit. aus: Behördendekretschreiben des Generaldirektoriums vom 3. Juli 1787; in: GStA PK, II. HA, Abtlg. 3, Tit. XLII, No 11, fol. 3 r. 220 Zit. aus: ebd. 221 Vgl. ebd., fol. 3 r. / v. 222 Ausführlich widmet sich das Publikandum dem Supplikationsverfahren in Justizsachen. Der so genannte dreistufige Instanzenzug wurde bei Justizsupplikationen auf die Ebenen Obergericht bzw. Landesjustizkollegien, Justizdepartement und Gnadenträger festgelegt – vgl. Publikandum vom 12. Juli 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXV, Sp. 1497 – 1508 bzw. vgl. revidiertes Konzept; in: GStA PK, II. HA, Abtlg. 3, Tit. XLII, No 11, fol. 13.
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den.223 Man erhoffte sich davon, dass auch die „niederen Volks-Classen“ von den Anordnungen Kenntnis nahmen und sie befolgten.224 Auf die Einhaltung des Instanzenzuges wurde großer Wert gelegt: Zum einen wurden die Supplikenschreiber [s. A.III.1.a)] eindringlich gemahnt, keineswegs die: „( . . . ) Uebergehung der geordneten Instanzen, Unsere Allerhöchste Person mit Anträgen und Gesuchen, welche nach der Landesverfassung für die Collegia und Gerichte gehören, unmittelbar zu behelligen sich einfallen lassen.“225
Zum anderen sollte eine jede Behörde bzw. ein jedes Gericht, bei dem eine Supplikation einging, durch sorgfältige Aktenführung die jeweils zuständige Instanz feststellen, damit sich kein Bittsteller durch unwahre Behauptungen mit einer Mediatsupplikation ein Gnadendekret erschleichen konnte.226 Das Erschleichen von Gnadenakten, welches in den Erlassen immer wieder zur Sprache kommt, offenbart ein ambivalentes Verhältnis der Obrigkeit zur Bevölkerung: Zum Bild des treuen, devoten Untertanen, dessen Glück der Monarch zu fördern beabsichtigte, gesellte sich das Bild des widerspenstigen, listigen Untertanen, der die Güte des Monarchen ausnutzen wollte. Vor allem die so genannten Winkeladvokaten wurden als Quelle des ungerechtfertigten Supplizierens angesehen, da sie angeblich aus „Gewinnsucht oder aus andern üblen Absichten, Höchstdero Unterthanen zum Queruliren aufwiegeln“.227 Die Deklaration vom Juni 1787 befiehlt daher, dass gegen „unbefugte eigennützige und boshaften Consulenten und Schriftsteller mit allem Fleiße inquirirt“ werden solle.228 Im Publikandum vom 12. Juli 1787 wurde daraufhin ein Strafenkatalog sowohl für Winkelschriftsteller als auch für „muthwillige Querulanten“ erlassen:229 Diesem zufolge sollten von 223 Zit. aus: Publikandum vom 12. Juli 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXV, Sp. 1507 f. Zur Bekanntgabe des Publikandums wurde der Bedarf von rund 3.600 gedruckten Exemplaren angemeldet; vgl. Schreiben der Altmärkischen und Priegnitzschen Kriegs- und Domänenkammer vom 16. Juli 1787; in: GStA PK, II. HA, Abtlg. 3, Tit. XLII, No 11, fol. 8 r. 224 Zit. aus: Publikandum vom 12. Juli 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXV, Sp. 1507 f. 225 Ebd. 226 Auch in Ausnahmefällen wich das Justizdepartement nicht vom Prinzip des angeordneten Instanzenzugs ab: Beispielsweise erging auf die Anfrage eines Referendarius beim Justizdepartement, wie er in einem Fall zu handeln habe, die Weisung des Justizministers, dass man ausnahmslos nur jene Fälle entgegennehmen dürfe, in denen die Supplikanten mit ihrem Anliegen bereits bei der lokalen Gerichtsobrigkeit und sodann beim Obergericht gescheitert waren und dies anhand der Resolutionen nachweisen konnten. – Vgl. Bericht des Referendarius Runge vom 13. Oktober 1787 und vgl. Weisung des Chefs des Justizdepartements v. Carmer an Runge vom 22. Oktober 1787; in: GStA PK, I. HA, Rep. 9, Lit. X, Abtlg. 1 B, Fasz. 173, fol. 33, 32. 227 Zit. aus: Deklaration vom 24. Juni 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXI, Sp. 1488. 228 Zit. aus: ebd. 229 Vgl. Publikandum vom 12. Juli 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXV, §§ 10 – 18, Sp. 1501 – 1508, hier zit. aus: Titel des Publikandums, Sp. 1497 f.
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der Obrigkeit nicht zugelassene und autorisierte Schreiber von Suppliken mit einer Gefängnisstrafe von acht Tagen bis sechs Wochen rechnen.230 War ein Anliegen nicht gerechtfertigt, lag „Partheylichkeit“ oder „Hartnäckigkeit und Boßheit“ vor, so mussten die Schreiber mit einer Gefängnis- oder Zuchthausstrafe von 14 Tagen bis zu sechs Monaten rechnen.231 Härtere Strafen, nämlich mehrmonatige Arbeits-, Gefängnis- bzw. Zuchthausstrafen oder Militärdienst, erwarteten die „unbefugten Consulenten und Winkelschriftsteller, die sich ein Gewerbe daraus machen“.232 Das Publikandum war nicht nur an die Schreiber gerichtet, sondern auch an die „Leute aus dem Bauer- und gemeinen Bürgerstande“. Sie galten gegenüber den Überredungskünsten der Winkelschriftsteller als besonders anfällig und würden sich angeblich „einer ungezähmten Prozeßsucht überlassen“, versuchten „mit der größten Hartnäckigkeit“ „ungegründete Ansprüche oder Einwendungen“ durchzusetzen und erdreisteten sich, „die Gerichte, das Ministerium, ja selbst Unsere Allerhöchste Person mit unverständlichen Suppliken und ordnungswidrigen Anträgen zu behelligen“.233 Auch so genannte prozesssüchtige Untertanen gehörten aus der Sicht der Obrigkeit zu den ungeliebten Supplikanten. Es hat den Anschein, dass das Publikandum in erster Linie Supplikationen im Sinne von Beschwerden zu regeln versuchte, darüber hinaus hat es aber auch Bedeutung für das Supplizieren allgemein. Die Untertanen wurden vor den angeblichen Folgen hartnäckigen Supplizierens und Prozessierens eindringlich gewarnt: „Da nun dergleichen Leute, durch ein solches unerlaubtes Beginnen, nicht nur sich selbst in die äusserste Armuth stürzen, ihre Berufs-Arbeiten und Gewerbe vernachläßigen, zum Müßiggang und herumschweifenden Leben sich gewöhnen, solchergestalt aber mit ihrer zeitlichen Wohlfahrth zugleich, alles sittliche Gefühl, und alle Lust und Neigung zur Erfüllung ihrer verschiedenen Pflichten, gänzlich verlieren; sondern auch, als unnütze Bettler und Landstreicher, dem Publico zur Last fallen, und den Hang zur Widerspenstigkeit, Trägheit, und unordentlichen Lebensart, unter ihren Standesgenossen durch ihr böses Exempel verbreiten ( . . . ).“234
Die größte Gefahr wurde im wirtschaftlichen Ruin der Supplikanten gesehen. Dabei wurde verkannt, dass es häufig gerade die in den Supplikationen angeführten Umstände waren, welche die Supplikanten in eine wirtschaftlich kritische Lage brachten. Die Obrigkeit sah das Supplizieren aber nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen kritisch, sondern befürchtete, dass das Supplizieren zu Trägheit und Müßiggang anstiften könnte, da sich die Supplikanten der falschen Hoffnung hingaben, ihrem Schicksal mit Hilfe eines Gesuches eine positive Wendung geben zu können. In der Folge würden die Untertanen ihre Pflichten nicht mehr erfüllen und 230 231 232 233 234
Vgl. ebd., Sp. 1503 f. Zit. aus: ebd. Zit. aus: ebd. Zit. aus: ebd., Sp. 1497 f. Zit. aus: ebd., Sp. 1499 f.
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einen „Hang zur Widerspenstigkeit“ entwickeln, so die Meinung der Obrigkeit. Im Supplizieren sah sie offenbar ein gewisses unruhestiftendes Potential, da die Untertanen auf diesem Wege die Behörden mittelbar, nämlich durch ein Gnadendekret, dazu bringen konnten, für sie ungünstige Entscheidungen zu revidieren. Dem befürchteten Missbrauch zum Trotz sollte den Untertanen der direkte Zugang zum Monarchen gewährt bleiben. So beabsichtigte Friedrich Wilhelm II. mit dem Publikandum von 1787, den Missbrauch beim Supplizieren einerseits einzudämmen, andererseits aber den Untertanen das Gewohnheitsrecht zu garantieren. Gleich im ersten Paragraph wird dieses Recht, wenngleich in negativer Wendung formuliert, fixiert: „Zuvoerderst sind Wir keinesweges gemeynt, Unsern getreuen Unterthanen die Betreibung und Verfolgung ihrer Gerechtsame durch die in den Gesetzen nachgelassenen Instanzen zu untersagen, oder irgend jemand unter ihnen den Zutritt zu Unserer Allerhöchsten Person, mit wuerklich gegruendeten und erheblichen Beschwerden, abzuschneiden.“235
Der gesetzlich garantierte Zugang zum Souverän hatte unter Friedrich Wilhelm II. von nun an einen festen Platz in den Gesetzen. Die 1793 in Kraft getretene Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten (AGO) nahm diese Rechtsgarantie auf: „Auch bleibt einem jeden ( . . . ) der Zutritt zu Seiner Königlichen Majestät Allerhöchsten Person unverschlossen.“236
Auch gingen die bereits 1787 getroffenen Regelungen zum Supplikationswesen in die AGO ein: Von den Supplikanten und ihren Schreibern wurden u. a. die Einhaltung des Instanzenzuges, die wahrheitsgemäße Darstellung des Anliegens und von den Advokaten die Unterzeichnungspflicht beim Verfassen der Suppliken gefordert; Winkeladvokaten und Querulanten wurden Strafen angedroht und die Behörden wurden auf eine sorgfältige Prüfung der Gesuche verpflichtet.237 In das 1794 kodifizierte Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten, welches die Gesetze in den Preußischen Staaten vereinheitlichen und vereinfachen sollte,238 wurden das Supplikations- und das Gnadenrecht ebenfalls aufgenommen. Zit. aus: ebd. Zit. aus: III 1 § 13 AGO; in: Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten, 3 Teile, Berlin 1995. Die am 6. Juli 1793 in Kraft getretene AGO baut auf dem Corpus Juris Fridericianum von 1781 bzw. auf der darin enthaltenen Prozessordnung auf. In der AGO wurde u. a. festgelegt, dass mediate Justizsupplikationen auf zentralstaatlicher Ebene dem chef de la justice unterbreitet werden sollten – vgl. III 1 § 22 AGO. 237 In der Reihenfolge der einzelnen Vorgaben vgl. III 1 § 13 AGO, III 1 § 14 AGO, III 1 § 29 AGO, III 1 §§ 15, 30, 31 AGO nebst §§ 442, 443, III 1 § 17 AGO. 238 Das ALR wurde am 5. Februar 1794 erlassen und trat am 1. Juni 1794 in Kraft. Auch wenn die Errungenschaften des 1794 kodifizierten Allgemeinen Landrechts (ALR) – wie etwa die landesweite Rechtsvereinheitlichung – nicht unterbewertet werden dürfen, so zeugt der Kodex von einer reformunwilligen Haltung, da er die ständische Gesellschaftsordnung zementierte. Als Fundament eines Rechtsstaats im Sinne eines frühliberalen Konstitutionalis235 236
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Das Untertanenrecht auf Supplikation, welches ursprünglich eine Vielzahl von Anliegen in Gnaden- und Justizsachen umfasste [s. A.I.2.a)], ist im ALR allerdings nur in Bezug auf Supplikationen im Sinne von Beschwerden explizit ausgewiesen: Jedem Untertanen wird das Recht eingeräumt, sich mit Beschwerden direkt an den König oder an den dem betreffenden Departement vorstehenden Minister zu wenden.239 Daraus folgt jedoch nicht, dass den Untertanen die Möglichkeit, für eine verurteilte Person um Strafmilderung zu bitten, verwehrt wurde – diese Form der Supplikation wurde als ein unumstößliches Gewohnheitsrecht von der Obrigkeit respektiert und war mit dem Gnadenrecht aufs engste verbunden. So führt das ALR das Gnadenrecht an zentraler Stelle im Rahmen der Majestätsrechte auf: „Das Recht, aus erheblichen Gründen Verbrechen zu verzeihen; Untersuchungen niederzuschlagen; Verbrecher ganz oder zum Theil zu begnadigen; Zuchthaus-, Festungs- oder andere härtere Leibesstrafen in gelindere zu verwandeln, kann nur von dem Oberhaupte des Staates unmittelbar ausgeübt werden ( . . . ).“240
Das Gnadenrecht ist ein komplexes Gebilde, welches sich aus der Funktion des Landesherrn als Gnadenträger und als obersten Richter ableitete: Es setzt sich zusammen aus dem Recht, einen General-Pardon oder eine Abolition zu erlassen, das Recht, Strafen zu erlassen oder zu mildern, aber auch mildere Strafen im Rahmen des königlichen Bestätigungsrechts zu gewähren. Begnadigungen waren – und zwar sowohl in Strafrechts- und anderen Justizsachen, als auch in Gnadensachen – nun an die Bedingung gebunden, dass durch sie die „wohl erworbenen Privatrechte eines Dritten niemals gekränkt werden“ durften; zudem wurde jedem Untertanen das Recht eingeräumt, sein Recht im Wege eines Zivilprozesses gelmus kann das ALR aufgrund seiner rückwärtsgewandten sozialen Werteorientierung nicht bewertet werden, gleichwohl enthält es Aspekte, die man als Vorläufer späterer Rechtsstaatsvorstellungen bezeichnen kann. Zur kritischen Bewertung des ALR vgl. Vierhaus 1995, S. 1 – 21. Andere Historiker hingegen gestehen dem ALR einen quasi verfassungsrechtlichen Rang zu – vgl. Hermann Conrad, Das Allgemeine Landrecht von 1794 als Grundgesetz des friderizianischen Staates; in: Otto Büsch / Wolfgang Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische Geschichte 1648 – 1945. Eine Anthologie, 2. Bd., Berlin / New York 1981, S. 598 – 621; vgl. Werner Ogris, Friedrich der Große und das Recht; in: Oswald Hauser (Hg.), Friedrich der Große in seiner Zeit, Köln / Wien 1987, S. 47 – 92. Zur Bewertung des strafrechtlichen Teils des ALR vgl. Andreas Schwennicke, Die allgemeinen Strafrechtslehren im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 und ihre Entwicklung in der Rechtsprechung bis zum preußischen Strafgesetzbuch von 1851; in: Dölemeyer / Mohnhaupt 1995, S. 79 – 104; vgl. Jürgen Regge, § 35 Das Justizwesen: Strafrecht und Strafrechtspflege; in: Jürgen Ziechmann (Hg.), Panorama der friderizianischen Zeit. Friedrich der Große und seine Epoche, Bremen 1985, S. 365 – 375. 239 „Dagegen steht einem jeden frey, seine Zweifel, Einwendungen, und Bedenklichkeiten gegen Gesetze und andre Anordnungen im Staate, so wie überhaupt seine Bemerkungen und Vorschläge über Mängel und Verbesserungen, sowohl dem Oberhaupte des Staats, als den Vorgesetzten der Departements anzuzeigen ( . . . ).“ – zit. aus: § 156 ALR II 20 – zit. in: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, hrsg. v. Hans Hattenhauer, 2. erw. Aufl., Neuwied / Kriftel / Berlin 1994. 240 § 9 ALR II 13; zur Privilegienverleihung vgl. § 7 ALR II 13.
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tend zu machen.241 Die von Aufklärern geäußerte Forderung nach dem Schutz des Eigentums [s. A.I.1.d)] ging somit in den Rechtskodex ein. Friedrich Wilhelm II. garantierte mit dem ALR zwar „einen hohen Grad an Rechtsstaatswirklichkeit“242, seine Haltung blieb jedoch ambivalent: Er ließ den stärker aufklärerisch orientierten Vorläufer des ALR, das Allgemeine Gesetzbuch für die Preußischen Staaten (AGB), vor seinem Inkrafttreten kurzerhand am 18. April 1792 suspendieren und ordnete eine Überarbeitung desselben an.243 Antiaufklärerische Stimmen am Hof und in der hohen Bürokratie nahmen Anstoß am AGB: Darunter fielen der Teil, welcher die Freiheiten und Rechte der Untertanen garantieren sollte, sowie einige staatsrechtliche Bestimmungen, wie beispielsweise das Verbot von königlichen Machtsprüchen in Zivilrechtsachen und die Gesetzesbindung des Souveräns.244 Auf diese strittigen Punkte wurde auf Geheiß von Friedrich Wilhelm II. im ALR verzichtet. Mit anderen Worten: Das ALR stellte keine weitergehende Selbstbeschränkung der Macht des Herrschers dar, sondern fixierte den status quo.245 Als Grundsteinlegung für einen Rechtsstaat im Sinne des frühliberalen Konstitutionalismus kann das ALR somit nicht interpretiert werden.246 Das Landrecht ist und bleibt Ausdruck des friderizianischen Despotismus in seiner Ambivalenz: Den Untertanen wurden zwar gewisse Rechte zugestanden und die Rechtspraxis nahm humanere Züge an, zugleich wurde aber die ständische Gesellschaftsordnung festgeschrieben.247 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Friedrich Wilhelm II. eine Gnadenpolitik verfolgte, die allen Akteuren Handlungsspielräume beließ: Den Untertanen wurde der Zugang zum Monarchen unter bestimmten Bedingungen gestattet; er selbst behielt sich das Gnadenrecht, aber auch den viel kritisierten Machtspruch als Reservatrecht vor; bei der Bearbeitung der Supplikationen wurden die Behörden 241 Zit. aus: §§ 10 – 11 ALR II 13; in: Allgemeines Landrecht 1994, S. 596. Zum Gnadendiskurs im 18. / 19. Jh. vgl. Grewe 1936, S. 17 – 27. 242 So die Einschätzung im Wortlaut von Rudolf Vierhaus – zit. aus: Vierhaus 1995a, S. 20. 243 Zur Entstehungsgeschichte des ALR vgl. Conrad 1966, S. 388 f. und vgl. ders. 1981. 244 Vgl. Vierhaus 1995a, S. 7. 245 Mit Johannes Tradt kann man spekulieren, ob der Zopfschulzen-Prozess dazu beigetragen haben könnte, dass Friedrich Wilhelm II. weiterhin am Machtspruch als ultima ratio gegenüber der Justiz festhalten wollte und aus diesem Grund die Suspension des AGB veranlasste – vgl. Tradt 1997, S. 2. 246 So auch die Meinung von Historikern, die sich kritisch gegen die im 19. Jahrhundert begründete Tradition der preußischen Geschichtsschreibung wenden, in welcher die aufklärerischen Errungenschaften der Verwaltungs- und Rechtsreformen zuweilen überbewertet werden – vgl. Vierhaus 1995a, S. 20 f. und vgl. Birtsch 1978, S. 69. Zum Beispiel wird daher hier die These zur friderizianischen Rechtsreform, dass „Friedrich der Große bereits den Geist des modernen Rechtsstaates [hat] sichtbar werden lassen“, nicht mitgetragen – zit. aus: HansJoachim Schoeps, Preussen. Geschichte eines Staates. Bilder und Zeugnisse, Frankfurt a. M. 1995, hier S. 85. 247 Im Hinblick auf diesen Aspekt kann der Einschätzung von Otto Hintze gefolgt werden – vgl. Hintze 1987, S. 397.
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und Gerichte im Wege des so genannten Instanzenzuges eingebunden und es wurden Entscheidungsbefugnisse an sie übertragen. Letztlich leistete Friedrich Wilhelm II. damit der Eigenverantwortlichkeit der Verwaltung bzw. der Justiz Vorschub und begrenzte de facto seine königliche Herrschaftsgewalt hinsichtlich der Gnadenakte. Auf der Ebene der Gnadenpraxis und der Rechtsanwendung zeigte sich Friedrich Wilhelm durchaus bereit, seine Macht zugunsten der Bürokratie einzuschränken, auf der Gesetzesebene hingegen lehnte er eine Selbstbeschränkung seiner Macht ab. 4. Supplizieren, Gnade und Machtspruch an der Wende zum 19. Jahrhundert Der Thronerbe von Friedrich Wilhelm II. setzte sich bereits als Kronprinz mit den Themen Supplikation, Gnade und Machtspruch auseinander. In die Materie wurde er beizeiten von bekannten Staatsrechtlern der Zeit, die ihm sein Vater als Lehrmeister an die Seite gestellt hatte, um ihn auf sein späteres Amt vorzubereiten, eingeführt.248 Im Folgenden wird auf den Normativitätsdiskurs im Hinblick auf die Gnade und den Machtspruch eingegangen. Dies geschieht am Beispiel von Vorträgen zweier Juristen an den Kronprinzen, die das Supplikations- und Gnadenverständnis von Friedrich Wilhelm III. nachhaltig beeinflussten: Friedrich Leopold Kircheisen und Carl Gottlieb Svarez. Als der Kronprinz im Rahmen von Behörden- und Gerichtsvisiten Anfang März 1792 auch den Instruktionssenat des Kammergerichts aufsuchte, klärte der Gerichtspräsident, Friedrich Leopold Kircheisen249, seinen künftigen Landesherrn nicht nur über die Zuständigkeit und Arbeitsweise des Kammergerichts auf, sondern hielt ihm außerdem einen rechtsphilosophischen Vortrag über aktuelle Fragen und Probleme des brandenburgisch-preußischen Justizwesens.250 Einen zentralen Stellenwert nahm in Kircheisens Vortrag die Frage ein: „Ob der Landesherr selbst sich mit Entscheidung der Rechtsstreite bey uns unmittelbar zu befassen befugt sey?“251 248 Dies geschah zum Beispiel durch Lehrgespräche mit dem Juristen Carl Gottlieb Svarez – zu Svarez vgl. Wolfgang Neugebauer, Die Hohenzollern, 2 Bde., Stuttgart / Berlin / Köln 1996 und Stuttgart 2003, hier 2003, 2. Bd., S. 70 und vgl. Adolf Stölzel, Carl Gottlieb Svarez. Ein Zeitbild aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, Berlin 1885, hier S. 280 – 320 und zu Svarez’ Vorträgen vgl. ebd., S. 308 – 320. Die Visite des Kronprinzen bei den Behörden und Justizkollegien erstreckte sich von Januar 1791 bis März 1792. Den Abschluss bildete der Besuch bei den Justizkollegien: Am 6. und 7. März 1792 wurde er vom Instruktionssenat des Kammergerichts, am 10. März vom Ober-Appellationssenat und Pupillenkollegium und am 13. März vom Obertribunal empfangen – vgl. Klein 1792, 9. Bd., S. 293 – 317 und vgl. Stölzel 1885, S. 280 – 287. 249 Zu Kircheisen vgl. Ernst Ferdinand Klein, Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den preußischen Staaten, 9. Bd., Berlin / Stettin 1792, hier S. 293 – 317. 250 Der Vortrag von Kircheisen vom 6. März 1792 ist abgedruckt in: Klein 1792, 9. Bd. (Beilage No 1), S. 301 – 312, hier S. 302 – 305. 251 Zit. aus: Vortrag von Kircheisen an den Kronprinzen vom 6. März 1792; in: ebd., S. 307.
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Schon die Frage, ob ein spätabsolutistischer Herrscher zu etwas befugt sei, verdeutlicht, dass Kircheisen deutliche Worte fand, um den Kronprinzen von einer selbstbewussten und von der Exekutive möglichst unabhängigen Justiz zu überzeugen.252 Er riet dem Thronfolger eindringlich, Eingriffe des Landesherrn in Rechtsangelegenheiten in seiner Funktion als oberster Richter zu unterlassen – mit Ausnahme der Begnadigung von gerichtlich Verurteilten: „Auch Sie [Kronprinz Friedrich Wilhelm] werden ( . . . ) Verurtheilte begnadigen, und dann ein Recht ausüben, welches ( . . . ) zu den köstlichsten Vorzügen des Thrones gehört, und nur, wie ein Schatz, eine sparsame Verwaltung erfordert.“253
Nach Meinung Kircheisens stellte das Recht auf Begnadigung eines der hervorragenden hoheitlichen Privilegien dar, von dem der Landesherr aber nur selten und wohlüberlegt Gebrauch machen sollte. Auch andere führende Staatsrechtler vertraten diese Meinung. Ähnliche Worte hatte beispielsweise auch der Staatsrechtler Svarez gewählt, um den Kronprinzen in das Gnadenwesen einzuführen: Die Gesetze hätten dem Monarchen „das herrliche Vorrecht der Begnadigung reservirt“.254 In diesen Worten kommt ein sich an den Ideen der Aufklärung orientiertes Rechtsverständnis zum Ausdruck: Nicht der Monarch wird als primäre Quelle der Macht verstanden, sondern die Gesetze. Mit anderen Worten: Auch der Monarch sollte sich den Gesetzen unterwerfen. Svarez mahnte den Kronprinzen eindringlich, Begnadigungen „nicht zu oft, und nicht aus bloßer persönlicher Zuneigung oder Gunst“ zu gewähren.255 Svarez und Kircheisen erblickten in zu häufigen und persönlich motivierten Begnadigungen die Gefahr, dass dadurch die Kraft der Gesetze gemindert und der Willkür des Monarchen Vorschub geleistet würde. Unter Begnadigung verstanden beide Juristen die Milderung eines gerichtlich beschlossenen Urteils. Von der Verschärfung einer gerichtlich erkannten Strafe – etwa im Wege des königlichen Bestätigungsrechts – rieten beide Juristen hingegen eindringlich ab: Kircheisens Warnung geht dahin, dass dies aus der Sicht der Untertanen eine Ungerechtigkeit darstelle, die letztlich den Nährboden für Unzufriedenheit bereite.256 Auch 252 Kircheisens Entwurf des Vortrags fiel ursprünglich noch kritischer aus: Ein Briefwechsel zwischen Kircheisen und Carl Gottlieb Svarez belegt, dass ihm sein Freund davon abriet, Montesquieu zum Thema einer eigenständigen Justiz zu zitieren, da dies von den Gegnern der Gewaltenteilung als Angriff auf die Monarchie gewertet werden könne – vgl. Stölzel 1885, S. 326 – 330. Dennoch schlug Kircheisen in seinem Vortrag einen energischen, auf die höfische Courtoisie verzichtenden und stattdessen an der Sache orientierten Ton an, der in gewisser Weise allerdings unverfroren wirken musste, da Kircheisen eine potentielle Kritik an die Adresse seines späteren Landesherrn aussprach, falls sich dieser über die von Kircheisen ausgesprochenen Warnungen hinwegsetzen würde. 253 Vortrag von Kircheisen an den Kronprinzen vom 6. März 1792; in: Klein 1792, 9. Bd. (Beilage No 1), S. 308. 254 Zit. aus: Vortrag von Svarez an den Kronprinzen [ca. Ende 1791]; zit. in: Stölzel 1885, S. 319. 255 Zit. aus: ebd. 256 Vgl. Vortrag von Kircheisen an den Kronprinzen vom 6. März 1792; in: Klein 1792, 9. Bd. (Beilage No 1), S. 308.
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Svarez sah in einer Strafverschärfung eine Missachtung der Gesetze und geißelte sie als Willkür, da sich schließlich auch der Monarch den Gesetzen zu verpflichten habe.257 Zentrales Anliegen beider Juristen war es, den Thronfolger zu einem Umgang mit den landesherrlichen Rechten zu bewegen, bei dem den Gesetzen höchste Priorität eingeräumt wurde.258 Daher warnten sie ihn nicht nur vor der Strafverschärfung, sondern vor allem vor dem Eingreifen in schwebende Verfahren. Ihre Absicht bestand darin, den Anwärter auf den Thron zum Verzicht auf den Machtspruch zu bewegen. So fand Kircheisen für den Machtspruch deutliche Worte der Kritik: „Die gesittete Welt, dieß mächtige Tribunal, ist dahin übereingekommen, sich mit dem Worte MACHTSPRUCH, – UNGERECHTIGKEIT als verschwisterte Idee, zu denken.“259
Kircheisen und mit ihm die Richter des Kammergerichts teilten die Haltung zahlreicher Aufklärer [s. A.I.1.d)], die in einem Machtspruch Ungerechtigkeit, Ungesetzlichkeit und Willkür erblickten. Kircheisen schloss Widerspruch gegen diese Einstellung quasi aus, da sich nach seinen Worten jede Kritik jenseits der gesitteten Welt stellte, folglich dem common-sense der spätabsolutistischen Gesellschaft widersprach. Kircheisen wagte viel mit diesen Worten, denn er sprach sie just in einer Zeit aus, in der der Zopfschulzen-Prozess verhandelt wurde und es sich abzeichnete, dass Friedrich Wilhelm II. diesen Fall entgegen der Meinung des Kammergerichts im Wege eines Machtspruches zu entscheiden bereit war [s. A.II.3.]. Kircheisens Mahnung war folglich nicht nur an den Kronprinzen, sondern indirekt auch an den Monarchen gerichtet. Insofern war mit diesen Äußerungen die Grenze zur Herrschaftskritik überschritten. Landesherrliches Handeln als ungerechtes Handeln zu denken, auch wenn es auf hypothetischer Annahme beruhte, war mutig und ging über die zu jener Zeit tolerierte Meinungsäußerung hinaus. Vor diesem Hintergrund scheinen Kircheisens unpersönlich gehaltene Worte indirekt an die Adresse Friedrich Wilhelms II. gerichtet zu sein: Ohne die Kritik am Machtspruch im Kern zu schmälern, entschuldigte Kircheisen mögliche Fehlurteile eines Monarchen: „Welcher mit den Regierungsgeschäften belastete König, darf sich mit Entscheidungen der Rechtssachen befassen, ohne jene zu verabsäumen, ohne sich den Irrthümern, den Ueberraschungen, den Verleitungen seiner, oder anderer Leidenschaften Preis zu geben?“260
Kircheisen stellte einen Monarchen als einen Menschen dar, der vor einem Irrtum nicht gefeit, der weder allwissend war, noch unparteiisch über den Dingen stand. 257 Vgl. Vortrag von Svarez an den Kronprinzen [ca. Ende 1791]; zit. in: Stölzel 1885, S. 319. 258 Diese Haltung muss im Kontext der Diskurse zur Gnade in der Aufklärung gesehen werden [s. A.I.1.d)]. 259 Vortrag von Kircheisen an den Kronprinzen vom 6. März 1792; in: Klein 1792, 9. Bd. (Beilage No 1), S. 308. 260 Zit. aus: Vortrag von Kircheisen an den Kronprinzen vom 6. März 1792; in: ebd., S. 308.
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Damit erklärte er das auf dem Gottesgnadentum beruhende Monarchenbild als überholt, welches dieses Amt als den allmächtigen Herrscher verstanden haben wollte. Bezieht man diese Äußerung auf den Zopfschulzen-Prozess, so musste Friedrich Wilhelm II. im Falle eines Machtspruchs damit rechnen, dass man ihn für einen despotischen Herrscher hielt, der sich selbst überschätzte und einem unzeitgemäßen Herrschaftsverständnis anhing, kurz: ein Monarch, der sich lächerlich machte. Zugleich stellte Kircheisen fest, dass die eigentliche Pflicht eines Landesherrn in der Wahrnehmung der Regierungsgeschäfte liege, nicht aber in der Entscheidung von Rechtsangelegenheiten. Auch Svarez warnte den Kronprinzen davor, sich in Prozesse einzumischen, denn ein Herrscher laufe zwangsläufig Gefahr: „( . . . ) in der besten Absicht Ungerechtigkeiten aus Mangel an Gesetzeskenntniß und an der Fertigkeit der Gesetzesanwendung zu begehen.“261
Die Anspielungen sowohl auf den Machtspruch Friedrichs II. im Müller-ArnoldProzess [s. A.II.2.] als auch auf die Einmischung Friedrich Wilhelms II. in das Verfahren des Zopfschulzen beim Kammergericht [s. A.II.3.] sind offenkundig.262 Auch Kircheisen scheint auf den Präzedenzfall Müller-Arnold und die Haltung Friedrich Wilhelms II. im Zopfschulzen-Prozess implizit zu verweisen, als er dem Kronprinzen vortrug: „Welcher König kann ( . . . ) der zu den Entscheidungen erforderlichen vollständigen Kenntniß der Gesetze sich rühmen? auf deren Erlernung, noch mehr aber auf die Kunst, sie richtig anzuwenden, wir unsere ganze Lebenszeit verwenden ( . . . ).“263
Aus den beiden Vorträgen an die Adresse des Kronprinzen spricht das Selbstbewusstsein einer erstarkten Justiz, die nicht nur ihre Zuständigkeit gegenüber Ansprüchen der Verwaltung verteidigte, sondern sich darüber hinaus auch gegen das Eingreifen des Landesherrn in seiner Funktion als oberster Richter verwahrte.264 Die beiden Juristen rieten dem Kronprinzen und indirekt auch dem regierenden Friedrich Wilhelm II., auf die Kompetenz seiner Juristen zu vertrauen und Rechtsangelegenheiten grundsätzlich den Gerichten zu überlassen. So mahnte Svarez eindringlich: „Er [der Regent] muß die von seinen Gerichten ausgesprochenen Erkenntnisse selbst aufrecht erhalten, und sie nicht durch willkührliche Verfügungen aufheben oder abändern.“265 261 Vortrag von Svarez an den Kronprinzen [ca. Ende 1791]; zit. in: Stölzel 1885, S. 313 und vgl. S. 312. 262 Zu diesem Zeitpunkt war der Machtspruch Friedrich Wilhelms II. im ZopfschulzenProzess zwar noch nicht gefallen; er hatte sich aber bereits in das Verfahren eingemischt, als er das Kammergericht wissen ließ, dass er ein Urteil von ihm erwarte, welches den Prediger seines Amtes enthebt [s. A.II.3.] – vgl. Tradt 1997; vgl. Hülle 1981. 263 Vortrag von Kircheisen an den Kronprinzen vom 6. März 1792; in: Klein 1792, 9. Bd. (Beilage No 1), S. 308 f. 264 Zum Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der preußischen Staatsdiener Ende des 18. Jh. vgl. Baumgart 1982, S. XXIV. 265 Vortrag von Svarez an den Kronprinzen [ca. Ende 1791]; zit. in: Stölzel 1885, S. 312.
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Beide Juristen warnten vor den unabwägbaren Folgen von Machtsprüchen: Sie schafften Ungerechtigkeit – vor allem im Hinblick auf die „Sicherheit des Eigenthums“ und die „Freiheit der Preußischen Unterthanen“ –, ohne dass es gegen sie ein Mittel des Schutzes oder der Beschwerde gebe. Ein Herrscher würde damit seine erste Pflicht, „einen jeden bei dem Seinigen zu schützen“, verletzen, so Svarez.266 Ähnlich sah dies Kircheisen: Ein Machtspruch „( . . . ) würde Ihnen [dem Kronprinzen] mit Recht das Vertrauen des Volks auf Ihre Gerechtigkeit entziehen, auf welchem Vertrauen doch ein so großer Theil der Glückseligkeit eines Königs beruht.“267
Nach Meinung der Staatsrechtler kündigte der Machtspruch den contrat social auf und stellte somit die Legitimität der Herrschaft in Frage. Würde aber die Legitimität einer Herrschaft von den Untertanen in Frage gestellt, so bedeute dies das Ende der Monarchie. Mit Blick auf Frankreich beschwor Svarez die Gefahr einer Revolution herauf.268 Eine solche Erschütterung des Throns könne nur dadurch verhindert werden, dass die nach Svarez’ Meinung bislang in Brandenburg-Preußen gewährte „Sicherheit der bürgerlichen Freiheit gegen willkürliche Gewalt“ in vollem Umfang garantiert werde.269 Hinter den Plädoyers beider Juristen stand die Idee von einer weitgehend unabhängigen Justiz, die von der Exekutive nicht durch Machtsprüche in Schranken gewiesen wurde. Einzig der Gnade gestanden sie zu, im Einzelfall in den Lauf der Gesetze einzugreifen. Ein Landesherr dürfe durchaus in ausgewählten Fällen, in denen bereits ein Gerichtsurteil verkündet worden war, Gnade im Sinne einer Strafmilderung walten lassen. Mit dieser Haltung standen Kircheisen und Svarez nicht allein, vielmehr wurde sie von einem Großteil der Juristen Ende des 18. Jahrhunderts vertreten. Die Mahnungen seiner Lehrmeister hatten auf den Kronprinz offenbar Eindruck gemacht, denn als er einige Jahre später seine Gedanken zur Regierungskunst zu Papier brachte, kündigte er an, dass er als Regent eine verhaltene Gnadenpraxis270 zu verfolgen beabsichtige: 266 Zit. aus: Vortrag von Svarez an den Kronprinzen [ca. Ende 1791]; zit. in: ebd., S. 314 und 312. 267 Vortrag von Kircheisen an den Kronprinzen vom 6. März 1792; in: Klein 1792, 9. Bd. (Beilage No 1), S. 308. 268 Sowohl Kircheisen als auch Svarez wiesen in diesem Zusammenhang auf die in Frankreich gebräuchlichen lettres de cachet hin, die vom Volk als Willkürakt des Monarchen kritisiert wurden – Vortrag von Kircheisen an den Kronprinzen vom 6. März 1792; in: ebd., S. 309; vgl. Vortrag von Svarez an den Kronprinzen [ca. Ende 1791]; zit. in: Stölzel 1885, S. 315. 269 Zit. aus: Vortrag von Svarez an den Kronprinzen [ca. Ende 1791]; zit. in: Stölzel 1885, S. 315. 270 Als Beispiel für die Gnadenpraxis von Friedrich Wilhelm III. s. General-Pardon anlässlich seiner Thronbesteigung [s. C.III.2.e)] – vgl. Kabinettsorder vom 30. Dezember 1797 und zum gesamten Vorgang vgl. Schreiben des Kammergerichtspräsidenten Kircheisen vom 28. Juni 1798 an E. F. Klein; zit. in: Klein 1798, 17. Bd., S. 172 – 178, hier S. 172 und S. 160 – 164.
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„Was Gnaden-Sachen anbelangt, so ist es gut, daß der Herr hierin nicht zu willfährig ist und so mancher Unwürdige, der Dreistigkeit genug zum fordern besitzt, hierzu gelangt.“271
Das Fehlurteil im Müller-Arnold-Prozess [s. A.II.2.] seines Großonkels hatte dem Kronprinzen offensichtlich vor Augen geführt, wie schwierig es war, auf der Grundlage einer parteiisch verfassten Supplik eine Entscheidung zu treffen, die als gerecht empfunden wurde: „( . . . ) gesetzt nun ( . . . ), der Fürst wäre im Stande, alle ihre Klagesachen anzuhören, würde er darum nicht oft sehr ungerecht handeln, wenn er einseitig verfahren wollte und sich eine Sache zu entscheiden erlauben, ohne die Gegengründe zu haben?“272
Obwohl Kronprinz Friedrich Wilhelm das Problem der Gerechtigkeit wohl erkannt hatte, sah er sich dennoch in der landesväterlichen Pflicht, sich mit den Bitten und Beschwerden seiner Untertanen auseinander zu setzen und Abhilfe zu schaffen: „So gewiß als ich überzeugt bin, daß jeder wohldenkende Landesfürst sich bemühen wird, die Klagen seiner Unterthanen anzuhören und abzuhelfen, so sehr bin ich doch im Gegentheil von der Ohnmöglichkeit überzeugt, alle und jede Klagen seiner Unterthanen anhören und entscheiden zu können ( . . . ).“273
Angesichts der großen Anzahl an Supplikationen, die täglich in der Kanzlei eingingen, bezweifelte Friedrich Wilhelm allerdings, den Klagen seiner Untertanen gerecht werden zu können. Der Kronprinz befürchtete offenbar, dass die Arbeit, welche die Gnadenentscheide ihm als künftigem Regenten abverlangten, sein Privatleben beeinträchtigen würde – wiederholt sollte später Friedrich Wilhelm III. sein Recht auf ein geschütztes Privatleben geltend machen. Bereits als Kronprinz plädierte er dafür, „daß man den Zutritt zum Landesherrn nicht zu geläufig mache.“274 Die Vorstellung, dass der Monarch keine durch und durch öffentliche Person sei, sondern neben dem Amt auch Anspruch auf eine private Sphäre habe, stellt einen Wandel im Selbstverständnis des Monarchen dar: Friedrich Wilhelm III. gab damit das bis dahin gepflegte Monarchenbild vom allgegenwärtigen König auf.275 271 Friedrich Wilhelm III. (bzw. hier 1796 / 97 als Kronprinz); zit. in: Küntzel 1911, S. 107. Dem Kontext ist zu entnehmen, dass hier unter Gnaden-Sachen nicht die Begünstigung durch Schenkungen oder die Verleihung von Titeln etc. gemeint ist; vielmehr bezieht sich der Begriff hier auf das Gnadegewähren bzw. -verwehren im Rahmen von Justizsupplikationen. 272 Friedrich Wilhelm III. (bzw. hier 1796 / 97 als Kronprinz); zit. in: Küntzel 1911, S. 104 f. 273 Friedrich Wilhelm III. (bzw. hier 1796 / 97 als Kronprinz); zit. in: ebd., S. 104. 274 Friedrich Wilhelm III. (bzw. hier 1796 / 97 als Kronprinz); zit. in: ebd., S. 107. Zu seinen Gedanken über die Regierungskunst vgl. ebd., S. 99 – 119, hier S. 104 – 108. 275 So die Einschätzung von Rainer Polley und Thomas Stamm-Kuhlmann – vgl. Polley 1988, S. 355 f.; vgl. Thomas Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III., der Melancholiker auf dem Thron, Berlin 1992. Als Quellenbeleg vgl. dazu Friedrich Wilhelm III. (bzw. hier 1796 / 97 als Kronprinz); zit. in: Küntzel 1911, S. 104 f. und vgl. Publikandum vom 21. Mai 1799; in: NCCPBPM 1801, 10. Bd., No XXVIII, Sp. 2437 – 2442, hier Sp. 2437 f.
II. Die rechts- und verwaltungsgeschichtliche Dimension
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Die unter Friedrich Wilhelm III. erlassenen Verordnungen zum Supplikationswesen hatten vorrangig zum Ziel, Entscheidungen über Gnadensachen möglichst an die Stellen zu delegieren, die bereits mit den Fällen vertraut waren, und dabei seine eigene Arbeitsbelastung zu minimieren.276 Nach einer Konsultation des Generaldirektoriums und des Justizdepartements entschied er sich – wie schon sein Vater – dafür, am so genannten Instanzenzug festzuhalten.277 Seinem Inhalt nach war daher das Publikandum vom 17. März 1798 keineswegs neu, sondern wiederholte hinlänglich Bekanntes: „Nur derjenige, welcher in seiner Sache diese Stufenfolge der Instanzen gehörig beobachtet hat, und gleichwohl sich überzeugt hält, daß sein Gesuch nicht hinlänglich erwogen, oder seinen Beschwerden nicht gesetzmäßig abgeholfen worden, kann an Seiner Königlichen Majestät Allerhöchste Person sich wenden, und auf Höchstdero eigene Prüfung und Entscheidung antragen.“278
Die Untertanen wurden auch vor dem so genannten Erschleichen von Begnadigungen mit Hilfe unwahrer oder einseitiger Behauptungen nochmals eindringlich gewarnt. Der beliebte Brauch, Bittschriften Seiner Königlichen Majestät auch persönlich übergeben zu können, wurde nun untersagt und die Supplikanten wurden stattdessen an die zuständigen Behörden verwiesen. Die Untertanen aber hielten sich offenbar nicht an die Regelungen der immediaten Beschwerdeführung von 1798. In der Hoffnung, die Anweisungen würden dadurch eher befolgt, wurden sie in Form von Edikten und Verordnungen in den folgenden Regierungsjahren 1799, 1801, 1804, 1808, 1810 und 1814 litaneihaft wiederholt.279 Auch wenn sich die Vorgaben zum Supplizieren inhaltlich nicht 276 So die Einschätzung von Rainer Polley – vgl. Polley 1988, S. 354; vgl. auch Stölzel 1989 / 1888, 2. Bd., S. 335; vgl. Heinrich v. Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, 1. Bd., Leipzig 1909, hier S. 166. 277 Anlass zu einer Verordnung gab ein so genanntes „unstatthaftes Gesuch“ einer Kolonistengemeinde zu Mützel. In der Phase der Konzeptionierung riet der Geheime Rat Friedrich Wilhelm III., auf die Vorschrift seines Vorgängers vom 12. Juni 1787 zurückzugreifen, „( . . . ) welche mit gegenwärtigen allerhöchsten Intention völlig harmoniren ( . . . ).“ – GStA PK, II. HA, Abtlg. 3, Tit. XLII, No 11, fol. 33 und vgl. ins. fol. 19 – 47; vgl. auch Stamm-Kuhlheim 1992, S. 138 f. 278 Zit. aus: Publikandum vom 17. März 1798; in: NCCPBPM 1801, 10. Bd., No XVIII, Sp. 1597 – 1606, hier Sp. 1599 – 1600. Zur Entstehungsgeschichte des Publikandums vgl. GStA PK, II. HA, Abtlg. 3, Tit. XLII, No 11, fol. 19 – 47, s. bes. Erlass vom 14. Februar 1798, ebd., fol. 20 – 21. Der zitierte Passus ist ein Beispiel dafür, dass sich die Verordnungen sowohl auf Supplikationen i. S. von Beschwerden als auch Gnadenbitten in Justiz- und Gnadensachen beziehen. 279 Vgl. Publikandum vom 21. Mai 1799; in: NCCPBPM 1801, 10. Bd., No XXVIII und zur Entstehungsgeschichte vgl. GStA PK, II. HA, Abtlg. 3, Tit. XLII, No 11, fol. 48 – 56, s. bes. Konzept des Publikandums vom 21. März 1799; in: ebd., fol. 49 – 50; vgl. Reglement vom 29. Juni 1801; in: NCCPBPM 1806, 11. Bd., Sp. 313 – 316 und zur Entstehungsgeschichte vgl. GStA PK, II. HA, Abtlg. 3, Tit. XLII, No 11, fol. 57 – 72, s. bes. Kabinettsorder an das Generaldirektorium und Justizdepartement vom 18. Mai 1801; in: ebd., fol. 62 – 63; vgl. Reskript vom 9. Mai 1804; in: NCCPBPM 1806, 11. Bd., No XVIII, Sp. 2189 – 2190;
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
wesentlich von denen seiner Vorgänger unterscheiden, so ist doch die Begründung, mit der Friedrich Wilhelm III. die Notwendigkeit seiner Weisungen rechtfertigte, eine andere. Wiederholt betonte er, dass es der „landesväterlichen Vorsorge und Gerechtigkeitsliebe“ zuwider laufe, „einseitige Gesuche und Anträge“ durch Gnadenakt zu entscheiden, „ohne sich vorher von dem wahren Sachverhältniß überzeugt zu haben“ und aus diesem Grund könne es „Niemandem Nutzen bringen, wenn er in dergleichen Fällen die öffentlichen Behörden vorbeigeht.“280 Die Begründung spiegelt ein neuartiges Verständnis von der landesherrlichen Pflicht gegenüber den Untertanen wider: Der Wille des Monarchen genügte offenbar nicht mehr, ein Gesetz, eine Verordnung oder einen Gnadenakt zu legitimieren. An der Wende zum 19. Jahrhundert musste sich das Regierungshandeln offensichtlich dadurch legitimieren, indem es auch auf den Nutzen verwies, den es den Untertanen brachte. Für einen Herrscher am Ende des 18. Jahrhunderts war es scheinbar nicht vertretbar, Gnade aus reinem Erbarmen als unverdienbares Privileg zu gewähren, so wie es dem christlichen, konkret dem reformatorischen Gnadenverständnis entsprochen hätte [s. A.I.1.d)]. Aus der Sicht von Friedrich Wilhelm III. lief ein solch „gutmüthiger Fürst“, der sich ausschließlich von christlichen Werten leiten ließ, Gefahr, den Taktiken seiner Untertanen aufzusitzen.281 Gnade sollte nur jene erlangen, die laut Friedrich Wilhelm III. „Verdienste und Rechtschaffenheit“282 vorweisen könnten. Gnade war damit zu einem säkularisierten und rationalen Instrument geworden, welches abhängig war vom Verhalten und von der Moral der zu begnadigenden Person und letztlich auch von der Einschätzung der mit den Gnadensachen betrauten Behörden. Der Prozess der Rationalisierung und Bürokratisierung der Gnade vom 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fand damit einen vorläufigen Endpunkt. Ein gewandeltes Verständnis von Gnade hat zwangsläufig Auswirkungen auf jenes vom Supplizieren: So verschwand im Laufe des 19. Jahrhunderts die Bezeichnung Supplikation, nicht jedoch die Praxis des Gnadenbittens und der Beschwerdeführung. Sie lebte u. a. im Petitionsrecht fort283 und wurde als Grundrecht in den späteren Verfassungen verankert.284 vgl. Publikandum vom 29. Februar 1808; in: Allgemeine Juristische Monatsschrift für die Preußischen Staaten, hrsg. v. Heinrich Friedrich Mathis, 6. Bd., Berlin 1808, S. 4 – 8; vgl. Publikandum vom 14. Februar 1810; in: NCCPBPM 1822, 12. Bd., No CVII, Sp. 937 – 942; vgl. Bekanntmachung vom 10. September 1814; in: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1814, Teil A, No 247, Berlin 1814, S. 87 – 88. 280 Zit. aus: Publikandum vom 29. Februar 1808; in: AJM 1808, 6. Bd., S. 4 f. 281 Zit. aus: Friedrich Wilhelm III. (bzw. hier 1796 / 97 als Kronprinz); zit. in: Küntzel 1911, S. 107. 282 So der Wortlaut von: Friedrich Wilhelm III. (bzw. hier 1796 / 97 als Kronprinz); zit. in: ebd. 283 Zur Kontinuität zwischen Supplik und Petition vgl. Fuhrmann / Kümin / Würgler 1998, S. 303; vgl. Mohme 1991, S. 144 und S. 18 – 30; vgl. Rosegger 1908, S. 104 und S. 126 – 132. 284 Zur Entwicklung des Petitionsrechts in den preußischen Verfassungen bis Mitte des 19. Jahrhunderts vgl. Rosegger 1908, S. 126 – 132, s. Art. 32 Verfassung für den Preußischen Staat vom 5. Dezember 1848 bzw. 31. Januar 1850, hier S. 129; für das Deutsche Reich vgl.
III. Die Dimension der Praxis
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III. Die Dimension der Praxis: Das Gnadenbitten unter Friedrich Wilhelm II. 1. Die Entstehung von Suppliken: Ratgeben, Konzipieren und Ausfertigen a) Fachkundige Schreiber Wollte man in Brandenburg-Preußen Ende des 18. Jahrhunderts eine Supplikation einreichen, so war man im Grunde gezwungen, einen fachkundigen Schreiber aufzusuchen, der sowohl über das Prozedere informieren, als auch inhaltlich Ratschläge für eine Erfolg versprechende Argumentation und Darstellung erteilen, vor allem aber die Niederschrift der Supplik übernehmen konnte. Denn das Verfassen einer Gnadenbitte setzte nicht nur die bloße Schreibfertigkeit voraus, sondern verlangte darüber hinaus Kenntnisse der Courtoisie und eines umfangreichen Kanons an Formalia [s. A.III.2.]. Es ist daher davon auszugehen, dass der Großteil der Suppliken von professionellen Schreibern aufgesetzt wurde.285 Für diese Annahme spricht, dass zahlreiche Suppliken eine gewisse Formelhaftigkeit und Stilsicherheit in Sachen Courtoisie aufweist, was auf ein Mindestmaß an Professionalität hindeutet. Hinzu kommt, dass die Mehrheit der supplizierenden Männer und Frauen nicht aus der Bildungselite, sondern aus den unteren gesellschaftlichen Schichten stammte [s. B.II.1.b)], in denen Lese- und Schreibfertigkeiten eher selten anzutreffen waren.286 Selbst Supplikanten, die nachweislich des Schreibens mächtig waren287, gaben ihre Suppliken bei einem Schreiber in Auftrag. Folglich sind bei Art. 23 Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871; in: Verfassung des Deutschen Reiches, Gegeben Berlin, den 16. April 1871, Text-Ausgabe mit Ergänzungen, Anmerkungen und Sachregister, hrsg. v. L. v. Rönne, 5. Aufl., Berlin / Leipzig 1886, hier S. 91; zur Beschwerde gegen so genannte Justizverweigerung vgl. Art. 77 Verfassung des Deutschen Reiches; in: ebd., S. 158 f. 285 Dieser Meinung ist z. B. auch Gerd Schwerhoff – vgl. Schwerhoff 2000, S. 485. 286 Allgemeine Aussagen zum Alphabetisierungsgrad der frühneuzeitlichen Gesellschaft sind lediglich dahingehend zu treffen, dass die Lese- und Schreibfertigkeit gegen Ende des 18. Jh. im Ancien Régime stieg. Dabei gilt es aber zu berücksichtigen, dass es regional sehr große Unterschiede gab und vielfältige Faktoren – wie z. B. die ökonomisch-soziale Situation einer Familie und die berufliche Situation, die Qualität des Schulwesens, die Bedeutung religiöser Lektüre – auf die Lese- und Schreibfertigkeit Einfluss hatten. – Zur Lese- und Schreibfertigkeit einer ländlichen Bevölkerung in der Frühen Neuzeit allgemein und speziell zu Ostwestfalen vgl. Reiner Prass, Schriftlichkeit auf dem Land zwischen Stillstand und Dynamik. Strukturelle, konjunkturelle und familiäre Faktoren der Alphabetisierung in Ostwestfalen am Ende des Ancien Régime; in: Werner Rösener (Hg.), Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne, Göttingen 2000, S. 319 – 343, hier S. 325, 343. Zum Forschungsstand zur Frage der Alphabetisierung in der Frühen Neuzeit in Europa vgl. Reiner Prass, Das Kreuz mit den Unterschriften. Von der Alphabetisierung zur Schriftkultur; in: Historische Anthropologie 9 (2001) 3, S. 384 – 404. 287 So z. B. im Fall des Stellmachermeisters Peter Schmaeck: Wäre der Supplikant des Schreibens nicht mächtig gewesen, so würde die Supplik nur eine Handschrift, nämlich die
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
den meisten Fällen Supplikant bzw. Supplikantin und Verfasser der Supplik nicht identisch. Der Befund erweckt den Anschein, dass einige Vorgaben zum Supplizieren tatsächlich befolgt wurden, denn nach Anordnung der Obrigkeit sollten Suppliken nur noch von professionellen Schreibern verfasst sein: So waren im ersten Regierungsjahr von Friedrich Wilhelm II. nur Advokaten und Prokuratoren als Supplikenschreiber zugelassen.288 Die Prokuratoren gehörten nicht dem Juristenstand an, sondern stammten zumeist aus den Schreibstuben der Juristen, wo sie oberflächliche Kenntnisse in Rechtsangelegenheiten erworben hatten, welches zum Aufsetzen von Suppliken ausgereicht haben durfte. Eventuell mangelndes Fachwissen konnten sie wettmachen, weil sie als Agenten der am Prozess beteiligten Parteien die Hintergründe des Vergehens und die Lebensbedingungen der Angeklagten und ihrer Angehörigen in der Regel gut kannten. Zu den Angeklagten pflegten die Advokaten hingegen zumeist nur indirekten Kontakt, vermittelt durch die Prokuratoren. Sie waren indes gelernte Juristen, die als Vertreter der Parteien vor Gericht auftraten. Die Prokuratoren standen bei der Obrigkeit in keinem guten Ruf; sie wurden zu den Winkelschriftstellern gezählt, da sie ihre Vermittlerposition zwischen Advokaten und Klägern bzw. Angeklagten angeblich missbrauchten, zu ihren eigenen materiellen Gunsten Prozesse in die Länge zogen und ihre Klienten zum unnötigen Supplizieren animierten [s. A.II.1. und A.II.3.].289 Im Bemühen, das Prozesswesen effizienter zu gestalten, hatte die Obrigkeit ein Interesse daran, die Prokuratoren des Schreibers, aufweisen. Schmaeck unterschrieb seine Supplik jedoch eigenhändig, was allerdings für sich genommen noch nicht bedeutet, dass er des Schreibens mächtig war. Das Unterschreiben ist nicht zwangsläufig mit Lesen- und Schreibenkönnen gleichzusetzen – vgl. Prass 2001, S. 391. Doch Schmaeck hatte die Supplik eigenhändig mit seiner Adresse versehen, und dies deutet darauf hin, dass er zumindest rudimentär schreibkundig war. Eine Allographie ist hingegen unwahrscheinlich, da der übrige Text von der Hand des Schreibers stammt, und es daher ungewöhnlich wäre, eine weitere schreibkundige Person nur für die Unterschrift an Schmaecks Stelle hinzuzuziehen – vgl. Supplik des Stellmachermeisters Peter Schmaeck vom 25. April 1794 / Fallakte Gottlob Kalmer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240, fol. 14. Auch im Fall des Buchhandlungslehrlings Rieboldt ist davon auszugehen, dass jener des Lesens und Schreibens mächtig war, da dies elementare Voraussetzung für seine angestrebte Profession war. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass Rieboldt selbst der Verfasser seiner Supplik in eigener Sache war; vielmehr spricht vieles dafür, dass sein Gerichtsverteidiger der Verfasser der Supplik war [s. u.] – vgl. Supplik des Rieboldt in eigener Sache vom 29. Dezember 1786 / Fallakte Carl Gottlieb Immanuel Rieboldt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. 288 Bereits von Friedrich Wilhelm I. stammt die Verfügung, dass nur Prokuratoren und Advokaten die Genehmigung erhielten, Suppliken abzufassen – vgl. Edikt vom 17. März 1710; in: CCM (2) 1737, No CXXIV, Sp. 503 – 508; vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 210. 289 Durch den engen Kontakt zu den am Prozess beteiligten Parteien bestand theoretisch die Gefahr, dass die Prokuratoren ihre Auftraggeber zu Maßnahmen überredeten, die zwar kaum den intendierten Erfolg bewirkten, eine zügige Beendigung des Verfahrens aber verhinderten und damit die Kosten in die Höhe trieben. Da auch die Wahl des Advokaten in ihre Zuständigkeit fiel, gerieten diese in eine gewisse Abhängigkeit zu den Prokuratoren. Ihnen
III. Die Dimension der Praxis
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allmählich aus dem Rechtswesen zu verdrängen, so auch aus dem Supplikationswesen. Vor diesem Hintergrund ist das Publicandum vom 12. Juli 1787 zu verstehen, welches ausschließlich die dem Juristenstand angehörenden Gerichtsverteidiger, die so genannten Justizkommissare290, zum Schreiben von Suppliken autorisierte.291 Das Publicandum sah unter anderem vor, die Prokuratoren und andere so genannte Winkelschriftsteller292 unter Strafe zu stellen, falls sie das Supplizieren weiterhin geschäftlich betrieben. Um unbefugte Schreibkundige von autorisierten, rechtskundigen Schreibern unterscheiden zu können, wurden die Justizkommissare gesetzlich verpflichtet, die von ihnen verfassten Suppliken zu unterschreiben. In Brandenburg-Preußen war die Unterzeichnungspflicht für Supplikenschreiber seit 1691 üblich293, im Laufe des 17. / 18. Jahrhunderts wurde sie durch zahlreiche Edikte bestätigt294 und ging schließlich in die Allgemeine Gerichtsordnung (AGO) von 1793 [s. u.] ein. In der Tat geben einige Supplikenschreiber ihre Identität preis: Zum Beispiel wies sich der von der Ehefrau Ebel mit dem Aufsetzen der Supplik beauftragte ausländische Schreiber als Prokurator aus: „Concepist Erich Henrich Negendanck, hing daher der Ruf, „Gerichtsschmarotzer“ zu sein, an. Der Justizminister und Großkanzler unter Friedrich II., Samuel v. Cocceji, versuchte die verhassten Prokuratoren aus den Gerichtshöfen zu verbannen, allerdings ohne Erfolg, da die prozessierenden Parteien häufig weit entfernt vom Gerichtsort wohnten und somit auf Prozessvertreter angewiesen waren. – Vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 210 f. 290 Seit 1780 ersetzten die Justizkommissare weitgehend die Advokaten als Verteidiger in Strafsachen und bei Akten freiwilliger Gerichtsbarkeit; wenige Jahre darauf betätigten sich die Justizkommissare auch als Notare – vgl. Eugen Haberkern / Joseph Friedrich Wallach, Hilfswörterbuch für Historiker. Mittelalter und Neuzeit, 8. Aufl., Tübingen / Basel 1995, hier 1. Teil, S. 319. 291 Vgl. §§ 7, 11 Publicandum vom 12. Juli 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXV, Sp. 1501 f. und vgl. III 1 § 29 AGO. 292 Solche Winkelschriftsteller standen nicht nur bei der Obrigkeit in Brandenburg-Preußen, sondern auch in anderen Herrschaften des Ancien Régime in einem schlechten Ruf – für Innerösterreich vgl. Helfried Valentinitsch, Advokaten, Winkelschreiber und Bauernprokuratoren in Innerösterreich in der frühen Neuzeit; in: Winfried Schulze (Hg.), Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa, Stuttgart 1983, S. 188 – 201, hier S. 194. Zur sozialen Herkunft der Winkelschreiber vgl. ebd., S. 194 f. 293 Vgl. Edikt vom 10. Oktober 1691; in: CCM (2) 1737, No LXXV, Sp. 197 f. Die Unterzeichnungspflicht geht vermutlich auf die hochmittelalterliche Tradition des Notariatsinstruments, der Unterzeichnung von Beweisurkunden und gerichtlichen Fürsprachen durch Juristen, zurück – vgl. Prass 2001, S. 394. 294 Vgl. Edikt vom 12. Dezember 1694; in: CCM (2) 1737, No LXXXI, Sp. 203 – 206; vgl. Edikt vom 18. Dezember 1697; in: CCM (2) 1737, No LXXXIIX, Sp. 211 – 214; vgl. Edikt vom 31. Juli 1699; in: CCM (2) 1737, No XCI, Sp. 215 – 218; vgl. Edikt vom 9. Januar 1703; in: CCM (2) 1737, No CII, Sp. 343 – 344; vgl. § 8 Kammergerichtsordnung vom 1. März 1709; in: CCM (2) 1737, No CXIX, Sp. 401 – 405; vgl. Edikt vom 17. März 1710; in: CCM (2) 1737, No CXXIV, Sp. 503 f.; vgl. Erklärung vom 1. Oktober 1714 zu der allgemeinen Justizordnung vom 21. Juni 1713; in: CCM (2) 1737, No CXXXV, Sp. 553 – 556; vgl. Edikt vom 2. Januar 1729; in: CCM (2) 1737, No CCLIII, Sp. 799 – 800.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
Hamburgischer Obergerichts-Procurator“.295 Auch Hasche hatte als „Justiziar“ seinen Klienten, den Bauern Hans Kohlmorgen, bei der Konzipierung der Argumentation seiner Supplik beraten und diese verfasst, aber nicht unterschrieben, sondern der Supplik ein erläuterndes Begleitschreiben beigefügt.296 Da die Unterzeichnungspflicht aus der Sicht der Obrigkeit aber zu wenig Beachtung fand, setzte sie nun bei den Supplikanten und Supplikantinnen an, um den Vorschriften Geltung zu verschaffen. Ihnen wurde in der AGO bedeutet: „( . . . ) dass auf ihre schriftlichen Vorstellungen, die von keinem Justizkommissarius unterschrieben und legalisirt sind, gar keine Rücksicht genommen, sondern ihnen dieselben ohne weitere Verfügung zurückgegeben werden.“297
Entgegen diesem klaren Reglement kann allerdings nur bei acht Suppliken nachgewiesen werden, dass es sich bei den Unterzeichnenden tatsächlich um Justizkommissare handelt.298 Zum Beispiel gab es beim Kammergericht einen Justizkommissar namens Cosmar, auf den allein fünf Gnadenbitten in drei unterschiedlichen Fällen zurückgehen.299 Mit der Unterschrift „Kagel Justitz Commissarius“
295 Zu dieser Zeit war das Supplikenschreiben noch nicht auf Justizkommissare beschränkt worden, also war auch ein Prokurator offiziell als Supplikenschreiber zugelassen, was in diesem Fall insofern irrelevant ist, als es sich um eine Supplikation aus dem Ausland handelt – vgl. Supplik der Ehefrau Ebel vom 26. Januar 1787 / Fallakte Georg Ebel (intus: Christian Ludewig, Palm Francke, Joachim Baetke); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.058. 296 Die Argumentationslinien beider Schreiben gleichen sich – vgl. Supplik von Kohlmorgen in eigener Sache vom 26. September 1788 und das Begleitschreiben des Justizkommissars Hasse zur Supplik vom 29. September 1788 / Fallakte Hans Kohlmorgen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 552 – 561. 297 III 1 § 29 AGO. 298 So stammen die Vermerke „conc[epit] Schweder“ unter den beiden Suppliken Anton Mangolds von einem bei den Stadtgerichten zugelassenen Justizkommissar, wo dieser von 1796 bis 1798 nachgewiesen ist – zit. aus: Suppliken des Mangold in eigener Sache vom 13. Juni vom 5. Juni 1797 / Fallakte Anton Mangold; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.965 und vgl. Handbuch über den Königlichen Preussischen Hof und Staat, Berlin, hier geprüft Jg. 1794 – 1798, Stichwort: Justizkommissarien und Notarien im Departement des Kammergerichts. Ebenfalls bei den Stadtgerichten angestellt war der Justizkommissar Schumann, der die Kollektivsupplik seiner wegen Diebstahls und Hehlerei verurteilten Klientinnen Dänecken, Baseler, Trieblern und Riedel verfasst hatte – vgl. Supplik des Justizkommissars Schumann für Dänecken, Baseler, Trieblern, Riedel vom 19. September 1786 / Fallakte Marie Charlotte Dänecken, Anna Christina Baseler, Witwe Triebler, Maria Louisa Riedel, geb. Seelig; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 15.996. Schumann war noch bis 1798 Justizkommissar bei den Stadtgerichten – vgl. Handbuch, hier geprüft 1794 – 1798. In zwei weiteren Fällen liegen zwar Vermerke der Schreiber vor, jedoch bleibt unklar, welches Amt sie ausübten, da sie im Adresskalender nicht aufgeführt sind: Es handelt sich um den Schreiber „Koenen“ und um einen Verfasser, der sich durch Namensparaphe und dem Schriftzug „e[n] p[er]s[onne] Schreiber“ als professioneller Schreiber mit Kanzleierfahrung auswies. 299 Cosmar ist als Justizkommissar bei den Stadtgerichten von 1795 bis 1798 nachgewiesen – vgl. Handbuch, hier geprüft Jg. 1794 – 1798 unter dem Stichwort Justizkommissarien und Notarien im Departement des Kammergerichts. Cosmar unterschrieb folgende Suppliken
III. Die Dimension der Praxis
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gab ein weiterer Justizkommissar seinen Namen bekannt, und legte damit offen, dass er für beide sich vor Gericht streitenden Parteien Suppliken verfasste – eine Praxis, die niemand für anstößig befand, da sie offenbar üblich war.300 Dem Gesetz zum Trotz gab es nur wenige Supplikenschreiber, welche die von ihnen verfassten Schriftstücke namentlich gegenzeichneten. Die Obrigkeit machte allerdings auch nicht von der in der AGO genannten Möglichkeit Gebrauch, die Annahme von Supplikationen ohne Kennzeichnung des Schreibers zu verweigern: Auch formal nicht korrekte Supplikationen wurden unbeanstandet angenommen, bearbeitet und entschieden.301 Möglicherweise waren in der Kurmark eine überschaubare Anzahl an Justizkommissaren zugelassen, so dass diese den Staatsdienern der Geheimen Staatskanzlei und anderer Stellen, bei denen Suppliken abgegeben wurden, hinlänglich bekannt waren; eine Gegenzeichnung erübrigte sich daher. Da sich nur wenige Schreiber identifizieren lassen, stellt sich die Frage, ob den Suppliken andere Hinweise auf die Herkunft der Verfasser zu entnehmen sind. In der Tat gibt es Anhaltspunkte, die auf die Zugehörigkeit der Schreiber zu einer Berufsgruppe schließen lassen, bei der man Grundkenntnisse in Rechtsangelegenheiten erwarb: Indizien dafür sind zum Beispiel die in den Suppliken eingestreuten Latinismen302 und die gelegentliche Bezugnahme auf Rechtskodices.303 Auch in der Forschungsliteratur wird die Meinung vertreten, dass die Verfasser von Suppliken vor allem unter den Angehörigen des Juristenstandes zu suchen sind: Sie waren mehrheitlich Notare, Advokaten, Justizkommissare, mitunter aber auch in Rechtsfragen minder bewanderte Prokuratoren, Kanzlei- und Gerichtsschreiber.304 mit seinem Namenszug: vgl. drei Suppliken des Bier in eigener Sache vom 19. Juli 1795, vom 31. Juli 1795 und vom 8. Oktober 1795 / Fallakte August Ludewig Bier; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.986; vgl. Supplik der Ehefrau Brandt vom 19. September 1787 / Fallakte Johann Christian Gottfried Brandt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235; vgl. Supplik des Soderer in eigener Sache vom 12. Februar 1788 / Fallakte Johann Friedrich Soderer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055. 300 Vgl. Supplik der Ehefrau Bendix vom 5. März 1787 und Supplik des Bendix in eigener Sache vom 27. März 1786 / Fallakte Carl Friedrich Laffert und Samuel Bendix; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. 301 Theoretisch besteht zwar die Möglichkeit, dass tatsächlich etliche Supplikationen aus diesem Grunde abgelehnt wurden und folglich nicht aktenkundig wurden. Die Annahme wird aber im Hinblick auf die große Anzahl von Suppliken im Quellenfundus verworfen, die aufgrund zahlreicher Formfehler hinreichend Argumente geliefert hätten, ihre Eingabe von Amts wegen abzulehnen, sie wurden dennoch angenommen und bearbeitet. 302 Es kommen Latinismen vor, wie z. B. „Error“, „Periculum in mora“, „nach Spandau condemniret“, „appellations anmeldung“ etc. – beispielhaft zit. aus: Supplik der Schwester Maria Elisabeth vom 3. August 1786 / Fallakte Johann Erich; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 15.996. 303 So wird in den vorliegenden Suppliken häufig auf das ALR Bezug genommen – beispielhaft vgl. Supplik des Bier in eigener Sache vom 19. Juli 1795 / Fallakte August Ludewig Bier; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.986; vgl. Supplik des Adami in eigener Sache vom 11. Dezember 1795 / Fallakte Johann Ludwig Adami (intus: Meyer); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.986.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
Was den hier interessierenden Untersuchungsraum betrifft, so spricht vieles dafür, dass unter diesen Berufsgruppen vor allem die Justizkommissare, also die Gerichtsverteidiger bzw. die so genannten Defensoren, häufig die Verfasser der Suppliken ihrer Klienten waren. Für diese Annahme gibt es zahlreiche Indizien: Zum Beispiel werden in der Supplik der Wolterschen Eheleute einzelne Passagen aus der Defensionsschrift wörtlich wiedergegeben; vor allem aber weisen Supplik und Defensionsschrift dieselbe Handschrift auf.305 Auch im Fall Georg Henckel decken sich Aufbau und Argumentation der Gnadenbitte mit der Defensionsschrift.306 In der Supplik des Buchhandlungslehrlings Carl Gottlieb Rieboldt wird explizit auf die Untersuchungsakten rekurriert.307 Diese Bezüge setzen voraus, dass die Verfasser Zugang zu den Akten hatten – was auf die Justizkommissare in ihrer Funktion als Verteidiger zutraf. Den Supplikationswilligen war durchaus bekannt, dass sie ein Anrecht auf Unterstützung durch den Verteidiger hatten: So sah sich Hintze beispielsweise veranlasst, sich im Wege einer Supplik unter anderem darüber zu beschweren, dass ihn sein Verteidiger beim Supplizieren im Stich gelassen habe: „( . . . ) wenn mein Defensor, der Justitz-Commissarius Huch mir seinen Beystand nicht verweigert hätte ( . . . ).“308
Auch wenn es manchem Angeklagten bzw. dessen suppizierwilligen Angehörigen ebenso wie Hintze ergangen sein mag, so vermitteln die Akten insgesamt den Anschein, dass die Justizkommissare ihre Aufgabe als Berater und Verfasser von Suppliken tatsächlich wahrgenommen haben – zumal es in ihrem finanziellen Interesse lag, da sie sich das Supplikenschreiben bezahlen ließen und damit ihren bescheidenen Lohn aufstocken konnten. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass die Vorschrift, dass allein obrigkeitlich autorisierte Schreiber Suppliken ver304 Für folgende Untersuchungsgebiete können professionelle Schreiber als Verfasser von Suppliken nachgewiesen werden: für das Erzherzogtum Österreich unter der Enns im 18. Jh. vgl. Griesebner (Frühneuzeit-Info) 2000, S. 14 und vgl. dies. (Wahrheiten) 2000, S. 134; für Osnabrück im 18. Jh. vgl. Rudolph 2005, S. 434; für Schleswig im 17. Jh. vgl. Ulbricht 1996, S. 153 und vgl. ders. 1991, S. 20 – 22; für das frühneuzeitliche Köln vgl. Schwerhoff 2000, S. 485, der allerdings für das 18. Jh. einige Fälle vorfand, in denen die supplizierenden Männer und Frauen ihre Supplik mit eigener Hand verfasst hatten. Nach Jörg Karweick wurden noch im 19. / 20. Jh. Eingaben an Behörden häufig von professionellen Schreibern getätigt – vgl. Karweick 1989, S. 18. Aus aktenkundlicher Sicht bestätigt dies Schmid – vgl. Schmid 1959, 1. Teil, S. 158; vgl. Steinhausen 1891, S. 40. 305 Vgl. Supplik der Eheleute in eigener Sache vom 11. Juli 1788 mit Defensionsschrift o. D. in der Anlage / Fallakte Christian Wolter und Anna Maria Dorothea Wolter, geb. Netzbanth; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.054. 306 Vgl. Supplik des Henckel vom 29. Mai 1797 und Defensionsschrift (Abschrift) in zweiter Instanz vom 23. Februar 1787 / Fallakte Georg Henckel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.957. 307 Vgl. Supplik des Rieboldt in eigener Sache vom 29. Dezember 1786 / Fallakte Carl Gottlieb Immanuel Rieboldt; in: ebd. 308 Supplik des Hintze in eigener Sache vom 22. Dezember 1786 / Fallakte Hintze; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 6.
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fassen sollten, in der Praxis häufiger eingehalten wurde, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. b) Eine Frage der Perspektive: Hilfe aus dem sozialen Umfeld oder Winkelschriftstellerei Auch ohne Beistand eines Justizkommissars wussten sich Supplikationswillige, ähnlich wie der oben zitierte Hintze, zu helfen. In Notlagen nahm man Hilfe von jeder Seite dankbar an: So zum Beispiel auch die Supplikantin Borchmann, die eine Supplik für ihren Bruder von einer „guthen Freundin“ verfassen ließ, so der eigenhändige Vermerk der Schreiberin am Fuße des Blattes.309 Der Name der Schreiberin bleibt indes unbekannt, vielleicht, weil sie befürchtete, als Winkelschriftstellerin belangt zu werden. Denn wie hätte sie im Ernstfall belegen können, dass sie für ihre Hilfeleistung von ihrer Freundin keine Gegenleistung verlangt hatte, wenn die Obrigkeit sie erst einmal verdächtigte, das Supplizieren gewerblich zu betreiben? Diese Überlegung teilten vermutlich auch einige andere Schreibkundige aus dem Umfeld der Supplikanten und Supplikantinnen und setzten daher ihre Namen nicht unter die von ihnen verfasste Supplik. Nicht von einer Freundin, sondern von einem Studenten ließ sich Maria Elisabeth Kriegs beraten: Sie gestand vor Gericht, dass sie sich, nachdem sie ihren Mann nach 15 Ehejahren verlassen hatte, auf Anraten eines Studenten fortan „Wittwe Blankenburger, geb. Stolzenberger“ nannte, und dass jener Student ihr einen gefälschten „Todten- und Vormundtschafts-Schein“ besorgt hatte, damit sie eine zweite Ehe eingehen konnte.310 Zwar war besagter Student nicht Verfasser von Kriegs’ Supplik, dennoch zeigt dieses Beispiel, dass auf die Hilfe von jedweden Schreib- und Rechtskundigen zurückgegriffen wurde. Was für die Untertanen und Untertaninnen eine willkommene Unterstützung war, wurde von der Obrigkeit mit Argwohn bedacht, denn solche Leute standen bei ihr unter dem Verdacht: „( . . . ) einfältigen Leuten ( . . . ) zu klagen anzureitzen, umb das Geld durch solche böse Griffe aus ihren Beuteln zu locken.“311
309 Zit. aus: Supplik der Schwester Borchmann vom 10. Januar 1792 / Fallakte Johann Friedrich Borchmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. Dieser Schreiberin war die Unterzeichnungspflicht offenbar bekannt, denn ein solcher Zusatz würde sonst keinen Sinn ergeben. 310 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 8. Februar 1788] / Fallakte Maria Elisabeth Kriegs; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 311 Zit. aus: Justizordnung vom 21. Juni 1713; in: CCM (2) 1737, No CXXXI, Sp. 547. Auch wenn die Obrigkeit mit der Mahnung in erster Linie Supplikationen i. S. von Beschwerden gegen die Justiz begegnen wollte, so schloss dies auch als unnötig und ungegründet erachtete Supplikationen in Sachen Straferlass bzw. -milderung ergangener Kriminalurteile ein, also z. B. Bitten um Strafmilderungen, die vor Prozessabschluss eingereicht wurden, Gnadenbitten, die zum wiederholten Male gestellt und stets wieder abgelehnt wurden, oder Bitten, bei denen die Gnadenwürdigkeit mit nicht wahrheitsgemäßen Behauptungen begründet wurde.
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Zu den Urhebern zahlreicher unerwünschter Supplikationen gehörten aus der Sicht der Obrigkeit – neben verlauffenen Studenten – auch folgende Personengruppen: „Nechstdem weilen viele Unordnungen daraus erwachsen, daß in denen Dörffern Pastores, Küster, Schulmeistere, und in den Städten allerley Leuthe sich unternehmen, supplicata zu verfertigen ( . . . ).“312
Zwar finden sich in den vorliegenden Quellen keine Indizien dafür, dass Lehrer oder Geistliche Suppliken im Namen Anderer verfasst haben, doch schließt dies keineswegs aus, dass dieser Personenkreis, der von Amts wegen Autorität besaß und über einen gewissen Bildungsstand verfügte, von Supplikationswilligen um Rat und Hilfe gefragt worden war.313 Auch wenn die Obrigkeit nicht so weit ging, honorige Pastoren und Schulmeister direkt der Winkelschrifstellerei zu beschuldigen, so sollte ihnen der oben formulierte Vorwurf allerdings der Warnung genug sein. Schreibkundige Verwandte und Nachbarn hingegen, die den Supplikanten und Supplikantinnen beim Verfassen von Suppliken geholfen hatten, und die nicht das Ansehen von Dorfhonoratioren genossen, fielen vermutlich schnell in den Verdacht der Winkelschriftstellerei. Obwohl die Edikte und Verordnungen zum Supplikationswesen voll der Anklage gegen die Winkelschriftsteller waren und jenen mit einem harten Vorgehen drohten, wurde in der Supplikations- und Gnadenpraxis wenig gegen sie unternommen. In nur zwei Fällen stellte die Obrigkeit Nachforschungen über Supplikenschreiber an, die versucht hatten, anonym zu bleiben. Dabei wurde zum Beispiel Carl Adam ausfindig gemacht, dessen Geschichte einen Eindruck von den Nöten und Sorgen eines so genannten Winkelschriftstellers vermittelt: Der Registraturschreiber Carl Adam musste sich vor Gericht rechtfertigen, für die angeklagte Schuhmachersfrau Christliebe Huth eine Supplik gegen Bezahlung in die eigene Tasche aufgesetzt zu haben. Außerdem warf man ihm „unbefugtes Procuriren“ vor, da er angeblich Informationen zurückgehalten und damit die Arbeit des Gerichts behindert haben sollte.314 Nachdem Adam das Urteil über 14 Tage Gefängnis vernommen hatte, versuchte er sich mit Hilfe einer Supplikation im Nachhinein zu verteidigen: Er glaube, „daß die ergangene Sentenz für mich zu hart ausgefallen ist“, da 312 Zit. aus: Edikt vom 17. März 1710; in: CCM (2) 1737, No CXXIV, Sp. 503 – 508; vgl. auch Justizordnung vom 21. Juni 1713; in: CCM (2) 1737, No CXXXI, Sp. 547. 313 Z. B. für Schleswig und Württemberg lassen sich solche Fälle nachweisen – für Schleswig vgl. Ulbricht 1996, S. 153; vgl. ders. 1991, S. 20 – 22 und für Württemberg vgl. Schnabel-Schüle 1997, S. 53. Auch Reiner Prass geht davon aus, dass dieser Personenkreis vor allem für Analphabeten die Anlaufstelle vor Ort für die Übermittlung von Schriftlichem war – vgl. Prass 2001, S. 400. 314 Die von Adam zurückgehaltenen Informationen hätten nach Meinung des Gerichts die Schuldfrage seiner Supplikantin, der wegen Meineids vor Gericht stehenden Christliebe Huth, sogleich geklärt – zit. aus: Bericht der Stadtgerichte vom 10. November 1786 / Fallakte Carl Adam (intus: Huth); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 259 – 261.
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er sich lediglich eine „Nachläßigkeit“ habe zuschulden kommen lassen.315 Er habe keineswegs beabsichtigt, die besagte Information zu unterschlagen: „( . . . ) so ist solches aus einer Vergeßenheit entstanden, ( . . . ) und da sie [Christliebe Huth] auf dem Rathhause in der Registratur in meinem Gewühl von Arbeit den Auftrag that, so ist solcher meinem Gedächtniß um so mehr entgangen, da ich die dazu erforderliche Acta nicht gleich einsehen konnte.“316
Dem Vorwurf der gewerbsmäßig betriebenen Winkelschriftstellerei begegnete Adam mit der Versicherung, dass er von der Huth für das Anfertigen der Schreiben kein Geld verlangt habe, sondern „die dafür erhaltene Bezahlung hat mir die Huthen ungefordert aufgedrungen“.317 Adams Aussage steht allerdings im Widerspruch zu seinem – ebenfalls in seiner Supplik nachzulesenden – Geständnis, dass er sich das Verfassen von Suppliken und anderen Schriftsätzen bezahlen ließ. Dies rechtfertigte Adam mit seinem überaus geringen Verdienst: Obwohl er seit vier Jahren als Registraturschreiber im „Berlinschen Rathaus“ arbeite, werde er nur nach Bögen bezahlt, so dass er „im Durchschnitt gerechnet kaum die Woche Einen Thaler durch Schreiben“ verdiene.318 Für sein Auskommen sei er auf Nebeneinkünfte angewiesen: „( . . . ) mithin würde ich mit meiner Familie gar nicht haben leben können, wenn ich durch Anfertigung billiger Gesuche ( . . . ) etwas dazu zu verdienen nicht Gelegenheit hätte ( . . . ).“319
Das Schicksal, vom geringen Verdienst als Staatsdiener sein Auskommen nicht bestreiten zu können, teilte Adam mit vielen Kollegen.320 Die schlechte Bezahlung von gut ausgebildeten Schreibkräften, die für ihre Tätigkeit weniger als das Existenzminimum erhielten, erhöhte unweigerlich die Gefahr der Bestechlichkeit: So liegen in den Akten vier Fälle vor, in denen Schreiber, die ihre täglichen Ausgaben nicht durch ihre Arbeit decken konnten, sich zu Betrügereien verleiten ließen.321 Es steht zu vermuten, dass sich auch jene Schreiber das Verfassen von Schriftsätzen bezahlen ließen, bevor sie zu riskanten betrügerischen Praktiken griffen, deren sie nun angeklagt waren. 315 Supplik des Adam vom 21. Oktober 1786 / Fallakte Carl Adam (intus: Huth); in: ebd., fol. 241 f. 316 Ebd. 317 Ebd. 318 Ebd. 319 Ebd. 320 Diesen Missstand prangerten auch andere Schreibkräfte an, die in unterschiedlichen Ämtern tätig waren – vgl. Fallakte des Stadtgerichtsbedienten Hintze; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216; vgl. Fallakte des Schreibers Johann Friedrich Ritter; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217; vgl. Fallakte des Kopisten Johann Wilhelm Nicksen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217; vgl. Fallakte des Sekretärs Friedrich Wilhelm Carl Pitschel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220. 321 Vgl. Fallakte des Stadtgerichtsbedienten Hintze; in: ebd.; vgl. Fallakte des Schreibers Johann Friedrich Ritter; in: ebd.; vgl. Fallakte des Kopisten Johann Wilhelm Nicksen; in: ebd.; vgl. Fallakte des Sekretärs Friedrich Wilhelm Carl Pitschel; in: ebd.
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Carl Adam wusste, dass er gegen den Vorwurf der Winkelschriftstellerei bei der Obrigkeit ankämpfen musste, wollte er eine Strafmilderung erreichen. Daher stellte er gleich zu Beginn der Supplik klar, dass der gegen ihn erhobene Vorwurf des „unbefugten Procurirens“ nicht zutreffe, da solches zutiefst gegen sein Berufsethos verstoße: „Ich gehöre nicht zu der Classe von Procuratoren, welche sich in Proceß-Angelegenheiten mischen, und Vorstellungen gegen Collegia anfertigen, dergleichen habe ich mich nie unterfangen, und ich würde mich auch auf die unschuldigste Weise damit nicht befaßen ( . . . ).“322
Um seinen Beteuerungen mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, legte Adam ein Schreiben bei, aus dem hervorgeht, dass er aufgrund seiner Zuverlässigkeit und Fähigkeiten für den nächsten vakanten Posten in der Registratur vorgemerkt sei.323 Adams Darstellung überzeugte den Justizminister zwar nicht von seiner Unschuld, bewirkte indes, dass man ihm die erbetene Umwandlung der Haftstrafe in eine Buße von zwei Reichstalern gewährte.324 Die Begnadigung war vielleicht auch durch die Überlegung befördert worden, dass andernfalls in der Rathausregistratur eine Schreibkraft für die Dauer von zwei Wochen ausfallen würde. Im zweiten Fall mutmaßlicher Winkelschriftstellerei hatte das Justizdepartement offenbar Verdacht gegen einen Supplikenschreiber eines Angeklagten geschöpft und ordnete deshalb an, dass der Magistrat zu Wusterhausen den supplizierenden Angeklagten Wulff Moses unter Androhung von Gefängnis bedrängen sollte, den Namen des „unbefugten Schriftstellers“ zu nennen.325 Doch gab Moses die Identität seines Schreibers nicht preis. Ob ihn im Gegenzug die angedrohte Gefängnisstrafe tatsächlich traf, verschweigen die Akten. Moses’ Haltung zeigt, dass er gewillt war, mit dem Schweigen ein gewisses Risiko einzugehen. Dies belegt, dass er der Person des Schreibers in gewisser Weise verbunden war; vielleicht stammte jener aus seinem engeren sozialen Umfeld von Schutzjuden, in dem man sich bei der Abwehr obrigkeitlicher Ansprüche solidarisch unterstützte. Aus den Akten gewinnt man den Eindruck, dass es dem Justizdepartement weniger darum ging, einen der unzähligen unbefugten Schreiber ausfindig zu machen und ihn zu bestrafen, als vielmehr darum, gegenüber der jüdischen Gemeinschaft obrigkeitliche Präsenz zu zeigen. 322 Supplik des Adam vom 21. Oktober 1786 / Fallakte Carl Adam (intus: Huth); in: ebd., fol. 241 f. 323 Vgl. Anlage der Supplik des Adam vom 21. Oktober 1786 / Fallakte Carl Adam (intus: Huth); in: ebd., fol. 257. 324 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 30. Oktober 1786 / Fallakte Carl Adam (intus: Huth); in: ebd., fol. 258. 325 Zit. aus: Dekret an Magistrat zu Wusterhausen vom 4. Januar 1787 / Fallakte Wulff Moses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202; die fragliche Supplik des Moses in eigener Sache vom 24. Dezember 1787 ist laut Vermerk der Akte entnommen und dem König ausgehändigt, aber nicht zurückgegeben worden.
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Die beiden Fälle, in denen die Obrigkeit unbekannte Supplikenschreiber zu identifizieren suchte, sind Ausnahmen. In der Regel wurde nichts unternommen, um der gewerblich betriebenen Winkelschriftstellerei auf die Spur zu kommen. Die Wahrscheinlichkeit, als Verfasser einer Supplik ins Visier strafrechtlicher Verfolgung zu geraten, war äußerst gering.326
c) Suppliken von eigener Hand Unter den Supplikanten und Supplikantinnen gab es einige mit relativ hohem Bildungsstand, die selbst zur Feder griffen: Zum Beispiel setzte ein Gymnasiallehrer für Schreiben und Rechnen fünf Suppliken für seinen wegen Betrugs und vorgetäuschtem Bankrott verurteilten Sohn, den Kaufmann Jacob Michael Ferdinand Milster, auf. Dass dafür kein fachkundiger Supplikenschreiber Pate stand, lässt sich unter anderem an dem Formfehler ablesen, dass alle fünf Suppliken an den Minister, nicht aber immediat an den König gerichtet waren.327 Auch die auffallend starke Emotionalität, die in der Supplik zum Ausdruck kommt, kann als Indiz dafür gewertet werden, dass der Verfasser persönlich in die Angelegenheit involviert war.328 Letzteres gilt auch für die Supplikationen des Strausberger Inspektors Hanses.329 Bei Staatsdienern wie Hanses, die von Amts wegen eine gewisse Schreibfertigkeit mitbringen mussten, kann vermutet werden, dass sie ihre Suppliken selbst niederschrieben: So zum Beispiel der Amtmann Schulze, der sich als Heiratskandidat für die verhaftete Elisabeth Sophie Franck vorstellte330, der Akzisekontrolleur Weihse, der für seinen wegen Diebstahls verurteilten Sohn supplizierte,331 326 Mit Blick auf die in Brandenburg-Preußen praktizierte Schriftgutverwaltung ist davon auszugehen, dass sich derartige Fahndungen in den vorliegenden Akten, zumindest in Form eines Marginaldekrets des Justizministers, niedergeschlagen hätten. 327 Zwar war der Minister in der Tat der Adressat der ersten Supplikation, aber bereits die zweite Supplikation hätte an den König adressiert sein müssen. Außerdem verlangte der Kurialstil, dass alle Schreiben auch an Behörden aus Gründen des Respekts immediat formuliert sein mussten. – Vgl. fünf Suppliken des Vaters Milster vom 22. August 1789 bis 19. April 1790 / Fallakte Jacob Michael Ferdinand Milster; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 328 Vgl. Supplik des Vaters Milster vom 27. Januar 1790 / Fallakte Jacob Michael Ferdinand Milster; in: ebd. 329 Alle sieben Suppliken der Eltern Hanses weisen dieselbe Handschrift auf – vgl. sieben Suppliken des Vaters und der Mutter Hanses vom 10. November 1791 bis 12. Oktober 1795 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179. 330 Obwohl man davon ausgehen sollte, dass Schulze aufgrund seines Amtes profunde Schreibkenntnisse mitbrachte, dokumentiert die Supplik eine ungelenke Schrift mit orthographischen Besonderheiten wie „Aller durch Lauchtigster ( . . . )“ und eine unübliche Schlusscourtoisie in Form von „aller geträuester Knecht“ – Supplik des Amtmanns Schulze vom 7. Mai 1788 / Fallakte Elisabeth Sophie Franck; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235. 331 Außerdem stammen alle drei Gesuche des Weihse von derselben Handschrift; ein Umstand, der nur auf wenige Supplikenserien zutrifft, und der die Vermutung stärkt, dass der
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der Sekretär Pitschel332 und der Stadtgerichtsschreiber Nicksen333. Dies gilt insbesondere auch für die Landräte v. Alvensleben und zu Rohr334, die für ihre Untertanen supplizierten. Zu der Gruppe von Supplikanten, die ihre Suppliken in eigener Sache mutmaßlich selbst verfassten, sind außerdem Akademiker zu rechnen, wie zum Beispiel Dr. Schobelt, ein Doktor der Medizin und der Medizinstudent Franz Friedrich Goeden.335 Nicht nur im Milieu der Staatsdiener und Akademiker wurden Suppliken von eigener Hand aufgesetzt. Auch im Fall einiger Supplikanten und Supplikantinnen, die keiner Tätigkeit nachgingen, die ein hohes Bildungsniveau verlangte, liegen Hinweise vor, dass die Suppliken ohne Hilfe eines offiziell autorisierten Schreibers verfasst worden waren. Indizien sind beispielsweise eine ungelenke Handschrift, eine einfache Wortwahl, die Nähe zum gesprochenen Wort und Fehler bei Formalia, wie etwa die fehlende Datierung des Schreibens oder unübliche Anredeformeln und Orthographie. Die Supplik des Armenboten Banspach weist zum Beispiel einige formale Besonderheiten auf, die einen in courtoisen Umgangsformen ungeübten Schreiber mit wenig Erfahrung bei der Darstellung komplexer Sachverhalte verraten: So wird darin eine recht unbeholfene und verwirrende Erklärung für die Unterschlagung der Armengelder geliefert. Auch ist der Duktus der Supplik der gesprochenen Sprache näher als der Schriftsprache, wie etwa die Schreibweise der Anrede: „An des Wircklichen Geheimten Justiets Minister / Hoch Frey Herrlichen Excelentz!“. Da aus Banspachs Supplik hervorgeht, dass er des Lesens und Schreibens mächtig war, kann man vermuten, dass er die Supplik selbst verfasst hat.336 Supplikant seine Suppliken selbst verfasste – vgl. Suppliken des Vaters Weihse vom 18. Januar 1787 und vom 27. Januar 1787 / Fallakte Weihse; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. 332 Alle drei Suppliken stammen von derselben Hand; folglich ist davon auszugehen, dass auch die Suppliken der Töchter vom Vater selbst verfasst wurden – vgl. drei Suppliken des Pitschel in eigener Sache bzw. der beiden Töchter vom 31. Mai 1792 bis 11. Oktober 1796 / Fallakte Friedrich Wilhelm Carl Pitschel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220. 333 Zum Beispiel lässt die Anrede des Empfängers darauf schließen, dass sich der Verfasser mit der Titelatur auskannte – vgl. Supplik des Nicksen in eigener Sache vom 22. Dezember 1791 / Fallakte Johann Wilhelm Nicksen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 334 Vgl. Supplik des Schobelt in eigener Sache vom 14. Dezember 1787 / Fallakte Doctor Medicinae Schobelt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. Vgl. fünf Suppliken des Goeden in eigener Sache vom 15. Mai 1787 bis 22. September 1788 / Fallakte Franz Friedrich Goeden; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.054. 335 Vgl. Supplik des Landrats v. Alvensleben vom 30. Januar 1795 / Fallakte Joachim Gartz, Johann Joachim Thiede und Langnese; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240, o. Fol.; vgl. Supplik des Landrats v. Alvensleben vom 27. Februar 1795 / Fallakte Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240, o. Fol.; vgl. die Suppliken des Prignitzer Landrats zu Rohr vom 3. April 1789 und 4. Februar 1790 / Fallakte Jacob Teisch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.177, fol. 403 – 404 und fol. 406. 336 Zit. aus: Supplik des Banspach in eigener Sache o. D. [ca. Anfang Februar 1787] / Fallakte Johann Samuel Banspach; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. Zur gebräuchlichen Anredeform im Vergleich dazu s. A.III.2.b). Ähnlich gelagerte Beispiele vgl.
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Es ist jedoch nicht in allen Fällen zu erkennen, ob die Gnadenbitten von den Supplikanten bzw. Supplikantinnen selbst oder von einem schreibfertigen Verwandten oder Nachbarn zu Papier gebracht worden waren. Fest steht, dass die Suppliken trotz der Formfehler angenommen, bearbeitet und entschieden wurden. d) Amtlich protokollierte Gnadenbitten Supplizierwilligen, welche die Kosten337 für einen von ihnen beauftragten Schreiber nicht aufbringen konnten, und die in ihrem sozialen Umfeld niemanden fanden, der ihnen beim Supplizieren half, bot sich eine Alternative: Sie konnten in die nächst gelegene Amtsstube gehen und dort ihr Anliegen mündlich vortragen. Dies wurde von den Kanzleischreibern kostenlos aufgenommen und in den Geschäftsgang eingereicht. Auf diese Weise sollte sichergestellt sein, dass auch unvermögende Untertanen und Untertaninnen Zugang zum Monarchen hatten. Auf diese Tradition338 griff das unter Friedrich Wilhelm II. verabschiedete Publicandum vom 12. Juli 1787 zurück: „( . . . ) wornach Leute von gemeinem Stande, welche sich der Assistenz eines Justitz-Commissarii aus Unvermögen nicht bedienen können, ihre Gesuche oder Beschwerden mündlich zum Protocoll haben anbringen dürfen, ferner beybehalten, und die solchergestalt sich meldenden Partheyen sollen mit ihren Anträgen ohnweigerlich und unentgeldlich vernommen werden.“339
Von dieser Möglichkeit machten einige Angehörige340 der Angeklagten bzw. Verurteilten Gebrauch, doch zumeist wurde sie bei Supplikationen in eigener Supplik des Hausschlächters Erich in eigener Sache o. D. [ca. Juni / Juli 1786] / Fallakte Johann Erich; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 15.996; vgl. Supplik des Handlangers Lentz vom 15. Dezember 1789 / Fallakte Friederike Lentz, geb. Wichmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055. 337 Leider ist den Quellen kein Hinweis zu entnehmen, wie hoch die Kosten für das Schreiben einer Supplik zu veranschlagen sind. Auch die Forschung zum Supplikationswesen hat bisher keine Antwort darauf gefunden. Es ist anzunehmen, dass die Justizkommissare, Gerichtsverteidiger und Advokaten relativ feste Preise dafür verlangten. Was allerdings die Schreiber anbelangt, die aus dem sozialen Umfeld der Supplikanten und Supplikantinnen stammten, so erwarteten diese nicht unbedingt Bargeld, vielmehr andere Gegenleistungen wie Naturalien oder nachbarschaftliche Hilfe. Allein das Stempelpapier musste i. d. R. ausgelegt werden, doch konnten sich davon Unvermögende befreien lassen [s. A.III.2.a)]. 338 Diese Einrichtung gab es bereits unter Friedrich I. – vgl. Edikt vom 17. März 1710; in: CCM (2) 1737, No CXXIV, Sp. 503 – 508. 339 Zit. aus: § 7 Publicandum vom 12. Juli 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXV, Sp. 1501 f. 340 Beispiele für mündlich vorgetragene Supplikationen von Angehörigen: vgl. Supplik der Ehefrau Valentin vom 17. Oktober 1788 / Fallakte Friedrich Valentin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217; vgl. Supplik des Stiefsohnes Michel Bergemann vom 9. September 1796 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann (intus: Michel Bergemann); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956; vgl. Supplik des Stiefvaters Hartmann vom 16. Februar 1795 / Fallakte Matthias Benecke (intus: Nolop, Kragel); in: ebd.
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Sache341 genutzt. Sowohl während des Untersuchungsarrestes als auch während der regulären Haftzeit standen die Angeklagten und Verurteilten zwangsläufig in Kontakt mit Staatsdienern des Gerichts und des Strafvollzugs.342 Für diese, aber auch für Familienmitglieder, die ihre inhaftierten Angehörigen dort besuchten, ergaben sich somit genügend Gelegenheiten, Gnadenbitten protokollieren zu lassen. Beliebte Anlaufstellen, um Gnadenbitten mündlich vorzutragen, waren das Spandauer Zuchthaus, das Kammergericht, die Stadtgerichte, der Magistrat und die Justizämter.343 Der Vorteil dieser Supplikationspraxis bestand nicht nur in der Gebührenfreiheit, sondern auch darin, dass man in den Amtsstuben professionelle Schreiber fand, die zudem eine gewisse Kenntnis in Verwaltungs- und Rechtsangelegenheiten besaßen und entsprechend beraten konnten.344 Zum Beispiel hatte der Bäckermeister Freudenberg, als er seine Gnadenbitte zu Protokoll gab, offensichtlich rechtskundigen Rat erhalten, denn er bat im Hinblick auf die geänderte Rechtslage um Revision seines über zehn Jahre zuvor verhandelten Falls.345 Die mündliche Supplikation 341 Beispiele für mündlich vorgetragene Supplikationen in eigener Sache: vgl. Supplik der Consentius in eigener Sache vom 8. November 1786 / Fallakte Consentius; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202; vgl. Supplik des Pankoni in eigener Sache vom 30. September 1786 / Fallakte Johann Gottlieb Pankoni; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.984; vgl. Supplik des Gotter vom 19. Juni 1787 / Fallakte Franz Gotter; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. 342 Dies geht zum Beispiel aus folgenden mündlich eingebrachten Supplikationen hervor: vgl. Supplik der Huth in eigener Sache vom 8. Oktober 1786 / Fallakte Christliebe Huth (intus: Carl Adam); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 240; vgl. Supplik der Treptow in eigener Sache vom 13. Juli 1787 / Fallakte Henriette Wilhelmine Treptow; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. 343 Vgl. der Spandauer Zuchthausadministration mündlich vorgetragene Supplik der Treptow in eigener Sache vom 13. Juli 1787 / Fallakte Henriette Wilhelmine Treptow (intus: Guiremann); in: ebd.; vgl. dem Kammergericht mündlich vorgetragene Supplik des Stiefsohnes Michel Bergemann vom 9. September 1796 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann (intus: Michel Bergemann); in: ebd.; vgl. den Stadtgerichten mündlich vorgetragene Supplik des Pankoni in eigener Sache vom 30. September 1786 / Fallakte Johann Gottlieb Pankoni; in: ebd.; vgl. dem vereinigten Magistrat der Residenzstädte und Vororte (Friedrichstadt, Dorothe-enstadt und Friedrichswerder) mündlich vorgetragene Supplik des Wolff in eigener Sache vom 17. November 1788 / Fallakte Gottfried Wolff; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985; vgl. dem Justizamt Alt-Ruppin mündlich vorgetragene Supplik der Hunzinger in eigener Sache vom 31. Mai 1789 / Fallakte Dorothea Sophie Hunzinger; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956; vgl. dem Justizamt Lenzen mündlich vorgetragene Supplik der Witwe Schütte in eigener Sache vom 9. Mai 1797 / Fallakte Ilse Marie Schütte (intus: Ludwig Nicolaus Schütte); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956 und vgl. dem Amt Wittstock mündlich vorgetragene Supplik des Stapelfeld in eigener Sache vom 3. März 1787 / Fallakte Dieterich Stapelfeld; in: ebd. 344 Zu Ausbildung und Aufgabengebiet von Schreibern z. B. in Baden-Württemberg vgl. Helga Schnabel-Schüle, Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg, Köln / Weimar / Wien 1997, hier S. 52 f. 345 Vgl. mündlich vorgetragene Supplik des Freudenberg in eigener Sache vom 5. Juni 1797 / Fallakte Gottfried Freudenberg; in: ebd., fol. 407 – 409. Auch ist davon auszugehen,
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stellte somit eine praktikable und kostenneutrale Alternative zur Beauftragung eines externen Schreibers dar. Angesichts solcher Vorteile drängt sich die Frage auf, warum insgesamt nur 14 Supplikationen, eingebracht zu gleichen Teilen von Frauen und Männern, auf amtlich protokollierte Vorträge zurückgehen. Es ist gut möglich, dass vielen Männern und Frauen, deren Angehörige mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, die Vorstellung unangenehm war, mit ihrem Anliegen an Amtsträger zu geraten, die dafür kein Verständnis aufbrachten. Sollte man mit diesen aus anderen Gründen zu tun haben, bestand zudem die Gefahr, dass sie ihr Wissen, dass sich jene mit einem vermeintlich Kriminellen solidarisierten, zu deren Nachteil ausspielten. Der Grund für die geringe Nachfrage kann aber auch an der Darstellungsweise dieser Memoranden liegen: Wurden Gnadenbitten auch mit viel Emotion vorgetragen, so erhielten sie bei der amtlichen Niederschrift eine knapp gehaltene, sachliche Form.346 Vermutlich konnten sich viele Supplikanten und Supplikantinnen mit den Texten, den Amtsschreiber aus ihren Anliegen gemacht hatten, nicht identifizieren – weder die Kürze noch der nüchterne Stil der Darstellung trugen dazu bei. Die bei einem Amt zu Protokoll gegebenen Supplikationen sind an ihren Vermerken zu erkennen, wie „Actum Berlin“ auf dem Kopf und „a[d] n[otitiam]“ am Fuße des Blattes.347 Die Gnadenbitten begannen in der Regel mit folgender Einleitung, wie hier im Fall der wegen Betrugs zu vier Wochen Gefängnis verurteilten Schuhmacherfrau: „Erscheinet Christliebe Neumannin verehelicht an den Schumacher Meister Huth und sagt ( . . . ).“348
Dem Text merkt man die Distanz des Amtsschreibers gegenüber dem Anliegen der Supplikation an: Signalisiert wird dies durch den Gebrauch des Konjunktivs und der indirekten Rede wie „Comparentin meynt, ( . . . )“.349 Spuren von Hand der dass man die wegen Diebstahls verurteilte Anna Dorothea Meves im Freienwalder Amt über ihre rechtlichen Möglichkeiten aufgeklärt und sie eventuell zu einer Supplikation ermuntert hatte, um in ihrem Fall die Haft erträglicher zu gestalten – vgl. mündlich vorgetragene Supplik der Meves in eigener Sache vom 13. Juli 1787 / Fallakte Anna Dorothea Meves, verehel. Gaedicken; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.054. 346 Die mündlich vorgetragenen Suppliken sind meist durchsetzt mit juristischen Fachtermini wie z. B. „ab instantia absolvirt“, „per Sententiam“ und den Bezeichnungen der Verfahrensphase wie z. B. „Untersuchungs Prozeß“ oder des Deliktes wie z. B. „MeynEyd“ – all diese Begriffe gehen mit Sicherheit nicht auf den Wortlaut des von den Supplizierenden vorgetragenen Anliegens zurück – zit. nach: mündlich vorgetragene Supplik der Huth in eigener Sache vom 8. Oktober 1786 / Fallakte Christliebe Huth; in: ebd. 347 Zit. aus: mündlich vorgetragene Supplik der Meves vom 13. Juli 1787 / Fallakte Anna Dorothea Meves, verehel. Gaedicken; in: ebd. 348 Mündlich vorgetragene Supplik der Huth in eigener Sache vom 8. Oktober 1786 / Fallakte Christliebe Huth; in: ebd. 349 Zit. aus: mündlich vorgetragene Supplik der Huth in eigener Sache vom 8. Oktober 1786 / Fallakte Christliebe Huth; in: ebd.
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Supplizierenden gab es hingegen wenige: So gab zum Beispiel der Bäckermeister Gottfried Freudenberg seine Bitte um Begnadigung dem Gouverneur der Spandauer Festung zu Protokoll, welches mit den Worten schloss: „Diese Anzeige hat Arrestant auf Vorlesung genehmigt und unterschrieben – Actum ut supra“;350 darauf folgt Freudenbergs eigenhändige Unterschrift sowie die Unterzeichnung des Auditeurs, des Gouverneurs der Festung. Da wie viele Untertanen auch Christliebe Huth ihren Namen nicht schreiben konnte, unterzeichnete sie das Protokoll mit drei Kreuzen von eigener Hand: „+ + + [von anderer, ungelenker Hand] – Zeichen der Huthin [in Handschrift des Schreibers]“.351 Die meisten protokollierten Suppliken sind lediglich mit dem vom Schreiber notierten Namen des Supplikanten bzw. der Supplikantin unterschrieben.352 Die Unterzeichnung des Protokollanten in der rechten unteren Ecke des Blattes war üblich, um damit für die sachliche Korrektheit des Protokollvorgangs zu bürgen.353 Die Mehrheit der Supplikanten und Supplikantinnen versprach sich von einer mündlich vorgetragenen Supplikation jedoch wenig Erfolg. Die meisten verzichteten auf diese Möglichkeit und beauftragten stattdessen einen eigenen Schreiber. Dieser Umstand deutet darauf hin, dass die Kosten für einen Schreibauftrag nicht allzu hoch gewesen sein konnten, denn sonst hätte sich die gebührenfreie mündliche Supplikation größerer Beliebtheit erfreut, vor allem, wenn man das soziale Profil der Supplizierenden berücksichtigt [s. B.II.1.b)].354 e) Motivation und Einflussnahme der Schreiber Wandten sich Supplikationswillige mit der Bitte um Niederschrift einer Supplik vertrauensvoll an Menschen aus ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld, die des Schreibens kundig waren, so nahmen sich diese in der Regel engagiert der Sache an. Denkbar ist, dass ihnen dieser Dienst in materieller Hinsicht Vorteile brachte: 350 Mündlich vorgetragene Supplik des Freudenberg in eigener Sache vom 5. Juni 1797 / Fallakte Gottfried Freudenberg; in: ebd., fol. 407 – 409. 351 Mündlich vorgetragene Supplik der Huth in eigener Sache vom 8. Oktober 1786 / Fallakte Christliebe Huth; in: ebd. Die eigenhändige Unterschrift der Supplizierenden in Form von drei Kreuzen findet sich mitunter auch unter anderen mündlich vorgebrachten und von Amtsschreibern aufgenommenen Gnadenbitten – vgl. Supplik der Schmidt vom 31. August 1787 / Fallakte Friederike Schmidt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053; vgl. Supplik des Kohlmorgen in eigener Sache vom 26. September 1788 / Fallakte Hans Kohlmorgen; in: ebd., fol. 554. 352 Vgl. mündlich vorgetragene Supplik der Meves vom 13. Juli 1787 / Fallakte Anna Dorothea Meves, verehel. Gaedicken; in: ebd.; vgl. mündlich vorgetragene Supplik der Treptow vom 13. Juli 1787 / Fallakte Henriette Wilhelmine Treptow; in: ebd. 353 Beispielhaft vgl. mündlich vorgetragene Supplik der Meves vom 13. Juli 1787 / Fallakte Anna Dorothea Meves, verehel. Gaedicken; in: ebd. und vgl. mündlich vorgetragene Supplik der Treptow vom 13. Juli 1787 / Fallakte Henriette Wilhelmine Treptow; in: ebd. 354 So auch die Annahme von Andreas Würgler und Gerd Schwerhoff – vgl. Würgler 2005, S. 40; vgl. Schwerhoff 2000, S. 485.
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wenn sie dafür nicht pekuniär vergütet wurden, dann in Naturalien. Wichtiger war vermutlich jedoch, dass die Rat suchenden Nachbarn nun in ihrer Schuld standen. Da die frühneuzeitliche Gesellschaft auf der Grundlage von Beziehungen funktionierte, die durch gegenseitige Rechte und Pflichten geprägt waren, stellte eine ausstehende Gefälligkeit quasi bares soziales Kapital dar. Hinzu kam, dass sich solcher Verdienst herumsprach und das eigene Prestige im Umfeld steigerte. Der Großteil der Suppliken wurde jedoch von Schreibern mit professionellem Hintergrund aufgesetzt, die bei der Obrigkeit in Lohn und Brot standen. Beim Verfassen der Suppliken nahmen diese Schreiber als Staatsdiener eine Mittlerposition ein zwischen den Untertanen, als deren Beauftragte sie handelten, und der Obrigkeit, in deren Diensten sie standen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Selbstverständnis der Supplikenschreiber und danach, für wen sie Partei ergriffen: für die der Supplikanten und Supplikantinnen oder für die der Obrigkeit. Mit den vorliegenden Quellen lassen sich die Fragen allerdings kaum beantworten. Allein anhand des Stils einer Supplik können Mutmaßungen angestellt werden. Manche Schreiber mochten den Kontakt zu den Supplikanten und Supplikantinnen als eine Aufwertung ihrer Arbeit empfunden haben – in materieller Hinsicht, weil sich durch derartige Aufträge eine zusätzliche Einnahmequelle auftat, eventuell auch in ideeller Hinsicht, weil sie sich durch den Beistand, den sie anderen gewährten, in ihrer Arbeit bestätigt und in ihrer Bedeutung gestärkt sahen. Solche Schreiber hörten sich das Anliegen und die Klagen ihrer Auftraggeber genau an und brachten ihre Fähigkeiten beim Supplikenverfassen voll ein: Das Ergebnis waren individuell formulierte, das Mitleid der Leser weckende und teilweise mit literarischem Anspruch verfasste Suppliken.355 Ein Beispiel dafür ist die Supplik der Elisabeth Kleinecke, verehelichte Gelbken, in der sie darum bat, von der sechsmonatigen Zuchthausstrafe entbunden zu werden. Sie hatte vor Jahren den Gerichtsdiener Gelbken geheiratet, verschwieg bei der Eheschließung jedoch, dass sie noch verheiratet war, und machte sich damit der Bigamie schuldig.356 Bereits der Zeitpunkt der Supplikation ist günstig gewählt: Es ist der Huldigungstag Friedrich Wilhelms III. Auch der Einstieg in das Begehren verrät das taktische Geschick des Schreibers: 355 Beispielhaft für diesen Typus: vgl. zweite Supplik der Ehefrau Walter, geb. Buschen, vom 3. Juli 1798 / Fallakte Gottlieb und Marie Dorothée Walter; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956; vgl. Supplik der Lisnitzer in eigener Sache vom 6. September 1787 / Fallakte Johanna Eleonore Lisnitzer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956; vgl. Supplik des Stiefvaters Keyser vom 12. Januar 1790 / Fallakte Caroline Friederike Louise Ladewig; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056; vgl. zwei Suppliken des Ehemanns Zimdal vom 18. Juni und 2. Juli 1790 / Fallakte Caroline Wilhelmine Zimdal; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056. 356 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 8. Dezember 1796]; Urteilsbestätigung in zweiter Instanz vom 28. Juni 1797; Supplik der Kleinecke in eigener Sache vom 6. Juli 1798 / Fallakte Elisabeth Kleinecke, verehelichte Gelbken; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956.
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„An dem heutigen festlichem Huldigungs-Tage, waget eine arme, eines Verbrechens zweifacher Ehe angeklagte Frau eine allerdemütigste Bitte, und Allerhöchst derselbe wollen Allerhuldreichst geruhen, welche zu erhören, da sie die Gerechtigkeit keinesweges verlezzet.“357
Dem Monarch wird damit hinreichend gehuldigt; zugleich wird er aber auch in die Pflicht genommen, sich einer hilflosen Frau anzunehmen, der offenbar Ungerechtigkeit widerfuhr. Vor dem Monarchen breitet Elisabeth Kleinecke ihre Lebensgeschichte aus, um ihm ihre damaligen Ängste und Hoffnungen nahe zu bringen und ihre Entscheidung nachvollziehbar zu machen, in der Hoffnung, dass dies ihre persönliche Schuld aus der Sicht des Monarchen mindern könnte. Ihre Erzählung setzt mit der kurzen Episode ihrer gescheiterten ersten Ehe ein: „ich wurde vor mehr als 8 Jahren an einen Gerichtsdiener Möhring verheiratet. Nur wenige Monate hielt dieses Eheband. Trunkenbold und Wüterig, mir er war, verlies er ( . . . ) mich drohend: mich zu erstechen, und ging in die Welt.“358
Elisabeth Kleinecke stilisiert sich darin als typisches Opfer von Gewalt in der Ehe: Geschildert wird in nur wenigen Worten ihr angeblich traumatisches Schicksal als Ehefrau, die physische und psychische Gewaltexzesse ihres alkoholabhängigen und jähzornigen Ehemanns erdulden musste. Juristisch relevant war aber vor allem die Tatsache, dass nicht sie vor ihm flüchtete, sondern dass er sie angeblich verließ. Mit dieser Interpretation versuchte Kleinecke vermutlich anderen Mutmaßungen zuvorzukommen: Denn kurz danach zog auch sie weg, vermutlich um irgendwo eine Stellung anzunehmen, vielleicht aber auch aus der Überlegung heraus, dass Möhring sie nicht mehr ausfindig machen sollte: „Ich ward endlich nach vielen Umherirren durch Freunde meinem jizzigen Mann zur Gattin vorgeschlagen, und in Betracht, daß ich mich des Mangels nicht mehr erwähren konnte, ich auch meinem ersten treulosen Mann gewiß im Besizze eines andern Weibes glaubte [laut Gerücht in Wolffenbüttel erneut verheiratet], heiratete ich einen wirklich im höchsten Grad der Unwißenheit, mich erst von dem Möhring laßen zu müßen.“359
Nach den Erfahrungen der vorangegangenen Jahre, in denen sie ihr Auskommen alleine bestreiten musste, war das Angebot, erneut eine Ehe einzugehen, Kleinecke willkommen, zumal mit jemandem, der ihr als Gerichtsdiener eine in materieller und sozialer Hinsicht bessere Zukunft bot als sie sich aus eigener Kraft je schaffen konnte. Aus ihrem ökonomischen Interesse an dieser Eheschließung machte sie keinen Hehl. Auch ihre Pläne bezüglich der Gründung einer Familie waren nun in Erfüllung gegangen: Sie hatte vor rund einem Monat ein Kind geboren. Doch nun ereilte sie der nächste Schicksalsschlag: Nach acht Monaten Untersuchungsarrest standen ihr laut Urteil sechs Monate Zuchthaus bevor: 357 Supplik der Kleinecke in eigener Sache vom 6. Juli 1798 / Fallakte Elisabeth Kleinecke, verehelichte Gelbken; in: ebd. 358 Ebd. 359 Ebd.
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„Meine durch 8monatl[iche] Haft unendliche Gram, nach beschwerliche Niederkunft ganz zerrüttete Gesundheit, läst es auf keine Weise zu, diese 6monatl[iche] Zuchthauß-Strafe zu erdulden, mir drohet der Tod (– da ich schon wie ein Schatten umherschleiche –) und den Tod soll ich doch nicht leiden – ! Die Trennung von meinem erst vor vier Wochen gebohrenen zarten, auch schwächlichen Kinde – ! Gott, der Gedanken davon! – zerreißet mir vollends das Herz – !360
Während beim Leser durch die sachlich erscheinende Schilderung ihrer ersten Ehe und Möhrings Drohung Empörung ausgelöst werden soll, appelliert der letzte Passus an das Mitleid des Lesers mit einem unschuldigen Neugeborenen. Die Lebensgeschichte der Elisabeth Kleinecke vermittelt den Anschein des Authentischen und dürfte somit nicht ihre Wirkung auf den Leser verfehlt haben: Man nahm der Supplikantin ihre beteuerte Unwissenheit wohl ab, dass sie vor einer neuerlichen Ehe die offizielle Scheidung von ihrem ersten Mann benötigte. Der Schreiber dieser Supplik hat sich die Mühe gemacht, sich von seiner Auftraggeberin ihre Lage und ihr Handeln genau schildern zu lassen und ihr dramatisches Schicksal entsprechend anrührend umgesetzt. Andere Schreiber wiederum scheinen ein eher distanziertes Verhältnis zu den Supplikanten und Supplikantinnen gepflegt zu haben – vielleicht, weil sie sich eher als Vertreter obrigkeitlicher Interessen verstanden und das Supplikenschreiben als bloße Pflichterfüllung ansahen. Ihre Aufträge führten sie entsprechend formalistisch aus: Das Ergebnis waren eher knappe, sachliche, schematisch wirkende Suppliken,361 so zum Beispiel die Schilderung der Janemannschen Wirtschaft in der Supplik des Ehemanns für seine wegen Diebstahls zu sechs Monaten Zuchthaus verurteilte Frau Johanne Christine: „Ich bin durch diese Begebenheit [die Verurteilung seiner Ehefrau], theils wegen meinen kleinen unmündigen Kindern um meine Arbeit gekommen, ich hätte wohl wieder als Amts-Brauer ankommen können, allein ohne meine Ehefrau als Gehülfin bin ich nicht im Stande solches anzunehmen, meine Wirtschaft ist völlig ruinirt.“362
Auch in dieser Supplik erhält der Leser konkrete Informationen über die Auswirkungen, welche die Inhaftierung der Hausmutter auf die Janemannsche Wirtschaft hatte. Dies geschieht hier aber in einem nüchternen Stil; nicht einmal der Umstand, dass die kleinen Kinder vorübergehend ohne ihre Mutter auskommen Ebd. Beispielhaft für diesen Typus: vgl. alle mündlich vorgetragenen Suppliken [s. o.]; vgl. Supplik der Heinrich in eigener Sache vom 9. Juli 1791 / Fallakte Heinrich, verw. Sorgen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235; vgl. Supplik des Pallasch in eigener Sache vom 27. April 1798 / Fallakte Christian Pallasch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956; vgl. Supplik des Dittmann in eigener Sache vom 28. Mai 1790 / Fallakte Carl Dittmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056; vgl. Supplik des Ehemanns Janemann vom 20. September 1790 / Fallakte Johanne Christine Janemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056. 362 Supplik des Ehemanns Janemann vom 20. September 1790; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056. 360 361
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müssen, wird hier nicht genutzt, um Mitleid zu erwecken. Als Suppliken zweiter Klasse mit geringeren Erfolgschancen kann man solche sachlich gehaltenen Gnadenbitten allerdings nicht verstehen, denn auf die Gnadenentscheidung wirkte sich der formalistische Stil keineswegs negativ aus.363 Keiner der Schreiber ging jedenfalls so weit, eine Supplik auf eine Art und Weise zu verfassen, die das Interesse der Supplikanten und Supplikantinnen offensichtlich konterkarierte. Daher kann man bei dieser Art der Supplikenausführung nicht automatisch auf ein desinteressiertes Verhältnis der Schreiber zu den Supplikanten und Supplikantinnen schließen, vielmehr muss in Betracht gezogen werden, dass dieser Stil von den Schreibern als adäquat und zielführend angesehen wurde. Abschließend stellt sich die für die Quellenkritik relevante Frage, welchen Einfluss die Schreiber letztlich auf die Gnadenbitten hatten. Eine Antwort lässt sich darauf allerdings nicht leicht finden, denn die Quellen stellen lediglich das Produkt, nicht aber den Prozess der Kooperation zwischen den Supplikanten bzw. Supplikantinnen und ihren Schreibern dar. Es ist davon auszugehen, dass der Grad des Einflusses von Fall zu Fall sehr unterschiedlich war364 und daher fallspezifisch zu bewerten ist: In einigen Fällen bestand der Anteil des Schreibers lediglich in der Übertragung des mündlich vorgetragenen Anliegens ins Schrifthochdeutsch, wobei davon auszugehen ist, dass im Zuge dessen Ausdruck und Stil leicht bis erheblich verändert wurden. In anderen Fällen wiederum ging die gesamte Argumentation der Supplik auf die Vorgabe des Verteidigers oder eines anderen rechtskundigen Schreibers zurück. Zwischen diesen beiden Polen sind alle Graustufen vertreten. So ist davon auszugehen, dass die Supplizierenden vor allem im Hinblick auf die inhaltliche Zielsetzung der Gnadenbitte und die darauf abgestimmte Argumentationsstrategie beraten wurden. Der Ansatz, die spezifischen Anteile der an Supplikationen Beteiligten ausloten und bewerten zu wollen, führt letztlich in eine Sackgasse – nicht nur, weil die Suppliken darüber keine verlässliche Auskunft geben, sondern auch deshalb, weil die Aussagekraft der Quellen davon unabhängig ist. In einer illiteraten Gesellschaft ist Autorenschaft ein komplexes Phänomen: Anteile an der Autorenschaft hat der geistige Urheber im Sinne eines Auftraggebers ebenso wie ein mit der Niederschrift betrauter Verfasser.365 Ausgangspunkt jeder Analyse ist daher die Supplik, wie sie sich als Endprodukt einer Zusammenarbeit von Supplikanten bzw. Supplikantinnen und Schreibern unterschiedlicher Herkunft darstellt. Bedeutsam ist allein, dass sich in jeder Supplik – jenseits der Frage nach der Autorenschaft – gesellschaftlich relevante und sowohl von den Untertanen als auch vermutlich von der Obrigkeit geteilte Deutungsmuster in Bezug auf die Gnadenwürdigkeit widerspiegeln.
363 364 365
So der Eindruck von der obrigkeitlichen Gnadenpraxis [s. C.II.1. – 7.]. So auch die Einschätzung von Otto Ulbricht – vgl. Ulbricht 1996, S. 153 f. Auf diesen Umstand weist auch Reiner Prass hin – vgl. Prass 2001, S. 401 f.
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f) Die Bedeutung der Supplikation Man kann sagen, dass sich die Untertanen mit ihrer Supplikationspraxis gegen die Vorgaben der Obrigkeit, wie eine formvollendete Supplikation auszusehen hatte, durchgesetzt hatten. Die geringe Bereitschaft der Obrigkeit, Winkelschriftsteller zu verfolgen, und die Bereitwilligkeit, mit der sie auch Suppliken annahm, obwohl darin die Vorgaben offensichtlich nicht beachtet wurden, liefern Erklärungsbedarf angesichts der in den Edikten und Verordnungen angekündigten Maßnahmen. Die Gnadenpraxis lässt Rückschlüsse auf die Bedeutung der Supplikation zu: Das Recht der Untertanen auf direkten Zugang zum Monarchen im Wege der Supplikation war ein tief verankertes Gewohnheitsrecht, welches man offenbar nicht so ohne weiteres beschneiden konnte oder wollte. Hätte man Suppliken mit Formfehlern abgewiesen und Winkelschriftsteller verfolgt, – zum Beispiel indem man Druck auf die Supplikanten und Supplikantinnen ausübt, die Identität ihrer Schreiber zu offenbaren – so wäre dies einer Einschränkung der Supplikationsmöglichkeiten gleichgekommen. Die Untertanen hätten dies womöglich als Aufhebung ihres Rechts auf Supplikation verstanden. Aus ihrer Sicht hätte damit der Monarch seine Herrscherpflichten verletzt, da es zu seinem Schutzversprechen gegenüber den Untertanen gehörte, sich ihre Nöte anzuhören. Dies hätte möglicherweise ihren Protest heraufbeschworen. Angesichts der Französischen Revolution wollte die Obrigkeit keinen Anlass zum Protest liefern. Die Obrigkeit akzeptierte die Supplikationspraxis, wie sie nun einmal war, vielleicht auch deshalb, weil sie ihr trotz aller formalen Mängel einen gewissen Nutzen abgewinnen konnte: Die in Supplikationen zur Sprache kommenden Beschwerden über die Gerichtsverfahren und über die Missstände in den Strafvollzugsanstalten stellten für die zentrale Behördenebene einen wichtigen Indikator für das Funktionieren der ihr untergeordneten Verwaltung dar. Zumindest das Justizdepartement musste in seiner Funktion als Rechtsaufsicht ein Interesse daran haben, das Supplizieren als Mittel zur Überwachung des Rechtswesens nutzen zu können.366 Suppliken fungierten quasi als Seismographen für gesellschaftliche Konfliktpotentiale. Eine weitere Erklärung, warum die Obrigkeit die Gnadenpraxis nicht wirklich einschränken wollte, besteht darin, dass die Gnade ein zentrales Herrschaftssymbol repräsentierte und der Obrigkeit zur Legitimierung ihrer Herrschaft diente. Der Umgang mit den Edikten und Verordnungen zum Supplikationswesen belegt aufs Neue, dass man zwischen Rechtsnorm und Rechtspraxis unterscheiden muss. In diesem Fall lässt sich die Diskrepanz nicht zufriedenstellend mit der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit frühneuzeitlicher Herrschaft erklären – denn in diesem Fall hätte es für das Justizdepartement keinen Aufwand bedeutet, die Bearbeitung von nicht den Vorgaben entsprechenden Suppliken abzulehnen; anders steht es allerdings um die Ermittlung mutmaßlicher Winkelschriftsteller, 366 Bereits Friedrich II. hat mit seiner Kabinettsjustizpolitik vorexerziert, wie sich Supplikationen als Instrument zur Kontrolle der Behörden nutzen ließen [s. A.II.2.].
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diese hätte ihre Möglichkeiten wahrscheinlich überfordert.367 Vielmehr gilt es hier zu bedenken, dass Edikten und Verordnungen unter anderem die Funktion zukam, zu demonstrieren, wer herrscht und wie die Ordnung theoretisch beschaffen sein sollte – dass die Rechtspraxis anders aussah, spielte dabei vielleicht eine untergeordnete Rolle. 2. Die Physis der Suppliken: Form, Stil, Aufbau und narrative Muster „Sowie übrigens ein Gemählde nur dann als kunstgerecht gilt und befriedigt, wenn Licht und Schatten jedesmal an dem rechten Orte angebracht, und die bezeichnenden Gegenstände bis ins kleinste Detail verfolgt, aufgefaßt und dargestellt sind, dagegen aber nirgends eine Ueberladung Statt findet; ebenso erfordern schriftliche Aufsätze und namentlich Memoralien und Vorstellungen eine, ohne Ueberladung, gerade nur mit der angemessenen, in leichter und faßlicher Entwicklung sich anflösender [gemeint: sich auflösender] Wörter- und Perioden-Folge zu bearbeitende Ausführung.“368
Schreibkundige darin zu unterstützen, ein Anliegen in eine für das Empfinden der Epoche adäquate schriftliche Form zu bringen, war der Zweck eines Briefstellers. So versteht sich auch der oben zitierte Ratschlag. Zum Ausdruck kommt, dass das Verfassen eines stilsicheren Schreibens – einem Gemälde gleich – als hohe Kunst verstanden wurde. Der im 18. Jahrhundert gepflegte Alte Stil verlangte eine diffizile Courtoisie, denn die Schwierigkeit bestand nicht allein im Gestalten der äußeren Erscheinungsform, sondern bezog sich vor allem auf die inhaltliche Darstellung, die Wortwahl und die korrekten Anreden. Gewisse Anhaltspunkte zum Umgang mit Courtoisien wurden Schreibkundigen in den Briefstellern vermittelt: Neben ausformulierten Briefmustern zu einschlägigen Anliegen waren darin Ratschläge zu finden, welcher Stil, welche Titulaturen und Höflichkeitsfloskeln im jeweiligen Fall angebracht waren und wie die äußere Erscheinungsform beschaffen sein sollte.369 Dies vermittelt eine Vorstellung davon, welch kompliziertes Vorhaben das Supplizieren darstellte, auch wenn die brandenburgpreußische Kanzlei einen – für die Zeit – relativ sachlich-nüchternen Stil verlangte.370 Daher verwundert es nicht, dass sich der Großteil der supplizierenden Männer und Frauen nicht mit bloßen Schreibkundigen begnügte, sondern sich Fachkundiger bediente.371 367 Der oben zitierte Fall von Wulff Moses belegt z. B., dass die Ermittlungen ins Leere liefen – vgl. Fallakte Wulff Moses; in: ebd. 368 August Hoch, Anleitung für diejenigen, welche sich mit Verfassung von Memoralien und Vorstellungen beschäftigen, 2. Aufl., Rottenburg a. N. 1820, hier S. 26. 369 Ein Briefsteller ist ein Buch mit Anweisungen und Mustern zur Abfassung formvollendeter Briefe; die Gattung war in Deutschland vor allem seit dem Barock stark verbreitet. Neben dem oben zitierten Briefsteller vgl. auch Joachim Friedrich Feller (Hg.), Des Spaten, oder Caspar Stielers Teutscher Seccretariat-Kunst, Erstveröffentlichung 1678, 4. erw. Aufl., Frankfurt a. M. 1726. 370 Zum Kanzleistil in Brandenburg-Preußen im 18. Jh. vgl. Haß 1909, S. 222 – 230.
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Im Folgenden wird ein Blick auf die Schriftstücke selbst geworfen, die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen. Eine Untersuchung ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihres Stils, ihres inhaltlichen Aufbaus und gängiger narrativer Muster372 trägt zum Verständnis der Supplikationspraxis bei: Erst vor diesem Hintergrund kann der besondere Charakter einer Supplik gegenüber anderen eingeschätzt werden. Der aktenkundliche Blick lässt Rückschlüsse auf die Bedingungen zu, unter denen suppliziert wurde. Dazu zählt auch die Frage, inwieweit eine Supplik den traditionellen Schreibmustern folgt und inwieweit sie individuell gestaltet ist. Daraus kann nicht nur auf die Mitwirkung von professionellen Schreibern geschlossen werden – die genaue Betrachtung ermöglicht es, das Außergewöhnliche einer Supplik zu erkennen. a) Stempelpapier Bevor mit der Niederschrift einer Gnadenbitte begonnen werden konnte, musste so genanntes Stempelpapier besorgt werden. Verordnungen aus der Regierungszeit von Friedrich Wilhelm II. geboten den Untertanen – unter Androhung von Strafe bei Zuwiderhandlung –, amtliches Stempelpapier bei Immediat-Vorstellungen und Bittschriften zu verwenden.373 Mit dem Kauf des Stempelpapiers wurden die Gebühren für die Bearbeitung von persönlichen Anliegen an die Behörden entrichtet. Die Untertanen konnten die einfachen Papierbögen im Folio-Format, auf welche die fällige Gebühr gestempelt wurde, in fast allen Amtsstuben erwerben. Die am häufigsten anzutreffende Form ist eine zweifache Stempelung auf dem Kopf des Blattes: Es handelt sich einmal um ein rundes Wappenbildsiegel, welches das brandenburg-preußische Wappentier, den heraldischen Adler mit Krone, zeigt; die Umschrift gibt die jeweilige Gebühr in Pfennigen oder Groschen an. Bei dem zweiten Stempel handelt es sich um ein rundes Monogrammsiegel mit den ineinander kunstvoll verschlungenen Initialen des königlichen Titels „R[oi] – [von] P[reußen] – F[riedrich] – W[ilhelm]“, verziert mit der brandenburg-preußischen Krone.374 371 Für diese Annahme spricht, dass beim Großteil der Suppliken sowohl die Vorgaben für die äußere Form eines solchen Schriftstücks, als auch der angemessene Stil und die erforderliche Courtoisie im Großen und Ganzen eingehalten wurden. 372 Dies erscheint auch deswegen angebracht, weil diese Aspekte von der Forschung bislang kaum behandelt wurden. Lediglich Andrea Griesebner und Gerd Schwerhoff haben Angaben zur Anrede und zum Aufbau von Suppliken gemacht – vgl. Griesebner (FrühneuzeitInfo) 2000, S. 17 f.; vgl. Schwerhoff 2000, S. 483 f. Einen aktenkundlichen Blick auf Suppliken warf Jörg Karweick, der allerdings Bittschriften aus dem 19. Jahrhundert untersucht, die meistenteils dem Neuen Stil verpflichtet waren – vgl. Karweick 1989, S. 28 – 32. 373 Vgl. Publicandum vom 14. August 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXXV, Sp. 1573 – 1576 und vgl. Patent vom 16. April 1793 [s. Verweisung auf das Patent vom 13. Mai 1766]; in: NCCPBPM 1796, 9. Bd., No XXXI, Sp. 1505 – 1544. 374 Abgebildet zum Beispiel in: Supplik des Freundes Friedrich Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 60 [s. Anlage Nr. 8]. Daneben existiert auch ein Stempelbild, in dem Herrschafts-
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Für eine Supplikation, die an ein Departement auf zentralstaatlicher Ebene gerichtet war, wurde laut Publicandum vom 14. August 1787 eine Gebühr in Höhe von einem Groschen erhoben; für Vorstellungen an Gerichte und Unter-Obrigkeiten wurden lediglich sechs Pfennige verlangt – alles in allem eine sehr gemäßigte Gebühr, deren Höhe vermutlich nur wenige Arme vom Supplizieren abhielt.375 Ein Blick in die Akten verrät, dass die Vorgabe zumeist befolgt wurde, denn die Suppliken sind in der Regel auf Ein-Groschen-Stempelpapier376 geschrieben. Daneben gibt es aber auch etliche Suppliken, für die Sechs-Pfennig-Stempelpapier377 genutzt wurde. Dennoch hatte das Justizdepartement die Suppliken mit SechsPfennig- und sogar mit Vier-Pfennig-Stempelpapier378 von Amts wegen akzeptiert und beschieden. Von einzelnen Supplikanten und Supplikantinnen hatte man wiederum eine höhere Summe kassiert, ohne dass eine Verordnung eine entsprechende Gebühr verlangt hätte: So liegen Suppliken vor, die eine Zwei-Groschensymbole und Gebühr kombiniert waren, welches lediglich eine einzige Stempelung erforderlich machte, allerdings ist diese Variante selten vertreten. 375 Vgl. Publicandum vom 14. August 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXXV, Sp. 1573 f. Zum Vergleich: In Kurmainz wurde 1788 die stattliche Gebühr von 1 Gulden 5 Kreuzer erhoben – vgl. Härter 2005, S. 253. 376 Beispiele für Ein-Groschen-Stempelpapier: vgl. vier Suppliken der Ehefrau Durand / Fallakte Peter Ludwig und Etienne Durand (intus: Dittmar); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218; vgl. sechs Suppliken des Jacob in eigener Sache, seines Vaters sowie von sechs Handelspartnern / Fallakte Joseph Jacob; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218; vgl. Supplik des Vaters Müller vom 16. März 1791 / Fallakte Maria Louise Müller; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.177, fol. 188; vgl. Supplik der Mutter Wagner vom 10. Februar 1787 / Fallakte Anne Sophie Magdalena Wagner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.175, fol. 55; vgl. fünf Suppliken der Eltern / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 187, 199 – 200, 202, 205, 207; vgl. zwei Suppliken des Vaters Brasch vom 11. Dezember 1790 und 29. Dezember 1791 / Fallakte Carl Friedrich Brasch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.058; vgl. acht Suppliken des Henckel in eigener Sache / Fallakte Georg Henckel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.957. 377 Beispiele für Sechs-Pfennig-Stempelpapier: vgl. Supplik der Ehefrau Krause in Sachen beider Eheleute vom 4. Oktober 1797 / Fallakte Ehepaar Krause; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220; vgl. Supplik des Gelbeke vom 17. Oktober 1792 / Fallakte Maria Thonin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.178, fol. 111; vgl. Supplik der Stieftochter Maria Sophie Ragotzgen o. D. [ca. Anfang November 1796] / Fallakte Johann Friedrich Liebke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 503; vgl. Supplik der Tochter Sophie Krohn vom 9. September 1797 / Fallakte Hanna Dorothea Krohn; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 193; vgl. Supplik der Ehefrau Schneider vom 2. März 1791 / Fallakte Carl Gottlob Schneider; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.057; vgl. vier Suppliken des Vaters Döbling vom 10. Oktober 1790 bis 10. April 1793 / Fallakte Friedrich Döbling; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985. 378 In den konkreten Fällen der Sechs- und Vier-Pfennig-Stempelpapiere gibt es auch keine Hinweise darauf, dass die Suppliken zuerst bei einem Gericht oder einem Amt eingereicht worden waren, um sodann im Geschäftsgang an das Justizdepartement zu gelangen. Als Beispiel für Vier-Pfennig-Stempelpapier vgl. Supplik der Tante Maria Elisabeth Weber vom 3. August 1797 / Fallakte Maria Dorothea Jungin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 145.
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Gebühr379, eine Drei-Groschen-Gebühr380 und in einem Fall sogar eine Sechs-Groschen-Gebühr381 belegen. Trotz unmissverständlicher Normvorgaben nahm man es in den Amtsstuben mit dem Eintreiben von Gebühren offenbar nicht so genau.382 Den Supplikanten und Supplikantinnen, die vorschriftsgemäß Stempelpapier benutzt hatten, stand allerdings eine große Zahl derer gegenüber, die solches nicht vorweisen konnten. In einigen Fällen gibt es allerdings eine Erklärung für diesen Umstand: So findet sich in einigen Akten ein gesondertes Blatt mit Stempelungen als Anlage zur Supplik, da die supplizierenden Männer und Frauen das Stempelpapier erst nach vollendeter Niederschrift der Supplik erworben und dem Schreiben beigelegt hatten.383 Wiederum andere ungestempelte Suppliken waren im Ausland aufgegeben worden, wo sich den Supplizierenden keine Möglichkeit bot, an brandenburg-preußische Stempelpapiere zu gelangen. In einem Fall versuchte ein vermutlich aus Sachsen stammender Schreiber dieses Manko zu entschuldigen, indem er den Vermerk „reservatio des Stempels“384 anbrachte. Unter den Supplizierenden waren zudem etliche, die offiziell von der Gebühr befreit waren, da sie aus der Haft supplizierten, wie die Vermerke „Ex arresto“385 und „Ex carcere“386 belegen. Außerdem erließ man zahlreichen supplizierenden Männern und Frauen die Gebühr aufgrund ihrer Armut.387 In diesen Fällen findet man neben den Stem379 Beispiele für Zwei-Groschen-Stempelpapier: vgl. Supplik des David Joachim Burmeister vom 7. November 1790 / Fallakte Marie Louise Boltzin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.177, fol. 254; vgl. drei (der vier) Suppliken des Bremer in eigener Sache / Fallakte Johann Gottfried Bremer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 380 Beispiel für Drei-Groschen-Stempelpapier: vgl. Supplik des Ehemanns Rauschnick vom 21. Dezember 1791 / Fallakte Florentin Rauschnick; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.058. 381 Beispiel für Sechs-Groschen-Stempelpapier: vgl. Supplik des Nauener Magistrats vom 31. Januar 1793 / Fallakte Johann Friedrich Pinckow und Ehefrau; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 382 Auch die unter Friedrich II. bearbeiteten Gnadensuppliken weisen unterschiedliche Gebühren auf: Hannelore Lehmann macht Zwei- bis Sechs-Pfennig-Stempelpapiere, vereinzelt aber auch Ein- und Vier-Groschen-Stempelpapiere aus – vgl. Lehmann 2004, S. 87. 383 Beispiele für Stempelpapier in der Anlage der Supplik: vgl. Supplik des Schwagers Carl Gottfried Gebhard vom 14. März 1798 / Fallakte Christian Juncker; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.181; vgl. Supplik des Vaters Schäfer vom 26. November 1797 / Fallakte Heinrich Schäfer (intus: Tescher, Reichert, Bergmüller); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241; vgl. Supplik des Busse in eigener Sache vom 5. Mai 1791 / Fallakte Busse; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985. 384 Der Wohnsitz der Supplikantin war Baruth in Sachsen – vgl. Suppliken der Mutter Juncker vom 1. November 1786 und 30. Juni 1792 / Fallakte Christian Juncker; in: ebd. 385 Vgl. Supplik des Dittmar in eigener Sache vom 20. Juli 1791 / Fallakte George Friedrich Dittmar (intus: Durand); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 386 Vgl. Supplik des Pitschel in eigener Sache vom 11. Oktober 1796 / Fallakte Friedrich Wilhelm Carl Pitschel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220; vgl. Suppliken des v. d. Osten in eigener Sache vom 18. und 19. Oktober 1790 / Fallakte Wilhelm August Alexander v. d. Osten; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.057.
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pelabdrücken oder anstelle einer Stempelung einen entsprechenden Vermerk, wie zum Beispiel „A. S.“388 oder „Armen“389 für „Armen-Sachen“390 oder „Pauper“391. Unklar bleibt allerdings, welches die Bedingungen für eine amtlich anerkannte Armut waren und wer demzufolge einen Anspruch auf die Gebührenbefreiung hatte. Fest steht, dass man sich in den Ämtern bei der Anerkennung des Armenstatus zum Teil großzügig gab: So gibt es Fälle, in denen zum Beispiel den Töchtern eines Vaters, der sich selbst als überaus vermögend bezeichnete, die Gebühr beim Supplizieren mit dem Vermerk „Arm!“ erlassen wurde.392 Die Ausnahmen von der Gebührenpflicht nehmen sich jedoch gering aus gegenüber der Zahl der Suppliken, aus denen kein Grund ersichtlich ist, warum sie nicht auf Stempelpapier geschrieben wurden.393 Einige unter den Supplikanten und Sup-
387 Mitunter wurde die Gebühr formal nicht erlassen, sondern von der Armenkasse übernommen – vgl. Reskript vom 19. Dezember 1796; in: NCCPBPM 1801, 10. Bd., No CXXVIII, Sp. 779 – 780. 388 Vgl. zwei Suppliken der beiden Brüder vom 2. April 1788 und 2. Juni 1788 / Fallakte Hedwig Sophie Schmidt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 16 – 18, 22 – 24. 389 Vgl. Supplik des Ehemanns Draeger vom 30. November 1790 / Fallakte Anna und Christian Draeger; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056. 390 Vgl. Supplik der Mutter Reinicken vom 12. Januar 1796 / Fallakte Dorothee Friederike Reinicken; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 231; vgl. Supplik des Ludewig in eigener Sache vom 8. Oktober 1787 / Fallakte Christian Ludewig (intus: Ebel, Francke, Baetke); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.058. 391 Vgl. Supplik des Rosenbaum in eigener Sache vom 15. August 1794 / Fallakte Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum (intus: Goerges); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218; vgl. Supplik der Mutter Reinicken vom 4. Oktober 1795 / Fallakte Dorothee Friederike Reinicken; in: ebd., fol. 229; vgl. Supplik des Rabe in eigener Sache vom 10. Mai 1787 / Fallakte Martin Friedrich Rabe; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 392 Vgl. Supplik des Pitschel in eigener Sache vom 31. Mai 1792 und zit. aus: Supplik der beiden Töchter vom 21. Oktober 1793 / Fallakte Friedrich Wilhelm Carl Pitschel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220. 393 Zum Beispiel sind zwei Suppliken des Vaters Hanses ungestempelt, während vier darauf folgende Suppliken mit einem Groschen gestempelt sind – vgl. hier die ungestempelten Suppliken des Vaters Hanses vom 10. November 1791 und 12. Oktober 1795 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 185, 209. Die Ehefrau Liebke reichte ihre beiden Suppliken ungestempelt ein – vgl. Suppliken der Ehefrau Liebke vom 28. April 1787 und 9. Juli 1795 / Fallakte Johann Friedrich Liebke; in: ebd., fol. 517 – 518, 520 – 521; darüber hinaus vgl. Supplik des Vaters Günther vom 22. Juni 1791 / Fallakte Johanne Dorothee Christiane Günther; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.057; vgl. Supplik des Sohnes bzw. Bruders v. Linckersdorff vom 20. August 1797 / Fallakte Mutter und Tochter v. Linckersdorff; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. B, Paket 15.972; vgl. Supplik des Freundes Wilhelm Kluge vom 6. Juli 1790 / Fallakte Johann Michael Schoenecke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235; vgl. sämtliche vier Suppliken der Ehefrau Detourner / Fallakte Emanuel Detourner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241; vgl. Supplik des Georgi in eigener Sache vom 29. November 1795 / Fallakte Georgi; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.203; vgl. Supplik des Fester in eigener Sache vom 29. Januar 1797 / Fallakte Ludwig Wilhelm Fester; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.203.
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plikantinnen hatten sich gegen die von den Ämtern herausgegebenen Papierbögen entschieden und stattdessen vornehmes Briefpapier im Quartformat für ihre Suppliken gewählt, welches sie ohne Stempelung einreichten.394 Mag sein, dass sie bzw. ihre Schreiber über die Gebührenverordnung nicht informiert waren und das kostbare quartförmige Briefpapier dem Anlass für angemessen hielten. Vermutlich gab es unter den Supplizierenden aber auch solche, die hofften, die Stempelgebühren auf diese Weise umgehen zu können. Die Annahme, dass sich etliche Supplizierende bzw. ihre Schreiber mit der erforderlichen Gebührenhöhe nicht auskannten, wird durch die Beobachtung gestützt, dass bei mehreren Supplikationen für eine Person, mitunter auch von demselben Absender oder demselben Schreiber, Stempelpapiere mit jeweils unterschiedlichen Gebühren verwandt wurden bzw. keine Gebühr entrichtet wurde.395 Zum Beispiel ließ Peter Heese seine erste Supplik nicht auf Stempelpapier schreiben, obwohl nichts darauf hindeutet, dass er vom Stempelgeld befreit worden war; für die zweite Supplik hatte Heese ein Entgelt von einem Groschen entrichtet; bei der dritten wurde ihm die Gebühr wegen „pauper“ erlassen; die vierte Supplik ließ er hingegen wieder auf einem Ein-Groschen-Stempelpapier schreiben; das fünfte 394 Vgl. beispielhaft Fürbitte der Prinzessin Friederike v. Preußen vom 7. Dezember 1789 / Fallakte Friederike Lentz; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055; vgl. Supplik des Vaters Günther vom 22. Juni 1791 / Fallakte Johanne Dorothee Christiane Günther; in: ebd.; vgl. Supplik des Sohnes bzw. Bruders v. Linckersdorff vom 20. August 1797 / Fallakte Mutter und Tochter v. Linckersdorff; in: ebd.; vgl. Supplik des Wredow in eigener Sache vom 16. Januar 1796 / Fallakte Christian Friedrich Wredow; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220; vgl. Supplik der Mutter Bennecke vom 24. März 1790 / Fallakte Heinrich August Bennecke (intus: Hanses); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 196 – 197; vgl. Supplik der Mutter Reinicken vom 17. November 1797 / Fallakte Dorothee Friederike Reinicken; in: ebd., fol. 233; vgl. Suppliken der Mutter Juncker vom 19. August 1786 und 1. November 1786 / Fallakte Christian Juncker; in: ebd. 395 Zum Beispiel beließ die Ehefrau Wartenberg ihre ersten drei Suppliken ungestempelt, während sie die darauf folgende Supplik auf einem Zwei-Groschen-Stempelpapier und die nächsten beiden wiederum auf einem Ein-Groschen-Stempelpapier schreiben ließ – vgl. sechs Suppliken der Ehefrau Wartenberg / Fallakte Johann Friedrich Wartenberg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.057. Unterschiedliche Varianten bieten auch die Supplikationen des Ehemanns Rauschnick: Während die ersten drei Suppliken offenbar ohne Entgelt eingereicht worden sind (davon eine als „Armen-Sache“, die nächste bar jeder Bemerkung, die dritte wiederum mit dem Zusatz „Invaliden-Sache“), zahlte Rauschnick für die beiden folgenden Suppliken jeweils drei Groschen – vgl. fünf Suppliken des Ehemanns Rausch-nick / Fallakte Florentin Rauschnick; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.058. Im Fall Wredow trägt nur eine Supplik den Gebührenstempel in Höhe von einem Groschen, während die übrigen sechs Suppliken des Vaters nicht gestempelt sind – vgl. Suppliken des Vaters Wredow / Fallakte Christian Friedrich Wredow; in: ebd. Ähnlich im Fall Hannemann, wo fünfmal zu je einem Groschen, einmal zu zweimal sechs Pfennigen und einmal ohne Stempel suppliziert wurde – vgl. Suppliken des Hannemann in eigener Sache und seiner Ehefrau Hannemann / Fallakte Johann George Hannemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.219, fol. 8 – 10, 17, 19 – 20, 22, 25, 27, 32. Selbst ein Landrat als Angehöriger der Obrigkeit supplizierte mal ohne, mal mit Gebühr – vgl. zwei Suppliken des Prignitzer Landrats zu Rohr / Fallakte Jacob Teisch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.177, fol. 403 – 404, 406.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
und sechste Gesuch trägt wiederum den Hinweis „Armen-Sache“; für die siebente Supplik entrichtete Heese sogar sechs Groschen, für die achte und neunte dagegen zwei Groschen und für die zehnte schließlich nur noch sechs Pfennige – dieser stete Wechsel der Gebühr zieht sich bis zur sechzehnten Supplik durch.396 Fest steht, dass Heeses Suppliken allesamt angenommen und vom Justizdepartement bearbeitet wurden, ohne dass die angedrohte Strafe wahr gemacht wurde. Das Publicandum sah vor, dass Supplizierende, welche ohne Stempelpapier vorstellig wurden, ein Bußgeld von einem Reichstaler397 entrichten mussten. Die Quellen schweigen indes darüber, ob diese Sanktion jemals verhängt wurde. Da davon auszugehen ist, dass ein solcher Vorgang auf den Suppliken notiert worden wäre, die Suppliken jedoch keine diesbezüglichen Vermerke aufweisen, muss angenommen werden, dass Verstöße gegen die im Publicandum verkündete Gebührenordnung nicht geahndet wurden. Ähnlich nachsichtig zeigten sich die Staatsdiener auch im Hinblick auf serienmäßiges Supplizieren sowie auf formale und sprachliche Mängel398 – in kaum einem Fall wurde mit der angedrohten Verweigerung oder gar Bestrafung reagiert [s. A.III.4.b)]. So sollten die supplizierenden Männer und Frauen, falls sie bereits zuvor Supplikationen angestrengt hatten, eine Abschrift der daraufhin erhaltenen Resolution ihrer Supplik als Anlage beifügen.399 An diese Vorschrift hielt sich kaum ein Supplizierender. Nur in wenigen Fällen400 ist der Supplik eine solche 396 Vgl. die zehn Suppliken des Heese in eigener Sache / Fallakte Peter Heese; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985. 397 Vgl. Publicandum vom 14. August 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXXV, Sp. 1573 – 1576. 398 Die Allgemeine Gerichtsordnung der Preußischen Staaten von 1793 droht an, dass Suppliken, die z. B. unklar formuliert waren, deren Darstellung nicht der Wahrheit entsprach, die nicht in der gebührenden Bescheidenheit vorgetragen oder bei denen die Formalia nicht eingehalten wurden (z. B. die zuletzt erhaltene Resolution nicht beigefügt war oder die Supplik nicht die Unterschrift des Schreibers trug), abgewiesen werden sollten; im Wiederholungsfall konnten die Supplikanten und Supplikantinnen mit einer Freiheitsstrafe von 14 Tagen bis zu vier Wochen belegt werden – vgl. III 1 § 14, 15 AGO. 399 Vgl. Deklaration vom 24. Juni 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXI, Sp. 1488. 400 In folgenden Fällen lagen z. B. den Suppliken Abschriften der Resolutionen auf die vorhergehenden Supplikationen als Anlage bei: vgl. Supplik der Brüder Christian Friedrich und Elias Michael Schmidt vom 2. April 1788 / Fallakte Hedwig Sophie Schmidt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 17 – 18 (hier: Abschrift der Resolution vom 20. März 1788 auf Supplikation der Schmidt in eigener Sache und Abschrift des Urteils); vgl. Supplik des Stapelfeld in eigener Sache vom 12. Januar 1786 / Fallakte Dieterich Stapelfeld; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956 (hier: Abschrift der Resolution vom 20. April 1783 auf Supplikation des Bruders); vgl. Supplik des Damsch in eigener Sache vom 10. August 1789 / Fallakte Damsch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202 (hier: Abschrift der Resolution vom 13. Juli 1789 auf Supplikation in eigener Sache). In einigen anderen Fällen finden sich in der Anlage zwar keine Abschriften von Resolutionen, wohl aber von Urteilen: vgl. Supplik der Lisnitzer in eigener Sache vom 27. März 1789 / Fallakte Johanna Eleonore Lisnitzer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956; vgl. Supplik des Rabe in eigner Sache vom 28. Februar 1787 / Fallakte Martin Friedrich Rabe; in: GStA
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Anlage beigefügt.401 Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass die Obrigkeit mit Verordnungen keine Veränderung der herkömmlichen Supplikationspraxis zu bewirken vermochte. Obwohl die Edikte und Verordnungen zum Supplikationswesen [s. A.II.3.] bei Zuwiderhandlung androhen, dass unvollständige Supplikationen von den Behörden nicht akzeptiert und unruhige Querulanten bestraft würden, wurden sämtliche hier vorliegenden Supplikationen trotz ihrer Formfehler unbeanstandet akzeptiert und beschieden. Augenscheinlich fügten sich die Behörden der Macht des Faktischen und akzeptierten die gängige Supplikationspraxis. Es hat den Anschein, als ob sich die Staatsdiener den Supplikationsgewohnheiten der Untertanen beugten. Berücksichtigt man aber, welch existenzielle Bedeutung der Gebühreneinnahme für den Unterhalt der Staatsdiener zukam, so erscheint die These überzeugender, dass die noch ausstehenden Stempelgebühren den supplizierenden Männern und Frauen bei der Abgabe der Supplik im Amt abverlangt wurden. Allerdings stellt sich auch hier die Frage, warum eine solche Handhabung auf den Suppliken keine Spuren hinterließ, wie es der preußischen Aktenführung entsprochen hätte – vielleicht weil dies eine durchweg gängige Verwaltungspraxis darstellte, die keines weiteren Vermerks mehr bedurfte. Der mit den Verordnungen nicht konform gehende Umgang mit Suppliken in den Amtsstuben belegt einmal mehr, dass man das Recht der Untertanen, Gnade beim Monarchen zu erbitten, respektierte und offenbar nicht durch bürokratische Hindernisse in der Verwaltungspraxis beschränkte.
b) Formaler Aufbau der Suppliken und narrative Muster Im Folgenden stehen die Suppliken mit ihrem äußeren Erscheinungsbild, dem inhaltlichen Aufbau und narrativen Mustern im Mittelpunkt der Untersuchung, die in ihrer Gliederung der Konzeption der Schreiben folgt – beginnend mit der Außenadresse und der Anrede des Empfängers über die Darstellung des Anliegens bis hin zur Unterschrift der Absender. Viele der Suppliken weisen keine Außenadresse auf, was darauf hindeutet, dass sie persönlich in einem Amt abgegeben und an den Justizminister weitergeleitet wurden. Die wenigen mit der Post versandten Suppliken tragen die Außenadresse auf der Rückseite des zusammengefalteten und versiegelten Schreibens. Bei der Adressierung verzichtete man darauf, den vollständigen Titel des Gnadenträgers402 PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202; vgl. Supplik des Goetschmann in eigener Sache vom 30. Juni 1787 / Fallakte Johann Friedrich Goetschmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. In einem Fall liegt sogar ein Auszug aus den Ermittlungsakten vor – vgl. Supplik des Vaters Müller vom 16. März 1791 / Fallakte Maria Louise Müller; in: ebd. 401 Auch lassen sich keine Striche im linken Randbereich feststellen, die üblicherweise auf die ursprüngliche Existenz von Anlagen verweisen. 402 Nur eine Supplikantin machte sich die Mühe, sämtliche Titel und Besitzansprüche von Friedrich Wilhelm II. in der Adresse aufzuführen – vgl. Supplik der Mutter Zimmermann
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aufzuführen. Es genügte ein knappes „au Roi“, eventuell mit der Angabe des derzeitigen Aufenthaltsortes des Monarchen: „au Roi a Potsdam – zur allerhöchst eigenen Erbrechung“403; darunter zieren kalligraphische Schlussschnörkel die Adresse. Mit der Adressierung war nicht unbedingt der Monarch in persona als Empfänger gemeint, sondern jedweder Vertreter der Obrigkeit. Der Kurialstil verlangt, dass Untertanen ihr Begehren gegenüber der Obrigkeit stets symbolisch an den Monarchen als deren höchsten Repräsentanten zu richten hatten, damit den Behörden der erforderliche Respekt entgegengebracht wurde.404 Zum Beispiel konnte eine Supplik laut Außenadresse zwar an den König adressiert sein, als tatsächlicher Empfänger wird aber der Justizminister angesprochen.405 Diese Form der Höflichkeit galt es nicht nur bei der Außenadresse, sondern auch bei Anrede und Stil zu berücksichtigen. Die Regel belegt einmal mehr den Hang frühneuzeitlicher Herrschaftspraxis zur Inszenierung von personenbezogener Machtausübung. Im Aufbau orientieren sich die Suppliken wie der gesamte frühneuzeitliche Formenapparat am Urkundenformular, welches sich wiederum an die Tradition der Rede und des Briefschreibens der Antike anlehnt.406 Der Aufbau folgt einem dreiteiligen Schema, bestehend aus dem einleitenden Protokoll, dem Kontext als Hauptteil und dem abschließenden Eschatokoll. Die Formelemente des Protokolls sind bei den Suppliken auf die Inscriptio mit einer Salutatio, der Anrede des Empfängers mit Titulatur und angemessenen Würdeprädikaten, beschränkt.407 Inscriptio und Salutatio lauten bei den im Quellenfundus vorgefundenen Suppliken fast durchgängig: „Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster König, / Allergnädigster König und Herr!“408 vom 24. März 1790 / Fallakte Ludewig Zimmermann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.177, fol. 414. 403 Adressierung der Supplik der Mutter Rummert vom 15. April 1787 / Fallakte Johann Gottfried Rummert, in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 256. 404 Vgl. Haß 1909, S. 220 f.; vgl. Kloosterhuis 1999, S. 537; vgl. Meisner 1950, S. 182; vgl. Schmid 1959, 1. Teil, S. 157. 405 Zum Beispiel: „An den König – zur Erbrechung des Königlichen Justiz-Ministerii“ – Supplik des Schobelt in eigener Sache vom 14. Dezember 1787 / Fallakte Doctor Medicinae Schobelt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. Oder: „au Roi – à Berlin – zur Erbrechung Eines hohen Etats-Raths“ – beide Suppliken des Krell in eigener Sache vom 13. August 1789 und 15. Juli 1790 / Fallakte Krell; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 406 Vgl. Kloosterhuis 1999, S. 490. 407 Zum Vergleich: Das Protokoll einer Urkunde besteht v. a. aus folgenden Formelementen: Invocatio (Anrufung Gottes), Intitulatio (Name und Titel des Ausstellers), Inscriptio (Name mit Titulatur des Empfängers) und Salutatio (Gruß). 408 Diese Anrede weisen fast ausnahmslos alle hier untersuchten Suppliken auf, die nicht unmittelbar an den Justizminister gerichtet waren. Hier bspw. zit. aus: Supplik des Freundes Friedrich Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 60 (s. Anlage Nr. 8). Die genannte Anredeform für einen Monarchen bleibt bis ins 19. Jahrhundert bestehen, s. Briefsteller des 18. und 19. Jh. – für das 17. / 18. Jh. vgl. „Formuln“; in: Feller / Der Spaten 1726 / 1678, I. Teil, Kap. 24, S. 207 und für das 19. Jh. vgl. L. Kiesewetter, Neuer praktischer Universal-Briefsteller für das geschäftliche und gesellige Leben,
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Der Adressierung entsprechend wurde diese Anrede aus Gründen der Höflichkeit sowohl in echten Immediatsuppliken, also jenen, die dem Monarchen vorgelegt wurden, benutzt, als auch in Mediatsuppliken, die an den Justizminister gerichtet waren; daher spricht man bei letzteren auch von unechten Immediatsuppliken. Aufgrund des Kurialstils sind Mediat- wie Immediatsuppliken nur anhand der Vermerke zum Geschäftsgang voneinander zu unterscheiden. Der Höflichkeitsregel zum Trotz finden sich unter den Quellen einige wenige Mediatsuppliken, die sich direkt an den Justizminster wandten, welcher wie folgt angeredet wurde: „Hochwohlgebohrner Herr, / Höchstzuverehrender Herr, Gnädiger Herr!“409
Die zweizeilig arrangierten Anreden sind dabei stets in einer raumgreifenden Zierschrift verfasst, bei der zudem die Initialen kalligraphisch ingrossiert sind.410 Die Schrift war Zeichen des Respekts und verlieh dem Anliegen eine gewisse Feierlichkeit. Die Vorgaben für Schreiben der Unterordnung sahen für Suppliken eine andere räumliche Aufteilung vor als für Schreiben der Weisung. Aus Gründen der Höflichkeit wurde ein Devotionsabstand zwischen Anrede und Fließtext eingefügt. Der Devotionsabstand galt als Zeichen des Respekts und symbolisiert die soziale Distanz zwischen dem Untertanen als Absender und dem Empfänger als Repräsentanten der Obrigkeit.411 Die kurmärkischen Suppliken weisen in der Regel einen Devotionsabstand von mindestens drei bis ca. acht Zentimetern auf. Dies wurde in einigen Suppliken soweit getrieben, dass die erste Seite des Schreibens nach der Anrede fast leer blieb; der Textblock beginnt hart am unteren Rand und umfasst nur wenige Zeilen.412 Setzt man dieses graphische Mittel in Bildsprache um – 23. Aufl., Glogau o. J. [ca. 1874], hier S. 37. Äußerst selten findet man Abweichungen von der üblichen Anrede, die vermutlich nicht bewusst gewählt waren, sondern auf Unkenntnis des Schreibers zurückgingen, wie z. B.: „Allerdurchlauchtigster, unüberwindlicher König / allergnädigster Herr“ – Supplik des Vaters Schäfer o. D. [um den 7. Juli 1797] / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd. 409 Dass es sich hierbei nicht um einen möglichen Stilfehler, sondern um eine Mediatsupplik handelt, geht aus der Adressierung hervor: „Des Königlich Preußischen Würklichen Geheimenen [sic] Etats und Diregierenden Minister, Hernn Baron von Golbec [gemeint: v. Goldbeck], Excellenz, zu Berlin“ – Supplik der Ehefrau Kähler vom 19. Juli 1797 / Fallakte Ludwig Kähler; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49. Lit. H, Paket 16.180, fol. 267. Eine ähnliche Variante der ministerialen Anrede führt der Briefsteller an – vgl. „Formuln“; in: Feller / Der Spaten 1726 / 1678, I. Teil, Kap. 24, S. 208. 410 Hinweise zur kalligraphischen Gestaltung finden sich auch im Briefsteller – vgl. Hoch 1820 / 1814, S. 40. 411 Vgl. Meisner 1950, S. 177. 412 Vgl. Supplik der Mutter Zimmermann vom 24. März 1790 / Fallakte Ludewig Zimmermann; in: ebd., fol. 414; vgl. Supplik des Meisters Schmaeck vom 25. April 1794 / Fallakte Johann Gottlob Kalmer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240, fol. 13 – 14; vgl. zwei Suppliken des Tescher in eigener Sache vom 3. September 1795 und 18. September 1795 / Fallakte Johann Gottfried Tescher (intus: Schäfer, Reichert, Bergmüller); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241; vgl. Supplik des Vaters Schäfer o. D. [um den 7. Juli 1797] / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd.
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oben die verzierte Anrede an die Majestät und unten am Ende der Seite der graphisch bescheiden anmutende Begehr eines Untertanen –, so drängt sich die theatralische Szene eines zu Füßen des Thrones in demütiger Haltung liegenden Untertanen auf. Nach dem der Devotion gewidmeten Spatium beginnt der Kontext. Die Briefsteller der alten Schule sahen eine Arenga-artige Einführung des Begehrs mit allgemeinen Ehrbezeugungen und Lobpreisungen der königlichen Güte noch als mustergültig an.413 Mit einem kurzen Arenga-artigen Beginn setzt zum Beispiel die Supplik des Hildesheimer Untertanen Schäfer für seinen Sohn an: „Wenn nicht die durch so manche Thatsache wohl bekannt gewordene außerordentliche Gnade, welche Eure Königliche Majestät jedermann ohne Unterschied erwiesen[,] mich überzeugt hätte, daß in der Brust des größten Monarchen ein gefühlvolles, sanftes und mitleidiges Herz schlagen müsse ( . . . ).“414
Der Supplikant aus dem Ausland huldigte Friedrich Wilhelm II., indem er dessen angebliche Gnade und Milde pries. Mit der Schmeichelei hoffte der Supplikant, den Monarchen für sein Anliegen günstig zu stimmen. Mit diesem Rückgriff auf die Herrschertugenden [s. A.I.1.a) und c)] sollte Friedrich Wilhelm II. zugleich an seine Schutzpflicht gegenüber den Untertanen erinnert werden. Briefsteller sahen in Schmeicheleien ein geeignetes Mittel, um den Adressaten „in eine für das dißfalsige Interesse des Bittenden günstige Stimmung zu versezen“.415 Zum Beispiel versuchte die Schwester Wussow erst gar nicht, den ihrem Bruder zur Last gelegten Betrug schönzureden, vielmehr pries sie die Tugenden des Monarchen: „( . . . ) Euer Majestät mit der Allerhöchst Denenselben angebohrenen Weltberühmten-Herzens-Güte und Menschenfreundlichen Mitleiden ( . . . ).“416
Ähnlich klingt die Huldigung in der Supplik des Stahlfabrikanten Voigt für seinen Arbeiter Wilhelm Ludewig Bolte: 413 Zum Beispiel beginnt der Briefsteller Der Spaten seine Mustersupplik mit einer Arenga, welche in dieser Ausführlichkeit und Schmeichelei in Brandenburg-Preußen Ende des 18. Jh. kaum noch anzutreffen ist: „Eure Königliche Majestät Gnade und Güte ist so Weltberühmt, daß alle Auswärtige Dieselbe zum höchsten verehren, und Dero getreue Unterthanen, besonders aber Unglückseelige, auch in den wichtigsten Angelegenheiten dahin ihre Zuflucht nehmen können; Denn man wird von dem Throne eines Monarchen nie ohne Trost gelassen, in welchem alle hohe Königlichen Tugenden gleichsam ihren eigenen Sitz genommen, und bey dem preißwürdigsten Eiffer vor die Gerechtigkeit zugleich eine vollkommene heroische Großmuth anzutreffen ( . . . ).“ – „Supplic an einen König um Erlassung der Gefangenschafft“; in: Feller / Der Spaten 1726 / 1678, I. Teil, Kap. 17, No XIX, S. 157. 414 Supplik des Vaters Schäfer o. D. [um den 7. Juli 1797] / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd. 415 Hoch 1820 / 1814, S. 11. 416 Supplik der Schwester Wussow vom 2. Februar 1792 / Fallakte Ernst Friedrich Wussow; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217.
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„Die so große Menschenfreundliche Geneigtheit und Gnade, so Eure königliche Majestaet gegen manchen Hülfsbedürftigen zu hegen geruhet, läßet mich einer höchst derenselben unterthänigst vorzutragenden submisisten bitte wegen vergebung hoffen.“417
Die Supplizierenden versuchten sich in einer self-fulfilling prophecy, indem sie dem Monarchen eine Geisteshaltung zuschrieben, die ihren Wünschen und Hoffnungen entsprach. Durch die Suggestion wurde ein gewisser moralischer Druck aufgebaut, den Erwartungen der supplizierenden Untertanen zu entsprechen. Wurden die Gnadenbitten jedoch abgelehnt, so stellte dies die Wahrhaftigkeit der Lobpreisungen zwangsläufig in Abrede. Summierten sich Enttäuschungen über abgelehnte Gnadenbitten, so musste der Monarch damit rechnen, dass sich dies in seiner Popularität bei den Untertanen niederschlug. In den Suppliken von kurmärkischen Untertanen sparte man zwar nicht an Huldigungen, doch beim Großteil der Suppliken wurde indes auf eine Arenga verzichtet und man setzte sogleich mit der Narratio ein, der Erzählung über die das Begehr verursachenden Einzelumstände. In Brandenburg-Preußen hielt man gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Arenga offensichtlich für ein Relikt eines antiquierten Stils,418 denn in den Suppliken dieser Epoche ist sie nicht so häufig bzw. in stark verkürzter und eher nüchterner Form anzutreffen. Bei den vorliegenden Suppliken kann man grob zwei Stilrichtungen unterscheiden: Einen sachlich-nüchternen Stil und einen stärker auf Emotionalität setzenden Stil, der allerdings in Brandenburg-Preußen weniger verbreitet war. Bei letzterem stößt man auf eine huldigende Arenga und eine wortgewaltige Narratio mit dramaturgischen Elementen. So wurde die Übergabe der Supplik fiktiv in Szene gesetzt, als ob sie sich tatsächlich in einer face-to-face Situation gegenüber dem Monarchen abgespielt hätte, wie dies beispielsweise in der Supplik von Sophie Hahn für ihren Bruder und dessen Freund geschildert ist: „Es wirfft sich eine von Triebsal und Elend gerührte Unterthanin Eurer Königlichen Majestät vor dero Thron und dessen Füssen nieder, und rufet um Gnade, weil sie des Vertrauens und der Hoffnung lebt[,] Gnade vor Recht zu erhalten, noch mehr werde da zu angefeuret[,] weil selbst dero Hohe Gnade, und Vaterliche Vorsorge, welche Eure Majestät gegen einen jeden Ihrer Unterthanen huldreichst von Tag zu Tag bewiesen, also unterstehe auch ich mich zu wagen[,] Eurer Königliche Majestät zu nehern mit diesem Subplier.“419 417 Supplik des Stahlfabrikanten Martin Voigt vom 26. März 1790 / Fallakte Wilhelm Ludewig Bolte; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056. 418 Für die Annahme, dass ein Arenga-artiger Beginn einer Supplik im Laufe des 18. Jh. als nicht mehr zeitgemäß galt, spricht auch die Entwicklung des brandenburg-preußischen Kanzleistils, der sich im Vergleich bspw. mit Österreich durch relative Schlichtheit und Kürze auszeichnet (s. z. B. die preußische Kabinettsorder) – vgl. Meisner 1950, S. 150 – 155; vgl. Haß 1909, S. 222 – 232. 419 Supplik der Schwester Sophie Hahn bzw. Schwester seines Freundes o. D. [ca. 5. Juni 1795] / Fallakte Johann Friedrich Hahn und Johann Christian Graebert; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241, fol. 10.
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Auch wenn es der Text suggeriert, es fand keine persönliche Übergabe an den Monarchen statt. Denn das Schreiben ging, so legt es die Versiegelung und die Außenadresse nahe, auf dem Postweg oder per Kurier beim Justizdepartement ein, und durchlief den üblichen Geschäftsgang. Dennoch entschied sich die Supplikantin für eine theatralische Darstellungsweise, die den bürokratischen Vorgang mit szenischer Handlung und Emotionen auflud: eine vom Kummer gezeichnete Untertanin liegt dem Monarchen zu Füßen und fleht um Gnade vor Recht. Die Szene entspricht, wie etliche Suppliken belegen, einer zu jener Zeit verbreiteten Vorstellung vom Gnadenbitten.420 Viele der supplizierenden Untertanen hielten an der tradierten Vorstellung des Gnadenbittens fest, ihr Anliegen dem Monarchen selbst vorzutragen, wenigstens aber ihre Supplik dem Gnadenträger persönlich zu überreichen.421 Da ihnen dies durch die normativen Vorgaben zur Regelung des Supplikationswesens [s. A.II.3.]422 verwehrt wurde, inszenierten sie diese symbolische Handlung fiktiv in ihrer Supplik. Zum Beispiel formulierte auch der General-Auditeur Ettner die Gnadenbitte für seinen Stiefbruder so, als ob die Übergabe tatsächlich mit unmittelbarer körperlicher Tuchfühlung einherging: „Bewilligen Eure Königliche Majestät Sie ihm [Ettners Stiefbruder Ferdinand Ludewig Schoenemann], nach Ihrer gnädigen Verheißung, und machen den Traum von Glück seiner jammernden Verwandten würcklich! Laßen Sie sich bewegen, und meine Thränen auf Sie würcken! Ich umfaße Ihre Knie, und flehe so lange, bis Sie mir Erhörung zurufen! ( . . . ).“423
Das Gnadenbitten nimmt mitunter den Charakter eines Gebets an. Die sprachliche Verwandtschaft mit einem Bittgebet äußert sich nicht nur in der bekundeten Demut, im Bekenntnishaften der Supplik, in dem unerschütterlichen Vertrauen auf die erlösende Kraft des Retters und in der Beschreibung religiöser Gestik, sondern auch in der in vielen Suppliken erkennbaren Analogie zu den in zahlreichen Gebeten und Liedern verwandten Bildern von Verzweifelten, die im Staub vor Gottes Thron liegen, und ihn um Hilfe anflehen.424 Die Supplizierenden orientierten sich 420 Beispielhaft vgl. Supplik der Ehefrau Ronneburg vom 12. März 1788 / Fallakte Johann Christian Ronneburg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 415; vgl. Supplik des Vaters Hagemann vom 28. April 1791 / Fallakte Johann Christoph Hagemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.177, fol. 273. 421 Die persönliche Übergabe der Supplik war eine durchaus verbreitete Praxis im Ancien Régime, wenngleich sie für den vorliegenden Quellenbestand nicht nachgewiesen werden konnte – vgl. Würgler 2005, S. 41; vgl. Blickle 1998. 422 So warnte zum Beispiel das Publikandum vom 12. Juli 1787 davor, dass Supplizierende „Unser Allerhöchste Person mit Anträgen und Gesuchen ( . . . ) unmittelbar zu behelligen“ – Publikandum vom 12. Juli 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXV, § 19, Sp. 1507 f. 423 Supplik des Stiefbruders, General-Auditeur Ettner, vom 24. Januar 1787 / Fallakte Ferdinand Ludewig Schoenemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 10. 424 Im Mittelalter war das Gnadenbitten stark von religiösen Elementen geprägt. Geoffrey Koziol spricht daher von theophanic regalian supplication – zit. aus: Koziol 1992, S. 9 und vgl. ebd., S. 42 f., 93 – 103; vgl. Schuster 2000, S. 276 – 278. Auf die Verwandtschaft frühneuzeitlicher und neuzeitlicher Gnadenbitten mit religiösen Bitt- und Dankgebeten verweisen
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offensichtlich an der christlichen Liturgie. So erinnert zum Beispiel die Bezeichnung einer Supplik als „Klage Lied“425 an christliches Liedgut und der pathetische Ruf nach „Gnade – Gnade – Gnade“426 an den Refrain Halleluja. Zwar fand die Liturgie katholischer Prägung in Brandenburg-Preußen mit der Reformation ein jähes Ende, jedoch ist anzunehmen, dass manche ursprünglich religiöse Praktiken in allgemeinen kulturellen Praktiken überlebten, allerdings nicht mehr gekoppelt an ein religiöses Bekenntnis.427 Dieses Phänomen scheint auch Form und Inhalt der Suppliken in Brandenburg-Preußen Ende des 18. Jahrhunderts beeinflusst zu haben [s. A.I.1.b) und A.I.2.b)]. Die Mehrheit der vorliegenden Suppliken zeugen von einem eher sachlichnüchternen Stil, der sich stark an den brandenburg-preußischen Kanzleistil anlehnte.428 Gleich zu Beginn stellte sich der Supplizierende anhand seines Verhältnisses zur angeklagten bzw. verurteilten Person vor und schilderte in aller Kürze das der betroffenen Person angelastete Vergehen und das gegen sie eingeleitete Gerichtsverfahren mit der ihr auferlegten Strafe, um sodann zum Anlass der Gnadenbitte überzuleiten. Auf eben diese Weise setzt zum Beispiel die Narratio der Supplik des Friedrich Ritter [Riller] für seine Freundin Dorothea Christiane Otto ein: „Es ist eine meiner Freundinnen Nahmens Dorothee Christiane Otten aus Neu-Friedrichshoff bey Königs-Wusterhausen am 5ten July 1787 wegen verheimlichter Schwangerschaft auch Schwerhoff und Karweick – vgl. Schwerhoff 2000, S. 484; vgl. Karweick 1989, S. 30 f. Parallelen lassen sich nach Karweick bspw. im folgenden Auszug aus einem Gebet erkennen: „( . . . ) Ich schütte mein Herz aus vor dir, der du meine Zuversicht bist, ich werfe mein Anliegen von mir auf dich und bitte dich, du wolltest mich versorgen, mich erretten, mir beistehen. ( . . . ) O siehe, Herr mein Gott, wie hier eine elende und hülflose Seele vor deinem Gnadenthron liegt.“ – J. Fr. Stark, Tägliches Hand-Buch, in guten und bösen Tagen. . . , 7. Aufl., Berlin 1879, hier S. 280 – 282. 425 Supplik des Ehemanns Schulze vom 15. August 1786 / Fallakte Anna Elisabeth Schulze; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 15.996. 426 Zit. nach: Supplik des Henckel vom 2. Juni 1797 / Fallakte Georg Henckel und Marie Elisabeth Hübner; in: ebd. Ein auf dem Blatt graphisch mittig platzierter zweimaliger Ausruf nach „Gnade! Gnade!“ findet sich in den beiden Suppliken der Brüder Christian Friedrich und Elias Michael Schmidt vom 2. April 1788 und 2. Juni 1788 / Fallakte Hedwig Sophia Schmidt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 16 – 18, 22 – 27. 427 Die Praktik der Gebetsfürbitte ist – anders als in katholischen Regionen – im reformierten Brandenburg-Preußen allerdings nicht verbreitet. Im katholischen Bayern der Frühen Neuzeit war dagegen laut Renate Blickle das Phänomen der Gebetsfürbitte üblich: Die Supplizierenden boten dem Gnadenträger in dem Falle, dass ihnen die erbetene Gnade gewährt wurde, an, diesen in ihre Gebete einzuschließen. Das Schutzgebet fungierte als Dankesgabe und wurde als eine Art Tauschwert angeboten – vgl. Renate Blickle, Interzession. Die Fürbitte auf Erden und im Himmel als Element der Herrschaftsbeziehungen; in: Cecilia Nubola / Andreas Würgler (Hg.), Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa 14. – 18. Jahrhundert, Tagungen in Trient vom 25. – 26. November 1999 und vom 14. – 16. Dezember 2000, Berlin 2005 (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient; 19), S. 293 – 322. 428 Zum Kanzleistil in Brandenburg-Preußen im 18. Jh. s. z. B. das Titulaturbuch vom 20 Juni 1764 – vgl. Haß 1909, S. 225 – 227.
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und Geburt auf Lebenslang im 19ten Lebensjahre auf dem hiesigen Zuchthause abgeliefert worden und sitzt nun schon über 101/2 Jahr in einer der Zuchthaus-Anstalt gemäßen äußerst traurigen Lage, woselbst sie ihr trauriges Schicksal stets bejammert und die aufrichtigste Reue zeugt [zeigt].“429
In einem einzigen Satz werden hier alle Fakten aufgeführt, die für eine Begnadigung relevant sein könnten. Es sind eher die Umstände und nicht so sehr eine Emotionen erregende Wortwahl, die hier beim Adressaten Mitgefühl auslösen sollten. Ein weiteres zentrales Element des Supplizierens stellen die Integrationsangebote der zu begnadigenden Personen dar, für die die Supplizierenden bürgten. So wird in den Suppliken häufig darauf verwiesen, dass die Verurteilten gegenüber ihrem Vergehen tiefe Reue empfanden und Besserung gelobten.430 Um die vorgeblichen Reuegefühle gegenüber einer misstrauischen Obrigkeit objektiv zu belegen, holten etliche Supplizierende beim Zuchthausprediger und bei der Zuchthausadministration Führungszeugnisse ein, welche die gute Aufführung der Insassen in der Haft belegen sollten.431 Auch Friedrich Ritter [Riller] fügte seiner Supplik solche Zeugnisse in der Anlage bei. Die Aufrichtigkeit von Ottos Reue versuchte Ritter [Riller] mit dem Aufführungszeugnis des Zuchthauspredigers Ulrich zu belegen, der sich aufgrund seines Amtes zuständig fühlte, die religiöse Überzeugung und den Charakter der Insassen zu begutachten: „( . . . ) und hat sich [Dorothea Christiane Otto] während dieser Zeit durch ihre Demuth und Andachtsliebe, so wie durch ihr verträgliches, treues und unverdrossenes Betragen allen, die sie kennen, von einer zu guten Seite gezeigt, als daß sie nicht auch höhern Orts empfohlen zu werden verdiente.“432
In der Epoche der Empfindsamkeit Ende des 18. Jahrhunderts legte man Wert auf die Innerlichkeit.433 Wollte jemand darin überzeugen, der königlichen Gnade 429 Vgl. Supplik des Freundes Friedrich Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd. [s. Anlage Nr. 8]. 430 Auch in den Mustersuppliken des Briefstellers ist von Reue die Rede – vgl. „Supplic an einen König um Erlassung der Gefangenschafft“ und „Von Straff-Erlassungs- und Gnade betreffenden Formuln“; in: Feller / Der Spaten 1726 / 1678, I. Teil, Kap. 17, No XIX, S. 157 und II. Teil, Kap. 22, S. 718 – 721. 431 Zum Beispiel liegt den folgenden Suppliken je ein Aufführungszeugnis der Zuchthausadministration und des Zuchthauspredigers als Anlage bei: vgl. Supplik der beiden Brüder Geitner vom 28. Oktober 1795 / Fallakte Auguste Friederike Geitner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 34 – 35; vgl. Supplik des Verwandten Daniel Rosenthal vom 20. September 1797 / Fallakte Auguste Maria Dorothea Jungin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 149, 150. 432 Aufführungszeugnis des Spandauer Zuchthauspredigers Ulrich vom 29. Januar 1798 als Anlage der Supplik des Freundes Friedrich Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 62 (s. Anlage Nr. 10). 433 Bei seiner Untersuchung der Briefkultur im 18. Jahrhundert betont Steinhausen, dass der auf pietistische Einflüsse zurückgehende „empfindsame Brief“ die innere Gefühlswelt und das Moralische in den Vordergrund stellte – vgl. Steinhausen 1891, S. 245 – 340. Zwar steht bei Steinhausen die Korrespondenz einer gebildeten Schicht im Vordergrund, deren
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würdig zu sein, stand auch seine Moral auf dem Prüfstand. Um Dorothea Christiane Otto in jeder Hinsicht als gnadenwürdig zu präsentieren, holte Ritter [Riller] zusätzlich ein Aufführungszeugnis ein, welches das Verhalten und die Arbeitsleistung der Verurteilten kommentierte. Die Spandauer Zuchthausadministration bescheinigte Otto, dass sie: „( . . . ) sich jederzeit stille, ordentlich und bescheiden aufgeführt, ist dabey auch jederzeit fleißig gewesen; so daß wir derselben ihres guten Verhaltens wegen das beste Zeugniß hierdurch geben können.“434
Folgsamkeit galt der Obrigkeit neben Fleiß, Bescheidenheit und ordentlichem Betragen als zentrale Tugend eines loyalen Untertanen. Die Verurteilte habe, so die Botschaft, ihre Gehorsamspflicht gegenüber der Obrigkeit erkannt und sei bereit, ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Vorbildliches Verhalten wurde als Anzeichen dafür verstanden, dass die Strafe bei einer verurteilten Person ihren Sinn und Zweck bereits erfüllt hatte und diese aus obrigkeitlicher Sicht hinreichend Integrationspotential besaß, um wieder in die Gesellschaft entlassen zu werden. Dass die Bittsteller und Bittstellerinnen nicht nur auf eine an Emotionen appellierende Darstellung setzten, sondern sich um scheinbar objektivierbare Fakten bemühten, belegen die Fälle, in denen die angeklagte bzw. verurteilte Person mit gravierenden gesundheitlichen Problemen während der Haft zu kämpfen hatte: Um dem möglichen Vorurteil entgegenzuwirken, dass Gefahren für die Gesundheit durch die Supplikanten und Supplikantinnen dramatisiert wurden, bemühte man sich darum, Krankheiten durch ein ärztliches Gesundheitsattest zu belegen. Im Fall von Auguste Friederike Charlotte Hanses stellte zum Beispiel der Physicus der Residenzen ein Attest aus, in dem er ihr „lebensgefährliche Sympthome“ bescheinigte und im Falle fortdauernder Haft „den gänzlichen Ruin ihrer Gesundheit“ prognostizierte.435 Auf die Notwendigkeit, solche Umstände durch Zeugnisse zu beglaubigen, weisen auch die Briefsteller eindrücklich hin.436 In der Narratio führten die Supplizierenden mitunter auch mildernde Umstände an, welche die Schuld des Betroffenen weniger schwerwiegend erscheinen lassen Charakteristika nicht ohne weiteres auf Suppliken übertragen werden können. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass die Innerlichkeit als ein hervorstechendes Stilmerkmal einer Epoche in gewissem Maße auch die Schreiber in den Kanzleistuben, die so genannten Winkelschriftsteller und andere Schreibkundige in ihrer Schreibweise beeinflusste. 434 Aufführungszeugnis der Spandauer Zuchthausadministration vom 30. Januar 1798 als Anlage der Supplik des Freundes Friedrich Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 61 (s. Anlage Nr. 8). 435 Vgl. Gesundheitsattest des Königlichen Ober-Medicinal-Rates und Physicus F. Welper vom 11. Oktober 1795 als Anlage der Supplik des Vaters Hanses vom 12. Oktober 1795 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 210. Als weiteres Beispiel vgl. Gesundheitsattest des Doctor Türtzcke vom 2. Januar 1796 als Anlage der Supplik des Georgi in eigener Sache vom 3. Januar 1796 / Fallakte Georgi; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.203. 436 Vgl. Hoch 1820 / 1814, S. 25 f.
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sollte. Zum Beispiel argumentierte Friedrich Ritter [Riller] mit dem Alter von Dorothea Christiane Otto, welche zur Tatzeit 18 Jahre alt war. Nach seinem Dafürhalten sollten ihr wegen „jugendlichem Leichtsinns“ mildernde Umstände zugute gehalten werden.437 Außerdem stellte der Supplikant Mutmaßungen an, wonach die Mutter der Verurteilten die angebliche Hauptschuldige darstellte: Dorothea Christiane Otto habe ihre Schwangerschaft und Geburt vermutlich verschwiegen, weil sie „zu edeldenckend“ gewesen sei und aus: „( . . . ) Furcht für ihre Mutter weil ihr selbige vieleicht mit einer schimpflichen Behandlung drohte, im Falle sie ihr (dem Wahn eines blöden kurtzsichtigen Menschen gemäß) die Schande machen würde und ihre Schwangerschaft entdecken, wollte sie ihre Mutter nicht verrathen, sondern nahm die ganze Schuld auf sich.“438
Der Supplikant schilderte hier eine für seine Zeitgenossen durchaus plausible Haltung der Mutter und eine ebenso wahrscheinliche Reaktion der Tochter, und lenkte damit geschickt die Schuld auf Ottos Mutter. Diese war in der Tat wegen Mitwisserschaft verurteilt worden, aber während der Haft verstorben, so dass ihr aus Ritters Anschuldigung kein Nachteil erwachsen konnte. Ähnlich verfuhr Schäfer in der Supplik für seinen Sohn: Er bescheinigte seinem Sohn, der angeblich stets ein „stilles, sittsames Leben“ geführt habe, einen guten Leumund und stellte sodann verschiedene Mutmaßungen darüber an, dass dessen persönliche Schuld aufgrund von mildernden Umständen gering sei bzw. dass es sich bei der Beschuldigung um ein Missverständnis handeln müsse: „Es ist zwar möglich, daß jugendliche unbesonnene Hitze, Uebereilung und Verführungen ihm vielleicht gereizt haben[,] dies Unglück über sich zu bringen. Es ist aber auch leicht möglich, daß Irrthum und daher entstandene irrige Aussage der Zeugen ihm in selbige gestürzt haben.“439
Schäfer versuchte, die Schuld, die seinem Sohn zur Last gelegt wird, auf die ebenfalls verurteilten Mittäter zu schieben, ohne diese aber in direkter Weise zu belasten. Vielmehr brachte er mildernde Umstände an, wie Affekthandlung und Anstiftung durch Dritte. Dann ging Schäfer noch einen Schritt weiter und stellte das gesamte Verfahren gegen seinen Sohn in Frage, indem er die belastenden Zeugenaussagen als Irrtum hinstellte. Zugleich gelang es Schäfer, die Unterstellung eines Justizirrtums in einer das Gericht und damit die Obrigkeit nicht direkt angreifenden Weise vorzubringen, indem er seine Anschuldigung vorsichtig als Möglichkeit formulierte. Hatten die Bittsteller und Bittstellerinnen die Umstände geschildert, in denen sich die Person befand, für die um Gnade gebeten wurde, kamen sie sodann häufig 437 Vgl. Supplik des Freundes Friedrich Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd. (s. Anlage Nr. 8). 438 Supplik des Freundes Friedrich Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd. (s. Anlage Nr. 8). 439 Supplik des Vaters Schäfer vom 26. November 1797 / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd.
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auf die Lage zu sprechen, in die sie sich selbst und das soziale Umfeld der betroffenen Person angeblich aufgrund der Strafe versetzt sahen [s. B.I.1. – 10.]. So klagte Schäfer beispielsweise über das Schicksal seines zu lebenslanger Haft verurteilten Sohnes: „Der mich niederdrückende und fast vernichtende Schmerz ( . . . ), das Klagen der trostlosen Mutter ( . . . ) bringt mich in meinem hohen Alter am Rande des Grabes fast zur Verzweiflung, und macht mir den nahen Hintritt in jene Ewigkeit äusserst schwer ( . . . ).“440
Das Schicksal des Sohnes bekümmerte beide Eltern offenbar zutiefst. Vor allem war dem greisen Mann der Gedanke unerträglich, im Falle seines Todes den Sohn in der Gefängniszelle zu wissen. Den Leser der Supplik sollten diese Emotionen anrühren, zugleich ist dies als ein moralischer Appell zu verstehen, dem greisen Vater den letzten Wunsch in seinem Leben zu erfüllen. Neben dem Kummer klingt auch ein wirtschaftlicher Aspekt an, der nicht unwesentlich zum Leid des alten Ehepaars beitrug: Der Sohn sei ihre „einzige Hoffnung“, mit anderen Worten war er ihre Absicherung im Alter, auf die sie nun verzichten mussten [s. B.I.3.].441 Auf diese Weise wurde in den Suppliken die Interessenlage der zur Begnadigung vorgeschlagenen Person mit jener der supplizierenden Männer und Frauen verknüpft. Ein Briefsteller mahnt, dass man jede „Weitschweifigkeit“ meiden und stattdessen auf die „Klarheit der Ideen“ setzen sollte, wobei die „Umstände so lichtvoll und mit so erschöpfender Präcision“ wie möglich vorzutragen seien, ohne dabei die Wahrheit „durch Auslassung wahrer, und Hinzufügung falscher Umstände, ebenso durch leises Hinwegschlüpfen“ zu entstellen.442 Diesen Ratschlägen sind viele Suppliken nicht gefolgt. Hinzu kommt, dass in dieser Zeit als guter Stil galt, wenn das Anliegen nebst allen Umständen und Einschränkungen in einem Satz untergebracht wurde.443 Einzelne Aspekte wurden im Verlauf der Narratio wieder aufgegriffen und mit zusätzlichen Informationen versehen, so dass diese einen liturgiehaften Charakter erhielt. Die Klagen münden schließlich in die Petitio, der eigentlichen Bitte an den Empfänger. Im Fall von Dorothea Christiane Otto begründete beispielsweise ihr Freund, Friedrich Ritter [Riller], seine Initiative wie folgt: „Um dieser meiner Unglücklichen und gen[z]lich moralisch gebeßerten Freundin aus dem Elend zu helfen, weiß ich kein ander Mittel, als mich zu Euer Königlichen Majestät Füßen zu legen und demüthigst um Gnade für diese Unglückliche zu bitten.“444 Supplik des Vaters Schäfer vom 26. November 1797 / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd. Vgl. Supplik des Vaters Schäfer vom 26. November 1797 / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd. 442 Hoch 1820 / 1814, S. 10, 29, 20, 18. 443 Bereits im 19. Jh. kritisierte man diesen Stil wegen der „Satzungeheuer“ und seiner „unglaublichen Künstlichkeit und Gemachtheit“ als „Unnatur“ – Georg Steinhausen, Geschichte des deutschen Briefes. Zur Kulturgeschichte des deutschen Volkes, 2 Bde., Berlin 1889 / 1891, hier 2. Bd. / 1891, S. 34 f. 444 Supplik des Freundes Friedrich Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd. (s. Anlage Nr. 8). 440 441
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Das Anliegen wurde häufig dergestalt eingeführt, dass sich der Supplizierende dafür entschuldigte, den Monarchen mit seinen Problemen zu belästigen, und die Supplikation als letzte Rettung aus der Not erklärte. Die Gnadenbitte konnte auch mit einem Appell an den Monarchen einhergehen, der ihn an seine Herrscherpflichten erinnern sollte. Zum Beispiel wurde Friedrich Wilhelm II. von den sechs Bergemannschen Kindern in einer ihrer Suppliken für die Mutter gebeten, „Sich als ein Vater des Landes zu erbarmen“, indem er Witwen und Waisen erhörte.445 Sie verknüpften den Appell mit einem Rekurs auf die Gnade Gottes, indem sie den Monarchen daran erinnerten, dass „Gott der aller Höchste Vergiebet alle Sünden“446. Vermutlich taten sie sich schwer, in der offenbar von allen Familienmitgliedern akzeptierten Beziehung zwischen Maria Elisabeth und ihrem Stiefsohn ein Vergehen zu erblicken. Daher erhofften sie sich vom Gericht des Jüngsten Tages größeres Erbarmen, als ihnen vom weltlichen Gericht zuteil wurde. Der Verweis auf die göttliche Gnade kann auch als impliziter Vorwurf verstanden werden, dass sich die weltlichen Richter anmaßten, über Menschen und Taten zu richten, wo sie doch in Gottes Urteil das allein maßgebliche sahen. In Anlehnung an den behördlichen Berichtstil wird in einigen Fällen das zentrale Anliegen der wortreichen Petitio eingerückt – so auch in der Supplik Friedrich Ritters: „( . . . ) ich wage es allso meine allerunterthänigste Bitte vor Allerhöchst Dero Thron zu bringen, und in tiefster Submission um Gnade für diese Unglückliche zu bitten: / [Beginn des halbbrüchigen Passus] daß Allerhöchst dieselben aus Landesväterlicher Huld und Güte Allergnädigst geruhen mögen, obgedachte Dorothee Christiane Otten zu begnadigen und ihr die Freiheit zu schencken, oder im Fall Euer Königlichen Majestät aus Landesväterlichen Absichten noch nicht für gut finden sollten ihr gänzlich zu begnadigen, ihr doch wenigstens eine Zeit zu bestimmen, wo sie sich Allerhöchst Dero Gnade und ihre Freiheit erfreuen könne. [Ende des halbbrüchigen Passus].“447
Die halbbrüchige Schreibweise deutet auf einen Schreiber hin, der mit der Arbeitsweise in den Behörden vertraut war, denn diese war dort üblich, damit der Empfänger eines Berichts das Anliegen schnell erfassen konnte und ihm Raum für Marginalvermerke geboten wurde. Die Petitio führt über zu einer Spielart der Sanctio, welche bei Schreiben von Unterstellten an Höhergestellte üblicherweise die Form einer Diensterbietung annimmt, bei Suppliken aber meist die Hoffnung auf Gewährung der Bitte ausdrückt, gefolgt von einer nochmaligen Huldigung. Dies kann zum Beispiel in der wiederholt zitierten Supplik von Friedrich Ritter [Riller] folgenden Wortlaut haben: 445 Supplik der Kinder Bergemann vom 8. November 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 446 Ebd. 447 Supplik des Freundes Friedrich Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd. (s. Anlage Nr. 8).
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„Eure Königliche Majestät flehe ich nochmals um gnädige Erhörung meiner allerunterthänigsten Bitte an, und [ich] ersterbe in tiefster Devotion / ( . . . ).“448
Ein anderes narratives Muster stellt die Wiederholung der Anrede dar, für die sich beispielsweise die Ehefrau Freudenberg entschieden hatte: „Ich getröste mich gnädigster Erhörung meines Gesuchs, und ersterbe in tiefster Erniedrigung / Eure Königliche Majestaet / ( . . . ).“449
Nicht selten wurde mit der Demutsbekundung auch eine Danksagung verbunden. In seiner Mediatsupplik an den Justizminister wählte der Supplikant Hanses beispielsweise folgende Wendung als Conclusio: „Mit ewiger Dankbarkeit werde ich Hochdero menschenfreundliche Bemühung erkennen und mit dem vollkommensten Respekt verharren / Eure Excellenz.“450
Auch die fünf verurteilten Untertanen aus Velten und Marwitz, die sich der Einsetzung eines neuen Predigers in ihrer Gemeinde widersetzt hatten, schlossen ihre Kollektivsupplik mit einer huldigenden Danksagung: „( . . . ) ja so lange noch ein Gebein unserer Familie, und Nach-Kommer Athmet, so lange soll die hohe Gnade unsers Welt bewährten Königs, von unß unvergesslich bleiben.“451
Die Veltener und Marwitzer hatten den Zugang zur Kirche blockiert und damit den missliebigen Prediger an der Ausübung seines Amtes gehindert. Angesichts ihres Widerstands gegen den Willen der Obrigkeit hielten sie es offenbar für angebracht, dem Monarchen ihre Loyalität über Generationen hinweg zu versichern, um dem Bild vom widerspenstigen Untertanen entgegenzuwirken.452 Die Mutter des verurteilten Pfeifenmachers Johann Friedrich Peters vereinte ihre Huldigung an Friedrich Wilhelm III. mit einem Gebet: „Ewre Majestät Menschenliebe gegen seine Unterthanen flößt mich so viel Muth ein. ( . . . ) Dis Jahr sey ein frohes [nicht eindeutige Lesung] Jahr der Gnade, / Jesu spreche Ja dazu, / Jesu wende allen Schaden, / Jesu schenke Frieden und Ruh, / Jesu segne jeden Stand, / Jesu vieler Hertz und Hand, / wo sie ihre Füsse setzen[,] werden Gottes Engel stehen, / Engel werden nicht gehen[,] bis sie Jesus von der Welt dermaleinst auf nehmen wird ins Frieden Zelt.“453 Ebd. Supplik der Ehefrau Freudenberg vom 20. Juli 1788 / Fallakte Gottfried Freudenberg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 395. 450 Supplik des Vaters Hanses vom 25. September 1794 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 204. 451 Kollektivsupplik der fünf Verurteilten in eigener Sache vom 24. Juli 1787 / Fallakte Martin Dosse, Simon und Friedrich Gothe, Christian Friedrich Thiede und Joachim Kersten; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985. 452 Es handelt sich hierbei offenbar um ein häufiger vorgetragenes Supplikationsanliegen – vgl. Lehmann 2004, S. 83 f. hier in Berufung auf Büsching 1788, S. 151 f. 453 Supplik der Mutter Peters vom 14. Februar 1798 / Fallakte Johann Friedrich Peters; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.065. 448 449
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Es handelt sich hierbei um kein Dankesgebet zum Wohle des Monarchen, sondern vermutlich um ein alltägliches Gebet. Indem die Witwe Peters das Gebet in ihrer Supplik für ihren Sohn aufnahm, verband sie die Gnade Gottes, die darin durch das Handeln Jesu dem Menschen zuteil wird, mit dem weltlichen Gnadenrecht des Herrschers, Verurteilte von ihrer Strafe zu begnadigen. Dabei suggerierte sie, dass der Monarch, falls er sich seinen Untertanen gegenüber gnädig zeigen sollte, nach dem göttlichen Willen handle, und sich dadurch Gottes Gnade sicher sein könne. Mitunter wurde die Danksagung mit einer Schutzformel oder einer Gebetsfürbitte454 verbunden, mit welcher der Adressat dem Schutz Gottes anempfohlen wurde, wie hier in der Supplik der Mutter Villain für ihre wegen Kindsmord zu lebenslanger Haft verurteilte Tochter Anna Dorothea: „Thränen des Danks, so wohl von mir, als von meiner unglüklichen Tochter sollen dagegen das Opfer sein, und stets wollen wir Gott um die Erhaltung Allerhöchst Dero Gesundheit und langes Leben bitten.“455
Eine solche Schutzformel empfahl auch Der Spaten in seiner Mustersupplik.456 Der Empfehlung der Briefsteller folgten offenbar einige Supplikenschreiber, so auch Wilhelm Kluge für seinen Freund Johann Michael Schoenecke: „( . . . ) und Seegen werden diese armen [gemeint: Frau und Kinder von Michael Schoenecke] für die ruhmwürdige, und huldreichigst Allergnädigste Handlung für eure Königliche Majestät von dem Höchsten erbitten.“457
Die Schwester Wussow versprach, Friedrich Wilhelm II. in ihre Gebete einzuschließen: „Mein lezter Hauch wird dafür Dank und Gebeth zu Gott um Erhaltung Eurer Königlichen Majestät, bey der dauerhaftesten Gesundheit bis in die spätesten Zeiten, sein, und ich werde darin und in tiefster Submission ersterben.“458
In der Beziehung der Untertanen zur Obrigkeit bestanden die Dankesgaben aus Huldigungen und Gebeten zum Wohle des Herrschers. Mit der Begnadigung wurde der paternalistische Pakt zwischen Herrscher und Beherrschten aufs Neue vollzogen: der eine ließ Gnade als sein Herrscherrecht wirken, der andere akzeptierte dafür dessen Herrschaft. Mit ähnlichen Worten schloss auch Schäfer seine Supplik: 454 Die Gebetsfürbitte in Suppliken war in Territorien mit katholischer Konfession offenbar stärker verbreitet – vgl. Blickle 2005, S. 312 – 320. 455 Supplik der Mutter Villain vom 24. September 1790 / Fallakte Anna Dorothea Villain; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 166. 456 Vgl. „Supplic an einen König um Erlassung der Gefangenschafft“; in: Feller / Der Spaten 1726 / 1678, I. Teil, Kap. 17, No XIX, S. 157 457 Supplik des Freundes Wilhelm Kluge vom 6. Juli 1790 / Fallakte Johann Michael Schoenecke; in: ebd. 458 Supplik der Schwester Wussow vom 2. Februar 1792 / Fallakte Ernst Friedrich Wussow; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217.
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„Für diese mir erzeigte Gnade soll mein tägliches Gebet, auch selbst noch in der Stunde meines mir so nahen Todes, ja wenn es möglich ist, auch noch jenseits des Grabes unaufhörlich für Eure Majestäts Wohl zum Throne der Vorsehung aufsteigen.“459
Um den Grad der Dankbarkeit gegenüber dem Monarchen zu veranschaulichen, versprach Schäfer symbolisch, auch aus dem Jenseits seine Gebete an den König richten zu wollen. Den Dienst, für des Königs Wohl zu beten, beabsichtigten Villain, Wussow, die Familie des Schoenecke und Schäfer nur in dem Fall, dass ihnen die gewünschte Begnadigung tatsächlich gewährt wurde. Die Supplizierenden und die Nutznießer der Gnadenbitten fühlten sich offenkundig nur im Falle der Erfüllung ihres Wunsches genötigt, eine Gegenreichung zu machen. Dies bedeutet, dass das Gebet für die Obrigkeit von der gewünschten Vorleistung abhängig gemacht wurde, mit anderen Worten: Der Gnadenträger musste sich eine Gebetsfürbitte verdienen. Dass Gebet und Verdienst offen in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht wurden, verwundert insofern, als es der reformatorischen Glaubenslehre eigentlich widersprach, Gottes Gnade vom menschlichen Zutun abhängig zu denken.460 Auch wenn es sich bei der Gebetsfürbitte um eine religiöse Praktik handelt, wurden Supplikationen hinsichtlich ihrer Anliegen und Taktiken in BrandenburgPreußen offensichtlich profan verstanden. Die Suppliken transportieren Vorstellungen, welche die Untertanen und Untertanninnen von ihrem Herrscher hatten bzw. vorgaben zu haben. Gemeinsam ist den hier skizzierten Monarchenbildern die positive Zeichnung: Der Monarch wird grundsätzlich als gütig und wohlwollend dargestellt. Die Bittsteller und Bittstellerinnen entwerfen das Bild eines gerechten und gnädigen Landesvaters, der seine Untertanen vor Bedruck schützt.461 Die Rolle eines Vaters hat mit der eines Monarchen gemein, dass beide gegenüber den ihnen Anvertrauten die patria potestas ausübten und ihnen zugleich ihre „Liebe“462 zuteil werden ließen, wenngleich auf unterschiedlicher Ebene. Mit dieser das Gnadenhandeln antizipierenden Haltung drängten die Supplizierenden den Monarchen geradewegs dazu, ihrem Anliegen mit väterlichem Wohlwollen zu begegnen, der zu begnadigenden Person Vertrauen zu schenken und eine Chance auf ein neues Leben zu geben. Friedrich Wilhelm II. wurde in den Suppliken auch mit seinem Spitznamen der Vielgeliebte angespro459
Supplik des Vaters Schäfer o. D. [um den 7. Juli 1797] / Fallakte Heinrich Schäfer; in:
ebd. 460 So kann Renate Blickles Annahme, dass in Suppliken aus Territorien mit evangelischem Bekenntnis Gebet und Verdienst nicht in direkter Abhängigkeit zueinander gebracht wurden, zumindest für Brandenburg-Preußen nicht generell bestätigt werden – vgl. Blickle 2005, S. 317. 461 Während sich der Vater-Topos beim Supplizieren großer Beliebtheit erfreute, macht Monika Wienfort in Preußen unter Friedrich Wilhelm II. auch eine gegenläufige Tendenz aus, bei der das Bild des Regenten als Hausvater kritisiert wird – vgl. Wienfort 1993, S. 131 – 138, bes. S. 132. 462 So wurde vom Herrscher erwartet, dass er seinen Untertanen gegenüber „Liebe“ bezeugte, z. B. im Wege der Gnade – zit. aus: Zedler 1961 / 1735, Stichwort: Gnade, 11. Bd., Sp. 1.
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chen. Die Supplizierenden schmeichelten dem Monarchen mit seiner Beliebtheit, zugleich diente diese Schmeichelei als Mahnung dafür, dass ein solcher Ruf ephemär ist: Sollte seine Gnadenpraxis zu restriktiv werden, so bestand theoretisch die Möglichkeit, dass er sich damit den Ruf als der Vielgestrenge verdiente. Den Suppliken merkt man an, dass das schriftliche Gnadenbitten für die Untertanen ein ihnen aufoktroyierter Ersatz für das mündliche Vortragen ihres Anliegens bei einer persönlichen Begegnung mit dem Monarchen war. In dem Wunsch, sich face-to-face an den Adressaten zu wenden, trugen die Männer und Frauen ihr Anliegen einer fiktiven Figur eines idealen Monarchen vor und setzten den Gnadenakt dabei regelrecht in Szene. Obwohl eine persönliche Übergabe des Bittschreibens von normativen Vorgaben gezielt unterbunden wurde und in den hier untersuchten Fällen in der Regel nicht stattgefunden hat, lesen sich manche Suppliken wie Anweisungen zu einer dramaturgischen Inszenierung. Dabei wird der Gnadenträger als ein Landesvater dargestellt, der den direkten Kontakt zu seinen Untertanen sucht, ihren Schilderungen zuhört und sich persönlich um ihre Nöte sorgt. Das Festhalten an der Praktik, das Gnadenbitten mündlich von Angesicht zu Angesicht zu vollziehen, ist weniger mit dem vermeintlich naiven Monarchenbild zu erklären als vielmehr mit taktischem Kalkül: Auch wenn man Ende des 18. Jahrhunderts gute Argumente für eine Begnadigung brauchte, so musste man doch zuerst auf seine Situation aufmerksam machen; geeignete Mittel dazu waren eine direkte persönliche Ansprache und eine emotionalisierende Inszenierung, um das Mitleid des Adressaten zu wecken. Mit dem Eschatokoll schließen die Suppliken. Es beginnt mit einem Devotionsabstand, der häufig mit dem in Brandenburg-Preußen seit dem 17. Jahrhundert gebräuchlichen Devotions- oder Submissionsstrich, einer geschwungenen Linie im Spatium zwischen Kontext und Unterschrift, ausgefüllt wurde.463 Dieser symbolisiert, wie auch der Devotionsabstand, die soziale Distanz zwischen Absender und Empfänger und vollzieht quasi den Gestus der respektvollen Verbeugung auf dem Papier nach. Die Schreiben schließen mit der Schlusscourtoisie, die meist hart am unteren Blattrand rechtsbündig zu finden ist: „allerunterthänigst gehorsamster Knecht“ bzw. „allerunterthänigst gehorsamste Magd“464, gefolgt von der Subscriptio, der Unterschrift, die in der Regel ebenfalls von der Hand des Schreibers hinzugesetzt wurde. Genannt wird nicht nur der Name, sondern häufig auch der Stand – meist in Form der Berufsbezeichnung, wie zum Beispiel: „der Bürger und Buchbinder Friedrich Ritter [Riller]“.465 Dem wird die Anschrift des Absenders hinzugefügt, damit das erwartete Dekret zugestellt werden kann:
Zum Devotionsstrich vgl. Haß 1909, S. 207. Dies stellt die übliche Formel sowohl in den Immediat- wie in den Mediatsuppliken des hier untersuchten Quellenfundus dar. Sie deckt sich weitgehend mit der im Briefsteller angegebenen Formel – vgl. „Formuln“; in: Feller / Der Spaten 1726 / 1678, I. Teil, Kap. 24, S. 208. 465 Supplik des Freundes Friedrich Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd. (s. Anlage Nr. 8). 463 464
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„( . . . ) allerunterthänigster / der Bürger und tischlermeister Damsch / wohnhaft in der Spandauerstraße dem goldenen Stern gegenüber, Berlin.“466
Wenn es von den weniger routinierten Schreibern nicht vergessen wurde,467 findet sich linksbündig das Finaldatum mit Ortsangabe und Tagesdatum. In einigen Fällen setzten Schreiber, die im kanzleigemäßen Verfassen von Berichten geübt waren, am linken oberen oder unteren Rand ein Rubrum mit dem Betreff.468 Mit einem kalligraphischen Finalschnörkel endet die Supplik. c) Resümee Die beim Supplizieren zu beobachtende Idealisierung des Herrschers durch die Untertanen ist ein zentrales Element des Monarchenbildes. Mit dem Rekurs auf das Bild eines gnädigen Monarchen erinnerten die Untertanen den Gnadenträger an sein Schutzversprechen und forderten ihn implizit auf, seinen damit verbundenen Pflichten nachzukommen. Im Umkehrschluss liest sich dies wie eine implizite Warnung, dass der Gnadenträger andernfalls die Erwartungen enttäuschen und somit die Beliebtheit bei seinen Untertanen und damit auch die Legitimität seiner Herrschaft mindern würde. Es ist deutlich geworden, dass eine Supplik nicht nur ein kalligraphisches Kunstwerk, sondern ein komplexes Gebilde aus Stilmitteln, geschmeidigen Courtoisien und Huldigungen darstellt, das sich um die Darstellung des Anliegens und seiner Begründung rankt. Das Wissen darum und die Fertigkeit verlangten Schreiber, die ihr Handwerk professionell beherrschten. Unterzieht man die Suppliken einem Vergleich, so findet man eine Reihe von immer wiederkehrenden formalen Elementen, welche die Suppliken in gewisser Weise schematisch erscheinen lassen. Sieht man jedoch von diesen formalen Gemeinsamkeiten ab, so offenbart sich eine Vielzahl von Gestaltungsvarianten, die 466 Supplik des Damsch in eigener Sache vom 10. August 1789 / Fallakte Damsch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 467 Folgende Suppliken weisen z. B. keine Datierung auf: vgl. Supplik der Stieftochter Maria Sophie Ragotzgen o. D. [ca. Anfang November 1796] / Fallakte Johann Friedrich Liebke; in: ebd., fol. 503; vgl. Supplik des Vaters Schäfer o. D. [um den 7. Juli 1797] / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd. 468 Beispiele für ein Rubrum: links unten auf dem Folio: „der Gastwirth Mathias Reichardt bittet um Aggratiation der mittelst in Abschrift beygefügter Sententz der hiesigen Stadtgerichte wieder ihn erkannten vierwöchentlichen Gefängniß-Strafe“ – Supplik des Reichardt in eigener Sache vom 9. Januar 1792 / Fallakte Matthias Reichardt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202; links oben auf dem Folio: „Supplikant bittet flehentlich um Erlaßung der über den ausgestandenen Vestungs Arrest noch angedeuteten Kosten Zahlung“ – Supplik des Rosenbaum in eigener Sache vom 15. August 1794 / Fallakte Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum; in: ebd. In anderen Herrschaften wurde mitunter ein anderer Briefstil gepflegt. So konnte sich das Rubrum zum Beispiel auf dem Umschlag befinden: „um Begnadigung seines Sohns des Tischler Gesellen Johann Heinrich Schäfer“ – Supplik des Vaters Schäfer o. D. [ca. 7. Juli 1797] / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd.
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jeder einzelnen Supplik eine individuelle Prägung verleihen. Der Umgang mit der Quellengattung Supplik erfordert einen genauen Blick, der das Serielle erkennt, um dem Besonderen auf die Spur zu kommen – und um diesen Blick zu schulen, dazu soll dieses Kapitel einen Beitrag leisten.
3. Die inhaltliche Zielsetzung von Gnadenbitten: Von der Abolition bis zur Hafterleichterung In der Frühen Neuzeit verstand man unter einer Begnadigung eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen Formen von Begünstigungen und Milderungen. Im Folgenden gilt es zu klären, welche Zielsetzungen die Männer und Frauen mit ihren Supplikationen verfolgten. Wenn hier die Bandbreite der inhaltlichen Zielsetzungen vorgestellt wird, so muss dabei stets bedacht werden, dass in Suppliken mitunter nicht nur eine konkrete Bitte, sondern mehrere Alternativen zugleich vorgebracht wurden. Gnadenbitten bezogen sich stets auf die konkrete Situation, in der sich die zu begünstigende Person befand. Die inhaltliche Zielsetzung ist daher abhängig davon, wann eine Supplik aufgesetzt wurde: in der Phase der gerichtlichen Untersuchung, als Reaktion auf das Gerichtsurteil oder aus dem Strafvollzug heraus. Die Gnadenbitten, die während der Untersuchung eingingen, machen den kleineren Anteil unter den in den Akten vorgefundenen Suppliken aus und dienten in erster Linie der Verteidigung in der Hoffnung, das Urteil zugunsten der Angeklagten noch beeinflussen zu können. Der Großteil der Gnadenbitten wurde nach Bekanntgabe des Urteils eingereicht, um einen Straferlass, eine Milderung des Strafmaßes bzw. der Bedingungen des Strafvollzugs zu erreichen.469 Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen den Gnadenbitten, die unmittelbar nach Urteilsverkündung, aber noch vor Antritt der Strafe formuliert wurden, und jenen, die erst, nachdem die verurteilte Person bereits eine gewisse Zeit ihrer Strafe abgesessen hatte, aufgesetzt wurden. Hier stellt sich allerdings das Problem, dass sich der Termin des Haftantritts aus der Aktenlage zumeist nicht ermitteln lässt.470 Nicht nur der Stand Ähnlich verteilen sich die Supplikationen in Osnabrück – vgl. Rudolph 2005, S. 434 f. Die Akten beinhalten lediglich die Anträge der Gerichte an das Justizdepartement bzw. an den Monarchen auf Bestätigung des vom Gericht vorgeschlagenen Urteils sowie die Annahme-Order als Bestätigung und Inkraftsetzung des Urteils. Letzteres ist nicht identisch mit dem Datum, an dem den Verurteilten die Strafe verkündet wurde. Genauso wenig kann davon ausgegangen werden, dass die Verurteilten kurz nach Erlass der Annahme-Order an die entsprechende Strafvollzugsanstalt überstellt wurden, und somit ihre Strafe tatsächlich zügig antreten konnten: Dies traf zwar nachweislich in einigen Fällen zu, war jedoch nicht die Regel, denn mitunter wurde die Strafe zwei Monate oder sogar erst acht Monate nach Urteilsbestätigung angetreten. Da die Akten keinen Nachweis über die tatsächliche Aufnahme der Verurteilten im Zuchthaus bzw. auf der Festung führen, lassen sich solche Verzögerungen gleichsam zufällig aus manchen Suppliken herauslesen. Als Beispiel für einen zügigen Haftantritt vgl. Urteilsbestätigung in zweiter Instanz vom 28. Februar 1793 und vgl. 469 470
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des Verfahrens, sondern auch andere Rahmenbedingungen prägten die inhaltliche Zielsetzung von Gnadenbitten, wie etwa das Delikt, dessen die Person angeklagt war. a) Nicht näher spezifizierte Bitten um Gnade Die supplizierenden Männer und Frauen hatten zumeist eine konkrete Vorstellung von der erwünschten Form der Begnadigung. Die Mehrzahl von ihnen benannte ihre Erwartungen auch offen in den Suppliken. Daneben gab es aber auch einige Supplikanten und Supplikantinnen, die lediglich generell um Gnade baten, ohne dass daraus die erwünschte Form der Begnadigung hervorgeht. Möglich ist, dass sie bewusst bescheiden auftreten wollten, weil sie sich davon die größten Chancen auf eine umfangreiche Begnadigung erhofften. Zum Beispiel erbat sich Franz Ludwig v. Kosteletzky „Gewogenheit“ bei der Bewertung seines Falls – er war zusammen mit einigen anderen wegen Diebstahls und Hehlerei angeklagt. Ohne seine Bitte zu spezifizieren, flehte er ganz allgemein um „Gnade und Mitleid“.471 Aus der Supplik geht hervor, dass er mit einer Verurteilung und einer entsprechenden Haftstrafe rechnete. Von seiner Supplikation erhoffte sich v. Kosteletzky vermutlich eine Begnadigung in Form milderer Haftbedingungen oder einer kürzeren Haftdauer. Möglich ist aber auch, dass die Supplizierenden von einem Gnadenakt grundsätzlich nichts anderes als den Straferlass bzw. die sofortige Freilassung aus der Haft erwarteten. So bat zum Beispiel die Heinrich, verwitwete Sorgen in eigener Sache „Um Gnade“, ohne ihre Bitte näher zu spezifizieren.472 Sie war wegen Brandstiftung zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt worden und saß bereits 14 Jahre ein. So ist anzunehmen, dass ihre Supplikation nicht darauf abzielte, mildernde Umstände beim Strafvollzug oder einen befristeten Haftausgang gewährt zu bekommen, sondern damit die baldige Loßlassung aus dem Zuchthaus zu erreichen.
entsprechende Anmerkung in der Supplik der Mutter Jahn vom 4. Dezember 1793 / Fallakte Friedrich Wilhelm Jahn; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. Als Beispiel für einen Haftantritt nach rund zwei Monaten vgl. Urteilsbestätigung vom 4. Oktober 1796 und vgl. Supplik der Ehefrau Arendt vom 29. September 1797 / Fallakte Michael Arendt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. Als Beispiel für einen Haftantritt nach rund acht Monaten vgl. Urteilsbestätigung vom 3. November 1794 und vgl. Supplik des Helm in eigener Sache vom 11. November 1796 / Fallakte Johann Caspar Helm; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 471 Zit. aus: Supplik des v. Kosteletzky in eigener Sache vom 16. Juni 1792 / Fallakte Franz Ludwig v. Kosteletzky (intus: Hartenthal, Moses); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.059. 472 Zit. aus: Supplik der Heinrich in eigener Sache vom 9. Juli 1791 / Fallakte Heinrich, verw. Sorgen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235.
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b) Bitte um Beschleunigung des Prozesses Längst nicht alle Supplikanten und Supplikantinnen warteten das Gerichtsurteil ab, bevor sie sich mit einer Gnadenbitte an die Obrigkeit wandten. Unter den Suppliken, die während der laufenden gerichtlichen Untersuchung eingereicht wurden, findet sich – zumeist in Verbindung mit substanzielleren Gnadenbitten – die Bitte um Beschleunigung des Prozesses. Beispielsweise brachte sich der wegen Hehlerei angeklagte Hausschlächter Johann Erich mit einem Gesuch in Erinnerung: „( . . . ) weil ich mich schon seit 3/4 Jahren in Arrest auf Calandshoff befinde ohne zu wißen[,] ob jemand an mich denckt ( . . . ).“473
Von der Supplikation erhoffte sich Erich, nun zügig ein Urteil und damit Klarheit über seine Situation zu erhalten. Allerdings glaubte Erich offenbar nicht mehr an einen aus seiner Sicht gerechten Prozess – sein Misstrauen gegenüber der Justiz schwingt in den Worten unverhohlen mit. Da die Angeklagten die Erfahrung machen mussten, dass sich die gerichtliche Untersuchung ihres Falles über mehrere Monate hinzog, diese Zeit ihnen aber nicht auf die zu erwartende Haftstrafe angerechnet wurde, baten viele Betroffene um Beschleunigung des Verfahrens.474 Als fünf Wochen vergangen waren, nachdem der Kattunglätter Carl Christian Becherer wegen möglichen Betrugs mit Leinenwaren auf den Kalandshof zur Untersuchung gebracht worden war, bat seine Ehefrau unter anderem auch um ein rasches Verfahren, da die Einnahmen aus der Kattunwirtschaft allmählich ausblieben und sie mit ihren fünf Kindern demzufolge in „äußerste[r] Noth und Armuth“ leben müsste.475 Dies war auch der Tenor, der aus den acht Suppliken der Ehefrau des Kanzleischreibers Valentin spricht, die sie im Laufe des Untersuchungsarrestes einreichte.476 Die Bitte um eine zügige Untersuchung wurde häufig mit dem Einfordern eines gerechten Prozesses477 verbunden und übernahm damit die Funktion einer außergerichtlichen Verteidigungsschrift. Obwohl eine Verfahrensbeschleunigung keine eigentliche Vergünstigung darstellt, wird auch eine solche Bitte hier unter dem Begriff der Supplikation subsumiert.478 Da auch die Obrigkeit an einer 473 Supplik des Erich in eigener Sache o. D. [ca. Juni / Juli 1786] / Fallakte Johann Erich; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 15.996. 474 Vgl. zwei Suppliken des Ehemanns Wiedemann vom 14. Mai 1792 und 30. Juni 1792 / Fallakte Caroline Wiedemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 475 Supplik der Ehefrau Becherer vom 12. Juli 1787 / Fallakte Carl Christian Becherer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 123. 476 Vgl. acht Suppliken der Ehefrau Valentin vom 20. Mai 1787 bis 5. April 1788 / Fallakte Friedrich Valentin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 477 Darunter verstanden die Supplikanten und Supplikantinnen u. a. die Anhörung entlastender Zeugen – vgl. Supplik des Steffen in eigener Sache vom 7. September 1795 / Fallakte Abraham Steffen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220. Auch in Osnabrück übernahmen Supplikationen, die vor dem Gerichtsurteil eingereicht wurden, die Funktion der Verteidigung – vgl. Rudolph 2005, S. 422. 478 Die Gewährung der Bitte um Verfahrensbeschleunigung wird hier folgerichtig auch als eine Form der Begnadigung verstanden [s. C.II.7.d)].
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zügigen Prozessführung interessiert war, nahm das Justizdepartement Bitten um Beschleunigung zum Anlass, beim zuständigen Gericht einen Bericht über den Stand der Untersuchung einzufordern;479 mitunter wurde das Gericht sogleich angewiesen, die Angelegenheit zügig zu entscheiden [s. C.II.7.d)]. c) Bitte um Freilassung während des Untersuchungsarrestes Eine andere Variante bestand darin, um die Freilassung während der gerichtlichen Untersuchung zu bitten. Im Fall der wegen Aufruhr gegen die lokale Obrigkeit angeklagten Ackerleute Johann Joachim Gartz, Johann Friedrich Langnese und Johann Joachim Thiede war dies die vordringliche Bitte der Angeklagten und ihrer Ehefrauen, die damit eine Verwahrlosung ihrer Höfe verhindern wollten.480 Dies war auch die Zielsetzung der drei Suppliken im Fall Dittmar und Durand, in denen zum einen die Ehefrau für George Friedrich Dittmar und zum anderen Peter Ludwig Durand für sich und seinen Sohn Etienne flehentlich darum baten, während der Prozessdauer auf Eid freigelassen zu werden.481 Johanna Eleonore Lisnitzer ging noch einen Schritt weiter, indem sie bereitwillig eine Kaution anbot, um vom Untersuchungsarrest verschont zu werden.482 d) Bitte um Revision bzw. um Zulassung zur Appellation Eine häufig anzutreffende Gnadenbitte ist die Bitte um eine unparteiische Revision und damit verbunden ein erneutes Aufrollen der gerichtlichen Untersuchung. Die Bitte ist Ausdruck dafür, dass sich die Betroffenen ungerecht behandelt fühlten: So wurde in den Suppliken die angebliche Unschuld der verurteilten Person beschworen und das Verfahren als unfair, das Urteil folglich als ungerecht hingestellt.483 Eine Variante davon stellt die Bitte um Zulassung zur Appellation dar, 479 Beispielhaft vgl. Anforderung eines Berichts vom 25. Mai 1787 und vgl. Bericht des Kammergerichts vom 4. Juni 1787 und vgl. wiederholte Weisungen an das Kammergericht vom 23. November und 14. Dezember 1787 und 11. April 1788 / Fallakte Friedrich Valentin; in: ebd. 480 Vgl. Kollektivsupplik der drei Ehefrauen Gartz, Langnese und Thiede vom 9. Dezember 1794 und vgl. Supplik des Gartz im Namen der drei Angeklagten in eigener Sache vom 1. Januar 1795 / Fallakte Johann Joachim Gartz, Johann Friedrich Langnese, Johann Joachim Thiede; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240, fol. 20 – 21, 22 – 23. 481 Vgl. zwei Suppliken der Ehefrau Dittmar vom 31. März und 14. Juli 1791 und vgl. Supplik des Durand in eigener Sache und für seinen Sohn vom 23. April und 20. Juli 1791 / Fallakte George Friedrich Dittmar, Peter Ludwig und Etienne Durand; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 482 Vgl. Supplik der Lisnitzer in eigener Sache vom 6. September 1787 / Fallakte Johanna Eleonore Lisnitzer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 483 Vgl. zwei Suppliken des Moses in eigener Sache vom 11. und 24. Februar 1787 / Fallakte Wulff Moses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202; vgl. zwei Suppliken der Ehefrau Bennewitz vom 28. November 1786 und 3. Februar 1787 / Fallakte Johann Bennewitz; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202; vgl. zwei Suppliken des Krell in
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ein Rechtsinstrument, welches aber in den hier vorliegenden Gnadenfällen juristisch nicht zugelassen war, entweder wegen Geringfügigkeit der Sache oder weil die zweite Instanz bereits erschöpft war.484 Diese Gnadenbitte ist auffällig häufig bei Injuria-Fällen aber auch bei anderen Delikten anzutreffen, insbesondere dann, wenn die Gerichtsurteile nicht zur Schlichtung der Streitigkeit beitrugen und wenn die Betroffenen davon überzeugt waren, dass entlastende Zeugen im Verfahren nicht hinreichend zu Wort gekommen waren.485
e) Bitte um Niederschlagung des Prozesses Waren die bisher beschriebenen Gnadenbitten vergleichsweise anspruchslos, so gab es auch einige, in denen der Monarch um Abolition nachgesucht wurde. Eine Niederschlagung des laufenden Prozesses wurde in der Regel vor allem dann erbeten, wenn die supplizierenden Männer und Frauen ihre Angehörigen für unschuldig hielten bzw. dies in den Suppliken vorgaben: Sie betrachteten die Geschehnisse nicht als kriminelles Vergehen, sondern führten sie auf einen Unfall, ein Missverständnis oder auf Verleumdung missgünstiger Nachbarn zurück.486 Auf Abolition setzte zum Beispiel der Bauer Hartmann, da er das seinem Sohn vorgeworfene Vergehen der „Sodomiterey mit einem Vie“ mit übler Nachrede erklärte.487 Auch Müller befand seine Tochter für unschuldig, die wegen verheimlichter Schwangerschaft und Verdacht auf Abortion einer gerichtlichen Untersuchung unterzogen worden war, und wollte daher den Prozess niedergeschlagen wissen.488 Da Friedeigener Sache vom 13. August 1789 und 15. Juli 1790 / Fallakte Krell; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202; vgl. Supplik des Georgi in eigener Sache vom 29. November 1795 / Fallakte Georgi; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.203. 484 Vgl. zwei Suppliken des Grentz in eigener Sache vom 30. April und 16. Mai 1788 / Fallakte Johann Joachim Grentz; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202; vgl. Supplik des Leer in eigener Sache vom 13. September 1796 / Fallakte Friedrich Leer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.203. 485 Zum Beispiel beim Delikt Schlägerei: vgl. Supplik des Stettin in eigener Sache vom 8. September 1786 / Fallakte Johann Michael Stettin (intus: Peter Stettin); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.984; vgl. Supplik der Ehefrau Neumann vom 10. Juni 1788 / Fallakte Christian Friedrich Neumann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985. Beim Delikt Aufruhr und Tumult: vgl. Supplik der Schwester bzw. Freundin Sophie Hahn o. D. [ca. 5. Juni 1795] / Fallakte Johann Friedrich Hahn und Johann Christian Graebert; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241, fol. 10 – 11. Beim Delikt Diebstahl: vgl. Supplik des Banspach in eigener Sache o. D. [ca. Anfang Februar 1787] / Fallakte Johann Samuel Banspach; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. 486 Beispielhaft vgl. Supplik des Stiefbruders, General-Auditeur Ettner, vom 24. Januar 1787 / Fallakte Ferdinand Ludewig Schoenemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 10. 487 Supplik des Vaters Hartmann vom 3. Februar 1786 / Fallakte Hartmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 488 Vgl. Supplik des Vaters Müller vom 16. März 1791 / Fallakte Maria Louise Müller; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.177, fol. 188.
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rich Wilhelm II. auf das königliche Evokationsrecht, welches ihm ermöglichte, in schwebende Verfahren einzugreifen, verzichtet hatte [s. A.II.3.], wurden Bitten um Abolition allesamt verwehrt und die supplizierenden Untertanen darauf verwiesen, das gerichtliche Erkenntnis abzuwarten. Diese Gnadenpraxis war den Bittstellern und Bittstellerinnen offenbar bekannt, denn eine solche Gnadenbitte wurde recht selten vorgetragen. f) Bitte um Freispruch Während sich einige Supplikanten und Supplikantinnen vom Gnadenträger eine Niederschlagung des laufenden Prozesses erhofften, akzeptierten andere das Gerichtsverfahren offenbar als unvermeidbar, begehrten jedoch, dass sie – dem Schuldspruch zum Trotz – im Wege der Gnade von aller Schuld freigesprochen werden. Einen derartigen Gnadenakt erhoffte sich beispielsweise der Schuhmacher Friedrich Carl Bartsch, der wegen Beleidigung seiner Nachbarin angeklagt worden war.489 Im Vorfeld der Urteilsfindung wiesen die supplizierenden Männer und Frauen häufig auf mildernde Umstände hin, in Erwartung, die Strafe würde dann geringer ausfallen.490 So begründete Bartsch seine Bitte um Freispruch bzw. mildere Strafe damit, dass die Klägerin, die Ehefrau des Kanzlisten Mensch, eine zänkische und prozesswütige Person sei, die ihr soziales Umfeld mit „erdichtete[n] und mit allen unwahrheiten angefüllete[n]“ Beschuldigungen traktiere.491 Wie alle übrigen Gnadenbitten mit diesem Anliegen492 wurde Bartschs Begehren mit dem Hinweis abgewiesen, dass das Erkenntnis des Gerichts grundsätzlich erst abgewartet werden müsse, bevor ein Gnadenakt erlassen werden konnte.493
489 Vgl. Supplik des Bartsch in eigener Sache vom 4. Februar 1789 / Fallakte Friedrich Carl Bartsch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 490 Z. B. spielte auch Johann Erich seine Schuld herunter, indem er vorgab, dass er die Dose und Nadelbüchse nur wegen der Überredungskünste der ihm unbekannten „leute“ für 10 Groschen gekauft habe, dass er aber „nicht wußte[,] daß die Sachen gestohlen wären.“ – Supplik des Erich in eigener Sache o. D. [ca. Juni / Juli 1786] / Fallakte Johann Erich; in: ebd. Auch die Ehefrau Valentin nutzte die oben zitierten Bitten um Beschleunigung der Untersuchung dafür, die Umstände des Vergehens als Schuld mildernd darzustellen – vgl. acht Suppliken der Ehefrau Valentin vom 20. Mai 1787 bis 5. April 1788 / Fallakte Friedrich Valentin; in: ebd. 491 Vgl. Supplik des Bartsch in eigener Sache vom 4. Februar 1789 / Fallakte Friedrich Carl Bartsch; in: ebd. 492 Ebenso abgewiesen wurde zum Beispiel Milster, der fünfmal in Folge für seinen Sohn, den Kaufmann Jacob Michael Ferdinand Milster, den Verzicht auf eine Haftstrafe erbat – vgl. fünf Suppliken des Vaters Milster und dazugehörige Dekrete über abgelehnte Gnadenbitten vom 22. August 1789 bis 19. April 1790 / Fallakte Jacob Michael Ferdinand Milster; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 493 Vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 16. Februar 1789 / Fallakte Friedrich Carl Bartsch; in: ebd.
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g) Bitte um gänzlichen Straferlass Auch mit der Erwartung eines gänzlichen Straferlasses wurde der Monarch konfrontiert. Nachdem Vater und Sohn Schoenebeck wegen Majestätsbeleidigung auf unbestimmte Zeit verhaftet worden waren, ohne dass eine Aussicht auf einen regulären Prozess bestand, brachte die zurückgebliebene Ehefrau und Mutter insgesamt sechsmal die Bitte ein, die beiden Männer aus der Festung zu entlassen.494 In diesem Fall lag es nahe, einen gänzlichen Straferlass zu erbitten, da keine gerichtlich erkannte Strafe mit festgelegter Dauer vorlag, an der die Supplikantin die inhaltliche Zielsetzung ihrer Gnadenbitte hätte ausrichten können. Wie im Fall Schoenebeck begründeten auch andere Bittsteller und Bittstellerinnen eine Bitte um gänzlichen Straferlass mit der Unschuld der Verurteilten.495 War die Schuld hingegen zu offensichtlich, um sie klein zu reden, argumentierten die supplizierenden Männer und Frauen mit besonders widrigen Umständen durch höhere Gewalt, welche aus ihrer Sicht eine Begnadigung rechtfertigten. So zum Beispiel im Fall von Anne Marie Cornelie Obheisch: Ihr Vater nutzte die Zeit zwischen der Urteilsverkündung und der bevorstehenden Überführung seiner Tochter ins Zuchthaus zur Supplikation mit der Bitte um ihre Freilassung und führte als Begründung die Epilepsie an, an der sie litt, und mit der sie kaum eine Chance hatte, die veranschlagten zwei Jahre Haft zu überleben.496 Insgesamt wurde der Strafverzicht nicht häufig erbeten. Auffällig ist, dass die Supplikation in diesen Fällen häufig in der Phase zwischen Urteilsverkündung und Haftantritt eingereicht wurde. Mag sein, dass hierbei die Härte des Urteils den Ausschlag für die Supplikation gab. Möglich ist auch, dass die Bittsteller und Bittstellerinnen darüber informiert waren, dass sie das Inkrafttreten des Urteils abwarten mussten. Somit war dies der früheste Zeitpunkt für eine eventuelle Begnadigung, zu dem die Chance bestand, die Strafe rechtzeitig vor dem Antritt abzuwenden. In dieser Phase gingen die Supplizierenden aufs Ganze und baten in ihren Suppliken um Erlass der gesamten Strafe.497 494 Vgl. sechs Suppliken der Ehefrau bzw. Mutter Schoenebeck (die ersten beiden Suppliken auch zugunsten des Sohnes) vom 19. Oktober 1796 bis 16. November 1797 / Fallakte Vater und Sohn Schoenebeck; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. B, Paket 15.972. 495 Beispielhaft vgl. Supplik der Ehefrau Ronneburg vom 12. März 1788 / Fallakte Johann Christian Ronneburg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 415; vgl. Supplik der Schwester bzw. Bekannten Sophie Hahn o. D. [ca. 5. Juni 1795] / Fallakte Johann Friedrich Hahn und Johann Christian Graebert; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241, fol. 10 – 11. 496 Vgl. Supplik des Vaters Obheisch vom 1. November 1787 / Fallakte Anne Marie Cornelie Obheisch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 36 – 38. 497 Zum Beispiel bat Gottlieb Behlendorff bereits einen knappen Monat nach Urteilsverkündung um Straferlass für die ihm aufgebürdeten sechs Monate Festungsarrest und die seiner Frau zugedachten drei Monate Zuchthausarbeit – vgl. Supplik des Behlendorff in eigener Sache und für die Ehefrau Behlendorff vom 13. März 1787 / Fallakte Gottlieb und Anne Gertraud Behlendorff; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. Fünf Monate nach Urteilsverkündung, jedoch noch vor dem Haftantritt, bat die Ehefrau des Bierschenkers
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h) Bitte um Strafverkürzung bzw. Freilassung von zu lebenslanger Haft Verurteilten Ein zentrales Anliegen von Supplikationen besteht in der Bitte um Verkürzung einer Freiheits- und Leibesstrafe. Da hinter dieser Bitte sehr verschieden umfangreiche Begnadigungen stehen – die Spanne reicht von etwa einem Monat bis zu Jahrzehnten bei zu lebenslanger Haft Verurteilten –, gilt es hier zu differenzieren. Eine wenige Wochen bis zu einem Jahr umfassende Strafverkürzung versuchten Bittsteller und Bittstellerinnen mit verfahrensimmanenten Argumenten zu erlangen. So wurde in mehreren Fällen auf die lange Verfahrensdauer verwiesen und darum gebeten, den bereits erlittenen Untersuchungsarrest auf die verhängte Freiheitsstrafe anzurechnen.498 Auguste Friederike Charlotte Hanses hatte zum Beispiel ein gesamtes Jahr in Untersuchungshaft zubringen müssen, bevor ein Urteil gefällt wurde. Daher bat ihr Vater wiederholt, diese Zeit mit der vierjährigen Zuchthausstrafe zu verrechnen.499 Der Schreiber Hintze hingegen bat, seinen einjährigen Festungsarrest um drei Monate, die Dauer, welche die Appellation in Anspruch genommen hatte, zu verkürzen.500 Eine weitere Variante der beantragten Haftverkürzung stellt die Bitte um Anrechnung eines Krankenhausaufenthalts auf die Strafzeit dar. Johann Friedrich Ritter wurde wegen Betrugs zu drei Jahren und drei Monaten Festungsarrest verurteilt, die er bis zum Zeitpunkt seiner Supplik jedoch noch nicht hatte antreten können, da er – von Krätze befallen – bis zur Genesung in die Charité eingeliefert wurde. Insgesamt vergingen zwanzig Monate, die er an ein Bett gekettet verbrachte, bis er entlassen wurde. Diese Zeit wurde ihm nicht von der Strafe abgezogen. Da Ritter nachweisen konnte, sich mit der Krätze im Untersuchungsarrest auf dem Kalandshof infiziert zu haben, sah er gute Chancen, eine entsprechende Strafverkürzung zu erhalten.501 Die Bitten um Haftverkürzung durch Anrechnung des Untersuchungsarrests bzw. eines Krankenhausaufenthalts traten sowohl vor Antritt der Strafe als auch Johann Christian Thur um Begnadigung der ihm wegen Meineid auferlegten viermonatigen Festungsstrafe – vgl. zwei Suppliken der Ehefrau Thur vom 4. März und 17. März 1789 / Fallakte Johann Christian Thur; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 498 Zur Anrechnung des Untersuchungsarrests auf die Dauer der Freiheitsstrafe: vgl. Supplik des Vaters Krüger vom 24. Februar 1794 / Fallakte Andreas Krüger; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218; vgl. zwei Suppliken der Ehefrau Brandt vom 19. September 1787 und 29. Januar 1788 / Fallakte Johann Christian Gottfried Brandt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235. 499 Vgl. Mediat- und Immediatsuppliken des Vaters Hanses vom 25. September 1794 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 204, 205. 500 Vgl. Supplik des Hintze in eigener Sache vom 22. Dezember 1786 / Fallakte Hintze; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 6. 501 Vgl. Supplik des Ritter in eigener Sache vom 25. Januar 1786 und vgl. Supplik des Vetters, Unteroffizier Rathschläger, vom 3. Oktober 1788 / Fallakte Johann Friedrich Ritter; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217.
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während des Strafvollzugs auf. Die weitaus häufigere Variante besteht allerdings in der Bitte um Erlass der Reststrafe. Nachdem Michael Arendt fünf Monate von den ihm auferlegten zwei Jahren Festungsarbeit hinter sich hatte, bat die Ehefrau um seine Freilassung, wenigstens aber um Halbierung der Strafe; sie wiederholte ihre Gnadenbitte nach weiteren vier Monaten und supplizierte, als es nur noch acht Monate bis zu seiner regulären Freilassung waren, nochmals um Erlass der Reststrafe.502 Die Supplikanten und Supplikantinnen rechneten offenbar mit einer erhöhten Chance auf Begnadigung, wenn sich die Delinquenten ihrerseits im Strafvollzug bewährt und der Zuchthausadministration bzw. dem Festungsgouverne-ment gegenüber ihre tiefe Reue über ihren Fehltritt bekundet hatten, um auf diese Weise ihre moralische Gnadenwürdigkeit unter Beweis zu stellen, so das mutmaßliche Kalkül der Supplizierenden.503 Die Praxis zu supplizieren, wenn die betreffende Person die Hälfte der ihr auferlegten Strafdauer absolviert hatte, war sehr verbreitet. Kaum hatte der Sohn Abraham Ebel die Hälfte der gegen ihn verhängten zehnjährigen Festungsstrafe abgesessen, bat sein Vater für ihn um Begnadigung.504 Im Fall der wegen Kindsmordverdacht zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilten Hanna Dorothea Krohn setzte ihre Tochter Carolina nach Vollendung der ersten fünf Jahre eine Supplik auf.505 Auch bei weniger schweren Strafen war diese Supplikationspraxis üblich: So bat der wegen Unzucht zu sechs Monaten Festungsarbeit verurteilte Kossäte Peter Sarow nach drei Monaten um Erlass der Reststrafe.506 Der Halbzeit einer Strafe wohnte offenbar symbolische Bedeutung inne: Man ging offenbar davon aus, dass die Obrigkeit mit dem bisher erlittenen Freiheitsentzug und der bereits geleisteten Zwangsarbeit ihre Sanktionshoheit hinreichend inszeniert und somit eine gewisse Genugtuung erfahren hatte, die sich – so hofften die Betroffenen – in gnädiger Milde zeigen konnte. In dieselbe Richtung gingen vermutlich auch die Überlegungen der Supplikanten und Supplikantinnen, die sich für verurteilte Männer und Frauen mit lebenslanger Haftstrafe einsetzten. Sie ließen zumeist einige Jahre verstreichen, bevor sie initiativ wurden: Die Mutter von Johann Gottfried Rummert supplizierte zum 502 Vgl. drei Suppliken der Ehefrau Arendt vom 16. Mai und 29. September 1797 und 17. Februar 1798 / Fallakte Michael Arendt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 503 Vgl. Supplik der Mutter Wagner vom 10. Februar 1787 / Fallakte Anna Sophie Magdalena Wagner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49. Lit. H, Paket 16.175, fol. 55; vgl. Supplik des Bekannten Wilhelm Kluge vom 6. Juli 1790 / Fallakte Johann Michael Schoenecke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235. 504 Vgl. Supplik des Vaters Ebel vom 23. Januar 1787 / Fallakte Abraham Ebel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.175, fol. 347. 505 Vgl. Supplik der Tochter Carolina Krohn vom 21. März 1796 und vgl. Supplik der Tochter Sophie Krohn vom 9. September 1797 / Fallakte Hanna Dorothea Krohn; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 189 – 191, 193. 506 Vgl. Supplik des Sarow in eigener Sache vom 5. Oktober 1793 / Fallakte Peter Sarow; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956.
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Beispiel nach Jahren der Haft für ihren zu lebenslanger Haft verurteilten Sohn und bat, „eine Zeit zu determiniren, wann sein trauriges Schicksal auf der Festung Spandow ein Ende nehmen soll?“507 Für Maria Dorothea Jungin, die wegen vorsätzlichem Kindsmord im Zuchthaus einsaß, wurden erst nach rund zwanzig Jahren Haft drei Suppliken von Verwandten eingereicht.508 In anderen Kindsmordfällen vergingen bei Anna Dorothea Devouschack 16 Jahre Haft, bei Hedwig Sophia Schmidt 15 Jahre und bei Marie Louise Boltzin 10 Jahre, bevor jemand für sie um Gnade bat.509 Die Tatsache, dass die Angehörigen dieser Frauen so viele Jahre mit einer Supplikation warteten, muss auch im Zusammenhang mit dem Delikt gesehen werden: Das Gesetz unterschied zwischen erwiesenem Kindsmord einerseits und verheimlichter Schwangerschaft und Geburt sowie dem Verdacht auf Kindsmord andererseits.510 In der Rechtspraxis wurde ein solcher Verdacht mit 10 bis 15 Jahren, der vom Gericht als erwiesen angesehene Kindsmord indes mit lebenslänglich belegt.511 Da es aber für die hinzugezogenen Medici mitunter schwierig war, zwischen einer Totgeburt und der Tötung des Neugeborenen kurz nach der Geburt zu unterscheiden, blieb häufig ein Interpretationsspielraum. Warteten die Angehörigen solange mit ihren Gnadenbitten, bis die Verurteilte zumindest zehn Jahre, also den Zeitraum der milderen Verdachtsstrafe, abgesessen hatte, so bestand die Hoffnung, dass der Fall mit dem zeitlichen Abstand nun in etwas anderem Licht gesehen und die Delinquentin der Gnade für würdig befunden wurde. 507 Supplik der Mutter Rummert vom 15. April 1787 und vgl. Supplik ders. vom 1. Dezember 1793 sowie zwei Suppliken des Schwagers Christian Friedrich Goltze vom 18. Januar 1797 und 13. Juli 1797 / Fallakte Johann Gottfried Rummert; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 256, 263, 267, 272. 508 Vgl. Supplik der Tante Maria Elisabeth Weber vom 3. August 1797 [Korrektur der fälschlichen Datierung im Original auf das Jahr 1779] und zwei Suppliken des Verwandten Rosenthal vom 20. September und 7. Dezember 1797 / Fallakte Maria Dorothea Jungin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 145, 148 – 150, 153. 509 Vgl. Supplik des Onkels Runge vom 12. Juli 1796 / Fallakte Anna Dorothea Devouschack; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 23 – 25; vgl. zwei Suppliken der beiden Brüder Schmidt vom 2. April und 2. Juni 1788 / Fallakte Hedwig Sophia Schmidt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 16 – 18, 22 – 24; vgl. drei Suppliken des David Joachim Burmeister vom 7. November 1790, 14. Februar 1791 und 1. März 1791 / Fallakte Marie Louise Boltzin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.177, fol. 254, 256, 257. 510 Vgl. §§§ 887, 982, 969 ALR II 20. Bevor das ALR in Kraft trat, galten zunächst noch die unter Friedrich II. erlassenen Bestimmungen, gefolgt von dem unter Friedrich Wilhelm II. verkündeten Publikandum vom 14. April 1794; in: NCCPBPM 1796, 9. Bd., No XXXVIII, Sp. 2137 – 2140. Zu den Strafrechtsbestimmungen bei Kindsmord und den Präventivmaßnahmen vgl. Wilhelm Wächtershäuser, Das Verbrechen des Kindsmordes im Zeitalter der Aufklärung. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung der dogmatischen, prozessualen und rechtssoziologischen Aspekte, Berlin 1973, hier S. 138 – 148. 511 Dies ist das übliche Strafmaß, wie es den Justizakten der Lit. H der Rep. 49 zu entnehmen ist. Auch Schwennicke kommt in seiner Untersuchung zur Strafrechtslehre des ALR zu dem Ergebnis, dass die Rechtsprechung Ende 18. / Anfang 19. Jh. weitaus milder ausfiel, als das rigorose Strafsystem des Gesetzbuchs es vorsah – vgl. Schwennicke 1995, S. 95, zur Strafrechtspraxis bzgl. Kindsmord vgl. ebd., S. 93 – 95.
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i) Bitte um Umwandlung einer Festungs- bzw. Zuchthausstrafe in eine Gefängnisstrafe Um die drohende Strafe ein Stück weit zu mildern, baten etliche Supplikanten und Supplikantinnen meist vor Haftantritt darum, die Strafe in einer weniger gesundheitsgefährdenden und weniger ehrverletzenden Umgebung absitzen zu dürfen. Dies bedeutete einen Wechsel in eine andere Kategorie von Strafvollzugsanstalt. Gefängnisse dienten in erster Linie zur Arretierung der Angeklagten für die Dauer der gerichtlichen Untersuchung. Sie dienten aber auch als Strafvollzugsanstalt bei geringfügigeren Vergehen. Bei schwerwiegenden Delikten wurden Männer auf die Festung, Frauen und Jugendliche in das Zuchthaus eingewiesen.512 Der Student der Jurisprudenz, Erdmann Friedrich Grothe, wurde wegen verschiedener Betrügereien, die er unter dem Deckmantel eines falschen Adelsnamens beging, zu zwei Jahren Festungsarrest verurteilt. Grothe supplizierte aus dem Untersuchungsarrest, den er in der Hausvogtei verbrachte, und bat darum, die ihm zuerkannte Strafzeit ebendort statt in der Festung absitzen zu dürfen.513 Anders als Gefängnisstrafen, die den Charakter einer Freiheitsstrafe ohne offiziellen Ehrverlust hatten, war die Festungsstrafe eine Leibesstrafe, die unweigerlich den Ehrverlust mit sich brachte.514 Letzteres versuchte Grothe abzuwehren, um den Abschluss seines Studiums nicht zu gefährden. Dahinter stand außerdem die Hoffnung, der Zwangsarbeit zu entgehen und die Haft ohne lebensbedrohliche, chronische Krankheiten zu überstehen, die oft in solchen Strafvollzugsanstalten kursierten. Die Festungshäftlinge wurden nämlich zu harter Zwangsarbeit im Festungsbau herangezogen. Während ihres Aufenthalts in den Zellen wurden sie angekettet und mussten katastrophale hygienische Zustände ertragen. Dagegen erschien eine Freiheitsstrafe in der Hausvogtei geradezu milde. Dass es bei der Gnadenbitte um Verlegung in andere Strafvollzugsanstalten nicht nur um die Frage der Ehre ging, sondern auch die Haftbedingungen eine zentrale Rolle spielten, belegt beispielsweise Nicksens Supplikation, mit der er versuchte, zumindest von der mit der Festungsstrafe verbundenen Zwangsarbeit freigesprochen zu werden.515 Deshalb baten etliche Verurteilte, deren Strafe lediglich wenige Monate betrug, um Umwandlung ihrer zuerkannten Festungs- in Gefängnisstrafen.516 512 Vgl. Reskript vom 21. November 1791; in: NCCPBPM 1796, 9. Bd., No LXX, Sp. 241 – 242 und vgl. Schmidt 1915, S. 20 und vgl. Herbert Lieberknecht, Das Altpreussische Zuchthauswesen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, insbesondere in den Provinzen Pommern und Ostpreussen, Berlin / Göttingen 1922, hier S. 24, 52. 513 Vgl. Supplik des Grothe in eigener Sache vom 28. Februar 1787 / Fallakte Erdmann Friedrich Grothe; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 66. 514 Vgl. Schmidt 1915, S. 78 f. 515 Vgl. Supplik des Nicksen in eigener Sache vom 3. April 1792 und vgl. vorherige Supplik des Nicksen in eigener Sache vom 22. Dezember 1791 / Fallakte Johann Wilhelm Nicksen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 516 Beispielhaft vgl. Supplik des Vaters Wredow und des Wredow in eigener Sache vom 30. Juni 1793, 2. und 4. Juli 1793 / Fallakte Christian Friedrich Wredow; in: GStA PK, I. HA,
III. Die Dimension der Praxis
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j) Bitte um Umwandlung einer Festungsstrafe in eine Zuchthausstrafe Einige unter den supplizierenden Männern und Frauen schätzten in der Situation die Chance, eine Strafmilderung wie den Wechsel von der Festung zum Gefängnis zu erreichen, offensichtlich sehr gering ein, und baten daher lediglich um Umwandlung der Festungsstrafe in einen Zuchthausaufenthalt. Dies war allerdings nur bei sehr jungen oder alten und gebrechlichen Männern möglich, da ansonsten männliche Delinquenten im Zuchthaus nicht geduldet wurden [s. o.]. So dokumentieren die Akten Supplikationen von Vätern, die für ihre zur Festungshaft verurteilten jungen Söhne um Verlegung ins Zuchthaus baten. Sie argumentierten mit dem schlechten Einfluss, den die auf der Festung inhaftierten Delinquenten auf die Moral ihrer Söhne haben würden.517 Hinter diesen Gnadenbitten stand allerdings das Kalkül, dass eine Zuchthausstrafe – zumindest offiziell – keinen Ehrverlust für die verurteilte Person und ihre Familie zur Folge hatte. Außerdem waren die Arbeitsund Haftbedingungen im Zuchthaus Spandau besser als auf der dortigen Festung.
k) Bitte um Umwandlung einer Gefängnisstrafe in eine Geldbuße Bei geringfügigeren Strafen bzw. kurzfristigen Freiheitsstrafen für Vergehen, die zumindest aus der Sicht der Untertanen entschuldbar waren, wurde auch die Bitte um Umwandlung der Haftstrafe in eine Geldstrafe geäußert. Hierbei handelte es sich um eine im Ancien Régime weit verbreitete Praxis.518 Als zum Beispiel Christiane Westphalen zu acht Tagen Gefängnis verurteilt wurde, weil sie jemanden fälschlicherweise des Diebstahls verdächtigt hatte, bat sie um Umwandlung der Haftstrafe in eine Geldbuße.519 Aus der Sicht eines anderen Supplikanten war die Charlotte Schöneberg auferlegte dreimonatige Arbeitsstrafe wegen Hurerei zu hart ausgefallen; eine Geldstrafe empfand er dagegen als adäquat und bot an, für die Verurteilte zehn Reichstaler zu zahlen.520 Ähnliches ist der Supplik zugunsten des Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220; vgl. Supplik des Helm in eigener Sache vom 20. Mai 1795 / Fallakte Johann Caspar Helm; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956; vgl. Supplik der Ehefrau Moeller in eigener Sache und für Ehemann vom 21. August 1791 / Fallakte Eheleute Moeller; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217; vgl. Supplik des Hoffmann in eigener Sache vom 5. November 1790 / Fallakte Carl Hoffmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 517 Vgl. Supplik des Vaters Heinemann vom 30. August 1787 / Fallakte Simon Joseph Heinemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217; vgl. Supplik des Vaters Krüger vom 14. Februar 1793 / Fallakte Andreas Krüger; in: ebd. 518 Helga Schnabel-Schüle betont, dass in der Frühen Neuzeit eine kurzfristige Freiheitsstrafe üblicherweise in eine Geldbuße umgewandelt werden konnte – vgl. Schnabel-Schüle 1997, S. 141 – 143. 519 Vgl. Supplik der Westphalen in eigener Sache vom 9. November 1791 / Fallakte Christiane Westphalen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 520 Vgl. Supplik des Arrensee vom 6. Juni 1798 / Fallakte Charlotte Schöneberg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
Bedienten Mangold zu entnehmen, der ein zehnjähriges Mädchen sexuell missbraucht hatte und dafür eine nur vierwöchige Gefängnisstrafe erhielt. Sowohl der Delinquent als auch sein Brotherr supplizierten, um anstelle der Haftstrafe eine Geldbuße gewährt zu bekommen.521 Zwar war diese Form der Begnadigung mit einem gewissen pekuniären Aufwand verbunden, der sich allerdings stark relativiert, wenn man den Ausfall, den eine Gefängnisstrafe für die verurteilte Person in ihrer Wirtschaft mit sich brachte, dagegen rechnet. Hinzu kommt, dass dem sozialen Kapital, also dem Leumund, eine Geldbuße weniger abträglich war als ein Gefängnisaufenthalt.522 l) Bitte um Strafaufschub bzw. Aussetzung der Strafe Unter den Bittstellern und Bittstellerinnen gab es einige, die eine Supplik vor dem Haftantritt aufsetzen ließen, um einen Strafaufschub für die Verurteilten zu erreichen. Ein Strafaufschub bedeutete, dass diese sich von den Widrigkeiten des Untersuchungsarrests erholen konnten, und ermöglichte ihnen, in ihrer Wirtschaft nach dem Rechten zu sehen. Die eigentliche Strafe stand jedoch weiterhin drohend wie ein Damoklesschwert über der gewährten Auszeit. Das Ziel, einen Strafaufschub für seinen Sohn zu erwirken, verfolgte auch Saul: Sein Sohn Samuel Saul hatte eine junge Frau namens Zierle mit Messerstichen getötet, als diese von ihm die Heirat einforderte; das Urteil lautete auf Todesstrafe. Kurz nach Urteilsverkündung bat der Vater um dessen Begnadigung oder aber darum, die Hinrichtung: „( . . . ) wenigstens einige Monath auf schieben, den so viel brauche ich vielleicht nur, um mein durch Alter, Kumer, und vor Kranckheit geschwächtes Leben zu beendigen ( . . . ).“523
Der vorgebliche Wunsch des Vaters bestand darin, den schändlichen Tod seines Sohnes nicht miterleben zu müssen. Er warf seinem Sohn vor, nicht bedacht zu haben, „daß er einen Vater und alte Mutter hinterläßt, welche durch die schandesvolle Todtesart ins Grab stürzet“.524 Hinter der Bitte um Strafaufschub stand sicher nicht nur die Angst vor der Schmach für die Familie, sondern vor allem die Hoffnung, das Leben des Sohnes auf diese Weise noch einige Zeit zu verlängern, kostbare Zeit, in der mit Hilfe weiterer Supplikationen vielleicht sogar erreicht werden konnte, dass das Todesurteil aufgehoben würde, so das mutmaßliche Kalkül. 521 Vgl. Supplik des Mangold in eigener Sache vom 13. Juni 1795 und vgl. Supplik des Brotherrn Schropp vom 13. Juni 1795 / Fallakte Anton Mangold; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 522 Auch Peter Schuster kann für die Reichsstadt Konstanz im Spätmittelalter feststellen, dass eine Geldbuße nur das ökonomische, nicht aber das soziale Kapital berührte – vgl. Schuster 2000, S. 250. 523 Supplik des Vaters Saul o. D. [ca. Ende Oktober 1793] / Fallakte Samuel Saul; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.178. 524 Supplik des Vaters Saul o. D. [ca. Ende Oktober 1793] / Fallakte Samuel Saul; in: ebd.
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Ein Strafaufschub oder eine Aussetzung der Strafe wurde auch damit begründet, verurteilten Frauen zu ermöglichen, ihre Pflichten als Hausmutter in der Wirtschaft und in der Haushaltsführung, einschließlich der Versorgung der Kinder, wahrnehmen zu können. So fragte zum Beispiel die zusammen mit ihrem Mann wegen Fälschung eines Schuldscheins verurteilte Ehefrau Kraus an, ob sie ihre Strafe zu einem späteren Zeitpunkt absitzen könne, da sie „dem Wochenbette abermals näher“ stünde; außerdem erfragte sie, ob die Eheleute ihre einjährigen Strafen nacheinander absitzen könnten, damit die Wirtschaft und ihre Kinder darunter nicht so leiden.525 Hatte die verurteilte Person ihre Strafe bereits angetreten, so wurde um eine zwischenzeitliche Aussetzung der Strafe gebeten. Diese wurde entweder in Form einer mehrmonatigen Entlassung aus der Haft oder in Form eines regelmäßigen wöchentlichen Ausgangs erbeten – letzteres war offenbar nur bei Gefängnisstrafen möglich, denn für Festungsinsassen und Zuchthäuslerinnen wurde ein Ausgang nicht erfragt. Vor allem in der Landwirtschaft Tätige baten darum, während der Saat- oder Erntezeit aus der Haft entlassen zu werden, um sich um ihre verwaiste Wirtschaft kümmern zu können. Diese Argumentation war so gängig, dass sogar Gutsherrn und Landräte für ihre aufsässigen Untertanen um Strafaussetzung baten, da dies zur Erhaltung der Höfe und zur Bestellung der Felder notwendig sei, so die Argumentation des Landrats v. Alvensleben und des Landrats zu Rohr.526 Ein mehrmonatiger Haftausgang war aber auch der Wunsch vieler Gewerbebetreibender, die saisonbedingt Arbeiten zu erledigen hatten, wie zum Beispiel der Friedrich Wilhelm Nelcke, der als Zimmermann Aufträge nur vom Frühling bis zum Herbst annehmen konnte.527 Von einem regelmäßigen Haftausgang versprachen sich auch einige Verurteilte die – zumindest rudimentäre – Ausübung ihrer Profession aus dem Gefängnis heraus, wie zum Beispiel der Journalist Christian Friedrich Wredow, der auf diese Weise wenigstens soviel zu erarbeiten hoffte, um die Prozesskosten begleichen zu können.528 Aber auch aus anderen Gründen erschien eine Auszeit vom Gefängnis plausibel begründbar: So bat zum Beispiel Georgi aus gesundheitlichen Gründen um einen wöchentlich unbeaufsichtigten Ausgang von mindestens zwei Stunden während seiner achtwöchigen Gefängnisstrafe.529 525 Vgl. zwei Suppliken der Ehefrau Krause für Ehemann und in eigener Sache vom 4. Oktober 1797 und 4. Februar 1798 / Fallakte Ehepaar Krause; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220. 526 Vgl. Supplik des Landrats v. Alvensleben vom 27. Februar 1795 / Fallakte Matthias Bennecke, Andreas Nolop (intus: Kragel u. a.); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240; vgl. Supplik des Landrats zu Rohr vom 3. April 1789 / Fallakte Jacob Teisch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.177, fol. 403 – 404. 527 Vgl. Supplik der Ehefrau Nelcke vom 10. Februar 1787 / Fallakte Friedrich Wilhelm Nelcke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 528 Vgl. immediate und mediate Supplik des Wredow in eigener Sache vom 2. Juli und 4. Juli 1793 / Fallakte Christian Friedrich Wredow; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
m) Deliktspezifische Bitte: Heiratserlaubnis Wie sich bereits bei den oben zitierten Kindsmordfällen gezeigt hat, orientierten sich Gnadenbitten nicht nur am Prozessverfahren bzw. am Strafvollzug, sondern zuweilen auch am Delikt. Bei Adulteria-Fällen liegen zum Beispiel Bitten um eine nachträgliche Heiratserlaubnis vor, mit der Hoffnung, die vor Gericht gezogenen und kriminalisierten Beziehungen nachträglich legalisieren zu können.530 So baten zum Beispiel Christian Pallasch und Johann Christian Spohn, nachdem beide ihre sechsmonatige Strafe wegen Unzucht mit ihren Stieftöchtern abgesessen hatten, um Erlaubnis, diese nun heiraten zu dürfen.531 Auch Georg Henckel versuchte nach seiner Entlassung aus der Festung, die Beziehung zu seiner Stieftochter, aus der bereits zwei gemeinsame Kinder hervorgegangen waren, künftig als Ehe festzuschreiben [s. A.III.4.b)bb) und A.III.3.m)]: Um zu belegen, dass es sich hierbei um eine von seinem sozialen Umfeld tolerierte Beziehung handelte, führte Henckel an, dass er seiner Ehefrau auf dem Sterbebett versprechen musste, seine Stieftochter zu heiraten.532 Als dieses Ersuchen abschlägig beschieden wurde, beschränkte er sich darauf zu bitten, wenigstens Umgang mit seiner Stieftochter und ihren gemeinsamen Kindern pflegen und sie außerdem als Erbin einsetzen zu dürfen.533 Das hartnäckige Festhalten an der Hoffnung, derartige Beziehungen offiziell weiterleben zu können, beweist, dass sich die Betroffenen trotz gravierender Sanktionen die obrigkeitliche Sicht offensichtlich nicht zueigen gemacht hatten und ihre Beziehungen nicht als Unrecht ansehen wollten und konnten. Die Bitte um Heiratserlaubnis kam darüber hinaus auch im Kontext einer lebenslänglichen Leibes- und Freiheitsstrafe vor, um auf diese Weise eine Freilassung herbeizuführen. In seinen drei Suppliken bat David Joachim Burmeister darum, die wegen Kindsmord zu lebenslangem Zuchthaus verurteilte Marie Louise Boltzin heiraten zu dürfen, eine Bitte, der die Qualität einer Begnadigung zukam, da sie Boltzins Freilassung nach nunmehr zehn Jahren Arrest voraussetzte.534 529 Die gesundheitliche Notwendigkeit belegte Georgi mit einem medizinischen Attest – vgl. Supplik des Georgi in eigener Sache vom 29. Januar 1796 nebst Attest als Anlage / Fallakte Georgi; in: GStA PK, I. HA, Rep. 349, Lit. I, Paket 16.203. 530 Zu Unzucht bzw. Inzest vgl. Claudia Jarzebowski, Inzest. Verwandtschaft und Sexualität im 18. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien 2006. 531 Vgl. Supplik des Pallasch vom 9. September 1798 / Fallakte Christian Pallasch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956, fol. 1 – 2 und vgl. Supplik des Stiefvaters Spohn vom 19. Mai 1805 / Fallakte Johann Christian Spohn und Rosina Politzschen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.957; vorherige Unterlagen zu diesem Fall s. Paket 15.956. 532 Vgl. Supplik des Henckel in eigener Sache vom 28. Februar 1798 und vgl. auch vorherige Supplik desselben vom 6. Dezember 1797 / Fallakte Georg Henckel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.957. 533 Vgl. zwei Suppliken des Henckel in eigener Sache vom 10. September 1798 und vom 24. August 1799 / Fallakte Georg Henckel; in: ebd. 534 Vgl. drei Suppliken des David Joachim Burmeister vom 7. November 1790, 14. Februar 1791 und 1. März 1791 / Fallakte Marie Louise Boltzin; in: ebd., fol. 254, 256, 257.
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n) Deliktspezifische Bitte: Wiederherstellung der Ehre Die Ehre war in allen Fällen von Verurteilung berührt. Stellte sich eine Verurteilung nachträglich als Justizirrtum heraus, so war die betroffene Person daran interessiert, dass ihre Ehre wieder hergestellt wurde. So befand zum Beispiel das Gericht den Tischlermeister Damsch für schuldig, dass er seinen Mitmeister Dewitz bewusst fälschlicherweise des Diebstahls beschuldigt, folglich beleidigt hatte, weshalb Damsch gegenüber dem Beleidigten öffentlich Abbitte und eine Ehrenerklärung abgeben musste. Der vom Gericht gegen Damsch erhobene Injuria-Vorwurf wurde allerdings hinfällig, als sich der Diebstahlsverdacht gegenüber Meister Dewitz erhärtete. Somit war Damschs Diebstahlsbeschuldigung keine Beleidigung mehr, sondern entsprach den gerichtlich festgestellten Tatsachen. Daraufhin bat Damsch um Aufhebung des Urteils und offizielle Rücknahme der von ihm geleisteten Abbitte und Ehrenerklärung.535
o) Deliktspezifische Bitte: Strafverschärfung Was sich im Fall Damsch bereits andeutete, traf auf zahlreiche andere InjuriaFälle zu: Ein Gericht war häufig nicht im Stande, bei Streitigkeiten, in deren Verlauf Beleidigungen fielen, den Schuldigen bzw. die Schuldige auszumachen und mit einer von den Betroffenen gerecht empfundenen Strafe zu belegen, da sich in der Regel beide gegnerischen Parteien Beleidigungen haben zuschulden kommen lassen. An den Gnadenbitten ist abzulesen, dass die gerichtliche Lösung selten zur Befriedung des Streites führte, vielmehr wurde die Schuld einer Partei zugesprochen, ohne dass die Mitschuld der anderen Partei Konsequenzen hatte. So erklären sich unter anderem Suppliken, die keine Gnadenbitten sind, sondern in denen – im Gegenteil – um eine Bestrafung oder eine Strafverschärfung für die Gegenpartei gebeten wurde. Eine Strafverschärfung war zum Beispiel das Anliegen der Maschantin, nach deren Meinung ihre Gegnerin, Anna Riebin, nicht ausreichend bestraft worden war.536
p) Bitte um Stundung oder um Niederschlagung der Kosten So wie um Milderung von Haftstrafen gebeten wurde, wurde auch wegen der Niederschlagung der verhängten Geldbuße suppliziert. Dies war zum Beispiel das Anliegen der drei Suppliken von Johann Friedrich Soderer, welcher wegen „liderlichen Mißbrauch“ und Verführung seines ehemaligen Lehrburschen zum Dieb535 Vgl. Supplik des Damsch in eigener Sache vom 10. August 1789 / Fallakte Damsch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 536 Beispielhaft für die Bitte um Strafverschärfung vgl. Supplik der Maschantin in eigener Sache vom 5. Februar 1787 / Fallakte Dorothee Sophie Maschantin (intus: Anna Riebin); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
stahl zu einer solchen verurteilt worden war.537 In diesem Fall war vermutlich weniger die Armut des Verurteilten der Beweggrund zur Supplikation, sondern die Überzeugung, eine ungerechte Strafe erhalten zu haben. Da gerichtlich Verurteilte neben ihrer eigentlichen Strafe in der Regel auch die Prozesskosten übernehmen mussten, sind einige Supplikationen den Prozesskosten gewidmet. An das Justizdepartement wurden daher Bitten entweder um Stundung der ausstehenden Zahlung oder aber um Niederschlagung der Kosten herangetragen. Die Prozesskosten für den Kanzleidiener Johann Gottfried Pietag beliefen sich auf 33 Reichstaler und 22 Groschen, die er binnen 14 Tagen zu zahlen hatte. Pietag bat um Stundung der Zahlung, da er bedingt durch den Verdienstausfall während seiner Inhaftierung in finanziellen Nöten sei, seine Frau zudem an „Schlagfluß“ leide und er diese und seine unmündigen Kinder alleine ernähren müsse.538 Dies überzeugte das Justizdepartement, denn es wies die untergeordnete Behörde an, dem Supplikanten „billige Termine zu setzen“.539 Weitaus häufiger als die Bitte um Stundung kam die weiter reichende Bitte um Niederschlagung der Kosten, die stets mit der Armut der betreffenden Person begründet wurde. Dies war beispielsweise das Argument des Invaliden Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum, der nach Ableisten seiner Freiheitsstrafe um Erlass der Prozesskosten bat.540 Besonders häufig trifft man diese Form der Gnadenbitte bei Injuria-Fällen an, zum einen, da die Prozesskosten im Vergleich zu den kurzen Haftstrafen umso schwerer wogen, zum anderen aber, da der Prozessausgang von einer Partei häufig in Frage gestellt wurde [s. o.]. Wegen Beleidigung des Verlegers und Buchhändlers Petit und Schoene war der Autor Johann Gottfried Bremer zu 14 Tagen Gefängnis nebst Kostenübernahme und einer Geldbuße von 10 Reichstalern verurteilt worden. Da der Prozess seiner Meinung nach einen ungerechten Ausgang genommen hatte, versuchte er, zuerst auf das Urteil einzuwirken; als ihm dies jedoch nicht gelang, bat er in zwei weiteren Suppliken darum, dass wenigstens die ihm auferlegten Kosten niedergeschlagen werden.541
537 Vgl. drei Suppliken des Soderer in eigener Sache bzw. seiner Ehefrau Soderer vom 12. Februar 1788, 9. Februar 1789 und 15. April 1789 / Fallakte Johann Friedrich Soderer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055. 538 Vgl. Supplik des Pietag in eigener Sache vom 12. August 1788 / Fallakte Johann Gottfried Pietag; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 539 Gnadendekret in Form einer Resolution vom 5. September 1788 / Fallakte Johann Gottfried Pietag; in: ebd. 540 Vgl. Supplik des Rosenbaum in eigener Sache vom 15. August 1793 / Fallakte Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 541 Vgl. Suppliken des Bremer in eigener Sache vom 1. Juni und 6. Dezember 1789 / Fallakte Johann Gottfried Bremer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202.
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q) Bitte um Aufhebung der Landesverweisung Wurden Ausländer, also Nicht-Preußen, gerichtlich eines Vergehens überführt, auf das eine Zuchthaus- oder Festungsstrafe stand, so erwartete diese nicht nur das übliche Strafmaß, sondern darüber hinaus auch die Landesverweisung, also der Befehl, nach Ablauf der Haftstrafe das preußische Herrschaftsgebiet zu verlassen und nicht mehr zu betreten. Da sich ausländische Untertanen ihre Existenz in Brandenburg-Preußen mit viel Mühe aufgebaut hatten und mitunter in ihrem Herkunftsland auf keine Unterstützung mehr bauen konnten, waren sie daran interessiert zu bleiben.542 So nahm zum Beispiel Wilhelm Franz v. Barner sein Urteil auf drei Monate Festung klaglos hin, bat dann aber flehentlich um Erlass der Landesverweisung.543 Im Fall eines Gesellenaufstands wurde auch eine Reihe nicht-preußischer Untertanen verurteilt. Anlass zum Supplizieren boten auch hier – mit einer Ausnahme – nicht die Haftstrafen, sondern die Landesverweisung.544 r) Resümee Supplikationen wurden in Brandenburg-Preußen zu jeder Zeit gestellt: noch während des laufenden Gerichtsverfahrens, direkt nach Bekanntgabe des Urteils, kurz vor dem Strafantritt und während der gesamten Dauer des Strafvollzugs bis kurz vor dem Ablauf der Haftdauer. Das Supplikationsverhalten deckt sich mit den allgemeinen Beobachtungen, die in der bisherigen Forschung dazu gemacht wurden.545 Andreas Bauer nimmt an, dass Supplikationen vor dem Prozessauftakt bzw. vor der Urteilsverkündung die Funktion zukam, bei geringfügigen Delikten den Prozess zu vermeiden bzw. das Urteil in der zu erwartenden Form zu verhindern.546 Diese Annahme kann hier allerdings nur bei bestimmten Formen des Gnadebittens nachvollzogen werden, wie etwa bei der Bitte um Abolition, um einen Freispruch oder um den gänzlichen Verzicht auf Strafe, also Bitten, die in den hier untersuchten Supplikationen selten vertreten waren. Die inhaltliche Zielsetzung der Gnadenbitten war abhängig von der jeweiligen Situation. Das Spektrum ist groß: Es reicht von der Abolition des laufenden Pro542 Auch Peter Schuster stellt für die Reichsstadt Konstanz im Spätmittelalter fest, dass eine Verweisung – in diesem Fall aus dem Stadtgebiet – gerade für ärmere Leute ein nicht zu unterschätzendes ökonomisches und soziales Risiko barg – vgl. Schuster 2000, S. 248 f. 543 Vgl. Supplik des v. Barner in eigener Sache vom 1. April 1794 / Fallakte Wilhelm Franz v. Barner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 544 Vgl. zwei Suppliken der Verlobten von Reichert, Louise Schadow, vom 30. Juni 1795 und 28. Juli 1795; Supplik des Bergmüller in eigener Sache vom 20. Juli 1795 und drei Suppliken des Tescher in eigener Sache vom 16. Juni und 3. September und 18. September 1795 und Supplik der Ehefrau Tescher vom 30. Juli 1795 / Fallakte Arnold Bergmüller, Johann Gottfried Tescher, Johann Gottlieb Reichert (intus: Schäfer); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241. 545 Vgl. Rublack 1998, S. 97; vgl. Bauer 1996, S. 116 f., 202. 546 Vgl. Bauer 1996, S. 116 f., 118 – 120, 202.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
zesses, der Bitte um Freispruch und dem Verzicht auf jegliche Strafe, über die Strafverkürzung und verschiedene Varianten der Strafumwandlung sowie einem Aufschub des Strafantritts bzw. eine Aussetzung der Haft, bis hin zur Aufhebung der Landesverweisung und verfahrensimmanenten Aspekten wie der Prozessbeschleunigung und zur Revision bzw. zur Appellation, der Freilassung während der gerichtlichen Untersuchung und dem Erlass der Prozesskosten. Inwieweit der Gnadenträger und seine mit Gnadensachen beauftragten Staatsdiener auf die geäußerten Gnadenbitten eingingen und welche Formen von Begnadigung generell verwehrt und welche unter Umständen gewährt wurden, wird noch Thema sein [s. C.II.1. – 7.]. Vergleicht man das sich in Brandenburg-Preußen abzeichnende Spektrum an Gnadenbitten mit Ergebnissen der bisherigen Forschung zu anderen Herrschaften, so dominieren die Unterschiede. Nadia Covini kommt zum Beispiel zu einem anderen Ergebnis: Der Großteil der Justizsuppliken in der Kanzlei der Sforza Ende des 15. Jahrhunderts wurde nicht etwa – wie hier – nach Beendigung des Prozesses eingereicht, um das rechtskräftige Urteil abzumildern; vielmehr wurde auf einzelne Prozessabschnitte mit Supplikation reagiert, um Aufschübe zu erlangen oder Verfahrensmodalitäten zu ändern.547 In Kurmainz zum Beispiel macht Karl Härter unter den Justizsupplikationen zahlreiche Fälle aus, in denen um Dispense bei strafbewehrten Verboten wie etwa das Trinken und Tanzen gebeten wurde.548 Solche die Policeynormen betreffenden Supplikationen liegen in den untersuchten Akten indes nicht vor, da es sich hierbei um Vorgänge auf zentraler behördlicher Ebene, nicht aber auf lokaler Ebene handelt. Betrachtet man das Supplikationsverhalten in der Kurmark in Bezug auf die inhaltliche Zielsetzung der Gnadenbitten unter taktischen Gesichtspunkten, so fällt auf, dass die Bittsteller und Bittstellerinnen das Instrument der Supplikation äußerst präzise nutzten: Sie stimmten die Gnadenbitten auf ihre Situation während des Gerichtsprozesses, während der Verbüßung der Strafe und auf die gegebenen Haftbedingungen ab und erbaten entsprechende Formen der Begnadigungen. Folglich unterscheidet sich die inhaltliche Zielsetzung der verschiedenen Suppliken, je nachdem, ob noch gegen jemanden ermittelt wurde, ob jemand seit einiger Zeit in Untersuchungsarrest saß oder schon verurteilt worden war oder einen Teil seiner Freiheitsstrafe bereits abgesessen hatte. Dabei setzten die Supplikanten und Supplikantinnen weniger auf das Prinzip Alles-oder-Nichts: So waren umfassende Gnadenbitten – wie zum Beispiel die Bitte um Abolition oder um einen Freispruch –, welche aus obrigkeitlicher Sicht als dreist hätten eingestuft werden können, eher selten. Viele bedienten sich vielmehr der Taktik der kleinen Schritte, um der gewünschten Milderung näher zu kommen: Sie baten zuerst um weniger umfangreiche Begnadigungen, fassten dann allerdings mit weiteren Gnadenbitten nach, falls sie damit Erfolg hatten. 547 548
Vgl. Covini 2005, S. 151. Vgl. Härter 2005, S. 269 – 272.
III. Die Dimension der Praxis
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Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Untertanen gegenüber der Rechtssprechung an Kritik sparten. Wenngleich der Großteil der supplizierenden Männer und Frauen den Schuldspruch akzeptierten, so gab es dennoch viele unter ihnen, die sich über das Gerichtsverfahren beschwerten und auf der Unschuld der angeklagten bzw. verurteilten Person beharrten. Dagegen waren Supplizierende in Kurmainz offensichtlich zurückhaltend mit Kritik an der obrigkeitlichen Strafjustiz.549 Mit Blick auf die Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen kann zumindest festgehalten werden, dass kritischen Supplikanten und Supplikantinnen dies scheinbar nicht zum Nachteil gereichte, denn auch ihnen wurden die vorgetragenen Gnadenbitten mitunter gewährt.
4. Die Zeitläufe des Supplizierens: Zeitpunkte und Häufungen Zu den Grundelementen, welche die Supplikationspraxis charakterisieren, gehört der Faktor Zeit. Die Betrachtung der Zeitläufe unter dem Gesichtspunkt des strategischen Kalküls gibt Aufschluss darüber, auf welche Weise sich die Untertanen und Untertaninnen ihr Recht auf Supplikation aneigneten (i. S. von Alf Lüdtke). Zum einen wird den Zeitpunkten des Supplizierens nachgegangen, wobei konkret nach gesellschaftlichen Anlässen und Festen zu fragen ist, zu denen suppliziert wurde [s. A.III.4.a)]. Zum anderen geht es um die Frage, wie häufig in einem Gnadenfall suppliziert wurde, und welche Strategie von den Supplikanten und Supplikantinnen bei häufigem Supplizieren entwickelt wurde, um dem Verdacht des Querulierens zu entgehen [s. A.III.4.b)]. a) Zeitpunkte Bestimmend für die Zeitläufe des Supplizierens waren – neben dem Ablauf des Gerichtsprozesses und des Strafvollzugs einerseits und den Determinanten, die im familiären wie wirtschaftlichen Bereich der Supplizierenden liegen – auch äußere Anlässe wie etwa bestimmte Festtage. Zweck dieses Kapitels ist es nicht, alle erdenklichen Zeitpunkte, zu denen Supplikationen verfasst wurden, im Einzelnen zu untersuchen. Beabsichtigt ist vielmehr, ein Schlaglicht auf exemplarisch ausgewählte Zeitpunkte zu werfen, zu denen Gnadenbitten vermehrt vorgetragen wurden, um diese nach ihrem taktischen Gehalt zu befragen. aa) Krönung Da das Supplizieren eine Form der Kommunikation zwischen Untertanen und Monarchen bildet, liegt es nahe, nach einem Anlass zu fragen, der für beide Seiten von besonderer Bedeutung war: Einen solchen Zeitpunkt stellt beispielsweise die 549
Vgl. ebd., S. 261.
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Krönung dar. Zeigte sich ein Monarch den Gnadenbitten gegenüber ungnädig, so bestand die Hoffnung, dass sein Nachfolger die Angelegenheit milder bewertete. Dies galt vor allem bei Delikten, welche in ihrer Bewertung von der Haltung des jeweiligen Herrschers zu der Angelegenheit abhängig waren. Mit dem Tod von Friedrich Wilhelm II. war zum Beispiel aus der Sicht der Supplikantin Schoenebeck der Straftatbestand Majestätsbeleidigung im Prinzip hinfällig geworden. Daher bat sie den Thronfolger um Freilassung ihres Ehemanns und ihres Sohnes, die zu diesem Zeitpunkt ohne Gerichtsprozess bereits seit rund zwei Jahren auf der Festung Spandau auf unbestimmte Zeit gefangen gehalten wurden.550 Umgekehrt konnte dem Thronfolger auch der Ruf vorauseilen, ein strengeres Regiment zu führen, bei dem Gnadenakte kaum vorgesehen waren. Vielleicht traute man jenem nicht zu, sich in dem Maße für die Nöte seiner Untertanen einzusetzen, wie es noch sein Vorgänger getan hatte. Letzteres könnte die Befürchtung gewesen sein, die Johann Erich dazu bewegte, an den schwerkranken Friedrich II., dessen Tod zu diesem Zeitpunkt absehbar war, eine letzte Supplik zu richten.551 Erich hatte eventuell durch Mitinhaftierte im Kalandshof erfahren, dass Friedrich II. Beschwerden und Gnadenbitten seiner Untertanen und Untertaninnen wohlwollend entgegen nahm und sich in der Regel selbst Einblick in die Angelegenheit verschaffte [s. A.II.2.]. Vielleicht hoffte Erich auch bloß, dass ein Mensch im Anblick des Todes eher geneigt war, Güte walten zu lassen. Zusammen mit einem neuen Monarchen zog in der Regel ein neues Herrschaftsund Rechtsverständnis ein. Verordnungen, die vom Vorgänger erlassen worden waren, galten teilweise nicht mehr, stattdessen wurde eine Vielzahl neuer Regelungen erlassen. Beim Herrscherwechsel bestand somit für die Untertanen und Untertaninnen eine gewisse Hoffnung, dass den Hinweisen auf angebliche Missstände und ungerechte Behandlung oder auf bisher nicht berücksichtigte mildernde Umstände nachgegangen würde und die Versäumnisse gegebenenfalls korrigiert würden. Außerdem gehörte es zum üblichen Zeremoniell des Regierungsantritts eines Herrschers, umfangreiche Begnadigungen zu gewähren: In Brandenburg-Preußen erließ der neue Herrscher auf dem Thron üblicherweise einen General-Pardon.552 Die Chancen auf Begnadigung standen daher gerade zu Beginn einer Regierungszeit besonders günstig. Der neue Herrscher hatte ein Interesse daran, sich der Loyalität 550 Vgl. Supplik der Ehefrau bzw. Mutter Schoenebeck vom 16. November 1797 / Fallakte Vater und Sohn Schoenebeck; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. B, Paket 15.972. 551 Es zeichnet den Ruf von Friedrich II. aus, dass er die Nähe zu seinen Untertanen suchte und deren Sorgen und Nöte ernst nahm. Vgl. Supplik des Erich in eigener Sache o. D. [ca. Juni / Juli 1786] / Fallakte Johann Erich; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 15.996. 552 Zum General-Pardon anlässlich der Thronbesteigung von Friedrich Wilhelm II. vgl. General-Pardon vom 4. Oktober 1786; abgedruckt in: Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium Praecipue Marchicarum, 8. Bd., Berlin 1791, No LVII, Sp. 189 – 190. Zum General-Pardon anlässlich der Thronbesteigung von Friedrich Wilhelm III. vgl. Klein 1798, 17. Bd., S. 161. Zu einzelnen Gnadenfällen im Rahmen des General-Pardon s. C.II.1., C.II.4. und bes. C.III.2.e).
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seiner Untertanen zu versichern, was ihm umso eher gelang, wenn er sich als gütiger und gerechter Herrscher, der sich der Sorgen seines Volkes annahm, einführte. Zwei Tage, nachdem Friedrich II. gestorben war und Friedrich Wilhelm II. als sein Nachfolger den Thron bestiegen hatte, bat zum Beispiel Maria Elisabeth Juncker um die Loslassung ihres zu lebenslangem Festungsarrest verurteilten Sohnes.553 In ihrer Supplik unterschlug sie, dass es sich bei dem Vergehen ihres Sohnes um Totschlag handelte; sie sprach lediglich davon, dass er das Unglück hatte, – quasi ohne sein Zutun – in eine Schlägerei verwickelt worden zu sein, und seinen Mitgesellen dabei „hart verwundet“ zu haben.554 Ohne der Justiz expressis verbis Ungerechtigkeit vorzuwerfen, impliziert ihre Supplik eben diesen Vorwurf, indem sie die Härte der lebenslangen Festungsstrafe in einen eklatanten Gegensatz zu ihrer Darstellung des Tathergangs rückte. Zum Zeitpunkt des Gesuchs saß ihr Sohn bereits in Spandau. Während der knapp fünf Jahre, die der Mühlenbursche bereits auf der Festung einsaß, hatte bisher niemand eine Supplikation für ihn angestrengt. Als jedoch der Regierungswechsel kam, hielt die Mutter dies für einen günstigen Zeitpunkt, eine Begnadigung für ihren Sohn zu erwirken. Auch wenn man davon ausgehen muss, dass der Großteil der Supplikationen durch persönliche Umstände der betroffenen Personen begründet war, so machten die Untertanen und Untertaninnen ihr Supplikationsverhalten teilweise von der Person des Monarchen abhängig. Betrachtet man zum Beispiel das Supplikationsverhalten gegenüber Friedrich Wilhelm II. einerseits und dessen Nachfolger, Friedrich Wilhelm III.555, andererseits, so ergibt sich tatsächlich ein unterschiedliches Bild: Anlässlich der Thronbesteigung von Friedrich Wilhelm II. am 17. August 1786 ist kein auffälliger Anstieg der Supplikationen zu verzeichnen, während zum Regierungsantritt seines Nachfolgers am 16. November 1797 auffallend häufig suppliziert wurde. Zum Beispiel führte der Vater Schäfer, ein Untertan des Fürsten-tums Hildesheim, die Thronbesteigung von Friedrich Wilhelm III. explizit als Anlass seiner Gnadenbitte an: „Wie man auch im Auslande hört, so verherrlichen Eure Königliche Mejstät Ihren Regierungs-Antritt durch Ausübung von Gnade und Gerechtigkeit. Auf beyde darf daher auch ich gebeugter Greis mit fester Zuversicht Anspruch machen.“556 553 Dass das Datum für die Supplikation zufällig zustande kam, kann insofern ausgeschlossen werden, als sich die Nachricht vom Tod des „Alten Fritz“ wie ein Lauffeuer im Land verbreitete – vgl. Supplik der Mutter Juncker vom 19. August 1786 / Fallakte Christian Juncker; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.181, o. Fol. 554 Supplik der Mutter Juncker vom 19. August 1786 / Fallakte Christian Juncker; in: ebd. 555 Zwar steht die Regierungszeit von Friedrich Wilhelm II. in dieser Studie prinzipiell im Vordergrund, doch da bei den untersuchten Gnadenfällen der gesamte Supplikationsverlauf in den Blick genommen wurde, gibt es auch einige Beispiele zur Gnadenpraxis sowohl von Friedrich II. als auch von Friedrich Wilhelm III. 556 Supplik des Vaters Schäfer vom 26. November 1797 und vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte vom 18. Dezember 1797 / Fallakte Heinrich Schäfer (intus: Tescher, Bergmüller, Reichert); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241.
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Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Eltern des Verurteilten Heinrich Schäfer mit ihren beiden Gnadenbitten an Friedrich Wilhelm II. nicht den erwünschten Erfolg erzielt.557 Nun bestand die Möglichkeit, dass der Nachfolger auf dem preußischen Thron milder gestimmt sein könnte. Genährt wurde die Hoffnung der Schäfers durch die Nachricht, die offenbar bis ins Ausland gedrungen war, dass Friedrich Wilhelm III. anlässlich seiner Thronbesteigung etliche Gnadenakte zu erlassen bereit war [s. A.II.4.]. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb Supplikanten und Supplikantinnen vermehrt bei diesem Regierungswechsel zur Feder griffen, während sie sich bei dessen Vorgänger zurückgehalten hatten, da man von Friedrich Wilhelm II. keine vergleichsweise großzügige Gnadenpraxis erwartet hatte. So auch Dorothea Reinicken: Bei Friedrich Wilhelm II. hatte sie für ihre zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilte Tochter keine Gnade gefunden, nun nahm auch sie den Regierungsantritt des Thronfolgers am darauf folgenden Tag zum Anlass einer erneuten Supplikation.558 Auch Johann George Hannemann wandte sich wenige Tage nach der Beisetzung von Friedrich Wilhelm II. hoffnungsvoll an den Thronerben.559 Sowohl Hannemann, Reinicken als auch Schäfer wurden jedoch abschlägig beschieden, vermutlich aus dem Grund, weil den drei Verurteilten bereits unter Friedrich Wilhelm II. eine Milderung zugestanden wurde, und die Devise galt, den Delinquenten darüber hinaus keine weiteren Milderungen zuzugestehen.560
557 Vgl. Dekrete über abgelehnte Gnadenbitte vom 17. Juli 1797 und 17. August 1795 und vgl. Suppliken der Mutter und des Vaters Schäfer vom 14. August 1795 und o. D. [ca. 7. Juli 1797] / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd. 558 Vgl. Supplik der Mutter Reinicken vom 17. November 1797 und vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 27. November 1797 / Fallakte Dorothee Friederike Reinicken; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 233 f. 559 Vgl. Supplik des Hannemann in eigener Sache vom 28. Dezember 1797 und vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form eines Marginaldekrets o. D. auf der Supplik (Dekret in Form einer Resolution fehlt) / Fallakte Johann George Hannemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.219, fol. 25. 560 So wurde Hannemann auf seine frühere Supplikation hin die Umwandlung der gerichtlich erkannten einjährigen Festungsstrafe in eine Gefängnisstrafe gewährt [s. C.III.5.] – vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 25. Januar 1796 / Fallakte Johann George Hannemann; in: ebd., fol. 16. Dorothee Friederike Reinicken hatte im Rahmen der Urteilsbestätigung statt der vom Gericht beantragten lebenslangen lediglich eine zehnjährige Zuchthausstrafe erhalten, was in gewisser Weise die Qualität einer Begnadigung hatte – vgl. Rechtsgutachten o. D. [22. Februar 1790] und vgl. Urteilsbestätigung vom 28. Mai 1790 / Fallakte Dorothee Friederike Reinicken; in: ebd., fol. 201 – 222, 223 f. Heinrich Schäfer hatte zuvor aus gesundheitlichen Gründen einen Aufschub für die Auspeitschung erhalten, zu der er neben der lebenslangen Festungsarbeit verurteilt worden war [s. C.III.6.] – vgl. Weisung an die Stadtgerichte vom 31. August 1795 / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd.
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bb) Jahrestag der Krönung Bot der Tag, an dem der Regierungswechsel vollzogen wurde, einen günstigen Zeitpunkt zu supplizieren, so bestand ein anderer im Jahrestag der Thronbesteigung. Zum Beispiel supplizierte der Kanzleidiener Pietag wenige Tage, bevor sich die Regierungszeit von Friedrich Wilhelm II. jährte.561 Die Eheleute Moeller sandten gleich zwei Suppliken zum fünfjährigen Regierungsjubiläum ein; der Verurteilte Rosenbaum nutzte das siebenjährige Jubiläum; der Delinquent Henckel schrieb taggenau zum Elfjährigen; und der Supplikant August v. Linckersdorff setzte drei Tage nach diesem denkwürdigen Tag eine Gnadenbitte für seine Mutter und seine Schwester auf.562 cc) Huldigungstag Ein vergleichbarer Gedenktag wie der der Thronbesteigung war der Huldigungstag, an dem die Untertanen ihren Treueeid auf den Herrscher ablegten: Als Friedrich Wilhelm III. diesen am 6. Juli 1798 beging, nahm dies Elisabeth Kleinecke zum Anlass, ihre Gnadenbitte vorzutragen: „An dem heutigen festlichem Huldigungs-Tage, waget eine arme, eines Verbrechens zweifacher Ehe angeklagte Frau eine allerdemütigste Bitte ( . . . ).“563
Das paternalistische Herrschaftsverständnis forderte von den Untertanen und Untertaninnen Gehorsam und Treue, während es vom Monarchen verlangte, jene vor Unbill und Ungerechtigkeit zu schützen. Gnade als zentrale Herrschertugend sollte dabei, idealtypisch gesehen, die Herrschaftspraxis prägen. An diese Zweiseitigkeit des Herrschaftsverhältnisses zwischen Untertanen und Monarch wollte Kleinecke anlässlich des Huldigungstages erinnern. dd) Geburtstag des Herrschers Der Geburtstag des Herrschers war ebenfalls ein Festtag, an dem dieser Huldigungen seiner Untertanen entgegennahm. Gemäß der Tradition der zweiseitigen 561 Vgl. Supplik des Pietag in eigener Sache vom 12. August 1788 / Fallakte Johann Gottfried Pietag; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 562 Vgl. Supplik des Moeller in eigener Sache vom 18. August 1791 und vgl. Supplik der Moeller in eigener Sache und für Ehemann vom 21. August 1791 / Fallakte Eheleute Moeller; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217; vgl. Supplik des Rosenbaum in eigener Sache vom 15. August 1793 / Fallakte Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218; vgl. Supplik des Henckel in eigener Sache vom 17. August 1797 / Fallakte Georg Henckel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.957 und vgl. Supplik des Sohnes und Bruders August v. Linckersdorff (gerichtet an den Großkanzler) vom 20. August 1797 / Fallakte Mutter und Tochter v. Linckersdorff; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. B, Paket 15.972. 563 Supplik der Kleinecke vom 6. Juli 1798 / Fallakte Elisabeth Kleinecke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956.
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Verpflichtung beglich der Monarch die Huldigungen im Gegenzug mit symbolischen Zeichen seiner Herrschaft. Folglich stellte dieser Tag ebenfalls einen günstigen Zeitpunkt für eine Supplikation dar.564 Am 25. September, dem Geburtstag von Friedrich Wilhelm II., bat beispielsweise der Hausvogtei-Inspektor Gade um Gnade: „Ich wage es am herrlichsten Tage der Geburth Ewrer Majestaet, welchem Heute Höchst Dero Unterthanen so erfreuet, so heiligst feiren, eben Heute mein Flehen, biß zum fuß des Thrones Ewrer Majestaet zu erheben.“565
Auf diesen Anlass rekurrierte auch die Supplikantin Valentin bei der zehnten Gnadenbitte für ihren Ehemann, als sie bat: „( . . . ) mir meinen Mann und meinen Vier unerzogenen Kindern ihren Vater ( . . . ) an diesem Tage wieder zu schencken.“566
Hinter der Demutshaltung der Supplikanten und Supplikantinnen stand das Bewusstsein, dass der Monarch ihnen etwas schuldig war. Nicht, dass sie ein Anrecht auf Begnadigung gehabt hätten, sie beharrten aber darauf, dass der Monarch sie anhörte. Und da dieser Tag im Zeichen der Freude und Güte stand, war die Hoffnung unter den Supplizierenden groß, den Monarchen in einer gnädigen Stimmung anzutreffen. An diesem Festtag supplizierte auch Vater Hanses „Voll Vertrauens auf Eure Königliche Majestät Gnade“.567 Andere wollten sicher gehen, dass ihre Suppliken dem Monarchen pünktlich zu seinem Geburtstag vorgetragen würden und setzten sie daher kurz zuvor auf, wie zum Beispiel die Mutter Villain oder der Sohn Langermann.568 Wiederum andere wurden vermutlich erst durch die Feierlichkeiten anlässlich des königlichen Geburtstages dazu inspiriert, eine Supplikation anzustrengen, und so reichten sie ihre Schreiben kurz darauf ein.569 564 Zum Geburtstag von Friedrich II. am 24. Januar vgl. beispielhaft Supplik des Ritter in eigener Sache vom 25. Januar 1786 / Fallakte Johann Friedrich Ritter; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217 und zum Geburtstag von Kronprinz Friedrich Wilhelm am 15. Oktober vgl. beispielhaft Supplik des Vaters Hanses vom 12. Oktober 1795 / Fallakte Friederike Charlotte Hanses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 209. 565 Supplik des Hausvogtei-Inspektors Gade vom 25. September 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 66. 566 Supplik der Ehefrau Valentin vom 24. September 1788 / Fallakte Friedrich Valentin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. Vorsorglich hatte die Supplikantin das Schreiben bereits einen Tag vor dem Geburtstag aufsetzen lassen. 567 Mediat- und Immediatsupplik des Vaters Hanses vom 25. September 1794 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 205. Dass Hanses hierbei strategisch vorging, legt die Wahl der Termine für seine übrigen Suppliken nahe. 568 Vgl. Supplik der Mutter Villain vom 24. September 1790 / Fallakte Anna Dorothea Villain; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 166; vgl. Supplik des Sohnes Langermann in eigener Sache vom 22. September 1794 / Fallakte Mutter und Sohn Christoph Friedrich Langermann (intus: Pinckow); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 569 Vgl. Supplik der Steuern in eigener Sache vom 26. September 1787 / Fallakte Steuern; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202; vgl. Supplik des Oberstleutnants v. Brieze
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ee) Geburt eines Thronerben Auch andere familiäre Feiern im Haus der Hohenzollern, wie etwa die Geburt eines Thronerben, waren ein Politikum und wurden von der Bevölkerung aufmerksam verfolgt. Rund zwei Monate nach der Geburt des Sohnes von Friedrich Wilhelm II. schrieb der Supplikant Hanses an den Monarchen, um für seine wegen Kindsmordverdacht verurteilte Tochter um Gnade zu bitten. In seiner Supplik nahm Hanses Bezug auf die Geburt des Kronprinzen Friedrich Wilhelm: „An dem Tage, welcher Eure Königliche Majestät zum glüklichsten Vater macht, erlauben Allerhöchst Dieselben einem unglüklichen Greis, sich dem Throne seines allergnädigsten Beherrschers zu nahen, und um einen Augenblick Gehör allerunterthänigst zu bitten. – O mein allertheuerster König! das Gefühl der Vaterfreuden gehört ohne Zweifel zur höchsten menschlichen Glükseligkeit und diese muß ich Unglücklicher entbehren ( . . . ).“570
Der Arenga-artige Beginn der Supplik schafft eine dichte Atmosphäre voller Intimität [s. A.III.2.b)]: Die Worte des greisen Untertanen sollten auf den Adressaten unmittelbar wie ein Gespräch unter vier Augen wirken, in dem das gemeinsame Empfinden zweier Väter heraufbeschworen wird. Der Supplikant versucht, auf diese Weise die soziale Diskrepanz zwischen dem Untertanen und dem Monarchen zu überspielen. Als Bindeglied fungiert die Vaterschaft als eine allgemeinmenschliche Erfahrungs- und Gefühlswelt. Was auf den ersten Blick ausschweifend erscheint, ist taktisch geschickt, und führt bereits mit dem letzten Halbsatz in medias res des Begehrs, nämlich zu dem Umstand, dass der betagte Vater nun auf die Unterstützung seiner Tochter verzichten musste, weil sie im Zuchthaus einsaß. Das Vaterschaftsmotiv beschwor Hanses zwei Jahre darauf ein weiteres Mal, indem er seine Supplik zum zweiten Geburtstag des Kronprinzen einreichte.571 ff) Rückkehr aus dem Krieg Nicht nur Hanses appellierte an die väterlichen Gefühle; auch andere Supplikanten und Supplikantinnen sprachen den Monarchen auf diese Weise an, allerdings nicht nur im Sinne eines biologischen Vaters, sondern auch als Landesvater. vom 26. September 1787 / Fallakte Christian Juncker; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.181, o. Fol.; vgl. mündlich vorgetragene Supplik des Kohlmorgen in eigener Sache vom 26. September 1788 / Fallakte Hans Kohlmorgen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 554; vgl. Supplik der Ehefrau bzw. Mutter Schoenebeck vom 28. September 1797 / Fallakte Vater und Sohn Schoenebeck; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. B, Paket 15.972. Zu dieser Zeit, rund zwei Monate vor seinem Tode, lag Friedrich Wilhelm II. bereits schwerkrank danieder. So sollte vielleicht mit dieser Supplikation nicht nur an seine Güte anlässlich seines Geburtstages, sondern an den Schwerkranken im Angesicht des Todes appelliert werden. 570 Supplik des Vaters Hanses vom 22. Dezember 1793 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 202. 571 Vgl. Supplik des Vaters Hanses vom 12. Oktober 1795 / Fallakte Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 209.
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Zum Beispiel begann die Schwester Wussow die Supplik für ihren Bruder mit den Worten: „Alles freut sich über Eure Königliche Majestät Hiersein! Und welches gute Kinde sieht nicht den geliebtesten und immer wohlmeinenden Vater gern?“572
Wussow tat ihre Freude darüber kund, dass Friedrich Wilhelm II. nach dem Ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich in die heimischen Residenzen zurückgekehrt war. Sie wollte dem Landesvater damit schmeicheln, dass man als loyale Untertanin nicht nur stets im Bilde war, wo sich der Herrscher aufhielt, sondern dass man sich vor allem über sein Wohlergehen sorgte und sich daher freute, ihn wohlbehalten von einem Kriegszug zu Hause willkommenheißen zu können. Was Wussows rhetorische Frage anbelangt, so meinte sie zum einen das Verhältnis der Landeskinder zum Landesvater. Zum anderen ist der Rekurs auf den Vater doppeldeutig zu verstehen, da sich die Supplikantin auch auf die drei Wochen zurückliegende Geburt des Thronerben bezog. Wussow versuchte damit, das väterliche Fürsorgegefühl, welches Friedrich Wilhelm als Vater eines lang ersehnten Thronerben vermutlich empfand, auf die Sorgen und Nöte seiner Untertanen, speziell die ihres Bruders, zu lenken. gg) Religiöse Feste Neben Feierlichkeiten, die sich auf die Person des Monarchen beziehen, können theoretisch auch religiöse Feste einen Anlass zur Supplikation bieten. In den vorliegenden Quellen finden sich jedoch keine Suppliken, die explizit auf religiöse Feste, nicht einmal auf den Reformationstag, Bezug nehmen. Aus der Sicht der Supplikanten und Supplikantinnen eigneten sich solche Feiertage offenbar nicht dafür, persönliche Anliegen vorzubringen. Einzige Ausnahme bildet Weihnachten, das Fest der Liebe. Die Supplizierenden hofften vermutlich, von der Gnade zu partizipieren, welche nach christlichem Verständnis den Menschen durch Christi Geburt zuteil wurde. Hinzu kommt, dass Weihnachten kurz vor der Jahreswende liegt, der ebenfalls eine symbolische Bedeutung zukommt, steht doch das Neue Jahr für einen Neuanfang. Aus der Sicht der supplizierenden Männer und Frauen stellte der Jahreswechsel vermutlich einen idealen Zeitpunkt dar, um ein neues Leben in Freiheit mit guten Vorsätzen nach der langen Zeit im Kerker anzufangen. Kurz vor den Festlichkeiten am 25. Dezember reichten vermehrt Supplikanten und Supplikantinnen ihre Gnadenbitten ein: So zum Beispiel die beiden Stadtgerichtsschreiber Hintze und Nicksen, die jeweils in eigener Sache um Strafmilderung baten, aber auch die Ehefrau des Bürgermeisters zu Werder, die für ihren Sohn um Begnadigung bat, und der oben zitierte Inspektor Hanses, der in zwei aufeinander folgenden Jahren kurz vor dem Weihnachtsfest um die Begnadigung 572 Supplik der Schwester Wussow vom 8. November 1793 / Fallakte Ernst Friedrich Wussow; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217.
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seiner Tochter bat.573 Unter ihnen befanden sich einige Kenner in Sachen Supplizieren, was als Indiz für den taktisch gewählten Zeitpunkt der Supplikation zu werten ist. hh) Resümee Ein Ergebnis ist, dass Supplikationen mitunter auch im Hinblick auf die Wahl ihres Zeitpunkts – neben Erwägungen, die sich aus dem Prozessverfahren und dem Strafvollzug oder aber aus familiären wie wirtschaftlichen Situationen ergaben – taktischen Erwägungen gehorchten. Dabei hat sich gezeigt, dass religiöse Feste aus der Sicht der Untertanen offenbar weniger geeignet waren, der Obrigkeit persönliche Anliegen vorzutragen. Vielmehr wählten die Supplizierenden Anlässe, welche die Beziehung zwischen Herrscher und Untertan prägten, wie beispielsweise die Krönung, den Huldigungstag, den Geburtstag des Monarchen, die Geburt eines Thronfolgers oder die Rückkehr aus dem Krieg. Setzt man aber diesen Befund in Bezug zur Gesamtheit aller Supplikationen, so ergibt sich, dass ein äußerer Anlass bei schätzungsweise nur fünf Prozent aller Supplikationen auszumachen ist. Ein wesentliches Ergebnis dieser Untersuchung ist daher, dass der Zeitpunkt zum Supplizieren in erster Linie vom fallspezifischen Ablauf der gerichtlichen Untersuchung, des Gerichtsprozesses und des Strafvollzugs sowie von der Befindlichkeit der betroffenen Personen und ihren familiären und wirtschaftlichen Verhältnissen abhängig war. Es kann festgehalten werden, dass die fallspezifischen Rahmenbedingungen die Zeitläufe des Supplizierens stärker bestimmten als die äußeren Anlässe.
b) Häufungen aa) Die Quote des Gnadenbittens Aus den vorliegenden Quellen ergibt sich ein Verhältnis zwischen 318 Gnadenfällen und 665 Gnadenbitten.574 Dies bedeutet, dass ungeachtet der supplizieren573 Vgl. Supplik des Hintze in eigener Sache vom 22. Dezember 1786 / Fallakte Hintze; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 6; vgl. Supplik des Nicksen in eigener Sache vom 22. Dezember 1791 / Fallakte Johann Wilhelm Nicksen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217; vgl. Supplik der Mutter Schoenemann vom 21. Dezember 1787 / Fallakte Ferdinand Ludewig Schoenemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 22 – 23; vgl. Suppliken des Vater Hanses vom 22. Dezember 1793 und 17. Dezember 1794 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 202, 207. 574 Die rechnerische Grundlage für die Untersuchung der Quote des Gnadenbittens bildet die Anzahl der Gnadenbitten (abzüglich der 21 Fürsprachen aus dem Justizapparat), nicht aber die Gesamtzahl an Suppliken, also der physisch in den Akten liegenden Schreiben (insg. 611 Suppliken, inklusive der 21 Fürsprachen), denn in einer Supplik wurde mitunter für mehrere Personen um Gnade gebeten, die hier einzeln gezählt werden.
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den Personen im Durchschnitt 2,1 Gnadenbitten pro Gnadenfall, also pro angeklagte bzw. verurteilte Person, eingereicht wurden. Bei der Bewertung dieses Ergebnisses ist der rechtliche Rahmen des Supplikations- und Justizwesens zu berücksichtigen. Friedrich Wilhelm II. führte einen so genannten dreistufigen Instanzenzug auf mittlerer, zentraler und immediater Ebene für Justizsupplikationen ein [s. A.II.3.].575 Da die hier untersuchten Akten das Handeln des Justizdepartements, also einer auf der zentralen Ebene angesiedelten Behörde, widerspiegeln, werden darin nicht alle drei, sondern lediglich die beiden letzten Supplikationsinstanzen dokumentiert. Mit Blick auf den so genannten Instanzenzug bedeutet dies, dass pro Gnadenfall zwei aufeinander folgende Supplikationen, die beim Justizdepartement als mediater und immediater Gnadenvorgang bearbeitet wurden, den Vorschriften entsprachen. Bereits ab der dritten Gnadenbitte liefen die Supplizierenden theoretisch Gefahr, von der Obrigkeit als Querulanten belangt werden zu können. Denn nach den Gesetzen und Verordnungen setzten sich Supplikanten und Supplikantinnen unweigerlich dem Verdacht des unter Strafe gestellten Querulierens aus, wenn sie ihre Gnadenbitten ständig wiederholten und sich nach den ergangenen Resolutionen nicht beruhigen konnten.576 Die erklärte Absicht der Obrigkeit bestand darin, zu unterbinden, dass eine bereits immediat beschiedene Gnadenbitte immer wieder aufs Neue an den Monarchen herangetragen wurde. Statistisch betrachtet, brachte die Mehrheit der Supplikanten und Supplikantinnen zwei Gnadenbitten ein. Rein rechnerisch gesehen, gab es nur relativ wenige Supplikanten und Supplikantinnen, die eine dritte Gnadenbitte einreichten (rund 0,1 Prozent). Angesichts der Vorgaben zum Supplizieren und der oftmals ausgesprochenen Warnung vor dem Querulieren scheint sich die niedrige Quote von selbst zu erklären. Die absoluten Zahlen erweisen sich jedoch als irreführend, wenn man den Blick auf die Einzelfälle lenkt und diese nach der Häufigkeit von Gnadenbitten klassifiziert: Der Großteil der Supplikanten und Supplikantinnen – rund 58,2 Prozent der Gnadenfälle – begnügte sich tatsächlich mit der Eingabe einer einzigen Gnadenbitte (185 Gnadenfälle).577 Der erste Eindruck, dass die Mehrheit der Supplikanten und Supplikantinnen im Durchschnitt zweimal supplizierte, relativiert sich dahingehend, dass zwei Gnadenbitten pro Gnadenfall in nur rund 19,2 Prozent der Gna575 Vgl. Deklaration vom 24. Juni 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXI, Sp. 1487 – 1490, s. bes. Sp. 1487 f. und vgl. Publikandum vom 12. Juli 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXV, Sp. 1497 – 1508, s. bes. §§ 2 – 4, Sp. 1499 f. und vgl. III 1 § 13 AGO. 576 Vgl. Deklaration vom 24. Juni 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXI, Sp. 1487 – 1490 und vgl. §§ 2, 3, 4, 5, 11, 12, 15 Publikandum vom 12. Juli 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXV, Sp. 1499 – 1503 und vgl. III 1 §§ 13, 14, 15 AGO. 577 Für diese Rechnung wurden die auf eine Person entfallenden Gnadenbitten gezählt, unabhängig vom Absender. Da bei diesem Aspekt die konkrete Person, für die um Gnade gebeten wurde, von Interesse ist, kommt es gelegentlich zu Mehrfachzählungen einzelner Suppliken, wenn in ihnen Gnadenbitten für mehrere Personen formuliert sind.
III. Die Dimension der Praxis
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denfälle (61 Gnadenfälle) eingereicht wurden. Rund 22,7 Prozent der Gnadenfälle weisen dagegen drei und mehr Gnadenbitten auf: In rund 7,9 Prozent der Fälle (25 Gnadenfälle) wurden drei Bitten, in rund 6,3 Prozent der Fälle (20 Gnadenfälle) sogar vier Bitten je Person vorgebracht und zu rund 3,8 Prozent finden sich in den Akten fünf Bitten (12 Gnadenfälle) je Gnadenfall. Bei den übrigen rund 4,7 Prozent der Fälle reicht die Spanne von sechs bis zu zwanzig Gnadenbitten, wobei Fälle ab neun Gnadenbitten aufwärts nur noch vereinzelt vorkommen.578 Ein Vergleich mit der Supplikationspraxis in anderen Territorien steht noch aus, da dieser Aspekt noch nicht systematisch ausgewertet wurde.579 Aus dieser Beobachtung folgt, dass bei rund 77,4 Prozent der Gnadenfälle die so genannten Supplikationsinstanzen eingehalten wurden. In fast einem Viertel der Gnadenfälle (rund 22,7 Prozent) wurde die normative Vorgabe insofern ignoriert, als die Fürbitte auf der zentralen Behördenebene über die von der Obrigkeit zugestandenen zwei Supplikationen hinaus betrieben wurde. Der Befund zur Häufung von Supplikationen in einem Gnadenfall muss allerdings dahingehend relativiert werden, dass er sich ausschließlich auf die Anzahl der Gnadenbitten pro angeklagte bzw. verurteilte Person, für die suppliziert wurde, bezieht und dabei variierende inhaltliche Zielsetzungen der Gnadenbitten [s. A.III.3.] und die unterschiedliche Identität der Supplizierenden [s. B.I.1. – 10.] außer Acht lässt.580 Es ist festzuhalten, dass mit rund 58,2 Prozent mehr als die Hälfte der Supplikanten und Supplikantinnen mit nur einer einzigen Supplikation eine Begnadigung zu erhalten versuchten. Dies bedeutet, dass sie sich mit einer Resolution von Seiten des Justizdepartements begnügten, auf einen immediaten Gnadenentscheid aber verzichteten. Ein Stück weit erklärt sich diese Zurückhaltung dadurch, dass der 578 Die 4,7 Prozent verteilen sich folgendermaßen: 6 Gnadenbitten in drei Gnadenfällen, 7 Gnadenbitten in vier Gnadenfällen, 8 Gnadenbitten in drei Gnadenfällen, 11 Gnadenbitten in einem Gnadenfall, 12 Gnadenbitten in zwei Gnadenfällen, 16 Gnadenbitten in einem Gnadenfall und 20 Gnadenbitten ebenfalls in einem Gnadenfall. 579 Einzig in einem Fallbeispiel aus Osnabrück wird die Anzahl der Suppliken pro Supplikant (der mit wenigen Ausnahmen mit der angeklagten bzw. verurteilten Person identisch ist) angegeben: Dort liegt die Bandbreite bei einer Supplik bis zu zwölf Suppliken. Harriet Rudolph macht die Häufigkeit des Supplizierens am sozialen Status des Supplikanten fest: Je wohlhabender ein Betroffener desto eher war dieser mit dem Recht vertraut und desto größer war die materielle Verhandlungsmasse, die beim Aushandeln der Strafe eingebracht werden konnte – vgl. Rudolph 2005, S. 432. Diese These kann für Brandenburg-Preußen indes nicht bestätigt werden, da gerade auch unvermögende Untertanen häufig supplizierten. 580 Auf eine statistische Auswertung der Gnadenbitten, die alle drei Faktoren verkoppelt, muss hier verzichtet werden, da die Ergebnisse derart vielschichtig und kleinteilig ausfallen würden, dass ihnen keine Repräsentativität mehr zugesprochen werden könnte: So würde der Faktor Anzahl der Gnadenbitten, die für eine angeklagte bzw. verurteilte Person eingereicht wurden, im Zusammenhang mit der Frage nach den inhaltlichen Zielsetzungen der Gnadenbitten eine 25-stufige Klassifizierung [s. A.III.3.] und die Frage nach den Absendern eine 24-stufige geschlechts-, alters- und abstammungsspezifische Klassifizierung der Supplikanten und Supplikantinnen [s. B.I.1. – 10.] erfordern. Vor diesem Hintergrund wird an dieser Stelle die exemplarische Betrachtung der Einzelfälle einer statistischen Auswertung vorgezogen.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
Großteil der Einzel-Supplikationen in Fällen zu finden ist, die sich durch relative Geringfügigkeit des Vergehens und durch eine entsprechend kurze Haftstrafe auszeichnen. Die Verurteilten wären bereits wieder auf freiem Fuß gewesen, bevor eine zweite Supplikation überhaupt hätte greifen können.581 Über weitere Beweggründe, es bei einer Supplikation zu belassen, kann lediglich spekuliert werden: Bei einigen Fällen ist anzunehmen, dass die Supplikanten und Supplikantinnen der Gewährung ihrer Gnadenbitten keine große Chance gaben, da die Schuld an dem Vergehen gerichtlich bewiesen war und das Verhalten des Delinquenten keine mildernden Umstände zuließ. Sie machten sich aber vielleicht auch deshalb keine Hoffnung, weil sie davon ausgingen, dass das königliche Dekret nicht anders ausfallen würde als der Gnadenentscheid des Justizdepartements, zumal der Monarch in seiner Entscheidung durch den Justizminister beraten wurde [s. C.I.1.e), C.II.1. – 7.]. Möglich ist auch, dass die supplizierenden Männer und Frauen neben der erbetenen Begnadigung eine weitergehende Absicht verfolgten, die mit einem einmaligen Gnadenbitten bereits als erreicht betrachtet werde konnte – zum Beispiel, dass man mit einer Supplik der angeklagten bzw. verurteilten Person symbolisch ein Zeichen der Unterstützung gab – und dafür genügte eine einzelne Supplikation. Was die Mehrfach-Supplikationen angeht, so stellt sich die Frage, warum die Supplizierenden die Mühe und teilweise auch die Kosten für mehrere Verfahren auf sich nahmen. Immerhin wurden in rund 22,7 Prozent der Gnadenfälle drei und mehr Supplikationen eingereicht. Die Ausweglosigkeit ihrer Lage und die Dauer der Haftstrafe führten in einigen Fällen offenbar dazu, dass sich die Supplikanten und Supplikantinnen von einem ablehnenden Dekret nicht entmutigen ließen, vielmehr setzten sie – anders als die Absender von Einzel-Supplikationen – darauf, dass ihre nächste Gnadenbitte von der übergeordneten Behörde bzw. vom Monarchen anders als von der vorherigen Stelle entschieden wurde. Dieterich Stapelfeld zum Beispiel beschwerte sich über die ungerechte Behandlung und Vorverurteilung durch den Justizvertreter, der im Auftrag des Gerichts die Angelegenheit vor Ort ermittelte. 582 Da das Gerichtsurteil nach seiner Meinung parteiisch ausfiel, flüchtete Stapelfeld vor der Strafe ins Ausland und bekannte, dass er sich „zu Ausstehung der erkandten Straffe nicht verstehen konnte[,] da mir solche ungemein hart und wiederrechtlich zu seyn schien.“583 Stapelfeld stand mit seinem Misstrauen gegenüber der Justiz nicht alleine da. Aus zahlreichen Suppliken geht her581 Der Großteil singulärer Supplikationen findet sich beispielsweise in Deliktgruppen wie Diebstahl (hier die minderschweren Fälle), Injuria oder Schlägerei. 582 Stapelfelds Ehefrau deutete ihre Befürchtung über eine Vorverurteilung durch den Justizbeamten an: „Der Justizbeamte Schönemark welcher gegen denselben [Dieterich Stapelfeld] einen unverdienten Persönlichen Haß hatte, begegnete ihm bey allen seinen Justizverhandlungen mit den ungerechtesten Schimpfwörtern und bedrohte ihn[,] er wolle ihm gäntzlich Ruinieren und ihn um die Colonie bringen.“ – Supplik der Ehefrau Stapelfeld vom 13. Dezember 1783 / Fallakte Dieterich Stapelfeld; in: ebd. 583 Supplik des Stapelfeld vom 2. November 1784 / Fallakte Dieterich Stapelfeld; in: ebd.
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vor, dass ihre Absender die Verlässlichkeit der Staatsdiener, das Anliegen der Untertanen zügig und unparteiisch zu prüfen, in Frage stellten. Sie rechneten damit, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Begnadigung höher lag, wenn ihre Beschwerden dem Monarchen zu Ohren kamen. Diese Erfahrung hatten einzelne Supplikanten und Supplikantinnen eventuell mit Friedrich II. gemacht, der dafür bekannt war, Beschwerden gegenüber seinen Staatsdienern zu ahnden. Letztlich mag im Falle ständiger Wiederholung der Gnadenbitten auch ein eher intuitiver Beweggrund eine Rolle gespielt haben: der Faktor gefühlte Zeit bei entsprechendem Leidensdruck. Für jemanden, der unter einer als unhaltbar empfundenen Situation leidet, vergeht die Zeit sehr viel langsamer, als wenn man frei von Leid ist. Die Supplik des Johann Gotthilf Schulze verdeutlicht, wie sehr die Verhaftung seiner Ehefrau von der zurückgebliebenen Familie als Ausnahmesituation erlebt wurde: „( . . . ) ich lebe in dieser Sache so[,] als wenn ich träumte“.584 Schulze erschienen die elf Wochen, welche seine Ehefrau in Untersuchungshaft zubrachte, so irreal wie ein Traum, in dem Minuten schon eine Ewigkeit zu dauern scheinen. Die während der elf Wochen aufgestaute Ungeduld und die Hoffnung auf Besserung der Lage trieben die unmittelbar und mittelbar Betroffenen dazu, wiederholt Supplikationen einzureichen. bb) Strategien bei häufigem Supplizieren Es gab zwar tatsächlich eine stattliche Zahl von Supplikanten und Supplikantinnen, die in Serie für eine Person sich wiederholende Gnadenbitten vorbrachten, und die sich somit in die Gefahr begaben, wegen Querulierens belangt zu werden. Andere Supplizierende vermieden es geschickt, sich einem solchen Verdacht auszusetzen. Sie machten sich eine Lücke in den normativen Vorgaben zunutze: So war die Frage nicht geregelt, wie mit mehrfach eingereichten Gnadenbitten, die in der Substanz ihrer Bitte leicht variierten, aber mit derselben Zielsetzung und Erwartungshaltung vorgetragen wurden, zu verfahren sei. Zahlreiche Supplikanten und Supplikantinnen versuchten ihren jeweiligen Supplikationen eine andere Ausrichtung zu geben, indem sie auf angeblich aktuell eingetretene Umstände verwiesen, die eine erneute, von der vorherigen leicht abgewandelte Gnadenbitte erforderlich machten. Zum Beispiel blieb der Rixdorfer Bauer Georg Henckel von einer Ordnungsstrafe verschont, erhielt aber eine Ermahnung, weil er mit nicht weniger als acht Suppliken versucht hatte, die wegen Blutschande gegen ihn und seine Stieftochter Marie Elisabeth Hübner verhängte einjährige Festungshaft bzw. sechsmonatige Zuchthausstrafe sowie das Verbot, weiterhin in eheähnlicher Gemeinschaft zusammen zu leben, abzuwenden. Dabei variierte Henckel seine Gnadenbitten inhaltlich und passte sie der jeweiligen Situation an: Dreimal bat er darum, von einer Haftstrafe gänzlich verschont zu bleiben, aus dem Festungsarrest flehte 584 Supplik des Ehemanns vom 15. August 1786 / Fallakte Anna Elisabeth Schulze; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 15.996.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
er sodann zweimal um Strafverkürzung und in den letzten drei Suppliken versuchte er, das Verhältnis zu seiner Stieftochter zu legalisieren [s. A.III.3.m)].585 Eine andere Strategie bestand darin, dass zwar an derselben Gnadenbitte festgehalten wurde, dafür aber unterschiedliche Absender, meist enge Familienangehörige, auftraten. So wurden Fälle mit drei und mehr Bitten häufig von unterschiedlichen, aber sich nahe stehenden Personen wie dem Ehepartner, den Eltern, den Kindern oder den Geschwistern vorgebracht [s. B.I.2. – 5.]. Die Abfolge der Gnadenbitten in den folgenden zwei Fällen kann als typisch gelten: Der wegen eines Gesellenaufstandes verurteilte Maurerpolier und Altgeselle Johann Gottfried Tescher gab zuerst mündlich eine Gnadenbitte in eigener Sache zu Protokoll, sodann bat seine Ehefrau für ihn um Gnade und schließlich versuchte Tescher, seine Unschuld in zwei weiteren Gesuchen darzulegen und fügte letzterem ein vom Gewerkmeister ausgestelltes Zeugnis über Teschers Lebenswandel bei.586 Für den als Rädelsführer des Aufstandes überführten Tischlergesellen Johann Heinrich Schäfer supplizierte zuerst seine Mutter, sodann brachte der Angeklagte selbst eine mündliche Gnadenbitte vor und zuletzt versuchte der Vater mit zwei Gesuchen für seinen Sohn eine Strafmilderung des lebenslangen Arrestes zu erwirken.587 Eine andere familiäre Konstellation dokumentiert der Fall Bergemann, bei dem die Witwe Maria Elisabeth Bergemann und ihr Stiefsohn Michel Friedrich wegen Inzest verurteilt wurden: Beide traten abwechselnd insgesamt fünfmal als Supplizierende in eigener Sache auf; darüber hinaus gingen sieben weitere Suppliken im Namen der sechs Bergemannschen Kinder ein.588 Im Fall Johann Erich summierten sich die Fürbitten auf vier, wobei neben seiner Person auch die Schwester sowie zweimal die Ehefrau „an die allerhöchste Königliche Gnade“ appellierten, das Strafmaß von sechs Monaten Festungshaft zu mildern.589 Die Liste an Beispielen ließe sich beliebig fortsetzen. 585 Vgl. acht Suppliken des Henckel in eigener Sache vom 29. Mai 1787 bis 24. August 1799 / Fallakte Georg Henckel und Marie Elisabeth Hübner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.957. 586 Vgl. Supplik des Tescher in eigener Sache vom 16. Juni 1795 und vgl. Supplik der Ehefrau Tescher vom 30. Juli 1795 und vgl. Suppliken des Tescher in eigener Sache vom 3. und 18. September 1795 / Fallakte Johann Gottfried Tescher (intus: Schäfer, Reichert, Bergmüller); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241. 587 Vgl. Supplik der Mutter Schäfer vom 14. August 1795 und vgl. Supplik des Schäfer in eigener Sache vom 15. August 1795 und vgl. Suppliken des Vaters Schäfer o. D. [ca. um den 7. Juli 1797] und vom 26. November 1797 / Fallakte Johann Heinrich Schäfer (intus: Tescher, Reichert, Bergmüller); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241. 588 Vgl. Suppliken des Michel Friedrich Bergemann in eigener Sache vom 18. August 1795 und 9. September 1796 und vgl. Suppliken der Maria Elisabeth Bergemann in eigener Sache vom 14. September 1795 und 19. Januar 1796 und 15. Juli 1796 und vgl. Suppliken der sechs Kinder vom 19. September 1795, 23. Oktober 1795, 3. November 1795, 8. November 1795, 13. Dezember 1795, 21. Dezember 1795 und 27. Januar 1796 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 589 Vgl. Supplik des Erich in eigener Sache o. D. [ca. Juni / Juli 1786] und vgl. Supplik der Ehefrau Erich vom 7. Juli 1786 und vgl. Supplik der Schwester vom 3. August 1786 und vgl.
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Beim Großteil der Fälle kann man davon ausgehen, dass die Familienmitglieder generell über die Supplikationsinitiative sowohl der Inhaftierten als auch von Personen aus deren Umfeld informiert waren und sich im Hinblick auf ihr weiteres Vorgehen untereinander absprachen.590 Durch taktisches Aufeinanderabstimmen des Supplizierens entgingen die Supplikanten und Supplikantinnen dem Vorwurf des Querulierens. Die Untertanen wussten die obrigkeitliche Reglementierung zur Begrenzung von Supplikationen dadurch zu unterlaufen, dass sie in unterschiedlichen Konstellationen immer gleiche oder inhaltlich vergleichbare Gnadenbitten für dieselbe Person vorbrachten. In den hier untersuchten Quellen ist am häufigsten das Muster In-eigener-Sache-plus-Ehepartner591 anzutreffen; daneben bzw. in Kombination mit einer Supplikation von Seiten des Ehepartners finden sich in den Akten, wenn auch seltener, die Varianten In-eigener-Sache-plus-Eltern oder Ineigener-Sache-plus-Kinder oder In-eigener-Sache-plus-Geschwister.592 In der Tat erging von Seiten des Justizdepartements nur dann eine Ermahnung, wenn sich die Gnadenbitten eines einzelnen Absenders summierten und sich das in den Suppliken unterbreitete Anliegen ständig wiederholte. Solange die Gnadenbitten aus unterschiedlichen Mündern kamen, musste sich das Justizdepartement eine Flut an Suppliken zugunsten einer einzelnen Person gefallen lassen. Supplik der Ehefrau Erich vom 21. Oktober 1786 / Fallakte Johann Erich; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 15.966. 590 Dies lässt sich bspw. daran ablesen, dass teilweise auf die anderen Supplizierenden Bezug genommen wird, dass sich in den Suppliken einzelne Passagen – mitunter wortwörtlich – wiederholen, und dass offensichtlich nach einem Zeitplan, z. B. am gleichen Tag eines jeden Monats, suppliziert wurde. 591 Zum Beispiel: Zwei Suppliken in eigener Sache und eine Supplik der Ehefrau Soderer / Fallakte Johann Friedrich Soderer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055; fünf Suppliken des Ehemanns und eine Supplik in eigener Sache / Fallakte Florentin Rauschnick; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.058; eine Supplik der Ehefrau Gladow und eine in eigener Sache / Fallakte Michael Gladow; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.063; zwei Suppliken der Ehefrau Freudenberg und eine Supplik in eigener Sache / Fallakte Gottfried Freudenberg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180; zehn Suppliken in eigener Sache und zwei der Ehefrau Stapelfeld sowie eine Supplik des Bruders / Fallakte Dieterich Stapelfeld; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956; vier Suppliken in eigener Sache und eine Supplik der Ehefrau Rabe / Fallakte Martin Friedrich Rabe; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202; eine Supplik der Ehefrau Pankoni und eine in eigener Sache / Fallakte Johann Gottlieb Pankoni; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.984; eine Supplik der Ehefrau Dobcke und eine in eigener Sache / Fallakte Friedrich Dobcke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985 etc. 592 Zum Beispiel: acht Suppliken in eigener Sache und eine Supplik der Stieftochter / Fallakte Georg Henckel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.957; eine Supplik in eigener Sache, zwei Suppliken der Ehefrau Erich und eine Supplik der Schwester / Fallakte Johann Erich; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 15.996; eine Supplik in eigener Sache und eine des Stiefbruders / Fallakte Carl Gottlieb Immanuel Rieboldt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053; fünf Suppliken in eigener Sache und sieben der Kinder / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956; eine Supplik in eigener Sache, eine der Ehefrau Ebel und eine der Kinder / Fallakte Georg Ebel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.058 etc.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
cc) Hartnäckiges Supplizieren und der Umgang der Obrigkeit damit Was die hartnäckigen Supplikanten und Supplikantinnen anbelangt, die das Gnadenbitten regelrecht in Serie betrieben, müsste man annehmen, dass jene von der Obrigkeit zumindest ermahnt wurden, das Supplizieren umgehend einzustellen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, mit einer Geldbuße oder gar einer Haftstrafe wegen Querulierens belegt zu werden. Doch die Rechtswirklichkeit sah anders aus: Nur wenige Supplikanten oder Supplikantinnen wurden überhaupt verwarnt, bestraft wurde kaum jemand. Nachdem die zweite Supplikation der Ehefrau Schoenebeck von Friedrich Wilhelm II. immediat abschlägig beschieden worden war, reichte sie weitere vier Supplikationen mit der immer gleich lautenden Bitte um Entlassung ihres Mannes und Sohnes ein, ohne dass dies nachteilige Folgen für sie gehabt hätte – sie wurde noch nicht einmal verwarnt.593 Offenbar wusste man, dass die Gefahr, wegen Querulierens bestraft zu werden, relativ gering war. Ein Vorgehen gegenüber hartnäckigen Supplikanten und Supplikantinnen wurde von den zuständigen Stellen offenbar vermieden. So instruierte der Justizminister v. Goldbeck beispielsweise die Stadtgerichte auf deren Anfrage im Fall Johanne Charlotte Euphrosine Geisler, dass in diesem Fall eine Ordnungsstrafe wegen wiederholter „Anbringung ungegründeter Beschwerden“ verhängt werden sollte, und wies die Richter explizit auf ihre Befugnis hin: „( . . . ) gegen das ungestüme andringen solcher Quaerulanten durch Auflegung der Kosten, oder durch kleine Ordnungs-Strafen sich Ruhe verschaffen [zu können].“594
Die Richter bedurften offenbar einer Erinnerung an diese ihnen zur Verfügung stehende Option, die selten durchgesetzt wurde. Zum Beispiel erhielt der Rixdorfer Bauer Georg Henckel eine Ermahnung, aber erst nachdem er acht Supplikationen eingereicht hatte, in denen er um einen Dispens bat, seine Stieftochter heiraten zu dürfen. Mit diesem Wunsch offenbarte er sein tiefes Unverständnis für das Verbot ihrer Beziehung. Daher fühlte sich der Justizminister aufgerufen, die darauf ergangene abschlägige Resolution mit einer Mahnung zu versehen und bezeichnete Henckels Bitte um Heiratsdispens als ein „unschickliches Gesuch“.595
593 Vgl. sechs Suppliken der Ehefrau und Mutter Schoenebeck vom 19. Oktober 1796 bis zum 16. November 1797 / Fallakte Vater und Sohn Schoenebeck; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. B, Paket 15.972. 594 Weisung an die Stadtgerichte vom 27. April 1795 / Fallakte Johanne Charlotte Euphrosine Geisler; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A 1 (Generalia), Paket 15.966. 595 Dekret vom 12. März 1798 und vgl. acht Suppliken des Henckel in eigener Sache vom 29. Mai 1787 bis 24. August 1799 / Fallakte Georg Henckel und Marie Elisabeth Hübner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.957. Auch der zuletzt in diesem Fall angesprochene Gnadenträger, Friedrich Wilhelm III., hielt an den Regelungen des Supplikationswesens seines Vorgängers fest – vgl. Publikandum vom 17. März 1798; in: NCCPBPM 1801, 10. Bd., No XVIII, Sp. 1597 – 1606 [s. A.II.4.].
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Eine deutliche Verwarnung, die aber ebenso wenig spürbare Konsequenzen nach sich zog, erhielt der wegen fälschlicher Betrugsbeschuldigung seines Jungmeisters verurteilte Pantoffelmachermeister Martin Friedrich Rabe. Er wurde nach der dritten in seinem und seiner Ehefrau Namen geschriebenen Supplik, in der er um Straffreiheit bat, vom Justizminister v. Carmer mit den Worten gewarnt: „( . . . ) daß[,] wenn er sich bey der in seiner Injurien-Sache gefällten Sentenz nicht beruhigen, und dergleichen unnütze Eingaben von ihm noch einmahl zum Vorschein kommen solten, er noch überdies mit besonderer Gefängnißstrafe werde belegt werden.“596
Dies hielt Rabe jedoch nicht davon ab, vierzehn Tage später und einen Monat darauf weitere Suppliken aufzusetzen, ohne dass die angedrohte Strafe verhängt worden wäre. Vielleicht wurde ihm die Bestrafung nachgesehen, weil Rabe diese Male seine Bitte um gänzliche Begnadigung nicht wiederholte; stattdessen bat er nun um Erlass der Reststrafe, Strafaufschub und Niederschlagung der Prozesskosten, was in der jeweiligen Situation allerdings einem Verzicht auf weiteren Vollzug der Strafe gleichkam.597 Der Kolonist und Schmied Dieterich Stapelfeld trug sogar zehn Suppliken – neben drei weiteren Supplikationen von anderer Seite für seine Person – zu seiner eigenen Verteidigung gegen den Vorwurf des „ehetraulichen Umgangs“ mit zwei seiner Nachbarinnen vor. Obwohl er im Grunde seine Bitte um Strafverkürzung stets wiederholte, ergingen gegen ihn keine Maßnahmen wegen Querulierens. Erst nach dem zehnten Gesuch in eigener Sache (bzw. der dreizehnten Gnadenbitte in seinem Fall) wies das Justizdepartement ihn wie folgt zurecht: „( . . . ) daß Seine Königliche Majestät nicht geneiget sind, ihn an der noch nicht völlig abgesessenen Strafzeit etwas zu erlaßen ( . . . ) und muß er sich dieserhalb alles unnützen Supplicirens enthalten.“598
Da die Akte an dieser Stelle abbricht, ist anzunehmen, dass dies Stapelfeld Warnung genug war, er sich des Supplizierens fortan enthielt und sich seinem Schicksal fügte. Selbst die hartnäckigste Supplikantin erhielt auf ihre zwanzig Supplikationen zugunsten ihres Ehemannes Friedrich Valentin keine Strafe wegen Querulierens, nicht einmal die Androhung einer solchen.599 Man muss in diesem Fall allerdings berücksichtigen, dass die ersten acht Suppliken vor der Urteilsverkündung ein-
596 Dekret vom 23. März 1787 / Fallakte Martin Friedrich Rabe; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 597 Vgl. zwei Suppliken des Rabe in eigener Sache vom 4. April 1787 und 10. Mai 1787 / Fallakte Martin Friedrich Rabe; in: ebd. 598 Dekret vom 19. März 1787 / Fallakte Dieterich Stapelfeld; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. Ähnlich der Tenor bereits in dem Dekret vom 6. Dezember 1783: „auch daß er alles dajenige, was ihm zu seiner Bestrafung zuerkannt worden, wol verdient habe.“ 599 Vgl. 20 Suppliken der Ehefrau Valentin vom 20. Mai 1787 bis 9. Januar 1793 / Fallakte Friedrich Valentin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
gereicht wurden, und neben der Bitte um Strafverschonung auch die Bitte um Beschleunigung des Prozesses enthalten. Bitten um einen zügigen Prozessverlauf stießen beim Justizminister generell auf Verständnis. So schaltete sich der Justizminister in Valentins Fall ein, verlangte vom Gericht einen Bericht über den Stand der Untersuchung und gab die Anweisung, den Fall zügig abzuschließen;600 der Supplikantin wurde diese Aufforderung in Abschrift zur Kenntnis gegeben.601 Erst als Valentin ihre fünfte Supplik mit der Bitte um Beschleunigung einreichte, sah sich der Justizminister dazu veranlasst, sie in ihrem Supplizieren zu bremsen: An sie erging eine Resolution mit warnendem Unterton, dass es bei der ihr bereits mitgeteilten Verfügung auf ihre „wiederholentlich angebrachten Gesuche“ sein Bewenden habe, „wobey sie sich gehörig zu beruhigen hat.“602 Da der Prozess dennoch nicht zügig zum Abschluss kam, sah sich Valentin genötigt, weiterhin Suppliken in demselben Tenor einzureichen. Das Justizdepartement unterstützte ihr Anliegen, indem es entsprechende Weisungen an die Adresse des Kammergerichts erließ.603 Als nach einer einjährigen Untersuchungs- und Prozessdauer schließlich das Urteil für den Kanzleidiener Friedrich Valentin auf sechs Jahre Festungsarbeit wegen Erpressung verkündet wurde, setzte Valentins Ehefrau die Supplikation in Serie fort. Nun erbat sie für ihren Mann die Begnadigung von der Freiheitsstrafe, wenigstens aber eine Strafmilderung und die Niederschlagung der Gerichtskosten. Die Haltung des Justizdepartements gegenüber Valentins zahlreichen Suppliken blieb trotz der vorherigen Warnung zurückhaltend. Meist verwiesen die Resolutionen auf das Urteil, „es habe beim einmal ergangenen Urteil sein Verbleiben“604, und auf den Tenor der vorherigen Resolutionen.605 In der Resolution auf Valentins zehnte Supplik wurde ihr befohlen: „Und hat sie sich des fernern Supplicirens gänzlich zu enthalten“606, eine Anweisung, der sie nicht nachkam, denn bereits vierzehn Tage später brachte sie ihre elfte Supplik ein.607 Trotz Zuwiderhandlung wurde ihr kein Vorwurf wegen Querulierens gemacht, vielleicht deshalb, weil sie ihre Gnadenbitte in eine Form der Beschwerde über die angeblich einseitige Er600 Vgl. Anforderung eines Berichts vom 25. Mai 1787 und vgl. Bericht des Kammergerichts vom 4. Juni 1787 und vgl. wiederholte Weisungen an das Kammergericht vom 23. November und 14. Dezember 1787 und 11. April 1788 / Fallakte Friedrich Valentin; in: ebd. 601 Vgl. Dekret vom 29. Juni 1787 / Fallakte Friedrich Valentin; in: ebd. 602 Dekret vom 23. Juli 1787; vgl. Dekret vom 23. November 1787 / Fallakte Friedrich Valentin; in: ebd. 603 Vgl. Suppliken der Ehefrau Valentin vom 27. August und 17. November 1787 und vgl. Dekret vom 23. November 1787 und vgl. Weisungen an das Kammergericht vom 14. Dezember 1787 und 11. April 1788 / Fallakte Friedrich Valentin; in: ebd. 604 Hier beispielhaft das Dekret vom 30. Januar 1789 / Fallakte Friedrich Valentin; in: ebd. 605 Hier beispielhaft die Dekrete vom 5. Februar 1789, 4. Oktober 1790, 20. Dezember 1790 / Fallakte Friedrich Valentin; in: ebd. 606 Dekret vom 3. Oktober 1788 / Fallakte Friedrich Valentin; in: ebd. 607 Vgl. Supplik der Ehefrau Valentin vom 17. Oktober 1788 / Fallakte Friedrich Valentin; in: ebd.
III. Die Dimension der Praxis
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mittlung im Fall ihres Mannes kleidete. Die Berechtigung zu Supplizieren wollte man ihr offenbar nicht absprechen, obwohl sie dabei dieselbe Intention verfolgte wie mit ihren vorherigen Gnadenbitten, nämlich eine Strafmilderung der sechsmonatigen Festungshaft ihres Mannes zu erwirken. In den darauf folgenden Suppliken verlieh sie ihrer Bitte wieder deutliche Worte.608 Überhaupt schien sich die Ehefrau Valentin bzw. ihr Ratgeber609 mit taktischen Raffinessen des Supplizierens auszukennen: Stets versuchte sie, ihren Suppliken einen aktuellen Anlass zu geben. Dadurch vermied sie es, dem Bild einer aus Sicht der Obrigkeit aufsässigen Supplikantin zu entsprechen: So nahm sie zum Beispiel den Tod des von ihrem Mann geschädigten Klägers zum Anlass, um die Bestrafung ihres Mannes als hinfällig hinzustellen, obwohl dies die von Valentin verübte Erpressung nicht ungeschehen machte.610 Diese Winkelzüge scheinen die Ehefrau Valentin vor einer Strafe wegen Querulierens bewahrt zu haben. Anders erging es hingegen dem Mühlenburschen Peter Heese, der sich eine Strafe wegen Querulierens zuzog. Nachdem Heese, der wegen respektlosen Betragens gegenüber der Gerichtsobrigkeit angeklagt worden war, seine achte Supplik eingereicht hatte, verwarnte ihn schließlich der Justizminister v. Carmer mit den Worten: „( . . . ) er [Peter Heese] muß sich dergleichen muthwilliger Querelen bey Gefängnißstrafe enthalten“.611
Heese ließ sich dennoch nicht davon abschrecken und schrieb trotzdem eine weitere Supplik. Doch auch in diesem Fall wurde die ausgesprochene Drohung vorerst nicht wahr gemacht. Allein das Kammergericht wurde von v. Carmer angewiesen, Heese, falls er sich „nicht beruhigen will“, „mit 14 tägigem Gefängniß halb bey Waßer und Brodt“ zur Räson zu bringen; und falls auch diese Maßnahme bei ihm nicht die erwünschte Wirkung zeige, solle ihm mit Festungsstrafe gedroht werden.612 Doch Heese ließ sich dadurch nicht beirren und supplizierte ein weiteres Mal.613 Die Bearbeitung dieser Supplikation wurde offenbar von Amts wegen 608 Vgl. Suppliken der Ehefrau Valentin vom 20. Januar 1789, 27. Januar 1790, 24. September 1790, 11. Dezember 1790, 18. Juli 1791, 10. April 1792, 7. Juni 1792, 9. Januar 1793 / Fallakte Friedrich Valentin; in: ebd. 609 Es ist gut möglich, dass der verurteilte Ehemann ihr diese Ratschläge erteilte, der als Kanzleidiener mit dem Supplizieren vermutlich vertraut war. 610 Vgl. Supplik der Ehefrau Valentin vom 27. August 1788 / Fallakte Friedrich Valentin; in: ebd. Die Erpressung bestand darin, dass Valentin versprach, sein Wissen über ein uneheliches Kind aus der Beziehung des Geheimrats mit einer Dienstmagd für sich zu behalten, wofür er vom Geheimrat ein Schweigegeld in Höhe von 2.933 Talern verlangte. 611 Dekret vom 10. September 1787 und vgl die Suppliken des Heese in eigener Sache vom 11. November 1786, 27. April 1787, 15. Mai 1787, 4. Juni 1787, 9. Juli 1787, 22. Juli 1787, 2. September 1787, 9. Oktober 1787 / Fallakte Peter Heese; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985. 612 Weisung an das Kammergericht vom 15. Oktober 1787 und vgl. Supplik des Heese in eigener Sache vom 9. Oktober 1787; in: ebd. / Fallakte Peter Heese; in: ebd. 613 Vgl. Supplik des Heese in eigener Sache vom 12. November 1787 / Fallakte Peter Heese; in: ebd.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
verweigert, denn den Akten ist von obrigkeitlicher Seite keine Reaktion zu entnehmen. Dies bewirkte, dass Heese zunächst eine dreijährige Pause einlegte, bevor er sein Gnadenbitten in Serie fortsetzte.614 Obwohl er in seinen Suppliken keinen neuen Aspekt vorbrachte, wurde die angekündigte Arreststrafe nicht verhängt; vielmehr begnügte sich v. Carmer mit dem Hinweis: „( . . . ) daß er [Peter Heese] sich bey dem in seinem Criminal-Prozeß ergangenen Urtheil und Recht beruhigen müsse.“615
Gerade ein solcher Bescheid aber brachte Heese auf. Er forderte nun in vorwurfsvollem Ton das Eingreifen der Obrigkeit: „Es scheint hierbey hervorzugehen, als hätten Eure Königliche Majestat Gewaltigen sich mit allen übrigen Justiz Deputiaten Einstimmig verabredet, mich gegen allen meinen beschwerden nicht Gerichtlich Gehör zu geben, und dabey Hülfe Rechtens nicht leisten zu wollen.“616
Ob dieser Beleidigung der Obrigkeit verlor nun der Großkanzler und Justizminister v. Carmer die Geduld mit dem hartnäckigen Supplikanten und wies das Kammergericht an, Heese „bei nochmaliger Vorstellung“ „als einen aeusserst verwegenen und widersezlichen Querulanten“ „sofort zur Hausvoigtey“ zu bringen.617 Diese Weisung wurde auch tatsächlich befolgt, als dreieinhalb Monate später die fünfzehnte Supplik Heeses eintraf.618 Offenbar galt bereits zu dieser Zeit der später im Allgemeinen Landrecht festgeschriebene Grundsatz, dass in einem solchen Fall lediglich eine Ordnungsstrafe verhängt, nicht aber eine zeitaufwändige Kriminaluntersuchung eingeleitet werden sollte.619 Es scheint, als ob Heese der Haftstrafe zum Trotz das letzte Wort in dieser Angelegenheit behalten sollte, denn die umfangreiche Akte weist als letztes Schreiben Heeses sechzehnte Supplik auf, die er an das Generaldirektorium gerichtet hatte, und welche nun an das Justizdepartement überstellt wurde.620 Peter Heese ist der einzige Bittsteller der hier untersuchten Fälle, den das Justizdepartement mit der in den Edikten und Verordnungen angedrohten Strafe wegen Querulierens belegte.621 614 Vgl. Suppliken des Heese in eigener Sache vom 20. Oktober 1790, 6. November 1790, 26. November 1790, 18. Dezember 1790, 30. Dezember 1790, 2. Mai 1791 und 12. Mai 1791 / Fallakte Peter Heese; in: ebd. 615 Dekret vom 25. Oktober 1790 und vgl. Dekret vom 15. November 1790 / Fallakte Peter Heese; in: ebd. 616 Vgl. Supplik des Heese in eigener Sache vom 26. November 1790 / Fallakte Peter Heese; in: ebd. 617 Weisung vom 17. Januar 1791 / Fallakte Peter Heese; in: ebd. 618 Weisung vom 9. Mai 1791 und vgl. Supplik des Heese in eigener Sache vom 2. Mai 1791 / Fallakte Peter Heese; in: ebd. 619 Vgl. §§ 650, 579 ALR II 20. 620 Vgl. 16. Supplik des Heese in eigener Sache vom 12. Mai 1791 / Fallakte Peter Heese; in: ebd. 621 In den Generalia zur Repositur 49 findet sich lediglich ein Hinweis auf einen weiteren Fall, in dem das Justizdepartement eine Strafe wegen Querulierens verhängte; hierbei handelt
III. Die Dimension der Praxis
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dd) Resümee Ergebnis dieser Untersuchung ist, dass sich die Supplikanten und Supplikantinnen in mehr als der Hälfte der Gnadenfälle mit einer einzigen Gnadenbitte begnügten. In rund zwei Dritteln der Gnadenfälle nutzten die Untertanen die so genannten Supplikationsinstanzen aus, gingen aber nicht über die ihnen zugestandenen Supplikationen, einmal auf mediater und einmal auf immediater Ebene, hinaus. Beim restlichen Drittel der Gnadenfälle wurden des Öfteren drei bis neun Suppliken, in wenigen Fällen sogar bis zu zwanzig Suppliken für eine angeklagte bzw. verurteilte Person eingereicht. Da das Supplikationsverhalten von der Forschung in dieser Hinsicht kaum ausgewertet ist, lässt sich nur mit Kurmainz Anfang des 18. Jahrhunderts ein Vergleich anstellen: Dort wurden häufig bis zu vier Suppliken je Gnadenfall eingereicht.622 Die Repetition war offensichtlich ein wesentliches Merkmal des Supplizierens. Hartnäckig Supplizierende nutzten bestimmte Strategien, um nicht des Querulierens beschuldigt und bestraft zu werden: So suchten sie sich aktuelle Anlässe, um ihrer Supplikation damit eine für die obrigkeitlichen Anforderungen hinreichende Berechtigung zu liefern; dem Anlass entsprechend passten sie die inhaltlichen Zielsetzungen ihrer Gnadenbitten an. Eine andere Möglichkeit bestand darin, dass eine konkrete Bitte immer wieder aufs Neue von anderen Angehörigen vorgetragen wurde. Bei beiden Vorgehensweisen war das Justizdepartement gezwungen, die Berechtigung jeder einzelnen Supplikation anzuerkennen. Doch auch bei den Fällen, in denen seriell suppliziert wurde, zeigt sich, dass das Justizdepartement keine einheitliche Gnadenpraxis verfolgte. Von den hartnäckigen Supplikanten und Supplikantinnen wurden nur einige verwarnt; eine Strafe für übermäßiges Supplizieren wurde nur ein einziges Mal verhängt. In der obrigkeitlichen Gnadenpraxis bleibt die Grenze zwischen Supplizieren und Querulieren unscharf.623 Das Justizdepartement hatte offenbar kein Interesse daran, die in den Verordnungen und Edikten festgelegte Vorgehensweise gegen muthwilliges Querulieren konsequent umzusetzen. Dies ist insofern bemerkenswert, als man die Wurzel vielen Übels im unnützen Supplizieren erblickte: Eindringlich gewarnt wurde beispielsweise vor der Vernachlässigung des Gewerbes und dem damit einhergehenden Niedergang der Wirtschaft, vor dem Verlust sittlichen Gefühls und Pflichtbewusstseins, schließlich auch vor dem Hang zur Widerspenstigkeit, Trägheit und zur unordentlichen Lebensart [s. A.II.3.].624 Es liegt nahe zu vermuten, dass man im es sich aber nicht um eine Strafsache, sondern um eine Zivilstreitigkeit – vgl. Weisung an die Stadtgerichte vom 27. April 1795 / Fallakte Johanne Charlotte Geislern gegen den Förster Lehmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A 1 (Generalia), Paket 15.966. 622 Vgl. Härter 2005, S. 253. 623 Anders dagegen die Gnadenpraxis in Kurmainz: Dort wurden Supplikanten und Supplikantinnen, wenn sie mehr als vier Supplikationen anstrengten, nicht nur verwarnt, sondern sogar mit acht bis 14 Tagen Zuchthaus bestraft – vgl. Härter 2005, S. 253.
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A. Gnade und Supplizieren in Brandenburg-Preußen
Justizdepartement von der Bestrafung mutmaßlicher Querulanten Abstand nahm, weil man die Erfahrung gemacht hatte, dass hartnäckigen Supplikanten und Supplikantinnen auf diese Weise schwer beizukommen war und sich diese dadurch nur noch mehr ins Unrecht gesetzt fühlten und den Behörden letztlich noch mehr Arbeit bescherten. Hinzu kam außerdem, dass eine Beschwerde über die betreffende Behörde dem Monarchen unweigerlich zu Ohren kommen würde. Nicht ohne Grund fürchtete man im Justizdepartement den königlichen Zorn, der leicht zur Suspendierung vom Amt führen konnte, wie dies etwa beim legendären MüllerArnold-Prozess der Fall war [s. A.II.2.], den die Staatsdiener sicher noch in guter Erinnerung hatten. Das zurückhaltende Verhalten des Justizdepartements ist ein Indiz für die These, dass die Obrigkeit in Brandenburg-Preußen das Gnadenrecht und damit auch das Recht der Untertanen auf Supplikation hoch achtete und es Supplizierwilligen nicht ohne weiteres verwehren wollte.
624 Die Warnungen zielten zwar in erster Linie auf Supplikationen i. S. von Beschwerden gegenüber der lokalen Obrigkeit, bezogen sich aber u. a. auch auf das Gnadenbitten für kriminalgerichtlich Verurteilte, denn die Obrigkeit beabsichtigte hartnäckiges Supplizieren insgesamt zu unterbinden. Beispielhaft vgl. Publikandum vom 12. Juli 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXV, Sp. 1497 f.
B. „Allerunterthänigster Knecht“ und „gehorsamste Magd“ – Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen sowie ihrer Argumente und Motive Der hier gewählte Praxisbegriff [s. Einleitung / Methodischer Zugang] setzt handelnde Subjekte voraus. Daher liegt ein Schwerpunkt der Untersuchung auf der Analyse der an der Supplikation beteiligten Akteure: Eine zentrale Bedeutung kommt dabei den Initiatoren der Supplikation zu, also den zahlreichen Untertanen und Untertaninnen, die für sich selbst bzw. für ihnen nahe stehende Personen um Gnade baten [zur Obrigkeit als Akteur s. C.]. Als Kommunikationspraktik kann das Supplizieren nicht von seinem Kontext gelöst betrachtet werden, daher gilt es, das Kräftefeld, in dem sich die Supplikation abspielte, zu rekonstruieren. Auf den ersten Blick scheint das Kräftefeld ausschließlich von einer bipolaren Machtstruktur bestimmt zu sein, in der sich Untertanen und Obrigkeit gegenüberstehen. Bei näherer Betrachtung entsteht jedoch ein sehr komplexes Bild: Die vermeintlich monolithische Obrigkeit besteht aus verschiedenen Funktionsträgern – dem Monarchen, dem Justizminister, den anderen Geheimen Räten, den Richtern und den sonstigen Staatsdienern –, die unterschiedliche Befugnisse hatten und jeweils spezifische Interessen verfolgten [s. C.III.a)]. Auch die Kategorie Untertan steht eher für Vielfalt denn für Einheit: Einerseits sind es Supplikanten und Supplikantinnen, andererseits die Nutznießer der Gnadenbitten, also die angeklagten bzw. verurteilten Männer und Frauen. Beiden Parteien stand die Möglichkeit zu supplizieren offen, doch die Handlungsspielräume und die Glaubwürdigkeit der durch die Anklage in ihrem Leumund getroffenen Inhaftierten und der Supplizierenden, die ihren Platz in der Gesellschaft offenbar auf redliche Weise ausfüllten, gestalteten sich sehr unterschiedlich. Das Kräftefeld umfasst allerdings nicht allein diese beiden Parteien, sondern stellt sich weitaus differenzierter dar, wenn man die soziale Stellung der handelnden Personen bei der Analyse von Handlungsspielräumen und Macht berücksichtigt. Denn die Supplikanten und Supplikantinnen verteilen sich auf eine Vielzahl von sozialen Gruppen, die sich durch jeweils eigene Interessen und spezifische Machtverhältnisse in ihren Beziehungen zu den von ihnen zur Begnadigung vorgeschlagenen Angeklagten bzw. Verurteilten auszeichnen. Im Folgenden soll der Frage nach dem Verhältnis zwischen den Supplizierenden und den von ihnen zur Begnadigung Vorgeschlagenen nachgegangen werden, ein
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Ansatz, der in der Forschung zum Supplizieren bislang noch nicht systematisch verfolgt wurde.1 Um Aufschluss darüber zu erlangen, wird nach der Motivation und den Handlungsimpulsen der Männer und Frauen gefragt, für sich selbst bzw. für Menschen aus ihrem sozialen Umfeld zu supplizieren. Dabei werden – wie es die Quellen nahelegen2 – die Supplikanten und Supplikantinnen Gruppen zugeordnet, die sich aus ihrer sozialen Stellung ergeben [s. B.I.1. – 10.]. Darunter soll keine feste Größe wie etwa der Stand, dem die Person angehörte, verstanden werden; vielmehr bezieht sich die soziale Stellung auf das hier im Blickpunkt stehende Verhältnis zwischen Supplizierenden und den von ihnen zur Begnadigung Vorgeschlagenen. Folglich meint soziale Stellung hier, welche familiäre oder soziale Beziehung zwischen den beiden Parteien unter Berücksichtigung des Gechlechts und des Alters vorlag; gemeint sind hier zum Beispiel die Beziehungen zwischen Eheleuten, Eltern und Kindern, Geschwistern, Anverwandten, Brotherrschaft und Gesinde, in der Nachbarschaft und im Arbeitsumfeld etc. [s. B.II.1.]. Bedingt durch die begrenzte Aussagekraft der Quellen, können hier nicht einzelne Akteure in ihrem individuellen Verhältnis zu den von ihnen zur Begnadigung vorgeschlagenen Angeklagten bzw. Verurteilten analysiert werden.3 Ein Erkenntnisgewinn kann aber erzielt werden, wenn man die Suppliken nach den typischen Argumenten und Motiven einer sozialen Gruppe befragt. Dabei gilt es zu beachten, dass den von den supplizierenden Männern und Frauen angeführten Argumenten und Motiven auch taktische Erwägungen zugrundelagen, was allerdings nicht ausschließt, dass diese möglicherweise auch real empfunden wurden. Für die Bewertung der Argumente und Motive ist es jedoch letztlich unerheblich, ob Supplikanten und Supplikantinnen diese aus taktischem Kalkül anführten oder ob sie tatsächlich aus den angeführten Gründen handelten, denn in jedem Fall wollten sie damit überzeugen und daher mussten die Argumente und Motive authentisch wirken. Suppliken lassen also in jeder Hinsicht Rückschlüsse auf gängige Deutungsmuster in der frühneuzeitlichen Gesellschaft zu. 1 Allein Ulinka Rublack weist darauf hin, dass das Verhältnis zwischen den Supplizierenden und den potentiellen Nutznießern einer Begnadigung geeignet sei, „Generationenbande“ deutlich zu machen – vgl. Rublack 1998, S. 88. 2 Die supplizierenden Männer und Frauen geben in ihren Bittschriften in der Regel Auskunft über ihr Verhältnis zu den Personen, die sie für eine Begnadigung vorschlugen. 3 Die Quellen verschweigen zumeist Biographisches über die supplizierenden Männer und Frauen; auch gibt es nur wenige Anhaltspunkte über deren individuelle Beziehung zu den Angeklagten bzw. Verurteilten, für die sie supplizierten. Geben die Akten mitunter bruchstückhaft Auskunft über den sozialen, familiären und materiellen Hintergrund der angeklagten bzw. verurteilten Personen, so finden sich darin hingegen i. d. R. keine Hinweise auf die Supplizierenden, etwa darüber, unter welchen Lebensumständen sie lebten und arbeiteten, welche Ängste und Zukunftserwartungen sie hatten, in welcher Beziehung sie – abgesehen von der formalen Beziehung wie Verwandtschaft, Nachbarschaft, Brotherrschaft oder lokale Obrigkeit – persönlich zur angeklagten bzw. verurteilten Person bzw. deren Familie standen, wie sich Abhängigkeiten und das Aufeinanderangewiesensein in dieser Beziehung gestalteten, ob und wie sie in Verbindung zu dem vor Gericht verhandelten Vergehen der angeklagten Person standen etc.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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Da dieses Kapitel den Initiatoren des Supplizierens gewidmet ist, ist es erforderlich, die Quellengrundlage entsprechend dem hier zu behandelnden Aspekt auf Gnadenbitten von Supplikanten und Supplikantinnen im eigentlichen Sinne zu beschränken: Von den im fraglichen Untersuchungszeitraum insgesamt überlieferten 693 Gnadenbitten werden daher jene Bitten ausgeklammert, welche nicht aus der Feder von Untertanen und Untertaninnen stammen. Dies trifft auf 28 Fürsprachen aus dem Justizapparat zu, die als Sonderform der Gnadenbitte betrachtet werden [s. C.I.2.].4 Folglich beläuft sich die Quellengrundlage für dieses Kapitel auf 665 Gnadenbitten, welche im Namen von Untertanen und Untertaninnen gestellt wurden.5 1. Gnadenbitten in eigener Sache Der Großteil der in den Akten vorgefundenen Suppliken wurde von den angeklagten bzw. verurteilten Männern und Frauen in eigener Sache verfasst: Mehr als jede dritte Gnadenbitte, konkret rund 38,2 Prozent (254 der insg. 665 Gnadenbitten), trägt den Namen der betroffenen Person als Absender. Dieser hohe Prozentsatz von Suppliken in eigener Sache erklärt sich in erster Linie durch die unmittelbare Betroffenheit der Delinquenten: Schließlich waren sie es, die mit den Folgen von Anklage, Urteil und Strafe unmittelbar konfrontiert waren. Die Notwendigkeit zu handeln wurde den Angeklagten bereits im Arrest während der gerichtlichen Untersuchung deutlich vor Augen geführt, wo sie erste Erfahrungen mit der harten Realität des frühneuzeitlichen Strafvollzugs machten. Die Suppliken dokumentieren, wie psychisch belastend die Situation war, abgeschirmt von der Außenwelt und in Ungewissheit über den Stand des Verfahrens im Gefängnis zu sitzen. So mancher Häftling fragte sich während seines Untersuchungsarrestes, ob man ihn mittlerweile vergessen habe und reichte eine Supplik 4 Die Fürsprachen wurden bei der Betrachtung dieses Aspektes herausgerechnet, da es sich hierbei nicht um Suppliken im engen Sinne, sondern – aktenkundlich gesprochen – um Immediatberichte des Justizministers oder um Berichte nachgeordneter Behörden und Gerichte (wie z. B. des Kammergerichts, der Stadtgerichte und der Justizämter) an das Justizdepartement als übergeordnete Stelle handelt. Man könnte zwar auch Suppliken der lokalen Obrigkeit [s. B.I.9.] aktenkundlich als Berichte bezeichnen; die Fürsprachen aus dem Justizapparat unterscheiden sich davon aber insofern, als es sich hierbei um obrigkeitliche Instanzen handelt, die als Prüfstellen für Supplikationen fungierten. Folglich besaßen die Fürsprachen eine andere Funktion und Wirkung als Suppliken der lokalen Obrigkeit für ihre Untertanen. Anders verhält es sich hingegen mit den 16 Fällen, in denen die lokale Obrigkeit bzw. das Militär insg. 24 Gnadenbitten für die unter ihrer Obhut stehenden Untertanen einreichten, sowie mit den drei Fürbitten aus dem Haus der Hohenzollern: diese werden sehr wohl zu den Suppliken gezählt; zur Begründung s. B.I.9., B.I.10. 5 Da bei den herangezogenen Quellen – wie dies bei historischen Untersuchungen zumeist der Fall ist – die Grundgesamtheit aller tatsächlich angelegten Fallakten nicht bekannt ist, kann zwangsläufig nur von den überlieferten Akten ausgegangen werden; über mögliche Lücken können keine Aussagen getroffen werden. Dies bedeutet, dass die Prozentangaben nicht im statistischen Sinne repräsentativ sein können. Vielmehr sind sie stets relativ, d. h. auf die tatsächliche Überlieferung bezogen.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
ein, in der um Niederschlagung des laufenden Prozesses oder um Beschleunigung des Verfahrens und vorsorglich um eine Strafmilderung gebeten wurde.6 Die Zeit von zehn Monaten, die der wegen Pferdediebstahl angeklagte Adlige Wilhelm August Alexander v. d. Osten auf dem Kalandshof, dem kurmärkischen Untersuchungsgefängnis nahe der Residenzen, verbringen musste, bevor über ihn ein Urteil verhängt wurde, war nicht die Ausnahme, vielmehr die Regel. Mitunter dauerte die gerichtliche Untersuchung bis zu einem Jahr. Gleichgültig wie lange das Gericht benötigte, bis die Ermittlungen abgeschlossen waren, der Untersuchungsarrest wurde nicht auf die Strafdauer angerechnet. In v. d. Ostens Fall bedeutete dies, wegen Pferdediebstahls noch drei Jahre auf der Festung Spandau zubringen zu müssen.7 Das Strafmaß musste den Verurteilten um ein Vielfaches härter erscheinen, nachdem sie bereits die Bedingungen im Untersuchungsarrest kennen gelernt hatten. Diese Erfahrung war offenbar für den Bauernknecht Friedrich Döbling ausschlaggebend, eine Supplikation einzureichen, als er nach 21 Monaten Haft endlich sein Urteil erfuhr, das ihn wegen Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit zu einem Jahr Festungsstrafe und einer Stunde Spanischer Mantel, einer ehrrührigen Strafe, verurteilte: „Die Strafe schien mir hart und fürchterlig, und habe ich aus bloßer Furcht für der harten Strafe, mein Vaterland verlaßen ( . . . ).“8
Der Preis war hoch, denn er gab mit seiner Flucht ins Ausland nicht nur den Schutz seines sozialen Umfeldes auf, sondern auch die Aussicht, als Sohn eines Kossäten eine Arbeit beim Gutsherrn zusammen mit einem Haus und etwas Land zu erhalten. Aus dem Ausland versuchte Döbling nun die Strafe aus der Welt zu schaffen, indem er um Straffreiheit supplizierte; dieser Wunsch wurde zudem durch vier Supplikationen seines Vaters flankiert. Eine Flucht aus dem Arrest ist eine durchaus verständliche Reaktion auf die damaligen Haftbedingungen: Die Häftlinge erwarteten sowohl in den Untersuchungswie in den Strafgefängnissen dunkle, kaltfeuchte Räume voll Ungeziefer – kurz: gesundheitsschädigende Bedingungen, die chronischen Krankheiten und Epidemien Vorschub leisteten. Zuerst eine gerichtliche Untersuchung durchstehen und sodann eine mehrmonatige Freiheitsstrafe absitzen zu müssen, barg unter den herrschenden Bedingungen nicht nur für schwache und ältere, sondern auch für junge 6 Beispielhaft vgl. Supplik des Erich in eigener Sache o. D. [ca. Juni / Juli 1786] / Fallakte Johann Erich; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 15.996; vgl. Supplik des Brauer in eigener Sache vom 3. Januar 1789 / Fallakte Johann Brauer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.984. 7 Vgl. Supplik des v. d. Osten vom 6. September 1790 und vgl. weitere Suppliken desselben vom 14., 18. und 19. Oktober 1790 / Fallakte Wilhelm August Alexander v. d. Osten; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.057. 8 Supplik des Döbling in eigener Sache vom 2. Oktober 1789 / Fallakte Friedrich Döbling; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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Menschen ein hohes gesundheitliches Risiko. Folglich war es das zentrale Anliegen aller inhaftierten Männer und Frauen, das Risiko zu minimieren, und so ergriffen die Angeklagten bzw. Verurteilten die Initiative zu supplizieren. Es ist anzunehmen, dass unter den Häftlingen sowohl auf der Festung wie im Zuchthaus und im Kalandshof einschlägige Informationen zu Supplikationsangelegenheiten kursierten.9 Möglichkeiten des Austauschs unter den Häftlingen gab es reichlich, sei es während der Zwangsarbeit oder in den Schlafzellen, die notorisch überbelegt waren.10 Inhaftierten boten sich drei Möglichkeiten, aus der Haft heraus zu supplizieren: ihren gerichtlich bestellten Defensor mit dem Aufsetzen eines Gesuchs zu beauftragen, Angehörige aufzufordern, dies in ihrem Namen zu erledigen oder der Administration der jeweiligen Strafvollzugsanstalt eine Gnadenbitte mündlich vorzutragen und dort protokollieren zu lassen. Der wegen Mordversuch an seinem Bruder zu lebenslanger Festungsarbeit verurteilte Bäckermeister Gottfried Freudenberg gab zum Beispiel seine Gnadenbitte dem Gouverneur der Festung Spandau zu Protokoll.11 Offenbar hatte sich Freudenberg rechtskundigen Rat eingeholt, denn er bat um eine Revision seines vor über zehn Jahren verhandelten Falls: „Da ich nach den ältern härtern Gesetzen verurtheilt bin, das Allgemeine Land Recht aber gelindere Grundsätze enthält, und mehr Mitleiden gegen Unglückliche blicken läst ( . . . ).“12
Seine Informationsquelle nannte Freudenberg nicht; möglich ist indes, dass er diesen Hinweis von anderen Häftlingen erhalten hatte. Den Untertanen dürfte durch Verlesen der entsprechenden Publikandi immerhin bekannt gewesen sein, dass ein neues Recht, das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten, in Kraft gesetzt worden war. Aber daraus rechtliche Konsequenzen für den eigenen Fall abzuleiten, dies überstieg vermutlich die Fähigkeiten gebildeter Untertanen, 9 Z. B. könnte die Supplik der wegen Brandstiftung zu lebenslangem Zuchthaus verurteilten Witwe Sorgen auf Ratschläge ihrer Mithäftlinge zurückgehen. Der Umstand, dass sie als Witwe ohne familiären Anschluss war und bereits seit 14 Jahren hinter Gefängnismauern saß, legt nahe, dass sie kaum Unterstützung von außen erfuhr. Auf die Hilfe eines Defensors oder der Zuchthausadministration verzichtete sie offenbar, denn ihre Darstellung wirkt allzu konfus, als dass sie von einem professionellen Schreiber hätte aufgesetzt sein können – vgl. Supplik der Sorgen in eigener Sache vom 9. Juli 1791 / Fallakte Sorgen, geb. Heinrich; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235. 10 Im Zuchthaus Spandau musten sich z. B. um 1790 beispielsweise zwei bis drei Personen eine Schlafstätte teilen. Die Arbeit im Zuchthaus, meist Baumwollspinnen und Seidenanbau, wurde in Sälen à 40 Personen verrichtet. Die Stuben für die Zeit außerhalb der Nachtruhe und der Arbeit waren für acht bis 14 Personen konzipiert – vgl. Heinrich Balthasar Wagnitz, Historische Nachrichten und Bermerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland. Nebst einem Anhange über die zweckmässigste Einrichtung der Gefängnisse und Irrenanstalten, 2 Bde., Halle 1791 – 1794, hier 2. Bd., 1. Teil / 1792, S. 218 f. 11 Mündlich vorgetragene Supplik des Freudenberg in eigener Sache vom 5. Juni 1797 / Fallakte Gottfried Freudenberg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 407 – 409. 12 Ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
die des Lesens fähig waren. Folglich konnten solche Informationen nur von rechtskundiger Seite stammen. Da Freudenberg vermutlich kaum noch Kontakt zu seinem damaligen Defensor, der ihn vor über zehn Jahren vor Gericht verteidigt hatte, gehabt haben dürfte, blieb in seinem Umfeld allein die Administration der Fes-tung Spandau als Informationsquelle für rechtsrelevante Aspekte übrig. So bat der Bäckermeister: „( . . . ) und nach dem ich bereits 10 Jahr und beinahe 6 Monathe an diesem Jammer vollen Orte zugebracht habe[,] mir meine so lange verlohrne Freiheit, als das edelste Guth des ganzen Erden Lebens, Gnädigst wieder zu schenken.“13
Aus Freudenbergs Worten sprach das am eigenen Leib erfahrene Leid, die Perspektivlosigkeit eines zu lebenslangem Freiheitsentzug verdammten Lebens. Nach rund 10 Jahren Festungsarrest war für Freudenberg der Zeitpunkt für eine Gnadenbitte gekommen. Dies kam nicht von ungefähr, sondern ist ein weiteres Indiz dafür, dass Freudenbergs Gesuch von einem juristisch Geschulten diktiert wurde: Denn eine Zehnjahresstrafe galt als eine feste Größe bei schweren Vergehen und stellte gewissermaßen eine Sollgrenze bei der Begnadigung einer lebenslangen Haftstrafe dar.14 Die Tatsache, dass Freudenberg nicht unmittelbar nach Inkrafttreten des ALR, also im Laufe des Jahres 1794, supplizierte, sondern erst drei Jahre später, als er seine zehn Jahre abgesessen hatte, spricht dafür, dass er hierüber in Kenntnis gesetzt worden war. Geschickt führte sich Freudenberg mit dem Hinweis auf seine bisher abgeleistete Haft als ein potentiell Geläuterter ein und kam dann auf den mildernden Umstand zu sprechen, der seiner Meinung nach im Verfahren nicht berücksichtigt worden war: Er gab an, in einer durch Alkohol provozierten „Raserei“ seinen Bruder angegriffen zu haben.15 Indem Freudenberg den Tathergang aus seiner Sicht näher erläuterte, ohne ihn indes abzustreiten, nutzte er die einzig reelle Chance einer Neubewertung seiner persönlichen Schuld. Anders als zahlreiche andere Supplizierende argumentierte er nicht mit der schwierigen Situation, in der er seine Ehefrau mit Kind zurückgelassen hatte.16 Es ist offensichtlich, dass Freudenberg nicht, wie andere, lediglich die Bitte um Loßlassung zu Protokoll gab, sondern sein Anliegen zuvor juristisch hat prüfen lassen und dabei im höchsten Maße kalkuliert vorging. Was für Freudenbergs Supplikation gilt, ist auch bei zahlreichen anderen Supplikationen in eigener Sache festzustellen: Eine solche Supplik übernahm häufig die Funktion einer Verteidigungsschrift, in der die Angeklagten bzw. Verurteilten Ebd. Dies geht bspw. aus der Spruchpraxis des Kammergerichts bei Delikten wie bspw. Mordverdacht in der Regierungszeit von Friedrich Wilhelm II. hervor – vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H. 15 So der von Freudenberg gebrauchte Terminus – mündlich vorgetragene Supplik des Freudenberg in eigener Sache vom 5. Juni 1797 / Fallakte Gottfried Freudenberg; in: ebd. 16 Auf diesem Argument basiert die Supplik der Ehefrau Freudenberg vom 20. Juli 1788 / Fallakte Gottfried Freudenberg; in: ebd. 13 14
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auf ihrer Meinung nach im Verfahren nicht beachtete mildernde Umstände aufmerksam machten. Wie Freudenberg ging es ihnen darum, ihre persönliche Schuld zu mindern, indem sie für sich mildernde Umstände angeblich aufgrund von Unwissenheit, Nachlässigkeit, Notwehr, Alkohol oder Wut reklamierten. Solche Argumente erschienen in doppelter Hinsicht nützlich, erhoffte man sich doch, dass damit entweder das Urteil auf rechtlichem Wege revidiert wurde oder ein Freispruch bzw. eine Strafmilderung im Wege der Gnade möglich war. Wurde die Supplikation zur Verteidigung genutzt und wurden dabei nicht nur mildernde Umstände angeführt, sondern das Gerichtsverfahren mit dem Urteil an sich in Frage gestellt, konnte eine plausible Darstellung letztlich nur von Seiten der Angeklagten und Verurteilten selbst erfolgen. Diese Strategie wurde häufig bei Delikten wie Diebstahl, Schlägerei und Beleidigung verfolgt.17 Der hohe Anteil an Supplikationen in eigener Sache erklärt sich dadurch, dass sowohl die Beleidigung als auch die Schlägerei Formen der Konfliktaustragung waren, bei denen letztlich die Urheberschaft der gewaltsamen Auseinandersetzung kaum zu klären war. Bei Diebstahl wiederum kritisierten etliche supplizierende Angeklagte bzw. Verurteilte, dass die Vorgeschichte des Vorfalls vom Gericht nicht in die Betrachtung einbezogen worden war, die angeblich gezeigt hätte, dass es sich nicht um Diebstahl, sondern um ein Ausborgen oder um ein Missverständnis gehandelt habe. In solch strittigen Situationen konnten die Angeklagten bzw. Verurteilten letztlich nur für sich selbst sprechen. Zum Beispiel nutzte der Polizeidiener Friedrich Leer die Supplikation zur Verteidigung, nachdem sein Verfahren abgeschlossen war. Er war empört über das Urteil, welches ihn wegen Beleidigung mit einer 24stündigen Gefängnishaft belegte: „Da ich mich bey deßen mit erhaltenen Bescheid nicht beruhigen kan, und mir darinnen Unrecht geschiehet.“18
Leer war sich keiner Schuld bewusst, denn was die Beleidigung angeht, so bezichtigte er einen Zeugen der Falschaussage: Dieser habe „gänzlich falsch Bekundet“, weil er dies „wieder mich aus Haaß und Neid Bekundet“ habe.19 Leer stand mit seiner Beschwerde, dass die Gerichte Zeugenaussagen aus der Sicht der Angeklagten angeblich ungenügend prüften bzw. auf die Vorladung von entlastenden Zeugen und Zeuginnen verzichteten, nicht alleine da: Viele angeklagte Männer 17 Zahlreiche Supplikanten und Supplikantinnen baten daher um eine Überprüfung der gerichtlichen Untersuchung und dabei insbesondere um Klärung, ob etwa die Vorgeschichte des Streits und gegebenenfalls mildernde Umstände entsprechend berücksichtigt worden waren. – Vgl. Supplik des Stettin in eigener Sache vom 8. September 1786 / Fallakte Johann Michael Stettin (intus: Stettin); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.984; vgl. Supplik des Bendlin in eigener Sache vom 18. Februar 1796 / Fallakte Johann Gottlieb Bendlin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.986. 18 Supplik des Leer in eigener Sache vom 13. September 1796 / Fallakte Friedrich Leer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.203. 19 Ebd.
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und Frauen forderten eine Neuaufnahme der gerichtlichen Untersuchung mit Zeugenanhörung zu ihrer Entlastung.20 Zahlreiche Angeklagte bzw. Verurteilte fühlten sich nicht nur vom Gericht missverstanden, weil ihre Beweggründe nicht ausreichend Berücksichtigung fanden, sondern reklamierten schwerwiegende Verfahrensfehler, infolge derer sie angeblich zu Opfern eines Justizirrtums wurden.21 Diese Beispiele zeigen auch, dass der Übergang von einer Bitte um Gnade zu einer Beschwerde fließend war. Um Anerkennung ihrer Unschuld an dem ihr zur Last gelegten Brand in Müncheberg warb zum Beispiel Witwe Sorgen, geborene Heinrich, in ihrem Gesuch.22 Sie warf dem Gericht nicht nur Parteilichkeit und Voreingenommenheit vor, sondern sie beschuldigte zudem den gerichtlich beauftragten Ermittler, versucht zu haben, ihr unter Folter ein Geständnis abzuringen: „Da nun die Rache des Bürger Meisters groß war, und mir Ketten und Banden und alle Pein und gewalten, daß ich sollte gestehn, ob ich nichts von daß ungelägte Feuer wüste, da ich nun von allen nichts wuste, so wurde ich ohne ortel und recht mit Zeit Lebens nach dem Königlichen Zucht Hauß ge Schickt, habe nun vierzehn Jahr geseßen.“23
Die Vorwürfe der Folter, der unrechtmäßigen Verhaftung und der Parteilichkeit gerieten zum fundamentalen Angriff auf die Rechtmäßigkeit des Verfahrens. Wenn Heinrichs schwerwiegende Vorwürfe tatsächlich berechtigt waren, dann hätte sie 20 Vgl. Supplik des Wegener in eigener Sache vom 24. Oktober 1791 / Fallakte Joachim Wegener; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.057; vgl. Supplik des Mühring in eigener Sache vom 3. August 1789 / Fallakte Eheleute Mühring; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202 und vgl. Supplik des Georgi in eigener Sache vom 29. November 1795 / Fallakte C. G. Georgi; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.203. 21 Hier einige weitere Beispiele von Angeklagten bzw. Verurteilten, die sich offenbar als Justizopfer sahen: So wurde die Tagelöhnerfrau Steuern von Formstecher Haugwitz wegen Betrugsverleumdung angezeigt. Sie fühlte sich indes unschuldig am Streit, da er ihr den Korb mit den von ihm abgekauften Blumen nicht zurückgab, und er „Maulschelte mich rechts und lincks und schmiß mich so dann zum Hauß raus“ – Supplik der Steuern in eigener Sache vom 26. September 1787 / Fallakte Ehefrau Steuern; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. Auch Christiane Westphalen sah in ihrer unterschwelligen Anspielung auf einen Diebstahlsverdacht gegenüber einer Grenadiersfamilie „kein strafbares Vergehen“ und empfand daher den ihr auferlegten achttägigen Gefängnisarrest als ungerecht – Supplik der Westphalen in eigener Sache vom 9. November 1791 / Fallakte Christiane Westphalen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. Ungerecht behandelt fühlte sich ebenfalls der Gürtelmeister Daniel Dionisius Kanniga: Er behauptete, durch seine Verurteilung im Injuria-Fall gegen Ehefrau Wolckwin „gedrückt zu sein“ – Supplik des Kanniga in eigener Sache o. D. [ca. Anfang November 1786] / Fallakte Daniel Dionisius Kanniga; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. Keines Unrechts bewusst war sich der Glasergeselle Ludwig Wilhelm Fester, der einer Beleidigung „als ein Schuldvolles Subjekt mit Arrest Strafe überführt“ worden sei, „ohne zu wißen wie oder warum?“ – Supplik des Fester in eigener Sache vom 29. Januar 1797 / Fallakte Ludwig Wilhelm Fester; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 15.203. 22 Vgl. Supplik der Sorgen in eigener Sache vom 9. Juli 1791 / Fallakte Sorgen, geb. Heinrich; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235. 23 Supplik der Sorgen in eigener Sache vom 9. Juli 1791 / Fallakte Sorgen, geb. Heinrich; in: ebd.
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mit ihrer Supplik die Chance auf Klärung des Sachverhalts ungeschickt verspielt. Denn auf den Empfänger ihrer Supplik musste die Tatsache, dass sie erst nach 14 Jahren der Haft auf eine solche Willkür aufmerksam machte, unglaubwürdig erscheinen.24 Zudem verwickelte sie sich in einen weiteren Widerspruch: Denn ihre Angabe, dass sie „Zeit Lebens“ im Zuchthaus verbringen müsse, impliziert, dass dieses Strafmaß auf einem gerichtlichen Urteil gründete. Hingegen blieben Häftlinge, die auf königlichen Befehl ohne Gerichtsprozess verhaftet worden waren, in der Regel in Unkenntnis über die Dauer ihrer Inhaftierung.25 Daher muss die Aussage von Witwe Sorgen wohl wie folgt gelesen werden: Die von ihr angeführte Pein und gewalten gingen vor allem darauf zurück, dass sie, wie viele Häftlinge, im Untersuchungsgefängnis angekettet worden war und dass man sie – sicherlich nicht mit sanften Methoden – wiederholt verhörte, um ihr ein Geständnis abzuringen. Auch der Stallmeister und Königliche Marschall-Lieferant Krell sah sich als Opfer der Justiz, wenngleich seine Strafe wegen Beleidigung in Form einer Buße von 20 Reichstalern, verbunden mit einer Abbitte gegenüber dem Beleidigten und dessen Ehrenerklärung, weitaus geringer ausfiel als die lebenslängliche Zuchthausstrafe der Witwe Sorgen. Krell schimpfte, dass das Gerichtsverfahren gegen ihn „illegal und empörend“ gewesen sei, da er weder eine Chance auf Verteidigung gehabt hätte, noch ihn entlastende Zeugen hätte vorführen können.26 Angeblich hätte er nämlich dann nachweisen können, dass sein Kläger, der Syndikus Jahn, ihn zuerst mit folgenden Worten beleidigt habe: „daß ich den König betrogen, daß keiner meiner abgelieferten Hengste über 12 Reichstaler werth gewesen“27 und „ich machte alte Pferde jung und setzte ihnen Zähne ein.“28 Die Vorwürfe mussten Krells Ehre verletzen, insbesondere seinen Ruf als Marschall. Dies verlangte wiederum von ihm, den verbalen Angriff zu parieren. Nach dieser Logik wird verständlich, dass Krell seine Reaktion auf die Injurie als Automatismus beschrieb: „worauf ich nothwendig in Hitze gerieht“29, und sogleich an Jahns Adresse konterte: „( . . . ) er [Jahn] müße dan mit alten Weibern umgehen daß ihm Verläumdunge zur andern Natur geworden ( . . . ).“30 24 Jedenfalls erhielt Sorgen auf ihre Gnadenbitte hin ein negatives Dekret in Form einer Resolution. Ob ihre Vorwürfe geprüft wurden, lässt sich nicht ermitteln, da diese Akte nicht vollständig ist – vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte vom 18. Juli 1791 / Fallakte Sorgen, geb. Heinrich; in: ebd. 25 Dies trifft bspw. im Fall des Hof- und Kriegsrates Schoenebeck und seines Sohnes zu, die beide auf königlichen Befehl wegen Majestätsbeleidigung verhaftet wurden, ohne je einem Gericht vorgeführt worden zu sein – vgl. Fallakte Schoenebeck und Sohn; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. B, Paket 15.972. 26 Erste Supplik des Krell in eigener Sache vom 13. August 1789 / Fallakte Krell; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 27 Ebd. 28 Zweite Supplik des Krell in eigener Sache vom 15. Juli 1790 / Fallakte Krell; in: ebd. 29 Erste Supplik des Krell in eigener Sache vom 13. August 1789 / Fallakte Krell; in: ebd. 30 Zweite Supplik des Krell in eigener Sache vom 15. Juli 1790 / Fallakte Krell; in: ebd.
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Krell begegnete Jahn auf derselben Ebene, indem er dessen Redlichkeit in Frage stellte. Er wollte seine Beleidigung als Notwehr, die ihm seine verletzte Ehre abverlangte, verstanden wissen, daher sei dies keine Injurie, sondern „Wahrheit und Erwiderung“.31 Mit dem Wort „Hitze“ bemühte er zudem einen mildernden Umstand, der ausschließlich auf das Handeln von Männern bezogen wurde und der in einigen Suppliken als Argumentation für eine Begnadigung diente.32 Für das Urteil fand Krell klare Worte: „Ein Erkenntniß was in seiner Form und Inhalt gesetzwidrig und unerhört ist“.33 Krell fühlte sich als Opfer einer ungerechten Justiz und bat daher um Überprüfung seines Falls nach Aktenlage.34 Dieser Fall zeigt auch, wie schwierig es in einem solchen Händel war, zu einer Lösung des Konflikts vor Gericht zu kommen, denn beide Parteien machten in der jeweils anderen den Verursacher des Streits aus und sahen ihr Handeln als gerechtfertigt an, weil man die persönlich angegriffene Ehre verteidigen musste. Ähnlich wie Krell fand Akzise-Officiant Johann Friedrich Goetschmann deutliche Worte der Kritik am Vorgehen des Gerichts: „Eure königliche Majestät wollen Allerhöchst geruhen aus anliegendem Erkenntniß des hiesigen Haus Vogtey Gerichts ersehen wie daßelbe in unerwiesenen und uneingestandenen Sachen so eigenbeliebig und unerhört verfährt als es die gesetzlichen Vorschriften nicht erlauben ( . . . ).“35
Wegen eines Händels mit der mutmaßlichen Prostituierten Wilhelmine Ritzenfeld wurde er zu öffentlicher Abbitte und acht Tagen Gefängnis nebst allen Kosten verurteilt. Goetschmann warf dem Gericht vor, dass es ihn schuldig gesprochen hatte, obwohl es ihm die Tat angeblich nicht hatte nachweisen können. Der Supplikant berief sich auf die Gesetze und klagte an, dass das Handeln der Justiz angeblich nicht damit konform gehe, folglich Willkür sei. Der selbstbewusste Ton, in dem der Akzise-Officiant seine harsche Kritik am Hausvogteigericht äußerte, scheint von ehrlicher Entrüstung über die erfahrene Ungerechtigkeit herzurühren. Nach der Aktenlektüre fragt man sich jedoch, inwieweit diese Haltung weniger der eigenen Überzeugung, als vielmehr der Taktik geschuldet war. Denn Ebd. Hitze im Sinne von Wut wird z. B. in folgenden Suppliken als mildernder Umstand angeführt: vgl. Supplik des Bier in eigener Sache vom 19. Juli 1795 / Fallakte August Ludewig Bier; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.986; vgl. Supplik der Ehefrau Liebke vom 28. April 1787 / Fallakte Johann Friedrich Liebke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 517 – 518. Der mildernde Umstand Hitze konnte sich auch auf den erregten Gemütszustand bei übermäßigem Alkoholgenuss beziehen – vgl. Supplik der Ehefrau Freudenberg vom 20. Juli 1788 / Fallakte Gottfried Freudenberg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 395. 33 Erste Supplik des Krell in eigener Sache vom 13. August 1789 / Fallakte Krell; in: ebd. 34 Vgl. zwei Suppliken des Krell in eigener Sache vom 13. August 1789 und 15. Juli 1790 / Fallakte Krell; in: ebd. 35 Supplik des Goetschmann in eigener Sache vom 30. Juni 1787 / Fallakte Johann Friedrich Goetschmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 31 32
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aus den Akten geht hervor, dass es eine Augenzeugin gab, welche bestätigen konnte, dass Goetschmann die junge Ritzenfeld im Verlauf der Auseinandersetzung beleidigt und sie so heftig geschlagen hatte, dass die Folgen durch ein medizinisches Attest festgehalten wurden.36 Goetschmann setzte offensichtlich darauf, dass der Leser der Supplik ihm als Staatsdiener mehr Glauben schenkte als zwei Frauen zweifelhaften Leumunds. An diesem Beispiel zeigt sich wie schon im Fall der Witwe Sorgen, dass die in den Suppliken angeführten Argumente und Motive zur Gnadenbitte nicht den Tatsachen entsprechen mussten, vielmehr wurden sie taktischen Erwägungen angepasst und zugunsten des Absenders umgedeutet. Auch vom Maurermeister Johann Joachim Grentz wurde die Supplikation als ein Instrument der Verteidigung gebraucht. Zuvor hatte Grentz seine Möglichkeiten ausgeschöpft; er war in Appellation gegangen, da er das Urteil in erster Instanz nicht akzeptieren wollte. Doch auch in zweiter Instanz blieb es bei der Sentenz: Wegen Verbalinjurien gegenüber dem Bauinspektor Moser wurde Grentz zu einer vierwöchigen Gefängnisstrafe und öffentlicher Abbitte verurteilt. Der Maurermeister hoffte nun, mit einer Gnadenbitte das Urteil nach Abschluss des Prozesses nachträglich revidieren zu können, um die drohende Strafvollstreckung abzuwenden: „So der gantze Sententz nicht von Naturleche Gerechtigkeit, sondern nur bloß von der Autorität und daß über wiegende ansehen meiner gegner spricht, und mir Lediglich auß diesem Letzten Grund mein Recht abgesprochen wirdt, ja es gehet so gar so weit, daß keine Beweise meiner Gerechten Sache angenommen werden sollen.“37
Der Maurermeister warf dem Gericht vor, ihm seine Rechte abgesprochen zu haben: Zum Ersten beschwerte sich Grentz über einen angeblichen Verfahrensfehler, der dazu führte, dass keine ihn entlastenden Beweise anerkannt wurden. Zum Zweiten bezichtigte er die Richter indirekt der Parteilichkeit, da sie angeblich nicht nach Sachlage, sondern nach dem Ansehen der Person des Bauinspektors entschieden hätten. Damit sei „deß Rechts die Natur der Sache Entstellt worden“.38 Das Gericht habe folglich in seiner Aufgabe gefehlt, die natürliche Gerechtigkeit wieder herzustellen. Mit diesem Vorwurf stellte Grentz die Legitimation des Rechtswesens in Frage, denn im Hinblick auf das von aufklärerischem Ideengut geprägte Herrschaftsverständnis Ende des 18. Jahrhunderts wog die Anklage schwer, dass Willkür das Handeln des Gerichts bestimmt habe. Grentz wurde jedoch nicht von der Strafe verschont, und so schrieb er ein weiteres Gesuch mit der Bitte um Freilassung. Er begründete dies damit, dass seine Verteidigung weder in erster noch in zweiter Instanz berücksichtigt worden sei und 36 Vgl. Urteilsvorschlag des Hausvogteigerichts vom 22. Juni 1787 / Fallakte Johann Friedrich Goetschmann; in: ebd. 37 Erste Supplik des Grentz in eigener Sache vom 30. April 1788 / Fallakte Johann Joachim Grentz; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 38 Zweite Supplik des Grentz in eigener Sache vom 16. Mai 1788 / Fallakte Johann Joachim Grentz; in: ebd.
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„hir durch ist mir offen barr Unrecht und Gewalt geschehen“.39 Als er auch mit diesem Gesuch nichts ausrichten konnte, griff Grentz erneut zur Supplikation, dieses Mal mit der Bitte um Wiederherstellung seiner Ehre. Der Anlass war eine Auftragssperre, welche die Königliche Oberhofbauamtsdirektion, vermutlich auf Betreiben des Bauinspektors Moser, gegen ihn verhängte. Grentz legte eine Abschrift des Dekrets seinem Gesuch als Anlage bei: „Da das Betragen des Maurermeister Grentz fortdauernd von der Art ist, daß die Königliche Ober-Hoff-Bau-Amts-Direction sich genöthiget siehet ihn gänzlich von den Geschäften bey dem Königlichen Immediat Bauen auszuschliessen.“40
Ein solcher Schritt traf nicht nur Grentz’ Ehre, sondern hatte verheerende Folgen für sein wirtschaftliches Auskommen als Maurermeister, da die Oberhofbauamtsdirektion der Auftraggeber für landesherrliche Bauten in der Kurmark war und unter Friedrich Wilhelm II. viele neue Bauten geschaffen wurden.41 Daher versuchte Grentz, gegen die Begründung der Oberhofbauamtsdirektion zu argumentieren, in der Hoffnung, dass die gegen ihn verhängte Auftragssperre aufgehoben würde. Für zentral hielt er dabei die Passage im Schreiben der Oberhofbauamtsdirektion, in der Grentz bescheinigt wurde, „daß der Mensch wircklich eine Art von Wahnsinn habe.“42 Der Maurermeister sah in dieser Aussage, in der er als „ein Unbrauch barer und Unfähiger Mann“ hingestellt werde, eine „Intrijue“, die „nur Einieg brudale Bau-officianten angezettelt“ hätten und die „sich sogar die aller Nieder trächtigste Cabale Erlaubten“, um ihm seine Ehre und seinen Verdienst zu nehmen.43 Der Maurermeister hoffte, diese Aussage durch ein medizinisches Attest widerlegen zu können. So ist dem der Supplik beigefügten Attest des Chirurgus et Professorus Chirurgiae Morsiena zu entnehmen, dass er Grentz für einen „völlig gesunden und brauch baren Mann“ halte, bei dem er außer einigen Fieberanfällen, keine „Kranckheiten bemerckt“ habe.44 Offenbar wollte Grentz nicht verstehen, dass sich die Einschätzung der Oberhofbauamtsdirektion weniger auf seinen Gesundheitszustand, als vielmehr auf sein Sozialverhalten bezog. Auch dieser Fall dokumentiert, dass Supplikationen in eigener Sache unter anderem die Funktion 39 Zweite Supplik des Grentz in eigener Sache vom 16. Mai 1788 / Fallakte Johann Joachim Grentz; in: ebd. 40 Abschrift des Dekrets der Oberhofbauamtsdirektion vom 18. Juni 1788 als Anlage der Supplik des Grentz in eigener Sache vom 28. September 1788 / Fallakte Johann Joachim Grentz; in: ebd. 41 Diese Behörde für Bausachen war Teil der kurmärkischen Kriegs- und Domänenkammer – vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 344 f. 42 Dritte Supplik des Grentz in eigener Sache vom 28. September 1788 / Fallakte Johann Joachim Grentz; in: ebd. 43 Abschrift des Dekrets der Oberhofbauamtsdirektion vom 18. Juni 1788 als Anlage der Supplik des Grentz in eigener Sache vom 28. September 1788 / Fallakte Johann Joachim Grentz; in: ebd. 44 Medizinisches Gutachten des Chirurgus Morsiena vom 29. Juni 1788 als Anlage der Supplik des Grentz in eigener Sache vom 28. September 1788 / Fallakte Johann Joachim Grentz; in: ebd.
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übernahmen, die angeklagte bzw. verurteilte Person in gerichtlichen, aber auch außergerichtlichen Konflikten zu verteidigen. Ein Verfahren vor Gericht stellte aus der Sicht der Untertanen nicht unbedingt das geeignete Instrument dar, um Konflikte im sozialen Umfeld zu lösen. Diese Haltung vertrat auch der jüdische Viktualienhändler aus Wusterhausen, Wulff Moses, in seinen drei Suppliken, denn auch er stellte die Rechtmäßigkeit des Gerichtsverfahrens generell in Frage. Moses warf dem Gericht vor, verkannt zu haben, dass der Kläger, Jonas Jacob, der angebliche Urheber des Streits war: „( . . . ) der Urheber des Streits, der Betrüger Schimpfer, und erwiesener Betrüger wird loßgesprochen, weil der Ausdruck ,was will der Rotzlöffel‘ eine größere Beleidigung als ,Betrüger‘, ,der Teufel auf deinen Kopf‘, ,die Herumläufer sollen nicht Hausiren gehen‘, seyn soll.“45
Moses beließ es nicht dabei, seinem Gegner die Schuld zuzuweisen, sondern versuchte dies zu belegen, indem er die Vorgeschichte, die zum Streit führte, und die Abfolge der gegenseitigen Beschimpfungen im Einzelnen dokumentierte. Nachdem er seine Aussage über den Tathergang gemacht hatte, kam er auf das Urteil zu sprechen: Während Jacob straflos blieb, wurde Moses eine zwölfstündige Gefängnisstrafe und öffentliche Abbitte auferlegt. Das Missverhältnis zwischen dem Urteil und Moses’ Version des Tathergangs ist offenkundig und so stellte er dann auch die zentrale Frage, die sich dem Gnadenträger beim Lesen der Supplik aufgedrängt haben musste: „Wo bleibt hier das Verhältniß zwischen Vergehungen und Strafe [?]“46 In Moses’ Version hatte Jonas Jacob nicht nur den größeren Anteil an Beschimpfungen, sondern vor allem den stärker ehrverletzenden Part übernommen. Daraus leitete sich die Kritik am Verfahren nach den Regeln der Logik ab: „Es ist einleuchtend daß hier das größte Unrecht oder Unwißenheit, oder Partheylichkeit obwalte.“47
Moses gab an dieser Stelle seine Erklärung, wie es zu dem angeblichen Fehlurteil gekommen war, noch nicht preis; noch ließ er dem Leser alle Optionen offen, ob dies aufgrund von Unrecht, Unwissenheit oder Parteilichkeit geschehen sei. Er forderte den König direkt auf, zu beurteilen, ob ihm nicht „Unrecht und Gewalt durch das abgefaßte Erkäntniß“ widerfahren sei.48 Die Antwort lieferte Moses schließlich mit: Er warf dem Richter Parteilichkeit vor, da jener „ein vertrauter Freund“ Jacobs sei.49 Er begründete dies mit seiner Beobachtung, dass beide angeblich gemeinsame Spaziergänge unternahmen, Karten spielten und Punsch zusammen tranken. Außerdem habe der Richter es Moses gegenüber an dem nötigen 45 Supplik des Moses in eigener Sache vom 11. Februar 1787 und vgl. Suppliken dess. vom 24. Dezember 1787 und 24. Februar 1787 / Fallakte Wulff Moses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 46 Zit. aus: ebd. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 Ebd.
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Respekt fehlen lassen, da er ihn im Verhör grundlos angeschrien habe. Resigniert schloss Moses mit den Worten: „So kann freylich ein armer Jude ( . . . ) kein beßeres Erkäntnis erhalten, und ich erwarte von Eurer Königlichen Magestet Gerechtigkeit und Gnade.“50
Mit der Redewendung vom armen Juden wollte Moses vermutlich den Gnadenträger an sein Versprechen erinnern, die so genannten Schutzjuden in Brandenburg-Preußen vor Unrecht zu bewahren. Mit seiner objektiv wirkenden und detailreichen Darstellung hatte der Viktualienhändler tatsächlich das Interesse des Justizdepartements in seiner Funktion als Aufsichtsorgan über die Rechtsprechung geweckt: Dem Vorwurf der richterlichen Parteilichkeit wurde besondere Aufmerksamkeit gewidmet – denn diese letzte Passage der Supplik wurde durch den Empfänger rot angestrichen – und es erging eine Anweisung an das Kammergericht, in dieser Sache zu ermitteln.51 Betrachtet man abschließend das Supplikationsverhalten der Angeklagten bzw. Verurteilten aus geschlechterspezifischer Perspektive, so tut sich eine Differenz auf zwischen rund 82,7 Prozent männlicher Gnadenbitten (210 Gnadenbitten von Männern in eigener Sache im Verhältnis zu insg. 254 Gnadenbitten in eigener Sache) gegenüber rund 17,3 Prozent weiblicher Gnadenbitten (44 Gnadenbitten von Frauen in eigener Sache) gemessen an der Gesamtmenge der Gnadenbitten in eigener Sache. Männer und Frauen griffen in derselben Situation so unterschiedlich häufig auf die Möglichkeit zurück, eine Supplikation in eigener Sache einzureichen, dass dies auf eine Geschlechterspezifik im Handlungsmuster hindeutet. Da Männer im Besitz der potestas waren, war es für sie selbstverständlich, für sich selbst zu sprechen und ihre Interessen gegenüber der Obrigkeit zu vertreten. Als aufschlussreich erweist sich, einen Blick auf das Geschlechterverhältnis der Angeklagten bzw. Verurteilten zu werfen: Die 327 Gnadenfälle dieses Quellenkorpus verteilen sich auf 234 Männer und 93 Frauen; dies entspricht einem Verhältnis von rund 71,6 Prozent männlichen zu rund 28,4 Prozent weiblichen Angeklagten bzw. Verurteilten. Der Befund, dass rund zweieinhalb Mal mehr Männer als Frauen in diese Situation kamen, erklärt in gewisser Weise, warum mehr Gnadenbitten von männlichen als von weiblichen Angeklagten bzw. Verurteilten in eigener Sache vorliegen. Dennoch bleibt eine Differenz bestehen. Über die Gründe, warum Frauen fünfmal seltener als Männer supplizierten, kann nur spekuliert werden, da sich dieses Handlungsmuster durch Schweigen äußert und somit der Nachwelt keine Spuren, nur den Hinweis auf eine Leerstelle hinterlässt. Eine solche Leerstelle ist das Supplikationsverhalten von Frauen, die wegen Homicidia vor Gericht standen: Neben Brandstiftung ist dies die einzige Deliktgruppe, die mehr verurteilte Frauen als Männer aufzuweisen hat (19 Frauen gegenüber 15 Männern). Auffällig ist dabei, dass für diese Gruppe keine Supplik 50 51
Ebd. Vgl. Befehl an das Kammergericht vom 23. Februar 1787 / Fallakte Wulff Moses; in: ebd.
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in eigener Sache vorliegt, sehr wohl aber Gnadenbitten der Eltern und sogar Fürsprachen von Seiten des Gerichts selbst. Die Frauen waren allesamt wegen Kindsmord bzw. Kindsmordverdacht angeklagt, was bedeutet, dass diese Frauen nicht nur gegen das Tötungsverbot verstoßen hatten, sondern sich zudem der ihnen zugedachten geschlechterspezifischen Rolle als Mutter widersetzt hatten. Diese doppelt lastende Schwere des Deliktes könnte sie aus ihrer Sicht für die königliche Gnade disqualifiziert haben, so dass sie die Option, eine Supplik für sich einzureichen, vielleicht gar nicht in Betracht zogen. Offenbar schätzten viele angeklagte und verurteilte Frauen die Supplikation als chancenlos für sich ein und verzichteten daher auf diesen ihnen formal noch verbleibenden Handlungsspielraum – ein Verhalten, welches die niedrige Quote von Supplikantinnen in eigener Sache zum Teil erklärt. Resümee Der Untersuchungsarrest und die Verurteilung führten den Angeklagten bzw. Verurteilten die Notwendigkeit vor Augen, selbst die Initiative zu ergreifen, um ihre Situation zu verbessern – darin bestand ihr vitales Interesse. Entsprechend hoch – rund 38,2 Prozent – liegt der Anteil der Supplikationen in eigener Sache an den Gnadenbitten insgesamt (254 der insg. 665 Gnadenbitten). Den Zugang zum Supplizieren für die unmittelbar Betroffenen kann man als niederschwellig bezeichnen, zum einen da sie im direkten Kontakt mit ihren Gerichtsverteidigern standen, die von Amts wegen zum Aufsetzen von Suppliken autorisiert waren. Zum anderen bot sich den inhaftierten Männern und Frauen auch die Möglichkeit, dem Gericht oder der Gefängnis-, Zuchthaus- bzw. Festungsadministration eine Gnadenbitte vorzutragen und dort protokollieren zu lassen. Das Supplikationsverhalten war geprägt von Vorstellungen der Untertanen über geschlechterspezifische Rollen: So supplizierten angeklagte bzw. verurteilte Frauen fünfmal seltener als Männer. Von einer Supplikation in eigener Sache versprachen sich Frauen offenbar wenig Erfolg, vermutlich weil ihre Interessen gegenüber der Obrigkeit üblicherweise von einem Geschlechtsvormund vertreten wurden, während Männer, die einem Haus vorstanden, dies in eigener Sache taten. Auch führte der niederschwellige Zugang nicht dazu, dass die Betroffenen serienweise supplizierten52 – vermutlich weil dies von Amts wegen unterbunden wurde –, vielmehr beschränkte sich der Großteil der angeklagten Männer und Frauen in der Regel auf eine Supplikation. 52 In der Regel bestehen die Supplikationen in eigener Sache aus einem einzigen Gesuch – beispielhaft vgl. Fallakte Fabrikantenfrau Consentius; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202; vgl. Fallakte Tagelöhnerfrau Steuern; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202; vgl. Fallakte Dorothee Sophie Maschantin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202; vgl. Fallakte Caspar Brüning; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985; vgl. Fallakte Carl Wilhelm Jost; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985; vgl. Fallakte Johann Heinrich Hartendahl; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985; vgl. Fallakte Christliebe Huth; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 237 – 262 etc.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Charakteristisch für die Supplikation in eigener Sache ist, dass sie häufig die Funktion der Verteidigung während des laufenden Gerichtsverfahrens oder nach dessen Beendigung übernahm. Karl Härter erklärt den von ihm ebenfalls ausgemachten Befund damit, dass die eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten im Inquisitionsprozess von den Delinquenten durch Supplikation ersetzt wurden.53 Die Skala der Vorwürfe an die Adresse des Gerichts reichte von Ignoranz gegenüber mildernden Umständen, über Verfahrensfehler insbesondere bei der Zeugenbefragung bis hin zum Justizirrtum. Solche Einwände, die konkret den Tathergang oder das Verfahren betrafen, konnten die Angeklagten bzw. Verurteilten letztlich nur selbst plausibel zur Sprache bringen, so offenbar die Einschätzung der Supplikanten und Supplikantinnen. Supplikationen in eigener Sache konnten mitunter eine von den supplizierenden Männern und Frauen nicht intendierte Botschaft übermitteln: Gab es neben den eigenen keine weiteren Gnadenbitten von Personen aus dem näheren Umfeld der Angeklagten, so konnte dies von der Obrigkeit als ein Hinweis darauf interpretiert werden, dass sie sozial isoliert waren und von ihren Familien, ihrer Nachbarschaft, ihrem Brotherrn etc. keine Unterstützung erfuhren.54 Für die Obrigkeit lag dann die Deutung nahe, dass es sich hierbei um Personen handelte, die den ihnen zugebilligten Platz in der Gesellschaft nicht gefunden hatten bzw. sich weigerten, diesen einzunehmen.55 Entließ man sie aus der Festung oder dem Zuchthaus, so fanden sie womöglich kein festes Netz sozialer Kontakte vor, welches durch ein System gegenseitiger Verpflichtung, sozialer Kontrolle und Disziplinierung in gewissem Maße eine Sicherheit gegenüber einem Rückfall in deviantes Verhalten bzw. in einen kriminellen Lebenswandel bot, so das mutmaßliche Kalkül auf obrigkeitlicher Seite. Aus dieser Perspektive konnten also Gnadenfälle, in denen ausschließlich Gesuche in eigener Sache vorlagen, ein Indiz für widerspenstige Untertanen und Untertaninnen sein, die sich eventuell nicht oder nur mit großer Mühe in die Gesellschaft integrieren ließen. Um einen solchen Verdacht nicht erst entstehen zu lassen, mussten die Angeklagten und Verurteilten ein Interesse daran haben, dass neben ihrer Supplikation weitere Gnadenbitten von anderer Seite kamen. Dies erklärt, warum Supplikationen in eigener Sache häufig in Kombination mit Suppliken des Ehepartners oder von nahen Verwandten erfolgten.56 53 Vgl. Härter 2005, S. 248. Auch Andreas Bauer und Martin Dinges weisen auf die Traditionslinie älterer Verfahren zur Verteidigung hin – vgl. Bauer 1996, S. 187 f.; vgl. Dinges 2000, S. 535. 54 Auch Karl Härter weist darauf hin, dass Supplikationen Dritter als ein Signal für die Integration der betreffenden Person in das System informeller Sozialkontrolle zu verstehen sind – vgl. Härter 2000, S. 479. 55 Seinen Platz in der frühneuzeitlichen Gesellschaft zu kennen, bedeutete, zu wissen, welchem sozialen Stand mit den damit verbundenen ökonomischen Möglichkeiten in Bezug auf Alter, Geschlecht und Familienverbindungen man angehörte – vgl. Olwen Hufton, Frauenleben. Eine europäische Geschichte 1500 – 1800, Frankfurt a. M. 1998, hier S. 301 f. 56 Am häufigsten ist, wie etwa im Fall Pankoni, die Kombination aus eigenem Gesuch und einer Fürbitte der Ehefrau – vgl. Fall Johann Gottlieb Pankoni; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49,
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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2. Gnadenbitten von Eheleuten Die Supplikation von Eheleuten bildet im Verhältnis zur Gesamtheit der Gnadenbitten mit rund 27,8 Prozent (insg. 185 Gnadenbitten) nach den Gnadenbitten in eigener Sache die zweithäufigste Variante unter den Supplikationen. Dies erstaunt nicht, da der zurückgelassene Ehepartner – neben der inhaftierten Person – unter der Situation am meisten zu leiden hatte. Entsprechend brachte dies die zurückgelassene Ehefrau Maria Dorothea Stapelfeld im Gesuch für ihren Mann auf den Punkt: „( . . . ) weil dieselben [Strafe und Bußgelder] mich und meine unschuldigen Kindern am meisten Treffen würden ( . . . ).“57
Dahinter verbirgt sich ein moralischer Vorwurf an die Adresse der Obrigkeit. Hielt die Obrigkeit am Strafmaß für ihren Mann fest, so traf sie die von Maria Dorothea Stapelfeld vorgebrachte Beschuldigung, damit Ungerechtigkeit zu schaffen, weil mit der Strafe nicht nur der für schuldig Befundene, sondern vor allem sein soziales Umfeld getroffen würde. Die Anklage wird jedoch geschickt mit Hilfe des Konjunktivs scheinbar wieder zurückgenommen, so dass jene dies nicht als Beleidigung auffassen konnte. Während die Ehefrau Stapelfeld mit ihrem Gesuch noch versuchte, drohendes Unheil zu verhindern, war dieses bei der Familie des Maurermeisters Böhme bereits bittere Realität: „Wir [d. i. die Ehefrau Böhme mit ihren acht Kindern] leiden dadurch, daß mein Mann in Berlin im Arreste sitzet[,] großen Schaden.“58
Die Verhaftung des Maurermeisters hatte sich offenbar bereits auf die wirtschaftliche Lage der zehnköpfigen Familie empfindlich ausgewirkt. In der Gnadenbitte der Ehefrau Rabe liest sich dies wie folgt: „( . . . ) weil ich ohne Brodschaffer bin und 4 Kinder habe, die noch unerzogen sind.“59 Die Verhaftung des Ehemanns bedeutete den Ausfall des Brotschaffers, Ernährers oder Erwerbers, wie er in den Suppliken genannt wird. Auch der Ausfall der Ehefrau hatte Folgen für die gemeinsame Wirtschaft. Das frühneuzeitliche Haus basierte darauf, dass beide, Ehemann und Ehefrau, in einer Lit. C, Paket 15.985; vgl. diesbzgl. auch Fall Gottfried Freudenberg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180. Auch der Vater trat als Supplikant neben seinen Kindern auf, wie etwa im Fall Friedrich Döbling; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985. Im Fall Stapelfeld reicht die Bandbreite von zehn eigenen Gesuchen, über zwei Fürbitten der Ehefrau bis hin zu einer Supplik des Bruders (näheres zum Fall s. B.I.2.) – vgl. Fall Dieterich Stapelfeld; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 57 Erste Supplik der Ehefrau Stapelfeld vom 13. Dezember 1783 / Fallakte Dieterich Stapelfeld; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 58 Erste Supplik der Ehefrau Böhme vom 5. Januar 1792 / Fallakte Böhme; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 59 Supplik der Ehefrau Rabe vom 12. März 1787 / Fallakte Martin Friedrich Rabe; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. Als Beispiel für einen supplizierenden Ehemann vgl. Supplik des Ehemanns Nagell vom 1. Februar 1797 / Fallakte Nagell, verw. Hoppe; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.077.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
reziproken Tauschbeziehung60 zueinander standen und immanent aufeinander angewiesen waren. So galt der wirtschaftliche Erfolg eines Mannes „kaum als persönliches Verdienst“, sondern „als Ergebnis einer kollektiven Anstrengung“ aller Familien- und Hausmitglieder.61 Für die Dauer der Haft lag die Arbeit des jeweils anderen brach, die keinen Aufschub duldete, wenn es etwa die Pflege und Aufsicht der Kinder, die Versorgung des Viehs, die Bestellung und Ernte der Äcker und Gärten betraf. Im Fall Daehne war es nicht der Ernährer, sondern vor allem die Ehefrau, aber auch die Tochter, die dem zurückgebliebenen kränklichen Schuhmacher fehlten: Er bat um Freilassung von Ehefrau und Tochter, die wegen Misshandlung ihrer Nachbarin einsaßen, weil er als „invalider Soldat“ mit „schwacher Brust“ auf beide in wirtschaftlicher Hinsicht angewiesen sei.62 Sowohl bei einer verhafteten Ehefrau, ungleich häufiger jedoch beim Ehemann, wurde das Szenario des wirtschaftlichen Verfalls des gemeinsamen Haushalts heraufbeschworen. In den Suppliken spiegelt sich die geschlechterspezifische Arbeitsteilung im frühneuzeitlichen Haus wider. Die Leerstelle, welche die inhaftierte Person zurückließ, war nur auf gewisse Zeit und mit ernormer Anstrengung durch den zurückgebliebenen Ehepartner zusammen mit den übrigen Mitgliedern des Haushaltes auszufüllen. Mit den wirtschaftlichen Folgen, hier Wirtschaftsargument genannt, begründeten die Bittsteller und Bittstellerinnen fast standardmäßig eine Begnadigung. Ihr Motiv zu supplizieren bestand hierbei im eigennützigen Interesse am Wohlergehen der eigenen Wirtschaft. Die Art und Weise, wie Bittsteller und Bittstellerinnen das Wirtschaftsargument in ihren Suppliken strategisch nutzten, wird durch Beispiele deutlich: In der Landwirtschaft war das tägliche Arbeitspensum vom Frühjahr bis zum Herbst so hoch, dass der Bauer nicht ohne weiteres ersetzbar war. Inwieweit die Abwesenheit des Ehemanns die Arbeiten auf seinem Hof und in der Schmiede hemmte, zeigt der oben bereits zitierte Fall Stapelfeld. Als der Kolonist Dieterich Stapelfeld von seinem Nachbarn angezeigt wurde, mit dessen Ehefrau einen „ehetraulichen Umgang“ zu pflegen und schließlich sogar ein Kind mit ihr gezeugt zu haben, setzte sich der Beschuldigte vor Beginn des Gerichtsverfahrens ins Mecklenburgische ab. Nachdem in seiner Abwesenheit das Urteil über drei Monate Zuchthausarrest gesprochen war, bat Maria Dorothea Stapelfeld insgesamt zweimal um Strafmilderung, um mit einer Begnadigung ihren Ehemann zur Rückkehr auf ihren gemeinsamen Hof zu veranlassen. Mit ihrer Supplikation zeigte sie der Obrigkeit, dass sie ihrem Mann den Ehebruch offenbar verziehen hatte. Bei ihrer Argumentation verschwieg sie jedoch, dass Dieterich Stapelfeld es vorgezogen hatte, vor 60 Die Bezeichnung reziproke Tauschbeziehung stammt von Heide Wunder – vgl. Heide Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, hier S. 265. Allgemein zum frühneuzeitlichen Haus vgl. Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, 3 Bde., München 1990 – 1994, hier 1. Bd. (1990), S. 12 – 23. 61 Zit. aus: Davis 1986, S. 7. 62 Supplik des Ehemanns (und Vaters) Daehne vom 29. August 1797 / Fallakte Ehefrau und Tochter Daehne; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.986.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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der Strafe zu fliehen, so dass er zum Zeitpunkt des zweiten Gesuchs der Ehefrau seinem Hof seit über einem halben Jahr den Rücken gekehrt hatte, währenddessen er die Strafe in der Hälfte dieser Zeit hätte absitzen können. Bei ihrer Supplikation setzte Maria Dorothea Stapelfeld auf ihre Situation als zurückgelassene Frau, die wie eine Witwe auf sich selbst angewiesen war: „Allergnädigster König und Herr, ich sitze nunmehro schon diesen harten Winter hindurch, mit meinen armen Kinder in der großten dürftigkeit, Elend und Kummer ( . . . ).“63
Die Bittstellerin bzw. ihr Schreiber beherrschte das Repertoire des Supplizierens: Schlüsselbegriffe wie Elend und Dürftigkeit beschreiben die angeblich prekäre wirtschaftliche Situation, die durch die Erwähnung des harten Winters verschärft wird, während der Kummer auf die psychische Dimension des Schicksals verweist; der Hinweis auf die armen Kinder soll anzeigen, dass Unschuldige und Hilflose von dieser Situation betroffen sind. Doch was dann folgt, widerspricht der beklagten Armut: Maria Dorothea Stapelfeld zählte ihren umfangreichen Besitz an Grund und Boden auf, der aus drei Morgen Acker, zwei Morgen Gartenland, einem halben Morgen Wiese und weiteren zehn Morgen Land mit unbestimmter Nutzung bestand; zudem waren sie Pächter des Feldmarktes in Seelow. Sie beschwerte sich, diese große Fläche an Grund und Boden alleine bewirtschaften zu müssen: „Allein, waß hilft dieses alles, wen er [ihr Ehemann] abwäsend seyn muß, und ich ( . . . ) alles das nöthige nicht bewirtschaften kan, und ich zuletzt[,] wen mir keine Hülfe geschiehet, gantz Natürlich an den Bettelstab muß ( . . . ).“64
Die einzige Alternative zum Bettelstab bestand für sie darin, dass die Strafe für ihren Mann moderiert würde, damit die Wirtschaft nicht leide, so Maria Dorothea Stapelfeld. Zu diesem Zeitpunkt war es offensichtlich um die Wirtschaft noch nicht so schlecht bestellt – der Bettelstab war noch nicht ins Stapelfeldsche Haus eingezogen. Es ist davon auszugehen, dass der heraufbeschworene Bettelstab, Symbol der Armut, weniger der reellen Situation entsprach, vielmehr als Ausdruck einer existentiellen Furcht vor einem möglichen wirtschaftlichen Abstieg zu verstehen ist. Die Befürchtung war nicht unbegründet, denn wurde ein Acker aufgrund mangelnder Arbeitskräfte mehr schlecht als recht bestellt, fiel die Ernte entsprechend gering aus. Vom geringen Ertrag mussten nicht nur die Abgaben an die Obrigkeit geleistet, sondern das gesamte Haus durch den Winter gebracht und das Saatgut für die nächste Saison zurückgelegt werden. War dieses knapp bemessen, so war erneut eine magere Ernte zu erwarten – ein solcher Einbruch in das labile System des Wirtschaftens konnte zu einem Teufelskreis werden. Hierbei zeigt sich, dass die Bittsteller und Bittstellerinnen den Monarchen mit ihren Geschichten zu überzeugen versuchten: Der fiktive Gehalt der Geschichten ist Bestandteil des Supplizierens, daneben waren aber auch authentisch wirkende – also nicht unbedingt wahrhaftige – Aspekte notwendig, um die Geschichten plausibel zu machen. 63 Zweite Supplik der Ehefrau Stapelfeld vom 23. März 1784 / Fallakte Dieterich Stapelfeld; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 64 Ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Auch die Ehefrau des Halbhüfers Ludwig Kähler beschlichen derartige Existenzängste, als dieser wegen Totschlags zu sechs Jahren Festungsarrest verurteit wurde: „( . . . ) und ich da durch [Gefängnisstrafe für ihren Mann] in den elendesten Zustand bin versetzt worden, in dem ich nicht vermögend bin, ohne Mann und wirth meiner sämtlichen landwirtschaft vorzustehen und bestreiten zu können, und durch eine solche Länge der Zeit ich in einen Vorfall gerathen würde, da ich nicht vermögend wäre[,] meine gehörigen jahrlichen Abgaben zu entrichten ( . . . ).“65
Zum Zeitpunkt des Gesuchs saß Kähler bereits seit einigen Monaten in Untersuchungsarrest.66 Während dieser Zeit konnte der Hof offensichtlich einigermaßen weitergeführt werden. Nun, da das Urteil in erster Instanz bekannt war, wonach Ludwig Kähler weitere sechs Jahre seinem Hof fernbleiben würde, breitete sich die Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg aus. Wissend, dass das Klagen über das magere Auskommen ihrer Untertanen die Obrigkeit nicht unbedingt zum Eingreifen bewegen würde, spielte die Ehefrau Kähler strategisch geschickt auf das Interesse der Obrigkeit an den Abgaben des Kählerschen Halbhüfer-Hofes an. Das Kalkül ging dennoch nicht auf. Als die Supplikation nicht die gewünschte Wirkung zeigte, ging Ludwig Kähler in Appellation, da er nachweisen konnte, dass er an dem fraglichen Totschlag angeblich nur mittelbar beteiligt gewesen war und sich der Obrigkeit zudem freiwillig gestellt hatte. Seine Hoffnung trug nicht, denn das Urteil wurde in zweiter Instanz tatsächlich auf zwei Jahre Festungsarrest gemildert.67 Auch im Gewerbe konnte der Ausfall des Ernährers auf Dauer kaum wettgemacht werden. Gegen den Fuhrmann Johann Christian Ronneburg wurde ermittelt, da er in eine Schlägerei verwickelt war, in deren Folge ein Mensch zu Tode kam. Seine Frau bat mit folgender Begründung um seine Freilassung: „Ich habe 2 noch unerzogene Kinder, und weil ich mit diesen meine große Wirthschaft nicht fortführen und dem Fracht-Fuhrwesen ohne Beyhülfe meines Mannes längerhin allein nicht vorstehen kann, so gehet selbige zu Grunde, ich werde bey längerer Fortdauer der Gefangenschaft meines Mannes, nebst ihm und meinen armen Kindern ruiniret, und gerathe mit ihnen in die alleräußerste Armuth.“68
Zwar war die Ehefrau Ronneburg am Frachtfuhrgeschäft beteiligt und konnte dieses eine gewisse Zeit allein leiten, doch war die Wirtschaft letztlich vom Fuhrmann selbst abhängig. Dessen Abwesenheit musste auf Dauer das Geschäft rui65 Erste Supplik der Ehefrau Kähler vom 19. Juli 1797 und vgl. zweite Supplik ders. vom 26. Oktober 1797 / Fallakte Ludwig Kähler; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 567. 66 Den Akten ist in diesem Fall nicht zu entnehmen, wie lange der Untersuchungsarrest währte. 67 Vgl. Annahme-Order in zweiter Instanz vom 25. September 1797 / Fallakte Ludwig Kähler; in: ebd.; fol. 579. 68 Supplik der Ehefrau Ronneburg vom 12. März 1788 / Fallakte Johann Christian Ronneburg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 415.
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nieren, so die Befürchtung der Ehefrau. Unbegründet war dies nicht, denn das Gewerbe lief in der Regel offiziell über den Mann, und die Zulassung war von dessen Qualifikation abhängig – insofern wirkte diese dem Gnadenträger erzählte Geschichte plausibel. Ähnlich begründete die Ehefrau des wegen Beleidigung einsitzenden Hofmaurermeisters Böhme ihre Bitte um seine Freilassung: „Mein Mann ist mir in der Wirthschaft unentbehrlich. ( . . . ) Bey der jetzigen Frost-Witterung kann er zwar nichts großes arbeiten, es kommen aber doch hin und wieder solche Arbeiten vor, wobey seine Gegenwarth nothwendig ist, besonders da ihm alle Arbeiten in Eurer Königlichen Majestät neuen Garten anvertrauet sind.“69
In diesem Fall schien die Ehefrau, die sich selbst „eine kranke Frau“70 nannte, relativ geringen Anteil am Gewerbe ihres Mannes gehabt zu haben. Der Hinweis auf Böhmes Auftrag, den Neuen Garten in Potsdam anzulegen, gab dem Arbeitsausfall des Hofmaurermeisters eine Dimension, die weit über die Betroffenheit der Eheleute hinausging. Nicht nur seine Ehefrau und die acht Kinder waren auf seine Freilassung angewiesen. Seine Begnadigung lag offensichtlich auch im Interesse des Bauherrn, also des Königs Friedrich Wilhelm II. Zunächst fiel das darauf folgende Dekret negativ aus, doch eine weitere Supplikation der Ehefrau – zusammen mit einer Gnadenbitte des Beleidigten – bewirkte sodann Böhmes Freilassung.71 War bisher von der Leerstelle die Rede, die ein Ehemann nach Aussage der Supplikantinnen hinterließ, wenn er im Arrest saß, soll im Folgenden der Fokus darauf gerichtet werden, welche Argumente und Motive für eine Supplikation zugunsten der verhafteten Ehefrau angeführt wurden. Der greise und gebrechliche Rowohl monierte zum Beispiel, dass seine Versorgung während der 14 Wochen, in denen seine Ehefrau in Untersuchungsarrest war, nicht mehr gewährleistet war: „Allergnädigster König und Herr! – Ich alter 70jähriger Invalide muß fast vor Kummer und Sorgen vergehen[,] dieweil ich meiner Frauen Verpflegung so lange Zeit entbehren müßen, daß also gezwungen bey fremden Leuten meinen Nothdürftigen Unterhalt zu suchen und zur Kost zu fallen ( . . . ).“72
Während dieser Zeit fiel der Beitrag von Catharina Elisabeth Rowohl zum gemeinsamen Unterhalt weg. Schenkt man Rowohls Geschichte Glauben, so wurde vor allem seine Beköstigung zu einem vorrangigen Problem, da er nun, wenn er einer Mahlzeit bedurfte, angeblich auf seine Nachbarschaft angewiesen war. Die aktuelle Situation und vor allem die Aussicht auf die sechsmonatige Zuchthausstrafe, zu der seine Ehefrau wegen Unterschlagung eines Briefes, der einige Louis 69 Erste Supplik der Ehefrau Böhme vom 5. Januar 1792 / Fallakte Böhme; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 70 Zweite Supplik der Ehefrau Böhme vom 22. Januar 1792 / Fallakte Böhme; in: ebd. 71 Vgl. Dekret in Form einer Resolution vom 9. Januar 1792 und 30. Januar 1792 / Fallakte Böhme; in: ebd. 72 Supplik des Ehemanns Rowohl vom 2. Juli 1787 / Fallakte Catharina Elisabeth Rowohl; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
d’Or beinhaltete, verurteilt wurde, war offenbar der Auslöser für Rowohls Supplikation. Auch in der Müllerwirtschaft in Tangermünde lag nach Aussage des Müllers seit der Arretierung der Hausmutter angeblich einiges im Argen, so dass Spangenberg bat: „( . . . ) daß gedachte meine Frau geborene Kriegs ihrer Strafe entlediget würde, und selbige sich in meine Wirthschaft baldigst begeben könne.“73
Maria Elisabeth Spangenberg, geborene Kriegs, gestand, dass sie ihren ersten Mann, mit dem sie 15 Jahre zusammengelebt hatte, vor fünf Jahren verlassen hatte, als „er sie nicht mehr ernähren können, sie auch nicht länger behalten wollen“.74 Da jener nicht in eine Scheidung einwilligte, gab sie sich als Witwe aus und verheiratete sich mit dem Altmeister des Müllergewerks in Tangermünde. Dieser sah sich nun als Leidtragender der Situation und begründete entsprechend seine Gnadenbitte: „( . . . ) da zumahl ich in dieser Sache der mitgenommenste Mann[,] der gar zu starck dabey leidet, und 5 kleine unmündige Kinder habe, die besonders mütterlicher Rücksicht und Pflege sehr benöthiget sein ( . . . ).“75
Spangenberg griff hierbei ein narratives Muster auf, welches auf der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung basierte: Die Aufgabe der Mutter, sich um Aufsicht und Versorgung der unmündigen Kinder zu kümmern. Als unmündig galten Mädchen bis zum Alter von etwa 11 Jahren und Jungen bis zum Alter von etwa 13 bis 14 Jahren.76 Das konkrete Alter der Kinder wurde in den Suppliken nicht genannt, in der Regel wurden sie lediglich als säugend, unerzogen oder unmündig bezeichnet; das Geschlecht der Kinder spielte hingegen keine Rolle bei der Supplikation. Die scheinbar geschlechtsneutrale Kindheit wurde also in das Säuglingsalter, das Kleinkindalter und in die Zeit der Unmündigkeit während des geistigen und körperlichen Heranwachsens unterteilt. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Mutter in diesem Fall für die Pflege und Aufzucht der Kinder eingefordert wurde, macht deutlich, dass es sich hierbei um ein spezifisch weibliches Arbeitsfeld handelte. Strategisch geschickt brachte Spangenberg das Leid seiner die Mutter entbehrenden Kinder vor. Doch auch in der Wirtschaft wurde Maria Elisabeths Aufsicht und Arbeitskraft vermisst: 73 Supplik des Ehemanns Spangenberg vom 10. Juni 1788 / Fallakte Maria Elisabeth Spangenberg, geb. Kriegs; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 74 Rechtsgutachten o. D. [ca. 8. Februar 1788] / Fallakte Maria Elisabeth Spangenberg, geb. Kriegs; in: ebd. 75 Supplik des Ehemanns Spangenberg vom 10. Juni 1788 / Fallakte Maria Elisabeth Spangenberg, geb. Kriegs; in: ebd. 76 Ausschlaggebend war vermutlich der Grad der geistigen und körperlichen Entwicklung und damit verbunden die Geschlechtsreife. Ab dem genannten Alter galten Jugendliche in der Regel als erwachsen, sie konnten dann bspw. zur Firmung gehen und sich als Mägde und Knechte verdingen – beispielhaft vgl. Dülmen 1990, S. 80.
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„( . . . ) in meiner gar zu großen und weitläufigen Wirthschaft[,] die ich nicht allein ohne Beyhülfe meiner Frau übersehen kann ( . . . ).“77
Als Altmeister des Müllergewerks und gemessen an seinem in dem Gesuch angegebenen Besitz an Grund und Boden war Spangenberg ein wohlhabender Untertan, der entsprechend hohe Abgaben zahlte. Vor diesem Hintergrund liest sich seine Begründung, „damit nicht ein entblößtes Subject aus Allerhöchstes Interesse darunter litte“,78 als ein Hinweis darauf, dass auch die Obrigkeit ein materielles Interesse an der Begnadigung seiner Frau haben könnte. Im ärmlichen Tagelöhnerhaushalt der Hoffmanns konnte zwar nicht mit dem obrigkeitlichen Interesse für die Begnadigung der Ehefrau geworben werden, dennoch war das Argument des Ehemanns zu supplizieren vergleichbar. Hoffmann wies darauf hin, dass Dorothea Elisabeth neben drei kleinen Kindern noch „ein säugendes Kind von einigen Wochen hat“ [s. C.II.6.b)].79 Die Zuchthausstrafe, zu der Dorothea Elisabeth wegen „attentirte[r] Beschädigung“ ihrer verwitweten Schwägerin, die sie mit Quecksilber vergiftet hatte, verurteilt wurde, hatte zur Folge, dass die Mutter für ein Jahr von ihren Kindern, insbesondere von ihrem Säugling, getrennt werden sollte. Einem möglichen Einwand gegen sein Argument für die Freilassung seiner Ehefrau begegnete Hoffmann sogleich, indem er darauf hinwies, dass das kärgliche Auskommen als Tagelöhner keinesfalls zuließ, eine Wärterin mit der Pflege der Kinder zu beauftragen. Wie im wohlhabenden Müllerhaushalt wurde die Hausmutter nicht nur von ihren Kindern, sondern auch von ihrem Mann in der Wirtschaft vermisst. Vor allem sorgte sich Hoffmann nun inmitten des Monats Mai um die anstehende: „( . . . ) Bestellung des Gartenlandes, woraus arme Tagelöhner gewöhnlich den ganzen Winter hindurch seinen Unterhalt nehmen muß, höchstnotwendig bedarf.“80
Die Pflege des Gartens war Teil der von der Hausmutter zu erledigenden Arbeit. Daher bat der Tagelöhner Hoffmann in seiner dem Justitiarius mündlich vorgetragenen und von jenem protokollierten Gnadenbitte, die Strafe seiner Frau bis zum Winter, wenn der Garten abgeerntet und das Kind abgestillt sei, auszusetzen. Noch dramatischer gestaltete sich die familiäre Situation durch die haftbedingte Abwesenheit der Caroline Wilhelmine Zimdal von ihren Kindern. Als Zimdal, die des Diebstahls von einigen Ellen Taft aus einem Seidenladen überführt worden war, bereits 15 Wochen in Untersuchungsarrest zugebracht und nun noch eine einjährige Freiheitsstrafe zu erwarten hatte, bat ihr Ehemann um ihre Freilassung, 77 Supplik des Ehemanns Spangenberg vom 10. Juni 1788 / Fallakte Maria Elisabeth Spangenberg, geb. Kriegs; in: ebd. 78 Ebd. 79 Zit. aus: Mündlich vorgetragene Supplik des Ehemanns Hoffmann vom 9. Mai 1793 / Fallakte Dorothea Elisabeth Hoffmann, geb. Braband; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. N, Paket 16.245. 80 Ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
zumal „auch ein Säugendes Kind, welches für bestandig krank war, und von dem Ungezieffer geplaget wurde“, ihr in der Gefängniszelle Gesellschaft leisten musste.81 Doch nicht nur der Säugling wurde von Krankheiten heimgesucht: Laut Peter Zimdal traf es die beiden anderen Kinder und ihn selbst weitaus schlimmer: „( . . . ) welche Schande, welches Unglück war es nicht vor mir, und zu dem meine noch 2 unmündige Kinder lagen kranck und bleich in die Pocken ( . . . ); keinen Menschen konnte ich mir halten, ich mußte also meine Kinder allen Handreich selbsten gestatten, ich bin also in 10 Nächte nicht zu Bette gekommen, die Kinder wurden Gesund, ich hingegen fiel in eine Kranckheit die mich so aus gemmergelt und Aus gezehret hat, daß ich mich von allen entblößt sehe, mußte ein Stück nach dem andren Verkauffen, um mich nur mit meiner Armen Frau und Kinder zu unterhalten ( . . . ).“82
Peter Zimdal vermisste seine Frau bei der Krankenpflege seiner Kinder, die ihn so sehr in Anspruch nahmen, dass er offenbar sein Gewerbe vernachlässigte. Zwei Wochen darauf supplizierte Zimdal erneut: „( . . . ) was soll ich armer Man anfangen mit meinen unschuldigen Kindern, mein Gewerbe, wo mit ich mein Brodt bis hirher habe erworben, habe müßen liegen laßen, und solange ich noch was unter meiner Seele gehabt, aus Noth verkauffen müßen, das letzte tieffe Bette habe ich fort getragen[,] um sie nicht Hunger sterben zu laßen und liege nun mit meinen armen Würmern auf Stroh. Ich befinde mit seit der Zeit ohne Verdienst, und bin nackent und bloß geworden, durch den Arreste meiner Frau ( . . . ).“83
Die Art und Weise der Darstellung verrät, dass sich der Supplikant bzw. sein Schreiber auf die Dramaturgie des Geschichtenerzählens verstand: Die Pocken hatten alle überlebt, aber nun rächte es sich, dass sich Zimdal in dieser Zeit nicht um das Auskommen hatte kümmern können, wie es seine Rolle als Ernährer vorsah. Um den aktuellen Lebensbedarf bestreiten zu können, musste er alle Habe veräußern, so dass es mittlerweile angeblich kein Bett, sondern nur noch Strohsäcke im Hause Zimdal gab. In diesem Fall ging es schon nicht mehr um die bloße Angst vor einem möglichen wirtschaftlichen Niedergang, denn die Familie steuerte bereits unaufhaltsam dem Ruin entgegen. Aus Zimdals Sicht war dieses Schicksal durch die ungerechtfertigte Klage gegen seine Frau ausgelöst worden. Neben dem wirschaftlichen Argument begründete er die Freilassung seiner Ehefrau damit, dass die unschuldigen Kinder ihrer Mutter bedurften. Zimdals Suppliken lehren, dass die Leerstelle, die eine Ehefrau und Mutter durch ihre Inhaftierung in der Familie hinterließ, ähnlich drastische Folgen wie der Ausfall des Ernährers haben konnte. Dass Frauen nicht nur im reproduktiven Bereich des Haushalts tätig, sondern auch in der Wirtschaft bzw. im Gewerbe voll integriert waren, belegen etliche Sup81 Erste Supplik des Ehemanns Zimdal vom 18. Juni 1790 / Fallakte Caroline Wilhelmine Zimdal, geb. Geister; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056. 82 Ebd. 83 Zweite Supplik des Ehemanns Zimdal vom 2. Juli 1790 / Fallakte Caroline Wilhelmine Zimdal, geb. Geister; in: ebd.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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pliken, unter anderem ging dies am Rande aus dem oben Zitierten hervor.84 Ein weiteres diesbezügliches Beispiel ist der Fall Ring: Der Hutfabrikant Ring konnte auf die Mithilfe der Ehefrau Christiane in seinem Gewerbe keineswegs verzichten. Ring versuchte mit diesem Argument eine Begnadigung von den acht Tagen Gefängnis zu erreichen, die seiner Ehefrau wegen Beleidigung einer Soldatenfrau auferlegt worden waren: „( . . . ) da ich aber wegen sehr dringender Regiments-Arbeit, wobey meine Frau das einfaßen der Soldaten-Hüte verrichten muß, und worüber ich einen Beschleunigungsbefehl vom Regiment erhalten habe, mir nicht möglich ist, meine ehefrau auch jrgend einen Tag aus meiner Wirthschaft zu entbehren ( . . . ).“85
Geschickt wies der Hutfabrikant auf die aktuelle Auftragslage seines Geschäftes hin, dem eine Eilbestellung des Militärs über Soldatenhüte vorlag. Die Begründung, warum er in keiner Weise auf die Arbeitskraft seiner Ehefrau verzichten könne, wirkt vor allem dadurch authentisch, weil er die Arbeitsschritte, die seine Ehefrau bei der Hutherstellung angeblich übernahm, konkret benannte. Die Begründung des Ehemanns deutet implizit an, dass eine Begnadigung von Christiane Ring kriegswichtig sei: So gesehen würde ihre sofortige Inhaftierung dazu führen, dass sich die Justiz den Ärger des Militärs auf sich zog [s. C.II.6.a)].86 Die Lektüre der Suppliken zeigt, dass der Ausfall der Arbeitskraft und damit verbunden das eigene wirtschaftliche Interesse nicht nur ein entscheidendes Motiv zur Supplikation, sondern zudem ein Argument war, von dem die Absender zumindest annahmen, dass es bei der Abwägung für oder gegen eine Begnadigung Gewicht haben könnte [s. C.III.2.c)]. Schließlich wurde mit dem Ruf nach der Arbeitskraft des Ehepartners der Obrigkeit signalisiert, dass die verurteilte Person ihr Auskommen und damit ihren Platz in der Gesellschaft gefunden hatte. Dies konnte die Obrigkeit wiederum darauf hoffen lassen, dass sich der bzw. die Verurteilte nach Entlassung aus der Haft wieder in sein soziales Umfeld integrieren würde. Beim Supplizieren konnten die Ehepartner anders als die Angeklagten bzw. Verurteilten auf einen entscheidenden Vorteil setzen: Sie galten als unschuldig, da sie in der Regel nicht an dem Vergehen beteiligt gewesen waren. Eben dies wollte die Ehefrau Stapelfeld mit der oben zitierten Aussage andeuten, als sie einwarf, dass 84 Vgl. Supplik des Ehemanns Spangenberg vom 10. Juni 1788 / Fallakte Maria Elisabeth Spangenberg, geb. Kriegs; in: ebd.; vgl. Supplik der Ehefrau Ronneburg vom 12. März 1788 / Fallakte Johann Christian Ronneburg; in: ebd., fol. 415; vgl. Supplik der Ehefrau Kähler vom 19. Juli 1797 / Fallakte Ludwig Kähler; in: ebd., fol. 567. Die geschlechterspezifische Arbeitsteilung in der Frühen Neuzeit wurde nicht entlang der für das 19. Jahrhundert verwandten Begriffe „produktiv“ und „reproduktiv“ gedacht – vgl. Wunder 1992, S. 95; zu Arbeitsfeldern von Frauen vgl. ebd., S. 89 – 154. Beispielhaft zu den Tätigkeiten von Frauen in der Landwirtschaft, im Handwerk und im Handel vgl. Hufton 1998, S. 212 f., S. 216 – 220. 85 Supplik des Ehemanns Ring vom 1. März 1793 / Fallakte Christiane Ring; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.203. 86 Vgl. Dekret in Form einer Resolution vom 4. März 1793 / Fallakte Christiane Ring; in: ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
die Bestrafung für das Vergehen ihres Mannes „mich und meine unschuldigen Kinder“ und damit am Vergehen Nichtbeteiligte treffen würde.87 Auch in ihrem folgenden Gesuch wies die Stapelfeld erneut darauf hin, dass sie sich letztlich als unschuldiges Opfer für das Vergehen ihres Mannes, welcher der Unzucht angezeigt wurde, sah: „( . . . ) jedoch scheinet mir die Strafe die ihm sowohl, als auch die erlegung des Geldes wie schon angeführet viel zu hart sein dürften[,] zu mahl da ich im Fall des letzteren das Opfer von ihm wieder mein verschulden lediglich seyn soll ( . . . ).“88
Maria Dorothea Stapelfeld nutzte ihre Position als angeblich Leidtragende aus: War sie bereits durch den Ehebruch ihres Mannes in ihrer Ehre als Ehefrau und Hausmutter verletzt worden, so würde der Vollzug des Gerichtsurteils ihren Opferstatus aus ihrer Sicht zementieren. Als Leidtragende beanspruchte sie daher das Recht, die drohende Strafe zu kritisieren.89 Ihre Supplikation war zugleich ein Zeichen an die Adresse der Obrigkeit, dass sie ihrem Mann den Ehebruch längst vergeben hatte; die strafrechtliche Verfolgung seines Vergehens hatte sich damit aus ihrer Sicht erledigt. Die Vergebung wurde auch von der Ehefrau Wolff in ihrer Supplik strategisch eingesetzt, um die Schuld ihres Mannes zu mindern: Johann Adam Wolff wurde vorgeworfen, im Alkoholrausch seine Ehefrau mit einem Strick unter lautem Geschrei verprügelt zu haben, so dass ein Nachbar nach der Wache rief. Diese wurde von Wolff so heftig attackiert, dass mehrere Wachen leichte Verletzungen davontrugen, ein Unteroffizier erlitt dabei einen Rippenbruch.90 Die Ehefrau spielte die Misshandlung ihres Ehemanns herunter: Er habe nur „durch Trunckenheitt mit mir einen Streit gehabt, wie es öfters unter Eheleuthen vorfällt“.91 Mit dieser Aussage wollte die Ehefau Wolff den Streit als ein von der frühneuzeitlichen Gesellschaft toleriertes Maß an Gewalt in Ausübung der patria potestas gegenüber der Ehefrau verharmlosen. Außerdem sollte der Obrigkeit mit der Supplik signalisiert werden, dass sie ihm diesen Streit längst verziehen hatte. Die Behandlung ihres Mannes durch die Wachen erboste die Ehefrau Wolff weitaus mehr: Diese hätten ihn „nicht wie ein Bürger und Meister, sondern mit gebundenen Händen wie ein Delinquent“ abgeführt, ihn sodann auf der Wache „ins Gesicht geschlagen“ und dort sei er „von denen Soldaten auf das gröbeste Gemishandelt worden“.92 Von der Wache ab87 Erste Supplik der Ehefrau Stapelfeld vom 13. Dezember 1783 / Fallakte Dieterich Stapelfeld; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 88 Zweite Supplik der Ehefrau Stapelfeld vom 23. März 1784 / Fallakte Dieterich Stapelfeld; in: ebd. 89 Zweite Supplik der Ehefrau Nelcke vom 1. Februar 1788 / Fallakte Friedrich Wilhelm Nelcke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 90 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. Mitte Februar 1788] / Fallakte Johann Adam Wolff; in: GStA PK, I. HA, Lit. C, Paket 15.985. 91 Supplik der Ehefrau Wolff vom 9. Februar 1788 / Fallakte Johann Adam Wolff; in: ebd. 92 Ebd.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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geführt zu werden und in aller Öffentlichkeit eine fünfstündige Prügelstrafe verabreicht zu bekommen, bedeutete einen herben Ehrverlust, der die Ehefrau ebenfalls traf. Der Supplik kam aber hauptsächlich die Funktion zu, nach außen Solidarität mit dem Ehemann zu bekunden und damit seinen guten Ruf soweit als möglich wieder herzustellen. Indem die Ehefrau Wolff das Zeichen setzte, dass sie zu ihrem Mann stand, stärkte sie zugleich auch ihre Position in der Ehe – unabhängig davon, ob ihre Gnadenbitte erhört wurde oder nicht. Chancen auf eine Begnadigung erhoffte sie sich aber von ihrer Rolle als Opfer und als Leidtragende der Umstände. Aus der Position eines Unschuldigen heraus, der sich ohne Verschulden einer misslichen Lage ausgesetzt sah, war offenbar gut zu supplizieren.93 Die Supplikanten und Supplikantinnen rechneten sich scheinbar gute Chancen aus, dass das Schicksal unschuldiger, rechtschaffener Untertanen das Mitleid des Königs weckte und er daraufhin die erflehte Begnadigung gewährte. Diesen Trumpf spielte auch der Ehemann der Anna Elisabeth Schulze aus, die wegen eines gestohlenen „Pündels Wolle“, welches sie dem Weißgerber Sprung angeblich entwendet und ihrer Nachbarin verkauft habe, seit elf Wochen in Untersuchungsarrest zubrachte: „( . . . ) ich weiß nicht[,] ob Sie [Anna Elisabeth Schulze] diesen Arest[,] der so sehr Hart ist, verdient oder nicht, und wenn Sie selbigen auch würcklich verdiente, so kann ich und meine armen unmündigen Kinder, doch nicht darunter Leiden.“94
Damit brachte der Fleischermeister Johann Gotthilf Schulze sein völliges Unverständnis darüber zum Ausdruck, dass er und die Kinder für das angebliche Fehlverhalten seiner Frau büßen sollten. Um seine Position als Unschuldiger zu stärken, betonte er, von der seiner Frau vorgeworfenen Angelegenheit nichts zu wissen. Schulze hatte allerdings noch einen Grund, warum er seine angebliche Unwissenheit über das Handeln seiner Ehefrau in solch distanzierter Weise betonte: In Besitz der patria potestas als Vorstand des Hauses war es seine Pflicht, darauf zu achten, dass alle Hausangehörigen Gesetze und moralische Wertvorstellungen einhielten, allen voran seine Ehefrau, die als Hausmutter Verantwortung für Kinder und Gesinde trug. Ein Vergehen der Ehefrau konnte dem Ehemann in gewisser Weise als Vernachlässigung seiner Pflichten ausgelegt werden; er wurde somit indirekt ein Stück weit mitverantwortlich. Gegen diese mögliche Unterstellung versuchten supplizierende Ehemänner anzureden. Vor diesem Hintergrund muss die in der Supplik zum Ausdruck gebrachte Distanzierung Schulzes von seiner Ehefrau verstanden werden. Während sich die Ehefrauen mit einer Selbstverständlichkeit als Unschuldige und Unwissende in Bezug auf das ihren Ehemännern zur Last gelegte Vergehen in 93 Auch die Ehefrau Nelcke merkte an, dass die Bestrafung ihres Mannes unschuldiges Leben gefährde: „so müste ich unschuldige Frau und mein armes Kind vor Hunger und Kumer umkommen.“ – zweite Supplik der Ehefrau Nelcke vom 1. Februar 1788 / Fallakte Friedrich Wilhelm Nelcke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 94 Erste Supplik des Ehemanns Schulze vom 15. August 1786 / Fallakte Anna Elisabeth Schulze; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 15.996.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
den Suppliken präsentierten, war dies für supplizierende Ehemänner offenbar schwieriger, denn ihre Unschuld und Unwissenheit war offenbar begründungswürdig. Daher findet man in Suppliken von Ehemännern in der Regel Beteuerungen, dass das Vergehen, welches ihren Ehefrauen vorgeworfen wurde, nicht mit ihrem Wissen und Einverständnis geschah. Als der auf dem Schloss beschäftigte Tagelöhner Johann Friedrich Lentz um eine Verringerung des Bußgeldes bat, welches seiner Ehefrau auferlegt worden war, weil sie gestohlenes Bauholz aufgekauft hatte, betonte er seine Unwissenheit mit den Worten, dass seine Frau, „ohne mein Wunsch und Wile mir daß Holtz gekauft hat.“95 Daraus folgt, dass Ehemänner nicht ohne weiteres die Position als Unschuldige, die unter der Bestrafung mit zu leiden hatten, für sich reklamieren konnten. Eine andere Taktik, als auf Distanz zu gehen und seine Unwissenheit zu betonen, bestand darin, die grundsätzliche Rechtschaffenheit der Ehefrauen zu beteuern. Diese Taktik war unter den supplizierenden Ehemännern recht verbreitet, wie zum Beispiel der Brauer Janemann, der über seine wegen Hausdiebstahl zur Verantwortung gezogene Frau sagte: „habe meine Ehegenoßin immer rechtschaffen und treu gefunden.“96 Auch Peter Zimdal bekannte seine Unwissenheit über den von seiner Frau begangenen Diebstahl mit den Worten: „mir ist kein schlechter Streich von meiner Frau bekandt so lange ich in der Ehe mit ihr lebe.“97 Auf diese Weise signalisierten die Ehemänner der Obrigkeit, dass sie ihrer Pflicht, ihre Ehefrauen zu führen, sehr wohl nachgekommen waren. Wegen der Mitverantwortung, in der Hausväter in gewissem Maße für das Vergehen ihrer Ehefrauen standen, wurden Gnadenbitten der Ehemänner aus der Sicht der Untertanen vermutlich nicht die besten Chancen eingeräumt. Dieser Umstand erklärt vermutlich die relativ geringe Bereitschaft von Ehemännern, für ihre angeklagten Frauen eine Supplikation einzureichen. Während supplizierende Frauen an erster Stelle als Ehefrauen auftraten, rangierten Ehemänner unter den supplizierenden Männern erst an dritter Stelle. So wurden rund 54,3 Prozent der Gesamtzahl aller Gnadenbitten weiblicher Absender von den Ehefrauen getragen, die Ehemänner supplizierten hingegen nur zu rund 10,3 Prozent gemessen an der Zahl der Gnadenbitten von Männern. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass insgesamt nur 41 Gnadenbitten von Ehemännern im Vergleich zu 144 Gnadenbitten von Ehefrauen vorliegen. Oder anders ausgedrückt: Von den Gnadenbitten der Eheleute entfallen rund 77,8 Prozent auf Ehefrauen, hingegen nur rund 22,2 Prozent auf Ehemänner. Das unterschiedliche Supplikationsverhalten von Ehemännern und Ehefrauen relativiert sich allerdings mit Blick auf die Geschlechtszugehörigkeit der Verurteil95 Supplik des Ehemanns Lentz vom 15. Dezember 1789 / Fallakte Friederike Lentz, geb. Wichmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055. 96 Supplik des Ehemanns Janemann vom 20. September 1790 / Fallakte Johanne Christine Janemann, geb. Albrecht; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056. 97 Zweite Supplik des Ehemanns Zimdal vom 2. Juli 1790 / Fallakte Caroline Wilhelmine Zimdal, geb. Geister; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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ten: Berücksichtigt man, dass für rund 71,6 Prozent männliche und rund 28,4 Prozent weibliche Verurteilte suppliziert wurde, dann wird verständlich, warum die Ehefrauen als das supplizierende Gegenüber zu den verurteilten Männern so zahlreich vertreten waren. Setzt man nun die beiden Parameter angeklagte bzw. verurteilte Personen einerseits und supplizierende Eheleute andererseits zueinander in Beziehung, so ergibt sich folgendes Bild: Es gab zwar zweieinhalb Mal so viele männliche wie weibliche Verurteilte, aber von Ehefrauen liegen dreieinhalb Mal mehr Gnadenbitten als von Ehemännern vor. Daraus folgt, dass sich das Übergewicht von Supplikationen der Ehefrauen nicht vollends mit der Geschlechtszugehörigkeit der Verurteilten erklären lässt. Hinzu kommt, dass sich die Supplikationen von Eheleuten in geschlechterspezifischer Hinsicht nicht nur in der Anzahl der Gnadenbitten unterscheiden, sondern auch darin, wie häufig ein Ehepartner supplizierte: Ehemänner beschränkten sich zu rund 76,5 Prozent auf eine Supplik, höchstens aber auf zwei Suppliken für ihre angeklagten bzw. verurteilten Ehefrauen.98 Ehefrauen setzten währenddessen für ihren angeklagten bzw. verurteilten Ernährer meist mehrere Suppliken auf, nicht selten vier Schreiben; nur zu rund 46,9 Prozent beließen es bei einer einzigen Supplik. Die Gründe für die Diskrepanz sind vor allem in der geschlechterspezifischen Verteilung von Rechten, Pflichten und den daraus resultierenden Erwartungen an das jeweilige Verhalten zu suchen. Beging eine Ehefrau ein Vergehen, so scheint der Ehemann seiner in der patria potestas begründeten Verpflichtung, seiner Frau Schutz zu gewähren, in gewissem Maße enthoben zu sein; zumindest schien es einem Ehemann nicht unbedingt geboten, für seine Frau eine Supplikation anzustrengen. Anders verhielten sich dagegen die Ehefrauen, welche ungleich häufiger zur Gnadenbitte griffen, um ihren Ehemann aus der Haft zu befreien. Anscheinend wurde von einer Ehefrau erwartet, in einer solchen Situation für ihren Mann zu supplizieren. Ein Grund könnte sein, dass den Supplikationen von Ehefrauen große Chancen auf Bewilligung zugeschrieben wurden. Zudem liegt die Vermutung nahe, dass eine Ehefrau auch im Hinblick auf das zukünftige Zusammenleben mit ihrem Ernährer, wenn dieser nach Absitzen der Strafe wieder nach Haus zurückkehrte, es für erforderlich hielt, ihm beweisen zu können, alles in ihrer Macht Stehende zu seiner Unterstützung unternommen zu haben. So gesehen, war allein die Geste, dass eine Ehefrau mit Hilfe einer Supplikation ihren Mann unterstützte, von zentraler Bedeutung, unabhängig davon, welchen Erfolg das Gnadenbitten hatte. 98 Eine Ausnahme bildet der Fall der Florentin Rauschnick, bei dem fünf Gnadenbitten des Ehemanns vorliegen. Allerdings bat er darin nicht nur um die Entlassung seiner wegen Hehlerei verurteilten Ehefrau, sondern wollte damit vor allem die Freigabe seiner versiegelten Wohnstube und seines Ladens sowie die Rückgabe seines konfiszierten Eigentums erreichen. – Vgl. fünf Suppliken des Ehemanns Rauschnik vom 29. September 1791, zwei Suppliken vom 10. Oktober 1791, vom 25. Oktober 1791 und 21. Dezember 1791 / Fallakte Florentin Rauschnik, geb. Bendix; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.058.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Anders als Männer konnten Frauen in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter bzw. als Hausmutter auf ihre angebliche Hilflosigkeit aufmerksam machen und auf Unterstützung von außen pochen, ohne dass es ihrer geschlechterspezifischen Ehre Abbruch tat. Hinzu kam, dass sie als Vertreterinnen der Interessen ihrer Kinder auftreten konnten, gerade im Fall von Nahrungsmangel.99 Somit konnten sie ihre Position als Fürsprecherinnen doppelt legitimieren: Als Hausmütter oblag ihnen zum einen die Führung des Haushaltes und damit verbunden die Nahrungsmittelhaushaltung, zum anderen waren sie für die Pflege und damit auch für die Ernährung ihrer Kinder verantwortlich. Die Suppliken bedienten daher häufig das Mitleid erregende Bild der unschuldigen Ehefrau, an deren Rockschößen vor Hunger weinende Kleinkinder hingen. Zum Beispiel bat die Ehefrau des wegen Betrugs zu sechs Monaten Festungsarrest verurteilten Kattunglätters Carl Christian Becherer um dessen Freilassung, obwohl sie „weit davon entfernt meines Mannes begangenes Vergehen vertheidigen zu wollen.“100 Mit dieser Haltung dokumentierte sie gegenüber der Obrigkeit ihre Rechtschaffenheit. Auf ihre Rolle als Ernährerin der Kinder rekurrierend, stellte Becherer die rhetorische Frage: „Aber[,] Großer Gott, wo nehme ich binnen dieser Zeit Brod für sämtliche Kinder, die ich wegen der mich drückenden Armuth nicht mehr durch meine Hände Arbeit ( . . . ) nur mit Brod sattigen vermögen bin.“101
Sie schloss ihre Bitte mit dem Appell: „Gnädigster Herr, könnten die Thränen von fünf Kinder, die Seufzer einer zum Elend und Verzweiflung gebrachten Mutter Hoch Dieselben nicht bewegen[,] Gnade für Gerechtigkeit zu beweisen.“102
Die Supplik zeigt, dass in Fürbitten von Ehefrauen die Perspektive der Kinder gezielt eingesetzt werden konnte, um dadurch die Gnadenbitte in besonderem Maße Mitleid erregend zu gestalten und die Chance auf eine Begnadigung des Ehemannes zu erhöhen. Die Mütter machten sich somit zum Sprachrohr der Interessen ihrer Kinder. Zwar verwiesen auch Ehemänner in ihren Suppliken auf die vorübergehend mutterlosen Kinder, jedoch war damit bezweckt, auf die im jeweiligen Haushalt anfallenden Arbeiten zu verweisen, die üblicherweise zum Aufgabengebiet der 99 Zur geschlechterspezifischen Rollenverteilung bei der Verantwortung für Kinder und den sich daraus ergebenden geschlechterspezifischen Handlungsspielräumen bspw. in Hungersnöten vgl. Claudia Ulbrich, Frauenarmut in der Frühen Neuzeit; in: Zeitschrift für die Geschichte der Saargegend 40 (1992), S. 108 – 120. 100 Supplik der Ehefrau Becherer vom 12. Juli 1787 / Fallakte Carl Christian Becherer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 119 – 128. 101 Supplik der Ehefrau Becherer vom 19. Juli 1787 / Fallakte Carl Christian Becherer; in: ebd. 102 Ebd.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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Frauen gehörten und deren Verrichtung durch Männer als unwürdig galt.103 Daraus folgte jedoch nicht, dass sich Männer in Notsituationen diesen Aufgaben, wie etwa der Aufsicht der Kinder, verweigerten; aber dies geschah um den Preis, dass sie dann ihre primären Pflichten als Ernährer des Hauses zwangsläufig vernachlässigten. Dem Bierbrauer Janemann zum Beispiel blieb bei der Verhaftung seiner Ehefrau Johanne Christine keine andere Wahl, als sich um seine kleinen Kinder zu kümmern: „Ich bin durch diese Begebenheit [die Verhaftung seiner Ehefrau], theils wegen meinen kleinen unmündigen Kindern um meine Arbeit gekommen, ich hätte wohl wieder als Amts-Brauer ankommen können, allein ohne meine Ehefrau als Gehülfin bin ich nicht im Stande solches anzunehmen, meine Wirtschaft ist völlig ruinirt.“104
Janemann erklärt den wirtschaftlichen Niedergang seiner Bierbrauerei damit, dass er durch die Aufsicht und Pflege seiner Kinder davon abgehalten wurde, seinem Broterwerb nachzugehen. Doch auch in diesem Gesuch stand die Situation der Wirtschaft und nicht so sehr das Schicksal der Kinder im Mittelpunkt. Einzig in den Suppliken von Peter Zimdal spielte die Perspektive der Kinder, auf deren Krankheitsgeschichte und deren ärmliche Lebensbedingungen er ausführlich einging, eine Rolle. In den Suppliken anderer Ehemänner findet sich hingegen lediglich ein knapper Hinweis auf die Existenz von unerzogenen bzw. unmündigen Kindern, wie zum Beispiel in Schulzes Gesuch, in dem er um Freilassung seiner Ehefrau Anna Elisabeth auf Kaution bat, „damit meine Kinder nicht lange Mutterloß bleiben.“105 Zwar standen auch Männer in der Fürsorgepflicht gegenüber ihren Kindern, doch bezog sich diese in erster Linie auf die Sorge um das materielle Auskommen sowie auf die Kontrolle einer sittlich-moralischen Lebensführung. Die Tatsache auszusprechen, dass eine Wirtschaft dem Ruin entgegenging, musste für Männer daher dem Eingeständnis gleichkommen, in ihrer Rolle als Ernährer und Hausvater versagt zu haben, was nicht ohne Folgen für ihre männliche Ehre war. Daher wurde der wirtschaftliche Niedergang mit dem Fehlen der Ehefrau bei der Betreuung der Kinder und der Haushaltsführung begründet. Dies stellte zumindest eine Möglichkeit dar, die Notlage zu offenbaren, ohne die Ehre des Hausvaters in Mitleidenschaft zu ziehen. Das Eingeständnis eines wirtschaftlichen Niedergangs und damit verbunden das Einfordern von Hilfe in der Not, fiel Frauen sicherlich nicht so schwer wie Männern.106 103 So galt es als entwürdigend, wenn ein Mann Hausarbeiten verrichtete – vgl. Hufton 1998, S. 311. 104 Supplik des Ehemanns Janemann vom 20. September 1790 / Fallakte Johanne Christine Janemann, geb. Albrecht; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056. 105 Erste Supplik des Ehemanns Schulze vom 15. August 1786 / Fallakte Anna Elisabeth Schulze; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 15.996. 106 Als Beispiel dafür, dass Frauen lautstark Hilfe einforderten, dienen etwa die Hungerunruhen. Auch wenn längst erwiesen ist, dass es sich bei der Annahme, dass ausschließlich Frauen Hungerunruhen initiiert hätten, um einen Mythos handelt, so belegt doch die relativ hohe Präsenz von Frauen bei solchen Protesten, dass es sich bei der Nahrungsbeschaffung
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Dass Ehefrauen um Unterstützung baten, bedeutete keineswegs, dass sie gegenüber der Obrigkeit zurückhaltend auftraten. Mit ihren Supplikationen legten sie regelrecht Protest ein und äußerten deutliche Kritik am Vorgehen der Obrigkeit, an der Dauer der gerichtlichen Untersuchung und an den Haftbedingungen. Zum Beispiel beschwerten sich die Ehefrauen Benecke und Kragel über die Haftbedingungen, denen ihre Ehemänner seit zehn Wochen in der Burg zu Calbe ausgesetzt seien: „Sie [Mathias Benecke und Christoph Kragel] müßen vor grosser Kälte ungesund frieren und wenn wir ihnen nichts zu leben geschikt hätten, so wären sie schon längst verhungert, weil ihnen in dem Gefängnis der Lebens-Unterhalt nicht gereicht wird. – Wir wißen aber nicht anders, als daß derjenige[,] welcher einen sezzen läßet[,] auch dafür sorgen müße[,] daß der arrestant was zu laben habe. Allein dieses ist nicht geschehen, als wir vielmehr unser bisgen Armuth durch Bothens dahin tragen laßen musten.“107
Sie bemängelten nicht nur die gesundheitsschädigenden Bedingungen in der Zelle, sondern auch die mangelhafte Ernährung der Inhaftierten. Dabei warfen sie der lokalen Obrigkeit vor, ihrer Pflicht nicht nachgekommen zu sein, denn ihrer Meinung nach wäre es an ihr gewesen, die Verhafteten mit ausreichend Essen zu versorgen. Da dies offenbar nicht geschah, mussten stattdessen die Ehefrauen die Versorgung ihrer Männer übernehmen, die im fern der beiden Höfe gelegenen Calbe inhaftiert waren. Auch die Ehefrauen des Ackersmanns Benecke und des Kossäten Kragel fanden harsche Worte für die Verhaftung ihrer Männer: „Dabei haben wir Erwerber zu Hause: wenn der Mann nicht zu Hause ist, so lieget alles stille: und da wir keine Leute halten können, so werden unsere Höfe vollendts ruiniret, und wir müssen zulezt mit den Unserigen darben und Noth leiden – Wir können nicht begreifen warum man unsere Männer[,] welche uns das Brod verdienen müssen[,] so lange incarceriren laßen?“108
Dass die Arbeit während der Abwesenheit der beiden Ehemänner darnieder lag, dürfte zumindest nicht die Existenz der beiden Wirtschaften gefährdet haben. Denn zur fraglichen Zeit, als Benecke und Kragel verhaftet wurden, war die Ernte bereits eingefahren. Allerdings war mit einem Urteil über eine mehrmonatige Haftstrafe zu rechnen, was die Angst vor einem möglichen wirtschaftlichen Niedergang der Höfe schürte. Dennoch scheint es, als ob die Ehefrauen mit der Supplik vor allem ihrem Ärger über das aus ihrer Sicht ungerechte obrigkeitliche Eingreifen Luft machen wollten. Sie wollten nicht einsehen, dass man ihre Männer des Aufruhrs um einen sensiblen Bereich handelt, der in die weibliche Verantwortungssphäre fiel, womit die Frauen ihren Protest legitimieren konnten – vgl. Claudia Ulbrich, Zwischen Resignation und Aufbegehren. Frauen, Armut und Hunger im vorindustriellen Europa; in: Gabriele Klein / Annette Treibel (Hg.), Begehren und Entbehren, Bochumer Beiträge zur Geschlechterforschung, Pfaffenweiler 1993, S. 167 – 183. 107 Kollektivsupplik der Ehefrauen Benecke und Kragel vom 24. November 1794 / Fallakte Matthias Benecke, Christoph Kragel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240, fol. 152 – 153. 108 Ebd.
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anklagte. Solche Kritik am Vorgehen der Obrigkeit ist in den Suppliken von Ehemännern in der Regel nicht enthalten, wohl aber in einigen Gnadenbitten von Ehefrauen. Ohne diesen Befund überbewerten zu wollen, liegt die Vermutung nahe, dass das kritisierende Wort eines Mannes von der Obrigkeit anders gewichtet wurde, nämlich als Auflehnung, und mit härterer Konsequenz geahndet wurde als die von einer Frau geäußerten Kritik.109 Benecke und Kragel wurde vorgeworfen, einen so genannten Laufzettel geschrieben zu haben, in dem sie die ortsansässigen Bauern von Klein Bierstedt und Siedenlangenbeck zusammengerufen hatten, um darüber zu beraten, wie sie sich gegenüber dem Gutsherrn von den Hofdiensten lossagen könnten.110 Darin sahen die Ehefrauen jedoch keinen Verstoß gegen die Gesetze: „So können wir es mit unseren Sinnen nicht begreifen[,] ob das strafbahr sey? Wenn dergleichen bis auf das höchste gedrükte Unterthanen welche ausdrüklich angewiesen sind, ihre Beschwerden bei der Behörde anzubringen, dieserwegen zu sammen kommen, eine gemeinschaftliche Abrede abhalten, und sich ein Vollmacht schreiben wollen?“111
Allen Beteiligten musste das Risiko, dass die Aktion von der Obrigkeit als Aufruhr interpretiert würde, bewusst gewesen sein. Indem die Ehefrauen die empörten Unschuldigen spielten, versuchten sie, die Aktion im Nachhinein zu verharmlosen, um auf diese Weise die Schuld ihrer Männer herunterzuspielen. Das Motiv der Verteidigung stand auch hinter der Kollektivsupplikation der Ehefrauen Maria Gartz, Dorothea Thieden, Anna Maria Langnese zentral, deren Männer im Rahmen desselben Aufruhrs angeklagt worden waren: „Allergnädigster König und Herr! – unsere Männer als getreue und sich seit langen Jahren ehrlich zu ernährende Unterthanen haben so wenig als ihre Mit-Consorten jemahls im Sinn gehabt noch kommen laßen[,] wieder Eure Königliche Majestaetdt Landes-Gesetze eine Empöhrung noch revolution zu erwegen und zu schulden kommen zu laßen im Sinn gehabt, sondern um eine Besprechung ihrer Nothdringenden Beschwerde über ihrer vor gesezten hohen Erb- und Gerichtsbarkeit anbringen zu können, welches sie jederzeit eidlich zu erhäärten und zu behaupten bereit sind ( . . . ).“112
Anders als die Ehefrauen Benecke und Kragel nannten diese drei die Vergehen, die ihren Männern vorgeworfen wurden, beim Namen, nämlich Empörung bzw. Revolution. Sie verfolgten dabei die Taktik, das Vergehen offen zu benennen, in seiner Schwere sogar zu übertreiben (s. Revolution), um diesen Verdacht sogleich 109 Diese Annahme wird durch die Ergebnisse der Armutsforschung gestützt: Da Hunger eine Angelegenheit des gesamten Hauses war, nahmen an Hungerunruhen Frauen wie Männer teil; doch waren es vor allem die Stimmen der Frauen, die dabei als Waffe gegenüber der Obrigkeit dienten – vgl. Ulbrich 1993, S. 178 f. 110 Näheres zum Hintergrund des Delikts und zur Supplikation des Gutsherrn s. B.I.9.a). 111 Kollektivsupplik der Ehefrauen Benecke und Kragel vom 24. November 1794 / Fallakte Matthias Benecke, Christoph Kragel; in: ebd. 112 Kollektivsupplik der drei Ehefrauen Gartz, Thieden und Langnese vom 9. Dezember 1794 / Fallakte Joachim Gartz, Johann Joachim Thieden und Langnese; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240, fol. 20 – 21.
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wieder zu entkräften. Ihr Gesuch unterschied sich auch insofern von Beneckes und Kragels Gesuch, als darin eher auf Argumente zur Verteidigung ihrer Männer denn auf konfrontative Kritik gesetzt wurde. Auch die Ehefrau des Bedienten Johann Christian Gottfried Brandt versuchte in ihren beiden Suppliken ihren Mann zu verteidigen, dem vorgeworfen wurde, in Dahlwitz eine Feuersbrunst durch unsachgemäßes Schießen bei einer Vogeljagd verursacht zu haben. Ihre Verteidigung begann mit einer Leumundsbekundung: „Wir [Ehefrau, Kind und Schwiegervater] alle wurden sonst, von einem fleißigen und treuen Mann, der von allen seinen Herrschaften die besten Zeugniße hat, und der nie aus Bosheit, sich grobe Sünden zu schulden kommen laßen, ernähret, und wir alle sind durch ihn iezt unglücklich geworden, und nur seine Befreiung allein kann unserm Elende ein baldiges ende machen, und uns vor fernerer Noth und Kummer schützen.“113
Der gute Leumund wurde Johann Christian Gottfried Brandt nicht nur von seiner Familie ausgestellt, sondern sei angeblich auch durch Zeugnisse seiner Herrschaften belegt. Übergangslos kam die Supplikantin auf das Elend, welchem sich die Familie Brandt seit Verhaftung ihres Ernährers ausgesetzt sah, zu sprechen. Im Zusammenhang mit der bekundeten Rechtschaffenheit Brandts musste nun dessen Schicksal als krasser Kontrast erscheinen. Die Supplik suggeriert, dass nach Meinung der Ehefrau hier ein Unschuldiger verurteilt werden soll. Zudem monierte sie die Verzögerungen, die bei der Aktenverschickung und der säumigen gerichtlichen Untersuchung entstanden waren. Darauf begründete sie ihre Bitte, den zehnmonatigen Untersuchungsarrest auf das Strafmaß des zweijährigen Festungsarrestes anzurechnen.114 Gemessen daran, dass sie ihren Mann von jeder Schuld an dem Brand freisprach, nahm sich ihre Bitte, auffällig bescheiden aus. Als ihre Gnadenbitte trotzdem nicht erhört wurde, formulierte sie den Vorwurf des Justizirrtums in der folgenden Supplik: Sie warf dem Gericht vor, ein Gutachten ignoriert zu haben. Darin hätten drei Forstbediente unabhängig voneinander ausgesagt, dass der Brand nicht aus dem Schuss hätte entstehen können, woraus sie den Schluss zog: „mithin fällt durch dieses pflichtmäßige Gutachten aller Verdacht, den man gegen meinen Mann supponiret“.115 Offensichtlich wurde die Ehefrau Brandt vom Defensor ihres Mannes beraten bzw. spricht einiges dafür, dass jener die beiden Suppliken in ihrem Namen verfasste. Ähnlichkeiten zu Gnadenbitten in eigener Sache sind unverkennbar: Ehepartner waren häufig Zeuge des Vorfalls oder waren wenigstens durch die betroffene Person oder deren Defensor gut informiert und letztlich in den Fall derart involviert, dass sie ihre Supplikationen zur Verteidigung nutzten. Die Suppliken der Ehepartner gerieten vor allem dann zur Verteidigungsschrift, wenn die Angeklagten direkt 113 Erste Supplik der Ehefrau Brandt vom 19. September 1787 / Fallakte Johann Christian Gottfried Brandt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235. 114 Vgl. ebd. 115 Zweite Supplik der Ehefrau Brandt vom 29. Januar 1788 / Fallakte Johann Christian Gottfried Brandt; in: ebd.
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in Konflikt mit Vertretern der lokalen Obrigkeit geraten waren; denn dann argwöhnten die Untertanen, dass deren Darstellung des Tathergangs vom Gericht unvoreingenommen aufgenommen würde, und zweifelten offensichtlich an einem unparteiischen, gerechten Urteil. Diesen Argwohn hegte zum Beispiel die Müllerin Bennewitz, deren Ehemann und Sohn wegen Beleidigung und Widerstand gegen den örtlichen Gerichtsdiener vom Gericht zur Rechenschaft gezogen wurden. Mit dem Hinweis darauf, dass die Wirtschaft darunter leide, weil mit ihrem Ehemann der Pächter der Mühle und ihr Brotschaffer verhaftet sei, begann sie ihr Gesuch: „Meine Mühle steht jezt müßig, meine Brodschaft, un der vor die Pacht sorgen soll, sitz blos durch die intrigen seiner Gegner auf der Vestung.“116
Der Leser vernimmt, dass offensichtlich Intrigen im Spiel waren; von welcher Seite diese lanciert wurden, ließ die Ehefrau Bennewitz offen, was sich allerdings aus dem Zusammenhang unschwer erschließen lässt. Worüber sich die Bennewitz beschwerte, war der Umgang mit den Zeugen: Zeugen, die ihren Mann entlasteten, wurden angeblich in keiner der beiden Verhandlungen berücksichtigt, wohingegen belastende Zeugen durchaus gehört worden seien; darüber hinaus seien Zeugen manipuliert worden, so Bennewitz’ Vorwurf: „( . . . ) theils bey Abhörung selbst wieder meinen Mann zu Zeugen mit Drohungen, mit fluchen und Toback aus Furcht und Wieder Willen dazu gezwungen worden, und ihnen in Mund gegeben, wie und was sie sagen sollten.“117
Bennewitz bat um nochmalige unparteiische Ermittlung und um Freilassung ihres Mannes. Sie wurde jedoch abgewiesen – denn in einem Bericht wurde festgestellt, dass die Untersuchung angeblich von einer „ganz unintereßirter fremden Gerichtsperson“ durchgeführt worden war, deren Unparteilichkeit aus obrigkeitlicher Sicht außer Frage stand. Außerdem war dem Bericht zu entnehmen, dass die Ehefrau Bennewitz in der Gegend „in ihrem übertriebenen Forderungen“ bekannt sei.118 Um dieser ihr offensichtlich bekannten Einschätzung entgegenzuwirken, setzte die Müllerin vorsichtig zu einer erneuten Gnadenbitte an, die sie „Nicht aus Process-Sucht und Wiederspenstigkeit“, sondern im Sinne von „Recht und Gerechtigkeit“ verstanden wissen wollte. In der Verteidigung ihres Mannes trat sie aber erneut offensiv auf: Sie und ihr Mann seien durch den Gerichtsdiener Kintscher „aufs gesetzwiedrigste und grausamste behandelt worden“, vor allem ihr Mann: „( . . . ) gantz unerhört gemißhandelt, mit denen Fäusten dergestalt ins Gesicht und an die Ohren geschlagen worden, daß er seit der Zeit am linken Ohr sein Gehör verloren. – Mich aber hat der p[raedictus] Kintscher mit Füßen getreten, das Zeug vom Leib gerißen, Schräncke, Kisten, Kasten und Thüren mit Gewalt auf- und entzwey geschlagen, alles Geld, auch Betten und Bettlacken, und auch verschiedene andere Sachen ( . . . ) mit Gewalt weggenommen.“119 116 Erste Supplik der Ehefrau Bennewitz vom 28. November 1786 / Fallakte Johann Bennewitz (intus: Sohn Bennewitz); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 117 Ebd. 118 Zit. aus: Immediatbericht vom 26. Januar 1787 / Fallakte Johann Bennewitz; in: ebd.
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Bennewitz beabsichtigte mit dieser Darstellung, dem Gerichtsdiener generell groben Amtsmissbrauch vorzuwerfen, so dass dessen Aussagen im Fall Bennewitz entsprechend parteiisch gewertet würden und erhoffte sich davon, dass die Untersuchung von einer unparteiischen Kommission erneut aufgerollt wird. Sie schloss mit der Aufforderung an den Monarchen: „Ohnmöglich kann ich glauben, daß Eure Königliche Majestaet dergleichen in denen hiesigen Landes-Gesetzen so sehr verabscheuten mit dem völligen Ruin auf Landes-Austreibung der Unterhtanen verknüpfte Mißhandlungen ungeahndet hingehen ( . . . ) laßen sollte.“120
Dies geht über eine demütig geäußerte Bitte einer Supplik weit hinaus, es ist sogar mehr als eine übliche Beschwerde in einem Einzelfall; denn schließlich fordert Bennewitz den Monarchen auf, dafür Sorge zu tragen, dass seine Staatsdiener den von ihm erlassenen Gesetzen Folge leisteten: Die Supplikantin machte den Monarchen darauf aufmerksam, dass die Rechtswirklichkeit nicht den Normen entsprach. Sie machte sich damit geschickt die Funktion zueigen, die einer Supplikation aus obrigkeitlicher Sicht zukommen konnte: Das Justizdepartement konnte sich Gnadenbitten und damit verbundene Beschwerden als Seismograph zunutze machen, um als Rechtsaufsichtsorgan Störungen in der Rechtspraxis zu ahnden.121 Resümee Die Supplikation von Eheleuten mit rund 27,8 Prozent (insg. 185 Gnadenbitten) stellt die zweithäufigste Variante unter den Gnadenbitten dar. Das hohe Maß an Supplikationsbereitschaft erklärt sich dadurch, dass die Ehepartner die Hauptleidtragenden waren, wenn der Ernährer bzw. die Hausmutter in der gemeinsamen Wirtschaft ausfiel. Daher werden der Ausfall der Arbeitskraft des angeklagten Ehepartners und die Angst vor dem wirtschaftlichen Ruin des Haushalts als Standardargumente in den Suppliken der Eheleute angeführt. Es ist anzunehmen, dass nicht nur eine tatsächlich eingetretene Notlage, sondern allein die Furcht vor einem möglichen sozialen Abstieg ein entscheidender Beweggrund zur Supplikation darstellte. Ob die Supplikanten und Supplikantinnen diese Existenzangst tatsächlich verspürten, ist letztlich zweitrangig – wenngleich in vielen Fällen sehr wahrscheinlich; von Bedeutung ist vielmehr, dass sie vom Wirtschaftsargument überzeugt waren. Auch in anderer Hinsicht war das Wirtschaftsargument attraktiv für das Supplizieren, denn an diesem Punkt trafen sich die Interessen der Obrigkeit und der 119 Zweite Supplik der Ehefrau Bennewitz vom 3. Februar 1787 / Fallakte Johann Bennewitz; in: ebd. 120 Ebd. 121 Bereits Rosi Fuhrmann, Beat Kümin und Andreas Würgler weisen darauf hin, dass Bitten und Beschwerden in der Frühen Neuzeit zur herrschaftlich-administrativen Durchdringung und Kontrolle des Lokalen dienten – vgl. Fuhrmann / Kümin / Würgler 1998, S. 319 – 321; vgl. auch Schwerhoff 2000, S. 489 [s. Einleitung / Forschung].
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supplizierenden Untertanen: Nicht nur die betroffenen Untertanen hatten ein existentielles Interesse daran, dass ihre Wirtschaft ihnen ein angemessenes Auskommen gewährte; auch die Obrigkeit hatte ein fiskalisches Interesse am wirtschaftlichen Wohlergehen der Haushalte, versprach dies doch entsprechende Abgaben und schonte überdies die Armenkassen.122 Mit dem Wirtschaftsargument versuchten die Bittsteller und Bittstellerinnen, die obrigkeitliche Interessenlage für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Beim Wirtschaftsargument griffen die Supplizierenden auf die Vorstellung der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung einer frühneuzeitlichen Wirtschaft zurück: Während Ehefrauen den Ausfall ihres Ernährers im Handwerk, Handel oder in der Landwirtschaft beklagten, gaben die Ehemänner vor, ihre Frauen vor allem im Hinblick auf die Betreuung der Kinder, die Nahrungsmittelversorgung, die Gartenarbeit, aber auch ihre Arbeitskraft im gemeinsamen Gewerbe zu vermissen.123 Wie die Arbeitsteilung in den jeweiligen Wirtschaften tatsächlich funktionierte, bleibt dahingestellt; beim Supplizieren wurde jedenfalls auf die traditionellen Geschlechterrollen verwiesen, da sie aus der Sicht der Supplizierenden offensichtlich ein hohes Maß an Plausibilität besaßen: Mit der Vakanz der Arbeitskraft in einem geschlechterspezifischen Zuständigkeitsbereich der Wirtschaft konnte man gegenüber der Obrigkeit eine strafmildernde Maßnahme zumindest schlüssig begründen, so die Überlegung der Supplizierenden. Das Wirtschaftsargument bot sich beim Gnadenbitten auch deshalb an, weil es zumeist authentisch wirkte und die Bittsteller und Bittstellerinnen bei der Darstellung ihrer Situation einen gewissen Spielraum zur Dramatisierung nutzten konnten. Bestärkt sahen sie sich zudem dadurch, dass die Bestrafung des Ehepartners zugleich Unschuldige, nämlich sie selbst und die Kinder, traf. Dabei legitimierten Frauen ihre Position als Fürsprecherinnen in doppelter Hinsicht: Als Hausmütter vertraten sie die Interessen der gemeinsamen Wirtschaft und als Mütter machten sie sich zum Sprachrohr der Interessen ihrer Kinder. Da Eheleute nicht selten Zeugen des Vorfalls oder wenigstens durch die betroffene Person gut informiert waren, nutzten sie die Supplikation zur Verteidigung, die mitunter den Charakter einer Beschwerde annahm und auch vor einer harschen Kritik am Vorgehen der Obrigkeit nicht Halt machte; vor allem Ehefrauen machten davon Gebrauch. Die geschlechterspezifische Perspektive offenbart ein divergierendes Supplikationsverhalten von Ehemännern und Ehefrauen: Es liegen rund 3,5 Mal mehr Gnadenbitten von Ehefrauen als von Ehemännern vor. Ehemänner nahmen häufig Abstand von der Möglichkeit zu supplizieren, da sie offenbar für das Vergehen ihrer 122 Auch Karl Härter weist darauf hin, dass der Ruin einer Wirtschaft die Obrigkeit im Hinblick auf Abgaben und Armenfürsorge belastete – vgl. Härter 2005, S. 264. 123 Auch Karl Härter stellt für Kurmainz fest, dass sich das traditionelle Rollenverständnis der Geschlechter auf die oben beschriebene Weise in den Suppliken niederschlägt – vgl. Härter 2005, S. 264.
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Ehefrauen mitverantwortlich gemacht wurden; zumindest konnte es ihnen als Vernachlässigung ihrer Pflichten ausgelegt werden. Von Ehefrauen wurde hingegen erwartet, dass sie ihren Mann unterstützten und für ihn um Gnade baten. Suppliziert wurde vermutlich aber auch im Sinne einer symbolischen Unterstützung im Hinblick auf das zukünftige friedliche Zusammenleben für die Zeit nach der Rückkehr des Ehepartners aus der Haft. 3. Gnadenbitten von Eltern Nach den Angeklagten bzw. Verurteilten und den Eheleuten bilden die Eltern die drittstärkste Supplikantengruppe. Dass sich Eltern für ihre Kinder einsetzten, überrascht nicht, standen sie doch jenen gegenüber in der Fürsorgepflicht. Ihr Anteil macht rund 18,5 Prozent (bzw. 123 Gnadenbitten) an der Gesamtheit der hier untersuchten Suppliken aus. Differenziert man die Summe der elterlichen Suppliken nach Geschlecht, so gehen rund 60,2 Prozent (74 Gnadenbitten) auf Väter und rund 39,8 Prozent (49 Gnadenbitten) auf Mütter zurück. Die große Anzahl väterlicher Suppliken kann zu einem Teil mit der unterschiedlichen Lebenserwartung von Männern und Frauen in der Frühen Neuzeit erklärt werden: Die der Männer lag mit rund einem Dutzend Jahren deutlich höher als jene der Frauen, deren Leben durch häufige Geburten stark gefährdet war.124 Fragt man jedoch nach den geschlechterspezifischen Handlungsmustern und setzt die Gnadenbitten von Vätern und Müttern ins Verhältnis zur jeweiligen Anzahl an Gnadenbitten von Männern und Frauen, so kommt man zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass beide Elternteile genauso häufig intervenierten: Während Supplikantinnen zu rund 18,5 Prozent Mütter waren, stellten Väter ebenfalls den Anteil von rund 18,5 Prozent gemessen an der Gesamtheit der Gnadenbitten männlicher Absender. Hatten sich bisher unterschiedliche Handlungsmuster je Geschlecht abgezeichnet, so scheint es nun, als würden beide Elternteile eine ähnlich starke Rolle beim Supplizieren spielen. Es findet sich tatsächlich ein gemeinsamer argumentativer Nenner in den Gesuchen von Müttern wie von Vätern: Viele Bitten um Strafmilderung wurden damit begründet, dass die Eltern auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen waren. So bat zum Beispiel die Mutter Schubert um vorzeitige Entlassung ihrer wegen Hausdiebstahl zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilten Tochter, da sie „Alt und Lebens satt“ deren „Pflege“ dringend bedürfe.125 Darunter ist vermutlich die körperliche Pflege ihrer gebrechlichen Mutter und die alltäglichen Handreichungen für einen wenig mobilen alten Menschen, aber sicherlich auch die Führung des Haushalts zu verstehen. 124 Eine Frau gebar im Durchschnitt etwa sechs bis sieben Kinder (Fehlgeburten nicht mitgezählt) und war somit in ihrer gebärfähigen Lebensphase den Risiken einer Geburt häufig ausgesetzt – vgl. Dülmen 1990, S. 87, 32. 125 Supplik der Mutter Schubert vom 15. April 1795 / Fallakte Wilhelmine Philippine Dorothea Louise Schubert; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.061.
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Auffallend ist, dass die Unterstützung ihrer Kinder, auf welche die Eltern nun verzichten mussten, in Gnadenbitten für Töchter auch mit Pflege umschrieben wird, während bei Söhnen ausschließlich von Stütze die Rede ist. Die Pflege gehörte offensichtlich zum weiblichen Arbeitsbereich der Haushaltsführung, während mit der Stütze die ökonomische Seite gemeint war, die je nach Familiensituation von Töchtern oder Söhnen geleistet wurde. Auch die Geschichten der supplizierenden Eltern rekurrieren auf die traditionellen Geschlechterrollen, um mit ihrem Anliegen zu überzeugen. Im Gesuch der Mutter Schäfer um Entlassung ihres Sohnes liest sich dies zum Beispiel so: „daß mein sohn die einzige Stütze meines Lebens“ sei.126 In einem weiteren Gesuch wiederholte der Vater die Begründung mit den Worten, sein Sohn sei die „einzige Hoffnung“ der Eltern im „herannahenden Alter“.127 Auch die beiden Mütter Trobit und Voigt betonten in dem gemeinsam verfassten Gesuch ihre Hoffnung, dass ihre Söhne die „Stütze werden sollten“.128 Unter Stütze wird hier offenbar nicht die allgemeine Pflicht der Kinder – unabhängig von Geschlecht und Erbberechtigung – verstanden, ihre Eltern in allerlei Angelegenheiten zu unterstützen. Zur Stütze der Eltern im Alter wurde das Kind, welches die elterliche Wirtschaft erben und die Eltern auf ihrem Altersteil materiell versorgen sollte. So gesehen wird zusammen mit dem Wort Stütze zugleich die Erbfrage thematisiert. Zwar erhielten auch Töchter ihren Erbteil, doch wurden sie häufig ausbezahlt bzw. erhielten eine entsprechende Aussteuer, und die elterliche Wirtschaft wurde zumeist an einen Sohn übergeben. Auf diese Weise erklärt sich, warum weitaus mehr Söhne als Stütze bezeichnet wurden, wenngleich auch Töchter diese Funktion einnehmen konnten. Obwohl das Erbe die Beziehung zwischen Eltern und ihren mündigen Kindern stark prägte, wird es in den Suppliken nicht direkt angesprochen – mit einer Ausnahme: Die Mutter Schubert begründete ihre Gnadenbitte für ihre Tochter mit dem Hinweis darauf, dass ihre Arbeitskraft als Alleinerbin des Hofes zu dessen Führung unverzichtbar sei, da dies die anderen Kinder nicht auffangen konnten, weil sie bereits „ausgegütet“ seien.129 Die Erwartung an die Kinder, den Eltern Stütze zu sein, beschränkte sich aber nicht auf die Zeit nach dem Erbantritt. Vielmehr wurde von den Kindern erwartet, tatkräftig in der elterlichen Wirtschaft anzupacken bzw. ihren Eltern in Not zur 126 Supplik der Mutter Schäfer vom 14. August 1795 / Fallakte Heinrich Schäfer (intus: Tescher, Reichert, Bergmüller); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241. 127 Supplik des Vaters Schäfer o. D. [um den 7. Juli 1797] / Fallakte Heinrich Schäfer (intus: Tescher, Reichert, Bergmüller); in: ebd. Fast wortgleich formulierte der Vater des Tuchmachergesellen Barthel, dass die Eltern auf ihren Sohn als Stütze angewiesen seien – vgl. Supplik des Vaters Barthel vom 12. Januar 1795 / Fallakte Christian Ludwig Barthel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.061. 128 Kollektivsupplik der Mütter Trobit und Voigt vom 4. September 1797 / Fallakte Wilhelm Trobit und Franz Voigt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.065. 129 Vgl. Supplik der Mutter Schubert vom 15. April 1795 / Fallakte Wilhelmine Philippine Dorothea Louise Schubert; in: ebd.
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Seite zu stehen: Im Gesuch für seinen wegen Totschlag verurteilten Sohn führte der Ackerbürger Hoevenbrock an, dass er als 60-jähriger, kranker Greis beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft auf dessen Hilfe angewiesen sei: Durch den Stadtbrand in Freyenstein habe er alles verloren und lebe nun mit 24 Personen in einer Stube unter ärmlichen Umständen.130 Die Anzahl der Hausmitglieder verrät, dass es sich bei der Hoebenbrockschen Wirtschaft um einen stattlichen Hof handelte, dessen rascher Wiederaufbau auch im Interesse der Obrigkeit lag, musste sie doch vorübergehend auf die Abgaben eines an sich lukrativen Hofes verzichten. Überhaupt muss mitbedacht werden, dass Bittsteller und Bittstellerinnen mit Klagen über angebliche wirtschaftliche Engpässe stets auch die Taktik verfolgten, damit das fiskalische Interesse der Obrigkeit an einer Maßnahme, die zur Konsolidierung der betreffenden Wirtschaft beitrug, zu wecken. Ein Brand lag im Fall Ebel zwar nicht vor, dennoch argumentierte der Schulze Ebel „auf dem Kietz zu Spandow“ in vergleichbarer Weise, um den wegen Blutschande verhängten zehnjährigen Festungsarrest seines Sohnes abzukürzen: „( . . . ) mein Haupt sinckt, meine Jahre wollen die Bearbeitung meines guths nicht mehr so wie erforderlich verstatten: ich gebrauche eine Stütze, und dieser halb bitte ich allerunterthänigst Eure Königliche Majesteet wollen geruhen, mir solche durch die Loßlaßung meines Sohnes allergnädigst zu schencken.“131
Die mit dem Alter einhergehende Gebrechlichkeit und Schwäche des Vaters brachten es mit sich, dass die Ebelsche Wirtschaft angeblich im Niedergang begriffen war. Möglich, dass sich Ebel daher mit dem Gedanken trug, den Hof seinem Sohn zu übergeben und sich aufs Altenteil zurückzuziehen – doch solange dieser auf der Festung einsaß, musste der Schulze seine Wirtschaft wohl oder übel alleine führen. Ebels Gesundheitszustand hatte sich ein knappes Jahr später offenbar verschlechtert, mit den zu erwartenden Konsequenzen für die Ebelsche Wirtschaft: „( . . . ) da ich jetzo stets bettlägrich und dahero nicht mehr im Stande bin, meiner so lange Jahren her als ein rechtschaffener Wirth vorgestandenen Wirthschaft länger aufrecht zu erhalten, so muß ich solche sinken und mit Schaudern leider eine Zukunft von Noth und Elend auf mich warten sehen, wenn mein unglücklicher Sohn als die einzige mir noch übrige Stütze mir länger entzogen bleiben solte.“132
Die Klage über mangelnde physische Konstitution und über krankheitsbedingte Schwäche stellt ein typisches narratives Muster der Supplikation von Eltern dar, 130 Vgl. Supplik des Vaters Hoevenbrock vom 17. Dezember 1786 / Fallakte Joachim Christian Friedrich Hoevenbrock; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.175. 131 Supplik des Vaters Ebel vom 23. Januar 1787 / Fallakte Abraham Ebel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.175, fol. 347; zum Fortgang des Vorgangs s. gesonderter Aktenband in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 456 – 466. 132 Supplik des Vaters Ebel vom 4. April 1788 / Fallakte Abraham Ebel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 466; zur Vorgeschichte des Vorgangs s. gesonderter Aktenband in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.175, fol. 345 – 350.
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welches angesichts ihres Alters auch plausibel wirkte. Die Stütze ihrer inhaftierten Kinder bei der Obrigkeit zu reklamieren, war das offenkundigste Argument der Eltern. Die weite Verbreitung lässt darauf schließen, dass sie dem Argument nicht nur eine hohe Überzeugungskraft beimaßen, sondern dass ihr Motiv tatsächlich in der Absicherung ihrer Altersversorgung bestand: Schließlich galt es als elementare Pflicht der Kinder, ihre Eltern im Alter zu ernähren; doch nun hielt die Obrigkeit jene davon ab, ihrer Schuldigkeit gegenüber den Eltern nachzukommen – so zumindest die Sicht der Eltern auf die Situation. Die Haltung kommt zum Beispiel auch in dem Gesuch des Bauern Hartmann zum Ausdruck, in dem er bat: „( . . . ) meinem Sohne nur seine Freyheit wieder zu verstatten, das er uns armen Leute wieder mit seiner Kindlichen Pflicht unter die Arme greifen könne.“133
Die Formulierung suggeriert, dass aus Hartmanns Sicht die Haft den wegen Sodomie angeklagten Sohn von seiner eigentlichen Pflicht gegenüber seinen Eltern abhielt. Das Unverständnis der Eltern gegenüber dem obrigkeitlichen Handeln war sicherlich in bestimmten Delikten besonders stark ausgeprägt. So wurde etwa der Sodomie-Vorwurf gegen George Hartmann von den Eltern als absurd angesehen, der aus ihrer Sicht allein auf böse Nachrede gründete. Bei Blutschande wurde von der Obrigkeit mitunter eine Beziehung kriminalisiert, die – wie bei Abraham Ebel und seiner Stieftochter – auf gegenseitigem Einvernehmen beruhte und zudem im sozialen Umfeld bekannt und akzeptiert war. Die Begründung, den Sohn, aber auch die Tochter als Stütze im Alter dringend zu benötigen, stellte – bezogen auf die Akteure – ein geschlechterunspezifisches Argumentationsmuster dar, mit welchem sowohl Väter als auch Mütter die Supplikation zugunsten ihrer Kinder rechtfertigten. Daneben gab es auch geschlechterspezifische Supplikationsmuster, die unter anderem in der unterschiedlichen Rollenverteilung von Hausmutter und Hausvater begründet lagen. Die Ehe in der Frühen Neuzeit wurde als eine Gefährtenschaft auf der Grundlage der gemeinsamen Verantwortung für das Haus angesehen.134 Daraus leiteten sich für beide Teile je eigene Funktionen ab [s. B.I.2.]: Neben anderen Arbeitsbereichen oblag der Hausmutter zum Beispiel die Aufzucht der Kinder. Doch stand sie in der Verantwortung für die Kinder nicht alleine da. Denn mit der Vaterrolle war die patria potestas verbunden, die alle Hausangehörigen seiner väterlichen Hausgewalt unterwarf und ihn im Gegenzug zur materiellen Versorgung und zum Schutz derselben verpflichtete.135 Geriet ein Kind in Konflikt mit der Obrigkeit, so bot sich die Supplikation 133 Supplik des Vaters Hartmann vom 3. Februar 1786 / Fallakte George Hartmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 134 Beispielhaft zur Ehe bzw. zum Haus und speziell zur Hausmutter in der Frühen Neuzeit vgl. Ulbrich 1999, S. 20; vgl. Wunder 1992, S. 58 f., 262 – 268; zur Bezeichnung Gefährtenschaft vgl. ebd., S. 263. 135 Zur Rolle des Vaters vgl. Claudia Opitz, Mutterschaft und Vaterschaft im 14. und 15. Jahrhundert; in: Karin Hausen / Heide Wunder (Hg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M. / New York 1992, S. 137 – 148, hier S. 140 – 143.
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für einen Vater als adäquates Instrument an, um für das Wohl seines Kindes einzutreten.136 In den hier untersuchten Suppliken wird dieses Motiv als „Väterliche Sorge“137 bzw. „Väterliche Pflicht“138 benannt. Dagegen war in keiner Supplik einer Mutter die Rede von einer mütterlichen Pflicht. Vor dem Hintergrund der väterlichen Pflichten, die Interessen seines Kindes nach außen zu vertreten und ihm Schutz angedeihen zu lassen, erklärt sich, warum es so zahlreiche Gesuche von Vätern für ihre Kinder gibt: Denn unter den supplizierenden Männern steht der Vater an zweiter Stelle. Mit den Vaterpflichten legitimierte beispielsweise der Bauer George Hartmann seine Supplikation: Er begründete seine Bitte um Niederschlagung des Verfahrens gegen seinen wegen Sodomie angeklagten Sohn mit „Väterlich[er] Schuldigkeit“.139 Ein ebensolches Pflichtgefühl sprach aus der Gnadenbitte des Kolonisten Jacob Obheisch, Vater der Anne Marie Cornelie, welche wegen Fälschung der königlichen Unterschrift, die ihr bei einem Speisewirt zu einem größeren Kredit verhelfen sollte, zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Seine Tochter bedurfte nach Ansicht Obheischs in besonderem Maße des väterlichen Schutzes, weil seine Tochter, wie zwei beiliegende medizinische Gutachten belegen, an „dem schweren Gebrechen“ der „convulsivischen epileptischen Leyden“ erkrankt war: „( . . . ) so bricht mein Vaterliches Hertz zu sehr, als daß ich nicht für Pflicht Achten müste, für sie zu bitten.“140
Eine Gemengelage von Motiven brachte Jacob Obheisch offenbar dazu, für seine Tochter zu supplizieren: So ist die Rede von der allgemeinen väterlichen Pflicht, in einer solchen Situation die Interessen eines Kindes zu vertreten; eine Pflicht, die ihm aufgrund des labilen Gesundheitszustands seiner Tochter umso mehr geboten erschien, und es ist die Rede von seiner emotionalen Betroffenheit über das harte Los seiner Tochter. Das Zusammengehen von Pflicht und Emotion stellt ein regelrechtes Muster in der Supplikation von Vätern dar: Auch der Aktuarius Müller brachte im Gesuch sein Verantwortungsbewusstsein und seine väterliche Zuneigung gegenüber seiner Tochter, die wegen verheimlichter Schwanger136 Zu Fürbitten des Vaters für seine Kinder an die Obrigkeit vgl. Opitz 1992, S. 141. Die relativ hohe Anzahl väterlicher Gesuche bei Holenstein erklärt sich durch die Hausgewalt des Vaters – vgl. Holenstein 1998, S. 340. Allerdings lässt sich Holensteins Ergebnis nicht mit den hier verhandelten Justizsupplikationen unmittelbar vergleichen, da sich seine Studie dem gesamten Spektrum an Anliegen, die sowohl in Justiz- als auch in Gnadensupplikationen vorkommen, widmet. 137 Supplik des Vaters Glaser vom 15. März 1797 / Fallakte Carl Ludwig Glaser; in: ebd. 138 Supplik des Vaters Sist vom 13. November 1792 / Fallakte Johann August Sist; in: GStA PK, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 139 Supplik des Vaters Hartmann vom 3. Februar 1786 / Fallakte George Hartmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 140 Supplik des Vaters Obheisch vom 1. November 1787 nebst zwei medizinischen Gutachten / Fallakte Anne Marie Cornelie Obheisch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 28 – 40.
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schaft und mutmaßlicher Abtreibung auf dem Kalandshof einsaß, zum Ausdruck. Er hege eine: „( . . . ) natürliche Liebe und Pflicht gegen eine sich sonst allemal gegen ihre Eltern gehorsam aufgeführte Tochter“.141
Zugleich betonte Müller, dass er die Rolle als Vater stets pflichtbewusst ausgefüllt und seine Tochter zu Gehorsam erzogen habe. Einen stark emotionalen und zugleich pathetischen Ton schlug der betagte Hanses in der Supplik für seine Tochter an: „Aber ach! welch ein unbeschreiblicher Jammer würde das für mich seyn wenn ich alter Mann, der ich auf die Grube gehe und meinem Lebensende nahe bin, nun noch das Unglück erleben sollte, eine Tochter auf das Zuchthaus gebracht zu sehen, die ich so sorgfältig erzogen, die in meinem Alter mein Trost und meine Freude seyn sollte ( . . . ).“142
Auch diese Supplik belegt, wie Untertanen es geschickt verstanden, anrührende Geschichten zu erzählen, die zugleich das Herz des Monarchen öffnen und ihn überzeugen sollten. Der Hinweis auf eine gute Erziehung sollte offenbar den Eindruck erwecken, dass die wegen Kindsmordverdacht verurteilte Hanses den gesellschaftlichen Wertekodex verinnerlicht hatte, ihre Tat daher aufrichtig bereute und sich ohne Schwierigkeiten wieder in die Gesellschaft integrieren werde. Zugleich wies sich Hanses damit als pflichtbewusster Hausvater aus, was ihn in den Augen der Obrigkeit auch zu einem redlichen Untertanen und damit zu einem Supplikanten machen sollte, dem man mit Wohlwollen begegnete. In eine ähnliche Richtung ging vermutlich das Kalkül des Günther, Vater der wegen Gelddiebstahl verurteilten Dienstmagd Johanne Dorothee Christiane Günther, als er sich ein gutes Zeugnis in Sachen Erziehung ausstellte. Er gab an, dass es stets sein Bestreben gewesen sei, „( . . . ) meine Famille auf eine ehrliche und honette Art zu erziehen“ und beteuerte, dass er es „auch bei meiner jezt unglücklichen Tochter nicht verabsäumet habe ihr zu einen ehrlichen Fortkommen zu bilden.“143 Eine Erziehung, die Werte wie Ehrlichkeit und Gehorsam vermittelte, aber auch das Wissen um den Platz in der Gesellschaft, der einem jeden je nach Stand, Geschlecht und Alter zugestanden wurde, war nicht nur für Töchter, sondern im gleichen Maße auch für Söhne elementar. So versuchte zum Beispiel der Vater des wegen Diebstahls verhafteten Tuchmachergesellen Barthel, den Monarchen von dessen angeblich sittsamem Lebenswandel zu überzeugen, indem er beteuerte, dass: „( . . . ) mein Sohn nicht allein folgsahm und fleißig gewesen, sondern er ist nicht in Wirdhäusern und des abends gar nicht ausgegangen.“144 141 Supplik des Vaters Müller vom 16. März 1791 / Fallakte Maria Louise Müller; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.177, fol. 186 – 200. 142 Supplik des Vaters Hanses vom 10. November 1791 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 185. 143 Supplik des Vaters Günther vom 22. Juni 1791 / Fallakte Johanne Dorothee Christiane Günther; in: GStA PK, I. HA, Lit. D, Paket 16.057.
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Neben Gehorsam und Fleiß gehörten unter anderem die Vermeidung von übermäßigem Alkoholgenuss, aber auch Häuslichkeit und die Sorge um das Wohl des Hauses zu den männlichen Tugenden. Nicht nur Väter, sondern auch Mütter, die als Witwen einem Haus vorstanden, rechtfertigten sich gegenüber der Obrigkeit, dass sie ihren Kindern eine gute Erziehung haben zukommen lassen. So versicherte die Mutter, ihren wegen eines versuchten Uhrdiebstahls verurteilten 19-jährigen Sohn Wilhelm Trobit: „( . . . ) zu allem Guten angehalten und bisher nie die geringste Lüderlichkeit an ihm verspüret zu haben.“145
Auch ihre Mitsupplikantin, die Mutter des ebenfalls in den Diebstahlsversuch verwickelten 16-jährigen Lehrburschen Voigt, beteuerte: „( . . . ) ich habe an seiner Erziehung soviel mir als Wittwe möglich war nichts ermangeln laßen“.146
Hinter diesen Beteuerungen stand die Befürchtung, dass man ihnen als Hausvorstand vorwerfen könnte, ihren Erziehungspflichten nicht ausreichend nachgekommen zu sein. Das Vergehen der Kinder konnte implizit als Indiz dafür angesehen werden, dass der Hausvater bzw. die verwitwete Hausmutter in ihrer Fürsorgepflicht versagt hatte. Dieses Bild galt es abzuwehren, nicht nur, um den eigenen Leumund zu schützen, sondern auch, um die Chance auf Begnadigung zu erhöhen. Vermutlich fühlte sich daher der Stiefvater Keyser der wegen Diebstahls verurteilten Caroline Friedericke Louise Ladewig gezwungen klarzustellen, dass er ein derartiges Vergehen keineswegs dulde und nur deshalb für seine Stieftochter um Gnade bitte, weil er sie für unschuldig halte: „Ich bin zwar nun nicht gemeinet, ein Vertheidiger der Laster zu sein, allein, weil diese meine Stieftochter sich noch nie einer Untreue zu Schulden kommen lassen, und sie von jedem, das Lob der Erlichkeit vor sich hat, sonst [wäre] es meine Schuldigkeit mich von ihr zu wenden ( . . . ).“147
Auch ein anderer Vater versäumte nicht, den Monarchen davon zu überzeugen, dass er wisse, was Recht und was Unrecht sei, und nach diesen Werten habe er seinen Sohn, den wegen Aufruhr und Tumult verurteilten Heinrich Schäfer, erzogen:
144 Supplik des Vaters Barthel vom 12. Januar 1795 / Fallakte Christian Ludwig Barthel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.061. Zur Rolle des Vaters als Erzieher vgl. auch die Supplik des Vaters Marpurg vom 1. September 1791 / Fallakte Johann Heinrich Marpurg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.057. 145 Kollektivsupplik der Mütter Trobit und Voigt vom 4. September 1797 / Fallakte Wilhelm Trobit und Franz Voigt; in: ebd. 146 Ebd. 147 Supplik des Stiefvaters Keyser vom 12. Januar 1790 / Fallakte Caroline Friederike Louise Ladewig; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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„Wäre unser Sohn würklich eines Verbrechens schuldig, so würden wir [die Eltern] zwar auch trauern und weinen, jedoch uns eher mit dem Gedanken an Gerechtigkeit beruhigen; da ich aber mit Überzeugung weiß, daß mein Sohn würklich unschuldig ist, so ist und muß mein und meiner Frauen Gram und Kummer grenzenlos seyn.“148
Schäfer führte sich damit als ein Mann von Rechtschaffenheit und Gerechtigkeitsempfinden ein, der die Autorität der Justiz anerkannte. Damit sollte seine Erklärung über die Unschuld seines Sohnes an Glaubwürdigkeit gewinnen. Unschuldsbeteuerungen wurden von supplizierenden Eltern nicht in jedem Fall als hilfreich angesehen. Eine andere Argumentation war gefordert, wenn die persönliche Schuld des angeklagten bzw. verurteilten Kindes offensichtlich war. Im Fall von Ferdinand Ludewig Schoenemann konnte zum Beispiel nicht in Abrede gestellt werden, dass er Hypotheken gefälscht hatte – die Last der Beweise war zu hoch. Für ihn bat seine Mutter um Gnade, vermutlich um den Leumund ihres Mannes zu schützen [s. B.I.3.].149 Auch wenn dies eigentlich in den Pflichtenkatalog eines Vaters fiel, so hätte dies für den Vater, der in Werder das Amt des Bürgermeisters bekleidete, eine Ehrminderung zur Folge gehabt. Schließlich hätte Schoenemann doppeltes Versagen zugeben müssen, einmal als Erzieher seines Sohnes und zum anderen in seiner Vorbildfunktion als Amtsträger. Da erschien es unverfänglicher, wenn die Mutter anstelle des als „alten ungesunden Vater[s]“ entschuldigten Bürgermeisters vorsprach und beteuerte, dass ihr Sohn aus jugendlichem Leichtsinn, „nicht aber aus Bosheit des Herzens zum Verbrecher“ geworden sei.150 So spielte letztlich die Geschlechterrolle und der damit verbundene Handlungsspielraum bei der Entscheidung, welches Elternteil als Supplikant für das gemeinsame Kind auftrat – im Falle, dass beide noch lebten – eine ausschlaggebende Rolle. Übernahm hingegen der Vater das Supplizieren für sein Kind, wenn Unschuldsbeteuerungen nicht mehr plausibel wirkten, weil ihm ein Vergehen nachgewiesen werden konnte, so erforderte dies, dass er die Rolle des strengen Erziehers einnahm, sich über das begangene Unrecht empörte und entsprechende Sanktionen guthieß. So nahm Joseph Heinemann zum Beispiel die Rolle des gestrengen Vaters ein und gab vor, die Strafe als Besserungsmaßnahme für seinen wegen Betrugs überführten Sohn zu befürworten, tatsächlich aber erstrebte er für seinen Sohn eine Milderung im Wege der Gnade. Zum Anlass einer Supplikation nahm Heinemann den Umstand, dass sein Sohn auf der Festung Spandau: „( . . . ) mit äußerst ruchlosen und schlechten Leuten zusammen eingekert ist, wodurch seine sitte leider! noch mehr verdorben, und alle grundsätze der Moralitaet vollens bey ihm ersticket werden müßen, unter welchen Umständen, meine Hoffnung, daß vorige Vergehungen gewürket werden könne, gänzlich vereitelt wird.“151 148 Supplik des Vaters Schäfer vom 26. November 1797 / Fallakte Heinrich Schäfer (intus: Tescher, Reichert, Bergmüller); in: ebd. 149 Vgl. Supplik der Mutter Schoenemann vom 21. Dezember 1787 / Fallakte Ferdinand Ludewig Schoenemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 22 – 23. 150 Vgl. ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Um der angeblichen Gefahr der Verwahrlosung zu begegnen, bat Heinemann um die Verlegung seines Sohnes in das Zuchthaus. Eine solche Strafumwandlung kam de facto einer spürbaren Milderung gleich, denn während den Festungshäftlingen harte körperliche Arbeit etwa im Straßenbau abverlangt wurde, war im Zuchthaus Spinnarbeit an der Tagesordnung. Die Maßnahme sollte nach Heinemann gewährleisten, dass: „( . . . ) er [sein Sohn, Simon Joseph Heinemann] nicht nur dem Publico einigermaßen nützlich, zugleich aber auch er beßere Gelegenheit zum Nachdencken erhalten wird, seine Gesinnung und Sitten zu beßern ( . . . ).“152
Nach dem Heinemannschen Verständnis lag der Zweck einer Bestrafung darin, „an meinen Sohn statt eines Taugenichts einen gebeßerten Menschen wieder aufnehmen zu können“.153 Heinemann schaffte ein Szenario, in dem die Strafmilderung als logische und von Seiten der Obrigkeit einzig zu wünschende Konsequenz erscheinen musste, um den Zweck der Strafe, die sittliche Besserung der Delinquenten, zu gewährleisten. Im Fall des Schneiderlehrburschen Gottlob Friedrich Henning gab es auch aus der Sicht des Vaters nichts schönzureden, denn sein Sohn wurde bei einem Einbruch auf frischer Tat ertappt: „Ich erkenn es, daß dies ein gerechtes Urtheil ist, weil mein Sohn Strafe verdient hat; aber ich hoffe doch Gnade und Milderung der Strafe für ihn zu erhalten.“154
Der Vater Henning erkannte die Schuld seines Sohnes an und akzeptierte die Strafe ohne Einschränkung; er setzte allein auf das Erbarmen des Gnadenträgers.155 Was Henning zu dieser Taktik auch bewogen haben könnte, ist sein Status: Er bekleidete in Lüdersdorf bei Chorin das Amt des Schulzen. Wenn er versucht hätte, das Vergehen seines Sohnes klein zu reden, hätte ihn dies vermutlich als Schulze disqualifiziert – denn ein Schulze war zuweilen als Moderator in nachbarschaftlichen Konfliktsituationen gefordert und musste entsprechend klare Vorstellungen von Recht und Ordnung mitbringen. Daher setzte er auf die Strategie, sich selbst der Obrigkeit als Garant dafür anzubieten, dass sein Sohn nicht wieder auf die schiefe Bahn geriet. Die demonstrativ bekundete Sorge um den künftigen moralischen Lebenswandel des Delinquenten stellte ein typisches Integrationsangebot von Vätern bzw. von Männern, die eine vormundschaftliche Funktion aus151 Supplik des Vaters Heinemann vom 30. August 1787 / Fallakte Simon Joseph Heinemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 152 Ebd. 153 Ebd. 154 Supplik des Vaters Henning vom 29. Juni 1796 / Fallakte Gottlob Friedrich Henning; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.063. 155 Für die Strategie, die Verurteilung als gerecht hinzustellen, entschied sich auch der Vater des Bedienten Zander, der wegen Entwendung von Kleidungsstücken verurteilt wurde – vgl. Supplik des Vaters Zander vom 13. Mai 1794 / Fallakte Joachim Christian Friedrich Zander; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.060.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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übten, dar [s. B.I.3., 5. – 7.]. Auch der Köpenicker Gerichtsdiener, Vater des wegen Diebstahls überführten Glaser, vertrat diese Haltung: „Wenn Strafe Mittel zur Besserung seyn soll, so ist diese Mittel gewiß an meinem 15jährigen Sohn durch meine väterliche Züchtigung, Vorwürfe und Drohungen bei künftigen ähnlichen Vergehen in der Art erreicht, daß er sich nicht wieder einer dergleichen Fehltritte wird zu Schulden kommen lassen ( . . . ).“156
Was sich zuerst wie ein Einverständnis mit der Strafe und damit dem Gerichtsurteils liest, stellt sich bei genauerem Blick anders dar: Glaser sah keineswegs in der obrigkeitlichen Rechtshoheit, sondern in der väterlichen Hausgewalt die legitime Instanz zur Bestrafung und Erziehung des Sohnes. Aus dieser Haltung folgt konsequent die selbstbewusste Gnadenbitte: Mit der Begründung, er habe andere Pläne für seinen Sohn, bat Glaser um dessen baldige Freilassung. Er fügte seinem Gesuch eine Bestätigung des Landjägermeisters zu Stettin bei, der den gestrauchelten Sohn als Lehrling bei sich aufnehmen wolle und darin ausführt: „Der Junge Mensch kommt in Gute Aufsicht und Hände.“157 Glaser bürgte mit seiner väterlichen Hausgewalt und mit der patria potestas des Lehrherrn dafür, dass sein Sohn von der schiefen Bahn gebracht und in die Gesellschaft integriert werde. Die Supplikation diente Glaser, um seinen Anspruch auf die väterliche Hausgewalt zu demonstrieren. Von einer Begnadigung erhoffte er sich demnach, dass die Obrigkeit die Sanktionierung des Vergehens auf die häusliche Ebene der Konfliktlösung überwies. Resümee Die Eltern bilden mit rund 18,5 Prozent die drittstärkste Supplikantengruppe. Im Verhältnis zur jeweiligen Gesamtzahl an Gnadenbitten von Männern und Frauen supplizierten beide Elternteile genauso häufig. Ihre Supplikation begründeten sowohl Väter als auch Mütter damit, dass sie ihre Kinder als Stütze im Alter benötigten. Dies ist nicht nur ein verbreitetes Argumentationsmuster in Suppliken von Eltern, sondern verweist auch auf ihr dahinter liegendes Motiv: Eltern versuchten mit der Gnadenbitte eine Form der Strafe für ihre Kinder zu erreichen, die ihre Altersversorgung nicht in Gefahr brachte, also keine nachhaltigen Folgen für die berufliche Zukunft (z. B. durch Abbruch der Lehre) oder die Wirtschaft hatte. Die Bittsteller und Bittstellerinnen hielten dies nicht nur für ein legitimes Interesse, sondern gingen offensichtlich davon aus, dass die Obrigkeit dies nachvollziehen konnte. Die Altersversorgung lag in der Tat im Interesse der Obrigkeit, da das Einstehen der erwachsenen Kinder für ihre alten Eltern das Überleben der Generationen gewährleistete und somit das Funktionieren der frühneuzeitlichen Gesellschaft sicherstellte. Dies belegt einmal mehr, wie stark das Supplizieren durch Vorstellungen von der idealen sozialen Ordnung geprägt war. 156 Supplik des Vaters Glaser vom 15. März 1797 / Fallakte Carl Ludwig Glaser; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.065. 157 Künftiger Lehrmeister; in: Bestätigung der Lehrstelle als Anlage zur Supplik des Vaters Glaser vom 15. März 1797 / Fallakte Carl Ludwig Glaser; in: ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Wenn man die väterlichen mit den mütterlichen Gnadenbitten vergleicht, so fällt ein deutlicher Überhang auf Seiten der Väter auf: Während väterliche Gnadenbitten rund 60,2 Prozent ausmachen, liegen mütterliche Gnadenbitten bei rund 39,8 Prozent. So steht der Vater unter den supplizierenden Männern sogar an zweiter Stelle. Der Männerüberhang erklärt sich durch die patria potestas, die mit der Vaterrolle verbunden war und die ihn dazu verpflichtete, seinen Kindern Schutz angedeihen zu lassen und ihre Interessen nach außen zu vertreten. Waren Unschuldsbeteuerungen nicht plausibel, da die Schuld des Kindes zweifelsfrei bewiesen war, stand ein supplizierender Vater im Dilemma: Einerseits sich als pflichtbewusster und fürsorglicher Hausvater gegenüber seinen Kindern darzustellen, und andererseits das Vergehen seines Kindes zugeben zu müssen, was wiederum seinen Leumund und seine Ehre beeinträchtigte. In den Suppliken von Vätern ist häufig das Integrationsangebot an die Adresse der Obrigkeit zu finden, für den künftig moralischen Lebenswandel des Sohnes oder der Tochter zu bürgen. Eine supplizierende Mutter befand sich in der Regel nicht in einem derartigen Widerspruch. Lediglich Frauen, die aufgrund ihres Witwenstands den alleinigen Hausvorstand bildeten, schienen diese Problematik ansatzweise zu kennen. In solchen Fällen sahen sich die Supplizierenden genötigt, der Obrigkeit gegenüber zu beteuern, dass sie ihren Erziehungspflichten nachgekommen seien, und dass sie eine Bestrafung des Kindes generell befürworteten. Im Aufbau der Supplik folgten dann allerdings Schilderungen von Umständen, die eine Strafmilderung rechtfertigen sollten, bzw. von Umständen, von denen man sich versprach, einen Anspruch auf die häusliche Sanktionsgewalt plausibel begründen zu können. 4. Gnadenbitten von Kindern Der Großteil der Suppliken wurde, wie oben dargelegt, in eigener Sache oder im Namen der Eheleute oder Eltern verfasst. Darüber hinaus finden sich im Quellenkorpus auch Supplikationen von weiteren Familienangehörigen, die allerdings einen ungleich geringeren Anteil am Gesamtvolumen ausmachen. Als Supplikanten und Supplikantinnen aus dem engeren Kreis der Familie traten unter anderem auch die Kinder der Angeklagten bzw. Verurteilten auf. Die Akten weisen 17 eigenständige Gnadenbitten von Kindern auf;158 ihr Anteil an der Gesamtheit aller in den hier untersuchten Quellen enthaltenen Gnadenbitten beträgt rund 2,6 Prozent. Daraus folgt, dass Fürsprachen von Kindern für ihre Eltern nicht zum typischen Supplikationsverhalten gehörten, aber dennoch vorkamen. 158 Bei dieser Supplikantengruppe liegen in zwei Gnadenfällen Kollektivsuppliken „der Kinder“ vor, aus denen weder die Identität noch die Anzahl der Supplizierenden hervorgeht; Anzahl und Geschlecht der Kinder sind lediglich durch den Kontext rekonstruierbar. Da die anonyme Kollektivität hier als eine Intention der Absender angesehen wird, werden diese Gnadenbitten bei der Zählung jeweils als eine Bitte berücksichtigt und nicht mit der Anzahl der Supplizierenden multipliziert. Im Hinblick auf die schmale Quellenbasis dieser Supplikantengruppe wird kein Anspruch auf Repräsentativität der Ergebnisse erhoben.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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Zuvorderst gilt es zu klären, in welcher Beziehung Kinder und Eltern zueinander standen. Dabei stellt das Alter der Kinder eine bedeutende Größe dar, denn die Beziehung zu den Eltern gestaltete sich grundsätzlich anders, je nachdem, ob die Kinder noch pflegebedürftig, unmündig oder bereits erwachsen waren. Ein Blick in die Akten zeigt, dass Supplikationen von Kindern aller Altersstufen vorliegen: Das Spektrum setzt an bei Unmündigen, also bei Kindern im Alter bis zu etwa 10 bis 14 Jahren159, unter denen auch einige Kleinkinder zu finden sind.160 Das Spektrum umfasst des weiteren mündig gewordene Kinder, die aber noch im elterlichen Haus lebten161, und reicht bis zu erwachsenen Kindern – darunter ein noch recht junger Sohn, der gerade eine Lehre begonnen hatte162 – und vor allem älteren Kindern, die bereits einem eigenen Haushalt vorstanden.163 Dem Alter der supplizierenden Kinder entsprechend variierte das Supplikationsverhalten: Erwachsene stellten sich in der Supplik mit vollem Namen vor und brachten erst in der Narratio die Eltern–Kind–Beziehung zu der angeklagten bzw. verurteilen Person zur Sprache.164 Unmündige wurden im Absender der Suppliken dagegen summarisch als „Kinder“ bezeichnet, ohne dass man ihren Vornamen, ihr Geschlecht oder das genauere Alter erfährt.165 Bis zu ihrer Mündigkeit galten KinZu den Altersstufen vgl. beispielhaft Dülmen 1990, S. 80. Vgl. Supplik der Kinder Müller vom 15. Juli 1790 / Fallakte Sophie Müller; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056; vgl. Supplik der Kinder Ebel vom 10. März 1787 / Fallakte Georg Ebel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.058; vgl. sieben Suppliken der Kinder Bergemann / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 161 Vgl. Supplik der Tochter Sophie Krohn vom 9. September 1797 und Supplik der Tochter Carolina Krohn vom 21. März 1796 / Fallakte Hanna Dorothea Krohn; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 193 und fol. 189 – 191; vgl. Supplik der Tochter Runge vom 1. November 1795 / Fallakte Carl Ludwig Runge; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.063. 162 Vgl. Supplik des Sohnes Juncker vom 25. Februar 1798 / Fallakte Christian Juncker; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.181. 163 Vgl. Supplik des Sohnes Hannemann für die Mutter vom 30. September 1786 / Fallakte Ehepaar Schultz und Christian Hannemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053; vgl. Supplik der Stieftochter Maria Sophia Rogatzky o. D. [ca. Anfang November 1796] / Fallakte Johann Friedrich Liebke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 502; vgl. Supplik des Sohnes (bzw. Bruders) v. Linckersdorff vom 20. August 1797 / Fallakte Mutter und Tochter v. Linckersdorff; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. B, Paket 15.972. 164 Vgl. Supplik der Stieftochter Maria Sophia Rogatzky o. D. [ca. Anfang November 1796] / Fallakte Johann Friedrich Liebke; in: ebd.; vgl. Supplik des Sohnes Juncker vom 25. Februar 1798 / Fallakte Christian Juncker; in: ebd.; vgl. Supplik des Sohnes (bzw. Bruders) v. Linckersdorff vom 20. August 1797 / Fallakte Mutter und Tochter v. Linckersdorff; in: ebd.; vgl. Supplik des Sohnes Hannemann für die Mutter vom 30. September 1786 / Fall-akte Ehepaar Schultz und Christian Hannemann; in: ebd. 165 Vgl. sieben Suppliken der Kinder Bergemann / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd.; vgl. Supplik der Kinder Müller vom 15. Juli 1790 / Fallakte Sophie Müller; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056; vgl. Supplik der Kinder Ebel vom 10. März 1787 / Fallakte Georg Ebel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.058. Angaben zum Geschlecht und zum Alter der Kinder sind den weiteren Dokumenten der Akten zu entnehmen. 159 160
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
der offenbar als asexuelle Wesen. Während supplizierende Erwachsene als einzelne Persönlichkeiten auftraten und allenfalls auf die schwierige Lage ihrer jüngeren Geschwister hinwiesen166, supplizierten unmündige Kinder stets im Geschwisterkollektiv167. Bei der Entstehung von Suppliken [s. A.III.1.b)] muss davon ausgegangen werden, dass die Idee zu einer Supplikation unmündiger Kinder und ihre Umsetzung auf ein erwachsenes Familienmitglied zurückgingen; hingegen erfolgten Gnadenbitten erwachsener Kinder vermutlich aus eigener Initiative. Berücksichtigt man, dass die Rolle, die Eltern für ihre Kinder spielen, stark vom Alter der Kinder abhängig ist, so verwundert es nicht, dass die in den Gesuchen angeführten Argumente und Motive dementsprechend variieren. Zum Beispiel begründete August v. Linckersdorff, Zweiter Leutnant im Regiment von Grewenitz, sein Gnadenersuchen für seine Mutter und seine Schwester folgendermaßen: „Der bejammernswürdige Zustand, worin sich meine Mutter und Schwester seit zwei Jahren auf dem Spinnhause zu Spandau befinden, ist äußerst quaalvoll für mich und fordert mich dringend auf, so wie es die kindliche Pflicht von mir heischt, Hülfe und wo möglich Befreiung denen mir so theuern auszuwirken.“168
Als Sohn berief er sich auf seine kindliche Pflicht, der Mutter Hilfe und Schutz zu gewähren. Wenngleich v. Linckersdorff ebenfalls für seine Schwester um Begnadigung bat, geht daraus doch hervor, dass die Pflicht ein primär den Eltern geschuldetes Gebot war und Geschwister offenbar nicht in demselben Maße einschloss. Die Verpflichtung eines Kindes, seine Eltern zu unterstützen, muss im Zusammenhang mit dem vierten der zehn biblischen Gebote gesehen werden. Der Satz: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren ( . . . )“ (AT 2. Buch Mose 20, 12) fordert nämlich nicht nur den geschuldeten Respekt gegenüber den Eltern ein, sondern bezieht sich auch auf deren Versorgung im Alter durch ihre Kinder. So gesehen dient das Argument der kindlichen Pflicht in der Supplik auch dazu, mit dem Rekurs auf christliche Werte die Gläubigkeit des supplizierenden Kindes und seiner Familie zu belegen und damit zugleich die moralische Gnadenwürdigkeit des betreffenden Elternteils zu betonen. Doch nicht nur das Pflichtbewusstsein motivierte v. Linckersdorff, eine Supplikation für Mutter und Schwester einzureichen: Er verlieh auch seinen vorgeblichen 166 Zu Gnadenbitten, die den Namen von nur einem der Kinder als Absender tragen, aber auf jüngere Geschwister verweisen, vgl. Supplik der Tochter Sophie Krohn vom 9. September 1797 und Supplik der Tochter Carolina Krohn vom 21. März 1796 / Fallakte Hanna Dorothea Krohn; in: ebd.; vgl. Supplik des Sohnes (bzw. Bruders) v. Linckersdorff vom 20. August 1797 / Fallakte Mutter und Tochter v. Linckersdorff; in: ebd. 167 Als Beispiele für Geschwisterkollektive vgl. Supplik der Kinder Müller vom 15. Juli 1790 / Fallakte Sophie Müller; in: ebd.; vgl. Supplik der Kinder Ebel vom 10. März 1787 / Fallakte Georg Ebel; in: ebd.; vgl. sieben Suppliken der Kinder Bergemann / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 168 Supplik des Sohnes (bzw. Bruders) v. Linckersdorff vom 20. August 1797 / Fallakte Mutter und Tochter v. Linckersdorff; in: ebd. Aus der Akte geht das Delikt nicht hervor, denn sie besteht nur aus dem Supplikationsvorgang; ein Vermerk weist darauf hin, dass 1797 die Suche nach der Akte im damaligen Geheimen Archiv erfolglos war.
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Gefühlen ob deren Inhaftierung beredt Ausdruck. Pflichtgefühl und emotionale Betroffenheit lieferten nach eigener Aussage des Supplikanten den Handlungsimpuls zum Supplizieren. Anders dagegen der Buchdruckergeselle Hannemann, den vor allem die Furcht vor dem wirtschaftlichen Niedergang des elterlichen Handels dazu bewegte, um die Freilassung seiner Mutter zu bitten: „Da Mit nicht alles ruinirrt und zu grunde gehet“.169 In seinem Gesuch sagt er, dass er seine Mutter in zweierlei Hinsicht vermisste, sowohl bei der Führung des elterlichen Leinenhandels als auch bei der Aufsicht über seine beiden jüngeren Halbgeschwister: „( . . . ) darzu ist dieses noch[,] daß 2 Unmündig Kinder Vorhanden[,] welche ich aber alleine alß ihre stiefgeschwiester nicht Unterhalten und die Wirthschaft Vorstehen können und die Wirthschaft und Hantirung sehr darunter leidet.“170
Hannemann bat in seiner Supplik nur für seine Mutter, nicht aber für seinen Stiefvater oder seinen leiblichen Bruder, die ebenfalls wegen Diebstahls im Arrest saßen, um Strafmilderung. Dies erklärt sich eventuell durch die Erwartungshaltung, dass es die Aufgabe der Mutter sei, sich um die kleinen Kinder zu kümmern, welche nun zwangsläufig von ihrem älteren Halbbruder versorgt wurden, was jenen von seiner Arbeit als Buchdruckergeselle und als Aushilfe im elterlichen Leinenhandel abhielt. Möglicherweise ging Hannemann auch davon aus, dass es leichter war, die Begnadigung einer älteren Frau, auf die zu Hause zwei kleine Kinder warteten, zu erreichen, als für zwei Männer. Denn während sein Stiefvater und sein Bruder als Anstifter des Diebstahls angeklagt waren, wurde die Schuld seiner Mutter von Gerichts wegen geringer bewertet. Darüber hinaus kann auch ein anderes Kalkül hinter Hannemanns Supplikationsverhalten gestanden haben: Möglich ist, dass Hannemann auch im Hinblick auf das Erbe Vorteile aus der Abwesenheit seines Stiefvaters und Bruders zog. Wenn er dem Leinenhandel erst einmal eine geraume Zeit selber vorstand, war damit das Erbe faktisch vor der Zeit angetreten. Zugleich stieg damit die Wahrscheinlichkeit, dass seine Mutter und sein Stiefvater den Handel eher ihm als seinem Bruder übergeben würden. Wie im Fall Hannemann ist anzunehmen, dass die Erbfrage bei der Supplikation der erwachsenen Kinder häufig eine Rolle spielte. Möglicherweise wollten sich die supplizierenden Kinder Klarheit über den Erbantritt verschaffen und daher in Erfahrung bringen, wann mit der Rückkehr der Eltern bzw. des Elternteils aus der Haft zu rechnen war. Der Versuch, Vater bzw. Mutter vorzeitig aus der Haft zu befreien, war überdies eine Geste, die dem Verhältnis der Generationen sicherlich zuträglich war, auch wenn die Supplikation nicht den erwünschten Erfolg zeigte. So zentral die Erbfrage für die Beziehung der älteren Kinder zu ihren Eltern auch gewesen sein mag, die Suppliken schweigen darüber. 169 Supplik des Sohnes Hannemann vom 30. September 1786 / Fallakte Ehepaar Schultz und Christian Hannemann; in: ebd. 170 Ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Die Motive, die Hannemann in seiner Supplik hingegen explizit angab – die Furcht vor wirtschaftlichem Niedergang und die fehlende Versorgung der Kinder – wurden in vielen Gnadenbitten sowohl der älteren als auch der jüngeren Kinder unter dem Schlüsselwort „Nothleiden“171 thematisiert. Schenkt man zum Beispiel den Suppliken der Bergemannschen Kinder Glauben, so stand es schlecht um die wirtschaftliche Lage der Familie, seitdem die Witwe Maria Elisabeth Bergemann im Untersuchungsarrest war. Zum Zeitpunkt der Supplikation ihrer Kinder war sie wegen Unzucht mit ihrem ältesten Stiefsohn zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt worden: „( . . . ) da wier arme Kinder in allen sehr noch Leiden, wenn unsere Mutter nicht Bey uns ist; sollten wier armen Kinder Ein Jahr ohne Mutter Sein, So würden wier vergehen müßen in noth und Ehlend, und unser Mutter Wirthschaft Dahnn zu Grunde gehen.“172
Die Kinder reklamierten hier ihr Recht auf Versorgung durch ihre Mutter. Es handelt sich um drei Söhne und drei Mädchen im Alter von zwölf, zehn, acht und sechs Jahren sowie zwei Kleinkindern. Die Bergemannschen Kinder waren damit teilweise noch in einem Alter, welches eine intensive Pflege und Betreuung verlangte. Dabei zeigt sich, dass auch Kinder beim Supplizieren auf narrative Muster wie Not und Elend zurückgriffen, worunter nicht nur ihre Pflege, sondern auch ihr wirtschaftliches Wohlergehen verstanden wurde. Kinder konnten von ihren Eltern erwarten, dass das familiäre Auskommen sichergestellt war. Eltern standen ihren Kindern gegenüber offenbar in der Pflicht, mit dem Familienbesitz wirtschaftlich und sorgsam umzugehen, so dass das künftige Erbe ihren Kindern eine der sozialen Herkunft der Familie angemessene Zukunftsperspektive bot. Die Supplikation der sechs Geschwister konnte mit Blick auf ihr Alter nicht auf ihre eigene Initiative zurückgehen. Lanciert wurde sie vermutlich von ihrem Stiefbruder Michel Friedrich, der in den Suppliken der sechs Kinder nicht genannt wurde.173 Michel Friedrich war der Unzucht mit seiner Stiefmutter angeklagt, da er seit etwa über einem Jahrzehnt der Lebenspartner der Witwe und offenbar auch der leibliche Vater von dreien der Kinder war.174 Nachdem sein Gesuch175 für die Stiefmutter insofern Erfolg zeigte, als jener erlaubt wurde, für zwei bis vier Wochen das Zit. aus: Supplik der Kinder Ebel vom 10. März 1787 / Fallakte Georg Ebel; in: ebd. Erste Supplik der Kinder Bergemann vom 19. September 1795 und vgl. zweite Supplik ders. vom 23. Oktober 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 173 Diese Annahme stützt sich auf die Überlegungen, dass erstens Michel Friedrich für die Kinder die ihnen am nächsten stehende Person gewesen war; zweitens hatte er einen Monat zuvor bereits eine Supplikation unter seinem Namen eingereicht, was belegt, dass er im Supplizieren eine Möglichkeit erblickte, um seine Stiefmutter aus ihrer Lage zu befreien. 174 Bei dieser inkriminierten Beziehung darf angenommen werden, dass sie sowohl vom Stiefsohn als auch von der Stiefmutter aus emotionalen und sozioökonomischen Gründen freiwillig eingegangen wurde. – Zum Gewaltaspekt in Inzestbeziehungen zwischen Stiefsöhnen und Stiefmüttern vgl. Jarzebowski 2006, S. 258. 175 Vgl. Supplik des Stiefsohnes Michel Friedrich Bergemann vom 18. August 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 171 172
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Zuchthaus zu verlassen, um nach ihren Kindern zu sehen [s. C.II.6.b)],176 hielt er es vermutlich für ratsam, nicht selbst weiter zu supplizieren, sondern die Kinder als Bittsteller für die Mutter vorzuschicken. Die Chancen, weitere Milderungen zu erzielen, lagen vermutlich höher, so sein Kalkül, wenn die Kinder ihre Bedürfnisse in einer Supplik selbst äußerten, als wenn er dies als Mitangeklagter in ihrem Namen tat. So waren in diesem Fall die Kinder die Hauptleidtragenden der Situation; nicht nur, weil sie keine mütterliche Zuwendung mehr hatten, sondern vor allem, weil Kinder aus einer offiziell erkannten Unzuchtsbeziehung als illegitime Nachkommen stigmatisiert wurden, was ihre Position als spätere Miterben, aber auch ihre soziale Stellung negativ beeinflussen musste. Die Mühlen des Strafvollzugs mahlten anscheinend langsam, denn die Beurlaubung der Witwe Bergemann wurde vorerst nicht gewährt, obwohl die entsprechende Order an das Zuchthaus fünf Wochen zuvor ergangen war.177 In der Zwischenzeit wurde die in den vorherigen Gesuchen aufgestellte Prognose angeblich wahr, denn einige Wochen später kündigten die Kinder an, nun „als Bettel-Kinder“ gehen zu müssen.178 Wiederum fünf Wochen darauf beschwerten sich die Bergemannschen Kinder, dass sie „weder Brodt zu Eßen habenn wie auch keine reinigung“ hätten.179 Die Suppliken erzählen die traurige Geschichte einer Kindesvernachlässigung, die darin gipfelt, dass den Kindern die Befriedigung existenzieller Bedürfnisse verwehrt wurden: Angeblich litten sie Hunger und ließen jede Form von Körperpflege vermissen. Die obrigkeitlichen Akteure verstanden dies als Signal, dass hier obrigkeitlicher Handlungsbedarf entstanden war: Schließlich entließ man Maria Elisabeth Bergemann für kurze Zeit, damit sie zu Hause nach dem Rechten sehen konnte. Sie schrieb die Geschichte der Kindesvernachlässigung fort: Alarmiert durch den Zustand, in dem sie ihre Kinder und die Wirtschaft antraf, beklagte sie in einer Gnadenbitte die „Verwahrlosung“ ihrer Kinder, insbesondere der drei kleinen, und bat, sie „in den Stand zu setzen, ( . . . ) meine mütterlichen Pflichten gehörig erfüllen zu können“. Darunter verstand sie die Pflege und „moralische Erziehung“ der Kinder, aber auch ihre Arbeit in der Wirtschaft.180 In der folgenden Supplik bedankten sich die Kinder für die zeitweilige Freilassung ihrer Mutter und baten um eine nochmalige Auszeit im Frühjahr, wenn: 176 Vgl. Bericht des Kammergerichts vom 24. September 1795; Order an die Zuchthausadministration vom 28. September 1795; Dekret in Form einer Resolution an die Kinder Bergemann vom 26. Oktober 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 177 Vgl. Order an die Zuchthausadministration vom 28. September 1795; Dekret in Form einer Resolution an die Kinder Bergemann vom 26. Oktober 1795; die Beschwerde über die Zuchthausadministration in: fünfte Supplik der Kinder vom 13. Dezember 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 178 Zit. aus: Dritte Supplik der Kinder vom 3. November 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 179 Zit. aus: Fünfte Supplik der Kinder vom 13. Dezember 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 180 Zit. aus: Zweite Supplik der Bergemann in eigener Sache vom 19. Januar 1796 und dritte Supplik ders. vom 15. Juli 1796 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
„( . . . ) die Feld- und Garten-Arbeit Balde angehet, die doch unsere Mutter Bearbeiten Muß, dan wier wollen Brodt haben“.181
In die Bergemannsche Wirtschaft musste das Fehlen der Hausmutter notwendigerweise eine empfindliche Lücke reißen, denn die Versorgung der Kinder, die Gartenpflege, die Feldbestellung und die Gastwirtschaft zu Seefeld konnten vermutlich kaum von Michel Friedrich Bergemann alleine bewerkstelligt werden. Deutlich wird hier, welche zentrale Rolle die Hausmutter in einer Wirtschaft einnahm. Ihr Fehlen brachte das sensible Gefüge des Aufeinanderangewiesenseins einer frühneuzeitlichen Wirtschaft aus dem Gleichgewicht. Trifft man die Furcht vor dem wirtschaftlichen Niedergang sowohl bei jüngeren als auch bei erwachsenen Kindern als Motiv zur Supplikation an, so ist das Waisenargument charakteristisch für die Supplikation von kleinen Kindern. Ihre Hilflosigkeit wird in den Suppliken geradezu inszeniert und durch die Selbstbezeichnung als Waisen stets aufs Neue unterstrichen. Auch die sechs Bergemannschen Geschwister nutzten das Waisenargument, um an die väterliche Fürsorge von Friedrich Wilhelm II. zu appellieren, von dem erwartet wurde: „( . . . ) Sich als ein Vater des Landes zu erbarmen, Witwen und Weisen gütig zu erhören.“182
Aus der Perspektive der Kinder wurden sie durch die vorübergehende Abwesenheit der Mutter zu Waisen. Um die Hilfsbedürftigkeit der Familie zusätzlich zu betonen, wurde der offizielle Witwenstand von Maria Elisabeth Bergemann betont, obwohl sie sich selbst angesicht ihrer Liaison mit ihrem Stiefsohn sicher nicht als allein stehend ansah. Das Witwen- und Waisenargument stellt ein gängiges Muster beim Supplizieren dar: Es sollte den Monarchen an seine moralische Pflicht erinnern, den Schutzbedürftigen seine Unterstützung angedeihen zu lassen. Der Wortlaut legt implizit auch den Umkehrschluss nahe: Ein Monarch, der diesen Pflichten nicht nachkam, stellte aus der Sicht der Untertanen seine moralische Legitimation, zumindest aber sein Charisma, in Frage. So gesehen, setzten die Bergemannschen Kinder Friedrich Wilhelm II. moralisch unter Druck, wenn auch in subtiler Weise, so dass für sie keine Gefahr bestand, von der Obrigkeit dafür zur Verantwortung gezogen zu werden. Eine Formulierung mit vergleichbarer Intention findet sich in der Supplik der Tochter Sophie Krohn, die auch im Namen ihrer vier Geschwister um Gnade für ihre Mutter bat, welche wegen Kindsmordverdacht zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden war: „Gott erhöret die armen Weisen ( . . . ) wier werfen uns zu Ihren Füßen, und bitten Umgnade O Gott! Euer Exlenz erhören Sie doch unser Flehen[;] wir können es Sie nicht vergel-
181 Siebente Supplik der Kinder vom 27. Januar 1796 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 182 Vierte Supplik der Kinder vom 8. November 1795 und vgl. zweite Supplik ders. vom 23. Oktober 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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then[,] aber Gott wird es Sie gewis belohn an Ihre Gesundheit; O Gott Euer exlenz[,] laßen Sie sich doch nur Erbitten und erhören Sie doch nur unser Flehen und unser Seufßen[;] schenken Sie doch unser armen Mutter die Freiheit[,] das wir armen Kinder wieder Zufluch haben, wier haben Ja keinen Menschen Wie Gott in Himmel und werden diese hohe Gnade Zeitt lebens mit den Vus-fellisten Dank erkennen und ersterben mit der Grösten Ehrfurch[;] Euer exlenz sind wir Lebens-Zeit danbar.“183
Die Supplikantin war offenbar gut informiert, nicht nur, was den Zeitpunkt ihrer Supplikation anbelangt, denn ihre Mutter hatte bereits zwei Drittel ihrer Zeit im Zuchthaus abgesessen – ein Zeitmaß, bei dem die Wahrscheinlichkeit für eine Begnadigung recht hoch lag. Darüber hinaus war Sophie Krohn bzw. ihr Schreiber augenscheinlich in den Supplikationsvorgang eingeweiht, denn sie wandte sich direkt an die zuständige Instanz, den Großkanzler und Justizminister. Auch wenn die krakelige Handschrift und die Courtoisie nicht gerade auf einen geübten Schreiber schließen lassen, so verrät der Duktus des Schreibens eine gewisse Sprachgewandtheit. Die Supplik war darauf ausgelegt, Mitleid zu erwecken und durch die ständige Anrufung Gottes hinreichend Frömmigkeit zu dokumentieren. Möglicherweise handelte es sich bei dem Schreiber um den örtlichen Pfarrer.184 Mit einer Doppelung der Adressaten – Gott und der Großkanzler – werden die beiden Ebenen, einerseits die göttlich-jenseitige und andererseits die obrigkeitlichirdische, geschickt miteinander verknüpft.185 Im Falle einer Begnadigung sollte dem Großkanzler nicht nur der Dank der Kinder sicher sein, sondern man glaubte ihm, versprechen zu können, dass Gott ihm diese gute Tat vergelten würde, indem er ihm Gesundheit schenkte. Der sich dahinter verbergende Subtext spricht aber noch eine andere Sprache: Wenn selbst Gott die Waisen zu erhören pflegt, wie könnte sich dann ein Mensch erdreisten, deren Bitte auszuschlagen! Im Umkehrschluss liest sich dies so: Sollte ein Mensch ein solch hartes Herz haben, Waisen den erbetenen Schutz zu versagen, so konnte sich die Verheißung auf Gottes Belohnung für die gute Tat der Begnadigung in eine Vergeltung kehren. Die verbalen Waffen einer Gnadenbitte von Kindern konnten recht scharf sein. Sophie Krohns Supplik ist auch ein Beispiel für eine stark emotional vorgetragene Bitte. Auch ihre Schwester Carolina brachte ihre Verzweiflung und Hilflosigkeit über die Abwesenheit ihrer Mutter deutlich zur Sprache: 183 Supplik der Tochter Sophie Krohn vom 9. September 1797 / Fallakte Hanna Dorothea Krohn; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 193. Auch in der vorhergehenden Supplik der Tochter Carolina taucht die Selbstbezeichnung Waisen auf – vgl. Supplik der Tochter Carolina Krohn vom 21. März 1796 / Fallakte Hanna Dorothea Krohn; in: ebd., fol. 189 – 191. 184 Dieselben Vermutungen gelten auch für die ein halbes Jahr zuvor eingereichte Supplik der Tochter Carolina Krohn vom 21. März 1796 / Fallakte Hanna Dorothea Krohn; in: ebd., fol. 189 – 191. 185 Renate Blickle hat bereits in ihrer Untersuchung der Gebetsfürbitte auf die Parallelität zwischen dem diesseitigen und dem jenseitigen Interzessionswesen hingewiesen – vgl. Blickle 2005, S. 320 – 322.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
„Mit keinen Farben ist derjenige Schmerz zu schildern[,] den wir Kinder bei dem Verlust unserer Mutter empfinden[,] ( . . . ) die uns unter ihrem Herzen getragen hatte ( . . . ).“186
Carolina und Sophie als mittlerweile Mündige sowie ihre drei kleinen Geschwister seien seit nunmehr fünf Jahren und neun Monaten sich selbst überlassen, sie hätten niemanden, der „für unsere Erziehung sorgen, über unsere Jugend wachen“ würde.187 Nachdem ihre Mutter, die Witwe Hanna Dorothea Krohn, wegen Verheimlichung der Schwangerschaft und Geburt sowie wegen Verdacht auf Kindsmord verhaftet worden war, floh der Kindsvater, Johann Friedrich Manold, der als Geselle in Witwe Krohnens Schlächterei angestellt war, aus Furcht, ebenfalls gerichtlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Diese Erklärung diente Carolina Krohn dazu, den Waisenstatus ihrer kleinen Geschwister zu belegen. Mündige Töchter, aber auch unmündige Kinder beiderlei Geschlechts konnten ihrer Hilflosigkeit ob des Fehlens ihrer Mütter entsprechend Ausdruck verleihen. In den Suppliken von mündigen Söhnen war zwar auch Platz für Gefühlsäußerungen. Sie erreichten jedoch längst nicht den Grad an Emotionalität, der die Suppliken von Töchtern zuweilen prägte. Vermutlich wäre es als unangebracht empfunden worden, wenn ein Sohn seine Verzweiflung in einer hoch emotionalen und mitleiderregenden Weise kundgetan hätte – womöglich hätte man dies als ein Eingeständnis seines Unvermögens, eine Wirtschaft zu führen und das Auskommen zu sichern, angesehen. Vielmehr ist in Suppliken der Söhne von der Pflicht zur Unterstützung der Eltern die Rede, eine Wendung, die man in Gnadenbitten von Töchtern vergeblich sucht. Der Vorteil von Supplikationen von Töchtern und kleinen Kindern für ihre Mütter bestand eben darin, dass schon allein die Tatsache ihrer Supplikation emotionalisierend wirkte, ein Effekt, den Supplikationen von mündigen Söhnen oder gar gestandenen Erwachsenen kaum zu erreichen vermochten. Anders als das emotionalisierende Supplikationsmuster für eine Mutter stellt sich das Gnadenbitten für den Vater dar. In den Suppliken von Söhnen tritt per se ein stärker formaler, wenig emotionaler Charakter zutage. In besonderem Maße gilt dies für Gnadenbitten von Töchtern für ihre Väter.188 Teilweise wird in den Suppliken der Kinder sogar die Perspektive der Väter eingenommen: Zum Beispiel beschreibt der Seidenwirkerlehrbursche Christian Gottlieb Juncker minutiös den Ablauf der Schlägerei vor dem Roll-Krug in der Hasenheide, in deren Verlauf sein Vater angeblich einen Gesellen erschlagen hatte.189 Die detaillierte Beschreibung 186 Supplik der Tochter Carolina Krohn vom 21. März 1796 / Fallakte Hanna Dorothea Krohn; in: ebd. 187 Ebd. 188 Vgl. Supplik der Stieftochter Maria Sophia Rogatzky o. D. [ca. Anfang November 1796] / Fallakte Johann Friedrich Liebke; in: ebd., fol. 502; vgl. Supplik der Tochter Runge vom 1. November 1795 / Fallakte Carl Ludwig Runge; in: ebd.; vgl. Supplik des Sohnes Juncker vom 25. Februar 1798 / Fallakte Christian Juncker; in: ebd. 189 Vgl. Supplik des Sohnes Juncker vom 25. Februar 1798 / Fallakte Christian Juncker; in: ebd.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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suggeriert, dass der Supplikant Augenzeuge des Hergangs war. Die Tat hatte jedoch vor rund 18 Jahren stattgefunden, also zu einer Zeit, in der Christian Gottlieb Juncker noch im Säuglingsalter war. Dass er dennoch fähig war, den Anlass, die Beteiligten und die genaue Abfolge der Schlägerei zu rekonstruieren – wenn auch aus der parteiischen Perspektive des Angeklagten – kann als Beleg dafür gelten, dass solche Begebenheiten in die mündliche Erzählkultur eingingen und sich in der Familie und ihrem Umfeld tradierten. Zugleich dokumentiert das Beispiel, dass das Supplizieren für die Untertanen Geschichtenerzählen bedeutete: Nicht der Wahrheitsgehalt einer Geschichte war ausschlaggebend, vielmehr kam es auf eine den Leser packende Darstellungsform an, die auch der Fiktion Raum bot – solange die Geschichte plausibel und authentisch wirkte. Wie stark die väterliche Perspektive die Gnadenbitte eines Kindes dominieren konnte, belegt auch die Supplik der Stieftochter Maria Sophie Rogatzky, welche durchgängig vom Vater in der ersten Person berichtet, nämlich davon, wie Johann Friedrich Liebke als Holzwächter einen Dieb stellen wollte, ihn dann aber im Handgemenge angeblich versehentlich erschlug.190 Der Schreibstil und der detaillierte Tathergang dieser Supplik sowie die Tatsache, dass zwei Gnadenbitten der Ehefrau erfolglos geblieben waren, legt hier die Vermutung nahe, dass Liebke selbst die Supplikation aus der Haft initiiert und das Schreiben mit Hilfe eines Schreibkundigen aufgesetzt und im nachhinein den Namen seiner Stieftochter als Absender eingesetzt hatte. Insgesamt wurden nur vier Gnadenbitten für einen Vater, aber 13 Gnadenbitten für eine Mutter eingereicht, wobei der jeweilige Anteil von Töchtern und Söhnen recht ausgewogen ist. Die gängige Supplikationspraxis machte es offensichtlich Kindern einfacher, das Fehlen ihrer Mütter als das ihrer Väter zu beklagen. Möglich ist, dass den Kindern nach außen die nötige Autorität fehlte, für ihre Eltern ein gutes Wort einzulegen; dies gilt in besonderem Maße für den Vater, unter dessen patria potestas sie selbst standen. Da sie selbst Schutzbedürftige waren, wurden sie offenbar seltener mit der Erwartung konfrontiert, ihre Eltern mit einer Supplikation zu unterstützen, und sei sie bloß eine Geste ohne Aussicht auf Erfolg. Befragt man die 17 Gnadenfälle abschließend nach den Vergehen der angeklagten bzw. verurteilten Personen, so wird man vor allem auf die Deliktgruppen Diebstahl, Homicidia und Adulteria gestoßen. Dass in diesen Fällen Kinder um Gnade für ihre Eltern flehten, verwundert insofern nicht, als die Haftstrafen – vor allem bei Totschlag – recht hoch ausfielen. Dies bedeutete für die Kinder häufig, während ihrer gesamten Kindheit und Jugend auf ein Elternteil verzichten zu müssen. So geht aus der oben erwähnten Supplik von dem mittlerweile erwachsenen Sohn Christian Gottlieb Juncker für seinen zu lebenslanger Festungshaft verurteilten Vater hervor, dass er an jenen keine Erinnerung habe, da er zum Zeitpunkt seiner 190 Vgl. Supplik der Stieftochter Maria Sophia Rogatzky o. D. [ca. Anfang November 1796] / Fallakte Johann Friedrich Liebke; in: ebd., fol. 502.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Inhaftierung gerade einmal neun Monate alt war.191 In Fällen von Adulteria kam hinzu, dass das Urteil grundlegend in die Familienkonstellation eingriff, da es Beziehungen kriminalisierte, die im Alltag akzeptiert wurden und seit langem bestanden.192 Da Kinder selbst Teil der familiären Beziehung waren, die vor Gericht als Unzucht definiert wurde, waren sie selbst direkt betroffen, vor allem dann, wenn sie in dieser Beziehung gezeugt worden waren und nun als illegitime Nachkommen stigmatisiert wurden. Resümee Der Anteil, den die Gnadenbitten von Kindern gemessen an der Gesamtheit aller Gnadenbitten ausmachen, rangiert mit nur rund 2,6 Prozent weit hinter den drei zuvor dargestellten Supplikantengruppen. Der Anteil der Kinder liegt allerdings mit dem der Geschwister und der Anverwandten gleichauf. Da es sich hier um eine recht schmale Quellenbasis handelt, ist allerdings Vorsicht angebracht, diese Ergebnisse zu verallgemeinern. Hinzu kommt, dass die Kategorie Kind kaum verallgemeinerbare Aussagen zulässt: Das Interesse, welche Kinder mit einer Supplikation gegenüber ihren Eltern verbanden, ist abhängig vom Alter der Kinder. Denn je nachdem, ob die Kinder noch unmündig waren, oder ob sie als Erwachsene bereits in der Pflicht standen, ihre pflegebedürftigen Eltern zu unterstützen, bestand ihr Motiv zur Supplikation primär entweder darin, die elterliche Fürsorge wieder zurück zu erlangen,193 oder umgekehrt darin, den greisen Eltern Schutz angedeihen zu lassen bzw. dem Gnadenträger ein solches Verantwortungsbewusstsein zu suggerieren. Das Supplizieren von erwachsenen Kindern ist als eine Praktik zu betrachten, die sich von ihrer Rolle ableitet, ihren Eltern im Alter eine Stütze zu sein. Dabei wurde Stütze hier offenkundig nicht nur in materieller und pflegerischer Hinsicht verstanden, sondern bezog auch die Vertretung der elterlichen bzw. familiären Interessen nach außen ein. Die Fürsprache unmündiger Kinder hingegen ist erklärungsbedürftig: Hier kehrt sich das traditionelle Verständnis von vormundschaftlicher Rolle und Interessenvertretung um: Personen, die eine besonders schwache Stellung in der frühneuzeitlichen Gesellschaft innehatten, treten hier als Akteure auf. Der Grund ist ein strategischer: Aus der Sicht der hinter der Supplikation stehenden Familienmitglieder eigneten sich Kinder in besonderem Maße dafür, beim Leser Mitleid hervorzurufen, da sie an dem ihrem Vater oder ihrer Mutter zur Last gelegten Vergehen unschuldig waren. So wurde in Suppliken von kleinen Kindern ihr Schutz als Quasi-Waisen stets wortreich eingefordert. Erwachsene Kinder hin191
Vgl. Supplik des Sohnes Juncker vom 25. Februar 1798 / Fallakte Christian Juncker; in:
ebd. Vgl. Jarzebowski 2006. Dieses Interesse geht zumindest so aus den Suppliken hervor. Auch wenn es plausibel erscheint, muss beachtet werden, dass hier in der Regel ein Familienmitglied die Interessenlage der Kinder formulierte. 192 193
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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gegen argumentierten mit ihrer kindlichen Pflicht den Eltern gegenüber, womit sie sich nach außen hin der Verantwortung für die Altersversorgung ihrer Eltern stellten. Damit griffen sie auf Werte und Vorstellungen von sozialer Ordnung zurück, von denen sie annahmen, dass auch die Obrigkeit sie teilte. Neben der Frage des Alters, muss beim Umgang mit der Kategorie Kind zudem geklärt werden, ob es sich bei den supplizierenden Kindern um Töchter oder Söhne handelte und ob die Bitten für die Mutter oder den Vater eingereicht wurden. Aus der jeweiligen Stellung im Gefüge eines Hauses resultierten unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche und damit einhergehend unterschiedliche Handlungsspielräume. Da Kinder außerdem ein Anrecht auf das Erbe ihrer Eltern hatten, musste ihnen – und das ist die dritte Betrachtungsebene – daran gelegen sein, dass mit dem Hab und Gut ihrer Eltern sorgfältig gehaushaltet wurde. Folglich waren die Supplikationen von Kindern in doppelter Hinsicht wirtschaftlich motiviert, denn zum einen hatten sie das akute Bedürfnis nach Versorgung, zum anderen trieb sie die Sorge um das künftige Erbe um. Somit erklärt sich, warum Kinder – gleichgültig, ob Töchter oder Söhne, ob unmündig oder erwachsen – trotz ihrer untergeordneten Stellung im Haus beim Supplizieren eine offensive Rolle spielen konnten.
5. Gnadenbitten von Geschwistern „Da uns nun unser Schwester sehr nahe gehet, daß sie ihr junges Leben in einen so eingekerkerten Leben verbringen solte ( . . . ), Erhören Eure Königliche Majestaet das Bitten und Flehen zweier klagender Brüder, und machen dem Seufzen der Unglücklichen ein Ende.“194
In zwei Suppliken gaben die Brüder Christian Friedrich und Elias Michael Schmidt ihrem Leid darüber Ausdruck, dass ihre Schwester Hedwig Sophia bereits seit 15 Jahren im Zuchthaus saß und keine Aussicht darauf hatte, entlassen zu werden, da sie als 16-jährige wegen Kindsmord zu lebenslangem Zuchthausarrest verurteilt worden war. Die Supplik der Brüder baut auf dem Topos Mitleid auf: Beim Leser soll Mitleid mit der Delinquentin evoziert werden, indem gegensätzliche Bilder wie junges Leben und eingekerkertes Leben gebraucht wurden. Damit werden Hedwig Sophias ursprünglich hoffnungsvolle Zukunftsaussichten als junge Frau kontrastiert mit ihrer jetzigen Situation, gefangen im Kerker. Da aber das Mitleid des Gnadenträgers mit einer Delinquentin, die gegen die von ihm erlassenen Gesetze verstoßen hatte, nicht gewiss war, versuchten die Supplikanten auch auf anderem Wege Mitleid zu erwecken: Durch Hinweise, dass ihre Brüder darüber unglücklich sind, dass ihnen das Schicksal ihrer Schwester „nahe gehet“, dass sie deshalb klagen und seufzen – auf diese Weise bringen die Brüder ihre eigene Gefühlslage zum Ausdruck, wodurch der Leser emotional berührt werden soll. 194 Zwei Suppliken mit identischem Wortlaut der Brüder Christian Friedrich und Elias Michael Schmidt vom 2. April 1788 und 2. Juni 1788 / Fallakte Hedwig Sophia Schmidt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 16 – 18, 22 – 27.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Die Brüder gehen noch einen Schritt weiter und geben ihr Mitleid mit der Schwester als Beweggrund für die Supplikation aus. Der Topos Mitleid findet sich häufig in den Gnadenbitten der Geschwister, welche eine weitere Supplikantengruppe aus dem engeren familiären Kreis bilden: Mit 17 Gnadenbitten ist sie ebenso stark vertreten wie die Gruppe der Kinder (rund 2,6 Prozent aller Gnadenbitten).195 Man fragt sich allerdings, warum die Brüder Schmidt 15 Jahre mit einer Gnadenbitte gewartet haben, wenn sie, wie sie beteuern, über das Schicksal ihrer Schwester tatsächlich so unglücklich waren. An diesem Beispiel zeigt sich sehr deutlich, dass die Quellen nur begrenzt Auskunft geben über die wahre Motivlage der Supplizierenden und dass das in Suppliken bekundete Mitleid mit der angeklagten bzw. verurteilten Person vor allem unter dem taktischen Gesichtspunkt der Chancenmaximierung zu verstehen ist: Die Brüder Schmidt versuchten vermutlich, in erster Linie der Vorstellung von einem guten Bruder gerecht werden. Darunter verstanden sie, dass ein Bruder die Interessen seiner Schwester gegenüber der Obrigkeit vertrat [s. u.], und dass er am Schicksal seiner Schwester emotional Anteil nahm und Unterstützung anbot. Eine weitere Lesart drängt sich auf, wenn man das Alter der drei Geschwister Schmidt im Jahr der Supplikationen in die Überlegung miteinbezieht: Schließt man von den rund dreißigjährigen Geschwistern auf das Alter ihrer Eltern, so hatten diese mit schätzungsweise Mitte Fünfzig bis Sechzig ein Alter erreicht, in dem man sein Erbe üblicherweise testamentarisch geregelt hatte. Bei der Klärung der Erbangelegenheiten musste zuvorderst die Anzahl der Erben ermittelt werden. Auch wenn das Erbrecht von Landstrich zu Landstrich variierte und von den jeweiligen Besitz- und Rechtsverhältnissen abhängig war, so war doch die ältere Generation aus Gründen der eigenen Absicherung prinzipiell daran interessiert, alle Kinder – Söhne wie Töchter, Erstgeborene wie Nachgeborene – in die Erbfolge einzubeziehen. 196 Es ist also durchaus möglich, dass die Brüder Schmidt mit ihrer Gnadenbitte ausloten wollten, ob ihre Schwester das Zuchthaus je verlassen würde. Falls sie dort ihr gesamtes Leben fristen sollte, konnten dann die Brüder eventuell einen Anspruch auf das schwesterliche Erbteil erheben. Für die Interpretation, dass die Brüder mit ihrer Supplikation vor allem Klarheit über ihre Erbanteile erhalten wollten, spricht, dass sie nur zweimal im Abstand von zwei Monaten supplizierten, 195 Im Hinblick auf die schmale Quellenbasis dieser Supplikantengruppe wird kein Anspruch auf Repräsentativität der Ergebnisse erhoben. 196 Vgl. Hufton 1998, S. 88 f.; vgl. Wunder 1992, S. 244 f. Aus den Akten lässt sich die jeweilige Erbpraxis nicht herleiten, so dass genaue Aussagen dazu hier nicht getroffen werden können. Beispielhaft zum regional- und besitzspezifischen Erbrecht vgl. Lieselott Enders, Die Besitz- und Rechtsverhältnisse der altmärkischen Bauern in der Frühneuzeit; in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preussischen Geschichte, Neue Folge, 13 (2003) 1, S. 1 – 59. Als Beispiel zur süddeutschen Erbpraxis vgl. Michaela Hohkamp, Wer will erben? Überlegungen zur Erbpraxis in geschlechtsspezifischer Perspektive in der Herrschaft Triberg von 1654 – 1806; in: Jan Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, Beiheft der Historischen Zeitschrift, Neue Folge; 18, München 1995, S. 325 – 341, bes. S. 330 – 332.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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in den folgenden Jahren jedoch kein weiteres Gesuch für ihre Schwester aufsetzten. Dass die Brüder kollektiv supplizierten, ist ein weiteres Indiz dafür, dass das tatsächliche Motiv in einer Angelegenheit zu suchen ist, welche die Geschwister gemeinschaftlich betraf – das Erbe. Wirft man einen Blick auf die anderen Suppliken von Geschwistern, wird man feststellen, dass die Erbproblematik nirgendwo explizit thematisiert wird. Und dennoch ist davon auszugehen, dass das Erbe als Handlungsimpuls zumindest bei einigen Supplikationen von Geschwistern eine Rolle spielte: Von Bedeutung war dabei nicht nur die Frage, ob bzw. wann ein Erbe angetreten werden konnte und woraus der eigene Erbanteil bestand, sondern auch, wie ein brachliegendes Erbe für die Dauer des Arrestes von den Geschwistern mitversorgt werden sollte. Als Geschwister standen sie in einer gemeinsamen Verantwortung für das Erbe und für die Altersversorgung der Eltern. Dass Erbangelegenheiten in den Suppliken von Geschwistern – ebensowenig wie in Suppliken von Kindern [s. B.I.4.] – nicht zur Sprache kommen, deutet darauf hin, dass sie sich aus der Sicht der Bittsteller und Bittstellerinnen für eine Supplikation nicht eigneten: Das Erbe konnte gegenüber der Obrigkeit nicht als Argument für eine Begnadigung angeführt werden, weil das Interesse der Supplizierenden – im Gegensatz zur Aufrechterhaltung der Wirtschaft – mit jenem der Obrigkeit nicht deckungsgleich war [s. B.I.2.]. Dieses Motiv wurde in den Suppliken nicht offen benannt – lediglich eine Gemengelage aus bekundetem Mitleid und Pflichtgefühl weist indirekt auf diese Möglichkeit hin. Dies trifft auch auf die Supplikation der Brüder Christian Friedrich und Elias Michael Schmidt zu. Sie gaben nicht nur an, Mitleid für ihre Schwester zu empfinden, sondern nahmen auch indirekt Bezug auf ihre brüderliche Pflicht: „Wir sind versichert, daß selbige nie wider Eure Königlichen Majistaet Landes-Gesezze und Edicte handeln wird, sondern jederzeit selbige treulich befolgen wird.“197
Die Brüder traten als kollektiver Vormund ihrer Schwester auf und gaben an ihrer Schwester Stelle das Versprechen über deren gesetzestreues Verhalten ab. Die Geschlechtsvormundschaft verlieh den Brüdern die nötige Autorität, für ihre Schwester gegenüber der Obrigkeit bürgen zu können. Sie untermauerten ihre Bitte mit einem so genannten Aufführungszeugnis, welches das Spandauer Zuchthaus Hedwig Sophia Schmidt nach 15 Jahren Haft ausgestellt hatte. Die Brüder zitieren in ihrer Supplik wie folgt daraus: Ihre Schwester habe sich „immer ordentlich und fleißig aufgeführet, so daß über selbige noch nicht Klage hat geführet werden dürfen“.198 Mit dem Aufführungszeugnis sollte die Tugendhaftigkeit ihrer Schwester von obrigkeitlicher Seite belegt werden. Die Tatsache, dass die Supplikanten ein 197 Zwei Suppliken mit identischem Wortlaut der Brüder Christian Friedrich und Elias Michael Schmidt vom 2. April 1788 und 2. Juni 1788 / Fallakte Hedwig Sophia Schmidt; in: ebd. 198 Zitierung aus dem Aufführungszeugnis des Spandauer Zuchthauses in den zwei Suppliken mit identischem Wortlaut der Brüder Christian Friedrich und Elias Michael Schmidt vom 2. April 1788 und 2. Juni 1788 / Fallakte Hedwig Sophia Schmidt; in: ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
solches Zeugnis eingefordert hatten, sollte der Obrigkeit signalisieren, dass den Brüdern durchaus bewusst war, dass die gnadenwürdigen Tugenden, die von ihrer Schwester erwartet wurden, in Gehorsam, Fleiß und Reue bestanden, und dass auch sie selbst klare Vorstellungen von einem moralischen Lebenswandel hatten und als Brüder dementsprechend Einfluss auf ihre Schwester nehmen würden.199 Die Supplikanten bauten darauf, dass eine einwandfreie Aufführung sowie die Versicherung über den künftigen Lebenswandel ihrer Schwester, dem Gnadenträger als Anzeichen dafür galten, dass Hedwig Sophia Schmidt im Falle einer Begnadigung in ein Netz der sozialen Kontrolle entlassen würde. Eine andere Art der Unterstützung, die sich ebenfalls durch die Geschlechtsvormundschaft des Bruders herleitete, dokumentiert der Fall von Polixena Friderica Guthschmidt. Sie war wegen verheimlichter Schwangerschaft und Geburt sowie Kindsmordverdacht zu zehn Jahren Zuchthausarrest verurteilt worden. Nachdem sie sechs Jahre Haft abgesessen hatte, supplizierte ihr Bruder, der Pantoffelmachergeselle Carl Simon Guthschmidt, unter Angabe folgenden Grundes: „Da sich nun anjezt der Fall ereignet, daß mir gewißer Mensch von Seiner Königlichen Hoheit Des Printzen Heinrichs Regiment meine Schwester heirathen und der Chef von der Companie ihm auch den Trauschein ertheilen will, wenn er selbige vom Zucht Hause befreien könne ( . . . ).“200
Guthschmidts Verständnis von seinen brüderlichen Pflichten ging soweit, dass er offenbar für seine Schwester eine Ehe arrangiert hatte, und versuchte damit, seine Schwester aus dem Zuchthaus zu befreien: Ein loyaler Soldat an ihrer Seite sollte ihr helfen, ihren Platz in der Gesellschaft wieder zu finden und ihre Zukunft materiell abzusichern. Dieses Ansinnen könnte auf die mittelalterliche bzw. frühneuzeitliche Gnadenpraktik zurückgehen, bei der ein zum Tode Verurteilter durch das Heiratsversprechen einer ehrbaren Jungfrau vom Galgenstrick losgeschnitten werden konnte [s. A.I.1.c)].201 Der von Guthschmidt vorgeschlagene Handel geht allerdings von anderen Voraussetzungen aus, denn es ging hier nicht um die Begnadigung von einer Todes-, sondern von einer Freiheitsstrafe. Auch wurden die Geschlechter202 vertauscht: Die Jungfrau wurde hier durch einen beim Militär dienenden ledigen Mann ersetzt – beide dienten sozusagen den Interessen der Obrigkeit, einmal in reproduktiver, einmal in militärischer Hinsicht. Zwischen der tradi199 Von einer vergleichbaren Gesinnung zeugt das Gesuch des Militärangehörigen August v. Linckersdorff für seine Mutter und seine Schwester. Auch er betonte seine Vorstellung von einem moralischen Lebenswandel und legitimierte sein Supplizieren damit, dass Mutter wie Schwester angeblich gänzlich „schuldlos“ seien – vgl. Supplik des Sohnes bzw. Bruders v. Linckersdorff, vom 20. August 1797 / Fallakte Mutter und Tochter v. Linckersdorff; in: ebd. 200 Supplik des Bruders Carl Simon Guthschmidt vom 1. Mai 1788 / Fallakte Polixena Friderica Guthschmidt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 129. 201 Vgl. Erler 1984; vgl. Becker 1989; vgl. Rublack 1998, S. 96 – 104. 202 Für das 16. Jh. gibt es offenbar ein Beispiel für die Variante der Praktik des Losheiratens, bei der auch ein Mann durch ein Heiratsversprechen die Freilassung einer verurteilten Frau erwirken konnte – vgl. Rublack 1998, S. 96 f.
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tionellen Praktik und Guthschmidts Begründung gibt es insofern eine gewisse Parallelität, als die Verurteilten damit in ein Umfeld mit sozialer Kontrolle entlassen wurden und von ihnen zudem erwartet werden konnte, dass sie die ihnen jeweils zugedachte Geschlechterrolle ausfüllten: der Todeskandidat, indem er die Verantwortung für Ehefrau und künftige Kinder übernahm, und die verurteilte Guthschmidt dadurch, dass sie Ehefrau und später auch Mutter von Kindern eines Soldaten werden würde. Indes bleibt unklar, ob sich Guthschmidt der Anlehnung an diese traditionelle Gnadenpraktik bewusst war. Doch allein Guthschmidts Annahme, seine Schwester von den noch verbliebenen vier Jahren Zuchthausarrest durch eine Ehe befreien zu können, deutet darauf hin, dass diese Praktik im kollektiven Gedächtnis der Untertanen Ende des 18. Jahrhunderts noch immer existierte.203 Neben der Geschlechtsvormundschaft gegenüber unverheirateten oder verwitweten Schwestern übten Männer auch die Vormundschaft gegenüber ihren jüngeren Brüdern, die noch im Alter von Heranwachsenden waren, aus. Von dieser Pflicht leitete sich in dem einen oder anderen Fall der Beweggrund für die Supplikation eines Bruders ab. In seinem Gesuch positionierte sich Emanuel Günther als Vormund seines verurteilten jüngeren Stiefbruders Carl Gottlieb Immanuel Rieboldt mit den Worten: „Ich habe diesen Rieboldt ( . . . ) von seiner Jugend an unterstützt.“204 Da Rieboldts Vater längst verstorben war, kam nun seinem älteren Stiefbruder, der bereits Handlungsdiener in einer Fabrik war, die Rolle als Vormund zu: „Ich habe einen Stiefbruder nahmentlich Carl Rieboldt, den ich durch meine Vermittlung Anno 1781 bey dem Buchführer Friedrich Nicolai um die Buchhandlung bey ihm zuerlernen, in die Lehre brachte, mit demselben ich dieser Jahre wegen Contractiret, und meinen gemachten Contract nach gekommen bin.“205
Wie schon in den Gnadenbitten der Väter für ihre Kinder [s. B.I.3.] sollte dem Monarch mit dieser Geschichte versichert werden, dass Günther seiner Pflicht als Erzieher und Wegbereiter für die berufliche Zukunft seines jüngeren Stiefbruders gewissenhaft nachgekommen sei: Auf seine Veranlassung hin sei Rieboldt nicht nur in den Genuss „einer guten Erziehungs-Anstalt“ gekommen, sondern habe auch eine ordentliche Lehrstelle in der Buchhandlung Nicolai erhalten.206 Um seiner Behauptung eine authentische Note zu verleihen, führte Günther auf, dass er 203 Auch der Amtmann Schulze griff auf diese Praktik zurück, als er Elisabeth Sophie Franck mit einem Eheversprechen auszulösen hoffte. Franck saß im Zuchthaus ein, weil sie den väterlichen Hof aus Rache gegen die verwehrte Einwilligung ihrer Eltern in die von ihr gewünschte Heirat in Brand gesetzt hatte. Schulze führte dafür eine aus seiner Sicht überzeugende Begründung an: „Diese Pärsohn hat Mich und ich ihr Lieb gewonnen, und ich bin willens sie zu heyraten ( . . . ).“ – Supplik des Amtmanns Schulze vom 7. Mai 1788 / Fallakte Elisabeth Sophie Franck; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235. 204 Supplik des Stiefbruders Emanuel Günther vom 26. Dezember 1786 / Fallakte Carl Gottlieb Immanuel Rieboldt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. 205 Ebd. 206 Ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
dem Buchhändler Friedrich Nicolai 30 Reichstaler Lehrgeld für seinen Stiefbruder und weitere 20 Reichstaler für „übrige Unkosten“ bezahlt hatte. In dieser Supplikation wird die Vorstellung bedient, dass ein älterer Bruder in der Verantwortung stand, für seinen jüngeren Bruder die Ausbildung zu organisieren, um damit dessen Zukunftsaussichten nach Möglichkeit zu fördern. Aus Günthers Sicht hatte der Buchhändler seinen Teil des Lehrvertrages allerdings nicht eingehalten, da er den „unerfahrenen Jüngling ohne ale Aufsicht gelaßen“, so dass dieser: „( . . . ) durch diese Gleichgültige Aufsicht so vernachläßiget, und durch diese, durch schlechte Gesellschaften so weit gebracht, daß ich mich jetzt selbst seiner schämen muß.“207
Rieboldt hatte einige Bücher seines Lehrherrn unterschlagen und versucht, sie weiterzuverkaufen. Dafür wurde er wegen Diebstahls zu sechs Monaten Festungsarrest verurteilt. Nach Günthers Meinung traf den Brotherrn die Schuld am Vergehen Rieboldts, der seiner Aufsichtspflicht angeblich nicht nachgekommen war. Bei aller Schuldzuweisung an Dritte versäumte der Supplikant nicht, die Schwere des Vergehens zu betonen: Indem Günther seiner Enttäuschung über Rieboldt Ausdruck verlieh, gab er zugleich einen Beleg seiner Rechtschaffenheit ab. Damit sollte der Monarch zu der Überzeugung gelangen, dass Rieboldt in ein intaktes soziales Umfeld entlassen würde, das deviantes Verhalten nicht zuließ. Günthers oben zitierte Enttäuschung über Rieboldt hatte vermutlich noch einen anderen Grund, schließlich war die Investition in seine eigene Altersabsicherung gefährdet: Die Unterstützung, die Rieboldt von ihm erfuhr, verpflichtete jenen umgekehrt dazu, seinem älteren Stiefbruder im Alter beizustehen. Doch nun, als Dieb an seinem Brot- und Lehrherrn überführt und mit einer ehrenrührigen Strafe belegt, war fraglich, ob Rieboldt seine Lehre überhaupt noch abschließen würde, was seine Zukunftsperspektiven erheblich beeinträchtigte. Die Erwartungshaltung des älteren Stiefbruders und die sich daraus ableitende Argumentation der Gnadenbitte hätten sich auch im Gesuch eines Vaters für seinen Sohn finden können [s. B.I.3.]. Der Umstand, dass einem Bruder die Rolle als Vormund sowohl gegenüber einem jüngeren Bruder, als auch gegenüber einer Schwester zukam, erklärt, warum sich Brüder fast in gleichem Maße sowohl für ihre Schwestern (fünf Gnadenbitten) als auch für ihre Brüder (vier Gnadenbitten) einsetzten. Das Supplikationsverhalten von Schwestern stellt sich dagegen anders dar, was trotz der geringen Anzahl an Gnadenbitten auszumachen ist: Mit acht Gnadenbitten sind Schwestern fast ebenso stark wie die Brüder im Quellenbestand vertreten. Die Schwestern unterstützten eher ihre Brüder (sieben Gnadenbitten) als ihre Schwestern (eine Gnadenbitte) mit einer Supplik. Die Diskrepanz erklärt sich – neben der Tatsache, dass weitaus mehr Männer (zu rund 71,6 Prozent) als Frauen (zu rund 28,4 Prozent) 207
Ebd.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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angeklagt bzw. verurteilt wurden – durch den geschlechterspezifischen Handlungsspielraum der Supplizierenden. Konnte ein Bruder sein Einschreiten mit der Vormundschaft begründen, so bestand eine mögliche Strategie einer Schwester darin, mit ihrer Hilfsbedürftigkeit zu argumentieren. Das Einfordern von Hilfe konnte sie wiederum eher an die Adresse eines Bruders denn an die einer Schwester richten. So war eine Fürbitte von einer Schwester für eine Schwester eher unüblich.208 Benötigte eine Frau eine Gnadenbitte um Strafmilderung, so fand sich entweder der Vater [s. B.I.3.], der Ehemann [s. B.I.2.], ein Bruder [s. B.I.5.] oder ein männlicher Anverwandter [s. B.I.6.], wie etwa ein Schwager der Verurteilten, der das Supplizieren übernahm. Beim Supplizieren bediente sich eine Schwester des Topos der hilfs- und schutzbedürftigen Frau: Für die Zeitgenossen war es offensichtlich plausibel, wenn eine Schwester ihre Gnadenbitte für ihren Bruder mit dessen brüderlicher Pflicht begründete, für ihre Versorgung aufzukommen.209 Dies belegen zum Beispiel die drei Suppliken Dorothea Borchmanns für ihren wegen Majestätsbeleidigung verhafteten Bruder Johann Friedrich Borchmann: Der verarmte ehemalige Kriegsrat Borchmann nutzte seine gesellschaftlichen Verbindungen und seine Fähigkeit zu schreiben, um sich mit dem Verfassen von Nachrichten über den Königlichen Hof und über die Berliner Gesellschaft in einem „Neuigkeitsblatt“, welches in Rauchsalons, so genannten Tabagien, in den Residenzen und Provinzen verbreitet wurde, ein Zubrot im Alter zu verdienen.210 Da Friedrich Wilhelm II. diese „höchst schädlichen Blätter“, die angeblich „unanständige und giftige reflexoni“ wie etwa „Scandale“ kolportierten, ein Dorn im Auge waren, ordnete er per Kabinettsorder die unverzügliche Verhaftung des Borchmann auf unbestimmte Zeit an.211 Borchmann wurde beschuldigt:
208 Es liegt lediglich ein einziger Fall vor, in dem eine Frau für ihre Schwester supplizierte. In ihrem Gesuch für die Schwester Louise Heinemann rekurrierte die verheiratete Zimmermann weder auf die Rolle als Vormund noch auf ihre eigene Hilfsbedürftigkeit – vgl. Supplik der Schwester Zimmermann, geb. Heinemann vom 19. September 1797 / Fallakte Louise Heinemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.065. 209 Eine ähnliche Strategie verfolgte die Schwester Hahn – vgl. Supplik der Schwester bzw. Freundin Sophie Hahn o. D. [ca. 5. Juni 1795] / Fallakte Johann Friedrich Hahn und Johann Christian Graebert; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241, fol. 10 – 11. 210 Vgl. Abschrift des Verhörs von Borchmann vom 6. Januar 1792 / Fallakte Johann Friederich Borchmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 211 Kabinettsorder vom 6. Januar 1792 / Fallakte Johann Friederich Borchmann; in: ebd. Aus dem Bericht des Kammergerichtspräsidenten vom 25. Januar 1792 geht hervor, dass der Monarch selbst die Arrestzeit angeordnet habe. Diese „Neuigkeitsblätter“ versorgten nicht nur neugierige Untertanen in Brandenburg-Preußen mit Klatsch, es gab sie auch im frühneuzeitlichen Frankreich – vgl. Arlette Farge, Lauffeuer in Paris. Die Stimme des Volkes im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1993; zur Organisation und Verbreitung von Nachrichten vgl. ebd., S. 47 – 64. Zu den Lebensbedingungen und Tätigkeitsfeldern der Skribenten vgl. Robert Darnton, Literaten im Untergrund. Lesen, Schreiben und Publizieren im vorrevolutionären Frankreich, München / Wien 1985.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
„( . . . ) daß diese [von ihm verfassten] Bulletins ehrenrührige die Ehrfurcht gegen den Landes-Herrn beleidigende Aeußerungen, und faege Beurtheilungen Seiner Mayiestät handlungen enthielten, und darinnen Parallelen zwischen dem vorigen und jetzigen Regierung gezogen waren.“212
Eine Verhaftung durch königliche Order, die durch keinen Gerichtsprozess und kein gerichtliches Urteil zusätzlich legitimiert werden musste, war eine der Willkürmaßnahmen des Monarchen im Absolutismus, die aus dem frühneuzeitlichen Frankreich als lettres de cachet bekannt und gefürchtet waren, aber auch von den Untertanen im Wege der gezielten Denunziation genutzt wurde, um missliebige Zeitgenossen loszuwerden.213 Die Ungewissheit über Borchmanns Situation rief seine Schwester, die mit ihm zusammenlebte, bereits vier Tage nach seiner Arretierung auf den Plan. Sie bat für ihn um Freilassung: „( . . . ) ich meinen Theils weis sein Verbrechen nicht, vermuthe nur das er etwas mehr geschrieben hat als er gesoldt hätte.“214
Die Schwester Borchmann gab vor, keine Vorstellung davon zu haben, was man ihrem Bruder konkret vorwarf. Damit spielte die Supplikantin die Rolle der hilfsbedürftigen und ahnungslosen Frau konsequent weiter – zum einen, weil sie sich davon vermutlich die größten Chancen auf eine Begnadigung erhoffte, zum anderen aber zum eigenen Schutz, damit sie sich nicht der Mitwisserschaft und der Mithilfe schuldig machte. Dass sie dennoch nicht ganz so unwissend war, wie sie fingierte, zeigt, dass sie offenbar mit dem Schlimmsten rechnete, da: „( . . . ) ich alle Augenblick die Nachricht von seinem Dode mit Zittern erwarte ( . . . ) und ich armes Medgen müste vor Gram, Kälte und Hunger meine lezte Tage beschlißen ( . . . ).“215
Nicht auf die gesundheitliche Befindlichkeit ihres betagten Bruders im Arrest oder auf dessen Unschuld baute Dorothea Borchmann ihre Fürbitte argumentativ auf – vielmehr setzte sie auf Emotion: Sie lenkte das Mitleid des Lesers auf ihre Situation als armes Medgen, das ihr Auskommen nun ohne die Unterstützung ihres Bruders bestreiten musste. Dabei nutzte sie ein typisches narratives Muster, um ihre Situation zu schildern: Im Zusammenhang mit der möglichen Hinrichtung ihres Bruders spricht sie von Gram, Kälte und Hunger, welche unweigerlich zu ihrem baldigen Tod führen würden. Vergegenwärtigt man sich, dass erst vier Tage seit der Verhaftung Borchmanns vergangen waren, so kann sich die Situation der Schwester noch nicht in dem geschilderten Maße zugespitzt haben, vielmehr muss dies als Metapher ihrer Existenzangst gelesen werden. 212 Bericht des Kammergerichtspräsidenten v. Schroetter vom 25. Januar 1792 / Fallakte Johann Friederich Borchmann; in: ebd. Die Regierungstätigkeit Friedrich Wilhelms II. schnitt offenbar in Borchmanns kritischem Vergleich mit der Regierungszeit Friedrichs II. schlecht ab. 213 Vgl. Farge / Foucault 1989, hier bes. S. 11 – 18. 214 Supplik der Schwester Dorothea Borchmann vom 10. Januar 1792 / Fallakte Johann Friederich Borchmann; in: ebd. 215 Ebd.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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Das bereits im ersten Gesuch benutzte Argumentationsmuster der Hilfsbedürftigkeit nahm die Schwester Borchmann in einem weiteren Gesuch vier Wochen später erneut auf: „Hier sitze ich in den Erbärmlichsten Umständen ohne Geld, ohne Holtz, und ohne Brod ( . . . ). So sehe ich mir genöthiget[,] meinen Eltern in der Erde zur Schande, als die Ärmste Betlerin zum Thor heraus zu gehen. Wolte ich mir mein Leben nehmen, dazu habe ich zu viel Religion; warte ich die Erlösung meines Bruders aus dem Gefängniß ab, so ist er doch nun gentzlich ohne Brodt; bleibt uns beyde also nichts gewißers als der Bettel-Stab; doch was sage ich, auch dieser ist nicht mehr erlaubt.“216
Dorothea Borchmanns Gesuch ist ein beredtes Beispiel dafür, wie dem Monarchen Geschichten erzählt werden. Sie verweisen auf die Tradition der mündlichen Erzählkultur und verraten einen ausgeprägten Sinn für das Dramatische – nicht nur was die inhaltliche Botschaft, sondern auch die Inszenierung anbelangt.217 Ohne den Verdienst ihres Bruders konnte sie sich angeblich weder die lebensnotwendigen Nahrungsmittel noch Heizmaterial leisten. Borchmann drückt hierin die ganze Verzweiflung über die von ihr als ausweglos empfundene Situation aus. In der Supplik dachte sie laut über Auswege aus ihrer Notlage nach: Sie malte sich ihre düstere Zukunft als Bettlerin aus. Doch kam sie dann zu dem Schluss, dass ihr dieser Weg versagt war, da Betteln gesetzlich verboten war, was überdies Schande über ihre Familie gebracht hätte. Borchmann ging noch einen Schritt weiter: Als ultima ratio zog sie die Selbsttötung zumindest rhetorisch in Erwägung. Doch auch dieser Ausweg schien ihr als gläubige lutherische Christin versperrt zu sein. Dass sie trotz ihrer Verzweiflung obrigkeitliche und ethischreligiöse Vorschriften zu befolgen beabsichtigte, sollte ihre Rechtschaffenheit und Frömmigkeit belegen. Die drastische Schilderung diente aber vor allem dazu, beim Adressaten ihrer Schreiben nicht nur Mitleid, sondern ein regelrechtes Schuldgefühl hervorzurufen, schließlich blieben ihr die aufgezeigten Auswege durch Obrigkeit und Kirche versperrt. Beim Lesen ihrer Gnadenbitten entsteht der Eindruck, dass nicht Borchmanns Bruder durch sein Vergehen die Schuld an ihrer prekären Lage trug, sondern diese allein die Obrigkeit zu verantworten hatte – folglich war es nun an den Autoritäten, der alten Frau Hilfe anzubieten. Borch216 Supplik der Schwester Dorothea Borchmann vom 9. Februar 1792 / Fallakte Johann Friederich Borchmann; in: ebd. 217 Der mündliche Erzählstil wird z. B. deutlich bei den kurzen Teilsätzen und der abgehackten Rhythmik in der Passage, in der sie ihre angeblichen Auswege aufzählt, aber auch bei rhetorischen Einschüben wie „doch was sage ich“. Das Dramatische zeigt sich z. B. im Gebrauch von Stilmitteln wie z. B. pars pro toto (das Geld steht für das Auskommen – d. h. hier für den Ruin; das Holz für die existentielle Versorgung – d. h. hier für die Kälte und Krankheit; das Brot für Nahrung insgesamt – d. h. hier für den Hunger; der Bettelstab für wirtschaftlichen Ruin – d. h. hier für die Abhängigkeit von der Armenversorgung etc.) oder der Übertreibung (so ist nicht die Rede davon, dass Ressourcen weniger geworden sind, sondern davon, dass sie angeblich schon aufgebraucht waren; die Selbsttötung aus Verzweiflung); die plakative Ausdrucksweise sorgt außerdem dafür, dass der Leser die Situation der alten Frau bildlich vor Augen hat.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
mann überlässt es dem Leser ihrer Supplik, die nahe liegende Schlussfolgerung zu ziehen: nämlich dass der scheinbar einzige Ausweg aus ihrer prekären Lage in der Freilassung ihres Bruders lag. Die Geschichte, die dem Monarchen hier erzählt wurde, hatte eine Fortsetzung, denn der Gesundheitszustand der beiden Geschwister verschlechterte sich in der Folge rapide: Sie verlor das Gehör und ihr Bruder erkrankte im Gefängnis und wurde bettlägerig. Dies nahm Dorothea Borchmann zum Anlass, bereits 17 Tage später eine erneute Supplik einzureichen. Ihre Verzweiflung brachte sie resigniert zum Ausdruck: „nichts könnte mir erwünschter sein als der Todt“.218 Auch hier ist ein stiller Vorwurf an die Obrigkeit herauszulesen, da jene den Todeswunsch Unschuldiger in Kauf nahm. Als die Supplikantin erfuhr, dass sie auf ihre rein auf Emotionen beruhende Supplikation nicht die erwünschte Reaktion erhielt, bereicherte sie die Darstellung der wirtschaftlichen Misere in ihrer zweiten Supplik mit einigen Fakten: Darin schilderte Borchmann eindrücklich alle Versuche des greisen Geschwisterpaares, ihr bescheidenes Auskommen in den letzten Jahren redlich zu bestreiten. Doch dies gelang ihnen offenbar nicht, denn die hohen Schulden ihres Bruders hatten „mein gantzes Müterliches Erbtheil“ verschlungen, so die Supplikantin.219 Und mit Heimarbeiten – als ihrem Beitrag zum Auskommen der geschwisterlichen Lebensgemeinschaft – waren die Außenstände angeblich nicht zu tilgen: „( . . . ) ich schaffe mir zu Spinnen an, aber alles reicht nicht bey der traurigen Last seiner schulden.“220
Dorothea Borchmann hatte – ähnlich wie der Stiefbruder Günther im Fall Rieboldt – in ihren Bruder investiert, um damit ihr Auskommen im Alter zu sichern. Um diese Absicherung fühlte sie sich nun durch die Obrigkeit gebracht, da jene ihren Bruder davon abhielt, seiner Pflicht ihr gegenüber nachzukommen, so die Logik, die hinter ihrer Supplikation stand. Als Unschuldige sah sie sich daher im Recht, Hilfe von der Obrigkeit einzufordern. Auf ihre Bitte hin gab ihr das Justizdepartement jedoch zur Resolution, dass keine „Fonds“ vorgesehen seien, um: „( . . . ) die Dorothee Borchmannin in ihrem ( . . . ) angezeigten verlegenen Umständen unterstützen zu können und muß sie sich allenfalls bey dem Armen-Directorio melden.“221
Aus der Akte geht hervor, dass sie schließlich 12 Groschen monatlich von der Armendirektion an Unterstützung erhielt. Ihre eigentliche Strategie, durch die Schilderung ihrer Notlage die Freilassung ihres Bruders zu erreichen, schlug je218 Supplik der Schwester Dorothea Borchmann vom 26. Februar 1792 / Fallakte Johann Friederich Borchmann; in: ebd. 219 Supplik der Schwester Dorothea Borchmann vom 9. Februar 1792 / Fallakte Johann Friederich Borchmann; in: ebd. 220 Ebd. 221 Dekret in Form einer Resolution vom 13. Februar 1792 / Fallakte Johann Friederich Borchmann; in: ebd.
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doch fehl, denn Friedrich Wilhelm II. ließ sich nicht dazu bewegen, den Skribenten Borchmann zu begnadigen.222 Für eine allein stehende Frau stellte die Hilfsbedürftigkeit allerdings nicht das einzig mögliche Argument dar, um für ihren Bruder zu supplizieren. Nachdem der Proviantkommissar Ernst Friedrich Wussow, der wegen Fälschung von Gerichtsunterlagen in 20 Fällen zu einer lebenslangen Arreststrafe verurteilt worden war, acht Jahre auf der Festung Spandau „in einem Loch, so bey dem bloßen Anblick schon Schaudern erreget“ abgesessen hatte, bat seine in Pommern wohnhafte Schwester, die Witwe des Kämmerers Lüdtcke, für ihn um Gnade.223 In ihrer Supplik brachte Lüdtcke zwar ihren Status als Witwe ein, aber nicht, weil sie von der Hilfe ihres Bruders abhängig war, vielmehr bot sie ihm diese an. Von einer Begnadigung erhoffte sie sich, dass „Allerhöchstdieselben ( . . . ) überheben mich auch einer Last[,] die Liebe und Pflicht zu einen einzigen Bruder natürlich heischet.“224 Damit spielte Lüdtcke auf verschiedene Ebenen der geschwisterlichen Beziehung an, nämlich auf die gefühlsmäßige Bindung ebenso wie auf die Pflicht zur gegenseitigen Unterstützung, und betrachtete sie als natürlich im Sinne von gesellschaftlich üblich – demnach gab es auch eine schwesterliche Pflicht.225 Daraus leitete die Supplikantin ab, dass sie ihrem Bruder natürlich Beistand gewähren wollte, obwohl sie unumwunden zugab: „Es ist wahr, sein Verbrechen an sich, ist groß.“226 In der Supplik verfolgte sie zwei sich einander scheinbar widersprechende Strategien: Zum einen wies sie darauf hin, dass ihr Bruder dem Monarchen als freier Untertan besser dienen könne als im Gefängnis: „Er ist Eure Majestät mit Leib und Seel ergeben und hat allen guten Willen, seine Vergehungen durch solide Handlungen nach Möglichkeit wieder gut zu machen, auch etwas fähigkeit dem gemeinen Wesen nüzlich zu sein.“227
222 Vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 5. März 1792 / Fallakte Johann Friederich Borchmann; in: ebd. 223 Supplik der Schwester Lüdtcke, geb. Wussow vom 2. Februar 1792 und vgl. dies. vom 8. November 1793 / Fallakte Ernst Friedrich Wussow; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 224 Supplik der Schwester Lüdtcke, geb. Wussow vom 2. Februar 1792 / Fallakte Ernst Friedrich Wussow; in: ebd. 225 Auch ein weiterer Fall belegt, dass es offenbar nicht nur eine brüderliche, sondern auch eine schwesterliche Pflicht zur Unterstützung der Geschwister gab: Maria Elisabeth Hoffmann, geb. Erich, begründete die Supplikation für ihren wegen Hehlerei verurteilten Bruder, den Hausschlächter Johann Erich, damit, dass sie sich dazu genötigt fühle: „Dieser meinem Bruder bevorstehenden harten Strafe wegen sehe ich mir äußerst genöthiget zu Eurer Excellenz mir verwenden und vorstellen zu müssen.“ – Supplik der Schwester Maria Elisabeth Hoffmann, geb. Erich vom 3. August 1786 / Fallakte Johann Erich; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 15.996. 226 Vgl. Supplik der Schwester Lüdtcke, geb. Wussow vom 2. Februar 1792 / Fallakte Ernst Friedrich Wussow; in: ebd. 227 Vgl. Supplik der Schwester Lüdtcke, geb. Wussow vom 8. November 1793; Supplik ders. vom 2. Februar 1792 / Fallakte Ernst Friedrich Wussow; in: ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Mit Nützlichkeitsargumenten versuchte die Witwe Lüdtcke den Monarchen von einer Begnadigung zu überzeugen. Supplizierende Untertanen unterstellten der Obrigkeit offenbar, dass sie eine utilitaristische Gnadenpraxis verfolgte. Dies muss im Zusammenhang mit einer Politik Ende des 18. Jahrhunderts gesehen werden, die der Staatsräson Priorität vor anderen Handlungsmaximen der Obrigkeit einräumte: Auch Gnadenakte sollten sich für die Obrigkeit auszahlen, so die Vorstellung der Supplikantin. Die Alternative, die Lüdtcke vorschlug, bestand in einer Landesverweisung ihres Bruders. Bei dieser Lösung konnte Wussow sein Vergehen zwar nicht büßen, indem er sich in den Dienst Brandenburg-Preußens stellte, doch auf diese Weise fiel er niemandem zur Last, so ihr Kalkül: „Sollte aber auch bey der hoffenden Begnadigung meines Bruders, Eure Königliche Majestät Allerhöchster Wille sein, daß er dero Lande meide, so bürge ich dafür, daß er auch dis befolgen soll.“228
Dies ist der einzige Fall, in dem die Schwester für ihren Bruder eine Bürgschaft ablegte. Ihr Angebot bedeutete, dass sie ihrem Bruder im Ausland Unterkunft und materielle Unterstützung zu gewähren bereit war und sich dazu auch materiell in der Lage sah. Doch anders als in den Fällen, in denen Brüder für ihre Geschwister bürgten, kann Lüdtkes Unterstützung nicht als Vormundschaft verstanden werden. Die schwesterliche Pflicht bezog aber nicht nur den Bruder, sondern auch dessen Familie mit ein. So zeigte Maria Elisabeth Hoffmann ihre emotionale Betroffenheit nicht im Hinblick auf die Situation ihres Bruders, sondern auf die Notlage ihrer Schwägerin: „So zeiget mir die für meinen Bruder zu hart ausgefallene Strafe aus Bewegung und in allen höchst traurigen Drangsaalen seiner Ehefrauen und ein noch ganz unmündiges erst 3/4 Jahr alt seiendes Kind betrachtet, für beide letztere der völlige Ruin es sein dürfte, im Elend und Jammer ihr leben verkürzen zu müssen, deren weniges Vermögen während des Mannes Sizzeit völlig verstoßen worden ( . . . ).“229
Das Gesuch der Schwester nimmt partiell die Perspektive der Schwägerin ein, so dass es der Gnadenbitte einer Ehefrau des Verurteilten ähnelt [s. B.I.2.]. Die angebliche Sorge um die Schwägerin war zugleich Ausdruck von Hoffmanns Befürchtung, welche ihre eigenen Interessen betraf: Falls der Ruin tatsächlich die Familie ihres Bruders treffen sollte,230 dann wäre es an ihr, die verarmte Schwägerin unterhalten zu müssen. Die familiären Bande verpflichteten die Geschwister nicht nur untereinander zur tatkräftigen und finanziellen Unterstützung, sondern bezogen auch die angeheirateten Familienmitglieder, insbesondere die Schwägerin 228 Vgl. Supplik der Schwester Lüdtcke, geb. Wussow vom 2. Februar 1792 / Fallakte Ernst Friedrich Wussow; in: ebd. 229 Vgl. Supplik der Schwester Maria Elisabeth Hoffmann, geb. Erich vom 3. August 1786 / Fallakte Johann Erich; in: ebd. 230 Die angeblich prekäre Situation der Ehefrau Erich geht auch aus deren Suppliken hervor – vgl. Suppliken der Ehefrau Erich vom 7. Juli 1786 und 21. Oktober 1786 / Fallakte Johann Erich; in: ebd.
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zusammen mit den Nichten und Neffen, mit ein.231 Auch mag das Kalkül eine Rolle gespielt haben, dass eine Supplikation, die stärker das Los einer unschuldigen Frau mit ihren Kindern in den Mittelpunkt stellte als jenes des Delinquenten, größere Chancen auf Gewährung von Gnade barg. Mit der angeblichen Notlage der Schwägerin begründeten nicht nur Schwestern, sondern auch Brüder ihre Gnadenbitten.232 Im Fall des verurteilten Raschmachermeisters Johann Adam Wolff war die Lage der zurückgelassenen Ehefrau angeblich der Beweggrund, dass der Bruder, Daniel Wolff, für ihn um Gnade bat. Wolff machte sich dabei die in den Gesuchen seiner Schwägerin anzutreffende Argumentation zu Eigen: Sie benötige ihren Ehemann daheim, da sie „aus Grahm mit einer Schweren Kranckheit befallen“ sei und daher das „Gewerbe im Stiche laßen“ müsse.233 Allerdings unterschied sich das Gesuch des Bruders von dem der Ehefrau insofern, als in seiner Supplik das Vergehen Wolffs nicht beschönigt oder entschuldigt wurde.234 Daniel Wolff vergaß aber nicht zu betonen, dass sein Bruder die Profession als Raschmacher ehrlich ausgeübt habe und „ein ehrlicher Wandel geführet, und Niemahls keine Klage von ihm gewesen“235. Indem er seinem Bruder einen guten Leumund bezeugte, führte auch er dessen Ehre ins Spiel und wies somit implizit auf ihre Verletzlichkeit hin. Dieses Argument brachte Daniel Wolff sicher nicht nur im Interesse seines Bruders und seiner Schwägerin vor. Letztlich war auch er als Bruder von einem Ehrverlust in der Familie betroffen und hoffte, den dadurch entstandenen Schaden am sozialen Kapital durch die erbetene Entlassung seines Bruders möglichst zu begrenzen.236 Vor dem Hintergrund der Schande, welche auch die engeren Verwandten traf, muss die Supplikation im Fall der wegen Kindsmordverdacht zu zehn Jahren Zuchthausarrest verurteilten Auguste Friederike Geitner gesehen werden. Sowohl sie als auch der Kindsvater, ihr Cousin, der zu dieser Zeit Theologie studierte, stammten aus einer Predigerfamilie. Die Ehre einer Predigerfamilie war insbesondere bei moralischen Vergehen empfindlich. Ein Prediger sollte schließlich zusammen mit seinem Haus in gewisser Weise als Vorbild für seine Gemeinde dienen. 231 Es findet sich keine Gnadenbitte, in der die Situation eines Schwagers geschildert wurde. Vermutlich hätte dies den für die Erlangung einer Begnadigung nachteiligen Anschein erweckt, dass der Ehemann der Verurteilten nicht im Stande sei, sein Haus zu führen. 232 So z. B. Carl Wilhelm Stapelfelds Bitte um die „Wiedereinsetzung [des inhaftierten Bruders Dieterich Stapelfeld] in seinen Nahrungs-Stande“ – Begleitschreiben zur Supplik des Bruders Carl Wilhelm Stapelfeld mit Zitaten aus derselben vom 28. Februar 1785 [Supplik im Original fehlt] / Fallakte Dieterich Stapelfeld; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 233 Supplik des Bruders Daniel Wolff vom 27. Mai 1788 / Fallakte Johann Adam Wolff; in: GStA PK, I. HA, Lit. C, Paket 15.985. 234 Vgl. Supplik des Bruders Daniel Wolff vom 27. Mai 1788 / Fallakte Johann Adam Wolff; in: ebd. 235 Ebd. 236 Ähnliche Andeutungen finden sich in der Supplik der Schwester Dorothea Borchmann vom 10. Januar 1792 / Fallakte Johann Friederich Borchmann; in: ebd. [s. o.].
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
So brachte der Verdacht auf Kindsmord und Geitners Verurteilung für die engere Verwandtschaft einen Ehrverlust mit sich. Augustes Brüder sahen vorerst keine Veranlassung, sogleich nach dem Prozess für ihre Schwester um Gnade zu bitten, vermutlich weil sie kalkulierten, dass ihnen dies als Uneinsichtigkeit in Bezug auf die Schwere des Vergehens hätte ausgelegt werden können. Erst nachdem Auguste Friederike Geitner die Hälfte ihrer Strafe im Zuchthaus verbüßt hatte, schrieben die beiden Brüder ein Gesuch. In der Anlage fügten sie je ein Zeugnis der Zuchthausadministration und des Zuchthauspredigers über die gute Aufführung ihrer Schwester in der Haft bei. Ihr Gesuch bauten sie unter anderem auf dem Argument der über die Familie gekommenen Schande auf: „Ihr Vater war Prediger zu Schoeneiche und Schoenbeck, einsam und häuslich erzogen, wirkte Schaam und Vorurtheil mit unwiederstehlicher Gewalt auf ihr, ein Verwandter hatte ihr die Ehe versprochen, mißbrauchte ihr Vertrauen, schwängerte sie, ging hart, hinterließ sie hülflos in der entsetzlichen Lage und veranlaßte die That.“237
Der Beruf des Vaters sollte für die Werte stehen, die Auguste Friederike Geitner durch ihre Erziehung genossen hatte. Mit den Attributen einsam und häuslich entwarfen die Brüder ein Bild von ihr, welches sie als unschuldig und sittsam erscheinen lassen sollte. Dies entsprach offensichtlich ihrer Vorstellung von einer tugendhaften Jungfrau und damit versuchten die Brüder zu erklären, dass Auguste guten Glaubens auf das angebliche Eheversprechen ihres Cousins einging und ihm in keiner Weise misstraute. Die Brüder warfen ihrem Cousin „Gewalt“ vor, die aus ihrer Sicht darin bestand, dass er sein Eheversprechen nicht gehalten hatte, sondern „hart ging“, als sie schwanger war. Aus „Schaam“ habe Auguste Friederike Geitner ihre Schwangerschaft und Geburt verheimlicht.238 Damit bezogen sich die Brüder auf einen zeitgenössischen Diskurs über Kindsmord: Das Motiv der Frauen wurde mit der angeblichen Angst vor Schande als ledige Mutter begründet und wurde als mildernder Umstand gewertet.239 Mit der Scham und Schande als ledige Mutter deuteten die Brüder zugleich den Ehrverlust an, den die Verwandtschaft einer ledigen Schwangeren und sogar einer Kindsmörderin mit zu tragen hatte. Während die Tragweite der Ehrproblematik von den Brüdern Geitner nur vage angedeutet wurde, brachte diese der Supplikant im Fall des wegen Dokumentenfälschung verurteilten Bürgermeistersohnes Ferdinand Ludewig Schoenemann explizit zur Sprache. Noch vor der Urteilsverkündung setzte der Stiefbruder, Generalauditeur Ettner, eine Supplik auf und schilderte darin die Lage: Schoenemann selbst und seine Eltern „zittern über den Ausgang seines Schicksals, was ihn auf 237 Supplik der beiden Brüder Geitner vom 28. Oktober 1795 / Fallakte Auguste Friederike Geitner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 33 – 35. 238 Ebd. 239 Zum zeitgenössischen Diskurs um Kindsmord vgl. beispielhaft Clemens Zimmermann, „Behörigen Orthen angezeigt“. Kindsmörderinnen in der ländlichen Gesellschaft Württembergs 1581 – 1792; in: Medizin in Geschichte und Gegenwart 10 (1991), S. 67 – 102; vgl. Otto Ulbricht, Kindsmord und Aufklärung in Deutschland, München 1990.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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immer unglücklich machen, und uns alle beschimpfen soll!“240 Der drohende Ehrverlust traf folglich nicht nur den Delinquenten selbst, sondern auch die Eltern und die Geschwister. Und dies umso mehr, da die Männer Posten bekleideten, die durch einen besonders sensiblen Ehrstatus geprägt waren: Der Vater von Schoenemann war Bürgermeister von Werder; der Stiefbruder war Offizier und Generalauditeur. Der Supplikant ging dabei offenbar von der Vorstellung aus, dass es nicht im Sinne der Obrigkeit liegen konnte, dass unschuldige, loyale Staatsdiener einen solchen Ehrverlust erlitten, denn dies hätte sie gewiss daran gehindert, ihr Amt weiterhin mit der nötigen Würde zu bekleiden.
Resümee Geschwister gehörten – wie schon die Kinder – zu den Familienmitgliedern, die erst in zweiter Linie supplizierten. Mit 17 Gnadenbitten stellen die Supplikationen von Geschwistern rund 2,6 Prozent aller Gnadenbitten. Brüder und Schwestern traten vor allem dann auf, wenn die Angeklagten bzw. Verurteilten keine Unterstützung von Seiten des Ehepartners oder der Eltern erfuhren, oder sich deren Supplikationen bereits als erfolglos erwiesen hatten. Die Anzahl der Supplikationen von Schwestern (8 Gnadenbitten) lagen mit jenen von Brüdern (9 Gnadenbitten) fast gleich auf. Sie unterscheiden sich insofern, als Brüder sowohl für ihre jüngeren Brüder als auch für ihre Schwestern supplizierten, während sich letztere zumeist nur für ihre Brüder einsetzten. Dies erklärt sich dadurch, dass Brüder durch ihre Rolle als Vormund in der Pflicht standen, die Interessen ihrer Schwestern und jüngeren Brüder nach außen zu vertreten. Von daher gibt es auch Parallelen zur Supplikation von Vätern (z. B. standen auch sie für die Erziehung und Ausbildung ihrer jüngeren Brüder ein). Nur in Ausnahmen beriefen sich auch Supplikantinnen auf die schwesterliche Pflicht zur Unterstützung ihres in Not geratenen Bruders und boten ihm Hilfe an. Vorwiegend bedienten sich Schwestern des Topos der hilfsbedürftigen Frau und machten ihr Anrecht auf die durch die Haftstrafe nun ausgesetzte Unterstützung des Bruders geltend. Daraus folgt, dass sich der Großteil der Brüder und Schwestern auf traditionelle Geschlechterrollen berief, um sich als Supplikant bzw. Supplikantin zu positionieren. Das Supplikationsverhalten der Untertanen orientierte sich insgesamt stark an den herrschenden Geschlechterrollen und diese waren letztlich ausschlaggebend dafür, wer für wen supplizierte. Supplikationen, bei denen die Bittsteller und Bittstellerinnen gegenüber dem Bruder bzw. der Schwester nicht auf die geschlechterspezifische Verantwortung füreinander und Abhängigkeit voneinander verweisen konnten, galten bei den Untertanen offenbar als wenig Erfolg versprechend.
240 Supplik des Stiefbruders Ettner vom 24. Januar 1787 / Fallakte Ferdinand Ludewig Schoenemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 10; zur Supplik der Mutter s. B.I.3.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Ein Motiv für das Supplizieren von Geschwistern bestand – ähnlich wie bei den Eltern [s. B.I.3.] in der Furcht, die mit der angeklagten bzw. verurteilten Person verbundene Altersabsicherung zu verlieren. Ein weiteres Motiv ist im Erbe zu vermuten, konkret in der Klärung der Erbmodalitäten bezüglich der angeklagten bzw. verurteilten Geschwister. Auch der Ehrverlust, der nicht nur die verurteilte Person, sondern deren gesamte Familie traf, war mit Sicherheit ein zentraler Beweggrund zu supplizieren. Allerdings werden weder die Ehre noch das Erbe in den Suppliken als Motiv explizit angeführt, vermutlich weil die Supplizierenden ihnen keine ausschlaggebende Bedeutung für die Bewertung der Gnadenwürdigkeit beimaßen. 6. Gnadenbitten von Anverwandten „Seine Verwandten haben ihn [den Delinquenten] verachtet und verlaßen“241, so beschreibt ein Supplikant die Reaktion der Verwandtschaft auf die Verurteilung seines Vetters. Die Unterstützung unter Anverwandten war offenbar nicht in der Weise verpflichtend, wie sie es für Eheleute, Eltern und in gewissem Maße auch für Kinder und Geschwister war. Dennoch dokumentieren die 17 Gnadenbitten, dass die Angeklagten bzw. Verurteilten von ihrer Verwandtschaft zumindest eine gewisse Unterstützung erwarten konnten. So machen Supplikationen von Anverwandten rund 2,6 Prozent aller überlieferten Gnadenbitten aus.242 Die Verwandtschaft griff offenbar nicht immer aus Eigeninitiative zur Supplikation, sondern musste zum Teil erst gebeten werden, für jene ein gutes Wort einzulegen.243 Ein Beispiel dafür liefert der Fall Maria Dorothea Jungen: Nachdem Jungen, die wegen Kindsmordverdacht zu lebenswierigem Zuchthausarrest verurteilt worden war, 20 Jahre Haft abgesessen hatte, sah sie selbst offenbar die Zeit für eine Begnadigung gekommen und drängte ihre Verwandtschaft zum Supplizieren.244 So bot ihre Tante, Maria Elisabeth Weber, an, dass: „( . . . ) ich sie [Maria Dorothea Jungen] als eine Mutter zu mir nehme, und sie so lange als ihr Gott das Leben schänkt, erhalten will, damit sie nicht wieder in dergleichen UnglücksFällen gerathen soll.“245 241 Supplik des Vetters Rathschläger vom 3. Oktober 1788 / Fallakte Johann Friedrich Ritter; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 242 Für die Zugehörigkeit zu der Gruppe der Anverwandten ist die von den Supplizierenden gewählte Selbstbezeichnung in den Bittschriften ausschlaggebend. Im Hinblick auf die schmale Quellenbasis dieser Supplikantengruppe wird kein Anspruch auf Repräsentativität der Ergebnisse erhoben. 243 Dies geht explizit aus einigen Fällen hervor: Vgl. Supplik des Onkels Johann Gustav Runge vom 12. Juli 1796 / Fallakte Anna Dorothea Devouschack; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 23 – 25; vgl. Supplik des Schwagers Stein vom 18. August 1789 / Fallakte Christian Ludewig Schulze; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055. 244 Dies geht aus dem Gesuch ihres Anverwandten Daniel Rosenthal vom 7. Dezember 1797 hervor [s. u.]. Da das Gesuch ihrer Tante ein paar Monate zuvor einging, sich aber zwanzig Jahre lang keiner für Jungen eingesetzt hatte, ist zu vermuten, dass nicht nur Rosenthals Gesuche, sondern auch das ihrer Tante auf ihr Drängen hin verfasst wurde.
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Aus dem Gesuch spricht zum einen das Pflichtgefühl, einer Anverwandten helfen zu müssen, zugleich aber auch eine emotionale Verbundenheit, wenn Elisabeth Weber die Tochter ihrer Schwester „als eine Mutter“ aufzunehmen bereit war. Von Rechts wegen benötigte Jungen mit ihren mittlerweile 45 Jahren keine Mutter mehr, die für sie sprach. Webers Angebot ist jedoch dahingehend zu interpretieren, dass sie damit für den künftig moralisch einwandfreien Lebenswandel ihrer Nichte bürgte. Als das Gesuch der Tante nicht zum gewünsch-ten Erfolg führte, reichte ein angeheirateter Anverwandter der Jungen, der Tuchmachermeister Daniel Rosenthal, zwei aufeinander folgende Gnadenbitten ein. Darin bot er im Falle ihrer Freilassung an, dass die Jungen „Aufenthalt und Unterkommen bey mir haben solle“:246 „Diese Jungin quält und dringt in mir, daß ich ihr befreien möchte, welches ich ihr nun schon als eine Verwandtin meiner Frauen nicht abschlagen könnte, sondern ihr versprach, so viel in meinen Kräften stünde, mich für ihr zu verwenden. Meine Frau welche immer kränklich und ihr zugethan und gut ist, wünscht ebenfallse ihre Freyheit ( . . . ).247
Wie schon Weber, so sah sich auch Rosenthal zur Unterstützung einer Anverwandten verpflichtet, auch wenn sie aus angeheirateter Linie seiner Ehefrau stammte. Ein emotionales Motiv, der Jungen aus ihrer Situation herauszuhelfen, schien zwar auch Rosenthal, vor allem aber seine Frau zur Supplikation angetrieben zu haben. Vielleicht spiegelte sich in dieser als emotionale Nähe dargestellten Bindung der engere Verwandtschaftsgrad wider, der die Ehefrau Rosenthal mit Jungen verband. Vielleicht aber wurde einer Frau eher als einem Mann zugestanden, eine emotionale, jedoch nicht sexuelle Beziehung zu einer Anverwandten zu pflegen. Rosenthals Angebot war vermutlich nicht uneigennützig, denn die Arbeitskraft einer Anverwandten war im Tuchmacherhaushalt sicher sehr willkommen, vor allem, da Rosenthals Ehefrau aus gesundheitlichen Gründen nicht voll einsatzfähig war und das Ehepaar zudem kinderlos geblieben war. Für Jungen bestand somit die Möglichkeit, als Erbin der Rosenthals eingesetzt zu werden, vorausgesetzt, sie käme für die Altenversorgung des Ehepaars auf – somit wäre beiden Seiten geholfen. Vor diesem Hintergrund bedeutete es für den Tuchmachermeister keine übermäßige Belastung, für Jungens Unterhalt zu sorgen: „Nie soll und wird sie auf einen solchen Gedanken kommen dergleichen wieder zu begehen, weil ich selbige in meine Wirthschaft höchst nöthig gebrauche, und selbige auch unterhalten werde, da sie keinen im geringsten zur Last fallen wird und soll.“248
245 Supplik der Tante Maria Elisabeth Weber vom 3. August 1797 / Fallakte Maria Dorothea Jungen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 145. 246 Supplik des Anverwandten Daniel Rosenthal vom 20. September 1797 / Fallakte Maria Dorothea Jungen; in: ebd., fol. 148. 247 Supplik des Anverwandten Daniel Rosenthal vom 7. Dezember 1797 / Fallakte Maria Dorothea Jungen; in: ebd., fol. 153. 248 Ebd. und vgl. Supplik dess. vom 20. September 1797; in: ebd., fol. 148, 153.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Der Tuchmachermeister bürgte damit, wie zuvor schon Weber, für den zukünftigen Lebenswandel seiner Anverwandten, indem er betonte, dass sie in seiner Wirtschaft unter seiner hausväterlichen Gewalt stünde und er quasi die Vormundschaft für sie übernehme. Eine solche Erklärung musste der damaligen Obrigkeit plausibel erscheinen, da die Ehre insbesondere im Handwerk traditionell eine große Rolle spielte. Ein Meister musste großes Interesse daran haben, dass seine Angehörigen die Ehre des Hauses nicht aufs Spiel setzten. Die Supplikationen von Weber und Rosenthal zeigen aber auch, dass Verwandte offenbar nicht aus eigener Initiative alle Möglichkeiten zur Unterstützung aufboten. Hilfe in Form einer Supplikation konnte dennoch von der Verwandtschaft erwartet werden, wenn sich keine Blutsverwandten als Fürsprecher fanden und wenn man sie darum bat. Aus Sicht der supplizierenden Männer und Frauen bedurften nicht nur weibliche, sondern auch männliche Verurteilte einer Vormundschaft durch Verwandte.249 Wenn die Eltern verstorben waren, und beispielsweise kein älterer Bruder die Fürsorge hätte übernehmen können, konnten die nächsten männlichen Verwandten, die ein eigenes Haus gegründet und ihr Auskommen hatten, in die Pflicht genommen werden, die Vormundschaft für jüngere Anverwandte zu übernehmen. So erklärt sich beispielsweise das Engagement des Schwagers im Fall des Buchbinderburschen Johann Gottfried Rummert: Da Rummerts Vater nicht mehr lebte, war es nun am Schwager, Rummerts Interessen zu vertreten und für ihn zu supplizieren. Zuerst bat allerdings die Mutter für ihren Sohn um Entlassung aus dem lebenslangen Festungsarrest, zu dem Johann Gottfried Rummert wegen Mordversuch verurteilt worden war. Erst als die beiden Supplikationen der Witwe fehlschlugen und Rummert bereits 18 Jahre in Haft verbracht hatte, wurde der Schwager eingeschaltet.250 Möglich ist auch, dass die Witwe Rummert in der Zwischenzeit verstorben war, so dass Johann Gottfried Rummert keinen Fürsprecher aus dem engsten Kreis der Familie mehr hatte. Fakt ist, dass – wie schon im Fall Maria Dorothea Jungen – der Schwager offenbar um Hilfe gebeten wurde, sei es von seiner Schwiegermutter oder von Rummert selbst. Eine Supplikation von Seiten eines Schwagers zu einem früheren Zeitpunkt wurde von den Betroffenen offenbar als wenig Erfolg versprechend angesehen. Denn es war offensichtlich nicht üblich, 249 Z. B. präsentierte sich der Supplikant Maeber als ein fürsorgender „Verwandter“. Mit einer Bürgschaft über die moralische Lebensführung und das künftige Auskommen gelang es ihm, den Verurteilten David Wilhelm Goetze, nachdem dieser die sechsmonatige Strafe wegen Vagabundierens und Fälschung eines Dienstzeugnisses abgesessen hatte, vor dem Arbeitshaus zu bewahren [s. C.II.7.b)]. Indem der „ehemalige Lazarett-Inspektor“ den jungen Verwandten unter seinen Schutz nahm, leitete sich daraus auch ein moralischer Anspruch ab, dass jener seinen älteren Verwandten zu unterstützen hatte – vgl. Supplik des Verwandten Maeber vom 7. Januar 1794 / Fallakte David Wilhelm Goetze; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 250 Vgl. Suppliken der Mutter vom 15. April 1787 und 1. Dezember 1793; vgl. Suppliken des Schwagers Christian Friedrich Goltze vom 18. Januar 1797 und 13. Juli 1797 / Fallakte Johann Gottfried Rummert; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 267 – 269, 272, 256, 263 f.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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dass ein angeheirateter Verwandter initiativ wurde, solange Blutsverwandte – wie in diesem Fall die Mutter – lebten, denen diese Aufgabe in erster Linie zufiel. Mit der „größten Pflicht“ begründete auch der Unteroffizier Stein eine Gnadenbitte für seinen 18-jährigen wegen Diebstahls verurteilten Schwager Christian Ludewig Schulze.251 Darunter verstand vor allem, für den Lehrburschen „einen vernünftigen Meister“ zum Erlernen des Zimmerhandwerks zu finden.252 Vor dem Hintergrund seiner militärischen Laufbahn als Unteroffizier fühlte sich Stein offenbar bemüßigt, seine Kritik am Vergehen Schulzes und sein prinzipielles Einverständnis mit der Strafe zu betonen: „( . . . ) ich bin wegen des Begehen seiner schmutzigen Handlung jar nicht dafür, mich dieserwegen von Seiner Königlichen Mejestät eine Gnade zuerflehen, wenn nicht ( . . . ) das tägliche Weinen und Seufzen seiner bey mich habende alte schwache und kränkliche Mutter, zu diesen Unternehmungen die grösste Veranlassung geben.“253
Hieran zeigt sich, dass ein Verwandter in der Vorstellung des Supplikanten zwar aus Pflichtgefühl, aber nicht aufgrund emotionaler Betroffenheit handeln musste. Stein vermeidet bewusst, Zuneigung zu seinem Schwager oder Mitleid mit dessen Situation auszudrücken. Vermutlich ging Stein von der Vorstellung aus, dass die Ehre als Militär von ihm verlangte, zu Schulzes Vergehen auf Distanz zu gehen. Eine strenge moralische Einstellung stärkte außerdem seine Glaubwürdigkeit als vorbildhafter Vormund. Stein ging in seiner Supplik vielmehr davon aus, dass er Mitleid mit seiner unschuldigen, hilflosen Schwiegermutter zeigen durfte. Von einer Begnadigung erhoffte er sich vermutlich, in absehbarer Zeit die Last, die kranke Schwiegermutter zu versorgen, seinem Schwager wieder abtreten zu können. Solange jedoch Schulze in Haft saß, seiner Mutter folglich keine Stütze war, sah sich Stein als Schwiegersohn verpflichtet, seiner angeheirateten Familie zu helfen.254 Ebenfalls als Vormund verwandte sich ein in Berlin lebender Onkel väterlicherseits für seinen aus Bayern stammenden Neffen, den Schlächtergesellen Johann Michael Pantzer. Des Diebstahls an seinem Lehrmeister überführt, dessen Kasse „ein beträchtliches Manquement“ aufwies, wurde Pantzer zu drei Jahren Zuchthaus und einer darauf folgenden Landesverweisung, die nicht-brandenburg-preußische Untertanen prinzipiell nach Ablauf der Haftstrafe drohte, verurteilt.255 Dieses 251 Zit. aus: Supplik des Schwagers Stein vom 18. August 1789 / Fallakte Christian Ludewig Schulze; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055. 252 Zit. aus.: ebd. 253 Ebd. 254 In derselben Situation sah sich der Schwiegersohn Voigt, der, bedingt durch die Inhaftierung seines Schwiegervaters, die einzige Stütze seiner Schwiegermutter war. In seinem Gesuch setzte er auf die Strategie, deren desolate Lage, in Kürze die Zulassung zur Profession als Bäckermeister zu verlieren, zu schildern – vgl. Supplik des Schwiegersohnes Johann Christoph Voigt vom 24. September 1795 / Fallakte Carl Ludwig Runge; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.063. 255 Vgl. Annahme-Order vom 7. Juni 1787 / Fallakte Johann Michael Pantzer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Schicksal versuchte der Onkel seinem „Bruder-Sohn“ durch eine Begnadigung zu ersparen, für die er Chancen sah, da jener „über seinen Fehltritt wahr Reue und Beßerung bezeugt“ habe.256 Insofern sah er sich in der Hoffnung bestärkt, dass: „( . . . ) aus ihm [Johann Michael Pantzer] ein tüchtiger Mensch und gutes Mitglied des Staates werdn wird, um so mehr, da ich alles anwenden werd, um ihm auf eine ehrliche Art fortzuhelffen.“257
In Vertretung des im Ausland lebenden Vaters bürgte Pantzer als Vormund seines Neffen für dessen künftigen Lebenswandel. Der Supplikant versuchte, das Interesse der Obrigkeit an einer Rücknahme der Landesverweisung zu wecken. Er gab vor, dass das angebliche Ziel seiner Bemühungen darin bestand, seinen Neffen zu einem guten kurmärkischen Untertanen zu machen. Offensichtlich ging der Supplikant davon aus, dass die Obrigkeit nach utilitaristischen Erwägungen begnadigte und darin ein Kriterium der Gnadenwürdigkeit lag. Pantzer verfolgte seine Strategie, das Interesse der Obrigkeit anzusprechen, weiter und präsentierte seinen Neffen der Obrigkeit als wohlhabenden Untertanen: „Er [Johann Michael Pantzer] hat noch ein ansehnliches Vermögen in Regensburg, dieses will er zu seinem Etablishement als Schlächtermeister in Berlin hereinziehen und dazu anwenden.“258
Der Supplikant nahm offenbar an, dass die Obrigkeit kein Interesse hatte, einen vermögenden, das Handwerk befördernden Eingewanderten außer Landes zu verweisen. Zugleich sollte der Hinweis auf das Erbe signalisieren, dass Pantzer in Zukunft materiell nicht mehr auf Diebstähle angewiesen sein würde. Dass Pantzer die Erwägungen des Gnadenträgers richtig eingeschätzt hatte, belegt der von Friedrich Wilhelm II. eingeforderte Bericht über Pantzers Vermögenssituation und sein Vergehen.259 Das ausstehende Erbe könnte Pantzer möglicherweise dazu bewegt haben, seinem Neffen die auch an ihm begangenen Diebstähle zu verzeihen und sich für jenen zu verwenden. Denn mit dem Erbe konnte der junge Pantzer nicht nur seine Schulden beim Onkel begleichen, sondern darüber hinaus jenen im Alter finanziell unterstützen. Schließlich stand der junge Pantzer durch die Hilfe, die ihm sein Onkel etwa durch die Supplikation angedeihen ließ, bei jenem in der Schuld. Hier zeigt sich, dass Hilfe und Gegenleistung im Konzept von Verwandtschaft eingeschrieben waren.260 256 Supplik des Onkels Pantzer vom 3. September 1787 und vgl. Supplik dess. vom 15. Mai 1787 / Fallakte Johann Michael Pantzer; in: ebd. 257 Supplik des Onkels Pantzer vom 3. September 1787 / Fallakte Johann Michael Pantzer; in: ebd. 258 Ebd. 259 Vgl. Kabinettsorder vom 18. März 1787 / Fallakte Johann Michael Pantzer; in: ebd. 260 Ein vergleichbares Zusammengehen von verwandtschaftlicher Verbundenheit und einem gewissen Eigeninteresse lag auch im Fall des wegen Betrugs verurteilten Schutzjuden Simon Joseph Heinemann vor. Neben seinem Vater [s. B.I.3.] trat außerdem eine ältere Cou-
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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Es spricht einiges dafür, die in den Suppliken angegebenen Verwandtschaftsverhältnisse bei der Mehrheit der hier vorliegenden Supplikationen als real vorauszusetzen.261 Dennoch gilt es zu berücksichtigen, dass man in der frühen Neuzeit die angegebenen Verwandtschaftsgrade nicht immer wörtlich nehmen darf, da diese auch für eine emotionale und wirtschaftliche Verbundenheit standen. Zum Beispiel bezeichnete man mit Onkel oder Vetter nicht nur eine weiter entfernte Verwandtschaft, als es der Verwandtschaftsgrad suggeriert, sondern auch eine freundschaftliche Beziehung ohne jeden verwandtschaftlichen Hintergrund.262 In einem Fall ist in der Tat zu bezweifeln, dass der angebliche „Anverwandte“ der Charlotte Schöneberg, ein Stahlarbeiter namens Arrensee263, tatsächlich mit ihr verwandt war. Dies lässt zum einen die im Gesuch vage angedeutete, nicht näher bestimmte Beziehung zu der Verurteilten, vermuten. So unterschrieb Arrensee seine Supplik als „Freund des Mädchens“264, was seine oben gemachte Angabe als „Anverwandter“ in einen eher freundschaftlichen denn einen verwandtschaftlichen Kontext rückt. Es hat den Anschein, als ob sich Arrensee genötigt sah, sein Engagement für die Inhaftierte nach außen hin zu rechtfertigen. Möglich ist daher, dass er die Selbstbezeichnung Anverwandter gebrauchte, um mit einem vagen Verwandtschaftsverhältnis die ihm angeblich entstandene Pflicht zur Unterstützung der Delinquentin plausibel zu machen. Berücksichtigt man den Umstand, dass Charlotte Schöneberg der heimlichen Hurerei überführt wurde, legt dies die Vermutung nahe, dass es sich bei Arrensee um einen Freier von Charlotte handelte – vermutlich einer, der sich weitergehende Hoffnungen auf eine Beziehung mit ihr machte. Vor diesem Hintergrund wird auch nachvollziehbar, warum sich Arrensee äußerst großzügig zeigte: Er bot der Obrigkeit an, für Charlotte eine Geldstrafe zu übernehmen, welche für ihn angesichts seines Lohnes als Stahlarbeiter sicherlich beträchtlich ausfallen würde. Überdies verschaffte er der 19-jährigen eine Anstellung, so dass sie, falls ihr die Begnadigung gewährt werden würde: sine als Supplikantin auf, welche Heinemann als „ein naher Vetter von mich“ bezeichnete. Als kinderlose Witwe beabsichtige sie, so tat sie es in ihrem Gesuch kund, ihr beträchtliches Vermögen Heinemann als Erbe zu hinterlassen, so dass sie auf die tatkräftige Unterstützung ihres Vetters im Alter rechnen konnte. Die Witwe hatte außer ihrem Vetter, zu dem sie anscheinend eine enge Beziehung unterhielt, keine näher stehenden Angehörigen – vgl. Supplik der Cousine Joseph vom 7. Mai 1788 / Fallakte Simon Joseph Heinemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 261 Dafür sprechen Indizien wie z. B. Namensgleichheit und Angaben zum konkreten Verwandtschaftsverhältnis. 262 Bspw. wurden in der fürstlichen Korrespondenz die Anreden „Cousin“ bzw. „Vetter“, „Frère“ bzw. „Bruder“ und „Oncle“ bzw. „Onkel“ ungeachtet einer tatsächlich verwandtschaftlichen Verbindung genutzt, um eine enge Verbundenheit mit dem Gegenüber zu bekunden. So sprachen sich z. B. die gekrönten Häupter Europas stets als Bruder oder Vetter an. Die jeweils gebräuchliche Anredepraxis ist in den Titulaturbüchern der herrschaftlichen Kanzleien vermerkt – vgl. Meisner 1950, S. 222 – 226. 263 Vgl. Supplik des Anverwandten Arrensee vom 6. Juni 1798 / Fallakte Charlotte Schöneberg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 264 Zit. aus: ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
„( . . . ) bey einem Grafen wegen ihrer französischen Spruchkenntnißen zur Aufwartung deßen Kinder in Diensten treten kann.“265
Die Anstellung als Dienstmagd in einem Hause von sozialem Prestige und gutem Ruf sollte der mutmaßlichen Hure einen moralisch einwandfreien Lebenswandel in der Zukunft gewährleisten – so antizipierte zumindest der Supplikant die obrigkeitliche Logik. Arrensee beabsichtigte mit der Bezeichnung Anverwandter, den Anschein einer von Verbindlichkeit und Verantwortungsbewusstsein geprägten Beziehung zwischen ihm und der Delinquentin zu erwecken. Eine Andeutung auf eine sexuell interessierte Beziehung, wie es etwa die Bezeichnung Verlobter hätte nahe legen können, sollte – wohl aufgrund ihrer Vergangenheit als Hure – bewusst vermieden werden. Verwandtschaft beschrieb offenbar eine Art von Beziehung, in deren Matrix bestimmte Handlungen nicht in Frage gestellt werden konnten, vielmehr als natürlich erschienen. Resümee Wenn sich Nicht-Blutsverwandte als Anverwandte positionierten, um damit ihrem Engagement beim Supplizieren eine aus ihrer Sicht notwendige seriöse Begründung zu verleihen, dann zeigt dies, wie stark die Beziehung unter Verwandten als durch bestimmte Rechte und Pflichten geprägt verstanden wurde. Die Beziehung zwischen Nicht-Blutsverwandten war allerdings weniger verbindlich, als dies zwischen Blutsverwandten der Fall war [s. B.I.3. – 5.]: Die hier dargestellten Supplikationen belegen, dass sie zumeist nicht auf die Eigeninitiative der Anverwandten zurückgingen, sondern jene mussten von den Verurteilten selbst bzw. deren nahen Verwandten erst darum gebeten werden. Als Supplikanten und Supplikantinnen wurden sie jedoch in der Regel erst einbezogen, wenn sich keine Blutsverwandten als Fürsprecher fanden, bzw. wenn deren Versuche nicht den gewünschten Erfolg zeigten. Dass Anverwandte auf Anfrage dennoch zur Unterstützung bereit waren, belegt nicht nur, dass dies zum Pflichtenkanon von Anverwandten gehörte, sondern vor allem, dass sich die Betroffenen von dieser Solidaritätsbekundung gegenüber der Obrigkeit etwas versprachen. Verwandtschaftliche Beziehungen galten offensichtlich als Garant für materielle Hilfe und soziale Kontrolle. Dennoch stellten Supplikationen von Anverwandten für die Betroffenen die zweite Wahl dar, wenn man berücksichtigt, dass nur rund 2,6 Prozent aller Gnadenbitten aus dieser Gruppe stammten. In den Suppliken der Anverwandten trifft man auf eine fallspezifische Gemengelage von angeführten Motiven. Dazu zählt zum Beispiel die Pflicht zur Hilfe von in Not geratenen Verwandten. Dabei kam der Funktion des Vormunds eine zentrale Rolle bei der Argumentation zu: Erst vor diesem Hintergrund konnten offenbar plausible Integrationsangebote an die Obrigkeit formuliert werden, die etwa darin bestanden, für den moralischen Lebenswandel und eine gesicherte be265
Ebd.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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rufliche Zukunft der Delinquenten zu bürgen. Da ein Vormund in der Regel im Besitz der patria potestas sein musste, erklärt sich auch, warum eher männliche (insg. 14 Gnadenbitten) als weibliche (insg. 3 Gnadenbitten) Verwandte supplizierten. Die von den supplizierenden Männern und Frauen angeführten, scheinbar selbstlosen Motive waren bei näherer Inaugenscheinnahme mit wirtschaftlichem Eigeninteresse verbunden: Sei es, weil sich mit dem Einsatz für den oder die Verwandte die Hoffnung verband, sich ein Anrecht auf eine spätere Altersabsicherung zu verdienen; sei es, weil im Gnadenfall die Aussicht bestand, die Last der für die Strafdauer in das eigene Haus aufgenommenen hilfsbedürftigen angeheirateten Verwandten wieder loszuwerden. Wagt man der geringen Anzahl der Fälle zum Trotz einen Vergleich zwischen der Supplikation von Anverwandten mit jener von Blutsverwandten, so ist ihnen gemeinsam, dass sie ein intaktes soziales Umfeld suggerieren sollten. Dieses sollte auf Seiten der Obrigkeit die Gewissheit nähren, dass sich die Delinquenten wieder in die Gesellschaft integrieren würden, sobald man ihnen die Rückkehr ins verwandtschaftliche Umfeld gewährte. Die Suppliken von Anverwandten unterscheiden sich tendenziell von jenen der Blutsverwandten dadurch, dass sie formaler gehalten sind. Sie beschränken sich auf die Bitte um Gnade, geben aber darüber hinaus wenig preis: Aus ihnen ist in der Regel nicht zu entnehmen, in welcher konkreten Beziehung der Supplikant bzw. die Supplikantin zur verurteilten Person stand, noch sind mildernde Umstände, die von einer gewissen Kenntnis der Lebensgeschichte des Betroffenen gezeugt hätten, angeführt. In dieser Leerstelle drückt sich die zögerliche Haltung der Anverwandten aus, sich für ihre mit dem Gesetz in Konflikt geratenen Verwandten mit vollem Einsatz ihres eigenen Leumunds einzusetzen. Vor allem aber verweist die Leerstelle auf eine gänzlich andere Situation, als jene der engen Familienangehörigen: Die Anverwandten waren eben nicht direkt von der Inhaftierung ihres Verwandten betroffen, während den Eheleuten, Eltern, Kindern und Geschwistern die Person genommen war, die sie miternährte und umsorgte. 7. Gnadenbitten der Brotherrschaft Auch wenn die bisher vorgestellten Supplikantengruppen insg. rund 92 Prozent aller überlieferten Gnadenbitten ausmachen, beschränkte sich das Supplizieren keineswegs auf die Betroffenen selbst und auf deren Angehörige unterschiedlichen Verwandtschaftsgrades. Als Teil des frühneuzeitlichen Hauses gehörte auch die Brotherrschaft zum sozialen Umfeld der Angeklagten bzw. Verurteilten, welches hier vertreten ist. Da neben den Kindern auch das Gesinde der patria potestas unterstand, war die Beziehung der Brotherrschaft zu ihren Gesellen, Lehrburschen, Knechten, Mägden und Bedienten eher familien- denn obligationenrechtlich geprägt.266 Be266 Vgl. Rainer Schröder, Gesinderecht im 18. Jahrhundert; in: Gotthardt Frühsorge / Rainer Gruenter / Beatrix Freifrau Wolff Metternich (Hg.), Gesinde im 18. Jahrhundert, Hamburg 1995, S. 13 – 39, hier S. 16.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
dingt durch diese Nähe war auch die Brotherrschaft von der Bestrafung des Lehrburschen, der Magd oder des Knechts mittelbar oder unmittelbar betroffen – dies erklärt, warum es Supplikationen auch aus dem Bereich der Brotherrschaft gab. Für den Untersuchungszeitraum liegen insgesamt 13 Gnadenbitten der Brotherrschaft vor; das sind rund 1,9 Prozent aller überlieferten Gnadenbitten. Betrachtet man die Deliktgruppen, in denen die Brotherrschaft supplizierte, ergibt sich folgendes Bild: Bei Delikten wie zum Beispiel bei Homicidia, Adulteria, Aufruhr und Tumult sowie Injuria finden sich keine bzw. nur vereinzelte Gnadenbitten. Daraus folgt, dass sich die Brotherrschaft bei schwerwiegenden oder heiklen Delikten aus der Angelegenheit heraushielt, vermutlich um ihren Leumund zu schützen. In Bezug auf Adulteria muss allerdings eine andere Erklärung herangezogen werden, denn dieses Delikt betraf in der Regel kein Gesinde, sondern zumeist eine Stiefeltern-Stiefkinder-Konstellation in einer etablierten Wirtschaft. Die Mehrzahl der Gesuche von Brotherren (insg. 7 Gnadenbitten) entfällt auf das Delikt Diebstahl. In der Mehrzahl der Gnadenfälle war es die Brotherrschaft gewesen, welche zuvor auch die Klage eingereicht hatte, wenn sie ihr Gesinde des Diebstahls verdächtigten. Bereits der bloße Verdacht auf Hausdiebstahl musste in der Beziehung Brotherr / Brotherrin-Gesinde zwangsläufig einen Vertrauensbruch zur Folge haben. Die Hauseltern sahen sich zu einem harten Durchgreifen genötigt, denn bereits ein solcher Vorfall griff die Ehre des Hauses an, was sich umso gravierender auswirkte, wenn einem Verdacht keine Konsequenzen folgten. Schließlich wurde der Brotherrschaft abverlangt, auf den Lebenswandel ihrer Lehrburschen und Mägde zu achten.267 Wenn es nun zum Diebstahl kam, warf dies ein schlechtes Licht auf die Ordnung in einem Haus, da dies auf Vernachlässigung der sich aus der patria potestas ableitenden Aufsichtspflicht schließen ließ.268 Die Brotherrschaft 267 Die Gesindeordnungen regelten das Recht der Brotherrschaft zur Disziplinierung des Gesindes in Fällen der Pflichtvergessenheit und zur Kündigung in Fällen von Diebstahl, Betrug, sog. Exzessen etc. – vgl. beispielhaft Neu-verfertigte Gesinde-Ordnung vor hiesige Residentzien vom 12. Februar 1718; in: Corpus Constitutionum Marchicarum, hrsg. v. Christian Otto Mylius, 5. Teil, 3. Abt., Berlin / Halle 1740, No XXXV, Sp. 259 – 268; vgl. Neuverfaßte Gesinde-Ordnung vor die Staedte und das platte Land in der Alten-Marck vom 14. Dezember 1735; in: CCM, hrsg. v. Christian Otto Mylius, 5. Teil, 3. Abt., Berlin / Halle 1740, No XXXIX, Sp. 303 – 332; vgl. Königliche Preußische und Chur-Brandenburgische neu-verbesserte Gesinde-Ordnung vor die Königliche Residentz-Städte Berlin vom 2. Januar 1746; in: CCM, hrsg. v. Christian Otto Mylius, Continuatio III, 5. Teil, 3. Abt., Berlin / Halle 1748, No I, Sp. 43 – 64; vgl. Schröder 1995, S. 20 f. 268 Dass die Obrigkeit die Brotherrschaft bezüglich der Aufsichtspflicht gegenüber ihrem Gesinde tatsächlich zur Rechenschaft zog, belegt der Fall des wegen Diebstahls verurteilten Lehrburschen Johann Heinrich Schroot. Das Gericht warf seinem Lehrherrn, Johann Friedrich Soderer, mangelnde Aufsicht bzw. Verführung seines Lehrburschen zu einem unmoralischem Lebenswandel vor: „durch böse Beyspiele verführt, und ihn lüderlich gemacht“. Soderer musste daher die Kosten für den Prozess seines Lehrburschen übernehmen – vgl. Supplik des Soderer in eigener Sache vom 12. Februar 1788 / Fallakte Johann Friedrich Soderer (intus: Schroot); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055. Auch in einem
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musste folglich handeln. In Anbetracht der Schwere eines solchen Vergehens sahen sich die geschädigten Hauseltern allein aufgrund der Vorschriften der Gesindeordnungen gezwungen, Anzeige gegen ihr Gesinde zu erstatten. Mit einer solchen Justiznutzung verbanden sie aber nicht zwingend die Absicht, ihr Gesinde einem Gerichtsurteil und einer Strafe zu unterwerfen: Die Untertanen schalteten die Justiz ein, weil sie darin ein probates Instrument zur Lösung von privaten Konflikten erkannten, um nämlich auf diese Weise den Konflikt zu verschärfen und damit ihre eigene Position zu stärken.269 Diese Rechnung ging in den vorliegenden Fällen offenkundig nicht auf, da die Justiz hier auf ihrer Zuständigkeit in Bezug auf Ahndung und Sanktionierung von Strafrechtssachen beharrte. Folglich war mit der Klage der Fall von der häuslichen Konfliktlösungsebene an die Obrigkeit abgegeben. So versuchten einige Brotherren, im Wege der Supplikation zumindest ansatzweise ihrer Sanktionsgewalt Geltung zu verschaffen. Ein Beispiel dafür ist der Fall des 15-jährigen Lehrburschen Guiremann, der seinen Brotherren, den Kaufleuten Friedrich und Liebrecht, verschiedene Stoffe gestohlen und diese zu einem günstigen Preis an eine junge Frau verkauft hatte.270 Die Kaufleute zeigten den Diebstahl an und äußerten zudem ihre Vermutung über den Verbleib der verschwundenen Stoffe; die gerichtliche Untersuchung lieferte sodann den Beweis für den Diebstahl und die Hehlerei. Friedrich und Liebrecht hatten das Gericht eingeschaltet, weil für solche Vergehen eine formale Anzeigepflicht bestand, aber sicherlich auch, weil ihre Autorität als Brotherren gegenüber ihrem Lehrburschen durch die Gerichtsobrigkeit gestärkt werden sollte. Was die Brotherrschaft – abgesehen von der Erstattung ihres Verlustes – von einer Konfliktlösung erwartete, liest sich in der Formulierung des Kaufmanns Friedrich wie folgt: „( . . . ) da es uns [Friedrich und Liebrecht] auf die Erhaltung eines Höchst Dero Unterthanen [Guiremann] ankömt, dem Verführung nur zu Lastern gereitzt, dessen Hertz aber noch nicht gantz verdorben, und also noch zu Bessern ist.“271
Die Supplikanten argumentierten mit der moralischen Besserung des Delinquenten, um eine Begnadigung zu begründen. Die Brotherren schätzten ihren Lehrburschen als einen im Grunde rechtschaffenen Menschen ein, der sich einen Fehltritt hat zuschulden kommen lassen. So war es vor allem die disziplinierende Wirkung, weiteren Fall erhielt die Brotherrschaft eine Anzeige wegen Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflichten gegenüber der Dienstmagd Anna Sophie Magdalena Wagner, die sich wegen verheimlichter Schwangerschaft und Geburt zu verantworten hatte – vgl. Supplik der Brotherrschaft Etienne vom 19. August 1785 / Fallakte Anna Sophie Magdalena Wagner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.175, fol. 46 – 48. 269 Zur Justiznutzung vgl. Dinges 2000, S. 504 f., 536 f. (zum Konzept s. Einleitung / Forschung). 270 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 16. Mai 1787] und Annahme-Order vom 25. Mai 1787 / Fallakte Guiremann (intus: Treptow); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. 271 Supplik der Brotherren Friedrich und Liebrecht vom 23. März 1787 / Fallakte Guiremann; in: ebd.
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die sich die Kaufleute von einer Sanktion erhofften, und die ihren Lehrburschen wieder auf den Weg der Tugend zurückbringen sollte.272 Es stellt sich dann allerdings die Frage, warum Friedrich und Liebrecht die Bestrafung mit Hilfe ihrer Supplik revidieren lassen wollten und – ihrer Logik nach – damit in Kauf nahmen, dass die disziplinierende Wirkung entsprechend weniger Eindruck auf ihren Lehrburschen machen könnte. So intervenierte der Kaufmann Friedrich bereits während der gerichtlichen Untersuchung, um im Vorfeld eine drohende Festungsstrafe für Guiremann zu verhindern.273 Der Widerspruch zwischen dem verkündeten Sanktionsverständnis und der Gnadenbitte ist ein Indiz für die Annahme, dass die Brotherren mit ihrer Klage keine gerichtlich erkannte Haftstrafe erwirken wollten, sondern dass sie die Justiz eingeschaltet hatten, um den Druck auf ihren Lehrburschen zu erhöhen, letztlich aber die Angelegenheit auf der häuslichen Konfliktlösungsebene regeln wollten. Das verhängte Urteil über einen dreimonatigen Festungsarrest veranlasste beide Kaufleute, für ihren Lehrburschen um Strafmilderung, genauer um die Umwandlung der Freiheits- in eine Geldstrafe, zu bitten: „So angemeßen diese Strafe seinen Vergehungen ist, so würde ihn doch, durch Ausführung derselben alle Wege zu seinem künftigen Fortkommen gehemmt ( . . . ).“274
Guiremanns Brotherren versuchten nicht, die Strafe als ungerecht hinzustellen, doch verwiesen sie auf die aus ihrer Sicht nicht gerechtfertigten harten Folgen einer solchen Strafe. Sie prophezeiten ihrem Lehrburschen eine düstere Zukunft: Falls er auf die Festung kommen sollte, dann müsste er seine Lehre abbrechen und würde von seinen Eltern verstoßen werden; dies würde ihn zu Mitteln greifen lassen, „die ihn völlig in den Abgrund stürtzen“, so ihre Befürchtung.275 Das Argument, das sich durch die Supplik der beiden Kaufleute zieht, zielt vor allem auf die berufliche Zukunft bzw. soziale Stellung ihres Lehrburschen. Da es problematisch war, die eingeschlagene Laufbahn mit einem solchen Strafregister weiterzuverfolgen, bedeutete dies für die Lehrburschen meist das Ende der Ausbildung. Die Brotherrschaft hatte jedoch in diesem Fall keineswegs beabsichtigt, mit der Anzeige zugleich den Lehrvertrag aufzulösen. Schließlich hatte sie bereits viel Zeit in die Ausbildung von Guiremann investiert und entsprechend Lehrgeld dafür erhalten, welches seine Eltern eventuell zum Teil von ihnen zurückverlangen könnten. Daher erklärten sich Friedrich und Liebrecht bereit, den Lehrburschen trotz des Vergehens weiter zu beschäftigen.276 So uneigennützig die Gnadenbitte auf den ersten Blick erscheinen mag, da sie dem Wortlaut nach allein das Wohl des Delinquenten im Auge hatte, so stand doch auch ein gewisses wirtschaftVgl. ebd. Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 16. Mai 1787] / Fallakte Guiremann; in: ebd. 274 Supplik der Brotherren Friedrich und Liebrecht vom 23. März 1787 / Fallakte Guiremann; in: ebd. 275 Zit. aus.: ebd. 276 Vgl. ebd. 272 273
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liches Kalkül und Eigeninteresse der Supplikanten dahinter. Außerdem lässt die Erwähnung von Guiremanns Eltern vermuten, dass Friedrich und Liebrecht zu jenen in einem engeren Verhältnis standen. Es ist anzunehmen, dass es sich hierbei um eine bewährte Geschäftsbeziehung handelte, die sich zudem dadurch auszeichnete, dass man die Söhne über Generationen hinweg wechselseitig in die Lehre gab.277 Folglich sahen sich die Kaufleute genötigt, die Beziehung zur Familie Guiremann durch die Supplikation als einem Zeichen der Versöhnung wieder zu konsolidieren. Damit könnte die Supplikation in doppelter Hinsicht sozial und wirtschaftlich zugleich motiviert gewesen sein: zum einen bezogen auf den Erhalt der Arbeitskraft sowie auf die Zukunftsperspektiven des betroffenen Lehrburschen und zum anderen im Hinblick auf die von sozialen und wirtschaftlichen Aspekten geprägte Geschäftsbeziehung zwischen den Familien. Vergleichbar ist die Argumentation des Apothekers Carita, der zur Supplikation griff, um die seinem Lehrburschen Adolph Friedrich Wagner drohende Zuchthausstrafe abzuwenden, obgleich er selbst Anzeige gegen Wagner erstattet hatte. Nach den Worten zu urteilen, verfolgte der Apotheker mit seiner Gnadenbitte nur uneigennützige Motive. Er verzieh seinem Lehrburschen, obwohl dieser ihm ein Vermögen von 100 Reichstalern gestohlen hatte, um damit seine Ausgaben für „liederliche Dirnen“ zu decken.278 Carita bot an, dass Wagner bei ihm auslernen könne, damit dieser auch künftig für sein Auskommen selbst sorgen und zudem seine Mutter unterstützen könne.279 Ähnlich wie im Fall der Kaufleute stand hinter dem Vorschlag, Wagner trotz allem weiterhin in der Apotheke zu beschäftigen, die Überlegung, dass man als Brotherrschaft bereits viel Arbeit in seinen Lehrburschen investiert hatte, zumal nun davon auszugehen war, dass sich Wagner gegenüber seinem Brotherrn in Zukunft loyal und arbeitsam zeigen würde. Das Entgegenkommen des Apothekers erklärt sich unter anderem mit der sozialen Verpflichtung gegenüber seinem Lehrburschen. So hielt ihm die Mutter Wagner vor, seine Aufsichtspflicht als Lehrherr vernachlässigt zu haben: „Denn daß mein Sohn zu diesem Unternehmen gekommen, wird sich der Carita als Lehrherr der Schuld selbst nicht frey sprechen können, da ihm derselbe als Lehrling anvertraut worden, und seine Pflicht gewesen, auf deßen Lebenswandel eine beßere Aufsicht zu haben, ihm aber allen Willen gelaßen.“280
Brot- und Lehrherren waren folglich in der Pflicht, auf den Lebenswandel ihres Gesindes zu achten. Aus der Sicht der Mutter traf Carita daher eine gewisse Mit277 Zu der Beziehung zwischen Brotherrschaft und Gesinde bzw. deren Familien vgl. beispielhaft Schröder 1995, S. 36 f. 278 Zit. aus: Urteilsvorschlag des Ober-Appellationssenats vom 6. Februar 1793 und vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 14. August 1792] / Fallakte Adolph Friedrich Wagner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.059. 279 Vgl. Supplik des Brotherrn Carita vom 20. August 1792 und vgl. Supplik dess. o. D. [ca. Ende August 1792] / Fallakte Adolph Friedrich Wagner; in: ebd. 280 Supplik der Mutter Wagner vom 12. September 1792 / Fallakte Adolph Friedrich Wagner; in: ebd.
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schuld daran, dass ihr Sohn auf die schiefe Bahn geraten war, indem er mit liederlichen Dirnen verkehrte und sich von ihnen zum Diebstahl verführen ließ. Die moralische Verpflichtung, sich für seinen Lehrburschen zu verwenden, könnte außerdem seiner Beziehung zur Familie Wagner geschuldet sein. Nicht zuletzt hatte Carita sicherlich ein wirtschaftliches Interesse daran, seinen eingearbeiteten Lehrburschen zu behalten, auch im Hinblick auf das ihm ausbezahlte Lehrgeld, welches ihm von der Witwe Wagner möglicherweise wieder abverlangt worden wäre, falls ihr Sohn die Apothekerlehre bei ihm nicht zum Abschluss bringen sollte. In der Supplik spielte Carita Wagners Schuld herunter, da jener „noch sehr jung“ und durch schlechten Umgang mit „liederlichen Frauenspersonen zur Dieberey verführt worden“ sei.281 In Anbetracht dieser nach seinem Dafürhalten mildernden Umstände empfand Carita die vom Gericht erkannte Strafe von sechs Monaten Zuchthaus als zu hart. Als Brotherr habe er beabsichtigt, seinem Lehrburschen „nur eine ganz gelinde Strafe“ zu geben. Dass Carita in der Supplik auf seine Vorstellung von einer angemessenen Strafe einging, belegt, dass er nicht gewillt war, sein Recht als Brotherr zur Disziplinierung seines Lehrburschen vollends an das Gericht abzutreten. Der Brotherrschaft stand laut Gesindeordnung das Züchtigungsrecht gegenüber ihrem Gesinde zu; bei schwereren Vergehen war jedoch gesetzlich vorgesehen, dass die Obrigkeit die Sanktionierung des Gesindes übernahm.282 Caritas Handeln – zuerst als Kläger die Justiz einzuschalten und deren Entscheidung sodann im Wege der Gnade gemildert haben zu wollen – ist ein weiteres Beispiel für die Justiznutzung:283 Untertanen – vor allem einflussreiche Bevölkerungsgruppen, zu denen Carita als wohlhabender Apotheker zu zählen ist – wussten die Justiz als Mittel zur Lösung von Konflikten strategisch zu nutzen. Daher ist anzunehmen, dass er die Klage einreichte, nicht um eine Verurteilung von Wagner zu erzielen, sondern um seine außergerichtlichen Konfliktlösungsmöglichkeiten zu verbessern. Aus Caritas Sicht war seine Gnadenbitte dadurch legitimiert, dass er als Kläger und als geschädigte Partei in einer Person auftrat. Hinter Caritas Bitten um Strafmilderung und seinen Erörterungen über eine angemessene Bestrafung, stand letztlich die Haltung, dass der Brotherrschaft in Gesindesachen ein Mitspracherecht zustehe, auch wenn die Angelegenheit bereits vor Gericht verhandelt wurde. Die Vorstellung, sich bei gerichtlichen Entscheidungen bezüglich Gesindesachen einbringen zu können, war offenbar eine verbreitete Ansicht unter der Brotherrschaft: Diese Haltung spiegelte sich nicht nur in den Interventionsversuchen der Kaufleute Friedrich und Liebrecht sowie des Apothekers Carita wider, auch der Stahlfabrikant Martin Voigt glaubte, die Strafe für seinen wegen Hausdieb281 Supplik des Brotherrn Carita vom 20. August 1792 / Fallakte Adolph Friedrich Wagner; in: ebd. 282 Vgl. beispielhaft Neu-verfertigte Gesinde-Ordnung vor hiesige Residentzien vom 12. Februar 1718; in: CCM 1740, 5. Teil, 3. Abt., No XXXV, Sp. 259 – 268. 283 Vgl. Dinges 2000, S. 505, 508, 513. Auch das Gnadenbitten muss laut Dinges im Rahmen der Justiznutzung verstanden werden – vgl. ebd., S. 535.
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stahls verurteilten Arbeiter Wilhelm Ludewig Bolte in seinem Sinne beeinflussen zu können. Er zeigte seinen Stahlarbeiter an, nachdem dieser ihm diverse „Effecte“ gestohlen hatte und geflüchtet war. Indes kehrte Bolte aus „Scham“ freiwillig zurück und gestand seinem Herrn reumütig die Tat.284 Da sich beide in Güte geeinigt hatten, befand der Stahlfabrikant das Gerichtsverfahren offensichtlich für überflüssig, denn er versuchte, Bolte vor der Verhaftung zu bewahren.285 Anders als die oben dargestellten Fälle lag der Gnadenbitte des Stahlfabrikanten eine rein wirtschaftliche Argumentation zugrunde: „In dem ich diesen so nöthigen Arbeiter bey meiner Stahl-Fabrique, ohnmöglich entbehren kann ( . . . ), so würde ich mich gantz auser stande gesezt seyn, und genötigt finden, meine Fabrique gröstenteils nieder zuliegen laßen, bis ich mir einen dergleichen Arbeiter aus England wieder verschrieben.“286
Boltes Inhaftierung über eine längere Zeit hätte nach Voigts Einschätzung die vorübergehende Schließung seiner Fabrik zur Folge gehabt. Voigt ging davon aus, dass das Argument, keinen Arbeiter mit professionellen Fertigkeiten als Ersatz zu finden, für die Obrigkeit plausibel war. Um den Arbeitsausfall einzugrenzen, bat der Stahlfabrikant in seiner Supplik darum, dass Bolte seine Strafe statt in der Festung Spandau im Kalandshof absitzt. Dort war bereits eine Maschine aufgebaut worden, an der Bolte schon während der Untersuchungshaft gearbeitet hatte: „( . . . ) da ich mich schon gegenwertig genöthiget gefunden, selbigen [Bolte] eine Maschine nach Calandshoff zu senden, um die für mich so nöthige Arbeit anfertigen zu können.“287
Die mit dem Aufbau der Maschine im Kalandshof gefundene Lösung kam auch Bolte zugute, da er während der Haft nach wie vor seinen Lohn verdienen konnte. Der solchermaßen betriebene Aufwand belegt, dass die angeführten wirtschaftlichen Gründe Voigts nicht vorgeschoben waren. Voigt hatte bei der Erstattung der Anzeige offensichtlich nicht bedacht, dass er damit eine mehrmonatige gerichtliche Untersuchung anstoßen würde, der überdies eine mehrmonatige Arreststrafe des Angeklagten folgen sollte.288 Man gewinnt den Eindruck, dass die Brotherrschaft in den vorliegenden Fällen nicht mit einem langwierigen Prozess gerechnet hatte. Den Ausfall ihres Gesindes versuchten einige Brotherren durch Supplikationen, in denen sie um Verkürzung der Freiheitsstrafe bzw. um Umwandlung in eine Geldstrafe baten, zu begrenzen.289 Einige Brotherrschaften empfanden es als un284 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 22. Februar 1790] / Fallakte Wilhelm Ludewig Bolte; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056. 285 Vgl. ebd. 286 Supplik des Brotherrn Martin Voigt vom 26. März 1790 / Fallakte Wilhelm Ludewig Bolte; in: ebd. 287 Ebd. 288 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 22. Februar 1790] / Fallakte Wilhelm Ludewig Bolte; in: ebd. 289 Neben den hier ausführlich behandelten Fallakten vgl. Supplik des Brotherrn Graf. v. Hertzberg vom 12. April 1793 / Fallakte Kortmann (intus: Hertz); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49,
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gerecht, erst durch den Diebstahl geschädigt worden zu sein und – bedingt durch die Freiheitsstrafe ihres Gesindes – obendrein wirtschaftliche Einbußen hinnehmen zu müssen. Der Umstand, dass die Wirtschaft der Brotherrschaft durch die Bestrafung ihres Gesindes Schaden nahm, spielte auch in Suppliken aus anderen Deliktgruppen eine zentrale Rolle. Man kann sagen, dass der Ausfall einer Arbeitskraft die Brotherrschaft motivierte, sich mit einer Supplik für ihr Gesinde einzusetzen.290 So gleicht das Argument, das der Bilderhändler Schropp für die Entlassung seines der Unzucht überführten Handlungsdieners Anton Mangold vorbrachte, jenem des Stahlfabrikanten Voigt. Für die erlittene Ungerechtigkeit fand der Brotherr Schropp deutliche Worte: „ich aber als unschuldiger ebenfalls hierunter leide ( . . . )“, wo er doch durch den Ausfall Mangolds in seinem „Gewerbe gänzlich gehemt“ sei:291 „Sollte er nun die erkante Gefängniß-Strafe leiden, so müßte ich entweder meinen Laden verschließen oder mir einen andern Menschen annehmen. Beydes würde mir aber höchst nachtheilig seyn.“292
Den Ausfall einer Arbeitskraft aufzufangen, stellte eine frühneuzeitliche Wirtschaft bzw. ein Gewerbe bei der eingespielten Arbeitsteilung und der knappen Personalbemessung vor große Probleme. Es war schwierig, jenseits der Termine zu Michaelis oder Martini, zu denen das Gesinde üblicherweise die Stellen wechselte, noch nicht verdingte Mägde, Knechte oder Gesellen bzw. Bediente oder Lehrburschen zu finden.293 Da während des Untersuchungsarrestes bis auf weiteres unklar blieb, wann das eigene in Haft sitzende Gesinde zurückkommen würde, dem neu angeworbenen Gesinde aber eine Beschäftigungsdauer von üblicherweise einem Jahr fest zugesagt werden musste, bedeutete dies für die Brotherrschaft, möglicherweise eine Person über das übliche Maß hinaus beschäftigen zu müssen – und dies war für eine sich am Rande des Existenzminimums befindende Wirtschaft nicht finanzierbar.294 Daher versuchte die Brotherrschaft, in einigen Fällen ihr Gesinde Lit. D, Paket 16.061; vgl. Supplik des kgl. Ober-Bau-Intendanten Bourmann vom 26. April 1796 / Fallakte Johann Christian Lack; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.062. 290 Diese Einschätzung teilt auch Ulinka Rublack – vgl. Rublack 1998, S. 92. 291 Supplik des Brotherrn Schropp vom 13. Juni 1795 / Fallakte Anton Mangold; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 292 Ebd. 293 Die Termine zur Aufnahme des Dienstes wurden teilweise in den Gesindeordnungen fixiert. – Vgl. beispielhaft Regelungen für Gesinde auf dem Land: Neu-verfaßte GesindeOrdnung vor die Staedte und das platte Land in der Alten-Marck vom 14. Dezember 1735; in: CCM 1740, 5. Teil, 3. Abt., No XXXIX, Sp. 303 – 332. 294 So entschied sich die Brotherrschaft häufig, ihr vor Gericht gezogenes Gesinde zu entlassen, wenn sie Ersatz fand. Diese Erfahrung musste auch der Glasergeselle Ludwig Wilhelm Fester machen, der sich im angetrunkenen Zustand in einen handfesten Streit verwickeln ließ und sich nun einem langwierigen Gerichtsverfahren stellen musste: „( . . . ) da mein Brotherr durch meinen langen Arreste sich genöttiget gesehen, sich einen anderen Gesellen in meine stelle anzuschaffen, und mir des Dienstes zu entlaßen ( . . . ).“ – Supplik des
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bzw. ihre Bedienten im Wege der Supplikation zurückzubekommen, und verzieh ihnen das Vergehen. So auch der Bilderhändler Schropp: Obwohl Mangold durch Augenzeugen der Unzucht mit einem zehnjährigen „nicht mannbaren Mägdchen“ überführt worden war, hielt Schropp an seinem Handlungsdiener fest.295 Direkt nach Bekanntgabe des Urteils über drei Monate Festungsarrest ließ Schropp durch einen Schreiber zwei Suppliken aufsetzen, eine in seinem und eine in Mangolds Namen.296 In der Supplik stellte der Brotherr seinem Handlungsdiener, der seit 23 Jahren seiner Bildhandlung vorstand, ein gutes Zeugnis aus: Mangold habe sich „beständig durch gute Aufführung und Treue ausgezeichnet“. 297 Damit versuchte Schropp, den angeblich guten Leumund seines Handlungsdieners zu stärken. Zugleich sollten mit dem Zeugnis die vom Gericht anerkannten mildernden Umstände argumentativ gestärkt werden: Im Rechtsgutachten ist zu lesen, dass Mangold angeblich von dem Mädchen verführt und gereizt worden sei.298 Es entsprach offensichtlich der damaligen Vorstellung, einem zuverlässigen Bedienten, dessen Sexualleben bisher nicht auffällig war, die Initiative zu einer sexuellen Handlung mit einer Minderjährigen nicht zuzutrauen, und so die Schuld beim Mädchen zu suchen, auch wenn es erst zehn Jahre alt war. Der Wille zur Verführung erscheint hier als eine dem weiblichen Geschlecht exklusiv vorbehaltene Fähigkeit, die als Deutungsmuster offenbar überzeugender wirkte als die Erklärung einer Vergewaltigung. Nicht nur die Vergewaltigung eines Mädchens, sondern auch ein Delikt wie Aufruhr und Tumult war für die Brotherrschaft entschuldbar, sogar wenn sich der Unmut gegen sie selbst gerichtet hatte. So supplizierten ein Stellmachermeister und eine Witwe für ihre Gesellen, die an einem Streik aus Solidarität mit einem Mitgesellen, der von seinem Meister entlassen worden war, teilgenommen hatten.299 Hermann Behling wurde zur Last gelegt, das „aufrührerische Schreiben“ verfasst zu haben, mit welchem die Gesellen den Ausstand gegenüber ihren Brotherren begründet hatten. Erklärte Absicht war es, diese dazu zu bewegen, im Sinne der Streikenden schlichtend auf den Streit zwischen einem Stellmachermeister und seinem Gesellen einzuwirken. Behlings Brotherrin, die Stellmachermeisterwitwe Jäger, versuchte in ihrer Supplik, ihren Gesellen vom Vorwurf loszusprechen, Anführer des Streiks gewesen zu sein: Nur weil er „in schreiben gute lehre in der Fester in eigener Sache vom 29. Januar 1797 / Fallakte Ludwig Wilhelm Fester; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 15.203. 295 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 9. Dezember 1794] / Fallakte Anton Mangold; in: ebd. 296 Vgl. Supplik des Brotherrn Schropp vom 13. Juni 1795 und Supplik des Mangold in eigener Sache vom 13. Juni 1795 / Fallakte Anton Mangold; in: ebd. Beide Suppliken tragen dieselbe Handschrift und wurden folglich von demselben Schreiber erstellt. 297 Supplik des Brotherrn Schropp vom 13. Juni 1795 / Fallakte Anton Mangold; in: ebd. 298 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 9. Dezember 1794] / Fallakte Anton Mangold; in: ebd. 299 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 22. März 1794] / Fallakte Johann Gottlob Kalmer und Hermann Behling; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240, fol. 3 – 9.
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Jugend hatte“, sei er verführt worden, ein Schreiben „nach Dictirung“ durch die anderen Gesellen aufzusetzen.300 Dass der aufrührerische Inhalt des Schreibens angeblich nicht auf Behling zurückging, wollte die Witwe durch dessen Verhalten belegen: So habe Behling nicht wirklich gestreikt, sondern dies gegenüber seinen Mitgesellen nur vorgetäuscht, „mein Geselle hingegen suchte aber mir vor zu stehn“, „riegelte sich in der Werckstelle ein, und arbeitete, doch heimlich“.301 Obwohl die Anzettelung eines Streiks für die Brotherrschaft ein bedrohliches Vergehen war, stellte sich die Witwe des Meisters vor ihren Gesellen. Dafür gab es u. a. wirtschaftliche Gründe: Denn seit dem Tod ihres Mannes vor zwei Jahren habe Behling ihrer Wirtschaft in einer Weise „vorgestanden“, „so daß ich mich in allen Stücken auf ihn verlaßen konnte“ und „ich unglückliche Wittwe ohne diesen Menschen in meiner Handtirung nicht fertig werden kann.“302 So war der bereits von ihrem Mann vor Jahren angelernte Geselle für die Wirtschaft der Witwe unersetzbar geworden. Es ist auch denkbar, dass die Witwe eines Meisterbetriebes in einer solchen Situation den langjährigen Gesellen zu heiraten beabsichtigte, so dass beider Zukunft dadurch gesichert würde.303 Vor diesem Hintergrund wird nicht nur Behlings Verhalten gemäß Jägers Darstellung plausibel, sondern es wird auch verständlich, warum die Brotherrin mit aller Macht versuchte, die dreimonatige Festungshaft ihres Gesellen zu verhindern. Dasselbe Ziel verfolgte der Stellmachermeister Peter Schmaeck, der in demselben Fall für seinen Gesellen Johann Gottlob Kalmer das Wort ergriff. Auch Schmaeck beschönigte den Vorfall: Ein Streik sei zwar unter den Gesellen geplant gewesen, dieser habe jedoch nie stattgefunden, denn „ein jeder ging in seine Arbeit zurück“.304 Dabei unterschlug Schmaeck allerdings, dass, bevor der Magistrat eingriff, die Gesellen tatsächlich einige Tage ihre Arbeit niedergelegt hatten.305 Schmaeck versuchte, dem Gericht die Auffassung des Magistrats als ein Missverständnis zu verkaufen, denn dieser hielt „die Aufführung der Gewerksgesellen für einen Aufstand“ und befand die Gesellen für schuldig, sich gegen obrigkeitliche Verordnungen aufgelehnt zu haben.306 Wie schon die Stellmachermeisterwitwe stellte auch Schmaeck seinem Gesellen ein sehr gutes Zeugnis aus: 300 Supplik von Behlings Brotherrin Jäger vom 4. Juni 1794 / Fallakte Johann Gottlob Kalmer und Hermann Behling; in: ebd., fol. 24 – 25. 301 Ebd. 302 Ebd. 303 Zur Heiratspraxis der Witwen von Meisterbetrieben vgl. beispielhaft Hufton 1998, S. 336 f. 304 Supplik von Kalmers Brotherrn Peter Schmaeck vom 25. April 1794 / Fallakte Johann Gottlob Kalmer und Hermann Behling; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240, fol. 13 – 14. 305 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 22. März 1794] / Fallakte Johann Gottlob Kalmer und Hermann Behling; in: ebd. 306 Vgl. Supplik von Kalmers Brotherrn Peter Schmaeck vom 25. April 1794 / Fallakte Johann Gottlob Kalmer und Hermann Behling; in: ebd.
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„( . . . ) ich versichere bei meiner Ehrlichkeit und Bürgerpflicht, daß er [Kalmer] sich während dieser gantzen Zeit, nicht nur als ein sehr guter, friedliebender, ordentlicher und rechtschaffener Mensch jederzeit aufgeführet, sondern sich auch promt und fleißig bei der Arbeit erwiesen hat ( . . . ).“307
Mit dem Lob auf seinen Gesellen versuchte Schmaeck, die These vom Missverständnis zu stärken: Denn einem rechtschaffenen Gesellen konnte man einen solchen Verstoß gegen die Ordnung kaum unterstellen. Folgt man dieser Logik, dass den Gesellen keine Schuld traf, dann würde hier ein Justizirrtum vorliegen. Schmaeck hütete sich jedoch, dies so zu formulieren und die Obrigkeit zu brüskieren. Vielleicht deutete er deshalb diesen Vorwurf nur an und sprach ihn bewusst nicht aus, weil er selbst nicht so recht an diese Interpretation glaubte, und sie nur aus strategischen Gründen einbrachte. So beschränkte sich der Stellmachermeister darauf, zu beklagen, dass Kalmer mit der Untersuchungshaft „unglücklich genug“ dran sei.308 Schmaeck verwies lediglich auf die möglichen Folgen eines Festungsarrests: Kalmer würde dort nicht nur seine Gesundheit, sondern vor allem seinen „guten Namen verlieren“ und „sich die Verachtung seiner Mitmenschen zu ziehen“.309 Die Ehre und der gute Leumund werden hier auf gleicher Ebene wie die physische Konstitution genannt – ein Ehrverlust galt in der frühneuzeitlichen Gesellschaft als ähnlich existenzbedrohlich wie eine Krankheit, die dazu führte, dass man sein Auskommen nicht mehr selbst bestreiten konnte. Der Supplikant deutet an, dass das soziale und das wirtschaftliche Kapital unmittelbar miteinander verknüpft waren. Schmaeck ging von der Vorstellung aus, dass auch die Obrigkeit ein gewisses Eigeninteresse am wirtschaftlichen Wohlergehen ihrer Untertanen hatte, welches wiederum für die Gnadenpraxis ausschlaggebend war. Das Wirtschaftsargument bezog Schmaeck aber nicht nur auf den angeklagten Kalmer, sondern auch auf seine Situation: „( . . . ) daß ich dadurch einen Menschen verlieren soll, der mir ein fleißiger und treuer Arbeiter folgsam in meinen Anweisungen war, und, durch seine gute untadelhafte Aufführung mir so werth wurde, daß ich ( . . . ) ihn nie von mir gelaßen haben würde.“310
Diese Aussage lässt – wie im Fall der Witwe Jäger – auf ein wirtschaftliches Motiv des Supplikanten schließen: Höchst ungern würde sich der Brotherr von einer Arbeitskraft trennen, die eingearbeitet war und sich angeblich in jeder Hinsicht bewährt hatte. Schmaeck macht hier deutlich, dass die Beziehung zwischen Geselle und Brotherr durch Vertrauen geprägt war. Dies trägt dazu bei, dass das vom Supplikanten bekundete Mitleid mit dem Schicksal des Delinquenten authentisch wirkt. 307 308 309 310
Ebd. Zit. aus: ebd. Zit. aus: ebd. Ebd.
306
B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Die Verquickung von wirtschaftlichem Eigeninteresse und einer emotionalen Befindlichkeit stellt offenkundig ein narratives Muster beim Supplizieren dar, bei dem auch die Brotherrschaft davon ausging, dass es die Gnadenbereitschaft der Obrigkeit beförderte. Ein weiteres Beispiel ist die Supplikation im Fall des wegen Real-Injurien verurteilten Schlossergesellen Johann Friedrich Ludwig Walter. Sein Meister, Johann Friedrich Paasch, zeigte ihn an, da dieser ihn angeblich tätlich angegriffen hatte, als er ihn des Nachts „wegen pfeiffen“ zur Ordnung gerufen hatte. Als nun Paasch kurz nach der Urteilsverkündung verstarb, bat die Witwe für Walter um Strafmilderung. Für das Vergehen ihres Gesellen machte sie mildernde Umstände geltend: „( . . . ) auch uns die Hitze meines verstorbenen Mannes nicht unbewußt ist, die ohnstreitig sehr viel beigetragen, daß der Walter diesen Schritt gethan hat.“311
Nach dieser Aussage traf den Meister in seinem Jähzorn vermutlich die Hauptschuld an den Tätlichkeiten. Die Witwe unternahm alles in ihrer Macht Stehende, um eine Milderung der Strafe für ihren Gesellen gewährt zu bekommen, vermutlich weil – nachdem der Meister verstorben war – jede Hand in der Schlosserei benötigt wurde. Sie erbat für Walter eine Umwandlung in eine Geldstrafe, da die Freiheitsstrafe zusammen mit dem Willkommen und Abschied, einer ehrrührigen Prügelstrafe zum Haftantritt und zur Entlassung, dem Gesellen „an seinem zeitlichen Glück dermaleinst hinderlich sein könnte“.312 Wie in den oben dargestellten Fällen argumentierte die Supplikantin zuerst aus der Perspektive des Betroffenen und zeigte die Konsequenzen der Strafe in Bezug auf die berufliche Zukunft des Verurteilten auf. Sodann kam sie – ähnlich wie Schmaeck – auf das wirtschaftliche Interesse der Brotherrschaft am Gesellen zu sprechen: „Ueberdem auch mein Sohn, diesen Menschen der nunmehr Geselle ist, sehr nothwenig braucht, indem er sehr viel Hofarbeit hat[,] die sonst niemand anders machen kann, als gedachter Walter.“313
Mit dem wirtschaftlichen Interesse der Brotherrschaft sprach die Witwe auf indirekte Weise zugleich das fiskalische Interesse der Obrigkeit an: Eine funktionierende Wirtschaft ließ entsprechende Abgaben und Steuern erwarten. Resümee Das zentrale Motiv der Brotherrschaft, für ihr vor Gericht gezogenes Gesinde zu supplizieren, ist im wirtschaftlichen Eigeninteresse an der Arbeitskraft ihres Gesindes zu vermuten. Bestand ein Lehrverhältnis, so kam möglicherweise hinzu, dass die Brotherrschaft und die Familien, aus denen die Lehrburschen stammten, in 311 Supplik der Brotherrin Witwe Paasch vom 26. Juli 1797 / Fallakte Johann Friedrich Ludwig Walter; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.203. 312 Ebd. 313 Ebd.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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einem engen Verhältnis zueinander standen. Dann war die Brotherrschaft die Gnadenbitte dieser Beziehung gewissermaßen als Zeichen des Entgegenkommens schuldig, da ihr sonst der Vorwurf hätte gemacht werden können, ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt und das Vergehen nicht verhindert zu haben. Fest steht, dass die Supplikanten und Supplikantinnen den wirtschaftlichen Argumenten ein hohes Maß an Überzeugungskraft beimaßen, und zwar nicht nur in Bezug auf ihre eigene Wirtschaft, sondern auch in Bezug auf die berufliche Zukunft ihres Gesindes. Mit dieser Argumentation sollte offenbar das fiskalische Interesse der Obrigkeit angesprochen werden. Dahinter stand offenbar die Annahme, dass diese eine utilitaristische Gnadenpraxis verfolgte, indem sie sich bei Gnadenentscheidungen von Nützlichkeitserwägungen leiten ließ. Eine Besonderheit der Supplikation der Brotherrschaften besteht darin, dass sie auf diesem Wege versuchten, ihrem Mitspracherecht in Gesindesachen Geltung zu verschaffen. Die Brotherrschaft supplizierte stets in ihrer Funktion als Aufsicht. So verwundert es nicht, dass die meisten Suppliken von den Hausvätern unterschrieben sind (insg. 10 Gnadenbitten). Es gibt zwar auch einige Hausmütter als Absender von Suppliken (insg. 3 Gnadenbitten), aber in der Regel traten sie als Supplikantinnen nur dann auf, wenn sie als Witwe der Wirtschaft alleine vorstanden. Die Untertanen gingen von der Vorstellung aus, dass, solange der Hausvater lebte, es zu seinen Aufgaben gehörte, die Interessen des Hauses nach außen zu vertreten. Häufig stellten die Brotherrschaften auch die Kläger, doch beabsichtigten sie mit einer solchen Justiznutzung nicht unbedingt, ihr Gesinde von einem Gericht verurteilen zu lassen, vielmehr schalteten sie die Justiz ein, weil sie darin ein probates Instrument zur Lösung des Konfliktes sahen. Vor diesem Hintergrund sind auch die Supplikationen im Kontext der Justiznutzungen zu verstehen, da die Brotherrschaft damit versuchte, in gewissem Maße Einfluss auf die Bestrafung ihres Gesindes zu nehmen.314 Hier ist von Brotherrschaften die Rede, die ihrem Gesinde das Vergehen verziehen hatten und bereit waren, ihnen eine neue Chance zu geben. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Alternative, Verurteilte ihrer Strafe zu überlassen und sich damit faktisch von unzuverlässigem und unmoralischem Gesinde loszusagen,315 in diesen Quellen nicht thematisiert wird. Allein diese Leerstelle gibt da314 In diesem Zusammenhang kann die These von Martin Dinges, dass auch das Gnadenbitten als eine Form der Justiznutzung verstanden werden kann, für Brandenburg-Preußen bestätigt werden – vgl. Dinges 2000, S. 505, 508, 513, 535. 315 Dass die Brotherrschaft mitunter keineswegs gewillt war, für ihr vor Gericht gestelltes Gesinde Partei zu ergreifen, sondern sich vielmehr von ihm zu trennen suchte, belegt der Fall zweier Dienstmägde, die wegen gegenseitiger Beleidigung beide zu Gefängnis und Übernahme der Gerichtskosten verurteilt worden waren: So merkte eine von ihnen, Dorothee Sophie Maschantin, in ihrer Bitte um Niederschlagung der Kosten an, dass „mir meine herrschaft darüber den Dienst aufgesaget hat, und mich solches [die Klage] an meinen Fortkommen sehr hinderlich ist.“ – Supplik der Maschantin in eigener Sache vom 5. Februar 1787 / Fallakte Dorothee Sophie Maschantin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
von eine Ahnung: Schließlich verweisen die hier vorgefundenen 13 Gnadenbitten, also rund 1,9 Prozent der insgesamt 665 Gnadenbitten, darauf, dass der Großteil der Brotherrschaften für ihr Gesinde nicht aktiv wurde.
8. Gnadenbitten aus der Nachbarschaft und dem Arbeitsumfeld Die Bittsteller und Bittstellerinnen stammen aus dem gesamten sozialen Umfeld der angeklagten bzw. verurteilten Personen. Im Quellenbestand finden sich auch Suppliken aus der Nachbarschaft und dem Arbeitsumfeld [außer Brotherrschaft, s. B.I.7.]. Die supplizierenden Untertanen, die unter diese Gruppe zusammengefasst werden, standen in unterschiedlichen Beziehungen und Machtverhältnissen zu den Personen, die sie in ihren Gnadenbitten zur Begnadigung vorschlugen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie aus der Lebenswelt stammen, welche jenseits des eigenen Hauses bzw. der Familie [s. B.I.2. – 7.] und herrschaftlich geprägten Beziehungen [s. B.I.9. – 10.] lag.316 Die Skala reicht von den Angeklagten bzw. Verurteilten nahe stehenden Personen – wie zum Beispiel Freunde und Freundinnen, Bekannte, Nachbarn und Nachbarinnen – bis hin zu Kontakten, die im Zusammenhang mit der Arbeit standen – wie zum Beispiel ehemaliges Mitgesinde, Geschäftsund Handelspartner und -partnerinnen. So facettenreich Nachbarschaft- und Arbeitskontakte den frühneuzeitlichen Alltag gestalteten, so selten schlugen sie sich als Supplikation in den Akten nieder: Insgesamt 12 Gnadenbitten stammen aus der Nachbarschaft bzw. dem Arbeitsumfeld; das sind rund 1,8 Prozent aller Gnadenbitten. Die Zahl erscheint gering, gemessen an der Bedeutung im Hinblick auf gegenseitige Unterstützung und soziale Kontrolle, die diesen Beziehungen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft zukam. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass die vorliegenden Quellen ausschließlich Fälle dokumentieren, welche die nachbarschaftliche Ebene der Konfliktregelung längst hinter sich gelassen hatten, und nun vor Gericht verhandelt wurden. Die Frage, warum Nachbarn und Geschäftspartner in nur wenigen Fällen supplizierten, lässt sich nur hypothetisch beantworten: Möglich ist, dass dieser Personenkreis nicht bereit war, sich für die Angeklagten bzw. Verurteilten zu engagieren, wenn man dort zu der Ansicht gelangt war, dass jene vorsätzlich gegen fundamentale Wertvorstellungen und Regeln verstoßen und damit die nachbarschaftliche Ordnung bedroht hatten. Dies setzt allerdings voraus, dass sich zumindest in diesem Punkt Obrigkeit und Untertanen in ihren Vorstellungen von einer guten Ordnung trafen. Die Annahme, dass sich die Nachbarschaft von angeklagten bzw. verurteilten Personen distanzierte, erscheint plausibel, wenn man nach Urhebern von Denunziationen bzw. Anzeigen fragt. Solche waren schließlich Voraussetzung dafür, 316 Die Brotherrschaft wird hier nicht unter dem Begriff Arbeitsumfeld abgehandelt, da ihr ein spezifisches Machtverhältnis zu Eigen ist, was die Untersuchung als gesonderte Supplikantengruppe rechtfertigt [s. B.I.7.].
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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dass ein Gerichtsverfahren in Gang gesetzt werden konnte. Mit Ausnahme der Fälle, in denen die geschädigte Partei selbst Anzeige erstattete, verschweigen die Akten des Justizdepartements jedoch häufig, wer die lokale Obrigkeit über Verdachtsmomente informiert hatte.317 Es gibt aber Indizien, die darauf hinweisen, dass diesbezügliche Hinweise bzw. Gerüchte in der Nachbarschaft ihren Ursprung hatten.318 Von einer Denunziation bzw. Anzeige machte diese vermutlich in den Fällen Gebrauch, in denen nachbarschaftliche Sozialkontrolle und Disziplinierung zwar aktiv wurden, jedoch versagt hatten, und das Vergehen als ein eklatanter Verstoß gegen den commen sense319, dem sich die Nachbarschaft verpflichtet fühlte, empfunden wurde.320 Man kann davon ausgehen, dass zahlreiche Gerichtsverfahren durch gezielte Denunziation aus der Nachbarschaft initiiert wurden; oder anders ausgedrückt: Auch die Nachbarschaft gehörte zu der Gruppe von Untertanen, welche das obrigkeitliche Angebot der Justiz nutzten, allerdings nicht ausschließlich mit der Intention, den jeweiligen Konflikt an das Gericht zu übertragen, sondern um mit einer Klage ihre Machtposition bei der Lösung des Konflikts auf der nachbarschaftlichen Ebene zu stärken, so die These.321 Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum sich nur wenige Nachbarn veranlasst sahen, für die verurteilte Person um Gnade zu bitten. Auch wenn ein Streitfall der nachbarschaftlichen Konfliktlösungsebene entzogen und bei Gericht anhängig war, verfolgte die Nachbarschaft den Prozess aufmerksam. Was geschah, wenn die Nachbarschaft schon nicht mit der Einschaltung 317 So gingen etliche Anzeigen, insbesondere bei den Deliktgruppen Adulteria und Verdacht auf Kindsmord, auf den örtlichen Prediger zurück. Die Akten verschweigen jedoch, von wem der Prediger informiert worden war, bevor dieser eine Untersuchung veranlasste, die dann zum Fund von Indizien (z. B. die Leiche des Säuglings) führte und in eine Anzeige wegen Verdachts auf Kindsmord mündete – vgl. beispielhaft Rechtsgutachten o. D. [ca. 3. November 1791] / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 170 – 183; vgl. Rechtsgutachten 5. Mai 1782 / Fallakte Anna Sophie Magdalena Wagner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.175, fol. 11 – 28. 318 In der Tat belegen zahlreiche Fälle, dass sich die lokale Obrigkeit aufgrund eines in der Nachbarschaft verbreiteten Gerüchts zu einer Untersuchung veranlasst sah – vgl. beispielhaft Rechtsgutachten o. D. [ca. 12. April 1787] / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 41 – 46; vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 16. März 1793] / Fallakte Christian Rosenfeldt und Maria Gloxin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956 u. a. 319 Unter common sense versteht Cliffort Geertz eine kulturell bedingte Faktizität im Sinne einer nicht begründungsbedürftigen Wahrheit, z. B. bzgl. gesellschaftlicher Wertevorstellungen. – Zu den Charakteristika des common sense vgl. Geertz 1987, S. 261 – 288. 320 Ein Beleg dafür, dass die Nachbarschaft bei deviantem Verhalten aktiv wurde, liefert der Fall Anton Mangold [s. B.I.7.]: Als eine Nachbarin aus ihrem Stubenfenster beobachtete, wie der 52-jährige Handlungsdiener „ein Kind von 8 bis 10 Jahren liebkosete ( . . . ) und sich daßelbe auf den Schoß setzte“, berichtete sie dies sogleich der Mutter des Mädchens, die Mangold daraufhin anzeigte – Rechtsgutachten o. D. [ca. 9. Dezember 1794] / Fallakte Anton Mangold; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 321 Zur Justiznutzung vgl. Dinges 2000, S. 504 f., 536 f. [zum Konzept s. Einleitung / Forschung].
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
der Justiz, vor allem aber nicht mit dem Ausgang des Gerichtsverfahrens einverstanden war, dokumentiert der Fall Kinkel. Die Nachbarschaft trat hier geschlossen als Kollektiv auf, um korrigierend in den nachbarschaftlichen Streit, der nun vor Gericht weiter ausgetragen wurde, einzugreifen: Der Zeugmacher Johann Justin Kinkel aus Neuschöneberg wurde von seinem Nachbarn, dem Gärtner Limprecht, angezeigt, ihn in eine Schlägerei auf der Strasse verwickelt zu haben, in deren Verlauf Limprecht verletzt wurde.322 Nach zwei erfolglosen Gesuchen der Ehefrau Kinkel wurde im Namen der Gemeinschaft, repräsentiert durch zwölf Neuschöneberger Bürger, eine Supplikation angestrengt.323 Die Nachbarschaft wurde entweder auf Bitten der Ehefrau aktiv oder aber sie hatte die Ehefrau bereits bei ihrer Supplikation mit Rat und Tat unterstützt, und sah erst dann, als diese abgelehnt wurde, die Notwendigkeit, dem Gnadenträger ihre Meinung zum Streitfall darzulegen.324 Gleichgültig, welche der beiden Möglichkeiten zutraf, das Supplikationsverhalten zeigt, dass aus der Sicht der Untertanen der Ehefrau die Aufgabe zufiel, als Erste zu supplizieren, bevor sich die Nachbarschaft einmischte, vermutlich weil man ersterer höhere Chancen auf Gewährung von Gnade einräumte. In ihrer Supplik schilderten die Nachbarn, die Augenzeugen des Streits waren, den Verlauf anders, als es der Kläger getan hatte, denn aus ihrer Sicht hatte Limprecht den Streit und letztlich auch seine Verletzung selbst verschuldet: So habe Limprecht Kinkel auf offener Strasse „Schimpf Worte“ wie „Hundsfüttischer Kerl“ zugerufen und soll als Erster tätlich geworden sein, so dass Kinkel „nicht anders umhin gekonnt sich seiner Haut zu wehren“.325 Der Streit unter den beiden Nachbarn schwelte schon längere Zeit, so dass die Nachbarschaft schon lange vor diesem Vorfall Position bezogen hatte: Sie stand scheinbar geschlossen auf der Seite Kinkels. Limprecht wurde ein schlechter Leumund attestiert, da „selbiger ein sehr unfehiger Kopf [ist,] der im beständigem Zanck und Streit lebet“.326 Während die Nachbarschaft Kinkel als einen angesehenen Bürger präsentierte, wurde der Kläger Limprecht als ein notorisch Streitsuchender und Außenseiter in der Neuschöneberger Nachbarschaft dargestellt. Als angebliche Augenzeugen des Tathergangs maßten sich die Nachbarn gegenüber dem Gericht an, strafmildernde Umstände beurteilen zu können. 322 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 9. April 1785] / Fallakte Johann Justin Kinkel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.984. 323 Vgl. Supplik der Gemeinde zu Neuschöneberg mit 12 Unterschriften vom 12. Mai 1785 / Fallakte Johann Justin Kinkel; in: ebd. Die Neuschöneberger Supplikation wird hier als eine Gnadenbitte gezählt, da die Unterschriftleistenden in diesem Zusammenhang nicht als einzelne Supplikanten auftraten, sondern als Teil der Nachbarschaft, die sich hier als Kollektiv präsentierte. 324 Die Supplik der Gemeinde wurde aufgesetzt, bevor das Dekret auf die zweite Gnadenbitte der Ehefrau eingegangen war – vgl. zwei Suppliken der Ehefrau Kinkel vom 19. April 1785 und 8. Mai 1785 sowie die diesbzgl. Dekrete in Form von Resolutionen vom 19. April 1785 und 19. Mai 1785 / Fallakte Johann Justin Kinkel; in: ebd. 325 Zit. aus: Supplik der Gemeinde zu Neuschöneberg vom 12. Mai 1785 / Fallakte Johann Justin Kinkel; in: ebd. 326 Zit. aus: ebd.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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Nach Ansicht seiner Nachbarn verdiene Kinkel „Mitleiden“, da die Kinkelsche Familie während der Haft des Zeugmachers Not litt.327 Aus einem Gesuch von Kinkels Vater geht hervor, dass dessen Ehefrau gezwungen war, von der Armenkasse zu leben, nachdem sie alle verzichtbaren Habseligkeiten verkauft hatte.328 Bei einer solchen Notlage sah sich die Nachbarschaft aufgefordert, Hilfe zu leisten. Vermutlich hatte sie während Kinkels Freiheitsstrafe gewisse Mehrausgaben und Hilfeleistungen getätigt, um der Kinkelschen Familie das Auskommen zu sichern. Daher war das Interesse der Nachbarschaft an seiner baldigen Freilassung auch materieller Natur. Es ist allerdings anzunehmen, dass die konkrete Intention des Kollektivgesuchs primär darin bestand, den Außenseiter Limprecht zu disziplinieren. Denn dieser hatte sich offenbar der sozialen Kontrolle der Nachbarschaft entzogen, indem er mit seiner Klage die Obrigkeit angerufen hatte. Gegen den Willen der Nachbarn war der Streit der Konfliktlösung auf nachbarschaftlicher Ebene entzogen und in die Zuständigkeit des Gerichts überstellt worden. Mit der Kollektivsupplikation verfolgte die Nachbarschaft das Interesse, ihrer Bewertungskompetenz in Bezug auf lokale Konflikte Geltung zu verschaffen und mit Hilfe einer Begnadigung das aus ihrer Sicht ungerechte Urteil zu korrigieren und den Außenseiter Limprecht in seine Schranken zu verweisen. So spiegelt die Supplikation in gewisser Weise den Protest der Nachbarschaft gegenüber dem Eingreifen bzw. der Gerichtsentscheidung der Obrigkeit in diesem Fall wider. Die Nachbarschaft profitierte in jedem Fall von ihrer Supplikation, unabhängig davon, ob Kinkel tatsächlich begnadigt wurde oder nicht, denn sie stärkte die Machtposition der Nachbarschaft gegenüber dem einzelnen Gemeindemitglied; konkret trug sie dazu bei, ihre kommunale Hoheit über Konfliktlösungen wieder herzustellen. Unter den Supplikationen findet sich ein weiteres Kollektivgesuch, allerdings nicht aus der Nachbarschaft, sondern aus dem Arbeitsumfeld, konkret von Handelspartnern einer Kaufmannsfamilie. Der 19-jährige Kaufmann Joseph Jacob, Sohn eines Schutzjuden und Händlers zu Havelberg, wurde wegen Wechsel-Betrügerey verurteilt.329 Als das Urteil über ein Jahr Zuchthausarrest verkündet wurde, setzte sich Jacob ins Ausland ab. Die Gnadenbitten von seiner und seines Vaters Seite waren von der Hoffnung getragen, die Strafe könne aufgehoben und der geschäftsschädigende Vorfall damit aus der Welt geschafft werden.330 Da sich aber Zit. aus: ebd. Vgl. Supplik des Vaters mit Auflistung der noch verbliebenen Besitztümer vom 28. Dezember 1786 / Fallakte Johann Justin Kinkel; in: ebd. 329 Einen vergleichbares Beispiel für sozialen Abstieg einer jüdischen Händlerfamilie stellt der Fall des Juden Levin Joseph aus Spandau dar: Auch dieser versuchte, mit Wechselbetrügereien den drohenden Bankrott zu verhindern und wurde vor Gericht gezogen – vgl. Herzfeld 2001, S. 165 – 176. 330 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 24. August 1786]; Supplik in eigener Sache vom 22. Januar 1787; drei Suppliken des Vaters Jacob Levin, davon zwei vom 18. Januar 1788 und 24. Oktober 1790 / Fallakte Joseph Jacob; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 327 328
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der Betrugsvorwurf unter den Handeltreibenden herumgesprochen hatte, entschied sich die Kaufmannsfamilie für ein offensives Vorgehen, indem sie ihre Handelspartner in das Supplizieren einbezog: So formulierte derselbe Schreiber331, welcher auch die vorhergehenden Suppliken aus dem Kreis der Familie aufgesetzt hatte, ein weiteres Gesuch im Namen von sechs Handelspartnern, darunter einer Kauffrau. Trotz des Wechselbetrugs hatten die Berliner Kaufleute „gegen seine Redlichkeit das beste Vertrauen“, und stellten Jacob ein gutes Zeugnis als Kaufmann aus, da er „eine außerordentliche Betriebsamkeit besitzet“, was sie in der nunmehr seit drei Jahren währenden Handelsbeziehung zum Hause Jacob zu schätzen gelernt haben:332 „Wir haben ihm [Joseph Jacob] vielfältige Waaren behändiget, die er für unsere Rechnung, und zu unserer grösten Zufriedenheit verkaufet hat.“333
Die Supplizierenden gingen davon aus, dass ein solches Zeugnis der Obrigkeit die Hoffnung vermittelte, dass Joseph Jacob seinen Platz in der Gesellschaft und sein Auskommen gefunden hatte und all dies – nach der Erfahrung mit dem aufgeflogenen Wechselbetrug – künftig nicht mehr leichtfertig aufs Spiel setzen würde. Das Leumundszeugnis wurde ihm auch von – dem Namen nach – eventuell nicht-jüdischen Kaufleuten ausgestellt.334 Möglich ist, dass dies bewusst so arrangiert worden war, um der Obrigkeit zu signalisieren, dass die Supplikation nicht als bloße Geste der Solidarität unter Schutzjuden zu interpretieren war, sondern tatsächlich handfeste wirtschaftliche Interessen an einer Begnadigung Jacobs vorlagen. Ihr materielles Interesse betonten die Kaufleute explizit:335 „Wir sind zu bescheiden, alß daß wir glauben sollten, daß eine Fürbitte für denselben den rechtlichen Lauf hemmen könnte, unser eigenes Interesse aber fordert uns auf, für demselben Begnadigung zu bitten. Den sollten wir nicht daß Glück haben begnadigung vor ihn zu erflehen, so sind wir um unser ansehnliches Capital[,] so wir an ihn zu fordern haben[,] 331 Die Annahme, dass das Gesuch der Handelspartner nicht nur mit der Familie Jacob abgestimmt, sondern von ihr initiiert worden war, beruht auf dem Umstand, dass alle sechs Suppliken dieselbe Handschrift aufweisen und folglich von demselben Schreiber aufgesetzt worden waren – vgl. Supplik in eigener Sache vom 22. Januar 1787, drei Suppliken des Vaters Jacob Levin, davon zwei vom 18. Januar 1788 und 24. Oktober 1790 und Supplik der sechs Handelspartner vom 28. März 1788 / Fallakte Joseph Jacob; in: ebd. 332 Zit. aus: Supplik der sechs Handelspartner vom 28. März 1788 / Fallakte Joseph Jacob; in: ebd. 333 Ebd. 334 Die Supplik der sechs Handelspartner vom 28. März 1788 trug die Unterschriften von: Johann Friedrich Fraischinet, George Christian Alberties Raabe, George Johan Ludewig Koch, Witwe Charlotte Dorothea Schönfeld, Friedrich Gustav Schultze und Querhimmel – vgl. ebd. 335 In einem ähnlichen Fall begründete ein Handelspartner seine Supplik ebenfalls mit wirtschaftlichem Interesse: „Mir ist an der Rettung dieser Männer [Dittmar und Durand] gelegen, weil ich mit selbigen in Handlungs-Verkehr stehe.“ – Supplik des Berliner Geschäftspartners Israel Marcus vom 19. März 1792 / Fallakte George Friedrich Dittmar und Peter Ludwig Durand; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218.
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weil er um die Strafe zu entgehen sich seit einigen Monathe auser Landes begeben. Wann nun Eure Königliche Majestät unser allerunterthänigste bitte Staadt finden laßen, so haben wir die große Hoffnung daß uns dieser Jacob nicht allein unser Forderungen bezahlen will sondern auch mit ihm in fernern Handlungsgeschäften uns einlaßen können.“336
Die Berliner Kaufleute baten um Jacobs Begnadigung, damit jener seinen Fluchtplan aufgeben und sich seinem Geschäft wieder widmen sollte – anderenfalls befürchteten sie, ihr Vermögen, welches sie Jacob anvertraut hatten, zu verlieren. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Angst begründet war. Schließlich ist anzunehmen, dass Jacobs Vater als Leiter des Geschäfts die ausstehenden Summen bereits beglichen hatte – allein aus dem Grund, nicht den Ruf seines Handels zu ruinieren. Bedeutsam ist jedoch, dass die Supplizierenden glaubten, ihre wirtschaftlichen Interessen könnten Einfluss auf die Gnadenpraxis der Obrigkeit haben. Gegenüber dem Justizminister zog das Argument jedenfalls nicht: Die Kaufleute wurden darauf hingewiesen, dass sie ihre Forderungen an den „Entwichenen jeden orts seines Aufenthalts geltend“ stellen könnten.337 Es ist davon auszugehen, dass sie als Handelsleute über die rechtlichen Bestimmungen Bescheid wussten, und ihnen somit nichts Neues mitgeteilt wurde. Geht man nun davon aus, dass das Argument der Kaufleute vorgeschoben war, so bestand der eigentliche Grund des Supplizierens wohl darin, dass der Handel mit der Kaufmannsfamilie Jacob außerordentlich lukrativ war, so dass man in Zukunft keinesfalls auf diesen Kontakt verzichten wollte. Vielleicht versprachen sich die sechs Handelspartner von dieser Solidaritätsadresse zugunsten des Jacobschen Handels konkrete Vergünstigungen für ein künftiges Geschäft. Auch im folgenden Fall handelt es sich vermutlich um eine Supplikation aus dem Arbeitsumfeld – allerdings bleibt das Verhältnis zwischen dem Supplikanten und der Verurteilten vage: Als ein Freund bat der Buchbinder Friedrich Ritter [Riller] nach elf Jahren Haft um Begnadigung von Dorothea Christiane Otto, die wegen vorsätzlichem Kindsmord zu lebenslanger Haft verurteilt worden war.338 In welcher Beziehung Ritter [Riller] zu Otto stand, lässt sich nur erahnen: Im Gesuch stellte er sie als „eine meiner Freundinnen“ vor:339 Aus seiner Sicht lag die eigentliche Schuld bei Ottos Mutter, da sie ihre Tochter zur Verheimlichung ihrer Schwangerschaft und der Geburt genötigt hatte. Als mildernder Umstand führte er an, dass Otto überdies eine Totgeburt gehabt hätte. Abschließend beschrieb er ihren derzeitigen Gemütszustand, dass sie nämlich „ihr trauriges Schicksal stets bejammert und die aufrichtigste Reue zeigt“.340 Die Taktik ist offenkundig: Erst wird Ottos persönliche Schuld als weniger schwerwiegend dargestellt, dann soll Ottos Supplik der sechs Handelspartner vom 28. März 1788 / Fallakte Joseph Jacob; in: ebd. Dekret in Form einer Resolution vom 11. April 1788 / Fallakte Joseph Jacob; in: ebd. 338 Vgl. Supplik des Freundes Friedrich Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 60 (s. Anlage Nr. 8). 339 Zit. aus: ebd. 336 337
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Schicksal beim Leser Mitleid hervorrufen und die Reue soll zudem ihre moralische Gnadenwürdigkeit belegen. Der Umstand, dass Ritter [Riller] über Ottos Lebensgeschichte und über die Umstände im Spandauer Zuchthaus gut unterrichtet war, und er zudem andeutete, dass er ebendort noch weitere „Freundinnen“ habe, führt zu folgender Hypothese: Ritter [Riller] besaß eine Buchbinderei in Spandau, und so konnte es gut möglich gewesen sein, dass weibliche Häftlinge für ihn im Zuchthaus arbeiteten. Möglich wäre dann, dass er zu einigen von ihnen im Laufe der Jahre eine freundschaftliche Beziehung aufbaute. Dass Ritter [Riller] tatsächlich über gute Kontakte zur Strafvollzugsanstalt verfügte, belegt seine Supplik, der er als Anlage je ein Aufführungszeugnis der Zuchthausadministration und des Zuchthauspredigers beifügte.341 Gesetzt den Fall, der Buchbinder und die Inhaftierte waren sich bei der Arbeit im Zuchthaus begegnet, so war ihre Beziehung im Hinblick auf das asymmetrische Machtverhältnis der Beziehung zwischen Brotherrschaft und Gesinde ähnlich.342 Otto hatte den Anweisungen des Buchbinders Folge zu leisten, wenngleich sie der Zuchthausadministration offiziell unterstellt blieb. Ob ihre Beziehung darüber hinaus auch eine emotionale Komponente hatte, bleibt unklar. Jedenfalls konnte sich Ritter [Riller] Ottos Dank für seine Hilfe sicher sein. Für diesen Fall gilt festzuhalten, dass Ritter [Riller], sollte er tatsächlich wirtschaftliche Interessen mit der Supplikation verfolgt haben, dies aber – anders als andere Supplikanten – nicht aussprach, folglich darin kein für eine Begnadigung dienliches Argument sah. Auch in einem weiteren Fall lassen sich den Akten kaum Informationen über die Beziehung zwischen dem Supplikanten und dem Verurteilten entlocken. Einen Anhaltspunkt bietet die Selbstbezeichnung des Supplikanten: Nach sechs Jahren Inhaftierung stellte sich Wilhelm Kluge als Bekannter von Johann Michael Schoenecke vor, und bat für jenen um Gnade.343 Schoenecke war zu lebenslanger Haft verurteilt Zit. aus: ebd. Vgl. Anlagen zur Supplik des Freundes Friedrich Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 61 – 62 (s. Anlagen Nr. 9 – 10). 342 Obwohl die Quellen nichts Näheres belegen, ist in einem weiteren Fall von einer ökonomisch definierten Beziehung mit einem ähnlich asymmetrischen Machtverhältnis auszugehen: Der Hofmaurermeister Boehme geriet in Streit mit dem Ingenieurmajor und Direktor der Kgl. Ingenieur-Academie, v. Borghesi, und wurde wegen Beleidigung von dessen Ehefrau zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Der Adlige sah sich gezwungen auf den Ehrangriff mit einer Anzeige zu reagieren. Für die Wiedergutmachung der verletzten Familienehre war indes der Schuldspruch des Gerichts an die Adresse Boehmes, nicht aber das Absitzen der Strafe entscheidend. Daher konnte sich v. Borghesi generös zeigen, seinem Widersacher verzeihen und um dessen Begnadigung bitten, damit sich jener um „seine kranke Ehefrau“ kümmern könne. Hinter dieser philanthropischen Begründung stand vermutlich das wirtschaftliche Kalkül, nicht allzu lange auf die Arbeitskraft des Hofmaurermeisters verzichten zu wollen. Denn es liegt nahe zu vermuten, dass die nachbarschaftliche Beziehung zwischen v. Borghesi und Boehme auch wirtschaftlicher Natur war. – Supplik des Beleidigten v. Borghesi vom 22. Januar 1792 / Fallakte Boehme; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 343 Vgl. Supplik des Bekannten Wilhelm Kluge vom 6. Juli 1790 / Fallakte Johann Michael Schoenecke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235. 340 341
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worden, da er das Dorf Schönefeld in Brand gesteckt hatte, in der Hoffnung, danach als Zimmermann Arbeitsaufträge für den Wiederaufbau der Häuser zu bekommen. Kluges Detailkenntnisse vom Tathergang deuten auf einen engen Umgang mit Schoenecke hin. So könnte es sich bei Kluge um einen ehemaligen Mitgesellen gehandelt haben, der aus Verbundenheit mit Schoenecke jenem diesen Freundschaftsdienst erwies. Man kann Kluges Kenntnisse auch dahingehend interpretieren, dass jener selbst an der Brandstiftung in irgendeiner Form beteiligt gewesen, aber nicht in die Mühlen der Justiz geraten war und mit der Supplikation für seinen Komplizen sein Gewissen beruhigen wollte. Aber darüber lässt sich nur spekulieren. Nicht nur Männer, sondern auch Frauen konnten – wenngleich äußerst selten und nur in Ausnahmesituationen344 – als Freunde bzw. Bekannte supplizieren, so zum Beispiel Sophie Hahn. Allerdings trat die Supplikantin in ihrem Gesuch in erster Linie als Schwester auf und engagierte sich für ihren Bruder [s. B.I.5.], bat aber zugleich für dessen mitangeklagten Freund Johann Christian Graebert um Gnade.345 Es ist anzunehmen, dass Sophie Hahn die formale Berechtigung ihrer Supplikation in erster Linie von ihrem Status als Schwester, nicht aber so sehr als Freundin von Graebert ableitete. Die beiden jungen Männer hatten zusammen mit weiteren 14 Komplizen unter Gewaltandrohung versucht, zwei Knechte zu befreien, die wegen unerlaubten Tabakrauchens im Gefängnis von Machnow in Gewahrsam genommen worden waren.346 Aus der Akte geht hervor, dass sich der Amtmann in Machnow der Idee verschrieben hatte, gegen die angebliche Vergnügungssucht der jungen Leute im Ort vorzugehen.347 Da auch den Eltern und der Brotherrschaft bestimmte Formen des geselligen Beisammenseins von jungen Menschen suspekt waren, trafen sich in diesem Punkt die Interessen der Obrigkeit und der älteren Generation, gegen die angebliche Vergnügungssucht vorzugehen. Dies würde erklären, warum sich nicht die Eltern Graebert für ihren Sohn eingesetzt haben – dies hätte dem typischen Supplikationsmuster entsprochen. Mit der Schwester fand sich eine Vertreterin der jüngeren Generation, die in dieser Angelegenheit die Haltung ihres Bruders und seiner Freunde unterstützte. Vor diesem Hintergrund erscheint die Supplik der Machnowerin nicht nur als ein Zeichen der Solidarität mit den Verurteilten, sondern darüber hinaus auch als Widerständigkeit gegenüber den Eltern und gegenüber Entscheidungen der lokalen Obrigkeit. 344 Bei der Supplikantengruppe Nachbarschaft und Arbeitsumfeld entfallen lediglich zwei Gnadenbitten auf Frauen, davon trat eine Frau als supplizierende Handelspartnerin auf [s. o.], die andere als Freundin eines Mannes, die aber zugleich als Schwester eines weiteren Mitverurteilten supplizierte (s. Sophie Hahn). Den zwei Gnadenbitten von Frauen stehen insg. zehn Gnadenbitten von Männern gegenüber. 345 Vgl. Supplik der Schwester seines Freundes Sophie Hahn o. D. [ca. 5. Juni 1795] / Fallakte Johann Christian Graebert (intus: Hahn); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241, fol. 10 – 11. 346 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 6. Oktober 1794] / Fallakte Johann Christian Graebert (intus: Hahn); in: ebd., fol. 2 – 8. 347 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 6. Oktober 1794] / Fallakte Johann Christian Graebert (intus: Hahn); in: ebd.
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Resümee Wenn Supplikationen aus der Nachbarschaft oder dem Arbeitsumfeld eingereicht wurden, dann lag ihnen eine Gemengelage von Motiven zugrunde, die von freundschaftlicher Verbundenheit mit den Angeklagten bzw. Verurteilten und deren Familien bis zur subtilen Widerständigkeit gegenüber den Eltern und der lokalen Obrigkeit reichten. Diese Motive scheinen aber weniger ein Spezifikum dieser Supplikantengruppe, als vielmehr dem individuellen Beziehungsgefüge in den vorgefundenen Fälle geschuldet zu sein. Anders bei Geschäfts- und Handelspartnern: Traten diese als Supplikanten auf, so standen hinter ihrem Engagement vor allem wirtschaftliche Interessen. Auf diese bezogen sich die Supplizierenden durchaus offen, da diese aus ihrer Sicht so plausibel erschienen, dass dies aus ihrer Sicht eine Begnadigung rechtfertigte. Ebenfalls typisch ist das Interesse der Nachbarschaft am wirtschaftlichen Auskommen ihrer Nachbarn: Schließlich kam die Nachbarschaft für die lokale Armenfürsorge auf und hatte daher ein vitales Interesse daran, dass die Wirtschaft der Nachbarn deren Bedürfnisse abdeckten und diese nicht der Allgemeinheit zur Last fielen. Nachbarschaftliches Engagement begann aber nicht erst mit der Armenfürsorge. Geriet eine Familie in eine vorübergehende Notlage, so standen die Nachbarn in einer sozialen Verantwortung, diese zu unterstützen. Fiel beispielsweise der Ernährer einer Familie – bedingt durch den Arrest – aus, so konnte die Hilfe darin bestehen, dass die Nachbarn einzelne Dienstleistungen, aber auch materielle Unterstützung anboten – sei es, dass die Kinder durch Nachbarn mitversorgt wurden, damit sich die zurückgebliebene Ehefrau ganz der Wirtschaft widmen konnte, sei es, dass ihr bestimmte Arbeiten von Nachbarn abgenommen wurden, sei es, dass man der betroffenen Familie Nahrungsmittel zukommen ließ. Dies zeigt, dass die Nachbarschaft in hohem Maße daran interessiert war, dass Krisen nicht das lokale ökonomische Gleichgewicht bedrohten. Für die Nachbarschaft konnte das zentrale Motiv zur Supplikation auch in der Bewahrung ihrer Machtposition liegen. Konkret verfolgte die Nachbarschaft das Ziel, die Hoheit über nachbarschaftliche Konfliktlösungen zurück zu gewinnen bzw. die gerichtliche Entscheidung wenigstens in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dabei darf die Tatsache aber nicht übersehen werden, dass relativ wenige Gnadenbitten von dieser Seite vorliegen: In der Regel enthielt sich die Nachbarschaft und das Arbeitsumfeld des Supplizierens, da die vor Gericht verhandelten Fälle nicht mehr in die nachbarschaftliche Zuständigkeit der Sanktionierung von deviantem Verhalten fielen und man keine Chance sah bzw. kein Interesse daran hatte, diese einzufordern. Festzuhalten bleibt, dass sich die Nachbarschaft und das Arbeitsumfeld in Bezug auf Personen aus ihrem Umfeld, denen kriminalgerichtliche Vergehen vorgeworfen wurden, mit insg. 12 überlieferten Gnadenbitten als nicht sehr supplikationsfreudig zeigen. Dies deutet darauf hin, dass es sich hierbei nicht um eine typische Supplikantengruppe handelt: Die Zuständigkeit zum Supplizieren fiel deutlich eher der Familie zu [s. B.I.2. – 6.]; Nachbarschaft und Arbeitsumfeld wurden nur dann ini-
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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tiativ, wenn das ökonomische Gleichgewicht in der Nachbarschaft bzw. in den Handelsbeziehungen gefährdet schien. 9. „Ich als Obrigkeit“348 – Gnadenbitten der lokalen Obrigkeit und des Militärs Suppliziert wurde nicht nur aus dem familiären und dem sozialen Umfeld der verurteilten Personen, von dem man Parteinahme noch am ehesten erwarten konnte. Darüber hinaus verwandten sich auch zivile Amtsträger der lokalen Obrigkeit und Militärkommandeure für kriminalgerichtlich Angeklagte bzw. Verurteilte. Die Akten beinhalten insg. 24 Suppliken von Absendern, die beim Supplizieren in ihrer Funktion als Amtsträger auftraten; dies entspricht rund 3,6 Prozent aller überlieferten Gnadenbitten im untersuchten Zeitraum. Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass hier Fürsprachen von Seiten der lokalen Obrigkeit und des Militärs unter die Supplikationen von Untertanen subsumiert werden. Es handelt sich bei den zivilen Amtsträgern um Angehörige der unteren Herrschaftsebene, wie zum Beispiel Gutsherren349 und Landräte350, Stadtverordnete und Magistratsmitglieder kurmärkischer Städte.351 Unter den Militärkommandeuren finden sich unterschiedliche Dienstgrade wie zum Beispiel Regimentschefs, Generalmajore und Oberstleutnants. Das Justizdepartement war zwar weder für die lokale Obrigkeit noch für das Militär die ihnen direkt vorgesetzte, fachlich weisungsgebende Instanz; als Zentralbehörde stellte es aber für jene die übergeordnete Obrigkeit dar. Wandten sich Amtsträger der unteren Herrschafts348 Zit. aus: Suppliken des Prignitzer Landrats zu Rohr vom 3. April 1789 und 4. Februar 1790 / Fallakte Jacob Teisch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.177, fol. 403 – 404 und fol. 406. 349 Der Gutsherr stellte die lokale Obrigkeit dar. Im Besitz der Grundherrschaft übte er als Gerichtsherr die Patrimonialgerichtsbarkeit im Gutsbezirk aus; er war Leibherr über seine Leibeigene und verpflichtete seine Erbuntertänigen zu Frondiensten. 350 Der Landrat war halb Bediensteter des Landesherrn in fiskalischen Angelegenheiten und halb ständisch Bestellter und war somit der Repräsentant der königlichen Gewalt im ländlichen Kreis und zugleich Vertrauensmann der Kreisstände. Als Exekutiv- und Kontrollorgan der Kriegs- und Domänenkammern besaß er steuerlich-finanzielle und gewisse polizeiliche Befugnisse; konkret war er für das Kontributionswesen, für die Instandhaltung der Wege und für das militärische Marsch- und Fuhrwesen verantwortlich. Gerichtliche Befugnisse hatte er jedoch nicht, da er nicht in die Sphäre der patrimonialen Gerichts- und Polizeigewalt eingreifen durfte – Näheres zum Amt und Aufgabengebiet des Landrats in BrandenburgPreußen im 18. Jh. vgl. Hubatsch 1973, S. 162 – 167, bes. S. 162 f.; vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 260 – 269, 354 – 361. 351 Seit den Reformen unter Friedrich Wilhelm I. wurde die städtische Verwaltung vom Magistrat wahrgenommen. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine kommunal beauftragte, sondern um eine staatlich eingesetzte Behörde, denn die Bürgermeister und Ratsherren waren als Staatsdiener dem König, nicht der Gemeinde verpflichtet. Der Magistrat gliederte sich in die Departements Justiz, Polizei, Kämmerei und Verwaltung der städtischen Güter – vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 239 – 246.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
ebene bzw. des Militärs mit einem schriftlichen Anliegen an die Zentralbehörden, so geschah dies aktenkundlich gesprochen in Form von Berichten, die – ebenso wie die Supplik – zur Gattung von Schreiben der Unterordnung gehörten.352 Daher finden sich bezüglich des Stils und der Courtoisie viele formale Gemeinsamkeiten. Die Suppliken und die hier verfassten Fürsprachen haben aber noch eine weitere entscheidende Gemeinsamkeit: Die Amtsträger verfassten die Schreiben aus eigenem Antrieb, ohne Aufforderung zur Berichterstattung einer ihnen übergeordneten Stelle. Auch die vordergründige Absicht dieser Schreiben deckt sich mit der Intention der Suppliken von Untertanen, nämlich: eine Begnadigung für jemanden Drittes zu erwirken. Auch wenn man berücksichtigt, dass eine Person in der Frühen Neuzeit nie losgelöst von ihrer Standeszugehörigkeit, ihrer Profession respektive ihrem Amt und ihrem sozialen Kapital gesehen werden darf, so rücken doch gewisse Motive, welche die Vertreter der lokalen Obrigkeit und des Militärs mit ihren Schreiben offenbar verfolgten [s. u.], diese in die Nähe von persönlich und nicht-amtlich verfassten Suppliken. So betrafen die Fürsprachen zwar formal gesehen Angelegenheiten der Untertanen und waren damit per se Amtssachen; die Amtsträger nutzten die Supplikation jedoch auch dazu, um ihre persönlichen Interessen, die zumeist materieller Natur waren oder der Machtsicherung dienten, einzubringen. Es spricht also einiges dafür, die Fürsprachen der lokalen Obrigkeit und des Militärs den Suppliken zuzuordnen. Bei dieser Spielart der Supplik muss allerdings bedacht werden, dass ihr ein spezifisches Machtverhältnis zwischen lokaler Obrigkeit bzw. Militär als supplizierende Parteien und den zu begnadigenden Personen, die zugleich jenen gegenüber zu Gehorsam verpflichtet waren, zugrunde lag: Es war stark asymmetrisch zugunsten der Supplizierenden, ausgeprägter als dies etwa in der Beziehung zwischen Brotherrschaft und Gesinde bereits zum Ausdruck kam. a) Lokale Obrigkeit Es stellt sich die Frage, warum sich die lokale Obrigkeit für Personen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, einsetzte, wo sie doch in der Pflicht stand, über die Einhaltung von Recht und Ordnung zu wachen und daher nicht in den Ruf kommen durfte, deviantem Verhalten gegenüber nachlässig zu sein. Die Antwort liefert einmal mehr das wirtschaftliche Interesse, welches Landräte und insbesondere Gutsherren an den Höfen ihrer Untertanen hatten: Je ertragreicher diese wirtschafteten, umso höher fielen die Abgaben und Steuern aus. Tatsächlich liefert die Deliktgruppe Aufruhr und Tumult Beispiele dafür, dass Landräte und Gutsherren als lokale Obrigkeiten bei Zuwiderhandlung gegen Recht und Ordnung in dem Dilemma standen, einerseits entsprechend harte Disziplinarmaßnahmen ergreifen bzw. vom Gericht verhängte Strafen unterstützen zu müssen, dies aber andererseits ihrem existentiellen Interesse am wirtschaftlichen Wohlergehen der Höfe zuwiderlief. 352 Zur aktenkundlichen Definition des Berichts vgl. Kloosterhuis 1999, S. 535 f.; vgl. Meisner 1950, S. 177 – 181.
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Zur Erntezeit 1794 verbreitete sich in der Altmark die Nachricht, dass in Folge des kurz zuvor in Kraft getretenen Allgemeinen Landrechts die Hofdienste um Michaelis herum angeblich aufgehoben oder doch wenigstens ermäßigt werden würden – ein Gerücht, welches durch die Aufstände der lüneburgischen Untertanen gegen die Hofdienste zusätzlich Nahrung erhalten hatte.353 Die Hofdienste gerieten Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt in die Kritik, da sie über die Jahre mehr und mehr ausgeweitet wurden und einen Großteil der Arbeitskräfte eines Hofes banden. Die wohl einhellige Meinung der betroffenen Bauern war, dass: „Der Hofedienst ( . . . ) je länger je drückender“ werde.354 Der Unmut unter den altmärkischen Ackerleuten gärte ohnehin schon, denn die regionalen Besitz- und Rechtsverhältnisse, welche die Altmärker – als Freie und Erbzinsbauern355 – ursprünglich mal besser stellte als die übrigen kurmärkischen Untertanen, hatten sich im Laufe der Zeit allmählich zu Gunsten der Gutsherren verändert:356 Der Anteil bäuerlichen Besitzes an Hof und Ackerland war durch das bis Mitte des 18. Jahrhunderts praktizierte Bauernlegen357 kontinuierlich zurückgegangen; die Bestimmung der Hofnachfolge358, die ursprünglich Sache der Bauern war, hatten mittlerweile die Grund- und Gerichtsherren an sich gezogen; der seit der Gesindeordnung von 1735 verschärfte Gesindezwangsdienst359 sah vor, dass sich die Kinder der altmärkischen Bauern nicht nur wie zuvor auf drei Jahre, sondern bis zur Heirat bzw. zur Hofübernahme als Gesinde beim Gutsherrn verdingen mussten; die Abgaben, etwa für Annehmegelder360 und Abschoß, waren im Steigen begriffen. Was die Geduld 353 Vgl. beispielhaft den Bericht des Justizkommissionsrats Schulze zu Calbe vom 29. September 1794 / Teilakte über die Ermittlung des Gerüchts und der Insurrection zur Fallakte Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240, fol. 36 – 37; vgl. Bericht des Obergerichts der Altmark vom 23. Oktober 1794 / Fallakte Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel; in: ebd., fol. 1 – 2. 354 Aussage des Christoph Kragel; zit. aus: Rechtsgutachten vom 4. Dezember 1794 / Fallakte Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel; in: ebd., fol. 20. 355 Das Erbzinsrecht ließ den Bauern und Kossäten Eigentum am Gehöft, für die dazugelegte grundherrliche Nutzungsfläche wurde dem Grundherrn auf der Basis der Erbleihe ein Entgelt in Form von Feudalrente geleistet – vgl. Enders (Besitz- und Rechtsverhältnisse) 2003, S. 1 f. 356 Vgl. Enders (Besitz- und Rechtsverhältnisse) 2003, zur besonderen Situation in der Altmark im Vergleich zur übrigen Kurmark vgl. ebd., S. 2, 54 f. 357 Nach Beobachtung von Lieselott Enders wurde in der Altmark das Bauernlegen – also die Entfremdung traditionell bäuerlichen Besitzes zu grundherrlichen Eigenzwecken – geradezu exzessiv durchgeführt; so auch in den Grundherrschaften der v. Alvensleben, v. Schenck und v. d. Schulenburg. Erst das Edikt vom 12. August 1749 untersagte die Einziehung von Bauernhöfen – vgl. ebd., S. 3 – 12, bes. S. 4. 358 Vgl. ebd., S. 55. 359 Vgl. Regelungen für Gesinde auf dem Land: Neu-verfaßte Gesinde-Ordnung vor die Staedte und das platte Land in der Alten-Marck vom 14. Dezember 1735; in: CCM 1740, 5. Teil, 3. Abt., No XXXIX, Sp. 303 – 332; vgl. Enders (Besitz- und Rechtsverhältnisse) 2003, S. 45 – 50. 360 Jeder neue Wirt eines Hofes musste bei Besitzantritt dem jeweiligen Amt ein Annehmegeld zahlen – vgl. ebd., S. 52 f.
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der Bauern überstrapazierte, war die Tatsache, dass ihnen in diesem Jahr die Handund Spanndienste zusätzlich noch zur Erntezeit abverlangt wurden, was aus ihrer Sicht „ungemeßen“ sei, zumal wegen des Krieges ein außerordentlicher Mangel an Knechten herrsche.361 Die Gerüchte über die Aufhebung der Hofdienste ließen die Bauern aktiv werden: In den altmärkischen Dörfern wurden Versammlungen abgehalten, um ein konzertiertes Vorgehen gegenüber der lokalen Obrigkeit abzusprechen. Unklar bleibt, ob die Bauern ihre Grundherren lediglich dazu bringen wollten, ihnen die Option zu gewähren, sich von den Hofdiensten loskaufen zu können, oder ob sie die „eigenmächtige gemeinschaftliche Aufsage und Verweigerung des NaturalHofe-Dienstes“ planten.362 So fand am 23. August 1794 in Audorf eine Versammlung von Entsandten aus 26 Gemeinden des Umkreises statt, die von der Obrigkeit als „Zusammenrottirung und versuchte Aufsagung des Hof-Dienstes“ verstanden wurde.363 Ebenso auf „Ordre der Gemeinde“364 kamen Vertreter aus Etingen, Gräningen und Wegenstedt zu einer weiteren Versammlung zusammen. In einem Laufzettel wurden auch die unter der Gutsherrschaft der v. Alvensleben stehenden Calbeschen Höfe aufgefordert, Vertreter zu einer Versammlung am 24. August 1794 zu entsenden, „weil der Herrendienste im Schwange ist aufzuheben.“365 Dem Landrat und Gutsherrn v. Alvensleben wurde ein solcher Laufzettel offenbar zugespielt und so überraschte er die Entsandten auf den Versammlungen. Er nahm ihre Beschwerden über die Bedrückungen zu Protokoll und sicherte ihnen eine gründliche Untersuchung darüber zu, zugleich wies er sie auf die Rechtswidrigkeit ihrer Zusammenrottirung hin. Die ihm vorgesetzte Kriegs- und Domänenkammer setzte er in Kenntnis über den Vorfall und erstattete Anzeige gegen seine sowie gegen die 361 Aussage des Andreas Nolop; zit. aus: Rechtsgutachten vom 4. Dezember 1794 / Fallakte Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel; in: ebd., fol. 7 f. 362 Zit. aus: Rechtsgutachten vom 4. Dezember 1794 / Fallakte Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel; in: ebd., fol. 3 – 38; vgl. außerdem den Bericht des Justizkommissionsrats Schulze zu Calbe vom 29. September 1794 / Teilakte über die Ermittlung des Gerüchts und der Insurrection zur Fallakte Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel; in: ebd., fol. 36 – 37. Bereits seit 1791 waren immer wieder Kollektivgesuche der altmärkischen Dörfer zur Aufhebung des Naturaldienstes eingebracht worden. Die Initiativen der Bauern sollten schließlich Erfolg haben: 1799 wurde zumindest der Naturaldienst aufgehoben – vgl. Enders (Besitz- und Rechtsverhältnisse) 2003, S. 35. 363 So die Bezeichnung des Tatbestandes; zit. aus: Rechtsgutachten vom 4. Dezember 1794 / Fallakte Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel; in: ebd., fol. 11; vgl. auch Rechtsgutachten vom 17. November 1794 / Fallakte Heinrich Helmcke, Friedrich Oerlacke, Johann Joachim Kruse, Johann Heinrich Francke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240, fol. 4 – 19. 364 Aussage der Angeklagten; zit. aus: Rechtsgutachten vom 17. November 1794 / Fallakte Heinrich Helmcke, Friedrich Oerlacke, Johann Joachim Kruse, Johann Heinrich Francke; in: ebd. 365 Wortlaut des Laufzettels; zit. aus: Rechtsgutachten o. D. [ca. 30. Oktober 1794] / Fallakte Joachim Gartz, Johann Joachim Thiede und Langnese; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240, fol. 5 – 16.
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schulenburgschen und schenckschen Untertanen, die mutmaßlich eine aktive Rolle bei den Zusammenkünften gespielt hatten.366 An dieser Stelle agierte v. Alvensleben in seiner Funktion als Landrat, der keine polizeiliche Befugnis hinsichtlich einer Bestrafung der Rädelsführer hatte, und griff daher zur Anzeige bei der Kriegs- und Domänenkammer. Als Gutsherr hatte v. Alvensleben indes gerichtliche und polizeiliche Befugnisse, aufgrund derer er die ihm untertänigen Bauern hätte bestrafen lassen können. Dies tat er jedoch nicht, vermutlich weil der Aufruhr auch von Untertanen anderer Gutsherren mitgetragen wurde, über die er keine obrigkeitliche Gewalt innehatte. Hinzu kam, dass die Situation aus obrigkeitlicher Sicht außer Kontrolle zu geraten drohte, so dass v. Alvensleben vermutlich Rückhalt bei der Obrigkeit auf Provinzialebene suchte, um seine Position in der Auseinandersetzung mit den Gutsuntertanen zu stärken. Von obrigkeitlicher Seite wurde seine entschlossene und umsichtige Reaktion gelobt: Man sah es als seinen „Verdienst“ an, „die ersten Unruhen entdeckt und so zusagen in der Geburth erstickt zu haben.“367 Das scheinbar widersprüchliche Verhalten, welches v. Alvensleben gegenüber seinen Untertanen an den Tag legte, entspricht der Logik patriarchaler Herrschaft: Zum einen gab er sich als verständnisvolle lokale Obrigkeit, indem er die Beschwerden seiner Untertanen gegen seine Amtsdiener aufnahm und Abhilfe versprach – dies gründete in seiner Pflicht, seine Untertanen zu schützen. Zum anderen aber kriminalisierte er das Vorgehen der Untertanen, indem er Anzeige bei der Kriegs- und Domänenkammer erstattete – dabei ging es ihm vermutlich um Machtsicherung. Das konzertierte Vorgehen der Untertanen schreckte nicht nur die lokale Obrigkeit auf: Über die Vorfälle wurde nicht nur auf der Provinzialebene, sondern sogar auf der zentralen Behördenebene, konkret im Geheimen Rat, beraten. Ein Publicandum sollte wieder für Ruhe und Ordnung im ganzen Land sorgen, indem auf den „Ungrund“ des Gerüchts verwiesen und den Untertanen bedeutet wurde, dass sie „rechtmäßig erworbenes Eigenthum“ der Gutsherrschaft seien, weshalb sie zu Hofdiensten verpflichtet seien.368 Zudem wies das Justizdepartement die betroffenen lokalen Obrigkeiten an, die Untertanen, „die sich bei Veranstaltung dieser unerlaubten Zusammenkünfte besonders thätig erwiesen haben[,] zur Untersuchung zu ziehen.“369 Daraufhin wurden umfassende Ermittlungen angestoßen, um die vermeintlichen Drahtzieher der befürchteten Insurrection und ihre Pläne sowie die 366 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 30. Oktober 1794] / Fallakte Joachim Gartz, Johann Joachim Thiede und Langnese; in: ebd.; vgl. Rechtsgutachten vom 4. Dezember 1794 / Fallakte Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel; in: ebd., fol. 5 – 7. 367 Bericht des Justizkommissionsrats Schulze zu Calbe vom 29. September 1794 / Teilakte über die Ermittlung des Gerüchts und der Insurrection zur Fallakte Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel; in: ebd., fol. 38 – 39. 368 Vgl. Publicandum vom 5. September 1794 / Teilakte über die Ermittlung des Gerüchts und der Insurrection zur Fallakte Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel; in: ebd., fol. 6. 369 Zit. aus: Rechtsgutachten vom 4. Dezember 1794 / Fallakte Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel; in: ebd., fol. 6.
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Quelle des Gerüchts ausfindig zu machen. Der Landrat und Gutsherr v. Alvensleben drängte das Altmärkische Obergericht zur „Beschleunigung der Verfahren“ und mahnte in einem herrischen Ton an, dass „mir der Entzweck der Bestrafung nicht ganz verfelt werden soll.“370 Aus v. Alvenslebens Haltung geht hervor, dass auch er als Gutsherr und Landrat die Justiz für seine Interessen zu nutzen beabsichtigte und das Gericht quasi als verlängerten Arm der gutsherrlichen Patrimonialgerichtsbarkeit ansah.371 So verlangte er zügige Amtshilfe, stillschweigend voraussetzend, dass sich die gerichtliche Entscheidung mit seinen Interessen decken würde. Es ist anzunehmen, dass sich der Gutsherr von einem zügigen Gerichtsverfahren und einer baldigen Verurteilung eine disziplinierende Wirkung auf seine aufbegehrenden Untertanen erhoffte. Sein primäres Ziel musste es sein, ähnliche Aktivitäten in seiner Gutsherrschaft künftig zu unterbinden. Schließlich stellte bereits die Diskussion um die Aufhebung der Hofdienste die Legitimität seiner Gutsherrschaft infrage, eine Verweigerung dieser Dienste durch die Gutsuntertanen rüttelte gar an den politischen und wirtschaftlichen Grundfesten seiner Herrschaft.372 Umso erstaunlicher scheint es auf den ersten Blick, dass v. Alvensleben wenige Zeit nach erstatteter Anzeige zwei Suppliken aufsetzte, in denen er für fünf zur höchsten Strafe verurteilte Untertanen um Strafmilderung bat: Nach seinem Dafürhalten sollten Joachim Gartz, Johann Joachim Thiede und Langnese nur „die Hälfte der bestimmten Zeit[,] so sie im Zuchthause zubringen sollen“ absitzen373, während die Strafen für Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel zeitweilig „wärend der Saatzeit zur Bewirtschafung ihrer Höfe“ ausgesetzt oder aber gänzlich niedergeschlagen werden sollten.374 In dieser Supplik wird nicht um die Gunst des Gnadenträgers gefleht, vielmehr werden Forderungen geäußert. Der Supplikant geht offenbar davon aus, dass ihm als Gutsherrn und Landrat ein gewisses Mitspracherecht bei der Sanktionierung seiner Untertanen zustand. Das Vorgehen v. Alvenslebens, zuerst die vermeintlichen Aufrührer anzuzeigen, um sodann für diese eine Begnadigung zu erwirken, war nur scheinbar inkonsequent.375 Er stand in einem gewissen Dilemma: Zum einen musste er sich gegen370 Zit. aus: Schreiben des Landrats v. Alvensleben an das Altmärkische Obergericht vom 6. Dezember 1794 / Fallakte Heinrich Helmcke, Friedrich Oerlacke, Johann Joachim Kruse, Johann Heinrich Francke; in: ebd., fol. 1. 371 Zur Justiznutzung vgl. Dinges 2000, S. 504 f., 536 f. (zum Konzept s. Einleitung / Forschung). 372 Zu den Besitz- und Rechtsverhältnissen in der Altmark vgl. Enders (Besitz- und Rechtsverhältnisse) 2003. 373 Zit. aus: Supplik des Landrats v. Alvensleben vom 30. Januar 1795 / Fallakte Joachim Gartz, Johann Joachim Thiede und Langnese; in: ebd., o. Fol. 374 Zit. aus: Supplik des Landrats v. Alvensleben vom 27. Februar 1795 / Fallakte Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel; in: ebd., o. Fol. 375 Dieser Fall zeigt einige Parallelen zu dem von Harriet Rudolph untersuchten Gesmolder Bauerntumult auf: Auch hier liegen vereinzelt Supplikationen der lokalen Obrigkeit für die Bauern vor, die ursprünglich von ihr des Tumults angezeigt worden waren – vgl. Rudoph 2005.
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über seinen eigenen Untertanen, aber auch gegenüber den ihm übergeordneten Behörden als strenger Ordnungshüter präsentieren, der Gehorsam verlangte und unerbittlich Rechtsverstöße geahndet und bestraft wissen wollte. Zum anderen aber lag ihm als Grundherrn das wirtschaftliche Wohlergehen seiner Untertanen am Herzen. Schließlich profitierte er von deren Abgaben und war als Eigentümer am gepflegten Zustand der den Bauern in Erbleihe überlassenen Ackerflächen bzw. der in Pacht gegebenen Gehöfte grundsätzlich interessiert.376 Aus diesen Gründen bat v. Alvensleben den Gnadenträger, den fünf Aufrührern die Möglichkeit zu geben, nach ihrer Wirtschaft zu sehen, um die „Erhaltung der Höfe“ zu gewährleisten und dass „damit selbige von einem gänzlichen Verfall gerettet werden“.377 Mit einem Bericht über den Zustand der Höfe belegte v. Alvensleben die Notwendigkeit dieser Maßnahme: „Da von denen zum Zuchthause gebrachten v. Alvenslebenschen Unterthanen der Schulze Gartz zu Bühne, meinen hiesigen Gute verunterthant ist, so habe ich mich nach Bühne begeben, um zu untersuchen wie wärend seiner Abwesenheit die Wirthschaft geführt würde ( . . . ).“378
Die Höfe von Gartz, Thiede, Benecke und Nolop fand er offenkundig in einem passablen Zustand vor, welcher sich nach seiner Ansicht jedoch bei längerer Abwesenheit der beiden Bauern nicht halten ließ.379 Wohl um den Handlungsbedarf zu untermauern, fügte v. Alvensleben als Erläuterung hinzu, die Delinquenten Benecke und Nolop seien: „Besitzer von großen Akerhöfen, bei denen sich bei den bevorstehenden Früjahr, die Arbeiten vermeren, und die einen wuerklichen Wirt verlangen.“380
Die Freilassung der Bauern sollte nach Meinung des v. Alvensleben den befürchteten Niedergang verhindern. Anders stand es hingegen um den Hof von Langnese, der bereits in der fünfmonatigen Abwesenheit seines Wirtes dem Verfall preisgegeben war, denn dort herrsche angeblich: 376 Die Akten geben nur rudimentäre Hinweise auf die spezifischen Besitz- und Rechtsverhältnisse der angeklagten Ackerleute. Offenbar handelte es sich in den meisten Fällen um Besitzverhältnisse, die für die Altmark typischerweise auf dem Erbzins beruhten. Dies bedeutet, dass die Gehöfte Eigentum der Bauern waren, die Nutzungsflächen aber dem Grundherrn gehörten und den Bauern auf Erbleihe gegen Feudalrente überlassen wurden. Die Kossäten wurden hingegen vom Grundherrn als Siedler angesetzt, erhielten ein Haus und ein Stückchen Land, arbeiteten aber vor allem auf dem grundherrlichen Gutshof – zum Erbzinsrecht in der Altmark vgl. Enders (Besitz- und Rechtsverhältnisse) 2003, S. 1 f. 377 Zit. aus: Supplik des Landrats v. Alvensleben vom 27. Februar 1795 / Fallakte Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel; in: ebd. 378 Supplik des Landrats v. Alvensleben vom 30. Januar 1795 / Fallakte Joachim Gartz, Johann Joachim Thiede und Langnese; in: ebd. 379 Vgl. Supplik des Landrats v. Alvensleben vom 30. Januar 1795 / Fallakte Joachim Gartz, Johann Joachim Thiede und Langnese; in: ebd. 380 Supplik des Landrats v. Alvensleben vom 27. Februar 1795 / Fallakte Matthias Benecke, Andreas Nolop und Christoph Kragel; in: ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
„Mangel an Futter und das Wohnhauß, welches den Einsturz drohet und wie mir heute gemeldet worden auch würcklich eingefallen ist, setzen diesen Hof in eine traurige Lage.“381
In diesem Fall mahnte v. Alvensleben schnelle Abhilfe an, um die Familie Langnese vor dem Ruin zu bewahren und sich selbst Mindereinnahmen zu ersparen. Aus dem eigennützigen Motiv machte der Supplikant keinen Hehl, vielmehr begründete er seine Gnadenbitten ganz offen mit dem wirtschaftlichen Interesse der lokalen Obrigkeit am Wohlergehen der ihr gehörenden Höfe. Nach Vorstellung des Gutsherrn und Landrats handelte es sich hierbei offenbar um ein stichhaltiges Argument, welches den Gnadenträger womöglich zu einer Entscheidung im Sinne der Supplik bewegte. Seinen Untertanen hingegen sollte die Supplikation signalisieren, dass er seiner Pflicht als Gutsherr, sie vor dem wirtschaftlichen Ruin zu schützen, nachkam. Damit war ihm die Dankbarkeit dieser Familien sicher, so dass er künftig wieder auf deren Loyalität zählen konnte. Dies half ihm, seine Herrschaft in den Augen seiner übrigen Untertanen zu legitimieren und somit wieder zu festigen.382 In einer vergleichbaren Lage wie v. Alvensleben befand sich der Landrat und Gutsherr v. Schoning: Auch er musste im Fall des wegen Diebstahls verurteilten Bauern und Krügers Sparmann zwischen seiner Verantwortung als lokale Obrigkeit und seinen Interessen als Gutsherr abwägen. Nach einem Jahr in Haft sei Sparmanns Hof „äußerst herunter gekommen“, „welches ohne Wirth besondern zur Aerndte und Saat-Zeit ganz ruiniret, und der Baufälligkeit halber, wüste werden muß.“383 Wie schon v. Alvensleben, erstattete auch v. Schoning Bericht über den desolaten Zustand des Hofes und verwies auf seine Aufgaben als lokale Obrigkeit: „Allein meine Pflicht erfordert es, für die Conservation der contributablen Güter im Creise, und dafür zu sorgen, daß solche nicht wüste werden ( . . . ).“384
V. Schoning bat nicht, vielmehr beantragte er damit die vorzeitige Entlassung Sparmanns zur Erntezeit – eine Lösung, die ganz im Sinne des von den Erträgen des Hofes profitierenden Gutsherrn lag. Zugleich versuchte v. Schoning, mögliche Bedenken des Gnadenträgers auszuschalten: „Sein Vergehen welches er [Sparmann] izt sehr bereut, ist zwar der Strafe angemeßen.“385
V. Schoning führte die angeblichen Reuegefühle des Delinquenten an, mit denen er belegen wollte, dass die Strafe bei Sparmann bereits die von der Obrigkeit er381 Supplik des Landrats v. Alvensleben vom 30. Januar 1795 / Fallakte Joachim Gartz, Johann Joachim Thiede und Langnese; in: ebd. 382 In einem weiteren Fall folgt die Argumentation in den Suppliken den hier dargelegten Interessenlagen – vgl. Suppliken des Prignitzer Landrats zu Rohr vom 3. April 1789 und 4. Februar 1790 / Fallakte Jacob Teisch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.177, fol. 403 – 404 und fol. 406. 383 Zit. aus: Supplik des Landrats Freiherr v. Schoning vom 5. August 1789 / Fallakte Sparmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055. 384 Ebd. 385 Ebd.
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hoffte Wirkung zeigte. Demnach bestand – zumindest aus der Sicht des Supplikanten – keine objektive Notwendigkeit mehr, an der Fortsetzung der Freiheitsstrafe festzuhalten. V. Schoning wollte mit seiner Supplikation aber nicht den Anschein erwecken, dass er die Entscheidung des Gerichts nicht mittrug; daher flocht er ein, dass er die Strafe dem Vergehen angemessen befand. Wie sehr sich die Gutsherren und Landräte des Dilemmas bewusst waren, zeigt sich darin, dass sie mit keinem Wort die Vergehen ihrer Untertanen klein zu reden versuchten. Die Versicherung, dass die Strafe ihre abschreckende Wirkung bereits unter Beweis gestellt habe, stellte offensichtlich eine gängige Taktik der Supplikanten obrigkeitlicher Provenienz dar. So begründete zum Beispiel der Landrat v. Karstedt seine Gnadenbitte für Georg Vollrath Wieher damit, dass das Gerichtsurteil „bey denen übrigen Einwohnern im Dorfe, und der benachbarten Gegend Eindruck genug gemacht“ habe.386 Der Sinn der Strafe wurde demnach an seiner abschreckenden Breitenwirkung bemessen und die Einlösung des Strafzwecks war offenbar Voraussetzung für eine Strafmilderung. Während Familienangehörige zwar dieselbe Taktik verfolgten, jedoch lediglich auf die Reue der angeklagten bzw. verurteilten Person verwiesen, nahm sich die supplizierende lokale Obrigkeit heraus, dies gegenüber dem Gnadenträger tatsächlich beurteilen zu können. An dieser Stelle offenbart sich die unterschiedliche Machtposition der Supplikanten, die wiederum andere Taktiken bedingte. Im Fall Wieher bedurfte es nicht nur dieser Versicherung, sondern darüber hinaus auch der Vergebung von Seiten der lokalen Obrigkeit, da diese hier als Klägerin und geschädigte Partei auftrat: Der Untertan Georg Vollrath Wieher hatte sich zur Wehr gesetzt, als er von seinem Gutsherrn und Landrat Jurgas mit einem Stock traktiert wurde, zu dem jener gegriffen hatte, als er Wieher wegen Misshandlung seiner Ehefrau zur Rede stellen wollte. Das Gericht bewertete Jurgas Vorgehen als unrechtmäßiges Schlagen eines Untertanen, sah in Wiehers Gegenwehr „eine Art von Vertheidigung“ und erkannte dies als einen mildernden Umstand an.387 Da der von Wieher attackierte Landrat Jurgas mittlerweilen verstorben war, befand sein Nachfolger, Landrat v. Karstedt, dass einer Vergebung nun nichts mehr im Wege stand. In seiner Funktion als Vormund von Jurgas Tochter verkündete der Landrat in der Supplik, dass er Wiehers „begangenes Verbrechen verzeihe[n]“ wolle.388 Die Geste des Verzeihens gehörte zum Repertoire der paternalistischen Herrschaftspraxis: Eine solche Geste paternalistischer Fürsorge, auf die der Untertan keinen Anspruch hatte, eignete sich dazu, die Macht der lokalen Obrigkeit zu inszenieren. Eine auf diese Weise evozierte Loyalität der Untertanen gegenüber 386 Zit. aus: Supplik des Landrats v. Karstedt vom 30. Mai 1788 / Fallakte Georg Vollrath Wieher; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985. 387 Zit. aus: Rechtsgutachten vom 22. Oktober 1787 / Fallakte Georg Vollrath Wieher; in: ebd. 388 Zit. aus: Supplik des Landrats v. Karstedt vom 30. Mai 1788 / Fallakte Georg Vollrath Wieher; in: ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
ihrer Obrigkeit bildete zusammen mit der auf Untertanenpflichten beruhenden Herrschaft den Kitt frühneuzeitlicher Herrschaftsstrukturen. Sein Engagement begründete der Landrat v. Karstedt damit, dass die Familie Wieher durch das Fehlen ihres Ernährers verarmt sei und daher auf die Hilfe anderer angewiesen sei; mit anderen Worten: Die Familie erhielt vermutlich Unterstützung aus der Armenkasse, welche von der Obrigkeit getragen war. Der Landrat stellte seine Supplikation in die paternalistische Tradition, welche die Obrigkeit zum Schutz der Untertanen verpflichtete. Hinter der gönnerhaft wirkenden Geste stand allerdings das Kalkül, dass eine Begnadigung im obrigkeitlichen Interesse stand. So ist der Supplik des Pupillen-Kollegiums389, dem inzwischen die Vormundschaft über die Tochter Jurgas übertragen worden war, zu entnehmen, dass die Armenfürsorge zu Lasten der Jurgas ging: „So gerecht die dem Wieher zuerkannte Strafe zur Genugthuung für die beleidigte Obrigkeit an sich ist, so ist es doch aber diese Obrigkeit, welche dadurch, daß seine nachzulaßene minderjährige Tochter die Wieherschen Kinder alimentiren muß, mit gestraft wird ( . . . ).“390
Insgesamt müsste die Tochter Jurgas die Summe von insgesamt 24 Reichstalern aufbringen, wenn sie die Familie Wieher für die restliche Arrestzeit von einem Jahr weiterhin mit monatlich zwei Reichstalern unterstützen sollte.391 Mit der vorzeitigen Entlassung aus der Haft sollte also die Tochter Jurgas finanziell entlastet werden, so die Intention des Pupillen-Kollegiums. Aus Sicht des Kollegiums wurde der Strafzweck offenbar infrage gestellt, wenn die Bestrafung der Untertanen zu materiellen Lasten der lokalen Obrigkeit ausfiel. Eine andere Strategie verfolgte der Landrat und Gutsherr v. Arnim in seiner Supplik, um den Gnadenträger von seiner Ansicht zu überzeugen: Obwohl v. Arnim seine Drescher wegen „langjährigem Getreide-Diebstahls“ selbst als geschädigter Gutsherr angezeigt hatte, plädierte er nach der Urteilsverkündung für eine Strafmilderung zugunsten der Verurteilten Daniel Schröder, Christian Dowe, Abraham Pittack, Joachim Adermann und Dehne: „Ich kenne diese Leute ganz genau. Es sind verführte aber sonst gute Menschen, welche sich gewiß beßern werden, wenn ich sie im Gute behalten kann, und sie allenfalls mit einer landüblichen Züchtigung im Orte belegen werden. Werden diese Leute dahingegen zum Vestungsbau unter einen ganzen Schwarm von Dieben und Bösewichtern gebracht, so wird ihr moralischer Character von Grund aus verdorben, und sie sind auf immer verlohren. Dies iammert mich, besonders da die mehrsten dieser Leute zahlreiche Familien und viele kleine Kinder haben. Ich bin der eintzige, welchen diese Leute mit ihren Getreide-Diebereyen beleidiget, und will ihnen gerne vergeben, verlange auch keine Erstattung ( . . . ).“392 389 Das kurmärkische Pupillen-Kollegium führte die Ober- und Vormundschaft über kurmärkische Unmündige, die der Gerichtsbarkeit des Kammergerichts unterstanden. 390 Supplik des Pupillen-Kollegiums vom 28. Juli 1788 / Fallakte Georg Vollrath Wieher; in: ebd. 391 Vgl. ebd.
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Nicht für das Vergehen, aber für die Verurteilten fand v. Arnim entschuldigende Worte, indem er ihren guten Leumund hervorhob und sie als Verführte hinstellte [s. C.II.5.a)aa)]. Seine Funktion als Gutsherr gab ihm nach seinem Dafürhalten die nötige Autorität, für ihre Besserung zu bürgen. V. Arnim war sich nicht nur seiner Rolle als paternalistischer Gutsherr, der sich der Nöte seiner Untertanen annahm, sondern auch seiner Rolle als Ordnungshüter bewusst, der einen Gesetzesverstoß nicht ungestraft durchgehen lassen konnte. In seiner Supplik schlug er vor, die Sanktionierung der Delinquenten in seiner Funktion als Gutsherr selbst zu übernehmen. Von einer in der Gutsöffentlichkeit inszenierten Züchtigung versprach sich v. Arnim vermutlich eine disziplinierende Wirkung auf die übrigen Gutsuntertanen. Dem Strafvollzug hingegen traute v. Arnim nicht zu, den Strafzweck zu erreichen. Nach seiner Meinung leistete eine Zuchthausstrafe in keiner Weise einen Beitrag zur moralischen Besserung der Delinquenten, vielmehr werde dort die Moral der Insassen durch den Umgang mit Schwerverbrechern gründlich verdorben393 – eine an Deutlichkeit kaum zu überbietende Kritik am Strafvollzug seiner Zeit, die letztlich nur dazu diente, den Gnadenträger davon zu überzeugen, dass die Bestrafung der Gutsuntertanen am besten in seine Hand zu legen sei. Ähnlich wie die Brotherrschaft [s. B.I.7.] ging auch v. Arnim offenbar davon aus, dass er bei der Sanktionierung seiner Untertanen ein Mitspracherecht besaß, welches er nun im Wege der Supplikation einzufordern versuchte. Insbesondere als materiell Geschädigter und – durch die Missachtung der durch ihn repräsentierten Ordnung – als Beleidigter sah er sich befugt, seinen Dreschern zu vergeben. Wie im Fall von v. Karstedt ist diese Geste des Verzeihens im Koordinatensystem des paternalistischen Machtverhältnisses zwischen Gutsherrn und Untertanen verankert: Sich bei der Herrschaftsausübung von Mitleid und Güte leiten zu lassen, förderte die Dankbarkeit der Untertanen, stärkte ihre Loyalität und produzierte letztlich die Legitimität ihrer Herrschaft.394 V. Arnims Gnadenbitte unterscheidet sich insofern von den Suppliken anderer Amtsträger, als er zumindest explizit keine wirtschaftlichen Gründe anführte, sondern allein sein Mitleid mit den Familien der Verurteilten als Motiv für sein Handeln angab.395 Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass v. Ar392 Supplik des Landrats und Gutsherrn v. Arnim vom 18. Juni 1795 / Fallakte Daniel Schröder, Abraham Pittack, Joachim Adermann, Christian Dowe, Dehne; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.063. 393 Vgl. ebd. 394 Dieselbe Absicht verbarg sich hinter einer Supplik des Wittstocker Magistrats. Allerdings zeichnete sich diese Gnadenbitte durch starken Formalismus aus. Der Magistrat war offenbar von der Betroffenen selbst zu diesem Schritt aufgefordert worden und nahm dies zum Anlass, nicht nur die Interessen der Untertanin gegenüber der Justiz, sondern auch die eigenen Machtinteressen zu vertreten – vgl. Supplik des Wittstocker Magistrats vom 11. November 1786 / Fallakte Friederike Dorothee Pieper; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. 395 Mit der Taktik, auf Mitleid zu setzen, stand v. Arnim allerdings nicht alleine da: Die Supplik der Kriegs- und Domänenkammer zu Posen appellierte z. B. ebenfalls an das Mitleid
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
nims Vorschlag dennoch von wirtschaftlichem Kalkül bestimmt war. Schließlich stand die Ernte kurz bevor; damit war ein erhöhter Bedarf an Dreschern gegeben – und eine möglichst verlustarme Ernte lag im Interesse eines jeden Gutsherrn. Dass wirtschaftliche Gründe ein zentrales Motiv für die Supplikation lokaler Obrigkeiten insgesamt waren, belegt der folgende Fall: Hier war es das volkswirtschaftliche Interesse der Stadt Nauen, welches den Magistrat bewog, im Namen der Bürgerschaft um Begnadigung des wegen Betrugs verurteilten Stellmachermeisters Johann Friedrich Pinckow zu bitten [s. C.II.6.a)]. Da im Ort ein akuter Mangel an Stellmachern herrschte, ging die „Gespannhabende Bürgerschaft“396, rund 160 Bürger, ihre Stadtverordneten an.397 Diese wurden aus strategischen Gründen eingeschaltet, da mit ihnen als Repräsentanten der Zünfte und Stadtviertel politisch Druck ausgeübt werden konnte. Die Stadtverordneten trugen ihr Anliegen dem Magistrat vor, welcher die mündlich vorgetragene und vom Nauener Stadtschreiber protokollierte Supplik zusammen mit einer im Namen des Magistrats verfassten Supplik weiterleitete. In letzterer wird die aktuelle Situation in Nauen ausführlich geschildert: „Es ist die reinste Wahrheit, daß gegenwärtig nur ein einziger Stellmacher sich hier befindet, und daß dieses für den großen Bedarf an Waagen nichts sagen will. Dieser Stellmacher ist aber noch dazu schwächlich und treibt die Profession nicht sonderlich. Der zweite Stellmacher war zugleich Soldat und ist vor wenig Wochen mit dem Regiment Prinz Ferdinant ausmarchiert.“398
des Lesers. Darin setzte sich die Behörde für die Ehefrau des bei der Kammer beschäftigten Boten ein, die wegen Veruntreuung von angemieteten Betten in Haft saß. Das Anliegen der Kriegs- und Domänenkammer bestand darin, den Kindern, die sich selbst überlassen waren, wieder „mütterliche Pflege zu verschaffen“. Von Seiten der Kammer bestätigte man, dass der Bote sich aufgrund seines Dienstes weder um sie kümmern, noch mit seinem geringen Verdienst eine Aufsichtsperson bezahlen könne. Der Fall ist außerdem ein Beispiel dafür, dass Supplikationen nicht nur von der unteren, sondern vereinzelt auch von der mittleren Herrschaftsebene ausgehen konnten – vgl. Supplik der Posener Kriegs- und Domänenkammer vom 19. August 1793 / Fallakte Caroline Wiedemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. Auch der Gutsherr v. Platen begründete seine Bitte auf Freilassung der wegen „Beherbergung von Vagabonden“ verurteilten Eheleute Blüthmann mit der Lage der nun verwaisten Blüthmannschen Kinder – vgl. Supplik des Gutsherrn v. Platen vom 12. Dezember 1788 / Fallakte Eheleute Blüthmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.054. Ebenfalls aus Mitleid engagierte sich der Bürgermeister Müller für die wegen Bigamie verurteilte Elisabeth Kleinecke, da sie ihn wegen ihrer „ganz entsezlichste[n] Einfalt“ und ihrer „Seelen und Körperschwäche“ dauerte – vgl. Suppliken des Bürgermeisters Müller zu Seehausen vom 3. Juli 1797 und 20. Juli 1798 / Fallakte Elisabeth Kleinecke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 396 Supplik des Nauener Magistrats vom 31. Januar 1793 / Fallakte Johann Friedrich Pinckow und Ehefrau (intus: Mutter und Sohn Langermann); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 397 Zu den Stadtverordneten vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 244. 398 Supplik des Nauener Magistrats vom 31. Januar 1793 / Fallakte Johann Friedrich Pinckow und Ehefrau; in: ebd.
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Dass nun „der p[raedictus] Pinckow als der vorzüglichste Stellmacher jetzt auch abwesend“ sei, gereiche den Nauener Bürgern „zur großen Belästigung“.399 Denn Nauen habe einen „erstaunliche[n] Windbruch in der Stadheide“ zu beklagen und daher müssten derzeit verstärkt Gespanne eingesetzt werden, um den Forst vor Mai wegen des „Viehtreibs“ zu räumen.400 Argumentiert wird hier mit der Instandhaltung der Straßen und Wege im Stadtgebiet, die eine der wenigen Aufgaben darstellt, welche einem kurmärkischen Magistrat aus der früheren Fülle an Zuständigkeiten Ende des 18. Jahrhunderts noch verblieben war.401 So erging folgender Appell der Stadtverordneten an den Gnadenträger: „Wenn also unser Ackerbau und das Fuhrwesen in der Heyde nicht leiden soll, so ist zu wünschen, daß dieser Pinckow sobald als möglich zu seiner Werck-Statt wieder zurück kehren möge, und dieses ist der Wunsch der ganzen in der größten Verlegenheit sich befindenden Bürgerschaft.“402
Während die Stadtverordneten das Interesse eines Großteils der Bürgerschaft an einem funktionierenden Stellmachergewerbe vertraten, griff der Magistrat in seiner Zuständigkeit für den städtischen Verkehr auf volkswirtschaftliche Argumente zurück, um den Stellmachermeister zu halten. Darüber hinaus stellte der Magistrat Pinckow ein Leumundszeugnis aus, welches die Funktion hatte, dessen persönliche Schuld an der Veruntreuung von Geldern zu mindern und durch die angebliche Mitschuld Dritter zu entschuldigen:403 „Der Pinckow, Allergnädigster König und Herr! ist sonst ein guter, friedliebender Mann und der sich nie irgend einer Unredlichkeit zu Schulden kommen laßen. So wie er vorhin allgemein geliebt war, so ist jetzt der Gegenstand des allgemeinen Bedauerns, indem man durchgehend überzeugt ist, daß er überlistet, und aus Unvorsichtigkeit, und durch seine Frau ins Unglück gestürzet worden.“404
Die Überlegung des supplizierenden Magistrats ging wohl dahin, dass es den Gnadenträger vermutlich überzeugen würde, wenn einem Handwerker trotz eines Vergehens durch die städtische Obrigkeit ein solch gutes Zeugnis ausgestellt Zit. aus: ebd. Zit. aus: ebd. 401 Zu den Aufgaben eines Magistrats vgl. Felix Escher, Die brandenburgisch-preußische Residenz und Hauptstadt Berlin im 17. und 18. Jahrhundert; in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins, 1. Bd.: Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, Berlin 2002, S. 343 – 406, hier S. 362 – 364; vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 239 – 246, bes. S. 243 f. 402 Supplik der Nauener Stadtverordneten vom 31. Januar 1793 / Fallakte Johann Friedrich Pinckow und Ehefrau; in: ebd. 403 Nach einer ähnlichen Logik verfuhr der Charlottenburger Magistrat: In seiner Supplik für Gottfried Wolff führte er neben zahlreichen mildernden Umständen vor allem den guten Leumund des Zimmergesellen an – vgl. Supplik des Charlottenburger Magistrats vom 27. November 1788 / Fallakte Gottfried Wolff; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985. 404 Supplik des Nauener Magistrats vom 31. Januar 1793 / Fallakte Johann Friedrich Pinckow und Ehefrau; in: ebd. 399 400
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wurde – dies sollte wohl als Beweis für dessen Fähigkeiten und für dessen soziale Stellung in der Stadt dienen. Vor allem aber spricht es für die Dringlichkeit, mit der die Nauener Bürgerschaft einen kompetenten Stellmachermeister benötigten, wenn man von Amts wegen bereit war, die eigentliche Schuld am Vergehen bei der Ehefrau zu suchen. Es ist anzunehmen, dass hinter dieser Schuldzuweisung eine Strategie stand, denn die Ehefrau war in der Tat vom Gericht für mitschuldig befunden worden: Da sie aber ihre Strafe bereits abgesessen hatte, waren von der Beschuldigung des Magistrats keine strafrechtlichen Konsequenzen mehr zu erwarten. Ein Blick auf die Machtverhältnisse zwischen den beteiligten Behörden lässt allerdings bezweifeln, dass ein rein wirtschaftlich begründetes Motiv hinter der Supplikation des Magistrats stand. Im Fall Pinckow versuchte der Magistrat zu Nauen vielmehr auch, seine nach der friderizianischen Reform der Lokalverwaltung405 übrig gebliebene bescheidene städtische Macht als eine nunmehr untergeordnete königliche Behörde zu demonstrieren: Das Urteil des Kammergerichts im Fall Pinckow stellte der Magistrat bewusst als den Interessen der Stadt Nauen entgegengerichtet dar. Hier zeichnet sich eine gewisse Rivalität zwischen dem Magistrat und der Justiz ab. Diese liegt darin begründet, dass die Magistrate in Brandenburg-Preußen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ursprünglich auch die Gerichtshoheit ausübten; nach der Reform waren ihnen davon lediglich die Zivilrechtsangelegenheiten und die Policey-Sachen geblieben.406 Parallel zum Machtverlust der Magistrate gewann das Kammergericht an Einfluss: Es war nicht nur die strafrechtliche erste Instanz für die Kurmark, sondern bildete auch die zweite Instanz für Zivilrechtssachen; darüber hinaus hatte es sich zur zentralen Institution der landesherrlichen Gerichtsbarkeit in Strafrechtssachen entwickelt.407 Der Fall Pinckow konnte in der Tat dazu beitragen, die Konkurrenz zwischen städtischer Obrigkeit und Justiz auf Provinzialebene zu schüren: Denn die dem Stellmachermeister vorgeworfene Veruntreuung von Geldern stellte einen Tatbestand dar, der nach Interpretation der städtischen Administrativjustiz408, welche sich vor allem um Marktverkehr, Gewerberecht und Zunftwesen kümmerte, womöglich auch in der Zuständigkeit des Magistrats hätte liegen können. Vor diesem Hintergrund kann die Supplikation des Magistrats auch als Versuch verstanden werden, sich gegen seinen fortschreitenden Bedeutungsverlust im Rahmen der Ausdifferenzierung der Verwaltung und der Justiz zur Wehr zu setzen. Eine Sonderstellung unter den obrigkeitlichen Supplikationen nimmt das Gesuch der Hildesheimer Regierung für Heinrich Schäfer ein: In diesem Fall handelte es sich um eine supplizierende Obrigkeit, die den Behörden Brandenburg-Preußens nicht unterstellt war, vielmehr repräsentierte die Fürstbischöfliche Regierung zu Vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 239 – 246, bes. S. 243 f. Zu den Aufgabengebieten der Magistrate vgl. Escher 2002, S. 362 – 364. 407 Zur Entwicklung und Bedeutung des Kammergerichts als Gegenpol zu den ständischen Interessen vgl. Schmidt 1968, S. 19 ff. 408 Vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 244. 405 406
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Hildesheim eine eigenständige Herrschaft. Etwa sechs Wochen nach Urteilsverkündung reichte die Regierung eine Supplik, auch Intercession409 genannt, ein, in der sie um „Loslassung“ ihres Untertanen Heinrich Schäfer, der als Tischlergeselle in Berlin lebte, bat.410 Schäfer war zusammen mit insgesamt 62 Gesellen der Teilnahme an einem Gesellenaufstand überführt worden, im Zuge dessen waren das Schettnersche Haus demoliert und die anrückende Wache attackiert worden. Als angeblicher Rädelsführer wurde Schäfer zu lebenslanger Haft nebst Züchtigung verurteilt. Für das Eingreifen der Hildesheimer Regierung sind politische Motive anzunehmen, obwohl diese ihre Supplikation nicht weiter begründete: Auch wenn Schäfer seinen Wohnsitz dauerhaft nach Berlin verlagert hatte, so blieb er doch durch Geburt ein Untertan der Fürstbischöflichen Regierung zu Hildesheim. Aus der Perspektive Hildesheims galt es daher, die faktische Gerichtshoheit über diesen Untertan wieder zu erlangen, indem man sich als dessen eigentliche Obrigkeit ins Spiel brachte. Der Fall Schäfer geriet zum Objekt diplomatischer Interessen. Man versuchte, die eigene Herrschaft mit den ihr eigenen Rechten gegenüber dem mächtigen Nachbarn Brandenburg-Preußen zu behaupten.411 b) Militär Neben der lokalen Obrigkeit weist der Quellenfundus überdies Militärs vom Rang eines Generalmajors, eines Regimentschefs und eines Oberstleutnants als Supplikanten auf. Den Staatsdienern und Militärs ist gemeinsam, dass die Supplikanten gegenüber den von ihnen zur Begnadigung Vorgeschlagenen eine landesherrlich vorgesetzte Stellung einnahmen und hier formal in ihrer Funktion als 409 Die Intercession i. S. von Vermittlung, Verwendung oder Fürsprache von fürstlicher Seite auf zwischenstaatlicher Ebene wird als eine Spielart der Supplik behandelt [s. auch B.I.10.], da auch für eine ausländische Herrschaft keine andere Möglichkeit bestand, um in einen Fall einzugreifen, als Friedrich Wilhelm II. um Gnade zu bitten. 410 Die Supplik der Fürstbischöflichen Regierung zu Hildesheim ist den Akten entnommen worden; überliefert ist lediglich das den Inhalt der Supplik wiedergebende Begleitschreiben des Auswärtigen Departements vom 20. Juli 1795 / Fallakte Heinrich Schäfer (intus: Tescher, Reichert, Bergmüller), in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241. 411 Intercessionen anderer Herrschaften wurden z. B. in der Konstanzer Gnadenpraxis des Spätmittelalters – hier zumeist von anderen Städten, auswärtigen Adligen etc. – durchaus häufig praktiziert. Für den Konstanzer Rat bedeutete dies, bei der Gnadenentscheidung die Bedeutung der fürbittenden Partei in Bezug auf die Sicherheits- und Schutzinteressen der Stadt zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund gelangt Peter Schuster zu der These, dass Gnade auch eine außenpolitische Dimension besaß – vgl. Schuster 2000, S. 306 – 311. Für Brandenburg-Preußen kann dies allerdings nicht bestätigt werden, da nur wenige Supplikationen für in der Kurmark lebende Angeklagte bzw. Verurteilte von Seiten Auswärtiger eingereicht wurden. Als eine der führenden Mächte seiner Zeit hatte es Brandenburg-Preußen – anders als eine Reichsstadt – außerdem nicht nötig, auf die Interessen einer fürbittenden auswärtigen Herrschaft Rücksicht zu nehmen. So wurde z. B. die Supplik der Fürstbischöflichen Regierung zu Hildesheim für Heinrich Schäfer aufgrund der Schwere seines Vergehens „abschläglich“ beschieden – zit. aus: Dekret über abgelehnte Gnadenbitte vom 28. Juli 1795 / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd.
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Amtsträger handelten. Auch das Interesse, welche die Staatsdiener und Militärs mit der Supplikation verbanden, ist zumeist vergleichbar: Von einer Begnadigung erhoffte man sich, den Delinquenten vor Ort halten zu können – sei es auf seinem Hof, seinem Gewerbe oder im Regiment – und dabei die Sanktionshoheit über ihn übertragen zu bekommen. In den vorliegenden vier Fällen verhielt es sich allerdings so, dass die Vergehen vom Delinquenten noch im zivilen Stand, also vor Eintritt ins Militär, verübt worden waren.412 Nachdem der Böttchergeselle Johann Heinrich Hobeck Zichorien, also Kaffeeersatz, gestohlen hatte, verließ er seine Heimat und bewarb sich freiwillig beim Militär, bevor es zu einem Prozess gegen ihn kam.413 Ähnlich verhielt es sich im Fall des 18-jährigen Johann Gottfried Hiller, der mit einem gestohlenen Geldbrief die Flucht antrat und sich dann beim Militär verpflichtete, wo er bereits vier Monate diente, als der Prozess gegen ihn eingeleitet wurde.414 Auch dem ehemaligen Bedienten Johann Friedrich Wilhelm Boecker gelang es, beim Militär unterzutauchen, bevor entdeckt wurde, dass er mehrere Hausdiebstähle begangen und dabei seinem früheren Brotherrn u. a. Kleidung, Messer und silberne Löffel entwendet hatte.415 Anders liegt der Fall des wegen Totschlags verurteilten Mühlenburschen Christian Juncker: Knapp sechs Jahre Festungsarrest seiner lebenslänglichen Freiheitsstrafe verstrichen, bevor sich ein Militär für Junckers Freilassung und Aufnahme in seine Kompanie einsetzte.416 Auf die Frage, warum das Militär ein attraktiver Zufluchtsort für männliche Delinquenten war, gibt es mehrere Antworten: Zum einen sahen sie außerhalb ihres sozialen Umfeldes – so etwa auf der Flucht oder nach Entlassung aus der Haft – keine Alternative, ihr Auskommen zu sichern. Das Militär galt den Untertanen offensichtlich als Institution, welche männlichen Untertanen ohne Aussicht auf eine Existenzgrundlage eine Chance für einen Neuanfang bot. Möglich ist auch, dass Untertanen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, hofften, beim Militär dem drohenden Prozess und der Freiheitsstrafe zu entgehen. Tatsächlich versuchten die militärischen Vorgesetzten dahingehend auf den Strafvollzug Einfluss zu nehmen, dass die Delinquenten von der gerichtlich festgesetzten Freiheitsstrafe freigesprochen wurden, um sie stattdessen dem Gassenlaufen bzw. Spießruten412 Dies erklärt, warum diese Delikte vor dem üblichen zivilen Strafgericht verhandelt wurden und nicht, wie es bei Militärangehörigen üblich gewesen war, vor einem Militärgericht. 413 Vgl. Supplik des Generalmajors v. Kunheim vom 4. Oktober 1797 / Fallakte Johann Heinrich Hobeck; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.065. Es ist möglich, dass es sich bei v. Kunheim um eine Namensvariante des Geschlechts der v. Kuenheim handelt. 414 Vgl. Supplik des Generalmajors v. Meerkatz vom 7. November 1794 / Fallakte Johann Gottfried Hiller; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.060. 415 Vgl. Supplik des Regimentschefs Friedrich August Gab vom 21. März 1789 / Fallakte Johann Friedrich Wilhelm Boecker; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055. 416 Supplik des Oberstleutnants v. Brieze vom 26. September 1787 / Fallakte Christian Juncker; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.181.
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lauf 417 zu unterziehen.418 Diese beim Militär übliche Strafe bedeutete zwar, eine ebenso ehrenrührige wie schmerzvolle Prozedur auf sich zu nehmen; diese Disziplinierungsmaßnahme war jedoch im Vergleich zu einer mehrmonatigen Freiheitsstrafe ungleich schneller überstanden und insofern weniger hart.419 Schließlich konnte man den Ehrverlust langfristig durch außerordentliche kriegerische Verdienste wieder wettmachen. Anders als bei den widrigen Zuständen im Zuchthaus oder in der Festung bestand für die vom Militär gemaßregelten Delinquenten eine gewisse Garantie, dass sie die Strafe überlebten. Schließlich war das Militär daran interessiert, die Arbeitskraft seiner Soldaten zu erhalten. So formulierte der Regimentschef Gab seine Sorge um die körperliche Konstitution seines jüngst hinzugewonnenen Soldaten Boecker: „Da ich nun befürchte, daß der Aufenthalt in Spandau seiner Gesundheit nachtheilig werden mögte ( . . . ).“420
Die Krankheit erregenden Zustände auf der Festung Spandau waren hinlänglich bekannt. Für das Militär bestand also das Risiko, den Soldaten nach seiner Entlassung als untauglich ausmustern zu müssen. Als weiteres Argument, die Delinquenten militärischer Strafgewalt zu unterstellen, führten die supplizierenden Militärkommandeure die Behauptung an, dass von der im Militär üblichen Bestrafung eine stärker disziplinierende Wirkung ausginge, als dies bei der Freiheitsstrafe der Fall sei. So stellte Generalmajor v. Kunheim fest: „Da jedoch die Erfahrung lehrt, daß dergleichen Bestrafung [Zuchthausarrest] gewöhnlich ihren zweck verfehlen, im Gegentheil diese noch mehr nachtheiligen Einfluß haben ( . . . ).“421
Man hatte in Brandenburg-Preußen die Erfahrung gemacht, dass entlassene Häftlinge rückfällig wurden. Die Gründe mögen verschieden sein, fest steht: Den Entlassenen blieb häufig keine wirtschaftliche Grundlage außerhalb der Gefängnismauern und aufgrund ihrer unehrenhaften Vergangenheit bekamen sie selten die 417 Dabei handelt es sich um eine beim Militär häufig praktizierte Prügelstrafe, bei welcher der Delinquent eine Doppelreihe von bis zu 200 Soldaten durchschreiten musste, die ihn mit Ruten traktierten – vgl. Martin Guddat, Handbuch zur preußischen Militärgeschichte 1701 – 1786, Hamburg / Berlin / Bonn 2001, hier S. 260. 418 Vgl. Supplik des Generalmajors v. Kunheim vom 4. Oktober 1797 / Fallakte Johann Heinrich Hobeck; in: ebd.; vgl. Supplik des Generalmajors v. Meerkatz vom 7. November 1794 / Fallakte Johann Gottfried Hiller; in: ebd.; vgl. Supplik des Regimentschefs Friedrich August Gab vom 21. März 1789 / Fallakte Johann Friedrich Wilhelm Boecker; in: ebd. 419 Einem anderen Fall ist zu entnehmen, dass der Hauptschuldige einer Schlägerei, der als Soldat vor ein Militärgericht gestellt wurde, mit einer milderen Strafe als seine Komplizen, die von einem zivilen Gericht verurteilt wurden, belegt wurde – vgl. Anmerkung zur Person Freymuth in der Supplik des Charlottenburger Magistrats vom 27. November 1788 / Fallakte Gottfried Wolff; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985. 420 Supplik des Regimentschefs Friedrich August Gab vom 21. März 1789 / Fallakte Johann Friedrich Wilhelm Boecker; in: ebd. 421 Supplik des Generalmajors v. Kunheim vom 4. Oktober 1797 / Fallakte Johann Heinrich Hobeck; in: ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Chance, ihre Profession wieder auszuüben. In den Augen der Militärkommandeure erschien die Rückfälligkeit der Delinquenten als Versagen des zivilen Strafsystems. Der Freiheitsstrafe wurde der Militärdienst als erfolgreiche Alternative gegenübergestellt. Sinn und Zweck einer Strafe wurden beim Militär utilitaristisch verstanden: Da ein Delinquent sein Vergehen gegenüber der Herrschaft wieder gutmachen musste, sollte diese bestimmen, wo ihr der Sünder am nützlichsten sei – und aus obrigkeitlicher Sicht bot sich dabei der Dienst in der Armee an. Offen bleibt die Frage, warum sich Militärkommandeure für Delinquenten einsetzten, denen offensichtlich ein schweres Vergehen nachgewiesen werden konnte, wo doch das Militär offiziell als Hort der Disziplin und Tugend galt. Die Vermutung liegt nahe, dass sich das Militär ungern von zivilen Behörden in Personalangelegenheiten von Soldaten hineinreden ließ: Mit den Suppliken versuchten die Militärkommandeure, die Personalhoheit über ihre Soldaten auch für die vorausgegangene Zeit ihres zivilen Lebens zu erlangen. Wären die betreffenden Delinquenten zur Zeit des Vergehens bereits dem Militär verpflichtet gewesen, so wären die Strafrechtssachen bei einem Militärgericht anhängig.422 Da dies aber nicht der Fall war, war die zivile Gerichtsbarkeit für diese Angelegenheiten formal zuständig. Man hielt es offenbar in diesen Fällen nicht für notwendig, eine gemischte Kommission aus Zivilgerichtspersonen und Offizieren einzurichten – eine Maßnahme, die im Falle doppelter Zuständigkeit und unklarer Kompetenzverhältnisse zwischen der zivilen und militärischen Gerichtsbarkeiten üblicherweise ergriffen wurde.423 Die Justiz hatte sich offensichtlich dagegen entschieden, eine diplomatische Lösung – indem man das Militär in diesen Fällen konsultierte – zu finden. Dies hatte zur Folge, dass sich das Militär von der Justiz übergangen fühlte und daher zur Supplikation griff, die eine Möglichkeit darstellte, um auf die Strafsache Einfluss zu nehmen. Neben dem Kompetenzstreit ist zudem ein personalwirtschaftlicher Grund anzunehmen: Seit Brandenburg-Preußen unter dem Soldatenkönig alles daran setzte, eine militärische Großmacht in Europa zu werden, und seit unter Friedrich II. zahlreiche Kriege geführt wurden, war der Bedarf an Soldaten so hoch, dass er durch Anwerbung von Freiwilligen nicht gedeckt werden konnte. Daher wurde ein System der Zwangsrekrutierung im gemeinen Volk eingeführt, welches bei der Bevölkerung verhasst war.424 Dem Militär waren viele Mittel recht, neue Rekruten auszumachen und bereits Angeworbene dauerhaft zu halten, so dass man sich nicht scheute, wie diese Fälle zeigen, auch auf Straffällige zurückzugreifen. Dabei waren für das Militär vor allem körperlich belastbare Männer interessant. So kommentierte Oberstleutnant v. Brieze in seinem Empfehlungsschreiben die Statur des lebenslänglich verurteilten Christian Juncker: Zum Militärgerichtswesen vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 234 f. Vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 234. 424 Allgemein zum System der Rekrutierung von Soldaten für das brandenburg-preußische Militär: vgl. Schoeps 1995, S. 54; vgl. Hintze 1987, S. 283 – 286. 422 423
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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„Gedachter Arrestant Juncker ist ein ansehnlicher Mensch von 8. Zoll, der Euer Königlichen Majestaet getreu und ehrlich zu dienen verspricht.“425
Eine größere Chance auf Begnadigung versprach sich der Oberstleutnant von dem Hinweis auf die körperliche Größe und Konstitution des Soldatenanwärters. Junckers angeblicher Vorsatz, den militärischen Dienst getreu zu absolvieren, sollte vor allem Befürchtungen zerstreuen, er könnte wiederholt durch deviantes Verhalten auffällig werden. Junckers Erklärung muss auch im Kontext der Wiedergutmachung gesehen werden: Nach Darstellung des Oberstleutnants stellte der Militärdienst für den Delinquenten eine selbst auferlegte Buße dar, die Bewerbung sollte als Zeichen der Reue verstanden werden. Deutlicher tritt dieses Verständnis im Fall von Johann Gottfried Hiller zutage, der seinen Eintritt ins Militär nach den Worten seines Vorgesetzten v. Meerkatz wie folgt begründete: „Er [Hiller] habe übigens bei der Artillerie deshalb anwerben laßen, um seine in der Uebereilung begangenen Fehler durch besonders gute Aufführung im Dienst des Königs wieder guth zu machen. Dies hat er auch bis jetzt treulich gehalten ( . . . ).“426
Das Militär wird hier als ein Ort inszeniert, an dem man sich für König und Vaterland aufopferte. Aus der Sicht der Militärs war das Soldatenleben in Gehorsam und Selbsthingabe geeignet, um ein Verbrechen wieder gutzumachen. Dahinter stand die Vorstellung, mit einem Vergehen gegen Gesetze verstoßen und damit wider den königlichen Willen, der in den Gesetzen seinen Ausdruck findet, gehandelt zu haben. Demnach kam der Strafe neben der beabsichtigten moralischen Besserung auch die Funktion der Wiedergutmachung gegenüber dem Monarchen zu. Das Ansinnen Hillers fand der supplizierende Generalmajor v. Meerkatz offenbar plausibel, denn er bestätigte, dass sich Hiller während seines bisherigen Dienstes treulich an diese Vorsätze gehalten habe. Das Militär erscheint in dieser Supplik als eine Institution, in der sich ehemals Kriminelle wieder zu loyalen, gesetzestreuen Untertanen wandelten, mithin also als ein Hort der Disziplinierung und der Hinwendung zu einer gesetzes- und herrschaftstreuen Lebensführung. Resümee Die insg. 24 Supplikationen der lokalen Obrigkeit (insg. 20 Gnadenbitten) und des Militärs (insg. 4 Gnadenbitten) zeichnen sich durch eine Besonderheit aus: In ihnen wird weniger die Gunst des Gnadenträgers demütig erfleht, als vielmehr Mitspracherecht an der Sanktionierung der Delinquenten reklamiert – sei es von Seiten der Gutsherren und Landräte, der Magistrate oder des Militärs. Den Supplikationen lagen zumeist (personal-)wirtschaftliche Interessen der jeweiligen Staats425 Supplik des Oberstleutnants v. Brieze vom 26. September 1787 / Fallakte Christian Juncker; in: ebd. 426 Supplik des Generalmajors v. Meerkatz vom 7. November 1794 / Fallakte Johann Gottfried Hiller; in: ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
diener bzw. -organe zugrunde. Dabei wurde der Strafzweck von den supplizierenden Staatsdienern infrage gestellt, wenn die Bestrafung der Untertanen zu materiellen Lasten der lokalen Obrigkeit ging. Die Supplikanten hingen der Vorstellung an, dass hier eine Interessensgleichheit zwischen der lokalen und der zentralen Obrigkeit vorlag. Die Interventionen der lokalen Obrigkeit und des Militärs müssen zugleich als Strategien zum Machterhalt verstanden werden: Es galt, das jeweilige Organ bzw. Amt gegen einen möglichen Bedeutungsverlust im Rahmen der Ausdifferenzierung der Verwaltung, der Justiz und des Militärs zu schützen und sich im behördlichen Konkurrenzkampf um den Erhalt der Zuständigkeiten zu behaupten. 10. Fürbitten aus dem Haus der Hohenzollern Eine besondere Stellung unter den Suppliken nehmen die Fürbitten von fürstlicher Seite aus dem Haus der Hohenzollern ein. Dass Betroffene sozial Höhergestellte wie Adlige – oder wie hier Mitglieder des königlichen Hauses – um eine Intercession oder ein Fürwort427 baten, geht auf eine traditionelle Supplikationspraktik zurück, bei der sich die angeklagten bzw. verurteilten Personen vom hohen sozialen Kapital der Supplizierenden entsprechend gute Chancen auf Gewährung einer Strafmilderung erhofften.428 Es liegen drei Fälle vor (rund 0,4 Prozent), in denen Prinzessin Friederike v. Preußen und Prinz Heinrich v. Preußen als Supplizierende auftraten, indem sie für ihre verurteilten Bediensteten bzw. deren Ehepartner beim Justizminister um Strafmilderung baten. Aktenkundlich mag es zwar problematisch erscheinen, Schreiben aus fürstlicher Hand an eine Amtsstelle unter Suppliken zu fassen, weil sich diese Gattung als Schreiben der Unterordnung durch das umgekehrte Verhältnis bezüglich des sozialen Standes von Absender und Empfänger auszeichnet.429 Die vorliegenden drei Fälle zeigen aber, dass auch Mitglieder des königlichen Hauses als Supplikanten gezählt werden können, da die Absender hier im gewissen Sinne als Personen430 auftraten, die trotz ihres sozialen Status keine Weisungsbefugnis gegen427 Intercession bzw. Fürwort sind zeitgenössische Begriffe, die im Sinne von Vermittlung, Verwendung oder Fürsprache von fürstlicher Seite, auch auf zwischenstaatlicher Ebene, die in folgenden Schreiben verwandt werden: vgl. Fall Heinrich Schäfer [s. B.I.9.a)]; vgl. Schreiben des Justizdepartements an die Stadtgerichte vom 11. Dezember 1789 und Schreiben des Justizministers v. d. Reck an Prinzessin Friederike v. Preußen vom 31. Dezember 1789 / Fallakte Friederike Lentz; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055. 428 Die Praktik ist im 18. Jh. allerdings nicht mehr häufig anzutreffen (s. hier 0,4 Prozent der Gnadenbitten), was vermutlich an der allmählich schwindenden Bedeutung des Adels im Zusammenhang mit dem Ausbau landesherrlicher Herrschaft liegt. So ist die Praktik in Konstanz im 16. Jh. noch häufig anzutreffen, während sie in Augsburg bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jh. bereits seltener auszumachen ist – zu Konstanz vgl. Schuster 2000, S. 292 f.; zu Augsburg vgl. Hoffmann 2004, S. 84 – 87, bes. S. 86, 79. 429 Zur aktenkundlichen Definition von Suppliken vgl. Kloosterhuis 1999, S. 537; vgl. Meisner 1950, S. 181 – 185.
I. Versuch einer Typologisierung der Supplikantengruppen
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über dem Justizminister hatten, und diesen lediglich bitten konnten, mildernde Umstände anzuerkennen und die Gnadenbitte dem Monarchen vorzutragen. Außerdem traten die Angehörigen des königlichen Hauses hier nicht als Supplizierende in eigener Sache auf, sondern waren selbst Adressaten von ihnen mündlich unterbreiteten Gnadenbitten, die sie weiterleiteten. Sie wurden von Familienangehörigen der betroffenen Personen, die bei ihnen dienten, gebeten, sich deren Anliegen anzunehmen und eine vermittelnde Rolle zwischen Untertanen und Monarchen einzunehmen. Auch wenn sich die herrschaftlichen Fürbitten in der Wirkung und in der Form, wie etwa in der Courtoisie431, von den Suppliken der Untertanen unterscheiden, so bestehen doch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen ihnen, insbesondere was die vordergründige Intention, aber auch Inhalt und Aufbau der Gnadenbitten anbelangt. Um jedoch die Sonderstellung dieser Form der Gnadenbitte innerhalb der Supplikation zu verdeutlichen, bietet sich das zeitgenössische Wort Fürbitte an, da es nicht so stark wie der Begriff Supplik (von lat. supplicare) mit dem Unterwürfigen, Flehenden konnotiert ist, einer Haltung, die einer fürstlichen Persönlichkeit in diesem Maße nicht abverlangt wurde. Prinzessin Friederike v. Preußen (1767 – 1820), Tochter von Friedrich Wilhelm II. aus erster Ehe mit Elisabeth Christine v. Braunschweig-Wolfenbüttel,432 reichte in zwei Fällen eine Fürsprache ein. In einem Fall war die Ehefrau des „Handlangers vom hiesigen Schloße“, Friederike Lentz, wegen Hehlerei von Bauholz zu zwei Monaten Zuchthausarrest und zu einer Geldbuße von 20 Reichstalern verurteilt worden. Da die Fürsprache mit dem Hinweis auf den Handlanger im Schloss ansetzte, ist anzunehmen, dass der Ehemann die Prinzessin in ihrer Funktion als 430 In der Aktenkunde wird diese Position als privat bezeichnet und dient der Unterscheidung zwischen dem persönlichen Anliegen einer einzelnen Person und dem einer Behörde bzw. Amtsperson – vgl. Kloosterhuis 1999, S. 537; vgl. Meisner 1950, S. 181 – 185. Der Begriff privat ist jedoch irreführend, da er den Bedingungen der frühneuzeitlichen Gesellschaft nicht gerecht wird, denn die Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre existiert zu dieser Zeit noch nicht; daher wird hier in Anlehnung an das Konzept der Selbstzeugnisforschung der Begriff Person bevorzugt – vgl. auch Jancke / Ulbrich 2005, S. 16 f. 431 Die Anrede des Justizministers entspricht der höfisch korrekten Formel, die eine sozial höher stehende Person gegenüber einer sozial untergeordneten Person gebrauchte: „Wohlgebohrener, Vielgeehrtester ( . . . )“. Auch die Schlusscourtoisie spiegelt die soziale Ungleichheit zwischen fürstlichem Absender und Staatsdiener, wenngleich aus adligem Geschlecht und in der Funktion eines Ministers, entsprechend wider. Es finden sich Variationen wie: „Ich werde die Mir hierunter zu Bezeigende Willfährigkeit mit vielem Danck erkennen, und bin übrigens mit aller estime des Herrn Geheimen Etats und Justitz Ministre sehr wohlgewiegte Friederique Prinzessin von Preußen“ und „Ich werde diese Gefälligkeit gewiß als einen neuen Beweis Ihres attachements aufnehmen und mit vielen danck erkennen, der ich mit wahrer Hochachtung verbleibe des Herrn Geheimen Etats und Justiz Ministers wohl affectionirter Heinrich“ – zit. aus: Fürbitte der Prinzessin Friederike v. Preußen vom 7. Dezember 1789 / Fallakte Friederike Lentz; in: ebd.; zit. aus: Fürbitte des Prinzen Heinrich v. Preußen vom 11. August 1794 / Fallakte Johann Friedrich v. Maltitz; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.060. 432 Siehe Stammtafel der Hohenzollern II (Brandenburg, Preußen) – vgl. Brigitte Sokop, Stammtafeln europäischer Herrscherhäuser, 3. Aufl., Wien / Köln / Weimar 1993, hier S. 25.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
seine Herrin aufsuchte, sie über die Lage seiner Familie in Kenntnis setzte und sie um Unterstützung in dieser Situation bat.433 Im zweiten Fall suchte die Ehefrau des mit dem Schloss im Handel stehenden Kaufmanns Johann Friedrich Wartenberg Prinzessin Friederike auf, um sie zu bitten, eine Supplik für ihren wegen Hehlerei von 7 Zentner Bleiweiß zu zwei Jahren Festungsarrest verurteilten Mann zu schreiben. Die Prinzessin ließ sich dazu überreden und präsentierte sich dem Justizminister v. Carmer als routinierte Mittlerin zwischen Untertanen und der Regierung. Sie war keineswegs so naiv, die strategische Raffinesse der Bittstellerin zu unterschätzen, denn sie betonte, der Geschichte, die ihr die Wartenbergerin erzählt hatte, nicht in allen Punkten Glauben zu schenken: „Ich bin weit entfernt, die Erzählung des Weibes für unverfälscht zu halten, oder in der Gerechtigkeit des Criminal-Gerichts irgend einen Zweifel zu setzen.“434
Friederike gab sich diplomatisch, indem sie ihrer Zuversicht über die gerechte Entscheidung des Gerichts Ausdruck verlieh. Somit vermied sie den Eindruck, dass sie Kritik an der Justiz übte und mit ihrer Fürsprache eine aus ihrer Sicht geschehene Rechtsbeugung korrigieren wollte. Aus diesem Grund ergriff die Prinzessin weder im Fall Wartenberg noch im Fall Lentz Partei für die verurteilte Person, sondern hob auf die Situation der jeweiligen Familie ab: „Der trostlose Zustand des Weibes [Ehefrau Wartenberg], welches bey vier unerzogenen Kindern ihre nahe Niederkunft Verzweiflungsvoll erwartet, und deren Nahrung nur von sehr geringen Belang ist, hat aber Mein Mitleiden so sehr erreget ( . . . ).“435
Mit Rücksicht auf die wirtschaftlich desolate Lage der Familie erwog die Prinzessin eine Strafverkürzung im Fall Wartenberg, „damit die Seinigen nicht darüber zu Grunde gehen, und am Bettelstab gebracht werden.“436 Mit dem Wirtschaftsargument weckte sie zugleich das Interesse der Obrigkeit an einer Begnadigung. Auch im Fall Lentz trat Prinzessin Friederike als Fürsprecherin der in Armut lebenden Familie auf: „Eine große Armuth des Weibes [Friederike Lentz] und ihre viele Kinder veranlaßen Mich, dieselbe hierdurch Dienstfreundlichst zu ersuchen, es nach Dero Bekannten menschenfreundlichen Gesinnungen, wo möglich, in die Wege zu leiten, daß der Lentzen entweder die Strafe und Kosten gäntzlich erlaßen, oder doch auf eine sehr leidliche Summe ermäßiget werden.“437 433 Für diese Annahme spricht auch das Engagement des Ehemanns, der eine Woche später ein eigenes Gesuch für seine Ehefrau einreichte, in dem er die herrschaftliche Fürbitte durch Darlegung der Umstände quasi detailliert erläuterte – vgl. Supplik des Ehemanns Lentz vom 15. Dezember 1789 / Fallakte Friederike Lentz; in: ebd. 434 Fürbitte der Prinzessin Friederike v. Preußen vom 22. September 1790 / Fallakte Johann Friedrich Wartenberg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.057. 435 Ebd. 436 Zit. aus: ebd. 437 Fürbitte der Prinzessin Friederike v. Preußen vom 7. Dezember 1789 / Fallakte Friederike Lentz; in: ebd.
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Wie die Untertanen in ihren Suppliken appellierte auch die Prinzessin an das Mitgefühl des Lesers ihrer Fürbitten, indem sie die Intercession mit ihrem Mitleid mit der Armut der Familien begründete. Die Gnadenwürdigkeit von Friederike Lentz und von Johann Friedrich Wartenberg sah sie durch die Mitleid erregenden Lebensbedingungen der betroffenen Familien gegeben. Anders als in den Suppliken aus dem Kreis der Familie oder des sozialen Umfelds der Betroffenen finden sich hier indes keine Hinweise auf den Leumund oder auf mildernde Tatumstände. Eine Angehörige des königlichen Hauses brauchte offenbar eine Fürbitte nicht weitergehend zu begründen. Die Supplikantin ging offenbar von der Vorstellung aus, dass einer Fürstin Empfindsamkeit gegenüber dem Schicksal einer armen Familie und ihren Kindern gut anstand. Sie handelte ganz in der Logik des paternalistischen Schutzverhältnisses, wenn sie sich um die Familien ihrer Bedienten sorgte. Die Prinzessin konnte sich durch die Bitte, sich für die Familien zu verwenden, geschmeichelt fühlen, da es ein Beleg ihres hohen sozialen Ranges und ihrer einflussreichen Stellung am Hofe war. Für diese Gefälligkeit war ihr der Dank der Betroffenen bzw. ihrer Angehörigen sicher. Prinzessin Friederike war sich des Einflusses aufgrund ihrer sozialen Stellung, aber auch deren Grenzen bewusst: Im Fall Lentz wurde der Justizminister v. d. Reck von Prinzessin Friederike zum Beispiel nicht angewiesen, sondern in seiner dienstlichen Funktion ersucht, der Bitte nachzukommen [s. o.]. Ein dienstfreundliches Ersuchen, welches nur auf Amt und Zuständigkeit des Adressaten abhob, aber ohne courtoises Beiwerk und flehende Worte in Demutshaltung auskam, konnte nur von einer hochgestellten Persönlichkeit ausgehen. Diplomatisch räumte die Prinzessin v. d. Reck einen Entscheidungsspielraum ein, indem sie die Bitte optional formulierte, je nachdem, welche Lösung nach Meinung des Ministers am menschenfreundlichsten und gesetzlich noch vertretbar sei. Die Prinzessin ging dennoch davon aus, dass ihrem Wunsch entsprochen würde. Diese Hoffnung deutet sich zum Beispiel im Gebrauch des Futurs an und verbirgt sich hinter der Formulierung des In-die-Wege-Leitens, was eine Entscheidung in ihrem Sinne schließlich voraussetzt, da sie ihre Bitte bereits in die Phase der Realisierung treten lässt. Im Fall Lentz nahm sich der Justizminister v. d. Reck der Angelegenheit in ihrem Sinne an. Allerdings machte er sich die Bitte um Strafmilderung nicht ungeprüft zu Eigen, sondern ließ die Vermögenssituation der Familie Lentz überprüfen, bevor er für den Erlass der Geldstrafe und die Verringerung der Zuchthausstrafe auf drei Tage Gefängnis plädierte [s. C.II.4.h)].438 Schließlich wurde Friederikes Fürsprache auf der Grundlage von v. d. Recks Votum im Geheimen Rat durch königlichen Willen entsprochen.439 Der Fall zeigt, dass der Justizminister einer438 Vgl. Schreiben des Justizdepartements an die Stadtgerichte vom 11. Dezember 1789; Bericht der Stadtgerichte vom 23. Dezember 1789; Schreiben des Justizministers v. d. Reck an Prinzessin Friederike v. Preußen vom 31. Dezember 1789 / Fallakte Friederike Lentz; in: ebd. 439 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 31. Dezember 1789 / Fallakte Friederike Lentz; in: ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
seits dem Willen der Prinzessin entgegenkommen wollte, indem er bereitwillig für eine Begnadigung plädierte, zugleich war er sich aber seiner Kompetenzen wohl bewusst, behandelte den Gnadenfall wie andere auch, und betonte in der Gnadenentscheidung, die von der Bitte der prominenten Supplikantin leicht abwich, seine Eigenständigkeit als Justizminister. Der Fall Wartenberg belegt jedoch, dass herrschaftlichen Fürsprachen nicht automatisch entsprochen wurde. Wie bereits in der vorherigen Fürbitte wählte Prinzessin Friederike zwar eine deutliche Sprache, um ihrer Bitte Ausdruck zu verleihen, vermied aber jeden Befehlston, sondern hob gegenüber dem Justizminister hervor, dass sie seine Entscheidungskompetenz akzeptierte: Sie ersuchte Großkanzler v. Carmer „Dienstfreundlichst“, „wenn es irgend mit der Gerechtigkeit bestehen kann“, „dem armen Weibe“ „Gnade wiederfahren zu laßen“, falls es die gesetzlichen Bestimmungen zuließen, stellte ihm diesen Fall „Dero bessren Einsicht anheim“ und schmeichelte ihm schließlich mit folgenden Worten:440 „Die bekannte Menschfreundliche Gesinnungen Meines vielgeehrtesten Herrn Groß Cantzlers sind Mir Bürge davor. Dieselben werden Meine durch Mitleiden veranlaßte Fürbitte, so weit es die Umstände verstatten, zu willfahren belieben ( . . . ).“441
Wie der Gebrauch des Futurs belegt, war sich Prinzessin Friederike auch im Fall Wartenberg offenbar gewiss, dass v. Carmer ihrem Wunsch in irgendeiner Weise entgegenkommen würde. Dem war aber nicht so: Der Justizminister ließ sich nicht vom schmeichelnden Appell an seine Barmherzigkeit umgarnen und rückte nicht vom gerichtlich erkannten Strafmaß ab. In seiner Antwort an Prinzessin Friederike bemerkte er, dass die betreffende Familie „unendlich zu bedauern“ sei, zugleich stellte er aber fest: „Der Wartenberg ( . . . ) hat sein gegenwärtiges Schicksal verdient“.442 Mit dieser brüsken Formulierung wollte v. Carmer der Prinzessin vermutlich bedeuten, dass er Fürbitten dieser Art für nicht angebracht hielt, da die Frage nach Gerechtigkeit seiner Ansicht nach den Gerichten überlassen bleiben sollte. Abschließend belehrte v. Carmer die Prinzessin über die Zuständigkeit in Gnadensachen: „Da aber des Recht überführt und verurtheilte Verbrecher zu begnadigen, Seiner Königlichen Mayestät Allerhöchst selbst gantz allein zusteht, so bin ich meiner Orts nicht vermögend, etwas zur Erleichterung dieser Familie zu verfügen ( . . . ).“443
Einer derartig schulmeisterlichen Belehrung bedurfte es bei einem Mitglied aus dem Hause der Hohenzollern sicher nicht. Der Hinweis auf die gesetzlichen Grundlagen sollte v. Carmer wohl dazu dienen, seine ablehnende Haltung in diesen 440 Zit. aus: Fürbitte der Prinzessin Friederike v. Preußen vom 22. September 1790 / Fallakte Johann Friedrich Wartenberg; in: ebd. 441 Ebd. 442 Schreiben des Justizministers an Prinzessin Friederike v. Preußen vom 26. September 1790 / Fallakte Johann Friedrich Wartenberg; in: ebd. 443 Ebd.
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Fall formal mit seiner Nichtzuständigkeit zu begründen. Er gab vor, die an ihn herangetragene Bitte, beim Monarchen in seiner einflussreichen und beratenden Funktion als Justizminister auf eine Strafmilderung für den Wartenberg hinzuwirken, nicht zu verstehen. Im Klartext bedeutete dies, dass v. Carmer die erbetene Unterstützung schlicht verweigerte – anders als sein Vorgänger im Amt, v. d. Reck, der noch versucht hatte, dem fürstlichen Wunsch entgegenzukommen, indem er die Fürbitte im Sinne der Prinzessin dem Monarchen im Kreis des Geheimen Rats unterbreitete. V. Carmer jedoch schlug der Prinzessin ein konziliantes Entgegenkommen aus und verwies sie lapidar darauf, dass sie sich selbst mit einer Fürbitte an ihren Vater wenden könne. Auch auf die Gefahr hin, bei den Angehörigen der königlichen Familie in Missgunst zu fallen, suchte v. Carmer offenkundig Fürbitten von dieser Seite aus zu unterbinden. Die Prinzessin fühlte sich von dieser wenig galanten Zurechtweisung vermutlich brüskiert, denn sie verzichtete fortan auf jedes weitere Engagement in Sachen Strafmilderung. Auch Prinz Heinrich v. Preußen (1726 – 1802), der Bruder Friedrichs II. und Onkel von Friedrich Wilhelm II., musste einige Jahre später die Erfahrung machen, dass seiner Fürbitte für den adligen Akzise- und Zollaufseher zu Rheinsberg nicht entsprochen wurde. Prinz Heinrich zeigte sich in dem Fall großzügig und verzieh dem Staatsdiener Johann Friedrich v. Maltitz, der ihm einige tausend Reichstaler aus der „prinzlichen Chatouille“ gestohlen hatte und zudem der Unterschlagung von Geldern des Zollamts überführt worden war.444 Anders als seine Großnichte Friederike führte Heinrich nicht Mitleid mit dem Schicksal der Familie v. Maltitz als Motiv seiner Fürsprache an. Es ist möglich, dass er sich für seinen Bedienten einsetzte, weil er hoffte, dass im Falle einer milderen Strafe die Angelegenheit nicht über Rheinsberg hinaus bekannt würde. Schließlich musste ein solch dreistes Vergehen eines seiner Staatsdiener seinem Ruf als Hausherr von Rheinsberg, wo er bereits seit der Regierung Friedrichs II. residierte, in Misskredit bringen. In der Fürbitte bat Prinz Heinrich den Großkanzler und Justizminister v. Goldbeck, man solle: „( . . . ) bey dem Vortrag des Urtels auf meine Erklärung gefällige Rücksicht zu nehmen, und ein so gelindes Straf-Erkenntniß, als nach den Gesetzen nur zu läßig ist, ( . . . ) bewürcken.“445
Ähnlich wie Prinzessin Friederike stellte auch Prinz Heinrich klar, dass er die Gesetze und damit auch die Entscheidung der Justiz grundsätzlich respektierte. Als Geschädigter wolle Heinrich lediglich auf „die Schärfung der Strafe“ verzichten“ und stattdessen „auf die Gelindigkeit der Strafe einigen Einfluß“ nehmen.“446 Allerdings konnte sich Heinrichs Annahme, als Geschädigter auf das Strafmaß einwirken zu können, nur auf das Zivilrecht beziehen. Die im Fall Maltitz vorliegen444 Vgl. Fürbitte des Prinzen Heinrich v. Preußen vom 11. August 1794 / Fallakte Johann Friedrich v. Maltitz; in: ebd. 445 Ebd. 446 Zit. aus: ebd.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
den Delikte Diebstahl und Unterschlagung unterlagen hingegen dem Strafrecht, welches im späten 18. Jahrhundert keinen großen richterlichen Ermessensspielraum kannte.447 Eine Milderung des Urteils, wie sie Prinz Heinrich wünschte, war somit nur im Wege der Gnade möglich. Entsprechend fiel das Antwortschreiben des Großkanzlers aus: Bei dem „so gelinde als möglich abgefaßt[en]“ Urteil von drei Jahren Festungsarrest müsse es sein Bewenden haben, da man „nichts durch Milderung derselben davon abweichen“ könne.448 Das hier vorgesehene Strafmaß kann im Verhältnis zu der Schwere des Vergehens und im Vergleich zu anderen Urteilen als äußerst milde bezeichnet werden. Dies kann als ein weiterer Beleg dafür gewertet werden, dass die Fürbitten aus dem Hause der Hohenzollern großen Einfluss hatten, dass ihnen aber – je nach Amtsverständnis des jeweiligen Justizministers – nicht unbedingt in der gewünschten Form entsprochen wurde.
Resümee Fürbitten waren für ein Mitglied aus dem Haus der Hohenzollern insofern interessant, als damit das paternalistische Machtverhältnis zu den Untergebenen erneut gefestigt wurde. Die wenigen Fälle von fürstlicher Intercession (insg. drei Gnadenbitten) zeigen aber auch, dass die Mitglieder des königlichen Hauses nur unter bestimmten Bedingungen bereit waren, die Vermittlungsrolle zwischen Untertanen und dem Gnadenträger einzunehmen, nämlich nur dann, wenn Familien ihrer Bedienten betroffen waren und sich deren Dankbarkeit gewinnbringend für die Fürbittenden auswirkte. Von einer Fürsprache mit prominentem Absender versprachen sich die Untertanen offenbar eine größere Chance, eine Begnadigung gewährt zu bekommen. Denn den Bitten aus dem Haus der Hohenzollern wurde im Justizdepartement besondere Beachtung geschenkt – und insofern unterscheidet sich eine Intercession von der Supplik eines gemeinen Untertanen. Die Chance auf eine Begnadigung war in der Tat recht hoch, doch nicht immer wurde der Bitte auf die gewünschte Art und Weise entsprochen. Die wenigen Fälle belegen nämlich, dass die Staatsdiener Ende des 18. Jahrhunderts ein starkes Selbstbewusstsein entwickelt hatten, so dass sie sich nicht genötigt fühlten, den Bitten von Mitgliedern des Herrscherhauses in allen Einzelheiten zu entsprechen; vielmehr verwiesen sie in ihren Entscheidungen auf gesetzliche Bestimmungen, um ihre Kompetenz zu betonen.
Vgl. Regge 1985. Zit. aus: Dekret in Form einer Resolution vom 18. August 1794 / Fallakte Johann Friedrich v. Maltitz; in: ebd. 447 448
II. Zwischenbilanz
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II. Zwischenbilanz 1. Zwischenbilanz zu Supplikationsmustern a) Supplikationsmuster im Hinblick auf die Beziehungsstruktur zwischen Supplizierenden und Nutznießern Das Supplizieren war vor allem eine Angelegenheit der angeklagten und verurteilten Männer und Frauen sowie ihrer direkten Familienangehörigen. Rund 92,2 Prozent aller Gnadenbitten stammen aus dem Kreis der unmittelbar und mittelbar Betroffenen.449 Unter den Supplizierenden bilden die Angeklagten bzw. Verurteilten die größte Gruppe (rund 38,2 Prozent). Die Motivation zu supplizieren, war bei diesen besonders stark ausgeprägt, da es um ihre Zukunft ging und sie die harten Bedingungen des Arrests täglich am eigenen Leib erfuhren. Rechnet man die Gnadenbitten in eigener Sache heraus, so zeigt sich, dass die Mehrheit der Supplikationen, nämlich rund 54 Prozent aller Gnadenbitten450, aus dem engsten Kreis der Familien der angeklagten Männer und Frauen hervorgeht. Auch beim Supplizieren zeigt sich, dass die Familie die Quelle war, aus der man ideelle und materielle Unterstützung bezog.451 Der nicht weiter differenzierte Befund überrascht zunächst nicht, zumal in der Forschung zu anderen Herrschaften bereits auf die Bedeutung der Kernfamilie beim Supplizieren hingewiesen wurde.452 Die vorliegende Untersuchung geht aber einen Schritt weiter und widmet sich den Supplikationsmustern innerhalb der Familie: So konnte festgestellt werden, dass die Ehepartner der Angeklagten bzw. Verurteilten, also der Hausvater bzw. die Hausmutter, am häufigsten supplizierten (rund 27,8 Prozent).453 An zweiter Stelle traten die Eltern als Initiatoren von Supplikationen in Erscheinung (rund 18,5 Prozent). Mit großem Abstand folgten Kinder, Geschwister sowie Anverwandte (jeweils rund 2,6 Prozent). Dies bedeutet, dass die in der familiären Hierarchie unten Stehenden wie Kinder und Geschwister mitunter für ihre Familienangehörigen supplizierten, dies aber nicht die Regel war. Ebenso wenig 449 Der Großteil der Supplikationen im Fallbeispiel zu Osnabrück wurde z. B. auch von den Angeklagten bzw. Verurteilten selbst gestellt – vgl. Rudolph 2005, S. 434. 450 Die Angabe umfasst die Gnadenbitten der Eheleute, Eltern, Kinder, Geschwister und der Anverwandten. Zu den Angaben s. Tabelle in B.II.2. 451 Zur Familie „als eine Einheit“, aus der man Identität, aber auch materielle Unterstützung in Form von Mitgift oder Erbe bezog – vgl. Davis 1986, S. 7. 452 Nach Ansicht von Renate Blickle war es die Aufgabe der „Nächsten“, zu supplizieren und die „Über-Nächsten“ dafür zu gewinnen, weitere Supplikationen einzureichen – zit. aus: Blickle 2005, S. 294. Allgemein zur Rolle der Familie beim Supplizieren vgl. Härter 2000, S. 479; vgl. Bauer 1996, S. 151; vgl. Rublack 1998, S. 90; vgl. Fosi 2005, S. 286. 453 Auch für Bayern und Osnabrück wird die Bedeutung der Ehefrauen beim Supplizieren betont – vgl. Blickle 2005, S. 294; vgl. Rudolph 2005, S. 434. Ein anderes Ergebnis erzielt Andreas Bauer für den Vorarlberg: dort supplizierten nur wenige Frauen – vgl. Bauer 1996, S. 151.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
kann man Anverwandte, die nicht zum Haus der betroffenen Familie gehörten, zu den typischen Supplikanten bzw. Supplikantinnen zählen. Verlässt man den Kreis der Familie und blickt auf das darüber hinaus gehende soziale Umfeld der Angeklagten bzw. Verurteilten, so werden Supplikationen fast zu einer Randerscheinung. Die übrigen knapp 8 Prozent der Gnadenbitten verteilen sich relativ ausgewogen auf das jenseits der Familie liegende soziale Umfeld der Angeklagten bzw. Verurteilten und auf die lokale Obrigkeit: Rund 3,7 Prozent der Gnadenbitten entfallen auf das soziale Umfeld, davon rund 1,8 Prozent auf die Nachbarschaft einschließlich Arbeitsumfeld und rund 1,9 Prozent auf die Brotherrschaft.454 Im Vergleich mit anderen Herrschaften zeigt sich, dass dort die Nachbarschaft als Initiator von Supplikationen für Angeklagte bzw. Verurteilte eine weitaus wichtigere Rolle als in Brandenburg-Preußen spielte.455 Die übrigen rund 3,6 Prozent gehen auf die lokale Obrigkeit und das Militär zurück, die zugunsten ihrer Untertanen bzw. Untergebenen supplizierten. Gemeinsam ist den Supplikantengruppen, dass sie sich von einer Begnadigung der betreffenden Person eine Sicherung ihrer Ressourcen versprachen [s. B.II.2.b) – e)]. Eine Sonderstellung nehmen die drei Fürbitten aus dem Haus der Hohenzollern (rund 0,4 Prozent) ein. Adlige bzw. Angehörige des Herrscherhauses aufgrund ihres sozialen Prestiges für Fürbitten zu gewinnen, war in anderen Herrschaften offensichtlich weitaus üblicher als in Brandenburg-Preußen.456 Dies mag an der Rolle des preußischen Adels Ende des 18. Jahrhunderts liegen, der zwar nach wie vor über großen gesellschaftlichen Einfluss verfügte, sich aber die Staatsämter zunehmend mit Bürgerlichen teilen musste, und sich nicht mehr auf das Privileg der Vorzugsbehandlung verlassen konnte. Aus den obigen Ergebnissen lässt sich folgendes Supplikationsmuster ableiten: Je enger die soziale Bindung zwischen Bittsteller bzw. Bittstellerin und den angeklagten bzw. verurteilten Männern und Frauen war und je größer die daraus folgenden Verpflichtungen waren, desto eher wurde suppliziert. Anders ausgedrückt: Die Supplikationswilligkeit stieg mit dem Maß an Betroffenheit. Innerhalb der Familie erhöhte sich die Häufigkeit des Supplizierens parallel zur Verwandtschaftsnähe, also analog zum Grad der Verantwortung in der Beziehung zwischen einem Familienmitglied und der angeklagten bzw. verurteilten Person. Das Suppli454 Auch für Württemberg gibt es Beispiele, in denen die Brotherrschaft supplizierte – vgl. Rublack 1998, S. 92. 455 So war z. B. in Württemberg die Tradition verbreitet, dass von Seiten ganzer Gemeinden oder von Bürgergruppen Fürsprachen für Angeklagte bzw. Verurteilte kollektiv angestrengt wurden – vgl. Rublack 1998, S. 89 f. 456 An der Wende vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit waren Fürsprachen von Herrschern und Adligen für Verurteilte durchaus keine Seltenheit, so bspw. in der Reichsstadt Konstanz und in Feldkirch (dort wurden rund 50 Prozent aller Fürsprachen von Adligen eingereicht). Anders sah es allerdings in ländlichen Regionen aus: so machen die Fürsprachen von Adligen z. B. im Bregenzerwald nur 15 Prozent aus – zu Feldkirch und Bregenzerwald vgl. Bauer 1996, S. 133, 139; zu Konstanz vgl. Schuster 2000, S. 278 – 285, 292, 306 – 311.
II. Zwischenbilanz
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kationsmuster war in erster Linie ausgerichtet an der aus den gegenseitigen Rechten und Pflichten resultierenden Beziehung im innerfamiliären Kräftefeld [Näheres zu Supplikationsmustern in sozialer, generativer und geschlechterspezifischer Hinsicht s. u.]. Die supplizierenden Männer und Frauen gingen offenbar von der Annahme aus, dass Gnadenbitten von Angehörigen und aus dem weiteren sozialen Umfeld zugunsten der Angeklagten bzw. Verurteilten auch deshalb von zentraler Bedeutung waren, weil mit diesem Zeichen der Solidarität der Obrigkeit signalisiert wurde, dass die fragliche Person in ein System informeller Sozialkontrolle457 ihres sozialen Umfeldes integriert war. Dies galt offensichtlich als eine Form der Versicherung, dass sich die angeklagte bzw. verurteilte Person komplikationslos resozialisieren ließ und sich keinen Rückfall in deviantes Verhalten zuschulden kommen lassen würde, eine Versicherung, von der sich die Supplikanten und Supplikantinnen erhöhte Chancen auf Begnadigung versprachen. Die Beziehungsstrukturen zwischen Supplizierenden und Nutznießern der Gnadenbitten sind so vielfältig, dass man versucht ist zu behaupten, dass sich nahezu alle möglichen Konstellationen in den hier untersuchten Suppliken abbilden. Was in den vorliegenden Quellen aber mit einer Ausnahme fehlt,458 sind Supplikationen von Geistlichen, die anderswo wohl wegen ihrer Rolle als Wächter der Moral häufig als Fürsprecher gewonnen wurden.459 Dies galt vermutlich stärker für katholische Gebiete, wo die Kirche eine vom Staat weitgehend unabhängige Rolle spielte, während in Brandenburg-Preußen reformierte Prediger unter staatlicher Aufsicht standen, so dass ihr Wort daher vielleicht nicht viel mehr galt als das anderer Staatsdiener.460 Aus der Tatsache, dass Prediger nicht für ihre Gemeindemitglieder Vgl. Härter 2000, S. 479. Es liegt lediglich eine Fürsprache eines Predigers vor – vgl. Supplik des Predigers Livius vom 7. Oktober 1795 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 56 (s. Anlage Nr. 4). Darüber hinaus enthalten die Akten lediglich Supplikationen eines lutherischen Pastors, der selbst in die Angelegenheit involviert war und für seine Tochter um Gnade bat – vgl. Supplikationen des Vaters Hanses, Pastor und Inspektor zu Strausberg / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179. Was jedoch fehlt, sind Supplikationen von Predigern, die als moralische Instanz für Andere bei der Obrigkeit um Gnade baten. 459 Laut Andreas Bauer gingen z. B. rund 60 Prozent der Supplikationen im Bregenzerwald und rund 40 Prozent in Feldkirch auf Supplikationen von Geistlichen zurück – vgl. Bauer 1996, S. 127 – 133. Im Erzherzogtum Österreich unter der Enns war ein Pfarrer unter den insg. 15 Supplikanten vertreten – vgl. Griesebner (Wahrheiten) 2000, S. 132. 460 Dennoch leisteten auch Prediger insofern einen Beitrag zu Supplikationen, als sie auf Bitten einiger Supplikanten und Supplikantinnen für die angeklagte bzw. verurteilte Person Aufführungszeugnisse ausstellten, die der Supplik in Anlage beigelegt wurden – beispielhaft vgl. Aufführungszeugnis des Zuchthauspredigers in der Anlage der Supplik der beiden Brüder Geitner vom 28. Oktober 1795 / Fallakte Auguste Friederike Geitner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 35; vgl. Aufführungszeugnis des Zuchthauspredigers in der Anlage der Supplik des Verwandten Daniel Rosenthal vom 20. September 1797 / Fallakte Auguste Maria Dorothea Jungin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 149, 150. 457 458
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
supplizierten, kann aber nicht gefolgert werden, dass ihnen dies untersagt war. Angesichts der hier abgebildeten Vielzahl an Beziehungsstrukturen kann man daher die Hypothese aufstellen, dass im Prinzip alle Personen aus dem nahen und weiterreichenden sozialen Umfeld zumindest theoretisch die Berechtigung hatten, für die Betroffenen zu supplizieren. Ob sie dies auch wollten, und ob sie es häufig taten, ist dabei eine andere Frage. b) Supplikationsmuster im Hinblick auf soziale Herkunft Am Anfang dieser Betrachtung steht eine methodische Einschränkung: Die Frage nach der gesellschaftlichen Schichtzugehörigkeit kann anhand der Quellen nicht empirisch behandelt werden, da der Großteil der Suppliken darüber keine oder nur eine vage Auskunft gibt.461 Im Folgenden können daher nur Tendenzaussagen formuliert werden. Die hier untersuchten Quellen spiegeln ein breites Spektrum bezüglich der sozialen Herkunft der Bittsteller und Bittstellerinnen wider. Die Bandbreite reicht von Mägden und Knechten sowie Lehrburschen über Bauern und Bäuerinnen aus unterschiedlichen Rechts- und Besitzverhältnissen, Studenten, Handwerksgesellen, Meister und Meisterinnen, Händler und Händlerinnen sowie Bürger und Bürgerinnen (ohne Angabe zum Beruf), darunter verarmte und wohlhabende Witwen und Waisen, über so genannte Schutzjuden und Ausländer, die sich dauerhaft in der Kurmark niedergelassen haben, bis hin zu Staatsdienern (vom Kanzlisten über lokale Vertreter der Obrigkeit wie Gutsherren, Landräte und Magistratsmitglieder bis hin zu Militärkommandeuren) und Adligen aus diplomatischen Kreisen und sogar aus Königlichem Hause. Im Grunde sind alle gesellschaftlichen Schichten im Quellenfundus vertreten – mit Ausnahme der mobilen Randgruppen, zu denen zum Beispiel umherziehende Spielmänner, Bettler und Vaganten zählen. Der Beweis, dass Nichtsesshafte vom Supplizieren regelrecht ausgeschlossen waren, kann mangels Quellenbelegen allerdings nicht angetreten werden. Es ist zu vermuten, dass auch den sozial Geächteten der Zugang zum Supplizieren nicht prinzipiell verwehrt wurde. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, dass die Edikte und Verordnungen zum Supplikationswesen in Brandenburg-Preußen kein diesbezügliches Verbot kennen [s. A.II.1. – 4.]. Vielmehr stützt sich die Hypothese auch auf folgendes Indiz: Der hier untersuchte 461 Die Quellen gewähren zum Teil Einblick in die Lebensumstände der angeklagten bzw. verurteilten Personen; in Bezug auf die supplizierenden Männer und Frauen verschweigen sie hingegen meist solche Informationen – mit einer Ausnahme: Im Absender der Suppliken wird manchmal die von den Supplikanten und Supplikantinnen ausgeübte Profession angegeben. Obgleich die soziale Schichtzugehörigkeit auch von anderen Aspekten als dem Beruf geprägt ist (z. B. Stand, Alter und Familienstand, genealogische Abstammung, Besitz und Vermögen, Ehrenämter und sonstige soziale Funktionen etc.), wird hier diese Selbstbezeichnung in Ermangelung anderer Hinweise als Indiz für die soziale Herkunft der Supplizierenden herangezogen.
II. Zwischenbilanz
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Archivbestand der Repositur 49 führte ursprünglich unter der eigens dafür angelegten Littera P eine Fallaktengruppe zu Vaganten, die jedoch vollständig der Kassation462 zum Opfer fiel. Berücksichtigt man die Struktur der übrigen Litterae, so liegt die Annahme nahe, dass die vernichteten Akten nicht nur die obrigkeitliche Sanktionierung des unerlaubten Umherziehens dokumentierten, sondern auch Suppliken beinhalteten, in denen so genannte Vaganten um Erlass oder Milderung der ihnen auferlegten Strafen baten. Fraglich bleibt indes, inwiefern Nichtsesshafte freiwillig in Kontakt mit der Obrigkeit traten, und ob sie dabei häufig auf das Medium Supplik zurückgriffen. Vermutlich gingen sie davon aus, dass ihre Gnadenbitten aufgrund des ihnen anhängenden schlechten Leumunds wenig Wirkung gezeigt hätten und enthielten sich weitgehend des Supplizierens. Es ist aber durchaus möglich, dass unter den überlieferten Suppliken das eine oder andere Schreiben im Namen von Nichtsesshaften, die wegen Diebstahl oder Hehlerei mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, vorliegt – allerdings gaben sich diese als solche nicht zu erkennen, weil sie sich in der Absicht, seriös zu erscheinen, zum Beispiel als Händler vorstellten. Man kann die Hypothese wagen, dass auch Nichtsesshafte Suppliken einreichten, ohne jedoch darin ihren sozialen Status offen zu legen.463 Die von der Forschung zum Supplikationswesen allgemein geteilte These, – hier in der Formulierung von Otto Ulbricht – dass „im Prinzip alle sozialen Schichten, alle Berufe und Stände, alle Rangstufen der verschiedenen Hierarchien“464 und auch Angehörige unterschiedlicher Religionen465 vom Supplizieren Gebrauch machten, kann demnach für den hier ausgewählten Untersuchungsraum weit462 Vgl. GStA PK, Allgemeines Repertorium, 5. Bd., fol. 55 und vgl. Müller / Posner 1943, S. 54 f. 463 So ist z. B. davon auszugehen, dass sich Supplikationswillige aus diesen Randgruppen nicht als Bettler ausgaben, da Bettelei gesetzlich verboten war. Die Tatsache, dass Nichtsesshafte supplizierten, wird hier zwar als Ausnahme angesehen, aber keineswegs ausgeschlossen. Weniger optimistisch schätzen Karl Härter und Richard van Dülmen die Situation der mobilen Randgruppen ein: Wenngleich Härter für Kurmainz keine Supplikationsverbote finden konnte, geht er doch davon aus, dass mobilen Randgruppen von Seiten der Obrigkeit das Recht auf Supplikation nicht zugestanden wurde – vgl. Härter 2005, S. 478, 268; vgl. Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, 3. Aufl., München 1988, S. 45. Bei dieser Einschätzung ist allerdings zu berücksichtigen, dass Härter und van Dülmen formal von Zugangsrechten sprechen und dabei nicht die Möglichkeit berücksichtigen, dass Supplizierwillige aus dem Kreis mobiler Randgruppen faktisch über Umwege trotzdem supplizierten. 464 Ulbricht 1996, S. 152, hier in Anlehnung an Neuhaus’ Aufzählung der in der Liste des Regensburger Reichstags von 1546 alphabetisch aufgeführten Supplikanten und Supplikantinnen: „Ob Reichsstand oder einfachster Untertan, ob Adeliger oder Bürger, Geistlicher oder Weltlicher, Mann oder Frau, ob Kurfürst, Fürst, Graf, Ritter oder Prälat, ob Bürgermeister oder Ratsherr, ob Erzbischof, Bischof, Abt, Prior, Kanonikus oder Priester, ob Sekretär, Schreiber, Wundarzt und Barbier, Richter, Leinenweber, Buchdrucker oder Metzger ( . . . ).“ – Neuhaus 1977, S. 299. Die These wird auch von Renate Blickle, Andreas Würgler, Rosi Fuhrmann und Beat Kümin vertreten – vgl. Blickle 2000, S. 278; vgl. Fuhrmann / Kümin / Würgler 1998, S. 269; vgl. Würgler 2001, S. 16 und zuletzt vgl. Würgler 2005, S. 17. 465 Zu Supplikationen von Juden vgl. Holenstein 1999; vgl. Holenstein 2003, S. 351.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
gehend bestätigt werden: Auch das Supplikationswesen Brandenburg-Preußens zeichnet sich durch eine nahezu vollständige Allzugänglichkeit für alle gesellschaftlichen Schichten aus; diese Ausage muss allerdings mit Blick auf mobile Randgruppen insofern eingeschränkt werden, als hier nicht abschließend geklärt werden konnte, inwieweit diese formal Zugang zur Supplikation hatten und inwieweit sie tatsächlich davon Gebrauch machten. Zugleich muss betont werden, dass sich die gesellschaftlichen Schichten in unterschiedlicher Stärke in den Suppliken widerspiegeln: Vor allem die unteren Schichten, aber auch Bürger und Bürgerinnen aus Handwerk und Handel sowie Bauern und Bäuerinnen mittelgroßer Höfe waren stark vertreten; der Adel kommt hingegen selten in der Rolle als Supplikant vor, und wenn, dann meist in der Funktion als lokale Obrigkeit. Der Befund ist insofern nicht überraschend, als diese Verteilung annäherungsweise dem Proporz der Stände in der frühneuzeitlichen Gesellschaft entspricht. Eine weitergehende Erklärung für die unterschiedlichen Anteile, mit denen die einzelnen Stände unter den Supplizierenden repräsentiert sind, bietet die soziale Herkunft der Angeklagten bzw. Verurteilten: Wie ihre Fürsprecher, so gehörten auch sie zum Großteil den unteren Schichten, aber auch dem Handwerk, dem Handel und der Landwirtschaft an; der Adel geriet dagegen äußerst selten in Konflikt mit dem Gesetz.466 Vergleicht man nun die Supplikanten und Supplikantinnen mit den Nutznießern der Gnadenbitten im Hinblick auf die soziale Herkunft, so stellt man fest, dass sie zum Großteil demselben sozialen Stand angehörten. Denn die Suppliken stammten zum überwiegenden Teil aus eigener Hand oder aus der Familie, die in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft durch einen gemeinsamen sozialen Hintergrund gekennzeichnet war. Nur rund sechs Prozent der Suppliken wurden im Namen von Supplikanten und Supplikantinnen verfasst, die im Vergleich zur betroffenen Person einer sozial höheren Schicht angehörten, wie etwa der Brotherrschaft, der lokalen Obrigkeit, der militärischen Kommandoebene oder dem Königlichen Haus. Die Beobachtungen führen zu folgendem Supplikationsmuster: Die Konstellation zwischen Supplizierenden und Nutznießern der Gnadenbitten beruht zumeist auf einer analogen sozialen Herkunft. Anders ausgedrückt kann man sagen, dass das Supplizieren eine Praktik war, die im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Bittsteller bzw. Bittstellerin und Nutznießer in demselben sozialen Milieu stattfand. 466 Dieser Befund bedeutet nicht, dass Angehörige der Unterschichten „krimineller“ waren als sozial Höhergestellte. Geht man davon aus, das abweichendes Verhalten erst durch Attribution gesellschaftlich konstruiert wird, dann lassen sich Kriminalitätsraten u. a. durch sozialen Status, Macht, Geschlecht und alternative Konfliktlösungsmechanismen im sozialen Umfeld erklären – zur Etikettierungstheorie bzw. zum Labeling-Approach vgl. Schwerhoff 1992, S. 396 f. Dass abweichende Verhaltensweisen in der Gesellschaft sozialspezifisch bewertet und geahndet wurden, zeigt bspw. der Umgang mit ständespezifischen Delikten wie etwa dem Duell – zum Duell vgl. beispielhaft Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991. Für den Adel galt nicht nur ein anderer Verhaltenskodex, für ihn galten auch andere verfahrensrechtliche Voraussetzungen, so war bspw. der Instruktionssenat des Kammergerichts für eximierte Personen bereits in erster Instanz zuständig.
II. Zwischenbilanz
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Die hohe Präsenz der unteren und mittleren Schichten unter den Bittstellern und Bittstellerinnen belegt, dass das Supplizieren offensichtlich eine niederschwellige Machttechnik war. Auf diese Weise mit der Obrigkeit in Kontakt zu treten, verlangte den Untertanen augenscheinlich nicht so hohe Kosten und Mühen ab, dass es arme und wenig wohlhabende Schichten vom Supplizieren abgehalten hätte.467 Dafür spricht nicht nur die große Menge an Supplikationen aus diesen Schichten, sondern auch der Umstand, dass diese kostenpflichtige Suppliken aufsetzen ließen, obwohl die Möglichkeit bestand, eine Gnadenbitte bei Ämtern oder Gerichten mündlich vorzutragen und gebührenfrei protokollieren zu lassen [s. A.III.1.d)]. So kann man sagen, dass die These von Andreas Würgler, dass „The mechanism of supplication was independent of social position“468, auch für das hier vorliegende Untersuchungsgebiet weitgehend Gültigkeit hat.
c) Supplikationsmuster in generativer Hinsicht Eine weitere analytische Kategorie, die im Hinblick auf Supplikationsmuster und die Frage nach der Zugänglichkeit des Supplizierens auf den Prüfstand gestellt werden muss, ist das Alter der Supplikanten und Supplikantinnen. Aus überlieferungstechnischen Gründen entzieht sich allerdings auch diese Kategorie einer empirischen Untersuchung, denn die supplizierenden Männer und Frauen erwähnten ihr Alter in den Suppliken in der Regel nicht; allenfalls in Einzelfällen wiesen sie auf ihr hohes Alter hin, um zu betonen, wie sehr sie auf die Unterstützung durch ihren angeklagten bzw. verurteilten Familienangehörigen angeblich angewiesen waren. Bezieht man jedoch bei der Quellenanalyse das Verhältnis der Bittsteller und Bittstellerinnen zu den Nutznießern der Gnadenbitten mit ein, dann können aus den in den Suppliken thematisierten familiären und sozialen Beziehungen gewisse Rückschlüsse auf die Lebenssituation und damit auch auf das Lebensalter der supplizierenden Männer und Frauen gezogen werden. Es zeigt sich, dass die Supplikanten und Supplikantinnen das gesamte Spektrum an Altersstufen repräsentieren: Als Absender von Suppliken traten sogar sechs unerzogene und unmündige Kinder auf, deren Alter zwischen sechs und zwölf Jahren lag. Mündige, junge Erwachsene wie Lehrburschen, Dienstmägde und Knechte supplizierten ebenfalls, allerdings selten für andere, eher in eigener Sache. Der Großteil der Suppliken geht auf Personen mittleren Alters zurück, die sozial und beruflich etabliert waren. Außerdem supplizierten zahlreiche ältere Menschen, zumeist die Eltern der angeklagten bzw. verurteilten Personen. Unter ihnen gab es einige Greise, die tatsächlich ihr genaues Alter angaben, wohl hoffend, damit ihre Hilfsbedürftigkeit belegen zu können. Der Befund, dass die Spanne der unter den supplizierenden Männern und Frauen vertretenen Generationen vom Kleinkind bis 467 468
Der Gegenbeweis ist allerdings nicht zu erbringen. Würgler 2001, S. 16.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
zum Greis reichte, beweist, dass die Allzugänglichkeit des Supplizierens auch in Bezug auf das Alter galt. Betrachtet man das Verhältnis zwischen den Supplizierenden und den Nutznießern ihrer Bitten im Hinblick auf das Alter, so können allgemeine Aussagen zum generativen Altersgefälle in diesen Beziehungen getroffen werden. Bei einer solchen Überlegung können allerdings einige Supplikantengruppen nicht miteinbezogen werden: Dies gilt vor allem für die Fälle, in denen Supplikant und Nutznießer in Personalunion auftreten, also für die Gruppe der Angeklagten bzw. Verurteilten, die in eigener Sache supplizierten. Des Weiteren gilt dies aber auch für Bittsteller außerhalb der Familie und des sozialen Umfeldes, konkret für die lokale Obrigkeit, das Militär und die Mitglieder des königlichen Hauses – denn aus diesen Fällen geht das Alter der Supplikanten nicht hervor; vor allem aber sind diese Beziehungen weniger durch das Alter der Akteure als vielmehr durch die bestehenden Herrschaftsverhältnisse geprägt. Folgendes Bild zeichnet sich ab, wenn man die übrigen Supplikantengruppen nach dem Generationenverhältnis zu den Inhaftierten befragt: Über die Hälfte (schätzungsweise 56 Prozent) der supplizierenden Männer und Frauen (insbesondere Ehepartner, Geschwister, Mitgesinde, Nachbarn, Geschäftspartner) gehörte derselben Generation an wie die Personen, für die um Gnade gebeten wurde. Die übrigen Supplikationen wurden fast ausschließlich (schätzungsweise 40 Prozent) von der älteren Generation (Eltern, Anverwandte, Brotherrschaft) eingereicht, und dabei spielen all jene eine besondere Rolle, die als Vormund für die gerichtlich zur Verantwortung Gezogenen vorsprachen. Nur ein minimaler Anteil von Supplikationen (schätzungsweise 4 Prozent) wurde hingegen von der jüngeren Generation, insbesondere von Kindern, getragen.469 Daraus ergibt sich folgendes Supplikationsmuster: Die jüngere Generation zählte das Supplizieren anscheinend nicht zu ihrer Pflicht – oder anders betrachtet: Von ihren Suppliken versprachen sich die Untertanen wenig Erfolg, vielleicht, weil die Vorstellung herrschte, dass das Wort junger Menschen, die sich in der Gesellschaft noch nicht vollends etabliert hatten, nicht die nötige Autorität besaß, um Interessen gegenüber der Obrigkeit wirkungsvoll zu vertreten. Das Wort von Vertretern und Vertreterinnen der älteren oder derselben Generation schätzte man dagegen als gewichtiger ein – vermutlich weil sie als etablierte Hausmütter und -väter von bedeutsamen Wirtschaften, als Meister, Kaufleute, Bauern und Bäuerinnen etc. beim Supplizieren ein hohes Maß an sozialem Kapital einbringen konnten. Daher waren die Untertanen vermutlich der Meinung, dass die Obrigkeit Bitten und Beschwerden aus deren Munde eher ernst nahm und ihnen nachging 469 Dies sind lediglich grobe Schätzungen, da in den Quellen keine Altersangaben zu finden sind. Somit kann nicht berücksichtigt werden, ob nicht z. B. einige supplizierende Ehepartner und (Stief-)Geschwister der älteren oder jüngeren Generation angehörten; beide Supplikantengruppen werden hier derselben Generation zugerechnet wie diejenige, für die suppliziert wurde.
II. Zwischenbilanz
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als denen von Mägden, Lehrburschen oder gar Unmündigen. Die Frage, wer aus dem Kreis der unmittelbar und mittelbar Betroffenen supplizierte, hing aber sicher nicht ausschließlich davon ab, wie die Position des Einzelnen gegenüber der Obrigkeit eingeschätzt wurde und welche Chancen man sich für eine Gewährung von Gnade ausrechnete, sondern auch davon, inwiefern diese gegenüber den angeklagten bzw. verurteilten Personen in der Pflicht standen, ihnen als Mitglieder des Sozialverbandes Schutz zu gewähren. Leider lässt sich der Befund nicht mit Forschungsergebnissen zu anderen Regionen in Beziehung setzen, da bislang keine vergleichbaren Untersuchungen zur generativen Herkunft der supplizierenden Männer und Frauen vorliegen.
d) Supplikationsmuster in geschlechterspezifischer Hinsicht Anders als bei der sozialen Herkunft oder beim Alter geben die Suppliken bereitwillig Auskunft über das Geschlecht der Supplizierenden. Eine geschlechterspezifische Auszählung ergibt, dass beim Justizdepartement von den insgesamt 665 überlieferten Gnadenbitten 400 von Männern und 265 von Frauen eingereicht wurden. Dies entspricht einem Verhältnis von rund 60,2 Prozent Gnadenbitten von männlichen zu rund 39,8 Prozent von weiblichen Supplizierenden. Die Möglichkeit zu Supplizieren stand Männern und Frauen gleichermaßen offen und wurde auch von beiden Geschlechtern, wenngleich unterschiedlich häufig, genutzt – die Allzugänglichkeit galt folglich auch im Hinblick auf das Geschlecht. Zieht man Studien zur Gnadenpraxis anderer Herrschaften zum Vergleich heran, so stößt man auch dort auf den Befund, dass der Großteil der Gesuche von Männern verfasst wurde, allerdings zu einem höheren Prozentsatz als dies bei den hier untersuchten Quellen in Brandenburg-Preußen Ende des 18. Jahrhunderts der Fall ist.470 Für den Untersuchungsraum kann zum Beispiel die Beobachtung von Otto Ulbricht über das Supplikationsverhalten in Schleswig Anfang des 17. Jahrhunderts nicht bestätigt werden, derzufolge dort nur vereinzelt Frauen unter den Supplizierenden waren, die überdies „ausdrücklich als Stellvertreter ihrer Ehemänner“ handelten.471 Die relativ hohe Zahl von Frauen unter den Supplizierenden in diesem Quellenfundus ist auffällig auch im Vergleich zu den Ergebnissen von Andreas Würgler, der durch Stichproben auf einen Frauenanteil von 13 bis 34 Prozent im 470 So bspw. das Ergebnis von André Holenstein, der Suppliken aller Art und Anliegen für die Markgrafschaft Baden-Durlach 1798 untersuchte – vgl. Holenstein 1998, S. 336. Helmut Neuhaus kommt bei seiner Untersuchung der Gnaden- und Justizsupplikationen des 16. Jh. in der Landgrafschaft Hessen auf 13,1 Prozent Frauen und 78,5 Prozent Männer als Absender (bei 8,4 Prozent konnte die Geschlechtszugehörigkeit nicht ermittelt werden) – vgl. Neuhaus 1978, S. 163, Fn. 192. Ein vergleichbares Ergebnis mit einem Frauenanteil von 15 Prozent an den Suppliken legt Andreas Bauer für den ländlichen Raum des Bregenzerwaldes im 15. / 16. Jh. vor; allerdings ist Bauers schmale Quellenbasis für eine prozentuale Hochrechnung problematisch – vgl. Bauer 1996, S. 145. 471 Zit. aus: Ulbricht 1996, S. 157.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
hessischen Raum des 18. Jahrhunderts kommt,472 oder von Gerd Schwerhoff, der den Frauenanteil in Köln auf rund ein Viertel bis maximal ein Drittel schätzt.473 Zu einem ähnlichen Ergebnis wie hier gelangt Andreas Bauer für die Stadt Feldkirch im 15. / 16. Jahrhundert: Dort wurden rund 40 Prozent der Gnadenbitten von Frauen, vor allem von adligen, verfasst.474 Zu einem gänzlich anderen Ergebnis gelangt Andrea Griesebner: Die Gnadengesuche an das Landgericht Perchtoldsdorf des Erzherzogtums Österreich unter der Enns wurden im 18. Jahrhundert fast ausnahmslos von Frauen aufgesetzt – mit Ausnahme von wenigen Gesuchen, die von Männern meist in Ausübung einer Funktion, wie bspw. dem Pfarrer, stammten.475 Auch in den Fallstudien von Renate Blickle waren es Frauen, die dem jeweiligen Gnadenträger die Supplik überreichten.476 Die Heterogenität der Befunde belegt einmal mehr, dass sich der Vergleich einer Verallgemeinerung entzieht: Die Ergebnisse der genannten Studien haben nur in ihrem jeweils spezifischen Kontext Gültigkeit. Unter dem Gesichtspunkt der Geschlechterverteilung kann als Resultat eines Vergleichs lediglich festgehalten werden, dass die Quellengattung Supplik trotz des höheren Anteils männlicher Supplikanten das Handeln von Frauen im Vergleich zu anderen Quellengattungen zu einem relativ hohen Prozentsatz dokumentiert.477 Bevor man nun eine Antwort auf die Frage sucht, unter welchen Bedingungen Frauen und Männer supplizierten, sollte auch das Geschlecht der Nutznießer der Gnadenbitten berücksichtigt werden: Aktenkundig geworden sind 327 Angeklagte bzw. Verurteilte, für die Gnadenbitten eingelegt wurden; davon waren rund 71,6 Prozent Männer (insg. 234 männliche Angeklagte bzw. Verurteilte) und rund 28,4 Prozent Frauen (insg. 93 weibliche Angeklagte bzw. Verurteilte).478 472 Die Stichproben beziehen sich auf Hessen, Hessen-Kassel und Hessen-Oldendorf in den Jahren 1514, 1594, 1596, 1728 und 1787. In den Stichproben zum 16. Jahrhundert gelangt Würgler lediglich auf drei bis 13 Prozent Frauen unter den Supplizierenden – vgl. Würgler 2001, S. 26, Anm. 84. 473 Vgl. Schwerhoff 2000, S. 482. 474 Vgl. Bauer 1996, S. 145, allerdings mit der oben gemachten Einschränkung. 475 Vgl. Griesebner (Frühneuzeit-Info) 2000, S. 14. 476 Vgl. Blickle 2000, S. 308, 309 und vgl. Blickle 1998, S. 241 f., 246 und vgl. Blickle 1997. Ein regelrechter empirischer Vergleich verbietet sich allerdings aus methodischen Gründen bei Fallstudien. 477 Dies gilt umso mehr, wenn man an Quellengattungen wie etwa Klageschriften denkt, mit denen sich die Untertanen und Untertaninnen ebenfalls mit der Bitte um Unterstützung an die Obrigkeit wandten, und bei denen Frauen als Initiatorinnen in der Regel eher unterrepräsentiert sind. In vielen frühneuzeitlichen Territorien zeigten Frauen eine geringe Bereitschaft, den Gang zum Gericht als Klägerin zu wagen, um einen Streit schlichten zu lassen – vgl. Ulbrich („Kriminalität“) 1995, S. 213 – 215; vgl. Michaela Hohkamp, Herrschaft in der Herrschaft. Die vorderösterreichische Obervogtei Triberg von 1737 bis 1780, Göttingen 1998, hier S. 189 – 191; vgl. Susanna Burghartz, Kein Ort für Frauen? Städtische Gerichte im Spätmittelalter; in: Bea Lundt (Hg.), Auf der Suche nach der Frau im Mittelalter. Fragen, Quellen, Antworten, München 1991, S. 49 – 64.
II. Zwischenbilanz
353
Die Tatsache, dass rund zweieinhalb Mal mehr Männer als Frauen durch Gerichte strafrechtlich verurteilt worden waren,479 liefert eine mögliche Erklärung für den relativ hohen Anteil an Supplikantinnen. Denn: Befragt man die Quellen nach Personengruppen im sozialen Umfeld der Angeklagten bzw. Verurteilten, die am meisten unter der Situation zu leiden hatte, so stößt man auf deren Familien und damit zuvorderst auf die Ehefrauen mit ihren Kindern sowie auf die Eltern, insbesondere die Mütter der Angeklagten bzw. Verurteilten. In der Tat wurde der Großteil aller Gnadenbitten von Bittstellerinnen (rund 54,3 Prozent) im Namen der Ehefrauen der verurteilten Männer aufgesetzt [s. B.I.2.]. Rechnerisch gesehen stellten die Mütter der angeklagten und verurteilten Männer und Frauen mit rund 18,5 Prozent die nächst größere Gruppe von Supplikantinnen dar [s. B.I.3.]. Die Untertanen hingen offensichtlich der Vorstellung an, dass – wenn der Verdienst bzw. die Arbeitskraft des Familienvaters oder des Sohnes während der Arrestzeit ausfiel – sich die Ehefrauen und Mütter in besonderem Maße dazu eigneten, für die Angeklagten bzw. Verurteilten zu supplizieren. In einem verbreiteten Supplikationsmuster unter Frauen wurde an ihre vermeintliche Hilfsbedürftigkeit und das Mitleid des Gnadenträgers appelliert: Die Supplikantinnen verglichen ihre Situation, als Frau allein auf sich gestellt zu sein, mit der von Witwen. Das Argument wurde sowohl von den zurückgebliebenen Ehefrauen als auch von den Müttern verwandt, denn beide mussten für absehbare Zeit auf die Unterstützung ihres Ernährers bzw. ihres Sohnes verzichten. Ehefrauen vertraten zudem die Interessen ihrer kleinen Kinder, die sie analog als Waisen präsentierten. 478 Bei dieser Angabe wurden nur die Angeklagten bzw. Verurteilten berücksichtigt, für die eine oder mehrere Gnadenbitten eingereicht wurden. Dies konnten mehrere Personen je Fallakte sein, soweit für sie suppliziert wurde; etwaige Mitangeklagte bzw. Mitverurteilte, die ebenfalls in der Fallakte genannt sind, wurden hingegen nicht mitgezählt, wenn für diese keine Gnadenbitte vorliegt. 479 Dieser Befund lässt nach Ansicht der Verfasserin dieser Studie nicht den in der allgemeinen Kriminologie noch immer anzutreffenden sozio-biologistischen Rückschluss zu, dass sich Männner aufgrund einer angeblich biologisch-psychischen Disposition „krimineller“ verhalten als Frauen. Vielmehr besagt die niedrige Rate der Frauenkriminalität lediglich, dass abweichende Verhaltensweisen von Frauen in der Gesellschaft nicht nur anders bewertet und kontrolliert, sondern auch anders geahndet wurden, etwa durch Konfliktlösung im sozialen Umfeld. Zur geschlechterspezifischen Bewertung von Handlungsmustern, die als strafrechtlich relevant ausgewiesen und als kriminell definiert werden vgl. beispielhaft Claudia Ulbrich, Weibliche Delinquenz im 18. Jahrhundert. Eine dörfliche Fallstudie; in: Otto Ulbricht (Hg.), Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 1995, S. 281 – 311, hier S. 281 – 286; vgl. Claudia Ulbrich („Kriminalität“) 1995, bes. S. 215 – 217; vgl. Brunhilde Sauer-Burghard / Gerda Zill, Frauen in der Rechtsprechung, Opladen 1984, hier S. 6 – 13; vgl. Gerlinda Smaus, Das Strafrecht und die Frauenkriminalität; in: Kriminologisches Journal 22 (1990), S. 266 – 283, hier bes. S. 280. Zum methodischen Diskurs über Kriminalität und Geschlecht vgl. Carmen Gransee / Ulla Stammermann, Kriminalität als Konstruktion von Wirklichkeit und die Kategorie von Geschlecht. Versuch einer feministischen Perspektive, Pfaffenweiler 1992, hier bes. S. 56.
354
B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld Tabelle 2 Gnadenbitten je Supplikantengruppe Gnadenbitten (Gb) Gnadenbitten (Gb) von Supplikanten von Suplikantinnen
Gesamtheit der Gb je Supplikantengruppe / prozentuales Verhältnis zur Gesamtheit der 665 Gb
210 Gb
44 Gb
254 Gb / 38,2 %
Ehemann / Ehefrau
41 Gb
144 Gb
185 Gb / 27,8 %
Eltern
74 Gb
49 Gb
123 Gb / 18,5 %
Kinder
7 Gb
10 Gb
17 Gb / 2,6 %
Geschwister
9 Gb
8 Gb
17 Gb / 2,6 %
Anverwandte
14 Gb
3 Gb
17 Gb / 2,6 %
Nachbarschaft & Arbeitsumfeld*
10 Gb
2 Gb
12 Gb / 1,8 %
Brotherrschaft
10 Gb
3 Gb
13 Gb / 1,9 %
Lokale Obrigkeit & Militär
24 Gb
./.
24 Gb / 3,6 %
Supplikantengruppe (im Verhältnis zur angeklagten / verurteilten Person) Angeklagte / Verurteilte in eigener Sache
Haus der Hohenzollern
1 Gb
2 Gb
Summe
400 Gb / 60,2 %
265 Gb / 39,8 %
Zum Vergleich: Angeklagte bzw. Verurteilte
234 Männer / 71,6 % 93 Frauen / 28,4 %
3 Gb / 0,4 % 665 Gb
327 Nutznießer v. Gb / 100 %
* In diesen Gruppen liegen einige Kollektivsuppliken vor, aus denen die Anzahl der fürbittenden Personen nicht exakt hervorgeht, daher werden sie hier als eine Gnadenbitte gerechnet. Ansonsten werden alle Bitten einzeln gezählt, also auch solche, bei denen in einer Supplik für mehrere Personen um Gnade gebeten wurde, oder bei denen mehrere identifizierbare Supplikanten bzw. Supplikantinnen für eine Person um Gnade baten.
Da Witwen und Waisen traditionell dem besonderen Schutz des Monarchen unterstanden, lag es nahe, das Witwenargument480 auszuspielen und Hilfe direkt einzufordern. Durch die Notlage gedrängt und im Bewusstsein, ihre Quasi-Witwenschaft taktisch einsetzen zu können, ergriffen Frauen die Initiative in Situationen, in denen der Handlungsspielraum des Ernährers oder der Stütze im Alter beschränkt war, und wandten sich Hilfe suchend direkt an die Obrigkeit.481 480 Claudia Ulbrich spricht vom Witwenargument, womit Witwen versuchten, ihre Schutzbedürftigkeit und ihr vorgebliches Nichtwissen strategisch einzusetzen, um die obrigkeitliche Entscheidung ihrer Bitten in ihrem Sinne zu beeinflussen – vgl. Ulbrich 1996, S. 213 f. Auch in Suppliken aus Köln und aus dem Erzherzogtum Österreich unter der Enns wird das Witwenargument angeführt – vgl. Schwerhoff 2000, S. 483; vgl. Griesebner (Wahrheiten) 2000, S. 136 f. 481 Die Annahme deckt sich mit Holensteins Beobachtung – vgl. Holenstein 1998, S. 340.
II. Zwischenbilanz
355
Das Supplikationsverhalten von Männern war geradezu spiegelverkehrt zu dem von Frauen: Wenn Männer supplizierten, dann an erster Stelle in eigener Sache: Rund 52,5 Prozent aller Gnadenbitten aus männlicher Hand geben den Angeklagten bzw. Verurteilten selbst als Absender aus. Im Vergleich dazu reichten Frauen in derselben Situation zu nur rund 16,6 Prozent aller Gnadenbitten weiblicher Absender ein Gesuch in eigener Sache ein [s. B.I.1.]. Die Divergenz erklärt sich vor allem durch die asymmetrischen geschlechterspezifischen Handlungsspielräume, wonach es Männern erlaubt war, für sich selbst zu sprechen; die Interessenvertretung von Frauen nahmen dagegen zumeist Vormünder männlichen Geschlechts wahr. In der Praxis konnten Frauen zwar auch Suppliken in eigener Sache einreichen oder Klage bei Gericht erheben, dennoch blieben Frauen dabei in der Minderheit – vermutlich weil sie sich vom Supplizieren im eigenen Namen eine geringere Aussicht auf Erfolg versprachen, als wenn dies andere an ihrer statt taten. Unter den männlichen Bittstellern stellen Väter die zweitgrößte Gruppe dar: Ihr Anteil macht rund 18,5 Prozent der von Männern eingereichten Gnadenbitten aus [s. B.I.3.]. In diesem Punkt gleicht das Supplikationsverhalten der Männer jenem der Frauen, denn auch sie baten am zweithäufigsten für ihre Kinder um Gnade – wenngleich sie dabei andere Argumente anführten. Das Engagement der Väter leitete sich vor allem von der patria potestas ab, die sie auf den Schutz ihrer Kinder verpflichtete. Obwohl auch Frauen unter der patria potestas ihrer Ehemänner standen, resultierte daraus aber offensichtlich nicht, dass sich diese zur Supplikation für ihre Ehefrauen verpflichtet fühlten: Der Ehemann, der für seine Gattin um Gnade bat, rangiert mit rund 10,3 Prozent aller supplizierender Männer erst an dritter Stelle, während Ehefrauen den ersten Platz unter den Supplikantinnen einnehmen [s. B.I.2]. Eine Erklärung für das zurückhaltende Supplikationsverhalten bietet die These, dass der Ehemann für das Fehlverhalten seiner Frau aus der Sicht der frühneuzeitlichen Gesellschaft eine Mitschuld trug. Abweichendes bzw. als kriminell definiertes Verhalten der Ehefrau führte vermutlich in nicht unerheblichem Maße dazu, die Autorität und den Leumund des Ehemannes in Frage zu stellen. Sich in einer solchen Situation hinter seine Ehefrau zu stellen und ihr Handeln womöglich noch zu verteidigen, verstärkte vermutlich die Tendenz, das soziale Kapital zu schmälern. Hinzu kam, dass die Aussicht auf eine Begnadigung aus Sicht der Untertanen sicherlich geringer veranschlagt wurde, wenn man mit einem fragwürdigen Leumund supplizierte. Vor diesem Hintergrund nahmen vermutlich zahlreiche Ehemänner, deren Frauen mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, Abstand von einer Supplikation. Stärker als die Verpflichtung zwischen Ehemann und Ehefrau, füreinander einzustehen, war offenbar die väterliche Pflicht, seinem Kind Schutz zu gewähren, und dessen Interessen mit einer Supplikation zu verteidigen. Bei einem Kind hatte der Vater – anders als der Ehemann gegenüber seiner Ehefrau – die Möglichkeit, seinen Vorsatz zu bekunden, das Kind künftig streng zu erziehen und seinen Werdegang eng zu begleiten, so dass es auf den rechten Weg kam. Jungen Menschen gab man offenbar eine Chance zur Besserung. Vor diesem Hintergrund wurde die
356
B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Fürsprache eines Vaters für sein Kind durchaus für überzeugend und erfolgsversprechend gehalten. Aus diesen Befunden und im Hinblick auf die vorstehende Untersuchung der verschiedenen Supplikationsgruppen, lassen sich folgende geschlechterspezifische Supplikationsmuster ableiten: Für Männer, welche die patria potestas ausübten, gilt, je stärker eine Person in der Pflicht stand, andere Personen des Sozialverbandes zu schützen und ihre Interessen nach außen zu vertreten, desto eher wurde die Supplikation als ihre Aufgabe betrachtet. Der Erwartungsdruck zu supplizieren war aber nicht nur aufgrund der sozialen Position und der damit verbundenen Verpflichtungen hoch, sondern auch deshalb, weil offenbar die Vorstellung verbreitet war, dass die Aussicht auf Erfolg entscheidend von der Position des Absenders abhing. Für Frauen hingegen gilt, je stärker die angeklagte bzw. verurteilte Person bei ihnen in der Pflicht stand, desto eher forderten sie im Wege der Supplikation ein, dass jene ihren Verpflichtungen nachkommen sollten. Hier stand die Vorstellung im Vordergrund, dass der Obrigkeit die Aufgabe zukam, Schwache zu schützen und daher eher bereit war, dem Hilferuf von Supplikantinnen nachzugeben, die sich des Topos der unschuldigen, hilfsbedürftigen Frau bedienten. Kurz: Während Frauen in ihren Supplikationen tendenziell eher auf ihre Hilfsbedürftigkeit und auf ihr Recht, von Dritten unterstützt zu werden, verwiesen, stellten Männer eher ihre starke Position in den Vordergrund, verbunden mit der Pflicht, die mit dem Gesetz in Konflikt geratene Person bzw. die von der Notlage mitbetroffenen Personen zu schützen. Bleibt abschließend festzuhalten, dass das Supplikationswesen in BrandenburgPreußen Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur auf der Ebene der Normen, sondern auch in der Lebenswirklichkeit für die Untertanen und Untertaninnen nahezu482 allzugänglich war, sei es in sozialer, generativer oder geschlechterspezifischer Hinsicht und im Hinblick auf unterschiedliche Beziehungsstrukturen zwischen Supplizierenden und Nutznießern. Die Supplik stellte für beide Geschlechter sowie für alle gesellschaftlichen Schichten und Generationen der Gesellschaft ein zentrales und vielfach genutztes Kommunikationsmedium zwischen Untertanen und Untertaninnen einerseits sowie der Obrigkeit andererseits dar. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Nutzungsintensität je nach Beziehung zum Nutznießer der Gnadenbitte und je nach sozialer, generativer und geschlechterspezifischer Zugehörigkeit stark variierte und in Abhängigkeit zu den Rechten und Pflichten, welche die spezifische Beziehung zwischen den Supplizierenden und den Nutznießern prägten, stand.
482 Die Einschränkung bezieht sich auf mobile Randgruppen [s. B.II.1.b)]. Es konnte hier nicht abschließend geklärt werden, inwieweit diese formal Zugang zur Supplikation hatten und inwieweit sie tatsächlich davon Gebrauch machten.
II. Zwischenbilanz
357
2. Zwischenbilanz zu Motiven und Interessenlagen des Supplizierens a) Supplizieren in der Funktion als außer- bzw. nachgerichtliche Verteidigung Allen Supplikationen gemeinsam ist die vordergründige Absicht, eine Begnadigung zu erwirken. Mit Absicht wird hier auf die formale Intention einer Supplikation abgehoben, das heißt, gemeint sind hier nicht persönlich begründete Motive, welche die supplizierenden Männer und Frauen zum Aufsetzen einer Supplik möglicherweise bewegt haben könnten, sondern allein die mit einer Supplikation formal verbundene Intention, bei der Obrigkeit für jemanden bzw. für sich selbst eine Begnadigung zu erwirken und damit eine als nicht gerecht oder angemessen bzw. belastend empfundene Sanktion aufzuheben oder doch zumindest zu mildern. Die Notwendigkeit einer Verteidigung im Wege der Supplikation erkannten die Betroffenen entweder gleich zum Zeitpunkt der Anklage und Verhaftung oder aber erst nach Abschluss des Verfahrens, also nachdem das Urteil ihre Hoffnung, dass das Verfahren ein aus ihrer Sicht gutes Ende nehmen würde, zerstört hatte. Da der Inquisitionsprozess kaum Verteidigungsmöglichkeiten bot, versuchten die Verurteilten bzw. ihre Angehörigen, die fehlende Kommunikation zwischen Delinquent und Gericht durch das Medium Supplik zu ersetzen:483 Je nachdem, ob während des laufenden Prozesses oder nach Verfahrensabschluss suppliziert wurde, kommt der Supplikation die Funktion einer außer- bzw. nachgerichtlichen Verteidigung zu. Bittsteller und Bittstellerinnen, die sich mit Hilfe einer Supplikation gegen aus ihrer Sicht ungerechtfertigte Vorhaltungen oder gegen eine zu hart empfundene Sanktion zu verteidigen suchten, waren zumeist die Angeklagten bzw. Verurteilten selbst, häufig aber auch Angehörige aus dem engsten Familienkreis, insbesondere die Ehepartner. Dass sich die Verteidigung weitgehend auf diese Supplikantengruppen beschränkt, dafür findet sich eine taktische Erklärung: Wollte man den Gnadenträger davon überzeugen, dass das Gericht die Schuldfrage falsch eingeschätzt hatte oder Verfahrensfehler vorlagen, so setzt dies aus Gründen der Plausibilität voraus, dass die Einwände von am Geschehen unmittelbar beteiligten Personen oder von Augenzeugen geäußert wurden. Dies traf auf die Angeklagten bzw. Verurteilten zu, und war bei Familienangehörigen aufgrund der räumlichen Nähe, in der man lebte, zumindest wahrscheinlich. Bittsteller aus dem weiteren sozialen Umfeld der Angeklagten bzw. Verurteilten bauten ihre Supplikation hingegen nur dann auf einer Verteidigung im Sinne eines Infragestellens der Urteilsgründe auf, 483 In dieser Hinsicht kann Karl Härters These bestätigt werden, dass die Supplikation die ursprünglich mündliche Kommunikation des traditionellen Akkusationsprozesses nun im Inquisitionsprozess, der nur ungenügende Verteidigungsmöglichkeiten bot, ersetzen sollte – vgl. Härter 2005, S. 248. Auch Martin Dinges weist auf den Zusammenhang des Gnadenbittens mit älteren Traditionen der Verteidigung hin – vgl. Dinges 2000, S. 535.
358
B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
wenn sie zufällig Zeugen der Geschehnisse waren; ansonsten mussten sie ihre Verteidigung darauf beschränken, den guten Leumund der angeklagten bzw. verurteilten Person zu bezeugen. Dabei zeigt sich allerdings, dass einige Supplizierende meinten, nicht nur als Augenzeuge, sondern auch als Ohrenzeuge den Tathergang beurteilen zu können, also als jemand, der den Geschehnissen nicht beigewohnt hatte, sondern über sie lediglich durch Dritte informiert worden war. In der von Mündlichkeit geprägten Gesellschaft wurde dem gesprochenen Wort aus dem Munde einer vertrauenswürdigen Person, wie etwa einem Familienangehörigen, derart hohe Bedeutung beigemessen, dass deren Aussage als beweiskräftig galt – und zwar hatte eine solche Aussage nicht nur Einfluss auf die eigene Meinungsbildung, sondern wurde auch der Obrigkeit gegenüber als selbst erlebte Tatsache angeführt. An diesem Beispiel zeigt sich vor allem, dass es nicht nur eine Frage der Zeugenschaft war, sondern vielmehr eine Frage der inneren Bereitschaft, den eigenen guten Ruf für die Verteidigung eines Menschen einzubringen, der mit den Gesetzen in Konflikt geraten war – und die innere Bereitschaft steht und fällt wiederum mit dem Grad der Betroffenheit von der Verurteilung. Der Verteidigungsfunktion entsprechend brachten die Supplikanten und Supplikantinnen in erster Linie verfahrensimmanente Gnadenbitten vor: So versuchten sie beispielsweise eine Revision des Verfahrens zu erwirken und forderten die Anhörung entlastender Zeugen ein. In einigen Fällen geriet eine Verteidigung zum Vorwurf des Justizirrtums, etwa wenn die völlige Unschuld des Beschuldigten beteuert wurde, oder aber die Richter der Parteilichkeit bezichtigt wurden. In erster Linie ging es aber darum, die persönliche Schuld der Verurteilten am Vergehen möglichst als gering darzustellen. Dabei bedienten sie sich typischer Argumentationsmuster, sei es, dass auf die Mitschuld Dritter bzw. auf die Anstiftung durch Dritte verwiesen wurde, sei es, dass das jugendliche Alter als mildernder Umstand angeführt wurde, oder dass die Tat als Affekthandlung unter Alkoholeinfluss oder als Wutausbruch entschuldigt wurde. Hierbei handelte es sich um allgemein bekannte mildernde Umstände, die aber im Prinzip gerichtlich relevant waren und im Einzelfall auch berücksichtigt wurden. Darüber hinaus wurden auch Argumente angeführt, die auf tiefere juristische Kenntnisse schließen lassen. Dazu gehört zum Beispiel die Bitte um Angleichung der Strafe an das zum Zeitpunkt der Supplikation gültige Strafrecht: Das Allgemeine Landrecht sah bei bestimmten Delikten ein geringeres Strafmaß vor als das vor einiger Zeit verhängte Urteil, welches noch auf altem Recht gründete. So unterschiedlich die verfahrensimmanenten Argumente waren, sie dienten der Verteidigung und verfolgten dabei die Absicht, das Strafmaß zu mindern. Darüber hinaus sollten Supplikationen Dritter ein Zeichen der Solidarität mit den angeklagten bzw. verurteilten Personen setzen. Das Supplizieren wurde als Praktik verstanden, um den Grad der sozialen Integration der betreffenenden Personen gegenüber der Obrigkeit zu belegen.
II. Zwischenbilanz
359
b) Faktor Interesse: Supplizieren mit dem Wirtschaftsargument als Mittel zur Verhinderung des wirtschaftlichen Ruins So sehr sich die Umstände und die Beziehungsstruktur zwischen Supplizierenden und den von ihnen zur Begnadigung Vorgeschlagenen in jedem einzelnen Gnadenfall voneinander unterscheiden, sind die zahlreichen Supplikationen, was das ihnen zugrunde liegende Interesse anbelangt, dennoch auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen: das eigene wirtschaftliche Auskommen zu sichern. Die Mehrheit der Supplizierenden verfolgte mit der Supplikation das Ziel, die Sanktionsbedingungen auf eine Weise zu modifizieren, dass die eigene Wirtschaft vor dem wirtschaftlichen Ruin bewahrt blieb. Das Motiv und die dahinterstehende Interessenlage lassen sich an dem Wirtschaftsargument ablesen, welches sich wie ein roter Faden durch die Suppliken zieht. Seien die Absender Eheleute, Eltern, Kinder, Geschwister, Anverwandte, Nachbarn, Geschäftspartner oder sogar Amtsträger der lokalen Obrigkeit,484 den Fortbestand und den Ertrag der eigenen Wirtschaft infolge der Bestrafung der angeklagten bzw. verurteilten Person in Frage zu stellen und die Gefahr eines wirtschaftlichen Ruins zu beschwören, gehört zum Grundtenor der untersuchten Quellen. Der Befund deckt sich mit Ergebnissen aus anderen frühneuzeitlichen Herrschaften, wie zum Beispiel Untersuchungen zu Kurmainz, Württemberg, zum Erzherzogtum Österreich unter der Enns oder zu Köln.485 Dass das Wirtschaftsargument so häufig ins Feld geführt wurde, belegt, dass die Sorge um die Existenz der Wirtschaft das zentrale Interesse der supplizierenden Männer und Frauen war. Zugleich zeigt sich darin, dass sich die Bittsteller und Bittstellerinnen von einer Schilderung der wirtschaftlichen Probleme die größte Chance auf Gnadengewährung versprachen. Die in den Suppliken angeführten wirtschaftlichen Gründe, welche die Anwesenheit der angeklagten bzw. verurteilten Person im Haus als für das Überleben notwendig hinstellten, waren vielfältig und abhängig von der Beziehungsstruktur zwischen Supplizierenden und den Nutznießern ihrer Gnadenbitten. Daher soll im Folgenden auf den konkreten wirtschaftlichen Nutzen, den sich die einzelnen Supplikantengruppen von einer Gnadenbitte bzw. einer Begnadigung erhofften, eingegangen werden. In eine existenzbedrohende Situation hineingeraten zu sein, wurde von fast allen supplizierenden Angehörigen aus dem engeren Kreis der Familien – insbesondere von Eheleuten, Eltern, Geschwistern und Kindern486 – moniert. So befürchteten 484 Allein in den Suppliken aus dem Haus der Hohenzollern und aus Militärkreisen wurden keine wirtschaftlichen Motive angeführt. Wenn man allerdings bei letzteren die Bedeutung der Rekrutierung berücksichtigt, so ist auch die vom Militär an eine Bestrafung gekoppelte Bedingung – nämlich die körperliche Unversehrtheit des Angeklagten bzw. Verurteilten – in einem wirtschaftlichen Kontext zu sehen. 485 Für Kurmainz vgl. Härter 2005, S. 264 und vgl. Härter 2000, S. 429, 479; für Württemberg vgl. Rublack 1998, S. 88; für das Erzherzogtum Österreich unter der Enns vgl. Gries-ebner (Frühneuzeit-Info) 2000, S. 19; für Köln vgl. Schwerhoff 2000, S. 478.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Eheleute den Niedergang ihrer gemeinsam aufgebauten Existenzgrundlage, wenn die Arbeitskraft eines Ehepartners in der Wirtschaft mit reziprok organisierter geschlechterspezifischer Arbeitsteilung auf längere Sicht ausfiel: So beklagten Ehefrauen den Ausfall ihres Ernährers im Handwerk, Handel oder in der Landwirtschaft; Ehemänner vermissten dagegen die Hausmütter vor allem im Hinblick auf die Betreuung der Kinder, bei der Nahrungsmittelversorgung, der Gartenarbeit, aber auch im gemeinsam betriebenen Gewerbe. Die Sorge um die Wirtschaft bezog sich nicht nur auf produzierende Bereiche – wie der Landwirtschaft, das Handwerk oder der Handel –, sondern ebenso auf den reproduktiven Bereich des Haushaltes. Supplikationen von Eltern, Kindern und Geschwistern waren mitunter in doppelter Hinsicht wirtschaftlich motiviert: Zum einen spürten sie als Pflegebedürftige – seien es Kinder, Kranke oder aufgrund des Alters gebrechliche Menschen – ganz unmittelbar die Folgen, wenn eine für die Versorgung und Pflege wichtige Person fehlte. Zum anderen mussten sie als Mitglied des Hauses ein vitales Interesse am Wohlergehen der Wirtschaft haben, da sie direkt vom Ertrag partizipierten. Ein grundsätzliches Interesse am wirtschaftlichen Auskommen ihrer Eltern, Kinder und Geschwister hatten sie aber auch dahingehend, weil sie verpflichtet waren, diese materiell zu unterstützen. Wenngleich nicht in solch verbindlichem Maße galt die Pflicht auch für angeheiratete Anverwandte, den in Not geratenen Familienmitgliedern auszuhelfen, insbesondere wenn es sich um eine Schwägerin mit ihren Kindern oder um jüngere Verwandte handelte, für die man die Vormundschaft übernommen hatte. Da die supplizierenden Männer und Frauen als Mitbetroffene mit ihrem Eigentum in gewisser Weise hafteten, war ihr Interesse an der Supplikation vor allem ein wirtschaftliches: Von einer Begnadigung erhoffte man sich, dass sie die Lage entschärfen und sie damit von ihrer Unterstützungspflicht entbinden würde; darüber hinaus durften die Supplizierenden vom Nutznießer ihrer Gnadenbitte Dankbarkeit und womöglich Gegenleistungen für ihre im Wege der Supplikation geleistete Unterstützung erwarten. Den Niedergang der Wirtschaft, welcher angeblich durch den strafbedingten Ausfall der angeklagten bzw. verurteilten Person ausgelöst worden war, stellten die supplizierenden Männer und Frauen in ihren Schreiben entweder als bereits gegeben oder als unmittelbar bevorstehend dar. Um diese scheinbar unausweichliche Entwicklung zu betonen, wurde in zahlreichen Suppliken das dramatisierende Schlüsselwort Bettelstab benutzt, womit den Hausangehörigen eine Zukunft als Bettler prognostiziert wurde. Es steht zu vermuten, dass in vielen Fällen bereits erste Anzeichen eines Niedergangs zu erkennen waren, welche die Furcht vor der Verarmung und einer sozialen Abwärtsspirale nährten. Liest man die Suppliken allerdings genauer, so geht aus ihnen hervor, dass sich die betreffenden Höfe und 486 Dabei wird hier selbstverständlich davon ausgegangen, dass Supplikationen vieler Kinder, insbesondere von unmündigen, nicht auf diese selbst zurückzuführen sind, sondern diese von ihnen nahe Stehenden, häufig vom verbliebenen Elternteil, initiiert und im Namen der Kinder verfasst wurden.
II. Zwischenbilanz
361
Gewerbe oft in einer weit weniger kritischen Situation befanden, als dies die düstere Schilderung in den Suppliken zuweilen glauben macht – Übertreibungen gehörten zum taktischen Repertoire des Supplizierens. Zudem fungierte der Hinweis auf den Bettelstab als ein indirekter Appell an die Obrigkeit, dass hier ihre fiskalischen Interessen in Gefahr waren, denn aus einer ruinierten Wirtschaft waren keine Abgaben mehr zu erwarten. Viele supplizierende Frauen und Männer unterstellten offenbar dem Monarchen, Gnade entweder aus Mitleid oder aus utilitaristischen Erwägungen zu gewähren. Ein wirtschaftliches Interesse verbanden häufig auch die Brotherrschaft, das weitere Arbeitsumfeld und die Nachbarschaft mit ihren Supplikationen. Anders als bei Supplikationen der Familie wurde das eigene wirtschaftliche Interesse hier nicht immer offen ausgesprochen, sondern lediglich auf das wirtschaftliche Interesse der unmittelbar Betroffenen verwiesen: Als Motiv wurde in den Suppliken Mitleid mit der wirtschaftlichen Notlage der Familie des Betroffenen angeführt. Da die Familien der Nachbarn, der Geschäftspartner, der Brotherrschaft mit jener des Gesindes mitunter in enger Beziehung zueinander standen, war das Mitleid jedoch nicht immer so selbstlos, wie es die Suppliken glauben machen wollen. Der Fürsprache ist ein mittelbar wirtschaftliches Interesse nicht abzusprechen, da von einer Unterstützung, wie sie die Supplikation darstellt, grundsätzlich eine positive Auswirkung auf die künftige geschäftliche bzw. nachbarschaftliche Beziehung zu erwarten war. Daneben gab es auch unmittelbare wirtschaftliche Motive, welche sowohl die Nachbarschaft als auch die Geschäftsleute und die Brotherrschaft zum Supplizieren bewogen haben könnten: Die Nachbarschaft musste ein generelles Interesse am Auskommen der ihr zuzurechnenden Familien haben, da von ihr andernfalls eine gewisse materielle Unterstützung der Notleidenden erwartet wurde – wenngleich in einem anderen Maße, als dies bei Familienmitgliedern der Fall war. Das wirtschaftliche Eigeninteresse bei Geschäftsleuten und Brotherrschaften war dagegen stärker ausgeprägt: Sie litten darunter, dass ihre Geschäftspartner nicht mehr handlungsfähig waren, bzw. dass ihr Gesinde dem Dienst fernblieb. Außerdem sorgten sich beide Supplikantengruppen um ihre getätigten Investitionen: Die Geschäftsleute bangten um ihre Außenstände bei einem zahlungsunfähigen Partner; die Lehrherren befürchteten, dass das Lehrgeld, welches sie für die Ausbildung des Gesindes bereits erhalten hatten, nun eventuell zurückverlangt werden könnte. Für die Brotherrschaft kam außerdem hinzu, dass der Ausfall eines Gesellen, eines Lehrburschen, einer Magd oder eines Knechtes nicht leicht zu ersetzen war, wenn dies außerhalb des Zeitfensters, in dem das Gesinde üblicherweise eingestellt wurde, geschehen sollte. Dies galt umso mehr für das Gesinde, welches eine spezialisierte Ausbildung genossen hatte, so dass auf dem Arbeitsmarkt nicht ohne weiteres Ersatz mit entsprechender Qualifikation gefunden werden konnte. Der Raum, den die Klage über die Unverzichtbarkeit des Gesindes für den Fortbestand der Wirtschaft in Suppliken der Brotherrschaft einnahm, lässt darauf schließen, dass die Brotherrschaft dem Wirtschaftsargument ein hohes Maß an Überzeugungskraft zuschrieb.
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
Auch den unterschiedlichen Amtsträgern der lokalen Obrigkeit war das Wirtschaftsargument nicht fremd: Ein Magistrat hielt dieses Motiv für so überzeugend, dass er die Bitte um Begnadigung eines städtischen Handwerkers mit volkswirtschaftlichen Argumenten untermauerte. Der Magistrat wertete das wirtschaftliche Interesse der Bürgerschaft der Stadt am Handwerksangebot höher als das obrigkeitliche Ordnungsinteresse, welches Gesetzesverstöße ahnden und sanktionieren sollte. Auch das Pupillen-Kollegium griff in seiner Supplik auf das Wirtschaftsargument zurück: In seiner Funktion als offizieller Vormund für unmündige Personen vertrat es explizit die wirtschaftlichen Interessen der von ihm vertretenen Partei. Ebenso unverblümt brachten Gutsherren und Landräte ihr wirtschaftliches Interesse an einer Begnadigung ihrer ungehorsamen Untertanen in ihren Suppliken zur Sprache: Begründet wird dies mit der dem Landrat auferlegten Pflicht zur Conservation der contribuablen Güter. Dass hierbei der Eigennutz im Vordergrund stand, hinderte die adligen Supplikanten nicht daran, ihr Motiv offen zu benennen – denn Nutznießer des wirtschaftlichen Wohlergehens der verpachteten Höfe waren in erster Linie die Gutsherren, die hier in Personalunion auch als Landrat auftraten. Das Wirtschaftsargument wurde von der Mehrheit der Supplizierenden aus fast allen Gruppen offensichtlich für so überzeugend gehalten, dass man das eigene wirtschaftliche Interesse, zumindest aber das der betroffenen Familie offen legte. Vom Gnadenträger erwartete man, dass ihn dieses Argument weitgehend überzeugte, die erbetene Begnadigung zu gewähren. Die Supplikanten und Supplikantinnen appellierten damit zum einen an die Monarchenpflicht, seinen Untertanen Schutz vor Bedruck zu gewähren; zum anderen weckten sie mit dem Wirtschaftsargument das utilitaristische Interesse der Obrigkeit, welche aus fiskalischen Gründen auf das wirtschaftliche Wohlergehen ihrer Untertanen angewiesen war. Darüber hinaus besaß das Wirtschaftsargument auch einen strategischen Nutzen im Hinblick auf die Reintegration der Verurteilten: Indem man die Unersetzbarkeit der angeklagten bzw. verurteilten Person für ihr gesamtes soziales Umfeld betonte, dokumentierte man zugleich, dass sie ihren Platz in der Gesellschaft gefunden hatte. Dies sollte der Obrigkeit wiederum signalisieren, dass der bzw. die Verurteilte aus dem Arrest in ein intaktes soziales Umfeld entlassen würde, welches durch soziale Kontrolle abweichendes Verhalten zu verhindern und zu sanktionieren wusste. c) Faktor Interesse: Supplizieren als Mittel zur Sicherung von Entscheidungskompetenz und Mitsprachemöglichkeiten Betrachtet man die Supplikantengruppen jenseits der Familie, so stößt man auf ein weiteres Interessenfeld der Supplizierenden: Mit Hilfe der Supplikation wurde versucht, Entscheidungskompetenz und Mitsprachemöglichkeit zu sichern. Rechte und Pflichten sind beispielsweise mit der Kontrolle und Disziplinierung des Gesindes durch die Brotherrschaft verbunden. Die vorliegenden Fälle hatten aber die Ebene der häuslichen Zuständigkeit längst verlassen und waren der obrigkeitlichen
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Ebene, konkret der Justiz, übergeben worden. Die Bestrafung erging im Wege eines Gerichtsurteils, ohne dass der Brotherr darauf Einfluss nehmen konnte. So kann das Supplizieren auch als ein Versuch von Seiten der supplizierenden Brotherren interpretiert werden, ein gewisses Mitspracherecht geltend zu machen, um an der Disziplinierung wenigstens indirekt teilzuhaben und damit implizit ein Stück Zuständigkeit zurück zu erlangen. Ihr Anliegen, Einfluss auf die Bestrafung ihres Gesindes zu nehmen, sahen sie dadurch legitimiert, dass die Gesindeordnungen ihnen als Brotherrschaften die Strafgewalt über ihr Gesinde übertrug. Auch die Nachbarschaft versuchte, mit Hilfe der Supplikation ihr Mitspracherecht geltend zu machen. Ein typischer Nachbarschaftsstreit wurde zum Beispiel entgegen dem Willen der Gemeinschaft der nachbarschaftlichen Konfliktlösung entzogen und durch eine Klageerhebung dem Gericht übertragen. Die Zuständigkeit über den Fall entzogen zu bekommen, schmälerte das Ansehen der Nachbarschaft und führte damit zu einem Machtverlust des lokalen Kontroll- und Sanktionssystems. Daneben lieferte der ungerecht empfundene Ausgang des Gerichtsverfahrens den entscheidenden Handlungsimpuls, mit einer Supplikation die Angelegenheit eventuell doch noch einer von den Nachbarn als gerecht erachteten Schlichtung zuzuführen. Hinter der Supplikation stand das Motiv, in diesem Fall die Hoheit über nachbarschaftliche Konfliktlösung zurück zu gewinnen; das allgemeine Interesse bestand in der Wirkungsmächtigkeit des lokalen Kontroll- und Sanktionssystems. Unter bestimmten Voraussetzungen kann das Supplizieren als subtile Widerständigkeit der Untertanen gegenüber dem Einschreiten der Obrigkeit in ihren Zuständigkeitsbereich der nachbarschaftlichen Konfliktlösung verstanden werden. Auch hinter den Supplikationen der lokalen Obrigkeit und des Militärs verbirgt sich häufig das Motiv, die eigene Zuständigkeit im jeweiligen Fall zu sichern. Sowohl die Landräte und Gutsherren als auch die Militärkommandeure intervenierten bei der Bestrafung und übten Kritik am Strafvollzug – und damit dokumentierten sie, dass sie auf ihrem Mitspracherecht bei Disziplinarmaßnahmen gegenüber den ihnen unterstellten Untertanen beharrten. Diese Selbstbehauptung ist Ausdruck der Kompetenzstreitigkeiten im Rahmen der Ausdifferenzierung des Regierungs- und Verwaltungsapparats Ende des 18. Jahrhunderts. Vor allem zwischen Verwaltung und Justiz, aber auch zwischen den zivilen Behörden und dem Militär sowie zwischen den Verwaltungen auf lokaler Ebene, auf Provinzebene sowie auf zentralstaatlicher Ebene war die Aufgabenverteilung häufig unklar, Doppelzuständigkeiten waren die Regel. Dies führte dazu, dass die Behörden miteinander im Wettstreit lagen und eifersüchtig darüber wachten, keine Zuständigkeiten abgeben zu müssen, was ihre künftige Bedeutung geschmälert hätte. Die Intervention mit Hilfe der Supplikation dokumentiert die Beharrungskräfte in der Verwaltung und im Militär, denen es darum ging, Rechtssachen nicht an die Justiz abzugeben. Wie auch bei der Brotherrschaft und der Nachbarschaft beschränkte sich das Interesse eines Magistrats, eines Gutsherrn und Landrats oder eines Regimentschefs nicht darauf, eigene Entscheidungskompetenzen und Mitspracherechte zu
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
sichern; vielmehr bestand die Interessenlage darin, eigene Ressourcen zu sichern. Die Supplik wurde zum Medium, um den Interessen der Supplizierenden im jeweiligen Fall Geltung zu verschaffen. Den Fürbitten der Hohenzollern lag in gewisser Weise auch das Interesse zugrunde, ihren Einflussbereich zu sichern. Die Hohenzollern vertraten zwar keine Behördeninteressen, sahen sich aber als Mitglieder des königlichen Hauses berechtigt, auf das Herrschaftshandeln Einfluss zu nehmen. Außerdem diente ihnen der Schutz, den sie ihren Bedienten zuteil werden ließen, dazu, das paternalistische Machtverhältnis zu zementieren. Die sich in den Fürbitten niederschlagende Haltung wurzelt unter anderem in dem im Mittelalter begründeten Herrschaftsverständnis, welches seine Legitimation durch die Abstammung von einer königlichen Herrscherfamilie bezog. Im Laufe des 18. Jahrhunderts musste in BrandenburgPreußen dieses Herrschaftsverständnis jedoch einer mehr und mehr bürokratisch legitimierten Herrschaft weichen [s. A.II.2. – 4.]. Die Fürbitten der Hohenzollern können demnach auch als Belege dafür verstanden werden, dass sich weder die Mitglieder des königlichen Hauses noch die Untertanen und Untertaninnen, die jene mit der Bitte bedrängten, sich für sie zu verwenden, von dem tradierten Herrschaftsverständnis gelöst hatten. Den Wertewandel im so genannten aufgeklärten Absolutismus [s. A.I.d)] konnten und wollten offenbar nicht alle Mitglieder des Hohenzollerschen Hauses nachvollziehen. d) Faktor Interesse: Supplizieren als Mittel zur Klärung von Erbfragen Eine zentrale Rolle bei der Bestimmung der Machtverhältnisse in einem Haus spielte das Erbe. Es ist davon auszugehen, dass Fragen wie: „Wer erbt was und wann?“ und „Wer kommt für die Altersversorgung der Eltern auf?“ die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern, aber auch zwischen den Geschwistern stark prägte. Je nachdem, ob Erbgeber bzw. Erbgeberin oder Erbnehmer bzw. Erbnehmerin angeklagt und auf bestimmte Zeit zu Arrest verurteilt worden war, konnte sich der Zeitpunkt des Erbantritts verkürzen bzw. verzögern. Die Folgerung liegt nahe, dass – vor der allgemeinen Interessenlage der Supplizierenden, die eigenen Ressourcen zu sichern – die Klärung der Erbfrage ein zentrales Motiv zum Supplizieren darstellte. Man könnte nun annehmen, dass sie in den Suppliken von Eltern, Kindern, Geschwistern und eventuell auch von Anverwandten ähnlich dem Wirtschaftsargument offen angesprochen würde. Tatsächlich liegt aber nur ein Fall vor, in dem die erbetene Freilassung der Verurteilten dahingehend begründet wurde, dass sie als Alleinerbin für die Führung des Hofes unentbehrlich sei. In den übrigen Suppliken wurde das Erbe jedoch nicht explizit thematisiert. Aus diesem Befund darf nicht vorschnell gefolgert werden, dass die Erbproblematik keine oder nur eine geringe Rolle gespielt hätte. Es bedeutet lediglich, dass ein Erbmotiv von den supplizierenden Männern und Frauen offensichtlich als nicht hilfreich für eine überzeugende Argumentation an die Adresse der Obrigkeit eingeschätzt wurde.
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Folgende Hypothese kann zwar nicht belegt, aber dennoch als wahrscheinlich angenommen werden: Zahlreiche Supplikationen der Eltern zugunsten ihrer Kinder und der Kinder zugunsten ihrer Eltern sowie unter Geschwistern könnten ihren Handlungsimpuls aus der Problematik des Erbes erhalten haben. Folgende Überlegungen führen zu dieser Hypothese: Eltern supplizierten vermutlich für ihre angeklagten bzw. verurteilten Kinder im Zusammenhang mit der elterlichen Altersversorgung: Wollten betagte Eltern ihre Wirtschaft an ihr Kind abgeben, um sich auf ihr Altenteil zurückziehen zu können, so wurden diese Pläne nun durch die Anklage und Verurteilung des Kindes vorerst zunichte gemacht. Von einer Supplikation erhofften sie sich daher eine baldige Freilassung ihres Kindes. Damit ließe sich auch die große Anzahl an Gnadenbitten von Vätern erklären, denn als Hausvätern oblag es ihnen, die Altersversorgung und die Erbmodalitäten – mit Ausnahme des mütterlichen Teils – zu regeln; folglich war es an den Vätern zu handeln, wenn die Pläne zur Zukunftssicherung der Kinder wie der Eltern zu scheitern drohten. Neben den Eltern gab es auch einige Anverwandte, die als Fürsprecher für ihre jüngeren Verwandten auftraten, die sie als ihre Erben einzusetzen gedachten; im Gegenzug konnten sie auf eine Unterstützung im Alter setzen. Die Situation der Kinder, deren Eltern angeklagt und verurteilt worden sind, war eine andere: Kinder sorgten sich auch deshalb um die elterliche Wirtschaft, weil diese später die Erbmasse bilden würde. Die Mehrheit der Kinder war vermutlich bestrebt, das inhaftierte Elternteil möglichst bald wieder zu Hause zu haben. Dabei diente die Supplikation als Instrument, um die Freilassung entweder zu beschleunigen, wenigstens aber, um in Erfahrung zu bringen, wann mit der Rückkehr der Eltern bzw. des Elternteils aus der Haft zu rechnen war. Andererseits ist es auch vorstellbar, dass ein mündiges Kind einen Vorteil aus der Abwesenheit der Mutter und insbesondere des Vaters ziehen konnte: Wenn das Kind während dieser Zeit als Erbnehmer der Wirtschaft erst einmal eine geraume Zeit selber vorstand, war damit das Erbe faktisch vor der Zeit angetreten. So kann vermutet werden, dass in einigen Fällen bewusst auf eine Supplikation verzichtet wurde, jedoch entziehen sich diese Fälle der Kenntnis für die Nachwelt, da sie keine Spuren in den Akten hinterließen. Berücksichtigt man jedoch die geringe Erfolgsquote der Supplikationen [s. C.III.1.a)], über welche die Untertanen und Untertaninnen mit Sicherheit informiert waren, dann mussten sie davon ausgehen, dass eine Gnadenbitte letztlich kaum etwas an der Dauer der Strafe änderte. So gesehen brachte den Kindern eine Supplikation zumindest den Vorteil, als diese solidarische Geste den Zusammenhalt der Generationen stärkte und den Anspruch auf das Erbe festigte. Nicht nur die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, sondern auch die zwischen Geschwistern waren von der Erbproblematik geprägt. Im Vordergrund stand dabei die Frage, ob bzw. wann ein Erbe angetreten werden konnte, und wie sich der eigene Erbteil gegenüber den Anteilen der Geschwister ausnahm. Waren nun ein Bruder oder eine Schwester, die ihr Erbe bereits angetreten hatten, mit dem Gesetz in Konflikt geraten, entstand für die übrigen Geschwister das Problem, das brachliegende Erbe für die Dauer des Arrestes mitzuversorgen. Im Wege der Sup-
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plikation konnte beispielsweise herausgefunden werden, wann oder ob überhaupt mit der Freilassung des Bruders oder der Schwester zu rechnen war. Dies konnte materielle Konsequenzen bei der Arithmetik des Erbes haben. Doch auch darüber schweigen die Suppliken. Dennoch ist davon auszugehen, dass auch diese Gruppe von Supplizierenden einen gewissen Eigennutz mit den für ihre Geschwister verfassten Gnadenbitten verband. Aus dem Befund, dass das Erbe in den Suppliken nicht explizit thematisiert wird, ist zu folgern, dass die Bittsteller und Bittstellerinnen dem Erbmotiv keine Überzeugungskraft gegenüber dem Gnadenträger beimaßen. Es kann aber vermutet werden, dass die Supplik ein Medium war, um implizit die Frage des Erbes bzw. der Altersversorgung bei der angeklagten bzw. verurteilten Person und dem sozialen Umfeld zum Thema zu machen. Da sich die Erbansprüche aber nicht an die Obrigkeit, sondern an die Angeklagten bzw. Verurteilten richteten, war es nicht notwendig, die Erbfrage in den Suppliken anzusprechen, zumal der Adressat für diese Ansprüche die Supplik nicht zu lesen bekam; vielmehr genügte es, wenn die Betroffenen über den Supplikationsvorgang an sich unterrichtet waren. Gemäß dieser Hypothese reichte allein die Tatsache aus, dass suppliziert wurde, um die entsprechende Erwartungshaltung der supplizierenden Männer und Frauen an den impliziten Adressaten heranzutragen. Beim Motiv Erbe zeigt sich, dass die Supplik ein Kommunikationsmedium darstellte, welches es den Akteuren erlaubte, zugleich explizite (v. a. die Obrigkeit) und implizite (v. a. die Angeklagten bzw. Verurteilten und ihr soziales Umfeld) Ebenen anzusprechen [s. Ergebnisse und Schlussfolgerungen / Supplikationspraxis].
e) Faktor Interesse: Supplizieren als Mittel zur Ehrenrettung Die Sicherung der Ehre stellte ein zentrales Interesse in der frühneuzeitlichen Gesellschaft dar, da die Ehre den Kurswert des sozialen Kapitals bestimmte. Eine Verurteilung verletzte keineswegs die Ehre der betroffenen Person allein, sondern betraf die Ehre der ganzen Familie und mitunter auch die der Brotherrschaft. Die Tatsache, dass die Verurteilung der betreffenden Person fast alle Supplikanten und Supplikantinnen in Form eines Ehrverlustes berührte, legt die Annahme nahe, dass die Ehrenrettung als zentrales Motiv in den Suppliken genannt würde – tatsächlich ist dies aber nur selten der Fall. Beim Supplizieren bestehen im Umgang mit den Themen Erbe und Ehre gewisse Parallelen, denn auch im Hinblick auf die Ehrenrettung kann man von einem in den Suppliken nur implizit angedeuteten Motiv sprechen. Selten wurde der selbst erlittene Ehrverlust von den Supplizierenden thematisiert, eher noch die Entehrung der angeklagten bzw. verurteilten Person. Lediglich bei der Landesverweisung als Zusatzstrafe für nicht-brandenburg-preußische Untertanen äußerten vereinzelt Supplikanten die Bitte, die Obrigkeit möge doch auf diese Strafe verzichten, um die Ehre der betroffenen Familien nicht noch mehr
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in Mitleidenschaft zu ziehen. Was allerdings die eigentliche vom Gericht erlassene Leibes- und Freiheitsstrafe anbelangt, so scheinen die mittelbar betroffenen Angehörigen und Brotherrschaften den Ehrverlust wohl oder übel akzeptiert zu haben. Am ehesten wurde die verletzte Ehre in Suppliken der Geschwister angesprochen, vermutlich weil sie sich, wenn sie in keiner vormundschaftlichen Verpflichtung standen, als unschuldige Opfer der Situation sahen und an sie – anders als bei einem Vormund – von außen keine Vorhaltungen herangetragen wurden, dass sie ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt hätten. Doch auch die Geschwister gingen nicht so weit, die Strafmilderung mit dem ihnen drohenden Ehrverlust zu begründen. Die Ehre der angeklagten oder verurteilten Person wurde insbesondere in den Fällen angesprochen, in denen die Geschwister oder ihre Väter Ämter – wie zum Beispiel das Bürgermeister- oder das Predigeramt oder einen militärischen Rang – bekleideten, die durch einen sensiblen Ehrstatus geprägt waren. Indem die Bittsteller und Bittstellerinnen auf die Verletzlichkeit der Ehre ihres inhaftierten Angehörigen hinwiesen, thematisierten sie zugleich implizit ihren eigenen Ehrverlust. Was die Ehre der Eltern, der Anverwandten oder der Brotherrschaft anbelangt, so wird auf sie in den Suppliken in der Regel nicht eingegangen. Wenngleich man sie nicht als schuldig betrachtete, wurden sie dennoch in moralischer Hinsicht als mitverantwortlich angesehen, da sie die Aufsichtspflicht über ihre Hausangehörigen offensichtlich vernachlässigt hatten. Die Supplizierenden gingen offenbar von der Vorstellung aus, dass die Obrigkeit eine Bitte um Strafmilderung mit Rücksicht auf die Ehre der Familie bzw. der Brotherrschaft vor dem Hintergrund dieser angeblichen Pflichtvernachlässigung als vermessen angesehen haben würde. War das Vergehen gerichtlich bewiesen, lag es in der justiziellen Logik, dass eine entsprechende Bestrafung auch Ehreinbußen forderte. Eine Bitte um Ehrenrettung hätte diese Logik angezweifelt, und somit einer Gewährung der Gnadenbitte abverlangt, dass sie jenseits der Normen, also allein auf der Basis von Mitleid, begründet worden wäre – ein taktisch ungeschicktes Manöver für eine Gnadenbitte.487 Folglich war dem drohenden Ehrverlust nichts entgegenzusetzen, es sei denn, die verurteilte Person thematisierte selbst den Ehrverlust der Familie.488 Den betroffenen Fami487 So wurde um die eigene Ehrenrettung nur dann explizit gebeten, wenn die betreffende Peson gerichtlich von jeder Schuld freigesprochen wurde. Dafür gibt es im Quellenfundus nur ein Beispiel: Nachdem das Gericht den bereits Verurteilten von dem ihm vorgeworfenen Vergehen frei gesprochen hatte, supplizierte er mit der Bitte, man möge ihn in den Stand seiner Ehre wieder zurückversetzen und die ihm bereits abgenötigte Ehrenerklärung gegenüber der gegnerischen Partei als hinfällig betrachten. – Vgl. Fallakte Damsch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202 [s. A.III.3.n)] 488 Zum Beispiel versuchte der zum Tode verurteilte Christian August Helckwitz, den Ehrverlust seiner Familie zu begrenzen, indem er in seiner mündlich vorgetragenen Supplik darum bat, dass der Monarch ihn bei der Hinrichtung von den entehrenden Zusatzstrafen wie Staupenschlag und Radflechten befreien möge, „um das Schand-Mal von seiner Familie abzuwenden“ – zit. aus: Immediatbericht vom 18. Dezember 1789 und vgl. mündlich vorgetragene Supplik des Helckwitz in eigener Sache vom 12. Dezember 1789 / Fallakte Christian August Helckwitz; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217 [s. C.I.2.a)].
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lien blieb allein die Option, die Position der Angeklagten bzw. Verurteilten mit Hilfe einer Supplikation zu stärken. So gesehen, konnten Suppliken auch einen stillen Vorwurf der verletzten Ehre übermitteln, der sich vornehmlich an die Angeklagten bzw. Verurteilten richtete, also an implizit gemeinte, aber formal nicht angesprochene Adressaten einer Supplik. f) Faktor Emotion: Supplizieren mit dem Topos Mitleid als Mittel zur Authentifizierung Schenkt man den Aussagen der supplizierenden Männer und Frauen Glauben, so ist eine wichtige Triebfeder für das Supplizieren im emotionalen Bereich zu suchen. Der Topos Mitleid wurde in fast allen Suppliken in zweierlei Hinsicht verwandt: Zum einen wurden Stilmittel gewählt, welche die Schicksale der Betroffenen emotional anrührend schildern sollten, um beim Leser der Supplik Mitleid zu provozieren; zum anderen gaben sich die Bittsteller und Bittstellerinnen selbst als Mitleidende aus, indem sie das angeblich selbst empfundene Mitleid explizit als Motiv für ihre Supplikation anführten. Das emotionale Empfinden des Lesers wurde im Hinblick auf alle unmittelbar und mittelbar Betroffenen geweckt: Mitleid mit den Inhaftierten, Mitleid mit den mittelbar Betroffenen wie etwa den engsten Familienangehörigen, aber auch Mitleid mit den Supplizierenden, wenn sich die Angelegenheit nachteilig auf sie auswirkte. Bei der Interpretation sowohl der von den Bittstellern und Bittstellerinnen geschilderten Empfindungen als auch der Mitleid erheischenden Darstellungen muss bedacht werden, dass diesen Textpassagen auch taktische Erwägungen zugrunde lagen: Da Mitleid und Barmherzigkeit in der frühen Neuzeit zentrale Herrschertugenden darstellten, versprachen sich die supplizierenden Männer und Frauen von Gnadenbitten, die mit diesem Topos operierten, vermutlich bessere Chancen, vom Monarchen erhört zu werden. Bei aller kritischen Distanz im Umgang mit den Quellen darf allerdings nicht übersehen werden, dass solche Schilderungen von den supplizierenden Männern und Frauen eventuell auch als authentisch – im Sinne von: ihre Empfindungen angemessen widerspiegelnd – befunden wurden; kurz: dass die geschilderten Emotionen nicht auf rein strategisches Kalkül reduziert werden dürfen, sondern mitunter auch als Teil der historischen Lebenswirklichkeit anzusehen sind. Zugleich muss eingeräumt werden, dass die Quellen keine Aussage über Anteile an Authentizität und Taktik zulassen – folglich kann und soll hier keine Bewertung von wahrhaft verspürter Emotionalität in Suppliken vorgenommen werden. Das in den Suppliken beschriebene Mitleid variiert in der Ausführlichkeit seiner Schilderung. Zu beobachten ist, dass das Mitleid in den Gnadenbitten in der Tendenz mit der Enge der Verwandtschaft und damit der persönlichen Bindung zwischen Supplikant bzw. Supplikantin und dem Nutznießer ihrer Gnadenbitte in seiner Betonung steigt. Vor allem Eltern, und zwar Väter wie Mütter, bekunden in den Suppliken starke Gefühle des Mitleids mit ihren inhaftierten Kindern. Ihr Leid war, laut ihren eigenen Ausführungen, ein Doppeltes: Neben dem Mitleid mit dem
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Schicksal ihrer Kinder litten sie selbst direkt unter der Situation, im hohen Alter auf die Stütze verzichten zu müssen, die ihnen ihre Kinder in der Führung der Wirtschaft oder in der häuslichen Pflege hätten bieten sollen. Eine ähnliche Situation zeichnet sich in Suppliken von Eheleuten ab, wenn die Abhängigkeit vom Partner über das übliche Maß einer Ehegemeinschaft hinausging, zum Beispiel, wenn ein Kranker auf die Hilfe seines Ehepartners angewiesen war – auch hier ist sowohl vom Mitleid mit den Inhaftierten als auch vom Selbstmitleid die Rede. Das Repertoire an Emotionen stiftenden Stilmitteln wird in Suppliken vor allem dann ausgeschöpft, wenn Kinder von der Situation betroffen waren. Dies war bei Suppliken von weiblichen Angeklagten in eigener Sache und jenen von Eheleuten häufig der Fall. Stärker als Väter machten sich Mütter zum Sprachrohr der Interessen ihrer Kinder und nutzten geschickt das Witwen- und Waisenargument, mit dem sie den besonderen Schutz des Monarchen einforderten. Je nachdem welches Elternteil im Arrest saß, reklamierten sie, dass ihre noch säugenden oder unerzogenen Kinder der mütterlichen Pflege entbehren oder auf ihren Ernährer verzichten müssten. In einem ähnlichen Tenor sind Suppliken zugunsten eines Elternteils von bereits mündigen Söhnen und Töchtern gehalten, wenn es im elterlichen Haus noch unmündige Geschwister gab, deren Versorgung nicht gewährleistet werden konnte. Die Suppliken vermitteln zuweilen Bilder von verwahrlosten, hungernden Kindern ohne Aussicht auf eine geregelte Zukunft. Aus der Summe der Gnadenbitten zeichnet sich eine leichte Tendenz dahingehend ab, dass Gnadengesuche von Supplikantinnen in stärkerem Maße emotional geprägt sind als jene von Männern. Dies belegt der Vergleich von Suppliken der Ehefrauen, Töchter und Schwestern einerseits mit Suppliken der Ehemänner und Brüder für ihre Angehörigen andererseits. Allerdings bedeutet dies nicht, dass männliche Absender darauf verzichtet hätten, in den Suppliken Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Die Feststellung bezieht sich nicht so sehr auf den allgemein verbreiteten Gebrauch des Topos Mitleid, sondern auf die Ausführlichkeit, welche Passagen, die vorrangig an Emotionen des Lesers appellierten, einnahmen. Auch in der Zielgerichtetheit des emotionalen Appells gibt es eine gewisse geschlechterspezifische Differenz: Supplikantinnen versuchten zumeist, nicht nur für die betroffene Person, sondern auch für ihre eigene Situation Mitleid zu erregen, indem sie auf ihre vorgebliche Hilflosigkeit anspielten. Zahlreiche Supplikanten hingegen blendeten Selbstmitleid in den Gnadenbitten weitgehend aus, verwiesen dafür aber auf sachliche Umstände wie zum Beispiel wirtschaftliche Nachteile, die ihnen aus dieser Situation erwuchsen [s. o.]. Den Topos Mitleid führten Männer hingegen an, wenn sie das Schicksal anderer schilderten, vor allem dann, wenn dies die Mutter, die Schwester oder die Schwägerin betraf. Auch in Bezug auf den Topos Mitleid orientierte sich das Supplizieren an den Geschlechterrollen. Sobald die Absender nicht mehr dem Kreis der engeren Familie angehören, sinkt – mit einigen Ausnahmen – der Anteil Mitleid stiftender Momente in den Suppliken. Supplizierende Verwandte drückten zwar ihr Mitgefühl mit den Unglücklichen aus, die zurückhaltend formulierten Gefühle deuten jedoch auf eine
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relative Distanz hin. Einige Suppliken der Brotherrschaft bezeugen allenfalls ein gewisses Wohlwollen gegenüber dem beschuldigten Gesinde und dessen Familie. Fast schon formal nehmen sich die Suppliken der Nachbarschaft aus. Dies bedeutet jedoch nicht, dass man dem Schicksal der Nachbarn keine Anteilnahme entgegengebracht hätte. Vielmehr zeigt es, dass die supplizierende Nachbarschaft eine betont emotionale Gnadenbitte als nicht angebracht empfand bzw. als nicht erfolgsversprechend einschätzte. Die Häufigkeit, mit der der Topos Mitleid in Suppliken eingesetzt wird, zeigt, wie sehr die Supplikanten davon überzeugt sein mussten, dass der Gnadenträger die Mitleidsbekundungen als authentisch wertete, was aus ihrer Sicht die Chancen auf Gewährung der Gnadenbitte erhöhte. Mitleid gehörte zum zentralen Repertoire der inszenierten Betroffenheit und war Teil der Authentifizierungsstrategie des Supplizierens. Projektionsfläche des in den Suppliken evozierten Mitleidens war nicht nur das Schicksal der gerichtlich als schuldig befundenen Personen, sondern vor allem das indirekt durch die Bestrafung verursachte Leiden Unschuldiger, denen keine Mitschuld am Vergehen zur Last gelegt werden konnte, denen aber erhebliche Nachteile durch die Bestrafung des Verurteilten entstanden. Dahinter stand vermutlich die Überlegung, dass man beim Gnadenträger nur begrenzt Mitleid mit den Verurteilten hervorrufen konnte, denn schließlich hatten sich jene den Gesetzen und damit dem königlichen Willen widersetzt. Das Unglück Unschuldiger sollte dagegen eher Mitleid erregend wirken und machte damit eine Begnadigung wahrscheinlicher, so die Hoffnung der Supplizierenden. Bleibt festzuhalten, dass die in den Suppliken geschilderten Empfindungen zugleich ein Motiv für die Supplik und Ausfluss strategischen Kalküls sein können. Zu welchen Anteilen die Supplikationen von tatsächlich empfundenem Mitleid oder strategischen Überlegungen bestimmt sind, ist anhand der Quellen nicht auszumachen. g) Faktor Pflicht: Supplizieren als Mittel zur Pflichterfüllung Als Motiv für ihre Supplikation führten die Bittsteller und Bittstellerinnen häufig die Pflicht an, die angeklagte bzw. verurteilte Person zu unterstützen. Dies setzt eine bestimmte Beziehungsstruktur mit spezifischen Rechten und Pflichten zwischen supplizierender Person und dem Nutznießer der Gnadenbitte voraus. So variiert das Motiv Pflicht je nach Beziehungskonstellation: Während das Supplizieren der Eheleute nicht mit der Pflicht begründet wird, ist hingegen in Suppliken von Vätern für ihre Kinder von einer väterlichen Pflicht die Rede, in Bittschriften erwachsener Söhne für ihre Eltern von einer kindlichen Pflicht. Das Wort Pflicht fällt zudem sowohl in Suppliken von Schwestern als von Brüdern, allerdings häufiger bei letzteren, da Brüder damit ihre Rolle als Vormund gegenüber ihren Schwestern und jüngeren Brüdern beschrieben. Auch Anverwandte, sowohl Onkel wie Tanten, sprachen von einer Verpflichtung, für ihre jungen Verwandten zu supplizieren, vor allem wenn sie die Rolle als deren Vormund übernommen hatten. Einige Fälle geben Anlass zu vermuten, dass die Bereitschaft zu supplizieren größer war,
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wenn es sich um Blutsverwandtschaft im Vergleich zur angeheirateten Verwandtschaft handelte. Nirgends kommt aber das Pflichtbewusstsein in den Gesuchen so stark zur Sprache wie in den Fällen, in denen Väter für ihre Kinder supplizierten. Anders dagegen Bittsteller und Bittstellerinnen, die nicht zur Familie gehörten: Zur Supplikation fühlten sie sich offensichtlich nicht verpflichtet; zumindest schien dieses Argument aus ihrer Sicht nicht für eine offizielle Begründung ihrer Gnadenbitte zu taugen. Wo von Pflichten die Rede ist, gibt es in der Regel auch Rechte. Zum Beispiel korrespondierte die Pflicht des Vaters zu Supplizieren mit seinem Recht auf Ausübung der patria potestas. Von einer mütterlichen Pflicht zur Supplikation ist in den Suppliken hingegen nichts zu lesen, vermutlich weil sich Mütter nicht auf ein der patria potestas vergleichbares Recht berufen konnten. Daraus darf allerdings nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass sich Mütter nicht verantwortlich fühlten, ihren Kindern zu helfen – eine stattliche Anzahl von Suppliken belegt, dass das Gegenteil der Fall war. Mütter konnten aber nicht auf das Pflichtargument bauen und griffen stattdessen häufiger auf das Motiv Mitleid zurück [s. o.]. Bei den Kindern korrespondierte die kindliche Pflicht zu supplizieren mit dem Recht zu erben [s. o.], was wiederum mit der Pflicht verbunden war, die Eltern im Alter zu unterstützen. Ähnlich wie den Eltern erging es den Vormündern, die von ihren Mündeln erwarten konnten, dass ihnen jene im Gegenzug im Alter unter die Arme greifen würden. Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, dass die hier angeführten Rechte in den Suppliken nicht genannt oder gar eingefordert wurden. Dieser Aspekt klingt vielmehr nur indirekt durch die Thematisierung der Pflicht an. Denn Rechte und Pflichten müssen als aufeinander bezogene und voneinander abhängige Oppositionen begriffen werden und liegen im relationalen Charakter des Supplizierens – im Sinne des Machtverhältnisses zwischen Supplizierenden und den Nutznießern ihrer Gnadenbitte – begründet [s. Ergebnisse und Schlussfolgerungen / Supplikationspraxis]. Die Pflicht, einen inhaftierten Verwandten mit Hilfe einer Supplikation zu unterstützen, kollidierte mitunter mit anderen Pflichten, insbesondere jenen, die einem Hausvater oblagen. Dazu gehörte etwa die Aufsichtspflicht über seine Hausangehörigen, was unter anderem bedeutete, darauf zu achten, dass die Ehefrau, die Kinder und das Gesinde einen moralischen Lebenswandel im Sinne der gesellschaftlich anerkannten Werte führten. Wurde einem von ihnen ein Vergehen zur Last gelegt, so konnte ihm daraus der Vorwurf erwachsen, er habe seine Pflichten als Hausvater vernachlässigt – eine Vorhaltung, die sich letztlich negativ auf seinen Leumund auswirken musste. Eine Gnadenbitte für einen mutmaßlichen Kriminellen von einem Bittsteller, der sich seiner eigenen Pflichten nicht bewusst war, versprach wenig Erfolg, so vermutlich die Überlegung der Supplizierenden. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass zahlreiche Ehemänner, Väter und Brotherren auf eine Supplikation verzichteten. Der Befund, dass zum Beispiel relativ wenige Ehemänner für ihre Ehefrauen supplizierten, lässt sich zum Teil mit eben einer solchen Kollision von Pflichten erklären.
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Zu einem anderen Supplikationsverhalten führte das Abwägen der widerstreitenden Pflichten, wenn Kinder eines Vergehens angeklagt wurden: Es hat den Anschein, als ob Vätern – anders als Ehemännern gegenüber ihren Ehefrauen – eine stärker beschützende Funktion gegenüber ihren Kindern zukam, so dass sie sich diesen Überlegungen zum Trotz für eine Supplikation entschieden. Auch einige Brotherrschaften begriffen es als ihre Aufgabe, für ihr Gesinde um Gnade zu bitten. Diejenigen unter den Vätern, Brotherren und Vormündern, welche sich zu einer Supplikation entschlossen hatten, meisterten das Dilemma, indem sie sich in wortreichen Beteuerungen ergingen, von dem Vergehen nichts gewusst zu haben, um somit ihren eigenen Leumund zu schützen. Außerdem versicherten sie, sie hätten den in ihrer Obhut Stehenden eine gute Erziehung angedeihen und eine solide Ausbildung zuteil werden lassen. Auf diese Weise dokumentierten sie ihr Pflichtbewusstsein gegenüber der Obrigkeit und festigten damit zugleich das paternalistische Machtverhältnis gegenüber den in ihrer Obhut Stehenden. Es ist davon auszugehen, dass die Personen, die aufgrund ihrer Beziehung zu den Angeklagten bzw. Verurteilten als geeignete Initiatoren einer Supplikation angesehen wurden, durch ihre Angehörigen zum Schreiben einer Gnadenbitte aufgefordert wurden; bzw. oftmals genügte vermutlich die stumme Erwartungshaltung des sozialen Umfeldes, um eine Supplikation anzugehen. Wie einige Suppliken davon Zeugnis ablegen, konnte die Erwartungshaltung der Angeklagten bzw. Verurteilten gegenüber ihren direkten Angehörigen mitunter drängend werden, während der Erwartungsdruck gegenüber Nicht-Familienmitgliedern eher gering war. Die Erwartungen zu erfüllen, war aus Sicht der Angehörigen von hoher Bedeutung, wenn man bedenkt, dass die Verurteilten nach einer gewissen Zeit aus dem Arrest entlassen wurden und ihren angestammten Platz im häuslichen Zusammenleben wieder einnahmen. Kurz: mit einer Supplikation als Zeichen der Solidarität baute man für das künftige friedliche Zusammenleben vor. Entsprachen die Angehörigen den Erwartungen an Unterstützung indes nicht, so wurde dies sicherlich als ein tiefer Vertrauensbruch aufgefasst, welcher das zukünftige Zusammenleben erheblich belasten würde. Supplizieren bedeutete somit auch, für eine stabile Beziehung Vorsorge zu tragen und dabei die eigene Position im Beziehungsgefüge zu sichern. Supplizieren ist als eine Praktik zu verstehen, deren Handlungsimpuls unter anderem vom Pflichtenkanon, den die jeweilige Beziehungskonstellation vorgab, ausging. Mit dem Supplizieren wurden zugleich implizit die mit den Pflichten verbundenen Rechte der supplizierenden Männer und Frauen gegenüber den Nutznießern ihrer Gnadenbitte geltend gemacht. So gesehen erneuerte eine jede Supplikation die Beziehung zwischen der supplizierenden und der davon profitierenden Person, indem sich beide über spezifische Rechte und Pflichten vergewisserten und diese mit jeder Handlung reproduzierten und damit festigten. Dies geschah oftmals zugunsten des Supplizierenden, was sich vor allem dann bemerkbar machte, wenn er sich zuvor in der schwächeren Position befand. Daraus folgt, dass die Botschaften in Suppliken nicht nur, wie es die vordergründige Kommunikations-
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struktur auf den ersten Blick nahe legt, an den formalen Empfänger, also an die Adresse der Obrigkeit, sondern zugleich auch an den Nutznießer der Supplik gerichtet sein konnten, konkret an die angeklagte bzw. verurteilte Person und deren soziales Umfeld. Mit dem Supplizieren wurden folglich zwei Kommunikationsebenen bedient: Mit einer Supplik kann nicht nur auf der expliziten Ebene, zu welcher die Obrigkeit zu rechnen ist, sondern auch auf einer impliziten Ebene, auf welcher die angeklagte bzw. verurteilte Person zusammen mit dem sozialen Umfeld anzusiedeln ist, kommuniziert werden.
h) Explizite und implizite Motive und die gesellschaftliche Funktion des Supplizierens Die Lektüre der Suppliken lehrt, dass sich hinter der vom Absender formal angegebenen Absicht, eine Begnadigung zu erlangen, eine Vielzahl von Motiven und Interessen verbirgt, die wiederum Aufschluss über den Zweck und die Funktion einer Supplikation geben. Bei der Analyse der entscheidenden Faktoren, welche die Argumentation bestimmten, wird deutlich, dass der Faktor Interesse durchweg dominiert. Die Interessenlage besteht in der Sicherung der eigenen Ressourcen, sei es in wirtschaftlicher Hinsicht (s. Verhinderung des wirtschaftlichen Ruins, s. Erbe) oder im Hinblick auf die Machtposition (s. Entscheidungskompetenz und Mitsprachemöglichkeiten) und das soziale Kapital (s. Ehre). Die akteursbezogene Untersuchung der Quellen zeigt allerdings, dass sich die Beweggründe für das Supplizieren nicht immer so leicht aus den explizit vorgebrachten Argumenten erschließen lassen. Während die Supplikanten Motive wie die Verhinderung des wirtschaftlichen Ruins, Mitleid und Pflicht ausdrücklich benennen, werden andere Motive für das Supplizieren zuweilen nur implizit angedeutet (wie die Sicherung von Entscheidungskompetenz und Mitsprachemöglichkeiten sowie die Ehrproblematik), manche auch verschwiegen (wie die Erbfrage). Diese zu identifizieren und ihre Bedeutung für das Supplizieren zu ermessen, konnte mit einem positivistischen Ansatz allein nicht gelingen. Indizien und Vergleiche mit ähnlich gelagerten Fällen halfen weiter, vor allem aber der Blick auf das Kräftefeld, in dem die supplizierenden Männer und Frauen sowie die Nutznießer ihrer Gnadenbitten zu verorten sind. Das Offenlegen, das implizite Andeuten und das Verschweigen von Motiven und Interessen sind als solches schon Aussagen: An ihnen erkennt man nicht nur den Grad an Überzeugungskraft, den die supplizierenden Männer und Frauen der Nennung beimaßen, sondern auch erhoffte oder befürchtete Rückwirkungen des Supplizierens auf die eigene gesellschaftliche Stellung. Die Unterscheidung zwischen explizit genannten und impliziten Motiven lässt keine Rückschlüsse auf eine Gewichtung der Motive zu: Sowohl implizit als auch explizit genannte Motive konnten den eigentlichen Impuls zum Supplizieren liefern. Es ist aber davon auszugehen, dass die Supplizierenden und ihre Schreiber den explizit genannten Moti-
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B. Supplikanten und Supplikantinnen im sozialen Kräftefeld
ven ein hohes Maß an Überzeugungskraft beimaßen und dass sie damit rechneten, die Obrigkeit mit ihren Mitleidsbekundungen zu beeindrucken, wenn nicht gar zu beeinflussen. Sie führten diese Aspekte bewusst an, entweder um Mitleid zu evozieren und an die Herrscherpflichten zu appellieren oder um das fiskalische Interesse der Obrigkeit an einer Begnadigung zu wecken, oder um sich gegen parteiisches Justizgebaren bzw. Justizirrtümer zu wehren – dies waren Motive, die nach Meinung der Bittsteller und Bittstellerinnen offensichtlich als gnadenwürdig galten. Um die erwünschte Wirkung entfalten zu können, mussten die Motive eine für den Gnadenträger nachvollziehbare und damit eine dem Anschein nach authentische Gefühlslage widerspiegeln. Es wird jedoch nicht zu klären sein, inwieweit die Nennung der Motive rein strategischem Kalkül entsprach und inwieweit sie Lebenswirklichkeit – hier bezogen auf die von den Bittstellern und Bittstellerinnen empfundenen Beweggründe, auf die soziale Notlage und die wirtschaftlichen Umstände in den betreffenden Familien – widerspiegeln. Es muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass strategisches Kalkül und Lebenswirklichkeit unentwirrbar ineinander verwoben sind. Das eine bedingt schließlich das andere: Eine Supplik würde unglaubwürdig wirken, wenn sie rein strategisches Kalkül durchblicken ließe und jeder erlebten Erfahrung entbehren würde. Dabei darf nicht vergessen werden, dass umgekehrt das Wissen um tradierte Deutungsmuster bekanntermaßen das eigene Erleben und die darauf aufbauende Erfahrung beeinflusst. Daher kann auch vice versa gefolgert werden, dass bestimmte Umstände, die gesellschaftlich als inakzeptabel galten, nicht nur das individuelle Erleben stark beeinflussten, sondern auch in Suppliken an die Obrigkeit als untragbar und ungerecht gewichtet wurden, mithin also strategisch für das eigene Anliegen eingesetzt wurden. Hinter den herausgearbeiteten konkreten Motiven stand eine grundsätzliche Motivation zum Supplizieren: Lässt man die konkrete Motivlage eines Falles beiseite, war mit einer Supplikation grundsätzlich intendiert, die soziale Position sowohl der Angeklagten bzw. Verurteilten als auch die der Supplizierenden zu stärken. Die von Natalie Zemon Davis aufgestellte These, dass eine Person in der Frühen Neuzeit stets „als Teil eines Beziehungsfeldes“ zu verstehen ist,489 gilt auch für das Supplizieren: Den Bittstellern und Bittstellerinnen war bewusst, dass eine jede Supplikation als Geste der Verbundenheit und als Zeichen der Loyalität dazu beitrug, die Beziehung und die damit verbundenen Rechte und Pflichten zwischen der supplizierenden und der davon profitierenden Person zu erneuern und somit das Machtverhältnis zu stärken – darin bestand die gesellschaftliche Funktion des Supplizierens.490 Diese Wirkung war letztlich unabhängig von der Gnadenentscheidung des Monarchen und so eröffnete das Supplizieren aus der Sicht des Bittstellers bzw. der Bittstellerin eine win-win-Situation. 489 490
xis.
Zit. aus: Davis 1986, S. 17. Zur Weiterführung der These s. Ergebnisse und Schlussfolgerungen / Supplikationspra-
II. Zwischenbilanz
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Den Beziehungen der supplizierenden Männer und Frauen zu den Angeklagten bzw. Verurteilten lag eine jeweils spezifische Gemengelage aus emotionaler Verbundenheit, materiellen Interessen, Rechten und Pflichten zugrunde. Jede dieser Beziehungen war in das Kräftefeld eingewoben. Jedem Supplikanten und jeder Supplikantin war eine unverwechselbare Position im Koordinatenfeld des Netzes der Machtbeziehungen zugewiesen, ein Bedingungsgefüge, welches einerseits durch die Obrigkeit und deren Normen festgelegt war, andererseits durch die Position der Verurteilten bzw. Angeklagten und die durch deren Inhaftierung bedingten Umstände. Aus den jeweiligen Positionen resultierten Interessen, welche spezifische Motive zum Supplizieren lieferten und damit die Beschaffenheit der Gnadenbitte prägten. Eine Supplikation anzugehen, waren die Untertanen umso eher bereit, je enger die soziale Bindung zwischen ihnen und den Angeklagten bzw. Verurteilten und je höher der Grad der Betroffenheit von der Notlage war. Das Supplizieren war eine Praktik, mit deren Hilfe die paternalistischen Machtverhältnisse im Kräftefeld des direkten sozialen Umfeldes der angeklagten bzw. verurteilten Personen, aus denen die Supplizierenden meist stammten, reproduziert und somit gefestigt wurden.491
491 Daraus resultiert, dass umgekehrt das Nicht-Supplizieren ebenfalls in gewisser Weise an der Gestaltung von sozialen Beziehungen beteiligt ist – über mögliche Motive des Schweigens des sozialen Umfelds kann mangels Quellen keine Aussagen getroffen werden.
C. „Will Ich die gebetene Gnade angedeihen laßen“1 – Obrigkeitliche Handlungsmuster I. Supplikationen und Fürsprachen – Der Weg durch die Behörden 1. Das Prüfen von Supplikationen a) Das Verhältnis zwischen dem Geheimen Rat und dem Justizdepartement Die Supplikationen in kurmärkischen Strafrechtsangelegenheiten, welche in den hier untersuchten Quellen dokumentiert sind, waren ausnahmslos an die zentralstaatliche Ebene gerichtet.2 Beschieden wurden sie immediat vom Monarchen in seiner Funktion als Gnadenträger oder mediat im Auftrag des Landesherrn vom Geheimen Rat respektive vom Justizdepartement.3 Das Verhältnis zwischen Rat und Justizdepartement stellt sich wie folgt dar: Im Zuge der Ausdifferenzierung der Verwaltung wurde aus dem zentralen, über alle landesherrlichen Belange entscheidenden Organ des Geheimen Rats allmählich eine Behörde mit fachlich begrenzter Zuständigkeit. Ende des 18. Jahrhunderts 1 Zit. verkürzt aus: Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 28. Oktober 1796 / Fallakte Anna Dorothea Devouschack; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 47. 2 Die Kurmark besaß keine eigene Provinzialverwaltung, sondern unterstand direkt den Zentralbehörden. Dies bedeutete, dass das Kammergericht als das zentrale Gericht für schwere Strafsachen in der Kurmark keinem gesonderten Obergericht der Provinz unterstellt war, sondern direkt unter der Rechtsaufsicht des auf zentralstaatlicher Ebene angesiedelten Justizdepartements stand. Folglich war der für die Kurmärkische Expedition zuständige Justizminister die übergeordnete Stelle für die Prüfung von Urteilen und Supplikationen in Bezug auf Entscheidungen des Kammergerichts; die Entscheidung darüber fiel kollegial im Geheimen Rat respektive im Justizdepartement [s. u.]; mit Supplikationen in Bezug auf Urteile der niederen Gerichtsbarkeit in der Kurmark (wie z. B. die Stadtgerichte) wurde ebenso verfahren – vgl. Hubatsch 1973, S. 158; vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 83 f.; vgl. Kühns 1871, S. 156, 168. 3 Zur mediaten bzw. immediaten Entscheidungsfindung: Während Rechts- und Prozesssachen in der Regel an die Gerichte bzw. Behörden delegiert wurden, gab es einige Bereiche, die der immediaten landesherrlichen Entscheidung vorbehalten waren, wie bspw. Fragen zur auswärtigen Politik und zu landesherrlichen Finanzen; im Bereich der Justiz gehörten dazu Machtsprüche sowie Bestätigungen aller „Leibes- und Lebensstrafen“ und allgemeine Gnadensachen, worunter die Bewilligung von Privilegien, Standeserhöhungen und Bestallungsangelegenheiten verstanden wurden – vgl. Haß 1909, S. 211.
I. Supplikationen und Fürsprachen
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beschränkte sich die Zuständigkeit des Geheimen Rats auf Justiz- und Kultusangelegenheiten, nachdem er eine Vielzahl seiner ursprünglichen Kompetenzen an das Kabinettsministerium und an das 1723 geschaffene Generaldirektorium abgegeben hatte.4 Aufgrund des hohen Arbeitsanfalls wurde 1737 / 38 eine interne Unterteilung des Geheimen Rats in das Justizdepartement und das Geistliche Departement vorgenommen, welche beide nach wie vor Teil des Rats blieben bzw. diesen bildeten. Aufgrund der wachsenden Bedeutung der Justizaufsicht wurde der Geheime Rat gegen Ende des 18. Jahrhunderts de facto vom Justizdepartement vereinnahmt: So stand dem Rat der Großkanzler vor, der zugleich chef de la justice war. Die Entwicklung führte dazu, dass der Rat immer mehr mit dem Justizdepartement gleichgesetzt wurde und die Behördenbezeichnungen mitunter synonym verwandt wurden, obwohl das Justizdepartement formal nur eine Untergliederung des Rats war.5 Die Arbeitsweise im Geheimen Rat sah vor, dass ein großer Teil der Geschäftsvorgänge von den Ministern eigenverantwortlich erledigt wurde. Es gab jedoch bestimmte Angelegenheiten, die nach der Wiedereinführung des kollegialen Prinzips unter Friedrich Wilhelm II. vom Geheimen Rat respektive vom Justizdepartement kollegial entschieden werden mussten, wie etwa Urteilsbestätigungen und Dekrete in Bezug auf Gnadenbitten.6 In den hier untersuchten Akten und Normtexten trifft man vornehmlich auf das Justizdepartement als Bezeichnung für den Entscheidungsträger in Sachen Supplikation.7 Die Entscheidungsfindung im Einzelfall wurde jedoch im Plenum des Geheimen Rats durch kollegiale Abstimmung vollzogen – und entsprechend verweisen die Akten auf den Geheimen Rat.8 Da aber die fachliche Zuständigkeit beim Justizdepartement lag und die Voten des Justizministers in der Regel lediglich kollegial bestätigt wurden, muss in diesem der eigentliche Entscheidungsträger gesehen werden und daher wird hier auf die Bezeichnung Geheimer Rat weitgehend verzichtet, ohne dabei den behördlichen Kontext aus den Augen zu verlieren. Vgl. Stölzel 1989 / 2. Bd., S. 96 – 99, 306; vgl. Kühns 1871, S. 163. Die Kultusangelegenheiten wurden zwar nach wie vor vom Geheimen Rat wahrgenommen, offenbar aber unter Justizangelegenheiten subsumiert: So spricht z. B. Adolf Stölzel von einem „ausschließlichen Justiz-Staatsrat“ – vgl. Stölzel 1989 / 2. Bd., S. 306 f. Zum Justizdepartement vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 82 – 125. 6 Zur Wiedereinführung des kollegialen Prinzips am 5. Januar 1787 vgl. Stölzel 1989 / 2. Bd., S. 308. Zur Supplikation vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 89; vgl. Stölzel 1989 / 2. Bd., S. 120, 298 f., 306 – 309. 7 Die Edikte und Verordnungen zum Supplikationswesen sprechen ausschließlich vom Justizdepartement; in den Adresskalendern und Handbüchern über den Königlich Preussischen Hof und Staat wird die Zugehörigkeit der Minister zum Justizdepartement bzw. Justizministerium, zum Kabinettsministerium oder Generaldirektorium ausgewiesen; auch die Vermerke z. B. bzgl. der Weiterleitung eines Supplikationsvorgangs nennen das Justizdepartement als zuständige Behörde. 8 So findet sich vor allem in Marginaldekreten und Resolutionen die Formel, dass die jeweilige Entscheidung im Geheimen Rat dekretiert worden sei [zu Beispielen s. C.II.]. 4 5
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
b) Eingangsbearbeitung der Suppliken in der Kanzlei Die Suppliken wurden meist von ihren Absendern oder von Personen aus ihrem Umfeld persönlich in einem Amt abgegeben. Vermutlich aus Kostengründen ließen die Supplizierenden ihre Suppliken nur selten mit der Post zustellen.9 Der diensthabende Staatsdiener nahm die auf Stempelpapier niedergeschriebene Supplik entgegen und leitete sie an das Justizdepartement weiter.10 Wurden Suppliken indes irrtümlicherweise an ein Gericht adressiert, so wurden diese nicht unbedingt auf dem Amtswege weitergeleitet. Vermutlich aus erzieherischen Gründen überließ man dies dem Bittsteller, wie der Belehrung an die Adresse von Andreas Peter Spangenberg zu entnehmen ist, der seine Supplik an das Kammergericht adressiert hatte: „Das Kammergericht ist berechtigt nicht eine Strafe zu mildern, welche durch ein Erkenntniß festgesezt ist, wenn der Supplicant dergleichen Begnadigung nach suchen will, so muß die Bittschrift an einen hohen Etats-Rath gerichtet, und an den Geheimen Etats-Minister Freyherrn von der Reck abgegeben werden.“11
Ging die Supplik in der Geheimen Staatskanzlei ein, setzte der Kanzlist das Präsentatum auf das Schreiben und trug den Vorgang im Journal unter einer laufenden Nummer ein, mit der er auch das eingegangene Schreiben auszeichnete.12 Anhand des Journals konnte der Kanzlist überprüfen, ob zu diesem Vorgang bereits eine Akte existierte. Vermerkte er anteriora auf der Supplik, so war dies die Aufforderung an die Kanzleidiener, den Vorgang aus der Geheimen Registratur herauszusuchen.13 War die Akte vervollständigt, so ging der Vorgang an das Justizdepartement. 9 Nur wenige Suppliken weisen die für den Postweg typische Faltung und Außenadresse nebst Versiegelung auf – vgl. bspw. Supplik der Mutter Rummert vom 15. April 1787 / Fallakte Johann Gottfried Rummert; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 256. 10 Der Vermerk zur Weiterleitung lautete z. B.: „An das Justitz-Departement / Berlin d[en] 11 t[en] Febr[uar] 1792“ – Vermerk auf Supplik des Vaters Hanses vom 10. Februar 1792 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 187. Es kam auch vor, dass eine Supplikation in Strafrechtssachen vermutlich aus Unkenntnis der Behördenzuständigkeit bei einer anderen obersten Landesbehörde abgegeben wurde, die jedoch dafür nicht zuständig zeichnete, und daher das Schreiben an das Justizdepartement weiterreichte. So verhält es sich z. B. im Fall der beim Generaldirektorium abgegebenen Supplik in Sachen Heinemann – vgl. Mitteilungsschreiben des Generaldirektoriums nebst Supplik als Anlage vom 21. Mai 1788 / Fallakte Simon Joseph Heinemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 11 Schreiben der Kammergerichtskanzlei vom 10. Juni 1788 / Fallakte Maria Elisabeth Kriegs; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 12 Die Journale sind zwar nicht überliefert, jedoch lässt sich dies aus dem Vermerk „C[ur]r[entis] N[ume]r[i]“ auf der Supplik erschließen. Die Nummerierung der Eingänge setzt in jedem Kalenderjahr aufs Neue ein: z. B. Supplik vom 10. November 1791 trägt die „Cr. Nr. 755“, während die Supplik vom 10. Februar 1792 mit „Cr. Nr. 124“ ausgezeichnet ist – vgl. Vermerke auf Suppliken / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 185 und fol. 187. 13 Vgl. bspw. Vermerk auf Supplik des Vaters Hanses vom 10. Februar 1792 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 187. In einzelnen Fällen wurden die Kanzleidiener allerdings nicht fündig; sie vermerkten dann auf der Supplik, dass in der Geheimen
I. Supplikationen und Fürsprachen
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c) Die Justizminister Im Justizdepartement arbeiteten unter der Leitung des chef de la justice vier bis fünf Minister, deren Zuständigkeit sich teils am Territorial-, teils am Realprinzip orientierte.14 Obwohl der Kopf des Justizdepartements der chef de la justice war und häufig in Personalunion das Amt des Großkanzlers bekleidete, waren die übrigen Minister diesem nicht in jeder Hinsicht unterstellt; vielmehr entschied jeder eigenständig über die Angelegenheiten in seinem Zuständigkeitsbereich – mit Ausnahme der kollegial zu treffenden Entscheidungen. Für die Kurmark war in der Regel der chef de la justice zuständig, der häufig zugleich das Amt des Großkanzlers bekleidete. In dem hier behandelten Zeitraum waren folgende Personen für das Kurmärkische Specialdepartement des Justizdepartements zuständig: In den ersten Jahren der Regierung Friedrich Wilhelms II. war der schon unter Friedrich II. dienende Johann Heinrich Casimir v. Carmer zwar noch als Großkanzler und chef de la justice sowie als „Commissarius regius des Departements von der Churmark“ tätig, aus gesundheitlichen Gründen zog sich v. Carmer jedoch zunehmend aus den Geschäften zurück.15 Als Vertretung für v. Carmer übernahm der bereits seit 1784 im Justizdepartement arbeitende Geheime Rat und Justizminister Eberhard Friedrich Christian Freiherr v. d. Reck die Kriminalsachen zunächst in der Alt- und Neumark, später in allen kurmärkischen Kreisen.16 Als der vormalige KammerRegistratur zum jeweiligen Vorgang keine Vorakten vorhanden seien – vgl. Vermerk auf der Supplik des Michel Friedrich Bergemann vom 18. August 1795 / Fallakte Maria Elisabeth und Michel Friedrich Bergemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 14 Unter Friedrich Wilhelm II. sah die Geschäftsverteilung im Geheimen Rat respektive im Justizdepartement wie folgt aus: Dem Großkanzler und zugleich chef de la justice war die Justizaufsicht über die Kurmark, Ost- und Westpreußen, Lauenburg und Bütow sowie teilweise über die Pfälzer Kolonie und die Zuständigkeit für alle Generalia in Justiz- sowie in Bestallungs- und Besoldungsangelegenheiten im gesamten Justizwesen übertragen worden. Teilweise mit Kompetenzüberschneidung zu ersterem war ein zweiter Justizminister für die Alt- und Neumark sowie für Schlesien zuständig, zugleich betreute er die Kriminal- und Lehnssachen. Ein dritter Justizminister übernahm die Justizaufsicht in Zivilrechtssachen in Pommern, Magdeburg und Halberstadt sowie in sämtlichen Provinzen jenseits der Weser (Minden, Ravensberg, Bingen, Tecklenburg, Ostfriesland, Cleve und Mark, Meurs und Geldern). Des weiteren gab es Minister, die im Geheimen Rat zwar auch Justizangelegenheiten mitentschieden, aber an sich Angelegenheiten des Geistlichen Departements (die reformierten Kirchen- und Schulsachen, die französische Kolonie, die lutherischen und katholischen Kirchen- und Schulsachen) bearbeiteten – vgl. Stölzel 1989 / 2. Bd., S. 314, hier zum Jahr 1788. 15 Die eigentliche Schaffensperiode von v. Carmer lag in der Regierungszeit von Fried-rich II. – zu seinem Lebenslauf und Lebenswerk vgl. Eberhard Schmidt, Johann Heinrich Casimir v. Carmer (1926); in: ders., Beiträge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaates, Berlin 1980, S. 324 – 330 und vgl. Dietmar Willoweit, Johann Heinrich Casimir von Carmer und die preußische Justizreform; in: Johannes Kunisch (Hg.), Persönlichkeiten im Umkreis Friedrichs des Großen. Neue Forschungen zur brandenburg-preußischen Geschichte, Köln / Wien 1988, S. 153 – 174. 16 Die Angaben zu v. d. Reck sind dem Adresskalender und dem Handbuch über den Königlich Preussischen Hof und Staat entnommen; vgl. auch Stölzel 1989 / 2. Bd., S. 297, 314.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
gerichtspräsident und Präsident des Instruktionssenats, Heinrich Julius v. Goldbeck, 1789 die Ämter des Großkanzlers und des chef de la justice übertragen bekam, übernahm dieser damit nicht nur die allgemeine Aufsicht über das Justizwesen; auch das Kurmärkische Specialdepartement für Bestätigungs- und Supplikationsangelegenheiten ging von v. d. Reck weitgehend an v. Goldbeck über.17 War der zuständige Justizminister verhindert, so übernahm ein Kollege die Bearbeitung der aktuellen Vorgänge. Unter den Staatsbedienten gab es Ende des 18. Jahrhunderts zwar etliche Bürgerliche; die Spitzen der Verwaltung und des Militärs wurden aber nach wie vor vom Adel besetzt, so auch im Fall der Justizminister. Für ein solches Amt waren nicht nur bedingungslose Loyalität und Leistungsbereitschaft, sondern auch eine wissenschaftliche juristische Ausbildung und praktische Erfahrung im Justizwesen erforderlich.18 d) Bearbeitung von Mediatsupplikationen Stilistisch lassen sich Mediat- nicht von Immediatsuppliken unterscheiden, da der Kurialstil den Supplizierenden vorschrieb, jedes Schreiben an eine Behörde mit der Anrede und den entsprechenden Courtoisieformen zu versehen, als ob dieses direkt an den Landesherrn adressiert sei. Daher präsentieren sich Mediatsuppliken in Gestalt von unechten Immediatsuppliken19; allein die Bearbeitungsvermerke geben Anhaltspunkte zur Klassifizierung der Schreiben. Handelte es sich um die erste Supplik eines Bittstellers oder einer Bittstellerin, die auf zentralstaatlicher Ebene eingereicht wurde, so wurde sie als Mediatsupplikation behandelt. Dies bedeutet, dass formal gesehen der Geheime Rat bzw. de facto das Justizdepartement [s. o.] befugt war, eigenmächtig kollegial gefällte Dekrete in Gnadensachen zu erteilen. Wies eine Supplikation indes offensichtliche formale Mängel auf – sei es die Adressierung an eine nicht zuständige Behörde oder eine nicht zugelassene inhaltliche Zielsetzung der Gnadenbitte – so konnte der zuständige Justizminister die Supplikation ablehnen, ohne den Fall dem Kollegium vorgelegt zu haben. Als Mediatsupplikationen galten auch Gnadenbitten, 17 Die Angaben zu v. Goldbeck sind dem Adresskalender und dem Handbuch über den Königlich Preussischen Hof und Staat entnommen. Zu v. Goldbecks Herkunft und Mitgliedschaft bei den Rosenkreuzern vgl. auch Stölzel 1989 / 2. Bd., S. 315 f., 321. 18 Zur Herkunft, Ausbildung und Besoldung brandenburg-preußischer Staatsdiener vgl. Neugebauer 1981, S. 561 – 578; vgl. Hubatsch 1973, S. 27 – 31, 159 f., 214; vgl. Hartung 1950, S. 117 f.; vgl. Schoeps 1995, S. 84 f.; vgl. Conrad 1966, S. 311 f.; vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 48 – 50 und vgl. Hintze 1987, S. 397 – 399 – den Schlussfolgerungen einiger Autoren aus der brandenburg-preußischen Beamtenpolitik bzgl. der angeblichen modernen Rechtsstaatlichkeit wird hier indes nicht gefolgt, da hier in Abrede gestellt wird, dass ein Staat im Ancien Régime, welcher dem Verständnis der patriarchalen Herrschaft verpflichtet war, Rechtsstaatlichkeit praktizierte. 19 Vgl. Heinrich Otto Meisner, Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Leipzig 1950, hier S. 182.
I. Supplikationen und Fürsprachen
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deren Absender in einem Gnadenfall bereits häufiger für die angeklagte bzw. verurteilte Person suppliziert hatten, dabei aber nicht direkt auf die abschlägige Resolution einer vorherigen Supplikation reagierten, sondern mit jeder neuen Supplikation eine andere inhaltliche Zielsetzung verfolgten. Ausschließlich Supplikationen, in denen die Gnadenbitte mit der Absicht wiederholt wurde, die zuvor ergangene Resolution von oberster Stelle überprüfen zu lassen, wurden in der Regel als Immediatsupplikationen behandelt [s. u.].20 Die hier untersuchten Quellen belegen, dass die in den Edikten und Normen vorgeschriebene Geschäftsverteilung, in der geregelt ist, in welchen Fällen Dekrete in Gnadensachen mediat oder immediat erlassen werden sollten [s. u.], in der Verwaltungspraxis weitgehend befolgt wurde.21 Allerdings gab es durchaus Fälle, in denen anders verfahren wurde – meist insofern, als das Justizdepartement tendenziell mehr Supplikationen eigenmächtig dekretierte als es ihm formal zustand.22 20 Die Unterscheidung von mediater und immediater Supplikation lässt sich bspw. am Fall von Maria Dorothea Jungen exemplarisch nachvollziehen: Die Gnadenbitte der Tante für die wegen Kindsmordverdachtes zu lebenslanger Zuchthausarbeit verurteilten Jungen wurde als eine mediate Supplikation behandelt. Rund einen Monat später versuchte ein anderer Verwandter der Jungen, ihre Freilassung zu erwirken. Da es sich zwar um dieselbe inhaltliche Zielsetzung der Gnadenbitte, aber um einen anderen Supplikanten handelte, fiel die Entscheidung wiederum in die Zuständigkeit des Justizdepartements. Knapp zwei Monate später reichte dieser Verwandte eine weitere Supplik ein, in der er auf seine erste Supplik und die darauf ergangene Resolution Bezug nahm und seine Gnadenbitte wiederholte. Dieses Mal wurde sein Anliegen als Immediatsupplikation behandelt und gelangte zur Dekretierung bis zum Thron – vgl. Supplik der Tante Weber vom 3. August 1797; vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 14. August 1797; Supplik des Verwandten Rosenthal vom 20. September 1797; Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 9. Oktober 1797; Supplik des Verwandten Rosenthal vom 7. Dezember 1797; Kabinettsorder vom 12. Dezember 1797; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 18. Dezember 1797 / Fallakte Maria Dorothea Jungen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 145 – 154. 21 Zur Geschäftsverteilung vgl. Edikt vom 10. Februar 1738; in: CCM (I) 1744, No X, hier Artikel 3 und 5, Sp. 129 und vgl. dazu GStA PK, I. HA, Rep. 9, Lit. X 1 G, No 4, fol. 160 – 172; vgl. Deklaration vom 24. Juni 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXI, Sp. 1487 – 1490, s. bes. Sp. 1487 f. und vgl. Publikandum vom 12. Juli 1787; in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LXXV, Sp. 1497 – 1508, s. bes. §§ 2 – 4, Sp. 1499 f. und vgl. dazu GStA PK, II. HA, Abtlg. 3, Tit. XLII, No 11, fol. 13; vgl. III 1 § 13 AGO. Als Quellenbeleg sei an dieser Stelle allgemein auf die in A.III.4. und B.I. genannten und die im Folgenden angeführten Fallbeispiele verwiesen. 22 Zum Beispiel: Nachdem die Mutter Reinicken auf die Supplik für ihre Tochter Dorothee Friederike eine abschlägige Resolution erhalten hatte, strengte sie eine weitere Supplikation in demselben Tenor an, in der sie auf die zuletzt erhaltene Resolution Bezug nahm. Doch auch diese zweite Supplikation wurde vom Justizdepartement ohne Konsultation des Monarchen negativ entschieden; erst im dritten Anlauf gelangte das Anliegen Reinickens vor den Thron. Mit dem Wechsel des Throninhabers wurde die Angelegenheit immediat vorgelegt, aber ebenso abschlägig beurteilt – vgl. Suppliken der Mutter Reinicken vom 4. Oktober 1795, 12. Januar 1796, 17. November 1797 und vgl. Dekrete über abgelehnte Gnadenbitten in Form von Resolutionen vom 19. Oktober 1795, 25. Januar 1796, 27. November 1797 / Fallakte Dorothee Friederike Reinicken; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 229 – 234.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Die Gründe dafür können nur vermutet werden: sei es, dass der Monarch in Kriegszeiten nicht erreichbar war bzw. mit derartigen Angelegenheiten nicht zusätzlich belastet werden wollte; sei es, dass die Gnadenbitte oder die angeführten Umstände nach obrigkeitlicher Lesart als offenkundig gnadenunwürdig galten, weshalb man darauf verzichtete, den Vorgang dem Monarchen vorzulegen. Eine Mediatsupplikation durchlief üblicherweise folgenden Geschäftsgang: Zuerst prüfte der für das Kurmärkische Specialdepartement zuständige Justizminister das Anliegen des Supplikanten bzw. der Supplikantin und ordnete bei fraglichen Angaben eine Überprüfung an.23 Auf diese Weise stellte sich beispielsweise heraus, dass die Witwe Peters in der Supplikation für ihren Sohn aus taktischen Gründen falsche Angaben gemacht hatte: Die bereits abgesessene Strafzeit gab sie mit 41/2 Jahren an, während es tatsächlich nur drei Jahre waren; außerdem hatte sie das Alter ihres Sohnes auf 26 heruntergesetzt, wohl in der Hoffnung, dass ihm noch jugendlicher Leichtsinn zugute gehalten würde – ein Bearbeiter im Justizdepartement hatte die fraglichen Passagen korrigiert.24 Hatte der Justizminister seine Meinung zu der Gnadenfrage gefasst, notierte er auf der Vorderseite der Supplik den Tenor des Votums. So erließ v. Goldbeck zum Beispiel im Fall von Auguste Friederike Hanses, deren Vater noch vor der Verkündung des Urteils eine Supplikation eingereicht hatte, folgendes Marginaldekret: „Detur zur resol[ution], daß sententia abzuwarten ( . . . ) sey“.25 Das Votum des Justizministers wurde entweder von diesem selbst oder von einem Geheimen Oberjustizrat26, der berechtigt war, Vortrag zu halten, im kollegial entscheidenden Plenum des Geheimen Rats vorgestellt. Es mag sein, dass das Kollegium strittige Fälle zu diskutieren pflegte. Den 23 Irreführende bzw. falsche Angaben und Darstellungen in Suppliken gehörten zum taktischen Repertoire der supplizierenden Untertanen. In der Supplik des Vaters für den wegen Hausdiebstahls verurteilten Christian Friedrich Mette machte dieser zum Beispiel eine falsche Altersangabe. Zudem verharmloste er den Sachverhalt: So habe es sich angeblich um „wenig Geld“ gehandelt, welches Mette seinem Lehrherrn gestohlen hatte; tatsächlich belief sich das Diebesgut auf: einen doppelten Friedrich d’Or, einen einfachen Louis d’Or und insg. 16 Reichstaler, zudem Weste, Schnallen, Schuhe, Mütze und Halstuch. Auch sei kein wirklicher Schaden entstanden, da Mette „nach geschehener That ertappet“ worden sei, wobei der Vater verschwieg, dass Mette vom Tatort geflohen war und sein Lehrherr ihn erst nach größerer Suche entdeckte. In diesem Fall scheint die Supplik keiner Überprüfung unterzogen worden zu sein, da die falschen Angaben nicht korrigiert wurden [s. C.II.4.e)] – vgl. Supplik des Vaters Mette vom 25. November 1797 und vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. Ende März 1797] / Fallakte Christian Friedrich Mette; in: ebd. GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.077. 24 Vgl. Supplik der Mutter Peters vom 14. Februar 1798 nebst Marginalvermerken / Fallakte Johann Friedrich Peters; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.065. 25 Marginalvermerk auf Supplik des Vaters Hanses vom 10. November 1791 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 185. 26 Etliche Vermerke gehen bspw. auf den Oberjustizrat J. Könen zurück, der seit 1788 dem Justizminister v. d. Reck und von 1794 – 1798 v. Goldbeck in Kriminalsachen zuarbeitete – vgl. Adresskalender und Handbuch über den Königlich Preussischen Hof und Staat. Die Oberjustizräte waren seit dem 5. Januar 1787 berechtigt, Vorträge zu halten – vgl. Stölzel 1989 / 2. Bd., S. 308.
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Akten liegen jedoch keine schriftlich fixierten Kommentierungen oder Änderungen der ministeriellen Voten vor; vielmehr setzte sich in der Regel das vom Justizminister vorgeschlagene Votum im Kollegium durch. Dies geht zum Beispiel aus dem Vermerk des Sekretärs hervor, der sich auf das oben zitierte Votum Goldbecks bezieht: „Ita conclusum in Consilio Status eod[em] – Klaproth“.27 Auf der Grundlage dieses Beschlusses entwarf der mit der Protokollführung im Geheimen Rat und mit der Kurmärkischen Expedition betraute Sekretär ein Konzept des Gnadendekrets.28 In preußischen Kanzleien benutzte man dafür meist das grobe, bläuliche Konzeptpapier, welches nur halbbrüchig beschriftet wurde, damit auf der linken Seite ausreichend Platz für Datum, Empfänger, Rubrum, Vermerke und Korrekturen blieb. Oben mittig erhielt das Konzept den Vermerk „Ch[ur]m[arc]k“, der auf die für diesen Vorgang zuständige Spezialabteilung des Justizdepartements hinwies. Das in den Quellen als Resolution bezeichnete positive oder negative Dekret in Gnadensachen29 an die Adresse des Supplizierenden wurde im Stil eines Behördendekretschreibens im Auftrag des Landesherrn30 aufgesetzt: Die dispositio setzt sich aus der intitulatio des Landesherrn und der Empfängerbezeichnung in dritter Person zusammen. In einem knappen Satz werden die inhaltliche Zielsetzung der Gnadenbitte und der Tenor des Dekrets wiedergegeben; die Datierung wird mit signatum eingeleitet. Das Konzept der Resolution schließt mit der Formel ad mandatum und verlangte zum Revidieren die Gegenzeichnung des zuständigen Justizministers durch Paraphe. Bei der Ausfertigung wurde die behördenintern verwandte Formel ad mandatum durch die offizielle Formel „Auf Seiner Königlichen Majestät allergnädigsten Special-Befehl“ ersetzt. Das Dekret trug in der Regel die Kontrasignatur31 der Mitglieder des Geheimen Rats, also die eigenhändigen Unterschriften der Geheimen Räte und Minister;32 in Ausnahmefällen unterschrieb 27 Vermerk auf Supplik des Vaters Hanses vom 10. November 1791 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 185. 28 Als Sekretäre der Kurmärkischen Expedition der Staatskanzlei in dem hier untersuchten Zeitraum lassen sich u. a. Freiherr von Dankelmann (1786 – 1792) bzw. Johann Daniel Kluge (1793 – 1798) nachweisen. 29 Folgende terminologische Regelung gilt es bei Dekreten in Gnadensachen zu beachten: Als Gnadendekret wird hier ausschließlich ein Dekret bezeichnet, welches tatsächlich eine Form von Begnadigung gewährte. Fiel die Entscheidung über eine Supplikation indes negativ aus, so wird dies als Dekret über abgelehnte Gnadenbitte zitiert. 30 Zur Kategorie Dekretschreiben in der Aktenkunde vgl. Kloosterhuis 1999, S. 530 – 532; vgl. Meisner 1950, S. 156 – 167; vgl. Schmid 1959, S. 131 – 135. Wie den im Folgenden angeführten Charakteristika eines Dekretschreibens zu entnehmen ist, muss für BrandenburgPreußen der Behauptung von Gero Dolezalek widersprochen werden, dass es sich bei Begnadigungen aktenkundlich betrachtet um Reskripte handelt – vgl. Dolezalek 1991, Sp. 94. 31 Zur brandenburg-preußischen Praxis der kollegialen Kontrasignatur im 18. Jh. vgl. Haß 1909, S. 209 f. 32 Beispielhaft vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution (revidiertes Konzept und Ausfertigung) vom 1. September 1788 / Fallakte Gottfried Freudenberg;
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allein der Großkanzler.33 Der Auftragsvermerk ad mandatum bzw. Auf Seiner Königlichen Majestät allergnädigsten Special-Befehl ist zumeist ein Beleg dafür, dass dieser Beschluss in einer Zentralbehörde, die im Auftrag des Landesherrn handelte, gefasst worden war. Auch wenn das Dekret formell im Namen des Monarchen erging, lag dem in der Regel keine konkrete Anordnung des Landesherrn zugrunde, vielmehr bedeutete dies, dass die Entscheidungsgewalt in derartigen Angelegenheiten durch einmaligen Befehl an eine Zentralbehörde delegiert worden war.34 Mit einem Beispiel soll der oben skizzierte Geschäftsgang veranschaulicht werden: Auf der Grundlage des oben zitierten Marginaldekrets des Justizministers – „Detur zur resol[ution], daß sententia abzuwarten ( . . . ) sey“35 – entwarf der Sekretär folgendes Konzept, welches sodann von v. Goldbeck revidiert wurde: „Seine Königliche Majestaet von Preussen laßen dem Inspectori Hanses auf sein allhier eingereichtes Privatschreiben vom 10. d[es] M[onats] worin er die Verwandlung der seiner Tochter, wegen verheimlichter Schwangerschaft und Geburt, zuerkennende Strafe in eine Gefängniß-Strafe nachsuchet, hierdurch zur gnädigsten Resolution nicht verhalten: daß er die Sentenz in dieser Sache abwarten müße und dagegen seiner Tochter die Ergreifung des weiteren Rechtsmittels unbenommen sey – Sig[natum] Berlin d[en] 14. Nov[ember] 1791 – ad mand[atum] – [Paraphe von:] G[oldbeck].“36
Das ablehnende Dekret belegt, dass sich das Justizdepartement augenscheinlich an den Grundsatz gebunden fühlte, keine Machtsprüche in laufenden Verfahren zuzulassen, sondern eine Supplikation erst dann inhaltlich zu prüfen, wenn das Gericht sein Urteil gesprochen hatte. In der Tat wurden zahlreiche Gnadenbitten mit dem Hinweis abgelehnt, dass alle für die jeweilige Strafrechtssache vorgesehenen gerichtlichen Instanzen durchlaufen sein mussten, bevor einer Supplikation die Möglichkeit einer Begnadigung eingeräumt wurde.37 in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 404 (Konzept) und fol. 405 (Ausfertigung). Die Ausfertigung weist die eigenhändigen Unterschriften der Geheimen Staatsräte und Minister des Justiz- und des Geistlichen Departements v. Carmer, v. Zedlitz, v. Dörnberg, v. d. Reck und v. Woellner auf. 33 Zur Sonderstellung des Großkanzlers vgl. Stölzel 1989 / 2. Bd., S. 296 f., 309. 34 Zum Auftragsvermerk vgl. Meisner 1950, S. 162, 246; vgl. Haß 1909, S. 211 f. 35 Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form eines Marginaldekrets auf Supplik des Vaters Hanses vom 10. November 1791 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 185. 36 Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 14. November 1791 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 186. 37 In solchen Fällen wurden die Supplikationen mit dem Hinweis abgewiesen, dass die Sentenz abzuwarten bzw. das Mittel des remedio ulterioris defensionis noch nicht ausgeschöpft sei, also der angeklagten Person die Möglichkeit der Berufung theoretisch noch offen stand – beispielhaft vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 13. März 1789 / Fallakte Johann Christian Thur; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217 und vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 22. August 1791 / Fallakte Carl August Möller; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217.
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Wie auch aus dem oben zitierten Konzeptschreiben hervorgeht, wurde es dem Justizminister zur Abzeichnung vorgelegt. Nachdem dieser unter das ad mandatum seine Paraphe nebst Tagesdatum gesetzt und eventuelle Änderungen angebracht hatte, galt das Konzept als revidiert.38 Nun übernahm der Kanzlist die alle Korrekturen berücksichtigende Reinschrift der Resolution für den Supplikanten bzw. die Supplikantin. Anders als bei den Konzepten wurde dafür feines, weißes Papier benutzt und der Text in formvollendeter Kanzleischrift mit Initialschnörkeln wiedergegeben. Bevor die Resolution an den Empfänger ging, wurden Konzept und Ausfertigung durch einen Sekretär oder einen Kanzlisten kollationiert.39 Der Kanzlist trug das Ausgangsschreiben in das Journal unter derselben Nummer wie das dazugehörige Eingangsschreiben ein und notierte die entsprechende laufende Nummer auf dem Konzept. Häufig findet sich zudem ein Vermerk darüber, wann das Schreiben mit der Post aufgegeben wurde.40 Da die Ausfertigung für den Empfänger bestimmt war, finden sich in den Akten fast ausschließlich revidierte Konzepte der Dekrete in Gnadensachen. Lediglich in einem Fall lag die noch versiegelte Ausfertigung den Akten bei, da das Schreiben der Supplikantin nicht zugestellt werden konnte: „Ist seit 8 Monath von hier abwesent und der Art ihres Aufenthalt niemanden bewust“.41 Diese dem Zufall zu verdankende Gegenüberlieferung gibt einige Informationen über die Ausfertigungspraxis preis. Wurde eine Begnadigung gewährt, mussten notwendigerweise auch die Stellen davon unterrichtet werden, denen die Vollziehung des Dekrets oblag. Daher ergingen parallel zur Resolution entsprechende Weisungen an das zuständige Gericht und an die jeweilige Strafvollzugsanstalt, in der sich der Delinquent bzw. die Delinquentin befand. Die Weisungen des Justizdepartements durchliefen ebenfalls den üblichen Geschäftsgang vom Marginaldekret über die verschiedenen Stufen des Konzepts bis zur Ausfertigung. Mitunter war Eile geboten, wenn beispielsweise eine zeitweilige Entlassung aus dem Arrest aufgrund gravierender gesundheitlicher Probleme anstand. Dafür sollten so genannte „cito“-Vermerke42 an die 38 Z. B. wurde folgendes Konzept für eine Resolution von der Hand v. Goldbecks korrigiert – vgl. Resolution vom 19. Oktober 1795 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 211. 39 Dies geht aus Vermerken auf dem Konzept hervor wie z. B.: „C[ollationatu]m“ oder „v[er]gl[ichen]“, worunter der Sekretär bzw. der Kanzlist seine Paraphe setzte – Vermerke auf Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution (Konzept) vom 14. November 1791 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 186. 40 Dies geht aus Vermerken unten links auf dem Schreiben hervor wie z. B.: „den 25. [November 1791] zur Post“ – Vermerk auf Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution (Konzept) vom 14. November 1791 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 186. 41 Zit. aus: Vermerk auf einem Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution (Ausfertigung) vom 1. September 1788 / Fallakte Gottfried Freudenberg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 405. 42 Die als eilig gekennzeichneten Konzepte wurden in der Regel an demselben Tag mundiert – zit. aus: Vermerk auf dem Konzept der Weisung an das Kammergericht vom 22. Dezember 1794 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 208.
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Adresse der Kanzlei Rechnung tragen. Bei der behördeninternen Zustellung griff man auf Boten zurück.43
e) Bearbeitung von Immediatsupplikationen Gab sich der Supplikant oder die Supplikantin mit der Resolution des Justizdepartements nicht zufrieden und wiederholte in einer weiteren Supplik das Anliegen unter Bezugnahme auf die zuvor ergangene Resolution in der Hoffnung, dieses Mal einen günstigeren Bescheid zu erhalten, so wurde diese Gnadenbitte als Immediatsupplikation behandelt, das heißt, die Gnadenbitte wurde dem Monarchen zur Entscheidung vorgelegt [s. o.]. Wie bei der Mediat-, so war es auch bei der Immediatsupplikation am zuständigen Justizminister, das Anliegen zu prüfen und ein Votum für eine Entscheidung zu formulieren. Wurde eine Supplikation dem Monarchen auf direktem Wege überstellt, ohne dass der Justizminister zuvor Stellung bezogen hatte, forderte Friedrich Wilhelm II. per Kabinettsorder unverzüglich einen Bericht ein. Die Supplikation der Witwe Rummert für ihren Sohn war Friedrich Wilhelm zum Beispiel persönlich ausgehändigt worden, vermutlich weil die Supplik auf postalischem Wege eingegangen war und an Friedrich Wilhelm II. direkt adressiert war: „au Roi a Potsdam – zur allerhöchst eigenen Erbrechung“.44 Ohne sich die Supplik näher angesehen zu haben, wies Friedrich Wilhelm den Justizminister v. d. Reck an, ihm einen umfassenden Bericht über die Angelegenheit zukommen zu lassen.45 Ohne das Urteil eines Aktenkundigen wollte der Monarch die Gnadensache offenkundig nicht entscheiden. In einem Immediatbericht fasste der Justizminister die der verurteilten Person zur Last gelegte Tat sowie mögliche mildernde Umstände zusammen, trug die konkrete Gnadenbitte dem Gnadenträger vor und unterbreitete daraufhin ein Votum, wie seiner Meinung nach dieser Fall zu entscheiden sei. Der Immediatbericht liegt in den Akten nicht nur als revidiertes Konzept, sondern zumeist auch in Form einer Ausfertigung – die Vorlage für den Vortrag gegenüber dem Monarchen – vor. Im Fall des 22-jährigen Buchbinderlehrburschen Rummert ist dem Bericht zu entnehmen, dass er zu lebenslanger Festungsarbeit verurteilt worden war, da er angeblich aus „Lebens-Ueberdruß“ einen achtjährigen Jungen mit einem Messerstich stark verwundet hatte. V. d. Reck lehnte die oben zitierte Gnadenbitte der Mutter ab, die 43 Dies belegen Vermerke unten links auf dem Schreiben wie z. B.: „den 25. [November 1791] ins[inuiert; gerichtlich zugestellt] mit 5 Vol. Acten“ – zit. aus: Vermerk auf Konzept der Weisung an das Kammergericht und an die Kommission des Zucht- und Arbeitshauses Spandau vom 14. November 1791 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 184. 44 Adressierung der Supplik der Mutter Rummert vom 15. April 1787 / Fallakte Johann Gottfried Rummert; in: ebd., fol. 256. 45 Vgl. Kabinettsorder vom 15. April 1787 / Fallakte Johann Gottfried Rummert; in: ebd., fol. 256.
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Strafzeit ihres Sohnes zeitlich zu befristen. Seine ablehnende Haltung begründete er damit, dass nach wie vor Gefahr bestehe, dass Rummert erneut „in Mißmuth und Lebens-Ueberdruß zurück fallen dürfte“.46 Der Bericht schließt mit der üblichen Formel, dass die Entscheidung dem Monarchen selbstverständlich anheim gestellt sei – diese fiel in diesem Fall jedoch negativ aus.47 Waren die den Akten zu entnehmenden Angaben [s. u. Urteilsbestätigung] aus der Sicht des Justizministers nicht hinreichend aussagekräftig oder nicht aktuell, forderte er vom zuständigen Gericht einen ausführlichen Bericht über den Fall an.48 Dies tat zum Beispiel v. Goldbeck im Fall der Kindsmörderin Anna Dorothea Devouschack: Sie war bereits von der Todesstrafe zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigt worden. Nachdem die erste Supplikation ihres Onkels nach rund 16 Jahren Haft abschlägig beschieden worden war, stand mit seiner zweiten Supplikation eine immediate Entscheidung an. V. Goldbeck konnte sich zwar auf das in der Akte enthaltene Rechtsgutachten stützen, doch waren diese Informationen über 16 Jahre alt. Um sich ein aktuelles Bild von der Verurteilten zu verschaffen, forderte v. Goldbeck von der Kriminaldeputation des Kammergerichts einen ausführlichen Bericht über Tathergang, Lebenswandel und Aufführung der Delinquentin während der Haft ein und verlangte zudem vom Gericht, Stellung zur Gnadenbitte zu beziehen.49 Für seinen Immediatbericht übernahm v. Goldbeck nicht nur die im Bericht des Kammergerichts angeführten mildernden Umstände und die positive Einschätzung Devouschacks durch den Zuchthausprediger und die Zuchthausadministration, sondern auch das Votum des Gerichts zur Gnadenbitte: Auch v. Goldbeck plädierte dafür, Anna Dorothea Devouschack nach über 16 Jahren aus der Haft zu entlassen.50 Friedrich Wilhelm II. wurde der Immediatbericht meist persönlich durch den Justizminister vorgetragen. Ein Ergebnis der Untersuchung der Gnadenfälle ist, dass sich der Monarch in der Regel dem Votum seines Justizministers anschloss und den Gnadenfall entsprechend positiv oder negativ dekretierte – so auch im Fall von Anna Dorothea Devouschack.51 Die mündlich ausgesprochene Entscheidung des Monarchen notierte sich entweder der Justizminister als Marginaldekret auf 46 Zit. aus: Immediatbericht des Justizministers vom 21. April 1787 / Fallakte Johann Gottfried Rummert; in: ebd., fol. 258 f. (revidiertes Konzept), 261 (Ausfertigung). 47 Vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 23. April 1787 / Fallakte Johann Gottfried Rummert; in: ebd., fol. 262. 48 Behauptungen in Suppliken wurden z. B. auch in Kurmainz überprüft – vgl. Härter 2005, S. 251; vgl. Härter 2000, S. 479. 49 Vgl. Weisung an das Kammergericht vom 15. August 1796 und Bericht der Kriminaldeputation vom 20. Oktober 1796 / Fallakte Anna Dorothea Devouschack; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 44, 28 – 42. 50 Vgl. Immediatbericht des Justizministers vom 27. Oktober 1796 / Fallakte Anna Dorothea Devouschack; in: ebd., fol. 45 f. 51 Diese Beobachtung macht auch Harriet Rudolph für Osnabrück: Der Landesherr folgte in der Regel dem Votum der Kanzlei – vgl. Rudolph 2005, S. 439.
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seinem Bericht, doch meist nahm ein Sekretär die Weisung auf und konzipierte daraufhin eine entsprechende Kabinettsorder. Seit 1713 wurde die Kabinettsorder in Brandenburg-Preußen für Weisungen des Landesherrn im Einzelfall an zivile Zentralbehörden und an das Militär benutzt. Eine Kabinettsorder unterscheidet sich deutlich in Form und Stil von anderen Weisungsschreiben: Allein äußerlich fällt eine Kabinettsorder dadurch auf, dass für sie feines, weißes Papier im Quartbogen verwandt und sie in der Regel im Couvert versandt wurde. Der Textblock einer Kabinettsorder beginnt hart unter dem oberen Blattrand und besteht üblicherweise nur aus wenigen Zeilen, da die Entscheidung in einem knappen, nüchternen Stil formuliert wurde; Ort und Datum sind links herausgerückt; am unteren linken Blattrand wird der Empfänger mit Namen und Amtsbezeichnung genannt. Die Weisung des Landesherrn ergeht in der ersten Person Singular und schließt mit der eigenhändigen Unterschrift des Landesherrn. Stets richtet sich die Kabinettsorder an eine einzelne Person, die mit der Anrede „Mein lieber . . .“, ihrer Amtsbezeichnung und ihrem Namen angeredet wird.52 Auf die Anrede folgt in derselben Zeile ohne Spatium die Narratio. Somit stellt die Kabinettsorder auch graphisch das Gegenstück zu Schreiben der Unterordnung und der Mitteilung dar, in denen die Ehrerbietung vor dem Empfänger ein Devotionsspatium verlangt. Die Kabinettsorder schließt mit einer Gnadenversicherung an die Adresse des Empfängers: „Ich bin Euer wohlaffectionirter König / Friedrich Wilhelm [Unterschrift von eigener Hand].“53 Ein Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder lautet beispielsweise im oben zitierten Fall von Anna Dorothea Devouschack wie folgt: „( . . . ) will Ich [Friedrich Wilhelm II.] der im Zuchthaus befindlichen Anna Dorothea Deruscheck [sic] die gebetene Begnadigung angedeihen laßen, sie kann dahero aus dem Zuchthause entlaßen werden.“54
Nur im Ausnahmefall konnte bei einer Kabinettsorder auf die persönliche Unterschrift des Herrschers verzichtet werden: Als Friedrich Wilhelm III. zum Beispiel krank daniederlag, diktierte er dem Justizminister v. Goldbeck ein Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder, welches ohne königliche Unterschrift blieb, diesen Umstand aber hinreichend erklärte: „Da es seiner Königlichen Majestät von Preußen wegen einer mit der Masernkrankheit, von welcher Höchstdieselben befallen worden sind, verbunden mit großer Schwäche und Empfindlichkeit der Augen unmöglich wird zu unterschreiben, so haben Höchstdieselben nach angehörtem Vortrage, des von dem Gros-Canzler v. Goldbeck wegen der Begnadigung des Bäckers Hanneman unterm 14ten des erstelleten Berichts, bey den angeführten Umständen resolviret: dem p[raedictus] Hannemann die noch rückständige Straffe zu erlaßen.“55 52 Z. B.: „Mein lieber Staats-Minister von Goldbeck ( . . . ).“ – vgl. Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 28. Oktober 1796 / Fallakte Anna Dorothea Devouschack; in: ebd., fol. 47. 53 Zit. aus: ebd. 54 Ebd.
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Gelangte eine Kabinettsorder in die Geheime Staatskanzlei, so wurde auch sie in das Journal eingetragen und mit einer laufenden Eingangsnummer versehen. Nun stand der Justizminister in der Pflicht, das Erforderliche in die Wege zu leiten, um das Gnadendekret umzusetzen. Mitunter finden sich Vermerke des Justizministers auf der Kabinettsorder, die über die Art und Weise des Vollzugs der allerhöchsten Weisung Auskunft geben.56 Vor allem aber musste der Supplikant bzw. die Supplikantin über die immediate Entscheidung durch eine entsprechende Resolution informiert werden. Man möchte annehmen, dass eine auf landesherrlicher Entscheidung beruhende Resolution in der Form eines landesherrlichen Dekretschreibens abgefasst wurde. Aus der Resolution geht zwar hervor, dass es sich um eine allerhöchste Entscheidung handelte, dennoch weist sie keine landesherrliche Unterschrift (in der Ausfertigung) bzw. Paraphe (im Konzept) auf. Tatsächlich wurde die immediate Entscheidung durch das Justizdepartement vermittelt; sie präsentiert sich daher wie schon die Resolution auf eine Mediatsupplikation im Stil eines Behördendekretschreibens im Auftrag des Landesherrn [s. o.].57 Daher schließt auch eine immediat entschiedene Resolution mit der Auftragsformel „Auf Seiner Königlichen Majestät allergnädigsten Special-Befehl“ und der Behördenfirma Geheimer Rat nebst den eigenhändigen Unterschriften der Geheimen Räte und Minister.58 Wurde die Gnadenbitte abgelehnt, so erübrigte sich die Weitergabe der Weisung an andere obrigkeitliche Stellen. Im Falle einer Begnadigung mussten das zuständige Gericht und die Strafvollzugsanstalt, in der sich die betreffende Person befand, über die Weisung in Kenntnis gesetzt werden und über ihr weiteres Vorgehen instruiert werden. Im Fall der erkrankten Auguste Friederike Charlotte Hanses wurde das Kammergericht beispielsweise angewiesen, den Gesundheitszustand der Arrestantin untersuchen zu lassen und sie im Falle einer gravierenden Krankheit „zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit“ aus dem Arrest vorübergehend zu entlassen, jedoch dafür Sorge zu tragen, „daß sie nach erlangter Gesundheit wiederum zur Absitzung des Überrestes der ihr zuerkannten Strafe zum Arrest gebracht werde.“59 Die sich aus Gnadendekreten ergebenden Handlungsanweisungen an andere 55 Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 17. Februar 1798 / Fallakte Johann George Hannemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.219, fol. 26. 56 Auf einer Kabinettsorder notierte v. d. Reck z. B. die Weisung: „das confirmations-rescript ist nach obigen Befehl citisime anzufertigen / Reck / 12. May 1787“; als Vollzugsmeldung des Eil-Befehls ist der Vermerk des Sekretärs „factum est“ zu verstehen – Vermerke auf der Kabinettsorder vom 11. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol 51. 57 Zur Kategorie Dekretschreiben der systematischen Aktenkunde vgl. Kloosterhuis 1999, S. 530 – 532; vgl. Meisner 1950, S. 156 – 167; vgl. Schmid 1959, S. 131 – 135. 58 Vgl. beispielhaft Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer immediat entschiedenen Resolution (revidiertes Konzept und Ausfertigung) vom 1. September 1788 / Fallakte Gottfried Freudenberg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 404 und fol. 405. 59 Zit. aus: Weisung an das Kammergericht vom 22. Dezember 1794 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 208.
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obrigkeitliche Stellen konnten ganz unterschiedlicher Natur sein: Im Fall von Anna Dorothea Devouschack ordnete v. Goldbeck an, dass das Zuchthaus Spandau die Delinquentin „in Gnaden ( . . . ) so fort nach Empfang dieses aus dem dortigen Zuchthause zu entlassen“ habe.60 Auch die Kriminaldeputation des Kammergerichts, welche in Devouschacks Fall das Urteil gesprochen hatte, wurde von v. Goldbeck über die Begnadigung informiert. Nun gab es etliche Gnadenfälle, die zwar bereits den Weg bis vor den Thron geschafft hatten, vom Landesherrn aber abschlägig beschieden wurden, wovon sich die Bittsteller und Bittstellerinnen jedoch nicht abhalten ließen, weiterhin zu supplizieren. Auch Rummerts Familie gab die Hoffnung auf eine Begnadigung nicht auf: Rund fünfeinhalb Jahre nach der negativen immediat entschiedenen Resolution reichte Rummerts Mutter eine weitere Supplik mit der Bitte um Loslassung ein, drei Jahre darauf schrieb der Schwager zwei Suppliken.61 Die Resolutionen auf diese Supplikationen wurden vom Justizdepartement ohne weitere Konsultation des Gnadenträgers abschlägig beschieden.62 Hatte der Gnadenträger in einem Gnadenfall eine Bitte einmal abgeschlagen, so galt diese Haltung offenbar als Richtungsentscheidung für nachfolgende Gnadenbitten mit vergleichbarer Zielsetzung, auch wenn sie von anderen Bittstellern zu derselben Person gestellt wurden. In einem solchen Fall wollte man den Monarchen nicht weiter behelligen, da das Justizdepartement offenkundig befugt war, Behördendekretschreiben im Auftrag des Landesherrn zu erlassen. f) Der Kontext: Die Bestätigung des Urteils Die oben beschriebenen Supplikationsvorgänge machen meist nur einen kleinen Teil einer Fallakte aus. Wie bereits erwähnt [s. Einleitung / Quellengrundlage], ist der Großteil der hier untersuchten Akten der Repositur 49 primär aus der Zuständigkeit des Justizdepartements für die königliche Bestätigung von Gerichtsurteilen über Zuchthaus- oder Festungsstrafen erwachsen,63 darüber hinaus aber auch für Supplikationen.64 Der Vorgang einer Akte, der sich auf die Urteilsbestätigung be60 Zit. aus: Weisung an die Zuchthausadministration Spandau vom 31. Oktober 1796 / Fallakte Anna Dorothea Devouschack; in: ebd., fol. 48. 61 Vgl. Supplik der Mutter Rummert vom 1. Dezember 1793, vgl. Suppliken des Schwagers Goltze vom 18. Januar 1797 und 13. Juli 1797 / Fallakte Johann Gottfried Rummert; in: ebd., fol. 263 f., 267 – 269, 272. 62 Vgl. Dekrete über abgelehnte Gnadenbitten in Form von Resolutionen vom 23. Dezember 1793, 23. Januar 1797 und 17. Juli 1797 (Marginaldekret auf Supplik) / Fallakte Johann Gottfried Rummert; in: ebd., fol. 265, 270, 272. 63 Zum Bestätigungsrecht: Seit 1717 mussten Urteile in Hals- und Blutsachen dem Monarchen vorgelegt werden; seit 1724 fielen alle Strafen, die einen Zuchthaus- bzw. Festungsarrest vorsahen, unter die königliche Bestätigungspflicht; die Nachfolger von Wilhelm I. führten diese Praxis fort – vgl. Regge 1985, S. 366, 369. 64 Zumeist bilden die Supplikationen nur einen Teil der die Bestätigung betreffende Fallakte. Daneben gibt es allerdings auch einige Fallakten, die ausschließlich aus dem Supplika-
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zieht, war nicht nur für die Übermittlung wichtiger Informationen an die Entscheidungsträger, sondern ist auch für die geschichtswissenschaftliche Kontextualisierung der Supplikationen von großer Bedeutung. Die Akten wurden zu Rate gezogen, um zu prüfen, ob die Personen, für die suppliziert wurde, auch der Gnade würdig waren; zudem lieferten diese Unterlagen mitunter den Grund für Fürsprachen aus dem Justizapparat [s. C.I.2.]. Der Antrag eines Gerichts auf königliche Bestätigung eines Urteilsentwurfs war in der Regel der Anlass, der einen Strafrechtsfall beim Justizdepartement anhängig machte:65 In dem Schreiben wurde um die allerhöchste Bestätigung des vom Collegium abgefassten Erkenntniß gebeten. Nicht nur für supplizierende Untertanen, sondern auch für Behörden und Gerichte galt das Prinzip, dass man in Schreiben an übergeordnete Stellen stets die königliche Anrede „Allerdurchlauchtigster Grossmächtigster König, / Allergnädigster König und Herr“66 verwandte, so auch im Fall des Antrags auf Urteilsbestätigung. Es war üblich, dass alle am Beschluss mitwirkenden Gerichtsmitglieder ihr Votum als kollegial entscheidendes Gremium offen legten: Eigenhändig unterzeichneten die Präsidenten, Direktoren und Räte des jeweiligen Gerichts in absteigender Hierarchie von links nach rechts; in der unteren rechten Ecke des Schriftstücks findet sich meist in Miniaturschrift die Zeichnung des Gerichtsschreibers. Wie zwei Anlagestriche am linken Rand des Schreibens bereits andeuten, waren dem Antrag auf Urteilsbestätigung das Rechtsgutachten und die Ermittlungsakten als Anlage beigefügt. Während das Rechtsgutachten in die Akten einging, wurden die Ermittlungsakten nach erfolgter Urteilsbestätigung dem Gericht wieder zurückgesandt; letztere sind daher in dieser Repositur nicht überliefert, sind aber auch nicht in der Provenienz des Kammergerichts auffindbar. Das Rechtsgutachten bestand aus dem Erkenntniß und einem Auszug aus den Untersuchungsakten. Das Erkenntniß ist ein Urteilsentwurf, der bereits im Stil eines rechtskräftigen Urteils im Namen des Landesherrn formuliert ist. Einleitend wird das zuständige Gericht und der Delinquent bzw. die Delinquentin genannt, sodann folgt das Urteil in der üblichen Formel: „( . . . ) Erkennen Wir Friedrich Wilhelm von Gottes Gnaden König von Preußen p. p. [Abkürzung für alle weiteren Titel des Landesherrn, auf deren Aufzählung im Konzept verzichtet wurde, die aber in der Ausfertigung zu benennen waren] / daß ( . . . ) [es folgt die Urteilsformel mit Strafmaß und juristischer Begründung]. / V[on] R[echts] W[egen].“67 tionsvorgang bestehen; dies trifft auf Fälle minderschwerer Delikte zu, in denen entsprechend mildere Strafen verhängt wurden, die keiner Bestätigung bedurften (z. B. Gefängnisstrafen, Arbeitshaus oder Geldbußen), in denen aber Supplikationen eingereicht wurden (z. B. in Lit. C (Schlägerei) und Lit. I (Injuria)). 65 Dies gilt nicht für die Fälle, deren Urteile nicht bestätigungspflichtig waren [s. Fn. 64]; diese Fälle gelangten erst dann an das Justizdepartement, wenn eine Supplikation zu entscheiden war. 66 Zum Umgang mit der königlichen Anrede vgl. Haß 1909, S. 220 f. 67 Rechtsgutachten vom 12. April 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 41.
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Hierbei handelt es sich um die im Gerichtswesen gebräuchliche Dispositivformel, die zwar den Herrscher mit der Gottes-Gnaden-Formel als die offiziell entscheidende Instanz einführt, die Formel Von Rechts Wegen weist jedoch darauf hin, dass das Urteil im Auftrag des Landesherrn vom Gericht verfasst wurde.68 Zur Begründung des Urteils folgt ein Auszug aus den Untersuchungsakten des ermittelnden Gerichts, in dem die juristisch relevanten Aspekte aus den Verhören zusammengefasst sind. Dieser Teil des Rechtsgutachtens firmiert häufig unter der Überschrift Geschichtserzählung und Gründe und stellt die informativste Quelle für die Analyse des Falles dar. Die Auszüge aus den Verhörprotokollen präsentieren sich als ein Mosaik aus Passagen indirekter und wörtlicher Rede, welche vorgeben, die mündlichen Aussagen der Verhörten wiederzugeben, und aus Passagen juristisch formulierter Sachverhalte, was auf die Autorenschaft ermittelnder Richter und Gerichtsschreiber verweist. Der Platzhalter „L[ocus] S[igilli]“ für das auf dem Original angebrachte Papiersiegel, welches sich in den Akten des Gerichts befunden haben musste, symbolisiert das obrigkeitliche Handeln. Rechts und links neben dem Siegel unterzeichneten die Präsidenten, Direktoren und Räte des Gerichts; auch der Gerichtsschreiber setzte seinen Namen in die untere rechte Ecke des Schriftstücks. Fiel das im Antrag formulierte Strafmaß, auf welches die komplizierte Gesetzeslage69 das Gericht verpflichtete, verhältnismäßig hart aus oder lief es gar auf die Todesstrafe hinaus, so konnte es sein, dass das urteilende Gericht selbst, das ihm in Sachen Ermittlung zuarbeitende Untergericht oder der Justizminister sich aufgerufen fühlten, eine Fürsprache an den Monarchen zu verfassen, in der um Begnadigung im Sinne einer etwas milderen Strafe nachgesucht wurde [s. C.I.2.]. Es war die Aufgabe des für die Kurmark zuständigen Justizministers, die Ermittlung des Gerichts, die Stichhaltigkeit der Urteilsbegründung und das Strafmaß im Hinblick auf die Schwere des Tatbestands unter Berücksichtigung eventueller mildernder Umstände zu prüfen. In Fällen, in denen das Strafmaß nur wenige Monate Zuchthaus- oder Festungsarrest betrug, konnten die Geheimen Räte und Minister über den Antrag auf Urteilsbestätigung offensichtlich im Auftrag des Landesherrn kollegial befinden. Sah der Urteilsentwurf des Gerichts eine Lebensstrafe oder eine Zu Schriftformen der Gerichtsbarkeit vgl. Meisner 1950, S. 165 – 167. Ende des 18. Jahrhunderts musste eine Vielzahl an miteinander konkurrierenden Gesetzesbüchern unterschiedlicher Provenienz bei der Urteilsfindung beachtet werden, deren Vorgaben bezüglich des Strafmaßes mitunter in einem starken Widerspruch zueinander standen: Den vorliegenden Akten sind Bezüge auf die Carolina, der Josphina, auf das Landrecht und auf zahlreiche Kabinettsorder zu entnehmen. Das Justizdepartement hatte 1773 die Überarbeitung der Gesetze in Angriff genommen: Im Zuge dessen sollten die Strafen, mit denen in den „Preußischen Staaten Verbrechen geahndet werden“, verglichen werden. Daraufhin stellte man im Mai 1779 eine Liste zusammen, aus der je nach Schwere des Falles das zugelassene Strafmaß hervorging – vgl. Vergleich der Strafen vom 27. Juni 1773 und Verordnung über das Strafmaß vom Mai 1779 / Acta wegen Milderung der Criminalia Strafen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A 1 (Generalia), Paket 15.964, fol. 138 – 156, 115 – 119. 68 69
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harte Leibesstrafe vor, worunter Zuchthaus- bzw. Festungsstrafen ab zehn Jahren bis lebenslang verstanden wurden,70 so durfte sie nicht „ohne Eure Königliche Majestaet eigenhändige Confirmation vollzogen werden.“71 Bevor jedoch der Monarch konsultiert wurde, ging auch ein immediat zu entscheidender Fall zur Bestätigung zuerst an den Geheimen Rat bzw. an das Justizdepartement. Sein Votum trug der Justizminister dem Kollegium der Geheimen Staatsräte und Minister in der Regel selbst vor. Obwohl der Monarch zu diesem Zeitpunkt noch nicht um seine höchstrichterliche Entscheidung nachgesucht worden war, erging eine entsprechende Annahme-Order an das zuständige Gericht und an die Strafvollzugsanstalt mit der Anweisung, „das sonst zur Vollstreckung des Urteils erforderliche überall weiter zu verfügen.“72 Wurde ein Todesurteil verhängt, so gab es offenkundig die Übereinkunft, eine mögliche Begnadigung abzuwarten, bevor das Urteil vollstreckt wurde. Gewährte der Monarch eine Begnadigung, musste daraufhin schnellstmöglich eine revidierte Version der Annahme-Order an das zuständige Gericht und an die Strafvollzugsanstalt gesandt werden. Der häufig auf den Konzepten der Annahme-Order anzutreffende Eilt-Vermerk „cito“ oder „citissime“73 an die Adresse der Kanzlei sollte sicherstellen, dass die Weisung zügig durchgestellt wird. War das Urteil im Abgleich mit dem Rechtsgutachten und den Ermittlungsakten juristisch für haltbar befunden worden, so stellte man die Annahme-Order in Form eines Behördendekretschreibens im Auftrag des Landesherrn aus. Auch hier gab sich der Geheime Rat als Entscheidungsträger aus, so auch in den ab 1797 verwandten Formularvordrucken der Annahme-Order: „Das hierbey in Originali zurückerfolgende Erkenntniß nach welchem ( . . . ) [es folgt handschriftlicher Eintrag von Name des / der Inquisiten / in, Delikt und Strafe] ist in Unserm Geheimen Etats-Rathe vorgetragen, und den Umständen gemäß abgefaßt befunden worden ( . . . ).“74 Vgl. Haß 1909, S. 211; vgl. Stölzel 1885, hier S. 318. Zit. aus: Verordnung über das Strafmaß vom Mai 1779 unter Friedrich II. / Acta wegen Milderung der Criminalia Strafen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A 1 (Generalia), Paket 15.964, fol. 115. 72 Zit. aus: Annahme-Order vom 9. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 48 (Konzept), 53 (Abschrift der Ausfertigung, s. Anlage Nr. 1). Im Fall Dorothea Christiane Otto hatte sich der Geheime Rat am 9. Mai 1787 beraten und das vom Gericht vorgeschlagene Todesurteil bestätigt und sogleich die Mundierung in Auftrag gegeben. Diesen vom Rat gebilligten Urteilsvorschlag trug Justizminister v. d. Reck noch an demselben Tag Friedrich Wilhelm II. vor, mit dem Plädoyer, Dorothea Christiane Otto von der Todesstrafe zu begnadigen und ihr stattdessen eine lebenslange Zuchthausstrafe aufzuerlegen (s. Anlage Nr. 2). Der Monarch gewährte zwei Tage später die Begnadigung (s. Anlage Nr. 3). Am folgenden Tag wurden Kammergericht und das Gouvernement zu Spandau eiligst über die Begnadigung informiert werden – vgl. Vortrag des Justizministers vom 9. Mai 1787; Kabinettsorder vom 11. Mai 1787; revidierte Annahme-Order vom 12. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 48 f. (Konzept, Ausfertigung), 51, 54. 73 Die als eilig gekennzeichneten Konzepte wurden in der Regel am selben Tag mundiert, wie die vom Schreiber nach Auftragserfüllung notierte Datierung verrät – vgl. bspw. Annahme-Order vom 9. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 48. 70 71
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In ihrer Entscheidung folgten die Räte in der Regel dem Votum des zuständigen Justizministers, der sich wiederum meist dem Urteilsentwurf des Gerichts anschloss. Der Passus lautete daher üblicherweise wie im Falle von Auguste Friederike Charlotte Hanses: „Es ist das ( . . . ) Erkenntniß, nach welchem die Auguste Friederike Charlotte Hanses, wegen verheimlichter Schwangerschaft und Geburt, mit Vierjähriger Zuchthauß-Arbeit ( . . . ) zu belegen, in Unserm Geheimen Etats-Rath vorgetragen und den Umständen gemäß abgefaßt befunden worden. Ihr [das Kammergericht] habt solches daher gehörig zu publiciren und nach erfolgter Rechtskraft davon Anzeige zu thun; unmittelst aber die Inquisitin ( . . . ) vorläufig an das Zuchthauß zu Spandau abliefern zu laßen ( . . . ) ad mand[atum].“75
Der Auftragsvermerk ad mandatum belegt [s. o.], dass der Geheime Rat respektive das Justizdepartement für die Weisung verantwortlich zeichnete. Das Urteil trat jedoch nicht mit der Bestätigung, sondern erst mit seiner Verkündung formal in Kraft. Neben der Urteilsbestätigung enthält eine Annahme-Order üblicherweise den Vollstreckungsbefehl. Das Wort vorläufig im oben zitierten Fall verrät, dass es sich um eine so genannte interimistische Annahme-Order handelt. Dies erklärt sich dadurch, dass sich die angeklagten Männer und Frauen nach Verkündung des Urteils theoretisch noch für eine Berufung am Ober-Appellationssenat entscheiden konnten, und somit bestand die Möglichkeit, dass das Urteil revidiert werden konnte. Auf eigenen Wunsch wurden die verurteilten Männer und Frauen bereits auf der Rechtsgrundlage der interimistischen Annahme-Order dem Strafvollzug übergeben, damit sie ihre Strafe sogleich antreten konnten. Dies hatte den Vorteil, dass sie bis zur Verkündung des Urteils der nächsten Instanz ihre Strafzeit bereits absitzen konnten, ansonsten hätten sie diese Zeit in Untersuchungshaft verbringen müssen, welche auf die Strafzeit üblicherweise nicht angerechnet wurde.
g) Resümee Fragt man abschließend nach den Akteuren der Obrigkeit, die eine Supplikation bearbeiteten, so stößt man auf ein Spektrum an Staatsdienern unterschiedlicher Hierarchieebenen: Vom Gerichtsschreiber, Kanzlisten, Sekretär, über die Richter der jeweiligen Gerichte und Räte des Geheimen Rats bis hin zum Justizminister der Kurmärkischen Expedition und dem Monarchen in seiner Funktion als Gnadenträger. Die Geschäftsganganalyse belegt, dass bei mediaten und immediaten Supplikationen die formale Zuständigkeit auf zentraler Behördenebene beim Geheimen Rat 74 Annahme-Order vom 4. Dezember 1797 / Fallakte Marie Dorothee Wilcken; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. Zu der in der Zeit davor üblichen Variante vgl. bspw. Annahme-Order vom 9. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 48 (Konzept), 53 (Abschrift der Ausfertigung, s. Anlage Nr. 1). 75 Weisung an das Kammergericht vom 14. November 1791 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 184.
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lag, während die fachliche Zuständigkeit de facto dem Justizdepartement, konkret dem für die jeweilige Provinz zuständigen Justizminister oblag. Dieser traf im Grunde die zentrale Vorentscheidung, indem er sein Votum dem Geheimen Rat zur kollegialen Entscheidungsfindung vortrug, welcher sich dem Plädoyer in der Regel uneingeschränkt anschloss. Dem Geheimen Rat kam lediglich die Funktion zu, dem ministeriellen Votum durch kollegiale Akklamation die nötige Legitimität zu verleihen. Auch bei immediaten Supplikationen war es der Justizminister, der die Fälle prüfte und eine Vorentscheidung in Form eines Immediatberichts traf, welchen er dem Monarchen mündlich vortrug oder schriftlich vorlegte. Es ist zu vermuten, dass das ministerielle Votum die Entscheidung des Monarchen mindestens beträchtlich beeinflusste, wenn nicht sogar die grundlegende Entscheidung, ob überhaupt eine Begnadigung gewährt werden sollte oder nicht, vorwegnahm [s. C.II.1. – 7.]. Die Geschäftsganganalyse belegt, dass der Justizminister durch die Vorgangsbearbeitung in seiner Position strukturell gestärkt wurde und bei mediaten wie bei immediaten Supplikationen erhebliche Einflussmöglichkeiten besaß. Dies führt zu der These, dass im Justizminister der eigentliche Entscheidungsträger in Gnadenfällen zu sehen ist. Dabei muss allerdings in Betracht gezogen werden, dass die These an dieser Stelle auf der Grundlage der Geschäftsganganalyse gründet. Ob die These gehalten werden kann, dazu muss sie im Folgenden an der Gnadenpraxis gemessen werden. 2. „Zu dieser Gnade wird empfohlen“76 – Fürsprachen aus dem Justizapparat Bei der Untersuchung der Gnadenpraxis stellt sich die zentrale Frage, wer sich von Seiten der Obrigkeit für eine Begnadigung einsetzte. Dieses Kapitel widmet sich den Bitten um Gnade, welche nicht auf Supplikationen der Untertanen, sondern auf Fürsprachen der am Supplikationsvorgang beteiligten Obrigkeit zurückgingen.77 Die hier untersuchten Akten beinhalten neben den Suppliken der Untertanen auch 28 Fürsprachen78 obrigkeitlicher Provenienz wie dem Justizdepartement, den ermittelnden und urteilenden Gerichten verschiedener Instanzen und 76 Verkürzt zit. aus: Rechtsgutachten o. D. [ca. 9. Februar 1789] / Fallakte Ilse Catharina Schulze; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235 [zur ausführlichen Zitierung s. C.I.2.c)]. 77 Das Phänomen ist auch in anderen Herrschaften bekannt: Sowohl in Konstanz und in anderen Städten des Spätmittelalters als auch in frühneuzeitlichen Herrschaften, wie z. B. in Kurmainz und im Erzherzogtum Österreich unter der Enns im 18. Jahrhundert, legten Amtspersonen, die in das Strafrechts- und in das Gnadenverfahren eingebunden waren, Gnadenempfehlungen aus eigener Initiative vor, teilweise auch vor der Urteilsfindung – vgl. Schuster 2000, S. 297 f.; vgl. Härter 2005, S. 252; vgl. Griesebner (Frühneuzeit-Info) 2000, S. 14, 18. 78 Darunter sind zwei Fälle, bei denen nur vermutet wird, dass die Begnadigungen auf obrigkeitliche Fürsprachen zurückgehen, weil wesentliche Dokumente in den Akten fehlen – vgl. Anna Dorothea Devouschack; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180; vgl. Elisabeth Sophie Franck; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235.
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den Strafvollzugsanstalten. Die Analyse beschränkt sich dabei nicht nur auf die Fürsprachen, sondern umfasst auch die Frage, wie von Seiten der obrigkeitlichen Akteure mit solchen Plädoyers umgegangen wurde und zu welchem Ergebnis sie führten. Die Fürsprachen verteilen sich auf fünf der insgesamt zehn Deliktgruppen und betreffen meist schwerwiegende Vergehen, die mit entsprechend harter Strafe geahndet wurden, oder Fälle mit besonderen Umständen. Es entfallen 17 Fürsprachen auf die Deliktgruppe Homicidia, fünf Fürsprachen auf Raub und Betrug sowie je zwei Fürsprachen auf Brandstiftung, Adulteria und Diebstahl.79 Gemeinsam ist den Fällen, dass langjährige Leibes- bzw. Freiheitsstrafen – mitunter auch die Todesstrafe – verhängt wurden, obgleich mildernde Umstände vorlagen, die jedoch bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt werden konnten. Waren die gesetzlich vorgesehenen Strafen nach Meinung der Richter und Justizminister in einigen Fällen angesichts besonderer Umstände zu hart, so mussten diese auf die Fürsprache als Mittel zur Strafminderung zurückgreifen. Ein anderer Weg war nicht möglich, denn Kennzeichen des Justizwesens Ende des 18. Jahrhunderts war, dass die in den Gesetzen vorgegebenen Strafen kaum einen richterlichen Ermessensspielraum für das Strafmaß zuließen. Der Gesetzgeber hatte bewusst darauf verzichtet, mildernde Umstände im Strafrechtsteil des ALR aufzunehmen, da man befürchtete, dass damit ein Strafgesetzbuch an abschreckender Wirkung bei den Untertanen verlieren könnte.80 Hinzu kam, dass mildernde Umstände bei der im 18. Jahrhundert geforderten engen logisch-systematischen Auslegung der Gesetze vom Gericht in der Regel kaum berücksichtigt werden durften. Man gestand den Gerichten auch deshalb kaum einen nennenswerten Spielraum zum Abwägen der Strafe zu, da dies dem damaligen Gerechtigkeitsverständnis zuwiderlief: Gerechtigkeit versprach man sich von der buchstabengetreuen Anwendung von Gesetzen; maßte sich das Gericht hingegen die Kompetenz an, Gesetze dem Einzelfall entsprechend auszulegen, so wurde dies als Willkür gewertet.81 Diese Erfahrung mussten zum Beispiel die Richter des Ober-Appellationssenats machen, als diese in einem Fall von Hehlerei die in erster Instanz gefällte Strafe in der Appellation auf ein Viertel minderten und dies damit begründeten, dass die Gesetze in Bezug auf Hehlerei „ihre Strenge verloren haben“.82 Weil sich das 79 Die Akten der Deliktgruppen wie beispielsweise Schlägerei und Injuria weisen hingegen keine Fürsprachen auf. Da die Strafen in diesen Fällen nicht so hart ausfielen, war eine Strafmilderung aus der Sicht des Justizapparates vermutlich nicht notwendig. 80 Beispielsweise vertrat Carl Gottlieb Svarez diese Haltung und sorgte mit seinem Einfluss dafür, dass das ALR kaum mildernde Umstände auswies – vgl. Schwennicke 1995, S. 88. 81 Auf die stark beschränkte Auslegungskompetenz der Richter weist z. B. der Rechtshistoriker Hans Hattenhauer hin, der dies als ein Indiz des Ende des 18. Jahrhunderts praktizierten Gesetzesabsolutismus interpretiert – vgl. Hans Hattenhauer, Preußens Richter und das Gesetz (1786 – 1814); in: ders. / Götz Landwehr (Hg.), Das nachfriderizianische Preußen 1786 – 1806, Rechtshistorisches Kolloquium vom 11. – 13. Juni 1987 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Heidelberg 1988, S. 37 – 65, hier S. 42, 49 f., 65.
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Gericht an der Rechtspraxis und nicht am Gesetzeswortlaut orientierte, maßte sich das Gericht aus der Sicht der Rechtsaufsicht eine Auslegungskompetenz an, die ihm nicht zustand. Der Justizminister reagierte darauf prompt und drückte seine „Mißbilligung“ gegenüber der Kompetenzüberschreitung aus: „( . . . ) weil keinem Richter gestattet werden kann, von einem einmal vorhandenen gehörig publicirten Landes-Gesetze eigenmächtig abzugehen ( . . . ).“83
Das Interessante an dem Fall ist, dass der Justizminister in der Sache mit den Richtern offenbar einer Meinung war, denn er zeichnete das mildere Urteil in zweiter Instanz ab und setzte es damit in Kraft.84 Allein die Kompetenzanmaßung der Richter wollte der Justizminister in seiner Funktion als Rechtsaufsicht nicht durchgehen lassen. Die Praxis der Rechtsprechung lehrt, dass es auch aus der Sicht der Richter und Justizminister Fälle gab, in denen die gesetzlich vorgesehene Strafe angesichts besonderer Umstände als zu hart angesehen wurde. Eine Milderung des Urteils konnte das Gericht aber nicht eigenmächtig vorschlagen; diese konnte nur im Wege einer Fürsprache erbeten und durch eine Begnadigung gewährt werden. Vor diesem Hintergrund müssen die Fürsprachen gelesen werden.
a) Fürsprachen der Justizminister Die Justizminister sahen es als ihre Aufgabe an, Fälle, in denen die Gerichte nach Gesetzeslage keine andere Möglichkeit hatten, als auf Todesstrafe zu erkennen, auf eine mögliche Begnadigung zu prüfen und gegebenenfalls die Initiative für eine Fürsprache zu übernehmen. So handelte es sich bei den Fällen, in denen der jeweilige Justizminister im Alleingang oder in Abstimmung mit dem Justizdepartement bzw. dem Geheimen Rat eine Fürsprache lancierte, ausschließlich um Kapitalverbrechen, auf die in der Regel die Todesstrafe stand (insg. drei Für82 Das Problem bestand nach Meinung des Ober-Appellationssenats darin, dass im ALR an dem Grundsatz festgehalten wurde, Hehlerei wie Diebstahl zu behandeln, obwohl Hehlerei in der Rechtspraxis seit geraumer Zeit milder beurteilt wurde, so die Richter. Daher sah es der Senat als gerechtfertigt an, anstelle der nach dem Gesetz vorgesehenen einjährigen eine dreimonatige Zuchthausstrafe zu verhängen. – Zit. aus: Bericht des Ober-Appellationssenats vom 28. Januar 1795; vgl. Antrag auf Annahme-Order in erster Instanz vom 19. Mai 1794; Antrag auf Annahme-Order in zweiter Instanz vom 14. November 1794 / Fallakte Johann George Baegel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.061. 83 Weisung an den Ober-Appellationssenat vom 16. Februar 1795 / Fallakte Johann George Baegel; in: ebd. In der Sache war der Justizminister mit den Richtern offenbar einer Meinung: Denn er zeichnete das gemilderte Urteil in zweiter Instanz ab und setzte es damit in Kraft, obwohl er nur den Wortlaut des Gesetzes und nicht die Rechtspraxis als Maßstab zur Beurteilung gelten lassen wollte – vgl. Annahme-Order in zweiter Instanz vom 8. Dezember 1794 / Fallakte Johann George Baegel; in: ebd. 84 Vgl. Annahme-Order in zweiter Instanz vom 8. Dezember 1794 / Fallakte Johann George Baegel; in: ebd.
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sprachen in drei Gnadenfällen). So erging beispielsweise folgendes Urteil im Fall Dorothea Christiane Otto: Sie sei, „( . . . ) wenn sie zum Sterben gehörig vorbereitet worden, ohne Begleitung eines Geistlichen zum Richtplatz zu führen, und mit dem Schwerdt vom Leben zum Tode zu bringen, ihr Körper aber demnächst zu verscharren.“85
Dorothea Christiane Otto hatte ihre Schwangerschaft und Geburt verheimlicht, und gestand, ihr Neugeborenes nach der Geburt erstickt und im Kuhstall verscharrt zu haben, „damit es sterben sollte, denn es sollte keiner davon etwas wißen“.86 Sie gab damit die Vorsätzlichkeit des Kindsmordes zu, was ihr unweigerlich die Todesstrafe einbrachte. Als Friedrich Wilhelm II. das „confirmations Rescript“ zur Unterschrift vorgelegt wurde,87 nahm dies Justizminister v. d. Reck zum Anlass, Otto aus folgenden Gründen für eine Begnadigung vorzuschlagen: „Nach aller Strenge des Gesetzes hat sie [Dorothea Christiane Otto] zwar diese Strafe verdient; – Sie war aber zur Zeit des Verbrechens nur 4 Monate älter als 18 jahr, – sie ist[,] wie Richter und Aerzte bezeugen[,] sehr schwachen Verstandes, also weniger fähig gewesen, ihre Handlungen nach richtigen Gründen zu bestimmen. – Furcht vor Schande, verbunden mit der Angst für einen brutalen Vater[,] dem Canonier Otto, der ihr auch würcklich, als sie arretirt ward, zuerst mit dem Seitengewehr und nachher mit dem Meßer zu Leibe wollte, waren die Bewegungsgründe ihrer sträflichen That, die dennoch nicht zur Vollendung gekommen seyn würde, wenn eine zu sorglose Mutter sie unter gesetzlicher Aufsicht gehalten hätte. – Ich stelle diesemnach allerunterthänigst anheim, ob Euer Königliche Majestät Gnade für Recht ergehen und die Inquisitin statt der Todesstrafe mit lebenswieriger Festungs-Strafe und Staupenschlag belegen zu laßen, geruhen wollen.“88
Zunächst stellt v. d. Reck die Rechtmäßigkeit des Todesurteils in Ottos Fall fest. Damit erteilt er der Möglichkeit, in zweiter Instanz eventuell ein milderes Urteil zu erhalten, theoretisch eine Absage, so dass eine Milderung der Strafe im Grunde nur im Wege einer Begnadigung erzielt werden konnte. Bevor der Justizminister dem Monarchen seinen Vorschlag auf Begnadigung zu lebenslanger Haftstrafe mit Züchtigung unterbreitet, verweist er auf mildernde Umstände, die Otto gnadenwürdig erscheinen lassen sollen. Zum ersten führt er ihr jugendliches Alter an, welches ein gewisses Maß an leichtfertigem Handeln entschuldigen sollte. Doch weitaus mehr Nachsicht verlangt nach Auffassung des Ministers der Umstand, dass Dorothea Christiane Otto angeblich derart schwachen Verstandes sei, so dass er ihr reflektiertes Handeln rundweg absprach.89 Als Motiv ihrer Tat gab Otto außerdem 85 Antrag auf Urteilsbestätigung, nebst Rechtsgutachten vom 12. April 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 40, 41 – 46. 86 Zit. aus: Ottos Geständnis; zit. in: Rechtsgutachten o. D. [ca. 12. April 1787] / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 44. 87 Im Konzept der Annahme-Order ist noch von der Todesstrafe die Rede; es enthält darüber hinaus auch einen Verweis auf den Begnadigungsvorschlag des Justizministers – vgl. Konzept der Annahme-Order vom 9. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 48. 88 Fürsprache des Justizministers, nebst Auszug aus der Urteilsbegründung vom 9. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 49 (s. Anlage Nr. 2).
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Furcht vor Schande an. Dabei handelte es sich um einen gesellschaftlich anerkannten Beweggrund für Kindsmord, der die Kindstötung als Verzweiflungstat von jungen, ledigen Frauen nachsichtiger bewertete, wenngleich nicht entschuldigte. Die (Selbst-)Zuschreibung eines solchen Motivs macht aus der – eventuell durchaus rational geplanten – eine emotional motivierte Handlung. Vor diesem Hintergrund wird die Vorsätzlichkeit der Tat erheblich relativiert. Abschließend verteilte v. d. Reck die Schuld am Kindsmord auf mehrere Schultern: Eine nicht unerhebliche Schuld trug die Mutter Otto, die auch wegen Beihilfe zu fünf Jahren Zuchthausarbeit verurteilt worden war.90 Eine weniger rechtlich definierbare, aber doch moralische Schuld kam nach Ansicht v. d. Recks auch dem Vater Otto zu, der mit seiner brutalen Reaktion auf die Schwangerschaft seiner Tochter die Furcht vor Schande maßgeblich verstärkt habe. Der Justizminister entwirft hier das Bild von einer Frau, die nicht nur von Natur aus irrational und emotional gesteuert, sondern zudem von der Situation und der Reaktion ihrer Angehörigen völlig überfordert war – ein Opfer ihrer Natur und der sozialen Umwelt. Die Ausführungen des Justizministers machen deutlich, dass die Autorität seines Amtes nicht ausreichte, jemanden formlos für eine Begnadigung vorzuschlagen; ein solches Plädoyer musste wohl begründet sein. Friedrich Wilhelm II. ließ sich denn auch von v. d. Recks Argumentation überzeugen und erließ zwei Tage darauf das Gnadendekret per Kabinettsorder: „Angezeigten Umständen nach pflichte ich Euren hierneben wieder zurück erhaltenen Anträgen völlig bey. Gnade für Recht soll der Kindsmörderin Otto wiederfahren; ihr das leben zwar geschenckt, sie aber mit Staupenschlag und Lebenswieriger Vestungs-Strafe belegd werden.“91
Die Wortwahl der Kabinettsorder dokumentiert, dass Friedrich Wilhelm nicht willens war, eine Begnadigung aus einer Laune heraus zu gewähren, vielmehr wollte er mit Argumenten überzeugt werden, dass diese Person der Gnade würdig sei. Entsprechend war die Annahme-Order an das Gouvernement Spandau formuliert: Ausdrücklich wurde darin auf die mildernden Umstände, die zu Ottos Begnadigung führten, hingewiesen.92 Auch einer nachgeordneten Behörde wie dem Gou89 Wenngleich die Tatsache, dass Otto die Kindsleiche gleich nach der Geburt im Kuhstall verbarg, sehr wohl ein gewisses Maß an Reflektion ihres Handelns belegt. 90 Vgl. Antrag auf Urteilsbestätigung, nebst Rechtsgutachten vom 12. April 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 40, 41 – 46. 91 Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 11. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 51 (s. Anlage Nr. 3). In Unkenntnis der Regelungen im Strafvollzug spricht Friedrich Wilhelm hier davon, dass Otto der Festung übergeben werden sollte, tatsächlich wird Otto aber dem Zuchthaus überstellt, welches die zuständige Strafanstalt für weibliche Delinquenten war. 92 Vgl. Annahme-Order vom 12. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 54. Allerdings sollte Otto nicht ihr gesamtes Leben im Zuchthaus zubringen müssen, denn rund elf Jahre später wird sie von Friedrich Wilhelm III. begnadigt und freigelassen – vgl. Gnadendekret in Form eines Marginaldekrets auf Supplik des Friedrich Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 60 (s. Anlage Nr. 8).
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
vernement Spandau gegenüber wollte man die Beweggründe für einen Gnadenakt darlegen. Dies belegt wiederum, dass Begnadigungen Ende des 18. Jahrhunderts weder zufällig noch willkürlich gewährt wurden, vielmehr sollte sich die Entscheidung an rechtlichen oder moralischen Begründungen orientieren.93 Weitaus schwieriger war es, im Fall des Straßenräubers Christian August Helckwitz gnadenwürdige Umstände zu finden: Der Seidenwirkergeselle überfiel einen jüdischen Händler auf dem Weg von Berlin nach Potsdam und nahm ihm unter Androhung, ihn mit einem Messer zu erstechen, das Bargeld ab. Das Urteil in erster Instanz sah für Helckwitz den Tod durch das Schwert vor, sein toter Leib sollte sodann auf ein Rad geflochten werden.94 Der Ober-Appellationssenat revidierte das Urteil in der zweiten Instanz: Helckwitz sollte lediglich mit einer zehnjährigen Festungsstrafe einschließlich Staupenschlag bestraft werden. Die Richter begründeten diesen erstaunlich milden Urteilsvorschlag damit, dass Helckwitz dem Händler Gewalt nur angedroht, ihn aber nicht verletzt habe.95 Man kann lediglich spekulieren, ob eine antijüdische Haltung seitens der Richter des Ober-Appellationssenats bei der Bewertung von Helckwitz’ Überfall auf den Händler jüdischer Abstammung eine Rolle gespielt haben könnte. Justizminister v. d. Reck befand die zehnjährige Festungsstrafe eindeutig als zu milde. In seinem Immediatbericht hielt er fest, dass die von der Kriminaldeputation vorgesehene Todesstrafe seiner Meinung nach angemessen sei; andernfalls könne der Monarch auch Gnade walten lassen und Helckwitz das Leben schenken und ihn mit lebenslanger Festungsarbeit und Staupenschlag belegen.96 Doch Friedrich Wilhelm II. präsentierte sich als hart durchgreifender Richter und verurteilte Helckwitz zum Tode: So „will Ich ( . . . ) der Meynung des Justitz-Minister beypflichten, und nach solcher, die strafe des Schwerdts, für den Straßen-Räuber Helckwitz hiermit bestätigen.“97
Dies sollte jedoch nicht sein letztes Wort in Helckwitz’ Fall sein. Denn beim Todesurteil wollte es der Alt-Großkanzler v. Carmer nicht belassen und setzte dem Monarchen seine Meinung zum Fall Helckwitz auseinander. Die Folge davon war, 93 Auch Ottos Fall wurde 1797 im Rahmen der Revision aller Fälle in Sachen Kindsmord und Verheimlichung von Schwangerschaft und Geburt geprüft [s. u. Kriminaldeputation]. Die Kriminaldeputation befand jedoch, dass ihre lebenslängliche Zuchthausstrafe angesichts der Vorsätzlichkeit des von ihr begangenen Kindsmordes beibehalten werden sollte; zur Begnadigung wurde sie folglich nicht vorgeschlagen – vgl. Prüfung des Falls von Dorothea Christiane Otto / Revision (intus: Devouschack); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 90 – 92. 94 Vgl. Rechtsgutachten; Antrag auf Annahme-Order in erster Instanz vom 1. Oktober 1789 / Fallakte Christian August Helckwitz; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 95 Vgl. Antrag auf Annahme-Order in zweiter Instanz vom 19. November 1789 / Fallakte Christian August Helckwitz; in: ebd. 96 Vgl. Immediatbericht vom 27. November 1789 / Fallakte Christian August Helckwitz; in: ebd. 97 Kabinettsorder vom 29. November 1789 / Fallakte Christian August Helckwitz; in: ebd.
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dass zwei Tage später Friedrich Wilhelm das Todesurteil aufhob und Helckwitz begnadigte. In der diesbezüglichen Kabinettsorder wies er v. d. Reck an, dem „Straaßen Räuber Helckwitz ( . . . ) für diesesmahl das Leben zu schenken“, Helckwitz solle stattdessen zu „Staupenschlag und lebenswieriger Vestungs-Arbeit“ belegt werden; v. Carmer sollte v. d. Reck „die Gründe näher anzeigen“, welche den Monarchen zur Begnadigung veranlasst hätten [s. C.II.2.a)].98 Im Übrigen ist dies der einzige Fall, in dem sich ein weiterer Justizminister neben dem für die Kurmark Zuständigen in einen Gnadenfall eingeschaltet hatte. Allerdings hat v. Carmer nicht das Votum von v. d. Reck in Frage gestellt, sondern lediglich dessen Alternativvorschlag für einen lebenslangen Festungsarrest Geltung verschafft, um die Vollstreckung eines Todesurteils zu verhindern. Bei Begnadigungen rechnete man mit dem Dank der betroffenen Person, nicht aber mit Helckwitz’ Reaktion auf die Aussicht, dass ihm das Leben geschenkt werden sollte: In einer den Stadtgerichten mündlich vorgetragenen Bitte bat der Verurteilte darum, ihn nicht zu verschonen, sondern an ihm die Todesstrafe zu vollziehen.99 Sein vordringlicher Wunsch sei es allerdings, von ehrenrührigen Strafen wie dem Staupenschlag und das Radflechten befreit zu werden, „um das SchandMal von seiner Familie abzuwenden“.100 Möglich ist, dass Helckwitz hoch spekulierte, dass ihm auf diese Weise nicht nur die Todesstrafe, sondern auch der Staupenschlag erspart bliebe. Der Justizminister riet dem Monarchen, diesem Wunsch nicht zu entsprechen, sondern auf der einmal gewährten Begnadigung zu beharren.101 Friedrich Wilhelm pflichtete v. d. Reck bei: „Ihr habt vollkommen Recht. Der Straßen Räuber Helckwitz kan über sein Leben nicht disponiren. Er ist, an dem seiner Familie, aus seinem Verbrechen, erwachsenden SchandFleck, Selbst Schuld.“102
Helckwitz wurde die Todesstrafe nicht bewilligt. Man merkt dem königlichen Schreiben die Irritation an, die die Zurückweisung der Begnadigung bei Friedrich Wilhelm auslöste. Es scheint, als müsse er sich seiner Rolle als Gnadenträger und oberster Richter nochmals vergewissern. Er gelangte daraufhin zu der Einstellung, dass die Entscheidung über Leben und Tod von Untertanen, die ein todeswürdiges Vergehen begangen hatten, ausschließlich in seinen Händen lag. Was sich bereits im Fall Helckwitz andeutete, zeigt sich im Fall Johanna Susanne Ibischin noch deutlicher: So initiierte v. Goldbeck, der v. d. Reck nachfolgende 98 Zit. aus: Kabinettsorder vom 1. Dezember 1789 / Fallakte Christian August Helckwitz; in: ebd. 99 Vgl. mündlich vorgetragene Supplik des Helckwitz in eigener Sache vom 12. Dezember 1789 / Fallakte Christian August Helckwitz; in: ebd. 100 Zit. aus: Immediatbericht vom 18. Dezember 1789 und vgl. mündlich vorgetragene Supplik des Helckwitz in eigener Sache vom 12. Dezember 1789 / Fallakte Christian August Helckwitz; in: ebd. 101 Vgl. Immediatbericht vom 18. Dezember 1789 / Fallakte Christian August Helckwitz; in: ebd. 102 Kabinettsorder vom 20. Dezember 1789 / Fallakte Christian August Helckwitz; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Justizminister, für die zum Tode verurteilte Ibischin eine Fürsprache. Die Dienstmagd erstattete Selbstanzeige und gestand, das 11/2-jährige Kind der benachbarten Tagelöhnerin Piesel angeblich aus dem „Ueberdruß des Leben“ getötet zu haben.103 Ibischin musste zuvor erleben, wie ihre Zukunftsplanung zunichte gemacht wurde: Der mit ihr liierte Soldat Tyche verließ sie, die dreißigjährige ledige Mutter von drei außerehelichen Kindern, nachdem er ihr zuvor die Ehe versprochen hatte. Aus „Zorn und Rache“ wollte sie erst Tyche umbringen, als sich dazu allerdings keine Gelegenheit fand, schnitt sie – quasi als Ersatzhandlung – dem schlafenden Kind mit einem Messer die Kehle durch.104 Unklar bleibt indes, was sie dazu bewogen hat. Vielleicht stand das Kind bzw. dessen Mutter, die Tagelöhnerin Piesel, in einer Beziehung zu Tyche. Johanna Susanne Ibischin wurde in erster Instanz zum Tode verurteilt, ein Urteil, von dem auch der Ober-Appellationssenat in zweiter Instanz nicht abging: „( . . . ) dass die Inquisitin mit dem Schwerdt zum Tode zu bringen, ihr Körper hiernächst aufs Rad zu flechten und der Kopf auf einen Pfahl zu befestigen.“105
Im Vorfeld der königlichen Urteilsbestätigung wurde der Fall im Geheimen Rat besprochen: Auf das Plädoyer des Justizministers hin sollte der Monarch um Begnadigung in eine lebenslange Zuchthausstrafe mit Peitschenschlägen am Jahrestag des Mordes gebeten werden – „Ita conclusum in Consilio Status eodem“, so der Vermerk über die protokollierte Entscheidung der Geheimen Räte im Rat.106 Diese kollegial getroffene Entscheidung setzte Justizminister v. Goldbeck zwei Tage später in eine Fürsprache an Friedrich Wilhelm II. um: Darin schilderte er das Vergehen von Johanna Susanne Ibischin und den Ausgang des Prozesses, um sodann für eine Milderung der gerichtlich erkannten Todesstrafe in eine lebenslange Zuchthausstrafe nebst Züchtigung zu plädieren. V. Goldbeck begründete seine Fürsprache damit, dass es sich um eine Verzweiflungstat handelte; mit anderen Worten: er hielt Ibischin zugute, dass sie kein überzeugendes Motiv für die Tötung des Kindes vorweisen konnte [Näheres zur Begründung s. C.II.2.b)]. Um etwaige Zweifel des Monarchen an dieser eigenwillig begründeten Begnadigung zu zerstreuen, fügte v. Goldbeck hinzu, dass: 103 Zit. aus: Urteil in erster Instanz o. D. [ca. 20. Juni 1791] und vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 20. Juni 1791] / Fallakte Johanna Susanne Ibischin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.177, fol. 144 und vgl. fol. 134 – 143. 104 Zit. aus: ebd. Die Aktenlage lässt im Unklaren, warum Ibischin das unschuldige Kind auswählte, um ihre Enttäuschung abzureagieren. Es kann nur vermutet werden, dass es sich um ein gemeinsames Kind der Tagelöhnerin Piesel mit dem Soldaten Tyche handelte, und Ibischin in dieser Liaison den eigentlichen Grund erblickte, warum Tyche sein Heiratsversprechen nun verleugnete – vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 20. Juni 1791] / Fallakte Johanna Susanne Ibischin; in: ebd., fol. 134 – 143. 105 Antrag auf Urteilsbestätigung des Ober-Appellationssenats vom 21. September 1791 und vgl. Antrag auf Urteilsbestätigung in erster Instanz o. D. [ca. 20. Juni 1791] / Fallakte Johanna Susanne Ibischin; in: ebd., fol. 158 und vgl. fol. 144. 106 Ergebnisprotokoll der Ratssitzung vom 3. Oktober 1791 und vgl. Ausfertigung vom 5. Oktober 1791 / Fallakte Johanna Susanne Ibischin; in: ebd., fol. 159 und vgl. fol. 160.
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„( . . . ) hirdurch [lebenslange Zuchthausstrafe nebst Züchtigung] auch die öffentliche Sicherheit weit gewißer als durch Lebensstrafe [gemeint: Todesstrafe], befördert wird ( . . . ).“107
Dieser Hinweis macht deutlich, dass neben einer rechtlichen Begründung auch die Außenwirkung einer Begnadigung bedacht werden musste. Der Justizminister sah in einer lebenslangen Haftstrafe eher als in einer Todesstrafe einen konstruktiven Betrag zur öffentlichen Sicherheit, vermutlich weil die Haft und die jährliche Züchtigung der Delinquenten der Bevölkerung dauerhaft als Mahnung dienten. Möglich ist auch, dass der Justizminister mit diesen Worten implizit davor warnte, dass die Hinrichtung einer 30-jährigen Mutter von drei Kindern möglicherweise den Protest der Untertanen gegen die Entscheidung der Obrigkeit hervorrufen konnte. Vermutlich wirkte letzterer Hinweis überzeugender als die zweifelhafte rechtliche Begründung, jedenfalls wurde die Fürsprache des Justizministers bewilligt, und Ibischin wurde das Leben – allerdings hinter Gittern – geschenkt.108 Es zeigt sich, dass alle Justizminister im Amt offenbar bestrebt waren, die Vollstreckung von Todesurteilen im Wege der Gnade zu verhindern – sogar auch dann, wenn die Begründung für eine Begnadigung nicht wirklich überzeugend war. Die Motive der ministeriellen Fürsprache sind allerdings nicht klar auszumachen: Möglich ist, dass man auf Seiten der Obrigkeit den Unmut der Bevölkerung gegen allzu häufige Hinrichtungen fürchtete bzw. Protest gegen Todesurteile bei Delinquenten und Delinquentinnen, deren Geschichte eher dazu angetan war, Mitleid mit ihnen zu haben, denn Befriedigung daraus zu ziehen, dass sie ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden. Man kann außerdem vermuten, dass es seiner Macht und seinem Ansehen im Amt zuträglich war, wenn die Frage über Leben und Tod in seinen Händen lag. So gesehen wurde mit einer Begnadigung von der Todesstrafe auf der Grundlage einer ministeriellen Fürsprache nicht nur die Herrschaft des Monarchen, sondern zugleich auch die Macht des Justizministers für alle weithin sichtbar inszeniert. b) Fürsprachen des Ober-Appellationssenats Auf den Ober-Appellationssenat, der zweiten Instanz des Kammergerichts, entfallen lediglich zwei der insgesamt 28 Fürsprachen. Die niedrige Anzahl erklärt sich durch die Funktion des Ober-Appellationssenats:109 Für eine zeit- und kosten107 Fürsprache des Justizministers vom 5. Oktober 1791 / Fallakte Johanna Susanne Ibischin; in: ebd., fol. 161. 108 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 5. Oktober 1791 / Fallakte Johanna Susanne Ibischin; in: ebd., fol. 160. 109 Der Ober-Appellationssenat des Kammergerichts bestand aus einem Chef-Präsidenten, einem Präsidenten und acht Räten. Er urteilte sowohl in Zivil- als auch in Strafrechtssachen in zweiter Instanz, nachdem sie den Instruktionssenat oder ein anderes märkisches Obergericht in erster Instanz durchlaufen hatten. Zum Aufgabengebiet des Ober-Appellationssenats vgl. Holtze 1901, S. 354 f.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
aufwändige Appellation des Prozesses entschied sich eine Partei in der Regel nur dann, wenn mildernde Umstände vorlagen, die – aus der Sicht der Betroffenen – in der ersten Instanz nicht ausreichend berücksichtigt worden waren; mit anderen Worten: nur ein Bruchteil der Strafrechtsfälle landete überhaupt vor diesem Gericht. Im Rahmen des prinzipiell beschränkten richterlichen Ermessens [s. o.] verfügte der Ober-Appellationssenat über einen vergleichsweise größeren Entscheidungsspielraum als die Gerichte der ersten Instanz. Aus diesem Grund sah sich der Senat tendenziell eher selten dazu veranlasst, eine Milderung des von ihm vorgeschlagenen Urteils zu erbitten. Im Fall von Carl Friedrich Brasch sah sich der Ober-Appellationssenat genötigt, eine Fürsprache einzulegen. Der Buchführerlehrbursche Brasch hatte seinem Lehrherrn Bücher und Kupferstiche gestohlen und verkauft; dafür sollte er in erster Instanz ein Jahr Festungsarbeit erhalten.110 Der Vater beantragte das Rechtsmittel der weiteren Verteidigung, in der Hoffnung die Strafe für seinen Sohn könne in der zweiten Instanz milder ausfallen.111 Der Ober-Appellationssenat legte dem Urteilsvorschlag in zweiter Instanz anstelle der üblichen Begründung eine Fürsprache bei:112 Das Gericht schlug Carl Friedrich Brasch für eine Begnadigung vor, da es juristisch keine mildere Strafe als die in erster Instanz erkannte einjährige Festungsarbeit vertreten konnte. Das Gericht gab zu Bedenken, dass in Braschs Fall ein entscheidender mildernder Umstand vorlag, dessen Berücksichtigung aber formal nicht zulässig war: Der 19-jährige Lehrbursche Brasch sei vom Gesellen Carl Daniel Maurer nachweislich zum Diebstahl verführt worden, weil jener aus dem Verkauf der Bücher und Stiche Profit schlagen wollte – daher sollte Maurer auch wegen Hehlerei zu sechs Monaten Festungsarbeit verurteilt werden. Eine Verführung wurde juristisch stets dann angenommen, wenn ein Komplize die Tat unterstützt hatte, der älter war und einen höheren sozialen Stand innehatte. Beihilfe minderte zwar nicht die strafrechtlich definierte Schuld des Hauptangeklagten, wohl aber die moralische Schuld. Der Ober-Appellationssenat hielt Carl Friedrich Brasch moralisch zugute, dass er geständig war und aufrichtige Reue zeigte: „( . . . ) sein offenherziges Geständniß bezeichnen ihn überdem als einen Jüngling, von dem man noch Hoffnung zur Besserung sich machen kann.“113
Bei der Begründung des Ober-Appellationssenats wurde die Frage nach dem Strafzweck aufgegriffen: Ende des 18. Jahrhunderts begriff man den Zweck einer Strafe vorzüglich darin, die moralische Besserung des Delinquenten zu bewirken. Dass diese von Carl Friedrich Brasch zu erwarten war, machte das Gericht am 110 Vgl. Annahme-Order vom 8. November 1790 / Fallakte Carl Friedrich Brasch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.058. 111 Vgl. Supplik des Vaters Brasch vom 11. Dezember 1790 / Fallakte Carl Friedrich Brasch; in: ebd. 112 Vgl. Fürsprache des Ober-Appellationssenats vom 23. Februar 1791 / Fallakte Carl Friedrich Brasch; in: ebd. 113 Ebd.
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Angebot des Brotherrn Arnold Wever fest, ihn trotz des Diebstahls weiterhin in die Lehre zu nehmen, allerdings unter der Bedingung, dass dieser keine Festungs- bzw. Zuchthausstrafe erhalte, denn: „( . . . ) so wird keiner keinen Handlungs-Diener annehmen wollen, welcher Diebstals halber in Spandau gesessen.“114
Die pessimistische Einschätzung des Händlers über die Aussichten eines Festungshäftlings, nach der Entlassung wieder eine Arbeit zu finden, brachte den Ober-Appellationssenat zu der Einsicht, dass sich eine Festungsstrafe nachteilig auf das künftige Leben von Carl Friedrich Brasch auswirken würde. Aus diesem Grund plädierte das Gericht für eine Begnadigung im Sinne einer Umwandlung der einjährigen Festungsarbeit in eine ebenso lange Gefängnisstrafe.115 Der Fürsprache wurde stattgegeben [s. C.II.5.a)ee)].116 Die Gnadenwürdigkeit war in diesem Fall offensichtlich den sozialen Umständen geschuldet, die hoffen ließen, dass der junge Delinquent sich die Strafe zur Warnung dienen lasse, und die Tatsache, dass ihm der Geschädigte verzieh und ihm weiterhin eine berufliche Zukunft bot. Auch im Fall des Tagelöhners Johann Gottlob Schneider schaltete sich der OberAppellationssenat ein. Schneider hatte versucht, eine ihm bekannte junge Frau auf offener Straße zu überfallen, war aber durch Passanten am Raub gehindert worden.117 Die Kriminaldeputation verurteilte ihn zu 15 Jahren Festungsarbeit, ein Strafmaß, welches der Ober-Appellationssenat in zweiter Instanz zwar bestätigte, aber für eine Begnadigung auf eine sechsjährige Strafe plädierte.118 Die Richter begründeten eine Strafmilderung zum einen damit, dass Schneider den Raub nicht ausgeführt und zum anderen angeblich keine Gewalt angewandt habe. Vor allem aber wurde Schneider zugute gehalten, dass er aus Sicht des Gerichts nicht vorsätzlich gehandelt habe, da er unter Alkoholeinfluss stand: Er sei zwar nicht „sinnloß betrunken“ gewesen, doch habe er „etwas im Kopfe gehabt“, so dass „sein Vermögen frey zu handeln eingeschränckt war“.119 Hinzu kam, dass Schneider ein guter Leumund nachgesagt wurde; auch sein Alter von nur 23 Jahren milderte die 114 Abschrift des Schreibens von Braschs Lehrherrn, Arnold Wever, vom 16. Februar 1791 als Anlage zur Fürsprache des Ober-Appellationssenats vom 23. Februar 1791 / Fallakte Carl Friedrich Brasch; in: ebd. 115 Vgl. Fürsprache des Ober-Appellationssenats vom 23. Februar 1791 / Fallakte Carl Friedrich Brasch; in: ebd. 116 Vgl. Aktenvermerk; Annahme-Order vom 28. Februar 1791 / Fallakte Carl Friedrich Brasch; in: ebd. 117 Vgl. Rechtsgutachten und Fürsprache des Ober-Appellationssenats o. D. [erste Hälfte Juni 1797] / Fallakte Johann Gottlob Schneider; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220. 118 Vgl. Antrag auf Annahme-Order in erster Instanz vom 21. Juli 1796; Rechtsgutachten und Fürsprache des Ober-Appellationssenats o. D. [erste Hälfte Juni 1797] / Fallakte Johann Gottlob Schneider; in: ebd. 119 Zit. aus: Rechtsgutachten und Fürsprache des Ober-Appellationssenats o. D. [erste Hälfte Juni 1797] / Fallakte Johann Gottlob Schneider; in: ebd.
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Schuld in den Augen der Richter. Der Ober-Appellationssenat stieß sich in diesem Fall offenkundig an den Gesetzen, die bei Raub stets von einer vorsätzlichen und gewalttätigen Tat ausgingen. Aus Sicht der Richter war aber hier ein junger Bursche mit berauschtem Kopf einer spontanen Eingebung gefolgt und hatte offenbar halbherzig versucht, einer jungen Frau Geld zu entwenden – die Richter interpretierten den Raubversuch offenbar als Dummer-Jungen-Streich, eine Kategorie, die im Gesetz nicht verankert ist. Den Justizminister v. Goldbeck überzeugten die Argumente der Richter, denn er nahm sie in seinem Immediatbericht auf und plädierte für eine milde Bestrafung des Tagelöhners.120 Aufgrund dieser Fürsprache fiel die immediate Bestätigung des Urteils tatsächlich mild aus: Johann Gottlob Schneider wurde lediglich mit einer sechsjährigen Festungsstrafe belegt, die allerdings durch eine Züchtigung verschärft werden sollte.121 Der Ober-Appellationssenat behielt sich die Fürsprache für die Fälle vor, in denen außergewöhnliche mildernde Umstände vorlagen, die in den Gesetzen nicht bedacht sind. Dies bedeutete, dass auch die oberste Appellationsinstanz nicht den nötigen richterlichen Ermessensspielraum besaß, um diese den betroffenen Personen mildernd zugute zu halten. An diesem Punkt stießen die Gesetze und die Rechtsanwendung Ende des 18. Jahrhunderts an ihre Grenzen: Um Gerechtigkeit im Einzelfall zu gewähren, blieb einzig die Gnade. Die Fürsprache von Seiten des obersten Gerichts muss daher auch als ein Zeichen dafür gelesen werden, dass die Richter damit implizit einen größeren Ermessensspielraum einforderten. c) Fürsprachen der Kriminaldeputation des Instruktionssenats Der Großteil der Strafrechtsfälle wurde durch die Kriminaldeputation des Instruktionssenats beim Kammergericht122 in erster Instanz abschließend entschieden. Der Schlüsselrolle entsprechend, die der Kriminaldeputation bei der Aburteilung von kurmärkischen Strafrechtssachen zukam, intervenierte diese häufiger als andere Stellen im Justizapparat: Mit insgesamt 17 Fürsprachen123 wiesen die RichVgl. Immediatbericht vom 17. Juni 1796 / Fallakte Johann Gottlob Schneider; in: ebd. Vgl. Annahme-Order in zweiter Instanz vom 17. Juni 1797 / Fallakte Johann Gottlob Schneider; in: ebd. 122 Der Instruktionssenat des Kammergerichts bestand aus einem Präsidenten, 14 Räten und einigen Assistenzräten. Er hatte die Aufsicht über die Untergerichte der Kurmark inne und fungierte als Appellationsinstanz für Urteile, die in erster Instanz an den Untergerichten gefasst wurden. Der Instruktionssenat führte gesondert je eine Zivildeputation und eine Kriminaldeputation. Letztere verfasste Urteile und Gutachten über Strafrechtssachen aus der Kurmark, die von den ermittelnden Gerichten vor Ort an sie überwiesen wurden – vgl. Holtze 1901, S. 353 f. und vgl. Schmidt 1968, S. 21 f. 123 In zwei Fällen von Kindsmord gingen die Begnadigungen auf Fürsprachen aus dem Justizapparat zurück, unklar bleibt jedoch, von welcher Stelle. Die beiden Fälle werden hier der Kriminaldeputation des Instruktionssenats beim Kammergericht zugeschlagen. Dahinter steht die Überlegung, dass sich die Richter im besonderen Maße für Frauen, die wegen Kindsmordes bzw. Kindsmordverdachtes verurteilt wurden, einsetzten [s. u.] – vgl. Fallakte 120 121
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ter auf Fälle hin, bei denen ihrer Ansicht nach eine mildere Strafe gerechtfertigt wäre. Insbesondere bei Todesurteilen, die in der ersten Instanz gefällt und ohne Appellation in Kraft treten sollten, baten die Richter den Justizminister, sich bei Seiner Königlichen Majestät dafür einzusetzen, den Verurteilten das Leben zu schenken. Das Gericht sah sich außerdem dafür zuständig, alte Fälle einer Revision zu unterziehen, wenn es Veränderungen in der Gesetzgebung gab. Die Prüfungen führten bisweilen zu dem Ergebnis, dass längst abgeschlossene Fälle dem Monarchen erneut vorgelegt wurden, verbunden mit dem Vorschlag der Kriminaldeputation, die Delinquenten zu begnadigen. Ein solcher Fall war zum Beispiel Ilse Catharina Schulze, geborene Ploigt, die wegen Brandstiftung die Hinrichtung zu erwarten hatte. Die 53-jährige Ehefrau des Wilsnacker Töpfers Schulze gestand, dass sie abends um zehn Uhr – nachdem sie „Brandwein getrunken, an welches Getränke sie gewöhnet sei“ – beim benachbarten Töpfer Grave aus Rache Feuer gelegt hatte. Dieser hatte zuvor ihre jüngste Tochter zu Unrecht eines Brotdiebstahls beschuldigt. Der Stall brannte ab, das Gravesche Wohnhaus wurde stark beschädigt und außerdem hatte akute Brandgefahr für die gesamte Vorstadt von Wilsnack bestanden – der Schaden der Brandstiftung belief sich auf rund 179 Reichstaler.124 Schulzes Geständnis der vorsätzlichen Brandstiftung ließ der Kriminaldeputation keinen Entscheidungsspielraum für eine Urteilsfindung: „Die Criminal-Deputation ist aus denen in dem abgefasten Erkenntniß enthaltenen Gründen der rechtlichen Meinung, daß Inquisitin mit dem Schwerdt vom Leben zum Tode zu bringen, und demnächst ihr Körper auf dem Richtplatz zu verbrennen. – Es wäre denn, daß Seine Majestaet Gnade für Recht ergehen, und statt der Todesstrafe Inquisitin mit lebenswieriger Zuchthausarbeit belegen zu lassen geruhen sollten.“125
Dass sich die Kriminaldeputation sogleich in dem von ihr verfassten Rechtsgutachten für eine Begnadigung aussprach, ist ungewöhnlich. Üblicherweise beantragte sie im Rechtsgutachten die gesetzmäßig vorgesehene Strafe und fügte diesem eine gesonderte Fürsprache mit dem Begnadigungsplädoyer bei. In Schulzes Rechtsgutachten hingegen lieferten die Richter eine weitgehende Begründung ihrer Fürsprache gleich mit: „( . . . ) zu dieser Gnade wird Inquisitin durch folgende Gründe empfohlen: 1., hat sie zuerst das Feuer bekannt gemacht, wordurch schleunige Rettungs-Anstalten getroffen und ein größerer Schaden verhütet worden; 2., hat sie selbst die verehelichte Grave und deren Kinder aus dem Schlafe gewekt, damit sie vom Feuer keinen Schaden nehmen sollten, 3., hat sie auch löschen helfen, Anna Dorothea Devouschack; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180 und vgl. Fallakte Elisabeth Franck; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235. 124 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 9. Februar 1789] / Fallakte Ilse Catharina Schulze; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235. 125 Ebd.
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4., haben die Graveschen Eheleute ihr alles vergeben, und auf die Schadens-Ersetzung Verzicht gethan, 5., hat Inquisitin eine große Reue bezeigt, die ernstlich zu sein scheint, und Besserung versprochen.“126
Es war wiederum die Reue und damit verbunden die Hoffnung auf Besserung, welche die Richter zu einer milderen als der vom Gesetz vorgesehenen Strafe tendieren ließen. Die Kriminaldeputation ließ sich von Ilse Catharina Schulzes Reaktion auf die Brandlegung überzeugen: Nach der Brandlegung hatte sie sogleich Alarm geschlagen, die Nachbarn geweckt, ihnen damit wahrscheinlich das Leben gerettet, und sich am Löschen des Feuers beteiligt. Hinzu kam ein zweiter Umstand, der Ilse Catharina Schulze als gnadenwürdig auswies: Die geschädigte Nachbarsfamilie hatte ihr vergeben und trotz der Zerstörung von Stall und Wohnhaus auf Schadensersatz verzichtet. Was sich hingegen nicht mildernd auf die Strafe auswirkte, war ihr hoher Alkoholkonsum, auf den im Rechtsgutachten hingewiesen wurde. Hätte es sich um einen männlichen Brandstifter gehandelt, so wäre ihm die Schuldfähigkeit an der Tat vermutlich aufgrund der durch übermäßigen Alkoholgenuss bedingten „Raserei“ gemindert worden127 – ein solches die Schuld minderndes Argument galt offenbar nicht für Frauen. Der Antrag der Kriminaldeputation, die Brandstifterin Ilse Catharina Schulze von der Todesstrafe zu verschonen, überzeugte den Justizminister v. d. Reck. In seinem Immediatbericht legte er Friedrich Wilhelm II. die Umwandlung in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe nahe.128 Das Begnadigungsdekret fiel erwartungsgemäß positiv aus: „Ich [Friedrich Wilhelm II.] will solcher, ihrem Antrag gemäß[,] das Leben schencken, um sie mit Lebenswieriger Zuchthaus strafe belegt wißen.“129
Der Fall Ilse Catharina Schulze ist ein Beleg dafür, dass Friedrich Wilhelm II. nur selten eine Todesstrafe vollstrecken ließ [s. C.II.2.c)].130 Ebd. In mehreren Suppliken wird auf die geminderte Schuldfähigkeit der Delinquenten durch Alkoholgenuss als mildernder Umstand explizit hingewiesen – vgl. mündlich vorgetragene Supplik des Freudenberg in eigener Sache vom 5. Juni 1797; Supplik der Ehefrau Freudenberg vom 20. Juli 1788 / Fallakte Gottfried Freudenberg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 407 – 409, 395; vgl. Supplik der Ehefrau Wolff vom 9. Februar 1788 / Fallakte Johann Adam Wolff; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985; vgl. Supplik der Mutter Schneider vom 30. Dezember 1790 / Fallakte Martin Schneider; GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985. Dies war nicht allein die Auffassung der Supplizierenden, sondern auch die der Obrigkeit, wie zwei Fälle, in denen Gerichte den Alkoholgenuss bei männlichen Delinquenten als mildernden Umstand auffassten, belegen – vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. Anfang bis Mitte Juni 1797] / Fallakte Johann Gottlob Schneider; in: ebd.; vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 2. Juni 1788] / Fallakte Christian Friederich Neumann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985. 128 Vgl. Immediatbericht des Justizministers vom 7. März 1789 / Fallakte Ilse Catharina Schulze; in: ebd. 129 Kabinettsorder vom 9. März 1789 / Fallakte Ilse Catharina Schulze; in: ebd. 126 127
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Die bisher zitierten Fälle erwecken den Anschein, als ob das Justizdepartement bzw. der Monarch dem Anliegen der Gerichte stets folgte. Während dies bei Todesstrafen in der Regel geschah, lag die Sache bei geringeren Strafen anders: Zum Beispiel plädierte die Kriminaldeputation im Fall der wegen Brandstiftung zu lebenslangem Zuchthaus verurteilten Maria Elisabeth Heinicke, geborene Krüger, für eine Begrenzung der Haftstrafe. Die 26-jährige Maria Elisabeth Heinicke hatte – angeblich aus Verzweiflung und Rache gegenüber ihrem gewalttätigen Ehemann und der ihr feindlich gesonnenen Schwiegermutter – das Haus ihres Mannes in Brand gesteckt. Die Folgen: Das Heinicksche Wohnhaus, fünf Bündnerhäuser, das Hirtenhaus sowie die Gebäude des Unterförsters erlitten Schaden, der sich auf insgesamt rund 3.000 Reichstaler belief.131 Die Kriminaldeputation entschied nach Rechtlage auf eine lebenslange Zuchthausstrafe, fragte aber an: „( . . . ) ob des Königs Majestät Gnade für Recht ergehen, und die gesezliche Strafe in eine zehnjährige Zuchthaus-Strafe allergnädigst zu verwandeln geruhen wollen.“132
Denn das Gericht befand Maria Elisabeth Heinicke aufgrund der von ihr geschilderten familiären Umstände für hinreichend gnadenwürdig: „Weil sie [Maria Elisabeth Heinicke] jedoch durch die unverdiente thätliche Behandlung ihres Ehemanns und die gefährliche[n] Drohungen ihrer Schwiegermutter, die eine[n] um so stärkeren Eindruck auf die Inquisitin machen musten, indem sie sich hoch schwanger befand, in eine Art von Verzweiflung und Unbesonnenheit gesezt worden ( . . . ).“133
Als mildernder Umstand anerkannt wurde die Verzweiflung, für die Heinickes Ehemann und Schwiegermutter explizit verantwortlich gemacht wurden. Nach Meinung des Gerichts war Heinickes Gemütslage aber auch beeinflusst durch ihre Schwangerschaft: In dieser erblickte das Gericht einen weiteren Grund für ihre Unbesonnenheit. Schwangere konnten bei der Bewertung ihres Handelns offensichtlich auf Nachsicht hoffen, weil sich das Gericht ihre Handlungen primär durch Emotion und weniger durch Verstand bestimmt erklärte. So ist anzunehmen, dass diese Interpretation nicht allein auf das Gericht zurückging, sondern dass Maria 130 Vergleichbare Fälle sind die von Johann Friedrich Liebke und Johann Friedrich Grosch: Auch ihnen schenkte Friedrich Wilhelm II. auf Fürsprache der Kriminaldeputation hin das Leben und belegte sie stattdessen mit Festungsarrest [s. C.II.2.b) und c)] – vgl. Fürsprache der Kriminaldeputation o. D. [kurz nach Regierungsantritt von Friedrich Wilhelm II. im September 1786]; Gnadendekret in Form eines Marginaldekrets auf dem Immediatbericht des Justizministers vom 25. September 1786 / Fallakte Johann Friedrich Liebke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 498, 499; vgl. Fürsprache der Kriminaldeputation vom 11. September 1786; Gnadendekret in Form eines immediaten Marginaldekrets auf dem Immediatbericht des Justizministers vom 14. Oktober 1786 / Fallakte Johann Friedrich Grosch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 222, 214. 131 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 24. November 1794] / Fallakte Maria Elisabeth Heinicke, geb. Krüger; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.236. 132 Fürsprache in Form eines Rechtsgutachtens o. D. [ca. 24. November 1794] / Fallakte Maria Elisabeth Heinicke, geb. Krüger; in: ebd. 133 Ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Elisabeth Heinicke um die Bewertung einer Schwangerschaft vor Gericht wusste und sich im Verhör entsprechend darauf bezog. Die Fürsprache der Kriminaldeputation wurde vom Justizminister geprüft und gelangte an den Geheimen Rat. Das Votum der Räte fiel in diesem Fall negativ aus – vermutlich weil der Schaden des Brandes sehr hoch lag. Die Haltung der Richter, die sozialen Umstände, die zu dieser Tat führten, zu berücksichtigen, lag der Rechtsaufsicht offenbar fern, da sie gesetzlich nicht als mildernd vorgesehen waren. Die Annahme-Order für Maria Elisabeth Heinicke an das Zuchthaus Spandau lautete entsprechend auf „lebenswierige Zuchthaus-Arbeit“.134 Da die Bestätigung von Haftstrafen weitestgehend an das Justizdepartement respektive an den Geheimen Rat delegiert worden war, das Gremium in Heinickes Fall der Meinung war, dass die gerichtlich erkannte Strafe vollzogen werden sollte, sah man keine Veranlassung, die Fürsprache der Kriminaldeputation dem Monarchen vorzutragen. Nur im Fall, dass kollegial eine mildere Strafe als das gerichtlich erkannte Urteil vorgeschlagen worden wäre, hätte man den Monarchen konsultieren müssen. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Mitglieder der Kriminaldeputation einen richterlichen Ermessensspielraum bei der Urteilsfindung vermissten, um Gerechtigkeit im Einzelfall gewährleisten zu können; die Fürsprache bildete die einzige Möglichkeit, diesen zumindest im jeweiligen Fall einzufordern. Die Kriminaldeputation fühlte sich auch für bereits abgeurteilte Fälle zuständig. So stellte das Gericht den Antrag, alle vorherigen vergleichbaren Fälle einer Revision unterziehen zu dürfen, als mit einer Begnadigung für eine zu lebenslanger Haft verurteilten Kindsmörderin ein Präzedenzfall geschaffen war: Die Gnade wurde damit gerechtfertigt, dass das Strafmaß auf Kindsmordverdacht sowie auf Verheimlichung von Schwangerschaft und Geburt im ALR milder ausfiel.135 Bei der Revision alter vergleichbarer Fälle beabsichtigte das Gericht, die verurteilten Frauen, denen kein Vorsatz für ihre Tat nachzuweisen war, für eine – gemessen am damaligen Urteil – vorzeitige Entlassung aus dem Zuchthaus vorzuschlagen, vorausgesetzt, sie hatten die vom ALR vorgesehene Strafdauer von 10 bis 15 Jahren bereits abgesessen.136 Der Justizminister befürwortete das Vorgehen.137 Dem daraufhin erstellten Bericht ist zu entnehmen, dass in der Kurmark 1796 / 1797 ins134 Zit. aus: Annahme-Order vom 22. Dezember 1794 / Fallakte Maria Elisabeth Heinicke, geb. Krüger; in: ebd. 135 Bei der Begnadigten handelte es sich um Anna Dorothea Devouschack – vgl. Fallakte Anna Dorothea Devouschack (intus: Revision); in: ebd. [s. C.II.3.]. Zur Todesstrafe auf Kindsmord und Verheimlichung von Schwangerschaft und Geburt als Indiz für Kindsmord und zu mildernden Umstände für ledige, geschiedene und verwitwete Frauen vgl. §§ 887, 982, 969 ALR II 20. Zum zeitgenössischen Verständnis von Kindsmord s. C.II.3a). 136 Vgl. Antrag der Kriminaldeputation im Rahmen des Gutachtens vom 20. Oktober 1796 / Fallakte Anna Dorothea Devouschack (intus: Revision); in: ebd., fol. 28 – 44, hier bes. 39 – 42. 137 Vgl. Weisung an die Kriminaldeputation vom 31. Oktober 1796 / Revision (intus: Devouschack); in: ebd., fol. 49.
I. Supplikationen und Fürsprachen
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gesamt 19 verurteilte Frauen aufgrund dieser Delikte im Zuchthaus einsaßen. In sechs Fällen sah die Kriminaldeputation keinen Handlungsbedarf, da die dort verhängte Strafdauer den Grundsätzen des ALR entsprach.138 In 13 Fällen trug sie jedoch auf Begnadigung im Sinne einer Strafverkürzung an. Die Kriminaldeputation sicherte sich für die Fürsprachen zugunsten der 13 verurteilten Frauen die Unterstützung der Zuchthausadministration: „Sämmlichen vorgedachten Züchtlinginnen [sic] können wir das wohl verdiente Zeugniß geben, daß sie sich jederzeit ruhig und ordentlich im Zuchthause aufgeführet, und ihre Arbeit fleißig verrichtet ( . . . ), weshalb wir wohl wünschen, daß den zu lebenswieriger Strafe verurtheilten Züchtlinginnen eine Milderung durch Bestimmung einer gewißen Zeit angedeihen möge.“139
Dies belegt, dass die Gnadenwürdigkeit nicht nur auf der Einschätzung des Gerichts beruhen sollte, sondern dass darüber hinaus auch eine gute Aufführung im Arrest erforderlich war. Die Fürsprachen der Kriminaldeputation wurden wie üblich vom Justizminister einer Prüfung unterzogen. Sechs der von den Richtern für eine Strafverkürzung vorgeschlagenen 13 Frauen waren nach Meinung von v. Goldbeck dieser Gnade nicht würdig, da seiner Meinung nach keine hinreichenden Indizien vorlagen, welche die verurteilten Frauen vom Verdacht des Kindsmordes entlasteten. 140 Es ist anzunehmen, dass dieser Entscheidung des Justizministers nicht nur Sachargumente zugrunde lagen, vielmehr wollte er mit seiner abwehrenden Haltung vermutlich auch die Entscheidungskompetenz des Justizdepartements als Rechtsaufsicht gegenüber den Gerichten unter Beweis stellen. In den übrigen sieben Fällen wurde der Vorschlag der Kriminaldeputation zur Begnadigung von v. Goldbeck allerdings unterstützt [s. C.II.3.a), C.II.4.g)].141 In 138 Vgl. Bericht der Kriminaldeputation vom 23. Mai 1797 / Revision (intus: Devouschack); in: ebd., fol. 50. Folgende verurteilte Kindsmörderinnen wurden nicht zur Begnadigung vorgeschlagen, da ihre Urteile bereits der seit Inkrafttreten des ALR üblichen Regelstrafe entsprachen: Maria Dorothea Jungen, Dorothea Christiane Otto, Maria Charlotte Schultzen, Dorothee Friederike Reinicken, Dorothea Ladewig und Marie Elisabeth Ficken – vgl. Bericht der Kriminaldeputation: Plädoyer auf Beibehaltung des Strafmaßes für jene 6 verurteilten Frauen / Revision (intus: Devouschack); in: ebd., fol. 88 – 106. 139 Zeugnis der Zuchthausadministration vom 9. Dezember 1796 / Revision (intus: Devouschack); in: ebd., fol. 51. 140 Folgende wegen Verheimlichung von Schwangerschaft und Geburt sowie wegen Kindsmordverdachtes Verurteilte erhielten vom Justizminister keine Unterstützung für eine Strafverkürzung: Anne Dorothee Otto, Anne Marie Paulicken, Anna Dorothea Villain, Beate Luise Lehmann, Dorothea Sophia Bahlowen, Hanna Dorothea Krohn – vgl. Fürsprachen für jene sechs Frauen / Revision (intus: Devouschack); in: ebd., fol. 54 – 58 (Otto), fol. 58 – 61 (Paulicken), fol. 61 – 63 (Villain), fol. 64 – 69 (Lehmann), fol. 79 – 82 (Bahlowen), fol. 87 (Krohn). 141 Bei der von der Kriminaldeputation vorgeschlagenen Strafverkürzung handelt es sich um eine Begnadigung: Zwar wurde in diesen Fällen das derzeit übliche Strafmaß zugrunde gelegt, auf die mildere Beurteilung ihrer Tat hatten die Verurteilten aber keinen rechtlichen Anspruch, da für sie das Strafmaß galt, welches das ihnen Jahre zuvor eröffnete Urteil vorsah.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
seinem Immediatbericht stellte Justizminister v. Goldbeck Friedrich Wilhelm die Strafen in diesen Fälle mit den Worten vor, „daß dieselben [Strafen] mit dem Vergehen nicht im gehörigen Verhältniße standen“ und fragte an, ob Seine Königliche Majestät hier nicht „Gerechtigkeit und Gnade“ walten lassen wollte.142 Friedrich Wilhelm II. erließ daraufhin eine Kabinettsorder, Kraft derer die sieben verurteilten Frauen ganz im Sinne der Fürsprachen der Kriminaldeputation und des Justizministers begnadigt wurden:143 Fünf Frauen wurden sofort entlassen: Vier von ihnen hatten bereits weitaus länger im Zuchthaus zugebracht, als es das Strafmaß laut ALR vorsah;144 in einem Fall wurde die Verurteilte sogar aufgrund ihres besorgniserregenden „Gemüths-Zustands“ vor Ablauf der Frist auf freien Fuß gesetzt.145 Zwei zu lebenslanger Haft verurteilte Frauen kamen nicht sogleich in den Genuss der Begnadigung, sondern sollten ihre Freilassung erst in drei bzw. fünf Jahren erhalten.146 Die Freilassung war von Seiten des Justizdepartements jedoch an eine Bedingung geknüpft: Die zu begnadigenden Frauen mussten über ihr Unterkommen und die Art und Weise ihres zukünftigen „ehrlichen“ Unterhalts Auskunft geben.147 Mit diesen Absichtserklärungen war dem obrigkeitlichen Anspruch auf Reintegration von ehemaligen Zuchthäuslerinnen offensichtlich Genüge getan. Die im Zuge der Revision vorgebrachten Vorschläge zur Begnadigung fallen in zweierlei Hinsicht aus dem Rahmen der übrigen Fürsprachen: Zum einen wurde die Revision auf die Weisung des Justizdepartements hin erstellt. Die 13 Begnadigungsanträge sind dennoch als eine Fürsprache der Kriminaldeputation zu betrach142 143
Immediatbericht vom 12. Juni 1797 / Revision (intus: Devouschack); in: ebd., fol. 107 f. Vgl. Kabinettsorder vom 14. Juni 1797 / Revision (intus: Devouschack); in: ebd., fol.
109. 144 Das Urteil für Elisabeth Hoesken lautete auf lebenslang, während nach ALR nur eine 10- bis 13-jährige Strafe verhängt worden wäre; da sie nun bereits seit 30 Jahren einsaß, hielt das Gericht ihre sofortige Entlassung für „unbedenklich“. Auch Anna Sophia Winkeln und Marie Louise Boltzin hatten lebenslänglich erhalten, wären gemäß ALR aber nur 15 Jahre in Haft gekommen; da Winkeln bereits 20 Jahre und Boltzin 16 Jahre im Zuchthaus zugebracht hatten, sollten beide sofort auf freien Fuß gesetzt werden. Maria Elisabeth Neyen war seit sieben Jahren im Zuchthaus und sollte laut Urteil noch weitere drei Jahre dort zubringen; da sie aber nachweislich eine Totgeburt gehabt hatte, hätte sich ihr Strafmaß gemäß ALR zwischen vier bis sechs Jahre belaufen; auch in ihrem Fall wurde eine sofortige Freilassung vorgeschlagen. – Vgl. Fürsprachen für Elisabeth Hoesken, Anna Sophia Winkeln, Marie Louise Boltzin / Revision (intus: Devouschack); in: ebd., fol. 52 f. (Hoesken), 70 f. (Winkeln), 72 f. (Boltzin), 85 f. (Neyen). 145 Da Sophia Sponholtz kein Vorsatz nachzuweisen war, lautete ihre Strafe nach ALR auf 12 Jahre; aufgrund ihrer psychisch-physischen Disposition sollte sie nun bereits nach 11 Jahren entlassen werden – vgl. Fürsprache für Sophia Sponholtz / Revision (intus: Devouschack); in: ebd., fol. 74 f. 146 Maria Elisabeth Petersen sollte in drei Jahren nach einer 12-jährigen Strafe und Anne Dorothee Schütz in fünf Jahren nach einer 15-jährigen Strafe entlassen werden – vgl. Fürsprachen für Maria Elisabeth Petersen, Anne Dorothee Schütz / Revision (intus: Devouschack); in: ebd., fol. 83 f.(Petersen), 76 – 78 (Schütz). 147 Vgl. Weisung an die Kriminaldeputation vom 19. Juni 1797 / Revision (intus: Devouschack); in: ebd., fol. 112.
I. Supplikationen und Fürsprachen
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ten, da nicht nur die ursprüngliche Initiative zur Revision alter Kindsmordfälle auf das Gericht zurückging, sondern auch die Entscheidung im Einzelfall, die verurteilten Frauen für eine Begnadigung vorzuschlagen. Zum anderen wurden in diesen Fällen nicht die üblichen Kriterien der Gnadenwürdigkeit als Maßstab angelegt; vielmehr wurden die Umstände des Tathergangs im Lichte der reformierten Strafgesetzgebung neu bewertet. Eine Begnadigung sahen die Richter der Kriminaldeputation in diesen Fällen jedoch als notwendig an, um Gerechtigkeit im Einzelfall herzustellen. Die Kriminaldeputation gab als Motiv ihrer Fürsprachen an, den Verurteilten zu ihrem Recht verhelfen zu wollen, da diese angeblich „Anspruch auf Milderung“ hätten148 – eine Behauptung, die rechtlich nicht zutraf. Denn in Brandenburg-Preußen des 18. Jahrhunderts galt das Prinzip, dass das zur Tatzeit bzw. zur Zeit des Prozesses gültige Recht Geltung hatte. Wurden Gesetze zu einem späteren Zeitpunkt gemildert, so bestand rechtlich kein Anspruch auf Milderung der gerichtlich längst erkannten Strafe. Allenfalls konnte man mit einem Gesuch oder einer Fürsprache einen moralischen Anspruch auf Milderung formulieren. Die Tatsache, dass sechs Fürsprachen der Kriminaldeputation zur Begnadigung abgelehnt wurden, zeigt, dass in der Gnadenpraxis kein Automatismus herrschte. Die Gewährung der Bitte war vielmehr eine Ermessensfrage.
d) Fürsprachen der Stadtgerichte Die Stadtgerichte urteilten in der Regel eher minderschwere Strafsachen ab; bei schwerwiegenden Fällen hingegen, deren Urteile aufgrund des Strafmaßes einer königlichen Bestätigung bedurften, waren sie zumeist nur in der Ermittlung tätig.149 Fälle der ersten Kategorie wurden nur dann beim Justizdepartement aktenkundig und konnten somit Teil des untersuchten Quellenbestandes werden, wenn Supplikationen oder Fürsprachen eingereicht wurden. Aufgrund der Zuständigkeit für minderschwere Delikte fielen die von den Stadtgerichten verhängten Urteile in der Regel generell milder aus als jene der Kriminaldeputation des Kammer148 Zit. aus: Bericht der Kriminaldeputation vom 23. Mai 1797 / Revision (intus Devouschack); in: ebd., fol. 50. 149 Den Stadtgerichten oblag ein Teil der Kriminalgerichtsbarkeit in den Grenzen der zu einer administrativen Einheit zusammengefassten Residenzstädte Friedrichswerder, Dorotheenstadt und Friedrichsstadt. Die Gerichtsverfassung von 1710 und die 1728 erlassenen Bestimmungen regelten die Zuständigkeit zwischen den Stadtgerichten und dem Magistrat, dem die Gerichte untergeordnet waren. Dem Kollegium saß der Stadtgerichtspräsident vor, der zugleich einen Posten beim Kammergericht innehatte, und dem fünf bis sechs Assessoren zur Seite gestellt waren – vgl. Hintze 1901 / 6.1. Bd., S. 366 f. Die Tatsache, dass es auch bei den Stadtgerichten vereinzelt zu Urteilen kam, die der königlichen Bestätigung bedurften, ist ein Indiz für die u. a. von Otto Hintze aufgestellten These zur Verstaatlichung der Stadtverwaltungen in den Residenzstädten im Laufe des 18. Jahrhunderts – vgl. Harm Klueting, Stadt und Bürgertum. Aspekte einer sozialen Typologisierung der deutschen Städte im 18. Jahrhundert; in: ders. / Gotthardt Frühsorge / Franklin Kopitzsch (Hg.), Stadt und Bürger im 18. Jahrhundert, Marburg 1993, S. 17 – 39, hier S. 17.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
gerichts. Aus diesem Grund stellte sich den Richtern die Notwendigkeit, im Wege einer Fürsprache eine Milderung des eigenen Urteils herbeizuführen, eher selten. So wurden die Stadtgerichte in nur zwei Fällen mit Fürsprachen aktiv. Den Ausschlag dafür gab der schlechte Gesundheitszustand der verurteilten Frauen, für die eine Arretierung in den vorgesehenen Strafanstalten mit einem erheblichen gesundheitlichen Risiko verbunden war. Dies war zum Beispiel bei der Witwe Christiane Grenzenbach der Fall, die für magische Dienste Geld verlangt hatte, dann aber von einer enttäuschten Kundin des Betrugs bezichtigt worden war und infolgedessen von den Stadtgerichten zu zwei Monaten Spinnarbeit und zu zweimaliger öffentlichen Ausstellung ihrer Person unter Bekanntgabe ihres Vergehens verurteilt wurde.150 Der Gefängnisinspektor zeigte den kritischen Gesundheitszustand der Witwe an, worauf ein Chirurgus hinzugezogen wurde, welcher befand, dass sie „mit einer heftigen Epilepsie behaftet [sei], welche ihr bei starken Gemüthsbewegungen sogleich antrit“.151 Der Chirurgus plädierte, auf die öffentliche Ausstellung der Delinquentin zu verzichten, da diese Situation mit großer Wahrscheinlichkeit bei ihr einen epileptischen Anfall auslösen würde. Die Stadtgerichte schlossen sich dem Tenor des medizinischen Gutachtens an und setzten eine entsprechende Fürsprache auf, in der sie darum baten, Christiane Grenzenbach von der Zurschaustellung zu begnadigen, um sie stattdessen mit einer anderweitigen Strafe zu belegen.152 Auf die Fürsprache erging die Resolution, dass man unter diesen Umständen auf die öffentliche Ausstellung Grenzenbachs verzichtete, dafür wurde aber ihre Arbeitshausstrafe um vier Wochen verlängert.153 Daraus folgt, dass auch Krankheit den Anlass für eine Begnadigung liefern konnte. Zugleich belegt dieses Beispiel, dass im Krankheitsfall nicht unbedingt eine umfangreiche Begnadigung gewährt wurde, denn die Umstände des Strafvollzugs wurden nur marginal erleichtert. Außerdem wurde darauf geachtet, dass eine äquivalente Strafe gefunden wurde, die sicherstellte, dass die Härte der Strafe insgesamt gewahrt blieb. Man belegte wegen Krankheit begnadigte Delinquenten allerdings nicht um jeden Preis mit einer alternativen Strafe. Im Fall von Marie Elisabeth Winkler stimmte der Monarch zum Beispiel einer völligen Niederschlagung der Haftstrafe zu. Als Marie Elisabeth Winkler ihren Ehemann verließ, nahm sie sich ohne dessen Wissen Geld aus der Kasse der gemeinsamen Wirtschaft.154 Wegen Veruntreuung 150 Vgl. Fürsprache der Stadtgerichte vom 6. Juli 1789 / Fallakte Christiane Grenzenbach; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 151 Zit. aus: Medizinisches Gutachten; zit. in: Fürsprache der Stadtgerichte vom 6. Juli 1789 / Fallakte Christiane Grenzenbach; in: ebd. 152 Vgl. Fürsprache der Stadtgerichte vom 6. Juli 1789 / Fallakte Christiane Grenzenbach; in: ebd. 153 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 13. Juli 1789 / Fallakte Christiane Grenzenbach; in: ebd. 154 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 12. Juli 1797] / Fallakte Marie Elisabeth Winkler; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220.
I. Supplikationen und Fürsprachen
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plädierte das Stadtgericht für eine viermonatige Zuchthausarbeitsstrafe, welche durch Annahme-Order auch rechtskräftig wurde.155 Drei Monate später – Maria Elisabeth Winkler hatte zu dieser Zeit ihre Strafe noch nicht angetreten – fragten die Stadtgerichte beim Justizdepartement an, ob die Haftstrafe aus gesundheitlichen Gründen nicht gänzlich niedergeschlagen werden könne.156 Der Fürsprache war das Protokoll des den Stadtgerichten mündlich vorgetragenen Gutachtens von Obermedizinalrat Welper beigelegt: Die Delinquentin sei, so Welper, „mit der Gicht behaftet, größtentheils bettlägrig“, außerdem bestünde akute Erstickungsgefahr, da sie „troknes Asthma [hat], welches ihr jede Bewegung ihres Körpers sehr erschwert“, außerdem leide sie an einem Fußgeschwür. Vor dem Hintergrund dieser Diagnose hielt es der Obermedizinalrat „für unmöglich, daß sie die ihr zuerkannte 4 monathliche Zuchthausstrafe ausstehen kann.“157 Die Resolution besagt, dass Friedrich Wilhelm II. die Strafe in dieser Sache „hirmit gnädigst niderschlagen wollen“ [s. C.II.1.e)].158 In diesem Fall zog man anstelle der Zuchthausarbeit keine andere Strafe – wie beispielsweise eine Geldbuße – in Betracht, vermutlich weil man bei einer von ihrem Gatten getrennt lebenden Ehefrau, die darauf angewiesen war, heimlich die Wirtshauskasse zu leeren, kein nennenswertes Vermögen erwartete. Der Fall gibt Auskunft über das Motiv der Fürsprache: Obwohl der anscheinend kritische Gesundheitszustand von Maria Elisabeth Winkler dem Gericht seit Beginn der Ermittlungen bekannt gewesen sein musste, durften die Stadtgerichte diesen Aspekt bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigen: Laut Urteil sollte die Delinquentin trotz ihrer Bettlägerigkeit in ein Zuchthaus überstellt werden, um dort Spinnarbeit zu leisten. Es gehörte nicht in die Entscheidungskompetenz der Richter, krankheitsbedingte Einschränkungen des Strafmaßes oder eine Änderung der üblichen Strafform vorzunehmen. Ihre Aufgabe war es lediglich, die juristischen Schlüsse aus den Ermittlungen und Verhandlungen zu ziehen und auf der Grundlage der Gesetze ein Urteil zu formulieren. Wollte das Gericht die Delinquenten mit einer den Umständen angemessene Strafe belegt wissen, so musste es dafür sorgen, dass das selbst gesprochene Urteil nicht vollstreckt, sondern eine Milderung gewährt wurde. Die Fürsprache und die Gnade übernehmen hier die Funktion, die Vorstellung der Richter von Gerechtigkeit und Humanität der Rechtsprechung im Einzelfall zu gewährleisten. Mit der Fürsprache machten die Richter ihr Rechtsverständnis geltend und dokumentierten dabei ihre Kompetenz in Sachen Rechtsauslegung. Und ohne dies vermutlich zu beabsichtigen, weisen die Richter damit zugleich auf Problemlagen im Rechtsverständnis und in der Gerichtspraxis ihrer Zeit hin. 155 Vgl. Antrag auf Urteilsbestätigung vom 12. Juli 1797, nebst Rechtsgutachten, und vgl. Annahme-Order vom 17. Juli 1797 / Fallakte Marie Elisabeth Winkler; in: ebd. 156 Vgl. Fürsprache der Stadtgerichte vom 12. Oktober 1797, Anlage: Medizinisches Gutachten vom 7. Oktober 1797 / Fallakte Marie Elisabeth Winkler; in: ebd. 157 Zit. aus: Protokoll des mündlich vorgetragenen medizinischen Gutachtens vom 7. Oktober 1797 / Fallakte Marie Elisabeth Winkler; in: ebd. 158 Zit. aus: Resolution vom 23. Oktober 1797 / Fallakte Marie Elisabeth Winkler; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
e) Fürsprachen der Justizämter Die kurmärkischen Justizämter waren für die Ermittlung in Strafsachen auf dem platten Land zuständig.159 Ihre Aufgabe bestand darin, einen Bericht über Tathergang, Indizien, etwaige Geständnisse, Zeugenbefragung etc. zu verfassen. Auf dieser Grundlage entwickelte das Kammergericht einen Urteilsvorschlag, welcher durch Bestätigung rechtskräftig wurde. Da die Angeklagten im Einzugsgebiet der jeweiligen Justizämter wohnten und meist vor Ort im Arrest gehalten wurden, war man in den Justizämtern über die familiäre wie ökonomische Situation der Angeklagten sowie über deren gesundheitliche Verfassung im Bilde. Diese Umstände veranlassten die Justizämter, in den drei überlieferten Fällen, eine Fürsprache zu verfassen. Ähnlich wie bei den Stadtgerichten [s. C.I.2.d)] lieferte der kritische Gesundheitszustand einer Delinquentin den Anlass für eine Fürsprache des Justizamts Alt-Ruppin:160 „( . . . ) dass dise Person [Maria Amelang] ihrer Kranckheit und Körperlichen Gebrechen halber zur Erleidung der erkannten 3. Monatlichen Zuchthauß Strafe incapable, ja ohne Gefahr nicht einmal bis Spandau tranportable ist ( . . . ).“161
Die 57-jährige Maria Amelang war in „erbärmlichsten Leibesumständen“, denn sie war „von Schlagfluß gelähmet“ und vermochte „fast kein Glied am Leib stille zu halten“.162 In diesem Zustand sollte Maria Amelang für drei Monate ins Zuchthaus und dort Spinnarbeit leisten, eine Strafe, zu der sie wegen Diebstahls verurteilt worden war. Vor diesem Hintergrund bat das Justizamt Alt-Ruppin um Umwandlung der Zuchthausarbeitsstrafe in Gefängnis ohne Arbeitszwang. Die Fürsprache eines niederen Gerichts wie eines Justizamtes wurde in der Regel nicht direkt dem Justizdepartement überstellt, sondern zuerst an das ihm übergeordnete Kammergericht geleitet. In Amelangs Fall machte sich das Kammergericht das vorgebrachte Anliegen zueigen und reichte seinerseits eine Fürsprache an das Justizdepartement ein.163 Dabei verzichteten die Richter darauf, einen externen Chirurgus heranzuziehen, der die Delinquentin medizinisch begutachtete, vermutlich weil die Schilderung von Amelangs Zustand überzeugend war. Seitens des Justizdepartements erging folgender Erlass: „dass die Inquisitin statt der 3 monathlichen Zuchthauß-, nur mit eben so langer Gefängnis-Strafe zu Ruppin zu belegen 159 Zur territorialen Zuständigkeit und personellen Besetzung der Justizämter vgl. AdressKalender der Königlich-Preußischen Haupt- und Residenz-Stadt Berlin 1786 – 1794, hier s. unter Justizämter in der Kurmark und vgl. Handbuch über den Königlich Preussischen Hof und Staat 1794 – 1798; zu den Domänen-Justizämter vgl. Hintze 1987, S. 396. 160 Vgl. Annahme-Order vom 10. März 1788 / Fallakte Maria Amelang; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.054. 161 Fürsprache des Justizamts Alt-Ruppin vom 18. April 1788 / Fallakte Maria Amelang; in: ebd. 162 Zit. aus: ebd. 163 Vgl. Fürsprache des Kammergerichts vom 28. April 1788 / Fallakte Maria Amelang; in: ebd.
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[sei].“164 Angesichts des vergleichbaren Falles von Maria Elisabeth Winkler fragt man sich, warum man nicht auch bei Maria Amelang zu einer gänzlichen Niederschlagung der Strafe bereit war, wenn die Delinquentin derart geschwächt war, dass sie schon nicht mehr als transportfähig galt. Offenbar galt die Regel, dass Krankheit nicht vor Strafe schützt. Der Delinquentin wurde eine ebenso lange Strafe auferlegt, wie ursprünglich verlangt. Nicht nur der Gesundheitszustand der Angeklagten war den Justizämtern bekannt, sondern auch deren familiäre Situation. Waren Säuglinge von der Verhaftung ihrer Mutter betroffen, so konnte dies für einen Justizamtmann Anlass sein, um Umwandlung der erkannten Zuchthaus- in eine Gefängnisstrafe vor Ort zu bitten, damit die Mutter ihr Kind dorthin mitnehmen bzw. es sich von Familienangehörigen zum Stillen bringen lassen konnte. Eine dahingehende Fürsprache kam im Fall der wegen Bigamie überführten Dorothea Sophie Hunzinger aus dem Justizamt Alt-Ruppin.165 Bevor Dorothea Sophie Hunzinger zur Ableistung ihrer zweimonatigen Zuchthausstrafe nach Spandau überführt werden sollte, wandte sich das Justizamt Alt-Ruppin an das Kammergericht mit der Bitte, sie im Gefängnis vor Ort behalten zu können: „Diese Umstände verdienen, wenn wir nach unserer Pflicht reden müßen, allerdings Aufmerksamkeit, da sonsten, bei der geringsten Vernachläßigung derselben, aus der Vorwurf der Sorglosigkeit gegen die Erhaltung des Lebens eines Menschen gemacht werden könnte. Die Arrestata ist während ihres hiesigen Haffts vor 4. Wochen von einem Kinde weiblichen Geschlechts entbunden worden und das Kind würde gewiß ein Opfer der strengen Gerechtigkeit werden, wenn wir solches von der Mutter Brust reißen und es einem Fremdling anvertrauen wollten. Da aber auch hier im Orte keine Ahmme ausfindig zu machen ist, so würde ein äußerster und härtester Fall dies so sehr zarte Kind seinem Schiksale unterworfen sein.“166
Die für eine Behörde mitfühlend formulierte Bitte erklärt sich vermutlich dadurch, dass dem Justizamtmann Gebhard Dorothea Sophie Hunzinger und ihr zweiter Ehemann Stanislaus Marthei persönlich bekannt waren und er sich diesem Paar eventuell verpflichtet fühlte. Der Fürsprache war ein Protokoll beigefügt, in dem Hunzingers Situation detailliert beschrieben, ihr Aufenthalt bis zur Entbin164 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 5. Mai 1788 / Fallakte Maria Amelang; in: ebd. 165 Während das Rechtsgutachten für Dorothea Sophie Hunzinger drei Monate Zuchthausarbeit vorsah, wurde ihr die Strafzeit in der Urteilsbestätigung auf zwei Monate reduziert – vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 16. April 1789] und vgl. Urteilsbestätigung vom 27. April 1789 / Fallakte Dorothea Sophie Hunzinger; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. Der Grund für den Straferlass liegt vermutlich im Umstand, dass ihr erster Ehemann eine moralische Schuld trug, da er sie heimlich verlassen hatte und ihr später, als sie ihn ausfindig machen konnte, die Scheidung mündlich bewilligt hatte, zum Gerichtstermin indes nicht erschienen war – vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 16. April 1789] / Fallakte Dorothea Sophie Hunzinger; in: ebd. 166 Fürsprache des Justizamts Alt-Ruppin vom 31. Mai 1789 / Fallakte Dorothea Sophie Hunzinger; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
dung nachgewiesen und die Geburt der Tochter Charlotte Wilhelmine Dorothea anhand eines Auszuges aus dem Taufregister belegt wurde.167 Das dem Justizamt übergeordnete Kammergericht leitete die Bitte sogleich weiter und konnte auch das Justizdepartement davon überzeugen, dass die Verurteilte mit ihrem Säugling im Gefängnis vor Ort bleiben sollte [s. C.II.5.a)cc)].168 Ähnlich verfuhr das Justizamt Lenzen im Fall der Witwe Ilse Marie Schütte, die wegen Unzucht mit ihrem Stiefsohn zu sechs Monaten Zuchthausarbeit verurteilt worden war:169 „Daß sie ihre beyden Kinder von denen das jüngste erst ein halbes Jahr alt ist, und noch von ihr gesäuget wird, nicht verlassen können ( . . . ).“170
Aus diesem Grunde biete sich eine Haft vor Ort im Justizamt an, so der Vorschlag aus Lenzen.171 Auch diese Fürsprache wurde bewilligt [s. C.II.5.a)cc)].172 Begnadigungen waren offensichtlich relativ leicht zu erhalten, wenn sich eine lokale Obrigkeit dafür einsetzte. Diese schaltete sich jedoch erst dann ein, wenn nachweislich erhebliche gesundheitliche Risiken für die betroffene Person bzw. für Säuglinge vorlagen. Eine Begnadigung hob in der Regel nicht das Strafmaß an sich auf, sondern sie führte lediglich dazu, die Rahmenbedingungen zu mildern. Das Motiv der Justizämter in Form einer Fürsprach für die Untertanen des Amtes zu intervenieren, bestand unter anderem vermutlich im fiskalischen Interesse, das Gefängnis vor Ort zu belegen und Sitzegelder dafür zu kassieren. Ein weiteres Motiv hängt vermutlich damit zusammen, dass sich Amtmann und die betroffene Familie aufgrund der räumlichen Überschaubarkeit eines Amtes persönlich kannten. Setzte sich der Amtmann für die Interessen der Betroffenen ein, so war ihm deren Dank sicher – und ein solcher zahlte sich in einer face-to-face-Gesellschaft aus. f) Fürsprache einer Strafvollzugsanstalt Eine Fürsprache von Seiten einer Strafvollzugsanstalt liegt nur in einem Fall vor. Hierbei wurde einer Intervention des Justizministers insofern vorgegriffen, als darum gebeten wurde, einer zum Tode Verurteilten das Leben zu schenken. Die 167 Vgl. Anlage der Fürsprache des Justizamts Alt-Ruppin vom 31. Mai 1789 / Fallakte Dorothea Sophie Hunzinger; in: ebd. 168 Vgl. Fürsprache des Instruktionssenats vom 11. Juni 1789; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 22. Juni 1789 / Fallakte Dorothea Sophie Hunzinger; in: ebd. 169 Vgl. Annahme-Order vom 6. März 1797 / Fallakte Ilse Marie und Ludwig Nicolaus Schütte; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 170 Fürsprache des Justizamts Lenzen vom 9. Mai 1797 / Fallakte Ilse Marie und Ludwig Nicolaus Schütte; in: ebd. 171 Vgl. Fürsprache des Instruktionssenats vom 18. Mai 1787 / Fallakte Ilse Marie und Ludwig Nicolaus Schütte; in: ebd. 172 Vgl. Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 6. Juni 1797 / Fallakte Ilse Marie und Ludwig Nicolaus Schütte; in: ebd.
I. Supplikationen und Fürsprachen
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28-jährige Dienstmagd Maria Charlotte Schultzen hatte ein Geständnis abgelegt, demzufolge sie heimlich geboren und das lebende Neugeborene mit dem Gesicht nach unten im Garten verscharrte hatte.173 Da Schultzen zugegeben hatte, den Kindsmord vorsätzlich begangen zu haben, blieb der Kriminaldeputation des Kammergerichts nichts anderes übrig, als auf Todesstrafe zu plädieren.174 Demzufolge lautet die Annahme-Order in erster Instanz: „Die Dienstmagd Maria Charlotte Schultzen soll wegen heimlich gebohrenen und lebendig verscharrten Kindes, wenn sie zum Sterben wohl vorbereitet, ohne Begleitung eines Geistlichen auf den Richtplatz geführet, und daselbst mit dem Schwerdt vom Leben zum Todt gebracht, ihr Körper aber daselbst verscharrt werden.“175
Der Prozess war damit formal allerdings noch nicht abgeschlossen, da er noch die zweite Instanz durchlief. Und weil der Justizminister seine Fürsprache erst abzufassen pflegte, wenn das Urteil der letzten Instanz kurz davor stand, in Kraft zu treten und vollzogen zu werden, lag in Schultzens Fall noch keine ministerielle Fürsprache vor. Doch auf das Einschreiten des Ministers wollte sich der Hausvogtei-Inspektor Gade nicht verlassen. Außerdem hoffte er, mit einer Fürsprache an den Monarchen das Urteil in zweiter Instanz beeinflussen zu können. In seiner Funktion als Leiter der Hausvogtei, in der Maria Charlotte Schultzen während der Dauer der Untersuchung arretiert war, hatte Gade hinreichend Gelegenheit gehabt, sich ein Bild von der Inquisitin zu machen. Offenbar dauerte ihn das Schicksal der Dienstmagd, denn seine Fürsprache folgte nicht dem sachlich-nüchternen Berichtsstil, sondern wirkt deutlich emotionaler, ja fast poetisch: „An dem Throne, und zu Füßen Ewr Majestaet flehe ich um das Leben eines Mädchens, welche durch Leichtsinn, jugentliche Unüberlegung, so wohl als durch ihre erstes, und unbewußtes Niederkommen Mörderin ihres neugebornen Kindes geworden ( . . . ). Erhören Ewr Majestaet Allgenädigst diese von mich so erdreistete aber heiße Bitte, meines Hertzens, noch ist solche mit einem Nebel, von Nichthoffen umwölcket, Gott – nur der Wonne Strahl Ewr Majestaet, kann solchen durch das Kraftvolle Wort verscheuchen – dass Sie Lebe.“176
In der Intensität, dem Tenor und der Art, wie Gade von seiner Herzensbitte sprach, gleicht die Fürsprache des Hausvogtei-Inspektors einer typischen Supplikation eines engen Angehörigen. Gade ging sogar so weit, für Maria Charlotte Schultzen zu bürgen, obwohl ihm dies in der amtlichen Beziehung, die er zur Inquisitin pflegte, formal nicht zustand: 173 Vgl. Fürsprache des Hausvogtei-Inspektors Gade vom 25. September 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 66. 174 Vgl. Antrag auf Urteilsbestätigung vom 3. April 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: ebd., fol. 64. 175 Annahme-Order vom 18. April 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: ebd., fol. 65. 176 Fürsprache des Hausvogtei-Inspektors Gade vom 25. September 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: ebd., fol. 66.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
„Wäre es genug für einen weitern untadelhaften Wandel und der tiefsten Dankbarkeit, welche nur immer, das Geschenk des Lebens, für diese Person erhöhet, mich zu verbürgen – so wäre ich Bürge, da ich bereits ihre Prüfung, auch ganzes Jahr und drüber, auf das genaueste beobachtet habe.“177 Da Gade für seine Fürsprache den Geburtstag des Königs als Anlass gewählt hatte, gelangte das Schreiben ohne Umwege im bürokratischen Apparat direkt an Friedrich Wilhelm II., der die Angelegenheit allerdings, wie üblich, nicht ohne Hinzuziehung des Justizministers entscheiden wollte.178 Dem Monarchen riet v. d. Reck prinzipiell davon ab, in ein schwebendes Verfahren einzugreifen. Stattdessen schlug er vor, das Urteil des Ober-Appellationssenats abzuwarten. Falls sich das Gesuch „im rechtlichen Wege“ nicht erfüllen sollte, würde er persönlich dafür Sorge tragen, Gades Fürsprache rechtzeitig vor der Exekution erneut vorzulegen, so dass Maria Charlotte Schultzen noch das Leben geschenkt werden könnte.179 Friedrich Wilhelm folgte dem Ratschlag des Justizministers und erließ eine Kabinettsorder, in der die Entscheidung über die Fürsprache bis zur Bekanntgabe des Urteils in zweiter Instanz ausgesetzt wurde.180 Dieses Beispiel belegt einmal mehr die Unsicherheit Friedrich Wilhelms, in Justizangelegenheiten eigene Entscheidungen zu fällen: Anstatt aus eigenem Antrieb zu erklären, dass das seit Friedrich II. gültige Prinzip, in laufende Prozesse nicht einzugreifen, auch in diesem Fall gelte, fragte der Monarch zuvor seinen Minister um Rat. Der vom Ober-Appellationssenat eingereichte Antrag auf Urteilsbestätigung sah für Maria Charlotte Schultzen wiederum eine Todesstrafe vor.181 Wie angekündigt, reichte der Justizminister den Antrag zusammen mit seinem Immediatbericht ein, dem er die Fürsprache des Hausvogtei-Inspektors beilegte. V. d. Reck belegte Maria Charlotte Schultzens Gnadenwürdigkeit unter anderem mit ihrer guten Aufführung in der Haft [s. C.II.2.b) und c) und C.II.3.b)].182 Allerdings gab er zu bedenken, dass Maria Charlotte Schultzen kundgetan hatte, dass sie lieber die Todesstrafe erleiden wolle, als eine lebenslange Freiheitsstrafe ableisten zu müssen.183 Maria Charlotte Schultzen pokerte hoch, denn sie hoffte auf eine zeitlich Ebd. Vgl. Kabinettsorder vom 26. September 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: ebd., fol. 67. 179 Zit. aus: Immediatbericht des Justizministers vom 29. September 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: ebd., fol. 69 (Ausfertigung), fol. 68 (Konzept). 180 Vgl. Kabinettsorder vom 30. September 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: ebd., fol. 71. Der Justizminister wies sogleich das Kammergericht an, den Prozess zu beschleunigen – vgl. Weisung an Kammergericht vom 30. September 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: ebd., fol. 72 – 73. 181 Vgl. Antrag auf Urteilsbestätigung in zweiter Instanz vom 9. Oktober 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: ebd., fol. 74. 182 Vgl. Immediatbericht des Justizministers vom 24. Oktober 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: ebd., fol. 78 (Ausfertigung), 76 (Konzept). 183 Vgl. ebd. 177 178
I. Supplikationen und Fürsprachen
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begrenzte Haftstrafe – doch ging ihre Rechnung auf: V. d. Reck plädierte für eine zehn- bis zwanzigjährige Zuchthausstrafe nebst Willkommen und Abschied184 und Friedrich Wilhelm dekretierte daraufhin, dass er geruhe: „( . . . ) das verwürckte Leben zu schencken, jedoch dagegen 20 Jahr Zuchthaus Strafe, nebst Willkommen und Abschied, zu zuerkennen“.185
Diese Kabinettsorder belegt einmal mehr, wie verhasst Friedrich Wilhelm die Todesstrafe war, lieber ging er auf die Bedingung einer Delinquentin ein, als eine Hinrichtung anzuweisen. Dieses Beispiel zeigt auch, dass es den Betroffenen in einem eng gesteckten Rahmen möglich war, ihre Strafe auszuhandeln. Eine weitergehende Begnadigung wurde Schultzen allerdings verwehrt: Im Rahmen der 1797 durchgeführten Revision aller Kindsmordfälle [s. C.I.2.c)] hielt die Kriminaldeputation Schultzens lebenslängliche Strafe ihrer Tat für angemessen, eine Befristung ihres Zuchthausaufenthaltes unterstützte sie daher nicht.186 Die Tatsache, dass die Strafanstalten nur in diesem einen Fall187 intervenierten, spricht dafür, dass sie sich in der Regel nicht in der Pflicht sahen und sich keine Vorteile davon versprachen, in Sachen Begnadigung initiativ zu werden. Vielmehr verstanden sie sich als Exekutivorgan von Weisungen höheren Orts und schalteten sich erst dann ein, wenn diese nicht umgesetzt wurden. g) Resümee Die Fürsprache von Seiten obrigkeitlicher Stellen für kriminalgerichtlich Verurteilte stellt eine Sonderform der Gnadenbitte dar, die sich quantitativ eher bescheiden ausnimmt im Vergleich zu den Suppliken der Untertanen (insg. 28 Fürbitten zu. insg. 665 Gnadenbitten in Form von Supplikationen). Absender der Fürsprachen waren der für die Kurmark zuständige Justizminister (drei Fürsprachen), Vgl. ebd. Kabinettsorder vom 26. Oktober 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: ebd., fol. 77. 186 Vgl. Prüfung des Falls von Maria Charlotte Schultzen / Revision (intus: Devouschack); in: ebd., fol. 93 – 97. 187 In einem weiteren Fall mischte sich eine Anstalt in den Strafvollzug ein. Hierbei handelte es sich allerdings nicht um eine Fürsprache, in der um Begnadigung gebeten wurde, vielmehr wurde darauf hingewiesen, dass eine obrigkeitliche Anweisung schlicht in Vergessenheit geraten war: V. Scott, der Gouverneur der Festung Spandau, berichtete dem Justizdepartement, dass Carl Ludwig Runge bereits 7 Jahre und 4 Monate über die gerichtlich zuerkannte Strafzeit hinaus auf der Festung zubringe. Dies entsprach insofern der obrigkeitlichen Absicht, als man den notorischen Wiederholungstäter nach dem Ableisten seiner Haftstrafe weiterhin unter Kontrolle haben wollte, jedoch war ursprünglich die Einweisung in ein Arbeitshaus auf unbestimmte Zeit vorgesehen. Auf die Intervention des Festungsgouverneurs hin wurde Runge im Rahmen des General-Pardon anlässlich des Regierungsantritts Friedrich Wilhelms III. freigelassen [s. C.II.4.a)]. – Vgl. Bericht des Gouverneurs der Festung Spandau, v. Scott, vom 7. Februar 1798; Marginaldekret ebd. / Fallakte Carl Ludwig Runge; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.063. 184 185
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Richter des Kammergerichts (vertreten durch den Ober-Appellationssenat mit zwei Fürsprachen und die Kriminaldeputation des Instruktionssenats mit 17 Fürsprachen), aber auch Angehörige niederer Gerichte, die mit der Ermittlung in den jeweiligen Fällen betraut waren, so die Stadtgerichte (zwei Fürsprachen) im Bereich der Residenzen und die Justizämter auf dem platten Land (drei Fürsprachen), und schließlich auch ein Inspektor einer Strafvollzugsanstalt (eine Fürsprache). Die Fürsprache trat in unterschiedlichen Formen auf: Die Staatsdiener bedienten sich dafür zwar zumeist eines gesonderten Schreibens, die Gerichte aber hatten zudem die Möglichkeiten, die Gnadenbitte entweder im Rahmen des Rechtsgutachtens oder aber im Antrag auf Urteilsbestätigung anzuführen. Dem Justizminister war indes der Immediatbericht als Plattform für eine Fürsprache vorbehalten, der dem Monarchen entweder mündlich vorgetragen oder schriftlich vorgelegt wurde. An den Fürsprachen lässt sich die Zuständigkeit der verschiedenen Stellen im Justizapparat ablesen: Der Justizminister nahm sich in erster Linie der Fälle mit rechtskräftig erlassenem Todesurteil an. Zum Zeitpunkt der drohenden Hinrichtung bat er in seiner Fürsprache den Monarchen um Begnadigung, zumeist in Form einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die Senate des Kammergerichts intervenierten hingegen verstärkt in der Phase der Urteilsfindung bis zu ihrer Verkündung. Das Anliegen ihrer Fürsprachen bestand in der Bitte um Milderung des Strafmaßes, welches sie zuvor in ihrem Urteilsvorschlag auf der gesetzlichen Grundlage selbst formuliert hatten.188 Mildernde Umstände über ein vom Gesetz gebilligtes Maß hinaus zu berücksichtigen, fiel nicht in die Befugnis der Gerichte; eine Milderung konnte nur im Wege einer Begnadigung erreicht werden. Die niedere Gerichtsbarkeit wie die Stadtgerichte und die Justizämter schalteten sich vor allem in Fragen des Strafvollzugs ein, insbesondere wenn gesundheitliche und soziale Umstände vorlagen, die ihnen als Ermittlungsinstanz zur Kenntnis gebracht wurden, und welche nach ihrer Ansicht beim Strafvollzug berücksichtigt werden sollten. Die Fürsprachen sowohl der Unter- als auch der Obergerichte wurden dem Monarchen nicht immediat zur Entscheidung überstellt, sondern – wie auch die Gnadenbitten von Untertanen – zuerst dem Justizminister in seiner Funktion als Rechtsaufsichtsorgan über die Gerichte zur Prüfung vorgelegt. Erst wenn dieser bzw. das Justizdepartement respektive der Geheime Rat die Bitte um Begnadigung unterstützte, wurde die Fürsprache an den Monarchen herangetragen. Die Annahme, dass die Zuchthaus- und Festungsadministration während des Strafvollzugs ähnlich motivierte Fürsprachen vorlegte, erweist sich als irrig: Sieht man von der Fürsprache des Hausvogtei-Inspektors ab, die zudem stilistisch keiner Fürsprache, vielmehr einer typischen Supplik gleicht, liegen keine diesbezüglichen Initiativen vor. Unbeteiligt am Gnadengeschehen waren die Zuchthaus- und Festungsadministration sowie die dort beschäftigten Prediger allerdings nicht: Sie er188 Diese Praxis kann Karl Härter für die Fürsprachen in Kurmainz bestätigen: Auch dort sprach man von Amts wegen eine Gnadenempfehlung aus, wenn außerordentliche Strafmilderungsgründe oder erhebliche Entlastungsargumente vorlagen – vgl. Härter 2005, S. 252.
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stellten auf Anfrage der Fürsprecher und der supplizierenden Untertanen Zeugnisse über die Aufführung der Verurteilten in der Haft, die bei der Bewertung der Gnadenwürdigkeit Gewicht hatten [s. C.II.2.c), 3.b)]. Der Unterschied zu den Fürsprachen und auch zu den Suppliken liegt vor allem darin, dass die Zeugnisse der Strafvollzugsanstalten nicht auf die Eigeninitiative der dort beschäftigten Staatsdiener zurückgingen und diese ohne ein zielgerichtetes Begleitschreiben in Form einer Fürsprache oder einer Supplik keinen Gnadenvorgang anstoßen konnten. Staatsdiener verbanden mit der Fürsprache bestimmte Motive: Der Justizminister rekurrierte mit Gnadenempfehlungen auf seine Funktion als Rechtsaufsicht in Fällen, in denen er das von den Gerichten vorgeschlagene Urteil juristisch nicht anfechten konnte. Entsprach der Monarch seinem Votum, so belegte dies einmal mehr die gewichtige Stellung des Justizministers gegenüber den Gerichten. Verfassten die Richter des Kammergerichts eine Fürsprache, so dokumentierten sie damit ihre beschränkte richterliche Entscheidungsgewalt, die ihnen von den Gesetzen gesetzt wurde. Wurden ihre Begründung für ein milderes Strafmaß akzeptiert, so konnten sie dies als einen Beweis dafür halten, dass ihre Rechtsprechung fachlich kompetent, unparteiisch und gerechtigkeitsliebend war. Fürsprachen boten sich somit an, den richterlichen Handlungsspielraum zu vergrößern und das Ansehen der Justiz sowohl bei den Untertanen als auch beim Monarchen insgesamt zu fördern. Auch die ermittelnden Gerichte erhofften sich von Fürsprachen eine stärkere Mitsprache bei der Entscheidungsfindung. Indem sie das urteilende Gericht auf Umstände hinwiesen, die zwar juristisch nicht relevant und daher nicht aktenkundig, aber dennoch bedeutsam waren, brachten sie ihre Kenntnisse vom Fall und von den betroffenen Personen ein. Den ihnen übergeordneten Gerichten zeigten sie damit, inwiefern diese von ihrer Zuarbeit abhängig waren. Dies stärkte das Ansehen der Untergerichte bei den Obergerichten und wirkte sich vermutlich positiv auf ihre Position bei künftigen Ermittlungen aus. Das Anliegen, mittels Fürsprachen die Härte des Gesetzes angemessen zu mildern, offenbart ein kontextbezogenes Verständnis von Gerechtigkeit, welches besondere Umstände im Einzelfall angemessen berücksichtigt sehen wollte. Diese Haltung widerspricht dem schematischen Gerechtigkeitsverständnis189, wie es in den Paragrafen der Gesetze zum Ausdruck kommt: Denn strafmildernde Umstände waren nur in begrenztem Maße in die Gesetzestexte aufgenommen worden, da man befürchtete, dass die abschreckende Wirkung der Strafe dann nicht mehr gewährleistet sein würde.190 Die brandenburgisch-preußische Rechtspraxis Ende des 18. Jahrhunderts sah eine eng am Gesetzestext orientierte Rechtsanwendung vor, die den richterlichen Entscheidungs- und Handlungsspielraum stark einschränkte: 189 Das schematisch wirkende Gerechtigkeitsverständnis geht auf die naturrechtlich-geprägte Gesetzgebungslehre von Ende des 18. Jahrhunderts, u. a. auch auf die Postulate des Gleichheitsgrundsatzes und der Rechtssicherheit, so wie sie in dieser Zeit verstanden wurden, zurück – vgl. Klippel 1998, S. 240 – 243. 190 Z. B. war Carl Gottlieb Svarez ein vehementer Vertreter dieser Ansicht – vgl. Schwennicke 1995, S. 88, 95.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Den Richtern war weitgehend untersagt, außergewöhnliche Umstände bezüglich des Tathergangs, des Tatmotivs, der psychologischen, physischen und sozialen Rahmenbedingungen beim Strafmaß zu berücksichtigen, so dass man der Rechtsprechung Ende des 18. Jahrhunderts einen Schematismus in der Gesetzesanwendung attestieren kann. Befand ein Gericht den eigenen Urteilsvorschlag, zu dem es aufgrund der gesetzlichen Vorgaben quasi gezwungen war, in Anbetracht mildernder Umstände für unangemessen, blieb einzig der Ausweg, sich im Wege einer Fürsprache an das Justizdepartement zu wenden, um beim Monarchen um Begnadigung im Sinne einer Strafmilderung nachzusuchen. So gesehen ist – und auch nur in dieser Hinsicht – der beschränkte Handlungsspielraum der Richter mit dem der supplizierenden Männer und Frauen vergleichbar: Beiden Seiten blieb die Fürsprache bzw. die Supplikation als ultima ratio und damit waren beide von der königlichen Gnade abhängig und erhofften sich, damit ihren Handlungsspielraum zu erweitern. Bei der Bitte um Milderung des Strafmaßes hört allerdings die Vergleichbarkeit zwischen Richtern und Supplikanten bzw. Supplikantinnen auf, denn bereits im Hinblick auf die Aussicht auf Erfolg der Bitten muss zwischen Supplik und Fürsprache differenziert werden: Gehörte der Fürsprecher dem Justizapparat an, so lag die Chance auf Gewährung einer Gnade wesentlich höher [s. C.III.1.a)].
II. Der Erfolg des Gnadenbittens – Begnadigungsformen und Gnadenbegründungen Die Gnadenpraxis, betrachtet aus der Perspektive der Obrigkeit, umfasst einerseits gewährte Begnadigungen, andererseits abgelehnte Gnadenbitten. Im Vordergrund des Interesses stehen hier allerdings nicht die abschlägig beschiedenen als vielmehr die gewährten Gnadenbitten. Die Resolutionen mit negativem Bescheid überwiegen zwar zahlenmäßig deutlich die Gnadenakte. Erstere sagen aber vergleichsweise wenig Neues über Herrschaftsverhältnisse aus, da die gerichtliche Entscheidung lediglich bestätigt und damit in ihrer Legitimität erneut festgeschrieben wird. Wurde hingegen eine Begnadigung ausgesprochen, so kam das Recht des Gnadenträgers insofern zur Geltung, als die rechtsgültig verhängte Strafe auf Geheiß des Landesherrn gemildert wurde. Begnadigen bedeutet, dass das Reservatrecht des Landesherrn die Gesetze im Allgemeinen und die Gerichtsurteile im Besonderen aussticht. Von einer Untersuchung der Gnadenakte kann man weitaus mehr und differenziertere Rückschlüsse auf die Herrschaftspraxis und das Herrschaftsverständnis erwarten, als dies bei den abgewiesenen Gnadenbitten der Fall ist. Theoretisch würde es sich zwar anbieten, auch eine antithetische Beweisführung anzutreten – also der Frage nachzugehen, unter welchen Umständen eine Begnadigung nicht gewährt wurde –, um daraus Rückschlüsse auf Bedingungen für eine Begnadigung zu ziehen. Die Gnadenpraxis zeigt jedoch, dass den Akten im Falle einer Ablehnung in der Regel keine Begründung zu entnehmen ist. Lediglich in
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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den Fällen, in denen Supplikationen noch während des laufenden Prozesses eingereicht wurden, werden die Supplikanten und Supplikantinnen in dem ablehnenden Dekret darauf verwiesen, dass ihr Anliegen nicht entschieden werden konnte, da sie das Erkenntnis und die Anerkennung desselben durch die angeklagte Person abzuwarten hätten.191 Folglich lässt sich an diesen Fällen lediglich beobachten, dass an dem Grundsatz, in schwebende Verfahren nicht im Wege der Gnade einzugreifen, in der Gnadenpraxis festgehalten wurde; darüber hinaus bieten diese Fälle aber keine weiteren Hinweise zu Kriterien der Begnadigung. Betrachtet man die übrigen negativ beschiedenen Gnadenfälle, so liest man in einem Dekret zu einer abgewiesenen Mediatsupplikation, dass es bei dem „einmal ergangenen Urteil sein Verbleiben“ habe.192 Wurde eine Gnadenbitte immediat abgelehnt, so wird dies im Dekret explizit erwähnt, etwa in dem Sinne, dass „Höchstdieselben“ die darin nachgesuchte Bitte „zu bewilligen nicht geruhet haben“ und „es bey der von Seiner Königlichen Majestät bestätigten Sentenz sein Bewenden habe“193; oder dass „Höchstdieselben“ befohlen haben, die Supplik „abzuweisen“, „welches hiermit zum Bescheid gegeben wird“.194 In der Regel wurde die Ablehnung nicht begründet, nur in einigen wenigen Fällen kann man der Akte entnehmen, dass die vom Supplizierenden vorgetragenen Milderungsgründe angeblich bereits im Urteil berücksichtigt worden seien und daher die Gnadenbitte abgelehnt werde.195 Mitunter wurde als Begründung hinzugefügt, dass die Strafe „wohl ver191 Ein Verfahren galt solange als nicht abgeschlossen, bis die Urteilsverkündung in erster oder zweiter Instanz vorlag und von der angeklagten Person akzeptiert wurde, d. h. bis diese formal die Möglichkeit ausgeschlossen hat, in Appellation zu gehen. Beispielhaft vgl. Dekrete über abgelehnte Gnadenbitten des Brotherrn Carita und der Mutter Wagner vom 27. August 1792, 10. September 1792, 24. September 1792 / Fallakte Adolph Friedrich Wagner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.059. 192 Beispielhaft zit. aus: Dekret über abgelehnte Gnadenbitte der Ehefrau Valentin vom 30. Januar 1789 und vgl. erneute Verweise auf diese Entscheidung in den folgenden Dekreten über abgelehnte Gnadenbitten vom 5. Februar 1790, 4. Oktober 1790, 20. Dezember 1790, 26. September 1791, 23. April 1792, 25. Juni 1792 / Fallakte Friedrich Valentin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 193 Beispielhaft zit. aus: Dekret über abgelehnte Gnadenbitte vom 17. Juli 1797 und 17. August 1795 und vgl. Suppliken der Mutter und des Vaters Schäfer vom 14. August 1795 und o. D. [ca. 7. Juli 1797] / Fallakte Heinrich Schäfer (intus: Tescher, Bergmüller, Reichert); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241. 194 Beispielhaft zit. aus: Dekret (Ausfertigung) über abgelehnte Gnadenbitte der Ehefrau Freudenberg vom 1. September 1788 / Fallakte Gottfried Freudenberg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 405. Dieses Dekret ist das einzige, welches nicht nur als Konzept, sondern auch als Ausfertigung vorliegt, da es der Adressatin, der Supplikantin Freudenberg, nicht zugestellt werden konnte und daher an die Kanzlei zurückgesandt wurde und dort Eingang in die Akte fand. Der Vergleich mit dem dazugehörigen revidierten Konzept belegt, dass der Text wortgetreu übernommen wurde – vgl. Dekret (revidiertes Konzept) über abgelehnte Gnadenbitte der Ehefrau Freudenberg vom 1. September 1788 / Fallakte Gottfried Freudenberg; in: ebd., fol. 404. 195 Z. B. machte die Ehefrau Ronneburg geltend, dass ihr Nachbar aufgrund eines Unfalls im Rahmen einer Schlägerei zu Tode kam, ihr Ehemann jedoch daran unschuldig sei – vgl.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
dient“ sei.196 Nähere Begründungen für die Verwehrung von Gnade, in der die spezifischen Umstände eines Falles angemessen berücksichtigt wären, sind indes nicht zu finden.197 Ohne weitergehende Informationen sind Gnadenfälle, in denen die Bitten der supplizierenden Männer und Frauen abgelehnt wurden, zu fallspezifisch, als dass mit ihnen geklärt werden könnte, warum hier eine Begnadigung verwehrt wurde, obwohl die Umstände durchaus mit jenen in positiv beschiedenen Fällen vergleichbar waren.198 Man kann lediglich spekulieren, dass in diesen FälSupplik der Ehefrau Ronneburg vom 12. März 1788 und vgl. Immediatbericht vom 18. März 1788 und das darauf ergangene Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Kabinettsorder vom 19. März 1788 sowie das Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 21. März 1788 / Fallakte Johann Christian Ronneburg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 415 – 417. 196 Zit. aus: Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution auf der Grundlage einer Kabinettsorder vom 22. Januar 1787 / Fallakte Johann Friedrich Schlieck; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053 und vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution auf der Grundlage einer Kabinettsorder vom 16. März 1787 / Fallakte Carl Friedrich Laffert; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. 197 Auch Harriet Rudolph stellt für Osnabrück fest, dass die Verwehrung von Gnade – mit Ausnahme des von ihr untersuchten Fallbeispiels – nicht begründet wurde – vgl. Rudolph 2005, S. 446 f. 198 Z. B. ist nicht ersichtlich, warum man dem schwer erkrankten Matthias Dunckert van der Hoff die wegen Hehlerei verhängte einjährige Festungs- nicht in eine Gefängnisstrafe umwandelte, während dies Maria Amelang aus eben denselben Gründen zugestanden wurde – vgl. Supplik des Dunckert in eigener Sache vom 26. November 1793; Bericht der Stadtgerichte vom 11. Dezember 1793; Dekret über abgelehnte Gnadenbitte vom 23. Dezember 1793 / Fallakte Matthias Dunckert van der Hoff; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.059 und vgl. Fürsprache des Justizamts Alt-Ruppin vom 18. April 1788; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 5. Mai 1788 / Fallakte Maria Amelang; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.054. Auch dem Buchhändler Johann Philip Baum gewährte man die mehrfach erbetene Umwandlung der zweimonatigen Gefängnisstrafe in eine Geldbuße nicht: Baum war wegen einer angeblichen Falschaussage als Zeuge eines strittigen Pferdekaufs des „verdächtigen Meineits“ überführt worden. Er machte geltend, dass die Falschaussage auf ein Missverständnis des Protokollführers zurückgehe, denn schließlich habe man ihm den Meineid nicht beweisen können. In anderen Fällen führte indes die angebliche Unschuld bzw. die letztlich nicht nachweisbare Schuld sehr wohl zu einer Umwandlung der Gefängnisstrafe in eine Geldbuße – vgl. Suppliken des Baum in eigener Sache vom 11. Dezember 1787, 14. Januar 1788 und 9. Februar 1788 sowie die darauf ergangenen Dekrete über die abgelehnten Gnadenbitten vom 28. Dezember 1787, 21. Januar 1788 und 4. April 1788. Vgl. dazu beispielhaft Gnadenfälle mit gewährter Umwandlung einer Gefängnisstrafe in eine Geldbuße [s. C.II.5.b)]: Fallakte Witwe Schultzin und Invalide Trips; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.063 und Fallakte Johann Friedrich Goetschmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. Man könnte zwar die Ablehnung der Baumschen Gnadenbitte damit begründen, dass dem Urteil ein höheres Strafmaß – nämlich zwei Monate Gefängnis – als den zuletzt genannten Fällen – nämlich acht resp. zehn Tage Gefängnis – zugrunde lag; so ist dennoch nicht zu erklären, warum man Christiane Westphalen die Umwandlung einer achttägigen Gefängnisstrafe wegen Beleidigung in eine Geldbuße versagte – vgl. Supplik der Westphalen in eigener Sache vom 9. November 1791 und das darauf ergangene Dekret über die abgelehnte Gnadenbitte vom 14. November 1791 / Fallakte Christiane Westphalen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. Unklar bleibt u. a. auch, warum man dem ernsthaft erkrankten David Friedrich Schäfer die Zwangsarbeit nicht erließ, obwohl ihm ein
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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len die gnadenwürdigen Gründe für eine Strafmilderung nicht ausreichten bzw. dass die Bewertung des Vergehens durch das Gericht wirkungsmächtiger war als alle Beteuerungen der Supplizierenden. Aus diesem Grund wird hier darauf verzichtet, Gnadenfälle, in denen Begnadigungen gewährt wurden, mit jenen zu vergleichen, in denen erbetene Strafmilderungen abgelehnt wurden. Die Untersuchung zeigt, dass unter Begnadigung eine Vielzahl unterschiedlicher Formen von Strafmilderung verstanden wurde. Die Gnadenpraxis Ende des 18. Jahrhunderts griff auf ein breites Spektrum von Begnadigungsformen zurück. Aufgrund dieses Befundes und im Hinblick auf den Stand der Forschung zur Supplikations- und Gnadenpraxis, die sich – wohl in Ermangelung einer diesbezüglich aussagekräftigen Quellenbasis – bislang nicht systematisch mit Formen der Begnadigung auseinandergesetzt hat, liegt ein Schwerpunkt dieser Untersuchung darauf, das Spektrum an Formen der Begnadigung auszuloten [s. C.II.1. – 7., C.III.1.]. Um eine Begnadigung in ihrer Bedeutung ermessen zu können, muss ihre Qualität berücksichtigt werden: Dies bedeutet zum einen, den absoluten Umfang der Strafmilderung festzustellen, und zum zweiten, diesen in Korrelation zum gerichtlichen Erkenntnis zu setzen – denn es ist ein Unterschied, ob einer verurteilten Person beispielsweise der Arrest von wenigen Wochen oder gar von Jahren erlassen wurde und ob damit auf den Vollzug fast der gesamten Strafe verzichtet wurde oder ob sich die Milderung lediglich auf einen Bruchteil der Strafdauer belief. Auch gilt es zu prüfen, ob mit der Begnadigung der inhaltlichen Zielsetzung der Gnadenbitte entsprochen wurde oder ob eine weniger weitgehende Begnadigung verfügt wurde als jene, um die der Supplikant bat. Bei der Analyse der positiv beschiedenen Gnadenfälle wird, soweit es die Quellen erlauben, den Begründungen für Begnadigungen nachgespürt, um herauszufinden, unter welchen Umständen begnadigt wurde. Aufschluss darüber ist von den Gnadendekreten in Form von Kabinettsordern und Resolutionen, von den Stellungnahmen der Gerichte, den Immediatberichten des Justizministers und den Weisungen des Justizdepartements an die Gerichte und Strafvollzugsanstalten zu erwarten. Darüber hinaus weisen zahlreiche Fälle besondere Umstände auf, welche auch die Gnadenprüfung beschäftigte, und von denen hier deshalb angenommen wird, dass sie die Entscheidung beeinflussten. Hinweise darauf sind weniger den Dokumenten obrigkeitlicher Provenienz als vielmehr den Suppliken und den in ihrem Anhang städtischer Chirurgus eine Arbeitsunfähigkeit aufgrund heftiger Magenkrämpfe mit Blutauswurf attestierte und der Schneidermeister Schäfer nicht etwa um Erlass oder Strafverkürzung seiner dreimonatigen Festungsstrafe bat, sondern lediglich darum, von der schweren körperlichen Arbeit auf der Festung ausgenommen zu werden – vgl. Supplik des Schäfer in eigener Sache vom 19. Mai 1796 und das darauf ergangene Dekret über die abgelehnte Gnadenbitte vom 23. Mai 1796 / Fallakte David Friedrich Schäfer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.986. Anderen erkrankten Verurteilten wurde hingegen die Strafe aus gesundheitlichen Gründen gänzlich erlassen [s. C.II.1.e)]; anderen wiederum wurde zumindest die Festungs- bzw. Zuchthausstrafe in eine Gefängnisstrafe umgewandelt [s. C.II.5.a)bb)] oder aber sie wurden bis zur Genesung freigelassen [s. C.II.6.c)].
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befindlichen Zeugnissen und Attesten zu entnehmen. Die obrigkeitliche Rechtfertigung von Gnadenentscheidungen ist danach zu befragen, welche Gründe zu einer Begnadigung führen konnten. Als Quellengrundlage dienen hierbei die bereits erwähnten 272 Fallakten mit insgesamt 693 Gnadenbitten in Form von Suppliken (insg. 665 Gnadenbitten in Form von Suppliken) und Fürsprachen aus dem Justizapparat (insg. 28 Fürbitten), in denen insgesamt 134 positiv beschiedene Gnadenakte dokumentiert sind.199
1. „Gäntzliche Begnadigung verdient“200 – Verzicht auf Bestrafung Der gänzliche Straferlass ist eine besonders hohe Gunst, weil von einer obrigkeitlichen Sanktionierung gnadenhalber abgesehen wird: Obwohl das Gericht die Person strafrechtlich für schuldig befand und gegen sie ein rechtskräftiges Urteil verhängt hatte, wurde auf dessen Vollzug verzichtet. Der Verzicht auf Bestrafung stellt allerdings mit rund 8,2 Prozent in der Gnadenpraxis eher eine weniger häufige Erscheinung dar: Von den 134 gewährten Gnadenakten wurde in nur 11 Fällen auf eine Strafe verzichtet; davon gingen neun Begnadigungen auf Friedrich Wilhelm II. zurück; die übrigen zwei Gnadenakte wurden kurz nach dem Regierungsantritt von Friedrich Wilhelm III. gewährt. Bei dieser Form der Begnadigung gilt es zu berücksichtigen, dass es sich bei den erlassenen Strafen um unterschiedliche Formen mit jeweils anderem Strafmaß handelt: So wurde in sechs Fällen eine Festungs- bzw. Zuchthausstrafe erlassen, in drei Fällen eine Gefängnisstrafe und in zwei Fällen eine Geldbuße. Bei Festungsbzw. Zuchthausstrafen reichte der Umfang der erlassenen Strafe von sechs Wochen bis zu zwei Jahren und bei Gefängnis von 14 Tagen bis zu sechs Wochen; die erlassenen Geldbußen lagen in der Höhe von fünf bis 40 Reichstalern. Die Spanne 199 Als Gnadenakte werden hier ausschließlich Entscheidungen in Gnadensachen bezeichnet, die Begnadigungen per Dekret gewährten. Erläuterung zur Zählung der 134 Gnadenakte: Zu den Gnadenakten wurden auch solche gezählt, die von Friedrich Wilhelm III. bewilligt wurden, wenn der Gnadenfall bereits zur Zeit der Regierung von Friedrich Wilhelm II. verhandelt wurde [zur Begründung s. Einleitung / Quellengrundlage]. Dokumentiert eine Fallakte die Prozesse und die Gnadenfälle mehrerer Personen – z. B. bei einem gemeinsam begangenen Delikt –, so wurden, wie bereits erläutert [s. Einführung zu B.], die Gnadenfälle und somit auch die gewährten Gnadendekrete einzeln gezählt. Sah ein Gnadendekret Strafmilderung für mehrere Personen vor – z. B. als Antwort auf eine Kollektivsupplik mehrerer Supplikanten für mehrere angeklagte bzw. verurteilte Personen –, so wurde jede Strafmilderung einzeln gezählt. Ebenfalls mehrfach gezählt sind Fälle, in denen die Strafe einer verurteilten Person mehrfach gemildert wurde – so wurde eine verurteilte Person z. B. von der Todesstrafe begnadigt und ein Jahrzehnt später aus dem Zuchthaus freigelassen; oder ihr wurde z. B. die Umwandlung einer Festungs- in eine Gefängnisstrafe gewährt und aufgrund einer erneuten Gnadenbitte ein wöchentlicher Ausgang bewilligt. Zur Erläuterung der Begriffe Fallakte und Gnadenbitte s. Einführung zu B. 200 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 29. Juli 1798 / Fallakte Elisabeth Kleinecke, verehel. Gelbken; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956.
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zeigt, dass beim Verzicht auf Bestrafung die Qualität bzw. der Umfang der Begnadigung stark variieren konnte. a) General-Pardon Beim General-Pardon vergab der Monarch, wie schon die Bezeichnung verrät, den Delinquenten ihre Schuld und sprach damit zugleich das vorzeitige Ende der Strafe aus. Aus einem meist feierlichen Anlass begnadigte der Monarch mit einem General-Pardon pauschal alle verurteilten Männer und Frauen, die sich wegen eines konkreten Delikts vor Gericht zu verantworten oder eine bestimmte Strafe zu absolvieren hatten. Der General-Pardon ging damit auf die Initiative des Monarchen selbst zurück und erforderte nicht notwendigerweise eine Supplikation oder eine Fürsprache, wenngleich eine solche insofern hilfreich war, als sie auf den jeweiligen Fall aufmerksam machte. Die Akten weisen zwei Fälle auf, in denen die Strafe aufgrund eines GeneralPardon erlassen wurde: Einmal ging der General-Pardon auf Friedrich Wilhelm II. zurück, einmal auf dessen Thronfolger, Friedrich Wilhelm III. Anlässlich seines Regierungsantritts versprach Friedrich Wilhelm II. 1786 allen ausgetretenen Untertanen, die der Strafverfolgung durch Flucht ins Ausland zu entgehen versucht hatten, eine straffreie Rückkehr in die Heimat.201 Der Landesherr hatte ein Interesse daran, seine Untertanen wieder zurück zu gewinnen, damit sie ihre Wirtschaft wieder aufbauten – zumal er ihrer Dankbarkeit für den Gnadenerweis gewiss sein konnte. So war Catharina Marie Grothin 1786 wegen Diebstahls zu zwei Jahren Zuchthausarbeit, zu der eine Prügelstrafe in Form eines Willkommens und Abschieds hinzukam, verurteilt worden. Bevor man sie nach Spandau überstellen konnte, hatte sie sich jedoch aus dem Untersuchungsgefängnis in Alt-Ruppin mit eigener Kraft befreien können und war laut eigener Aussage nach Sachsen geflohen, um sich der drohenden Haftstrafe zu entziehen.202 In ihrer zweiten (nicht überlieferten) Supplik gab die Flüchtige offenbar vor, wieder reumütig nach Berlin zurückkehren zu wollen, und fragte an, ob der General-Pardon auch für sie Geltung habe.203 Friedrich Wilhelm II. wies das Gericht an, „die Supplicantin darauf mit gebührender Resolution zu versehen“.204 Der neue Monarch war in Fragen des Geschäftsgangs offensichtlich noch nicht versiert, denn mit der Weisung an das 201 Vgl. General-Pardon vom 4. Oktober 1786; abgedruckt in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LVII, Sp. 189 – 190. 202 Vgl. erste Supplik der Grothin in eigener Sache vom 14. Oktober 1786 / Fallakte Catharina Marie Grothin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. 203 Es fehlt zwar die zweite Supplik der Grothin in eigener Sache vom 3. November 1786, doch aus dem darauf folgenden Schreiben lässt sich ihr Inhalt weitgehend rekonstruieren – vgl. Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 6. November 1786 / Fallakte Catharina Marie Grothin; in: ebd. 204 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 6. November 1786 / Fallakte Catharina Marie Grothin; in: ebd.
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Gericht überging er den Justizminister. Bei diesem mehrdeutig formulierten Befehl vermisst man zudem den klaren, unmissverständlichen Stil, dessen sich Friedrich Wilhelm in den Kabinettsordern seiner späteren Regierungsjahre bedienen sollte. So bleibt zunächst unklar, was er unter „gebührend“ verstand; der Kontext gibt allerdings her, dass er sich damit offensichtlich für eine Begnadigung von Catharina Marie Grothin aussprach. Der Instruktionssenat war sich dieser Interpretation indes nicht sicher und verlangte eine eindeutige Willensbekundung.205 So blieb die Gnadenbotschaft vorerst im Getriebe der Bürokratie hängen, was die Supplikantin dazu veranlasste, nach zwei Monaten nochmals anzufragen.206 Nun griff der Justizminister ein, ließ sich die Begnadigung im Justizdepartement bzw. im Geheimen Rat kollegial genehmigen und informierte das Kammergericht: „( . . . ) daß die Inquisitin Catharine Marie Roehlen verehelichte Grothen zu Neu Ruppin begnadiget und ihr die zweyjährige Zuchthausstrafe erlaßen werden solle.“207
Catharina Marie Grothin sollte jedoch nicht in den Genuss dieses großzügigen Straferlasses kommen. Ihre Begnadigung wurde nämlich zurückgezogen, als bekannt wurde, dass sie erneut straffällig geworden war: Unter falschem Namen hatte sie sich eine monatliche Pension „böslich“ erschlichen.208 Zudem ergaben Recherchen des Generaldirektoriums, dass Catharina Marie Grothin nach ihrer Flucht aus dem Alt-Ruppiner Untersuchungsgefängnis Berlin nie verlassen hatte.209 Folglich hatte sie das Gericht hinsichtlich ihres Aufenthaltsortes angelogen, um als ausgetretene Untertanin in den Genuss des General-Pardons zu kommen. Ohne dass der Monarch in dieser Angelegenheit konsultiert wurde, entschied das Justizdepartement, dass die Begnadigung, welche der Grothin zuteil werden sollte, angesichts dieser neuen Sachlage „unwircksam sey, und ihr nicht zu statten kommen könne“.210 Friedrich Wilhelms III. wählte eine andere Form des General-Pardon anlässlich seiner Thronbesteigung: Anders als sein Vorgänger schränkte er den für eine Begnadigung in Frage kommenden Kreis an Delinquenten nicht ein, sondern ließ sich 205 Vgl. Anfrage des Instruktionssenats vom 16. November 1786 / Fallakte Catharina Marie Grothin; in: ebd. 206 Auch diese Supplik ist nicht überliefert, ihr Inhalt lässt sich jedoch aus dem Kontext der Akte weitgehend rekonstruieren – vgl. Anfragen des Instruktionssenats vom 16. November 1786 und 4. Januar 1787 / Fallakte Catharina Marie Grothin; in: ebd. 207 Gnadendekret in Form einer Resolution vom 15. Januar 1787 / Fallakte Catharina Marie Grothin; in: ebd. 208 Zit. aus: Bericht des Justizamts Alt-Ruppin vom 2. Februar 1787; vgl. Bericht des Generaldirektoriums vom 7. Februar 1787 / Fallakte Catharina Marie Grothin; in: ebd. 209 Vgl. Bericht des Generaldirektoriums vom 7. Februar 1787 / Fallakte Catharina Marie Grothin; in: ebd. 210 Zit. aus: Schreiben des Justizdepartements an das Generaldirektorium vom 19. Februar 1787 / Fallakte Catharina Marie Grothin; in: ebd. Obgleich der General-Pardon in diesem Fall nicht wirksam wurde, wird dieser Fall dennoch unter den gewährten Gnadenakten geführt, da die Delinquentin formal gesehen zunächst begnadigt wurde.
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vom Justizdepartement in Abstimmung mit den Gerichten eine Liste Gnadenwürdiger zusammenstellen und entschied im Einzelfall. Die Ehefrau Krause war – zusammen mit ihrem Ehemann – wegen Fälschung eines Schuldscheins zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt worden [s. C.II.6.b)].211 Bevor ihr Mann aus der Festung entlassen wurde und sie ihre Strafe antreten sollte, reichte sie eine Supplik mit der Bitte ein, man möge ihr das Zuchthaus erlassen, da sie vier kleine Kinder zu versorgen hätte, wovon das jüngste noch gestillt würde.212 Die Supplik wurde offenbar beim Kammergericht abgegeben. Auf ihr notierte Kammergerichtspräsident Kircheisen den an Justizminister v. Goldbeck gerichteten Vermerk: „Ist in der Liste notiret“.213 Mit Blick auf den General-Pardon wurden die Namen der Verurteilten, welche die Richter einer Begnadigung für würdig befanden, in einer Liste vermerkt, damit sie daraufhin vom Justizminister geprüft wurden [s. C.III.2.e)].214 Auch wenn die Akte Krause an dieser Stelle abbricht und kein diesbezügliches Gnadendekret enthält, so ist davon auszugehen, dass die Ehefrau Krause tatsächlich in den Genuss des Straferlasses kam. Denn bei massenhaft gewährten Begnadigungen in Form von General-Pardons war es durchaus üblich, sie in einem Vorgang gesammelt zu bearbeiten, ohne dass der Ausgang der Angelegenheit in jeder Einzelfallakte entsprechend vermerkt wurde. Die Frage, warum die Ehefrau Krause als gnadenwürdig angesehen wurde, bleibt allerdings Spekulation – vielleicht lag es daran, dass der Ehemann für die gemeinsam begangene Tat bereits eine Strafe abgebüßt hatte, eventuell gab die Versorgung der kleinen Kinder, vor allem die des Säuglings, einen weiteren Anlass zur Milde. Fest steht, dass ein General-Pardon, mit dem eine größere Anzahl Verurteilter freigelassen wurde, in der Logik patriarchaler Herrschaftspraxis begründet lag. Ein General-Pardon strahlte ein hohes Maß an Symbolkraft aus: Der Monarch führte sich damit bei seinen Untertanen als ein Herrscher ein, der gütig war und verzeihen konnte. b) Vergebung der Geschädigten Nicht nur der Monarch konnte Schuld vergeben. Außer ihm konnten auch Personen, denen durch die Verurteilten konkretes Unrecht – hier zumeist Ehrverletzungen, teilweise verbunden mit materiellen Einbußen – widerfahren waren, eine Vergebung mit mittelbar strafmildernder Wirkung aussprechen. Wurde einem Verurteilten die Schuld von der geschädigten Partei vergeben, so trug dies maßgeblich 211 Vgl. Supplik der Ehefrau Krause für das Ehepaar vom 4. Oktober 1797 und Gnadendekret in Form einer Resolution vom 16. Oktober 1797 / Fallakte Eheleute Krause; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220. 212 Vgl. Supplik der Ehefrau Krause in eigener Sache vom 4. Februar 1798 / Fallakte Eheleute Krause; in: ebd. 213 Gnadendekret in Form eines Marginalvermerks o. D. auf der Supplik der Ehefrau Krause in eigener Sache vom 4. Februar 1798 / Fallakte Eheleute Krause; in: ebd. 214 Zur Prüfung der 2.179 für eine Begnadigung in Frage kommenden Fälle wurde eigens eine Kommission eingerichtet – vgl. Klein 1798 / 17. Bd., S. 161.
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zu dessen Gnadenwürdigkeit bei und wurde von den obrigkeitlichen Akteuren entsprechend strafmildernd honoriert. In vier Fällen gab die Vergebung der Geschädigten den Ausschlag für die Begnadigung. Diese Möglichkeit eröffnete sich vor allem beim Delikt Injuria, da es sich hierbei um eine Störung des Zusammenlebens im sozialen Umfeld handelte. Oftmals gelangten derartige Angelegenheiten nicht bis vor das Gericht, sondern wurden im sozialen Umfeld geregelt. Wurde die persönliche Ehre jedoch stark verletzt, so erhoffte sich der Beleidigte von einer Klage gegen seinen Widersacher eine öffentliche Wiedergutmachung. Kam es außergerichtlich zu einer friedlichen Einigung der beiden Parteien, so konnte dies im Wege der Gnade honoriert werden.215 Zum Beispiel wurde der Hofmaurermeister Böhme zu sechs Wochen Gefängnis und einer öffentlichen Abbitte verurteilt, weil er die Ehefrau des Ingenieurmajors v. Borghesi als „Maitresse“ beleidigt hatte.216 Die Ehefrau Böhme bat in einer Supplik, die Haftstrafe ihres Mannes in eine Geldbuße umzuwandeln, da sowohl sie als Kranke als auch ihre acht Kinder seiner Fürsorge bedurften und er zudem in der Wirtschaft unabkömmlich sei.217 Ihren Argumenten wurde indes keine Beachtung geschenkt [s. B.I.2.]; allerdings wurde sie in der Resolution darauf hingewiesen, dass eine Chance auf Begnadigung bestünde: „( . . . ) wenn die Supplicantin den p[raedictus] von Borghese zu Intercession zu vermögen im Stande ist“.218
Diesem Rat folgend überredete das Ehepaar Böhme den beleidigten Adligen, sich für Böhme zu verwenden: „( . . . ) da ich überzeugt bin, daß er [Böhme] sich der bereits erlittenen strafe zu einer Warnung für die Zukunft dienen laßen wird.“219
Die Bitte des Ingenieurmajors um Freilassung Böhmes wurde zusammen mit der Einschätzung, dass bereits der Untersuchungsarrest Böhme eine Mahnung sei, im Sinne einer Vergebung verstanden. Darauf erging die von den Geheimen Räten unterstützte Weisung des Justizministers v. Goldbeck, Böhme „sofort des Arrestes zu entlaßen“.220 Dies ersparte Böhme die sechswöchige Gefängnisstrafe, die dem Untersuchungsarrest hätte folgen sollen. Auch im Fall von Johann August Sist bewirkte eine Supplikation des Geschädigten den Straferlass: Der Barbierlehrbursche wurde wegen einer Realinjurie gegen215 Diese Beobachtung macht Cecilia Nubola auch für die Gnadenpraxis in Italien im 16. Jh.: Der Friedensschluss zwischen Straftätern galt unter Cosimo I. als gnadenwürdiger Grund – auch für Kapitalvergehen wie bspw. Mord – vgl. Nubola 2005, S. 82 – 84. 216 Dies geht aus der Supplik der Ehefrau Böhme hervor – vgl. erste Supplik der Ehefrau Böhme vom 5. Januar 1792 / Fallakte Böhme; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 217 Vgl. erste Supplik der Ehefrau Böhme vom 5. Januar 1792 / Fallakte Böhme; in: ebd. 218 Dekret in Form einer Resolution vom 9. Januar 1792 / Fallakte Böhme; in: ebd. 219 Supplik des v. Borghesi vom 22. Januar 1792 / Fallakte Böhme; in: ebd. 220 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 30. Januar 1792 / Fallakte Böhme; in: ebd.
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über seinem Vater zu vier Wochen Gefängnis verurteilt.221 Bevor er seine Strafe antrat, bat sein Vater um deren Niederschlagung. Er begründete dies damit, dass er an seinem Sohn eine tiefe Reue wahrnehme und ihm deshalb die Handgreiflichkeiten verzeihe; zudem müsse er selbst „sehr krank an der Waßersucht darnieder liegen“ und bedürfe der Pflege seines Sohnes.222 Der Justizminister begnügte sich nicht mit dieser Aussage, sondern wollte die Behauptungen durch die Stadtgerichte verifiziert wissen. Nach Rücksprache mit dem Vater bestätigten die Richter nicht nur die Bereitschaft, seinem Sohn zu verzeihen, sondern auch den kritischen Gesundheitszustand.223 Zudem gaben die Richter zu Bedenken, dass Johann August Sist seine Barbierlehre als ehemaliger Häftling nicht zu Ende führen könne – was allerdings in dieser Weise nicht zutraf.224 Die Stadtgerichte plädierten daher für einen Straferlass, empfahlen jedoch eine Züchtigung als Warnung. Diesem Rat folgte v. Goldbeck und hob die Gefängnisstrafe unter folgender Bedingung auf: „( . . . ) jedoch ist es Unser Wille, daß er mit 12 Peitschen-Hieben, wegen dieses seines sträflichen Vergehens gezüchtiget und mit einer ernstlichen Ermahnung zu Beßerung entlaßen werden soll.“225
Die Vergebung der Geschädigten – die zumeist, wie im Fall von Sist und v. Borghesi, auch die Kläger waren – war den obrigkeitlichen Akteuren eine hinreichende Begründung, um auf Strafmaßnahmen zu verzichten und stattdessen den Konflikt im sozialen Umfeld lösen zu lassen.226 Dennoch sollte die verurteilte Person eine Warnung erhalten, die durch ermahnende Worte und teilweise auch mit einer 221 Vgl. Bericht der Stadtgerichte vom 20. Dezember 1792 / Fallakte Johann August Sist; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 222 Zit. aus: Supplik des Vaters Sist vom 13. November 1792 / Fallakte Johann August Sist; in: ebd. 223 Vgl. Bericht der Stadtgerichte vom 20. Dezember 1792 / Fallakte Johann August Sist; in: ebd. 224 So gab es einige Supplikationen für Lehrburschen, in denen mit derselben Argumentation um eine Umwandlung der verhängten Festungs- in eine Gefängnishaft gebeten wurde; zum Teil machten die Brotherren die Fortbeschäftigung ihrer Lehrburschen davon abhängig, dass sie „nur“ mit einer Gefängnisstrafe belegt würden [s. C.II.5.a)aa)] – vgl. Supplik des Vaters Glaser vom 15. März 1797 / Fallakte Carl Ludwig Glaser; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.065; Supplik der Brotherren Friedrich und Liebrecht vom 23. März 1787 / Fallakte Guiremann (intus: Treptow); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053; Suppliken des Brotherrn Carita vom 20. August 1792 und o. D. [ca. Ende August 1792] / Fallakte Adolph Friedrich Wagner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.059. 225 Gnadendekret in Form einer Resolution vom 31. Dezember 1792 / Fallakte Johann August Sist; in: ebd. 226 Auch im Fall der Marie Elisabeth Winkler wird die Tatsache, dass der Ehemann ihr die Veruntreuung des gemeinsamen Wirtschaftsgeldes verziehen habe und „dieselbe wieder zu sich genommen“ habe, im Bericht der Stadtgerichte als gnadenwürdiger Aspekt ausdrücklich erwähnt [s. C.I.2.d)] – vgl. Fürsprache der Stadtgerichte vom 12. Oktober 1797; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 23. Oktober 1797 / Fallakte Marie Elisabeth Winkler; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220.
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Züchtigung in den Körper eingeschrieben wurde.227 Davon erhoffte sich der Justizminister, den vom Gesetzgeber intendierten Zweck der Strafe, nämlich die moralische Besserung des Straffälligen, zu erreichen. Dies diente außerdem dazu, die Macht des Landesherrn wirkungsvoll zu inszenieren: gnädig und strafend zugleich. c) Mangel an Beweisen Eine Strafe konnte auch dann erlassen werden, wenn dem Schuldspruch lediglich ein Verdacht zugrunde lag. Bei der Verurteilung handelte es sich aber keineswegs um einen Justizirrtum, vielmehr war bei bestimmten Delikten bereits der Tatverdacht gesetzlich unter Strafe gestellt. Zum Beispiel wurde Marie Magdalena Reinhardt ein Straferlass zugestanden, da ihre Verurteilung lediglich auf dem Verdacht eines Diebstahls basierte: Sie konnte nicht des Stoffdiebstahls überführt werden; ihr wurde lediglich die Absicht angelastet, ein Stück Kattun stehlen zu wollen, weshalb sie zu sechs Wochen Zuchthaus verurteilt wurde. Ihr Untersuchungsarrest belief sich auf über ein Jahr, weil sich die Klärung ihres Falles in die Länge gezogen hatte, und weil sie zudem einige Monate in der Charité verbringen musste, da sie sich auf dem Kalandshof mit der Krätze infiziert hatte – und Genesungszeiten wurden grundsätzlich nicht auf die Strafdauer angerechnet.228 Auslöser ihrer Begnadigung war die Supplikation ihres Vaters.229 Auf Anfrage des Justizministers plädierten die Stadtgerichte dafür, Marie Magdalena Reinhardt in Anbetracht ihrer geringen Schuld und der unglücklichen Umstände während des Untersuchungsarrests die „erkannte Strafe zu erlassen“.230 Der Justizminister folgte diesem Vorschlag und ließ nach kollegialer Abstimmung – ohne sich diese Entscheidung vom Monarchen genehmigen zu lassen – die Reinhardt „so fort“ auf freien Fuß setzen.231 227 Vergleichbar ist der Fall des Mediziners Schobelt, dem 40 Reichstaler Geldbuße auferlegt wurde, da er in seiner Funktion als Bürgermeister die Mitglieder des Magistrats zu Strasburg als „Spitzbuben“ und „Schelme“ beschimpft hatte. Er bat um Niederschlagung der Strafe, da er sich beruhigt habe. Das Uckermärkische Obergericht bestätigte, dass sich Schobelt seitdem als ein „ruhiger Einwohner der Stadt betragen“ und nun „in Frieden“ mit den Magistratsmitgliedern lebe. Damit sah das Gericht den Strafzweck als erfüllt an und empfahl die Begnadigung; diesem Rat folgte das Justizdepartement, nicht ohne Schobelt jedoch mündlich zu verwarnen – vgl. Supplik des Schobelt in eigener Sache vom 14. Dezember 1787; Bericht des Uckermärkischen Obergerichts vom 14. Januar 1788; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 28. Januar 1788 / Fallakte Schobelt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 228 Vgl. Bericht der Stadtgerichte vom 8. Februar 1797 / Fallakte Marie Magdalena Reinhardt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.077. 229 Vgl. Supplik des Vaters Reinhardt vom 3. Februar 1797 / Fallakte Marie Magdalena Reinhardt; in: ebd. 230 Zit. aus: Bericht der Stadtgerichte vom 8. Februar 1797 / Fallakte Marie Magdalena Reinhardt; in: ebd. 231 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 13. Februar 1797 / Fallakte Marie Magdalena Reinhardt; in: ebd.
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Im Fall des Pfandgebers Trips war die Beweislage ebenfalls unklar, denn auch er wurde auf der Grundlage von bloßen Verdachtsmomenten verurteilt: Er hatte ein gestohlenes Taftkleid und andere Kleidungsstücke in Zahlung genommen und wurde nun der Hehlerei verdächtigt. Ihm konnte indes nicht nachgewiesen werden, dass er darum wusste, dass es sich um Diebesgut handelte. Zur Verteidigung seiner Unschuld führte er an, dass die Anbieterin der gestohlenen Sachen, die Dienstmagd Garn, von ihrer Brotherrin, der Witwe Schultzin, bei ihm als „ehrliche Person“ eingeführt worden war. Aus Mangel an konkreten Beweisen wurde Trips zu nur acht Tagen anstelle von vier Wochen Gefängnis verurteilt.232 Trips wurde nicht müde, seine Unschuld zu beteuern, bis er die Gefängnisstrafe in eine Geldbuße umgewandelt bekam [s. C.II.5.b)bb)].233 Aber auch damit gab sich der Invalide Trips nicht zufrieden. Er führte in einer weiteren Supplik den erlittenen Verlust an, denn die gestohlenen Sachen hatte er wieder herausgeben müssen, ohne dass ihm die Pfandsumme erstattet wurde.234 Dieses Mal ging der Justizminister noch einen Schritt weiter: Mit kollegialer Zustimmung der Räte erließ er dem Pfandgeber Trips die Geldbuße und begründete die Begnadigung damit, dass Trips’ Verurteilung „nur auf eine Vermuthung sich gründet“.235 Somit ging Trips aus dieser Angelegenheit ohne jede Strafe hervor, nicht ohne jedoch „in pro futuro ernstlich“ verwarnt zu werden.236 Auch wenn die Gesetze vorsahen, dass im Fall von Diebstahl und Hehlerei auch auf Verdacht eine Strafe ergehen sollte, gab es offensichtlich Umstände, welche das Justizdepartement von der Unschuld der Angeklagten bzw. Verurteilten überzeugte, so dass darauf verzichtet wurde, die Strafe zu vollstrecken. d) Fehlender Vorsatz und Fahrlässigkeit Gänzlicher Straferlass war auch dann möglich, wenn die persönliche Schuld des Delinquenten an dem ihm zur Last gelegten Vergehen gering war. Dies konnte der Jägerbursche Ludewig Zimmermann in seinem Fall geltend machen, weil ihm keine Vorsätzlichkeit, sondern nur Fahrlässigkeit im Umgang mit einer Waffe vorgeworfen wurde: Zimmermann hatte sein Gewehr am Hauseingang unbeaufsichtigt stehen gelassen, währenddessen er im Haus beschäftigt war; ein Junge entwendete 232 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 30. Mai 1795] / Fallakte Invalide Trips (intus: Witwe Schultzin); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.063. 233 Bei der Umwandlung der achttägigen Gefängnisstrafe in eine Geldbuße in Höhe von fünf Reichstalern handelte es sich um eine übliche Maßnahme, die im Rahmen des Aushandelns von Strafe akzeptiert war [s. C.II.5.b)bb)] – vgl. Supplik des Trips in eigener Sache vom 14. Januar 1796 und Gnadendekret in Form einer Resolution vom 18. Januar 1796 / Fallakte Invalide Trips; in: ebd. 234 Die zweite Supplik des Trips in eigener Sache fehlt in den Akten, sie lässt sich aber anhand der übrigen Schreiben teilweise rekonstruieren – vgl. u. a. Weisung an die Stadtgerichte vom 8. Februar 1796 / Fallakte Invalide Trips; in: ebd. 235 Gnadendekret in Form einer Resolution vom 8. Februar 1796 / Fallakte Invalide Trips; in: ebd. 236 Zit. aus: Gnadendekret vom 8. Februar 1796 / Fallakte Invalide Trips; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
die Waffe und verletzte ein achtjähriges Mädchen tödlich. Auch wenn Ludewig Zimmermann kein Vorsatz nachgewiesen werden konnte, verurteilte ihn das Gericht in zweiter Instanz zu einer sechsmonatigen Festungsstrafe.237 Kurz bevor das Urteil gefällt wurde, wies Zimmermanns Mutter in einer Supplik auf die unglückliche Verkettung der Umstände hin, die zu dem tödlichen Unfall geführt hatte, und bat um Strafmilderung oder Straferlass.238 Die Supplik wurde Friedrich Wilhelm II. offenbar ohne begleitenden Immediatbericht des Justizministers überstellt. Den Monarchen schien die Darstellung der Supplikantin zu überzeugen, dass er – ganz gegen seine Gewohnheit – ohne zuvor die Meinung des Justizministers einzuholen, sogleich den Erlass der Strafe verfügte, allerdings unter der Bedingung zu prüfen, ob der von der Supplikantin geschilderte Hergang der Wahrheit entspreche.239 Dabei verfolgte der Gnadenträger eine erzieherische Absicht, denn er wollte den fahrlässig handelnden Jägerburschen verwarnt und zu größerer Umsicht ermahnt wissen.240 Auf Fahrlässigkeit und Unschuld in Verbindung mit geistiger Minderbemittelung gründete zum Beispiel die Begnadigung von Elisabeth Kleinecke. Sie hatte vor Jahren den Gerichtsdiener Gelbke geheiratet, verschwieg bei der Eheschließung jedoch, dass sie offiziell noch verheiratet war, und machte sich damit der Bigamie schuldig. Die Umstände milderten jedoch ihre Schuld:241 Ihr erster Ehemann war bereits vor acht Jahren „von ihr heimlich entlaufen“ und stand als „Trunkenbold und Wüterig“ in schlechtem Ruf. Sie hatte zudem eine glaubhafte, aber nicht zutreffende Nachricht erhalten, dass sich ihr erster Ehemann von ihr hatte scheiden lassen. Außerdem trug ein Dritter mit an der Schuld: Ein Heiratsvermittler hatte ihr geraten, bei der Eheschließung mit Gelbke ihre erste Ehe zu verschweigen. Diese Argumente reichten aus, ihre Unschuld vor Gericht weitgehend zu belegen. Auch wurde ihr nachgesehen, dass sie „nur geringe Verstandes-Fähigkeiten besitzt“, so dass sie offenbar nur als bedingt schuldfähig angesehen wurde. Hier wurde – vermutlich mit taktischer Absicht der Delinquentin – der Topos einer hilflosen, verlassenen Frau heraufbeschworen, welche sich ohne männliche Führung im Leben angeblich nicht behaupten konnte. Vergegenwärtigt man sich, wie Elisabeth Kleinecke ihre zweite Ehe eingefädelt hatte, so vermittelt dies ein ganz anderes Bild der Frau: Es muss sich vielmehr um eine Frau gehandelt haben, die keineswegs dumm war, und die wusste, was sie tat. Berücksichtigt man zudem die 237 Vgl. Annahme-Order in zweiter Instanz vom 29. März 1790 / Fallakte Ludewig Zimmermann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49. Lit. H, Paket 16.177, fol. 412. 238 Vgl. Supplik der Mutter Zimmermann vom 24. März 1790 / Fallakte Ludewig Zimmermann; in: ebd., fol. 414, 416. 239 Vgl. Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 1. April 1790 und Gnadendekret in Form einer Resolution vom 5. April 1790 / Fallakte Ludewig Zimmermann; in: ebd., fol. 413, 415. 240 Vgl. ebd. 241 Zit. aus: Rechtsgutachten in zweiter Instanz o. D. [ca. 28. Juni 1797] und zit. aus: Supplik der Kleinecke vom 6. Juli 1798 / Fallakte Elisabeth Kleinecke, verehel. Gelbken; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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Auswirkung, welche ihre angeblichen „geringen Verstandes-Fähigkeiten“ auf die Schuldfrage hatte, so drängt sich die These auf, dass sich Kleinecke vor Gericht bewusst auf diese Weise präsentiert hatte. Es ist letztlich unwichtig, inwieweit die Angeklagte das Bild von sich bewusst strategisch aufgebaut hatte; wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass es vor den obrigkeitlichen Akteuren Bestand hatte und einen Straferlass rechtfertigte. Die genannten Umstände trugen aus der Sicht des Ober-Appellationssenats zu einer Minderung von Kleineckes Schuld bei: Das Gericht reduzierte daher das in erster Instanz vorgesehene Strafmaß von drei Jahren Zuchthausarbeit auf ein Sechstel der Strafdauer.242 Als die Scheidung von Kleineckes erster Ehe offiziell bestätigt wurde, bevor das Urteil in zweiter Instanz gefällt wurde, nahm dies der Seehausener Bürgermeister Müller als gerichtlich bestellter Defensor für Elisabeth Kleinecke als Anlass zu supplizieren. Er übersandte die Scheidungsurkunde mit der Bitte, diesen Umstand – der Vorwurf der Bigamie war seiner Meinung nach mit der Scheidung nichtig – bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen. Er konnte allerdings nicht ahnen, dass das Urteil bereits am selben Tag bestätigt worden war.243 Elisabeth Kleinecke musste ihre Strafe nicht sofort antreten, da sie hochschwanger war. Als sie jedoch ein Jahr später zum Haftantritt aufgefordert wurde, bat sie in einer Supplik, die vermutlich auf des Bürgermeisters Ratschlag zustande kam, u. a. aus gesundheitlichen Gründen um Straferlass.244 Noch bevor ihre Bitte abschlägig beschieden wurde,245 setzte der Bürgermeister eine weitere Supplik auf. Darin stellte er taktisch geschickt Elisabeth Kleinecke als eine gut beleumundete, aber unwissende und hilflose Frau hin, die nicht vorsätzlich, sondern aus Unwissenheit fehlte, und die somit aus seiner Sicht für das Vergehen der Bigamie nicht voll haftbar gemacht werden konnte: Mit Rücksicht auf ihre „ganz entsezlichste Einfalt“ und ihre „Seelen und Körperschwäche“ solle man ihr eine Begnadigung gewähren, da „die Ohnglückliche, die nicht vorsätzlich fehlte“.246 Während Kleineckes Gesundheitszustand keine Begnadigung rechtfertigte, schienen dem Justizminister Müllers Argumente der verminderten Zurechnungsfähigkeit und der fehlende Vorsatz einzuleuchten.247 Obwohl der Ober-Appellationssenat dieselben 242 Vgl. Rechtsgutachten in erster Instanz o. D. [ca. 8. Dezember 1796] und Rechtsgutachten in zweiter Instanz o. D. [ca. 28. Juni 1797] / Fallakte Elisabeth Kleinecke; in: ebd. 243 Vgl. erste Supplik des Bürgermeisters Müller (nebst Abschrift der Scheidungsurkunde als Anhang) vom 3. Juli 1797 und Annahme-Order vom 3. Juli 1797 / Fallakte Elisabeth Kleinecke; in: ebd. 244 Vgl. Supplik der Kleinecke in eigener Sache vom 6. Juli 1798 / Fallakte Elisabeth Kleinecke; in: ebd. 245 Vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte vom 23. Juli 1798 / Fallakte Elisabeth Kleinecke; in: ebd. 246 Vgl. zweite Supplik des Bürgermeisters Müller vom 20. Juli 1798 / Fallakte Elisabeth Kleinecke; in: ebd. 247 Vgl. Aktenvermerk vom 26. Juli 1798 / Fallakte Elisabeth Kleinecke; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Umstände bereits in zweiter Instanz berücksichtigt und die gesetzlich vorgesehene Strafe erheblich herabgesetzt hatte, hinderte dies Friedrich Wilhelm III. nicht daran, sich der Meinung des Justizministers anzuschließen: „wegen des unter so besonderen Umständen begangenen Verbrechens der Bigamie“ habe Kleinecke „gäntzliche Begnadigung verdient.“248 Dass Müllers Supplik Wirkung zeigte, liegt vermutlich nicht nur an seiner Argumentation, sondern auch an seiner Person: Setzte sich ein Bürgermeister für eine verurteilte Person ein, dann war dies gleichbedeutend mit einem guten Leumundszeugnis, auch wenn dieser damit nur seiner Aufgabe als Defensor nachkam. Kleinecke und ihr zweiter Ehemann genossen offenbar einen guten Ruf in Seehausen, der dadurch gefördert wurde, dass Gelbke das Amt des Gerichtsdieners ausübte und dem Bürgermeister dadurch sicherlich persönlich bekannt war. Die hier aufgezeigten Beispiele zeigen, dass fehlender Vorsatz und Fahrlässigkeit ausreichten, um jemanden – zumindest in der ersten Instanz – ohne Berücksichtigung dieses Umstandes in vollem Maße schuldig zu sprechen und ihm die gesetzlich vorgesehene Strafe aufzuerlegen. Wurde dieser Umstand auch in zweiter Instanz nicht strafmildernd berücksichtigt, so bestand die Möglichkeit, dass dies im Wege der Gnade Beachtung fand. Wie die Beispiele belegen, konnte eine mit fehlendem Vorsatz und Fahrlässigkeit argumentierende Supplikation erfolgreich sein, so dass unter Umständen sogar ein gänzlicher Straferlass gewährt wurde. e) Kritischer Gesundheitszustand Der kritische Gesundheitszustand von Häftlingen diente mitunter auch als Begründung für einen Straferlass, wenngleich es auch zahlreiche Fälle gab, in denen Mediziner aus gesundheitlichen Gründen zur Entlassung rieten, diesem Rat jedoch nicht nachgekommen wurde.249 Marie Elisabeth Winkler kam in den Genuss des Straferlasses: Sie wurde zu vier Monaten Zuchthaus verurteilt, da sie, als sie ihren Mann verließ, Geld aus der Kasse des gemeinsam geführten Dorfkruges entnommen hatte [s. C.I.2.d)].250 Bereits im Untersuchungsarrest zeigte sich, dass ihr Gesundheitszustand äußerst kritisch war: Sie litt an asthmatischen Erstickungsanfällen und Gicht und war häufig ans Bett gefesselt. Im Gutachten des hinzugezogenen Chirurgus wurde Winkler als nicht haftfähig eingestuft, so dass die Stadtgerichte 248 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 29. Juli 1798 / Fallakte Elisabeth Kleinecke; in: ebd. 249 Beispielhaft vgl. Supplik des Georgi in eigener Sache vom 3. Januar 1796 und das darauf ergangene Dekret über die abgelehnte Gnadenbitte vom 11. Januar 1796 / Fallakte Georgi; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.203 und vgl. Supplik des Schäfer in eigener Sache vom 19. Mai 1796 und das darauf ergangene Dekret über die abgelehnte Gnadenbitte vom 23. Mai 1796 / Fallakte David Friedrich Schäfer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.986. 250 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 12. Juli 1797] / Fallakte Marie Elisabeth Winkler; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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eine Fürsprache verfassten, in der sie anfragten, ob in ihrem Fall nicht auf die Strafe verzichtet werde könne.251 Darüber hinaus führte das Gericht als strafmildernden Grund an, dass Winklers Ehemann ihr verziehen habe. Diese Umstände zusammen mit dem Plädoyer seitens des Gerichts genügten dem Justizminister und den Räten als Rechtfertigung, um Marie Elisabeth Winkler die viermonatige Haftstrafe ersatzlos zu ersparen.252 Ein Einverständnis des Monarchen war in einem solchen Fall offenbar nicht notwendig. Auch dem Pantoffelmachermeister Martin Friedrich Rabe wurde letztlich aus gesundheitlichen Gründen die Strafe erlassen. Da er seinen Jungmeister fälschlich beschuldigt und geschlagen hatte, sollte er ursprünglich 14 Tage Gefängnis erhalten. Vor seiner Verhaftung floh Rabe jedoch nach Sachsen und versuchte mit Hilfe von Supplikationen einen Straferlass zu erhalten.253 Er fand sich bereits nach rund drei Monaten wieder in Berlin ein, vermutlich weil sein Gesundheitszustand äußerst angegriffen war. In der Zwischenzeit war seine Wirtschaft ruiniert, so dass seine Familie Unterstützung vom Armen-Direktorium erhielt. Aufgrund seiner Armut konnte die Gefängnisstrafe nicht in eine Geldbuße umgewandelt werden; ein Arrest war aus gesundheitlichen Gründen ebenso wenig denkbar. Der Strafvollzug bot offenbar keine alternative Sanktion, es blieb allein der Straferlass als Begnadigungsform – „jedoch unter scharfer Verwarnung“.254
f) Resümee Gänzlicher Straferlass klingt zuerst nach einer weit reichenden Begnadigung, doch die Gnadenakte zeigen, dass diese Form der Begnadigung zum einen nicht häufig gewährt wurde – nämlich in nur 11 Fällen, also rund 8,2 Prozent aller Gnadenakte – und zum anderen wurde auf die Strafe zumeist nur bei geringerem Strafmaß verzichtet. Dies erklärt auch, warum in einigen Fällen darauf verzichtet wurde, die landesherrliche Einwilligung für die Begnadigung einzuholen. Bei geringen Strafnachlässen und bei stichhaltigen Gründen konnte ein solcher Gnadenakt offensichtlich auch vom Geheimen Rat respektive dem Justizdepartement gewährt werden. Bei der Gewährung des Straferlasses fällt auf, dass neben einer Reihe mildernder Umstände der Schuldfrage eine zentrale Rolle zukam. Die persönliche Schuld 251 Vgl. Fürsprache der Stadtgerichte vom 12. Oktober 1797 nebst Anlage: medizinisches Gutachten vom 7. Oktober 1797 / Fallakte Marie Elisabeth Winkler; in: ebd. 252 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 23. Oktober 1797 / Fallakte Marie Elisabeth Winkler; in: ebd. 253 Vgl. vier Suppliken des Rabe in eigener Sache und eine Supplik seiner Ehefrau Rabe vom 28. Februar 1787 bis 10. Mai 1787 / Fallakte Martin Friedrich Rabe; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 254 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 18. Mai 1787 / Fallakte Friedrich Rabe; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
der begnadigten Personen wurde in der Gnadenprüfung geringer eingeschätzt, als sie von den Richtern in den Urteilen formuliert wurde. Häufig war Fahrlässigkeit und Unwissenheit im Spiel, welche zu einem Unfall führte. Oder der Schuldspruch war trotz Mangel an Beweisen ergangen: Der verurteilten Person wurde entweder eine Schuld angelastet, die auf bloßen Verdachtsmomenten gründete, oder ihr wurde vorgehalten, ein Vergehen beabsichtigt zu haben, welches sie aber nicht ausgeführt hatte. Auch konnte man die persönliche Schuld nach vollbrachter Tat mindern, wenn die geschädigte Person ihrem Verzeihen in einer Gnadenbitte Ausdruck verlieh, oder wenn der Gnadenträger im Rahmen eines General-Pardon den Ungehorsam seines Untertanen verzieh. Obwohl die obrigkeitlichen Akteure vom Vollzug der verhängten Strafe absahen, wurde in manchen Fällen auf den erzieherischen Aspekt keineswegs verzichtet, indem man eigens eine Verwarnung aussprach oder eine Züchtigung anordnete – Maßnahmen, bei denen die Herrschaft des Landesherrn weithin sichtbar inszeniert wurde.
2. „Gnade für Recht“255 – Begnadigung von zum Tode Verurteilten Todesurteile wurden in Brandenburg-Preußen Ende des 18. Jahrhunderts in einigen Strafrechtsfällen zwar verhängt, jedoch äußerst selten vollstreckt, so das eindeutige Ergebnis dieser Untersuchung. Von den insgesamt 327 angeklagten und verurteilten Männer und Frauen, deren Gnadenfälle die Quellengrundlage bilden, wurden zehn zum Tode verurteilt; zu einer Hinrichtung dieser zehn zum Tode Verurteilten kam es unter Friedrich Wilhelm II. indes nicht, ihnen allen wurde das Leben geschenkt.256 Bei der Durchsicht sämtlicher Akten der Repositur 49 im Zeitraum 1786 bis 1797 wurde lediglich ein Fall gefunden, in dem ein Todesurteil zur Vollstreckung kam – für diesen Todeskandidaten wurde allerdings weder eine Fürsprache noch eine Supplikation eingereicht, daher wurde dieser Fall beim Sample auch nicht berücksichtigt.257 Anstelle der Hinrichtung erwartete die Begnadigten in der Regel eine lebenslange bzw. in Ausnahmefällen eine zeitlich befristete Haftstrafe. Gemessen an den insgesamt 134 Gnadenakten in diesem Sample macht die Begnadigung der zehn zum Tode Verurteilten rund 7,5 Prozent aus. 255 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 11. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 51 (s. Anlage Nr. 3). 256 Die in diesem Sample enthaltenen Fälle weisen keine Begnadigung von zum Tode Verurteilten durch Friedrich Wilhelm III. auf; sämtliche Begnadigungen dieser Art gingen auf die Weisung von Friedrich Wilhelm II. zurück. 257 Johann Gottlieb Hasse hatte das Haus seines ehemaligen Brotherrn in Brand gesteckt. Die Kriminaldeputation verurteilte ihn dafür in erster und der Ober-Appellationssenat in zweiter Instanz zum Tode. Als auch der Justizminister für die Hinrichtung votierte, bestätigte Friedrich Wilhelm II. die Todesstrafe – vgl. Fallakte Johann Gottlieb Hasse; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235. Diese Fallakte ist jedoch nicht Teil der hier untersuchten Quellen, da sie weder eine Supplikation noch eine Fürsprache aufweist.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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Lief ein Prozess tatsächlich auf ein Todesurteil hinaus, so war es die Regel, dass eine Fürsprache aus dem Justizapparat – entweder von Seiten des Justizministers oder des zuständigen Gerichtshofes – erfolgte; nur in einem Fall ging die Begnadigung auf eine Supplikation eines Untertanen zurück.258 In nachweislich sieben Fällen und mutmaßlich in zwei weiteren Fällen259 folgte Friedrich Wilhelm II. dem Plädoyer seiner Juristen und schenkte den zum Tode Verurteilten das Leben; in einem Fall begnadigte er einen Hinzurichtenden entgegen dem Votum seines Justizministers. Von den insg. zehn zum Tode Verurteilten erhielten sechs Begnadigte260 eine lebenslange Festungs- bzw. Zuchthausstrafe, vier der Begnadigten261 eine 10- bzw. 20-jährige Haftstrafe. Da die Gnadenfälle, in denen Fürsprachen eingereicht wurden, bereits ausführlich besprochen worden sind [s. C.I.2.], wird hier lediglich auf die Begründungen der Begnadigung eingegangen. a) Verzicht auf Waffengebrauch Wie bereits dargelegt, musste in einer Fürsprache der Vorschlag zur Begnadigung einer verurteilten Person stets begründet werden. Meist wurden mildernde Umstände aufgeführt, die aus der Sicht der Juristen keine hinreichende Berücksichtigung bei der Urteilsfindung fanden. So wurde beispielsweise die Schwere des Vergehens geringer bewertet, wenn beim Tathergang Gewalt nur angedroht, aber nicht ausgeübt wurde. Christian August Helckwitz hatte bei seinem Überfall auf einen Händler nur mit dem Messer gedroht, den Ausgeraubten jedoch nicht verletzt [s. C.I.2.a)].262 Friedrich Wilhelm II. lehnte es anfänglich ab, Helckwitz die Hinrichtung zu ersparen, aber eine Unterredung mit dem Großkanzler v. Carmer überzeugte ihn davon, dem Verurteilten das Leben zu schenken, ihn aber mit lebenslanger Festungsarbeit und Staupenschlag zu belegen.263 Da die Akten jedoch ver258 In zwei Fällen der insg. zehn Fälle kam es fast zeitgleich mit der Verkündung des Todesurteils zur Begnadigung, ohne dass aus der Akte hervorgeht, welche Stelle des Justizapparats die Fürsprache initiiert hatte. Dass die Begnadigung aufgrund einer Supplikation erfolgte, ist angesichts der Abfolge des Vorgangs als sehr unwahrscheinlich anzusehen – vgl. Fallakte Anna Dorothea Devouschack; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180 und vgl. Fallakte Elisabeth Franck; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235. 259 Nimmt man die in der obigen Fußnote formulierte Annahme auf, dass die Begnadigungen in den Fällen Devouschack und Franck höchst wahrscheinlich auch auf Fürsprachen aus dem Justizapparat zurückgingen, so muss man die Anzahl der Fälle, in denen der Monarch zum Tode Verurteilte das Leben schenkte, auf insgesamt neun beziffern – vgl. Fallakte Anna Dorothea Devouschack; in: ebd. und vgl. Fallakte Elisabeth Franck; in: ebd. 260 Einschließlich des Falls Devouschack gerechnet – vgl. Fallakte Anna Dorothea Devouschack; in: ebd. 261 Einschließlich des Falls Franck gerechnet – vgl. Fallakte Elisabeth Franck; in: ebd. 262 Vgl. Antrag auf Annahme-Order in zweiter Instanz vom 19. November 1789 / Fallakte Christian August Helckwitz; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 263 Vgl. Dekret über abgelehnte Fürsprache in Form einer Kabinettsorder vom 29. November 1789; Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 1. Dezember 1789 / Fallakte Christian August Helckwitz; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
schweigen, welchen Grund v. Carmer in dem Gespräch anführte, bleibt nur zu vermuten, dass der Verzicht auf Gewaltanwendung letztlich den Ausschlag für die Begnadigung von Helckwitz gab.264
b) Fehlender Vorsatz, Motivlosigkeit und Unzurechnungsfähigkeit Wurde eine todeswürdige Tat nicht vorsätzlich begangen, sondern stellte sich als ein aus Fahrlässigkeit geschehener Unfall dar, so minderte dies die persönliche Schuld des Delinquenten, so dass er durchaus Chancen hatte, von der Todesstrafe begnadigt zu werden. Der Vorsatz einer Tat wurde ausgeschlossen, wenn die Person vom Gericht als unzurechnungsfähig eingeschätzt wurde, das Gericht kein überzeugendes Motiv für die Tat finden konnte oder wenn es sich um einen zufällig geschehenen Unfall handelte. Letzteres war zum Beispiel der Fall, als der Holzaufseher Johann Friedrich Liebke bei seinem Rundgang durch den Forst auf Untertanen stieß, die am Flüsschen Holz flößten: Er geriet in Streit mit ihnen, da er annahm, es handle sich um gestohlenes Holz aus seinem Revier; der Schuss aus seiner Schrotflinte traf den Kossäten Christian Schultz, der vier Tage später verstarb. Der Urteilsvorschlag der Kriminaldeputation lautete auf Hinrichtung.265 Das Gericht fügte dem Antrag auf Urteilsbestätigung jedoch noch eine Fürsprache in Form eines Post-Scriptum bei: Darin plädierten die Richter, „Gnade für Recht ergehen zu lassen“ und Liebke „mit Lebenswierirger Vestungs-Arbeit zu begnadigen“, da dieser nicht beabsichtigt habe, jemanden zu verletzen oder gar zu töten.266 Der Justizminister v. d. Reck nahm die Argumentation auf, indem er die Vorsätzlichkeit der Tat in seinem Immediatvortrag ausschloss, den Tod des Kossäten vielmehr auf einen Unfall zurückführte.267 Als ihm die Angelegenheit am Tage seines Geburtstags vorgetragen wurde, hielt Friedrich Wilhelm II. die Begnadigung „mit lebenswieriger Vestungsstrafe – Fr[iedrich] Wilhelm“ sogleich durch ein Marginaldekret auf dem Bericht fest.268 In Liebkes Fall verstieß der Gnadenträger vermut264 Auf den Umstand, dass Helckwitz beim Überfall zwar Gewalt angedroht, aber nicht angewandt hatte, wird sowohl von Seiten des Ober-Appellationssenats als auch des Justizministers v. d. Reck verwiesen – vgl. Rechtsgutachten und Antrag auf Annahme-Order in zweiter Instanz vom 19. November 1789; Immediatbericht vom 27. November 1789 / Fallakte Christian August Helckwitz; in: ebd. 265 Vgl. Antrag auf Urteilsbestätigung nebst Rechtsgutachten vom 10. April 1786 / Fallakte Johann Friedrich Liebke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 491, vgl. fol. 492 – 497. 266 Zit. aus: Fürsprache der Kriminaldeputation o. D. [kurz nach Regierungsantritt von Friedrich Wilhelm II. im September 1786] / Fallakte Johann Friedrich Liebke; in: ebd., fol. 498. 267 Vgl. Immediatbericht des Justizministers nebst Auszug aus dem Urteil vom 25. September 1786 / Fallakte Johann Friedrich Liebke; in: ebd., fol. 499, 500 und vgl. fol. 489 (Konzept). 268 Gnadendekret in Form eines Marginaldekrets auf dem Immediatbericht des Justizministers vom 25. September 1786 / Fallakte Johann Friedrich Liebke; in: ebd., fol. 499.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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lich unwissend gegen die selbst aufgestellten Regeln, denn hiermit wurde eine Begnadigung ausgesprochen, obwohl der Prozess noch nicht alle ihm zustehenden Instanzen durchlaufen hatte. Das Todesurteil in erster Instanz wurde später durch das weitaus mildere Urteil des Ober-Appellationssenats aufgehoben: Es sah für Liebke nur noch eine zehnjährige Festungsstrafe vor.269 Die Vorsätzlichkeit einer Tat wurde offenbar auch infrage gestellt, wenn die Richter den Beweggrund für eine Tat rational nicht nachvollziehen konnten, wie dies bei Johanna Susanne Ibischin der Fall war: Sie hatte ein Kind – offenbar mit voller Absicht – ermordet, ohne dass das Gericht jedoch dafür ein Motiv finden oder dies mit psychischer Unzurechnungsfähigkeit erklären konnte; daher lautete auch das Urteil in zweiter Instanz auf Hinrichtung. Justizminister v. Goldbeck plädierte dennoch für eine Begnadigung zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe nebst Züchtigung [s. C.I.2.a)]. Als mildernden Umstand hielt er Johanna Susanne Ibischin zugute, dass das Gericht kein überzeugendes Motiv für ihre Tat entdecken konnte, woraus man schloss, dass der von ihr begangene Mord scheinbar aus purer Verzweiflung, nicht aber aus Berechnung erfolgt war. V. Goldbeck argumentierte, dass das Gesetz eine lebenslange Haftstrafe mit Züchtigung vorsehe, wenn mit dem Totschlag der „Endzweck“ nicht erreicht wurde, der in Ibischins Fall angeblich in der aus Zorn und Rache motivierten Tötung des Soldaten Tyche bestanden hätte.270 Der Gesetzgeber hatte mit dieser Klausel vermutlich beabsichtigt, fahrlässiges Handeln, das in einem tödlichen Unfall endete, milder als einen vorsätzlichen Mord zu bestrafen. Das Messer an die Kehle eines schlafenden Kindes zu setzen, fällt hingegen nicht unter die Kategorie Unfall. V. Goldbeck griff dennoch auf diese zweifelhafte Argumentation zurück, denn offensichtlich war es ihm suspekt, eine scheinbar ohne Motiv mordende Frau dem Henker zu übergeben. Die Argumentation des Justizministers, Johanna Susanne Ibischin von der Todesstrafe zu begnadigen, war weniger überzeugend als vielmehr von der Intention getragen, eine Hinrichtung generell zu verhindern – eine Sicht, die Friedrich Wilhelm offenbar teilte, denn er schenkte der zum Tode Verurteilten aufgrund dieser Fürsprache das Leben; stattdessen sollte sie einen Staupenschlag erhalten und lebenslang im Zuchthaus zubringen.271 Die Tatsache, dass v. Goldbeck im Fall Ibischin nicht ein269 Der Grund für diese voreilige Begnadigung ist in der Zeitverzögerung zu vermuten, mit der Liebkes Prozess in die zweite Instanz ging, so dass der Eindruck entstand, es bleibe endgültig bei der in erster Instanz ausgesprochenen Todesstrafe – vgl. Antrag des Ober-Appellationssenats vom 24. Januar 1787; vgl. Annahme-Order in zweiter Instanz vom 5. Februar 1787 / Fallakte Johann Friedrich Liebke; in: ebd., fol. 506 – 514, 516. Die Bitten um eine weitergehende Strafminderung von Seiten der Stieftochter und der Ehefrau wurden jedoch abgelehnt – vgl. zwei Suppliken der Ehefrau Liebke vom 28. April 1787 und 9. Juli 1795; Supplik der Stieftochter Maria Sophia Rogatzky o. D. [ca. Anfang November 1796] / Fallakte Johann Friedrich Liebke; in: ebd., fol. 503, 517 f., 520 f. 270 Zit. aus: Fürsprache des Justizministers vom 5. Oktober 1791 / Fallakte Johanna Susanne Ibischin; in: ebd., fol. 161. 271 Im Fall von Johanna Susanne Ibischin wurde die Vorsätzlichkeit des von ihr an einem Kind begangenen Mordes durch das fadenscheinige Argument widerlegt, dass mit der Tat der
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fach auf Begnadigung plädierte, sondern eine wenig schlüssige Hilfskonstruktion bemühte, verrät einmal mehr, dass eine Begnadigung nicht grundlos gewährt werden konnte, sondern einer – wenngleich auch wenig überzeugenden – formalen rechtlichen Begründung bedurfte. Die Haltung, Hinrichtungen möglichst zu vermeiden, geht auf den Gnadenträger selbst zurück. Dies wird auch im folgenden Fall deutlich: Samuel Saul, dem 23-jährigen gebürtigen Polen jüdischer Abstammung, der als preußischer Untertan aufgenommen worden war, wurde zur Last gelegt, die Jüdin Zierle in einem Streit, bei dem diese einforderte, er möge sein Heiratsversprechen ihr gegenüber halten, mit Messerstichen ermordet zu haben; dafür erwartete ihn die Todesstrafe.272 Lagen ansonsten allen Begnadigungen von der Todesstrafe Fürsprachen aus dem Justizapparat zugrunde, so ging die Begnadigung in Sauls Fall allein auf die Supplikation eines Untertanen zurück. Sauls Vater versuchte mit seiner Gnadenbitte, den Ausgang des Prozesses positiv zu beeinflussen, denn er rechnete offenbar mit einem Todesurteil.273 Dem Vater wurde daraufhin, wie in einem solchen Fall üblich, lediglich mitgeteilt, dass es für eine Begnadigung noch zu früh sei, da die Sache noch in der Appellationsinstanz verhandelt werde.274 Das Urteil in zweiter Instanz wiederholte den Tenor des ersten Instanz: Samuel Saul sollte mit dem Schwert hingerichtet werden, sodann sollte sein toter Körper auf das Rad geflochten werden.275 Vor der Vollstreckung des Urteils wurde die Supplik dem Monarchen vorgelegt: Friedrich Wilhelm II. erließ daraufhin eine Kabinettsorder, mit der er Saul das Leben schenkte und ihn stattdessen mit „Lebenswiriger VestungsStrafe“ belegte.276 Dies ist einer der wenigen Fälle, in denen Friedrich Wilhelm nicht dem Rat seiner Justizminister folgte, sondern eine auf eigenen Überlegungen beruhende Entscheidung fällte. Aus der Kabinettsorder geht hervor, dass der Justizminister v. Goldbeck das Todesurteil für Saul befürwortete. Der Monarch befand jedoch: „Da es nicht recht erwiesen ist, daß der jüdische Knecht Samuel Saul die Jüdin Zierle vorsätzlich ermordet habe, so habe Ich bedencken gefunden, das ( . . . ) von Euch eingeschick-
eigentliche „Endzweck“, worunter die Rache an ihrem Liebhaber verstanden wurde, nicht erreicht wurde – vgl. Fürsprache des Justizministers vom 5. Oktober 1791; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 5. Oktober 1791 / Fallakte Johanna Susanne Ibischin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.177, fol. 161, 160. 272 Vgl. Rechtsgutachten vom 29. November 1792 / Fallakte Samuel Saul; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.178, fol. 276 – 314. 273 Vgl. Supplik des Vaters Saul o. D. [Ende Oktober 1792] / Fallakte Samuel Saul; in: ebd., fol. 317. 274 Vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form eines Marginaldekrets auf der Supplik des Vaters Saul o. D. [Ende Oktober 1792] / Fallakte Samuel Saul; in: ebd. 275 Vgl. Annahme-Order in zweiter Instanz vom 12. Oktober 1793 / Fallakte Samuel Saul; in: ebd., fol. 327. 276 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 20. Oktober 1793 / Fallakte Samuel Saul; in: ebd., fol. 328.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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te Rescript ( . . . ), nach welchem der Saul mit dem Schwerdt vom Leben zum Tode gebracht werden soll, zu vollziehen.“277
Der königlichen Weisung entsprechend veranlasste der Justizminister die Begnadigung. Die Bedenken, die Friedrich Wilhelm an der Vorsätzlichkeit des Mordes hatte, wären nachvollziehbar, wenn eine Affekthandlung vorgelegen hätte. Denn Zierle war angeblich von Saul schwanger und hatte verlangt, dass dieser sein Heiratsversprechen einlöste, worüber beide in heftigen Streit gerieten; sie starb kurz darauf an zwei tiefen Messerstichen in Lunge und Magen. Eine Affekthandlung wäre soweit möglich, doch widersprach dies Sauls Aussage: Zierle sei ihm beim Butterbrotessen ins Messer gelaufen, so Sauls fragwürdige Schilderung des Tathergangs.278 Dass der angeblich fehlende Vorsatz dennoch für eine – wenngleich fragwürdige – Begründung der Begnadigung herangezogen wurde, belegt einmal mehr, dass Friedrich Wilhelm II. Hinrichtungen weitgehend vermeiden wollte. Dass die Vorsätzlichkeit einer Tat bei einer Affekthandlung negiert und bei einer attestierten moralischen Unreife infrage gestellt werden konnte, belegen zwei Kindsmordfälle. Nach Meinung der Richter waren zum Beispiel Dorothea Christiane Otto und Maria Charlotte Schultzen von der Situation, mit der sie sich als ledige Schwangere konfrontiert sahen, derart überfordert, so dass man ihnen gnadenhalber den mildernden Umstand der Jugend anrechnete, auch wenn sie bereits mündig waren.279 Die Richter und der Justizminister interpretierten die beiden Kindsmorde als Affekthandlungen, zu der sich sowohl Otto als auch Schultzen aus Furcht vor Schande als ledige Mutter hatten hinreißen lassen. Als Beleg dafür führte der Justizminister in Ottos Fall die gewalttätige Reaktion ihres Vaters auf die Nachricht über die uneheliche Schwangerschaft und Geburt seiner Tochter an [s. C.I.2.a)].280 Nach Dafürhalten des Justizministers tötete auch Maria Charlotte Schultzen ihr Neugeborenes im Zustand der völligen Verwirrung, zumal sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit der Niederkunft gerechnet habe [s. C.I.2.f)].281 Außerdem begründete der Justizminister Schultzens moralische Unreife mit dem sozialen (Bildungs-)Hintergrund der Delinquentin: Als Waise, die keine Schule besucht hatte, habe sie zu wenig Unterweisung erhalten, so dass sie auch kein ausEbd. Vgl. Extrakt aus dem Urteil der ersten Instanz o. D. [29. November 1792] / Fallakte Samuel Saul; in: ebd., fol. 320. 279 Vgl. Fürsprache des Justizministers vom 9. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 49 (s. Anlage Nr. 2); vgl. Immediatbericht vom 24. Oktober 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49. Lit. H, Paket 16.176, fol. 78. 280 Vgl. Fürsprache des Justizministers vom 9. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 49 (s. Anlage Nr. 2). 281 Vgl. Immediatbericht vom 24. Oktober 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: ebd., fol. 78. 277 278
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
geprägtes „moralisches Gefühl“ habe entwickeln können.282 Als weiterer mildernder Umstand sollte Schultzen zugute gehalten werden, dass die Schwängerung unter einem Eheversprechen geschehen sei, der Kindsvater aber sein Versprechen nicht eingehalten habe. Nach Meinung des Justizministers rechtfertigten die mildernden Umstände eine Begnadigung zu einer lebenslangen Haft mit Staupenschlag. Ihr Schicksal schien Friedrich Wilhelm II. anzurühren, denn er beschloss, Maria Charlotte Schultzen nicht nur „das verwürckte Leben zu schencken“, sondern ihr sogar eine auf 20 Jahre begrenzte Haftstrafe, allerdings zusammen mit einem Willkommen und Abschied, zuzubilligen .283 Im Fall von Dorothea Christiane Otto waren sich die obrigkeitlichen Akteure in der Einschätzung einig, dass sie die Tat nicht vorsätzlich ausgeführt habe. Sowohl die Richter als auch die Mediziner charakterisierten sie als eine Frau „sehr schwachen Verstandes“, die „also weniger fähig gewesen, ihre Handlungen nach richtigen Gründen zu bestimmen.“284 Indem man ihr rational geleitetes „richtiges“ Handeln absprach, hielt man sie für nur bedingt schuldfähig an dem von ihr begangenen Kindsmord [s. C.I.2.a)]. Friedrich Wilhelm II. pflichtete den „angezeigten Umständen“ ausdrücklich bei und schenkte ihr das Leben.285 In der Furcht vor Schande bestand aus Sicht der Juristen Ende des 18. Jahrhunderts das zentrale Motiv für Kindsmord. Dieses Verständnis brachte man jedoch im Grunde fast allen Kindsmörderinnen entgegen, ohne dass dies ihre Schuld und damit ihre Strafe gemindert hätte. Dass die obrigkeitlichen Akteure die Kindsmorde im Fall Otto und Schultzen mit der Furcht vor Schande als nicht-vorsätzliche Affekthandlungen interpretierten, hängt nicht nur mit der angeblichen moralischen Unreife der Delinquentinnen, sondern auch mit den ihnen darüber hinaus attestierten mildernden Umständen zusammen, die angeblich ihre Zurechnungsfähigkeit beeinträchtigten. Kamen mehrere solcher Umstände zusammen, so waren die obrigkeitlichen Akteure eher gewillt, dies als gnadenwürdigen Grund gelten zu lassen. c) Indizien für moralische Besserung Es gab auch Kriterien der Gnadenwürdigkeit, die nicht mit dem Tathergang zu tun hatten. Gnadenwürdigkeit bezog auch die Frage ein, inwieweit mit einer Resozialisierung und moralischen Besserung der Verurteilten zu rechnen war. Als Indizien dafür dienten der Lebenswandel und damit verbunden der Leumund, die AufZit. aus: ebd. Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 26. Oktober 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: ebd., fol. 77. 284 Zit. aus: Immediatbericht des Justizministers vom 9. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 49 (s. Anlage Nr. 2). 285 Vgl. Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 11. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: ebd., fol. 51 (s. Anlage Nr. 3). 282 283
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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führung in der Haft und die angebliche Reue der Verurteilten sowie der Grad der Integration in ihr soziales Umfeld. Die Kriminaldeputation wertete zum Beispiel den „vorigen guten Lebenswandel“ des Zimmergesellen Johann Friedrich Grosch als hinreichende Anzeichen dafür, dass es sich bei dem von ihm begangenen Raubüberfall lediglich um einen einmaligen Fehltritt handelte.286 Der 24-jährige Zimmergeselle Grosch war auf Arbeitssuche und hatte sich von Soldaten zum Spiel überreden lassen, bei dem er sein gesamtes Vermögen verlor. Nun stand er vor dem Problem, Geld zum Ankauf für Rohmaterialien auftreiben zu müssen. Da überfiel er die Dienstmagd Zachin des Predigers auf der Straße, schlug sie mit einem Stock und nahm ihr alles Geld ab.287 Dies brachte ihm das Todesurteil ein. Zusammen mit dem Antrag auf Urteilsbestätigung reichte die Kriminaldeputation ein Post-Scriptum ein: „Auch, – Allergnädigster König und Herr! – stellen wir allerunterthänigst anheim: ob Ewr Königliche Majestät den Inquisiten in Rücksicht auf seines vorigen guten Lebenswandels zu begnadigen, und die von uns in Vorstellung gebrachte Todesstrafe in zehnjährige Vestungs-Arbeit zu verwandeln allergnädigst geruhen wollen.“288
Üblicherweise wurde der Lebenswandel eines Delinquenten durch Leumundszeugnisse belegt. Zu Groschs Lebenswandel schweigt jedoch die Akte: Weder liegen entsprechende Zeugnisse seiner Brotherren oder des Predigers im Untersuchungsgefängnis vor, noch supplizierten seine Eltern oder Brotherren für ihn. Obwohl Grosch im Grunde keinen überzeugenden schuldmindernden Umstand liefern konnte, plädierte das Gericht für seine Begnadigung. Der Justizminister v. d. Reck nahm zwar nicht den Vorschlag des Gerichts für eine zehnjährige Haftstrafe auf, aber er wollte ihn immerhin vor einer Hinrichtung bewahren und plädierte für lebenslänglich.289 Friedrich Wilhelm II. zeigte sich von einer gnädigen Seite, denn er ging über den Vorschlag seines Ministers hinaus und ordnete lediglich „Einige Vestungsarbeit – Fr[iedrich] Wilh[el]m“290, also eine befristete Haftstrafe an. Groschs Fall zeigt aufs Neue, dass sowohl die Richter als auch der Justizminister und der Gnadenträger bereit waren, fast jedes Argument für eine Begnadigung gelten zu lassen, um eine Hinrichtung zu vermeiden. 286 Zit. aus: Fürsprache der Kriminaldeputation vom 11. September 1786 / Fallakte Johann Friedrich Grosch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 222. 287 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [11. September 1786] / Fallakte Johann Friedrich Grosch; in: ebd., fol. 217 – 221. 288 Fürsprache der Kriminaldeputation (zugleich Antrag auf Urteilsbestätigung) vom 11. September 1786 / Fallakte Johann Friedrich Grosch; in: ebd., fol. 222, vgl. fol. 216. 289 Vgl. Aktennotiz des Justizministers o. D. [ca. 9. Oktober 1786] und vgl. Konzept des Immediatberichts vom 9. Oktober 1786 und vgl. Immediatbericht des Justizministers nebst Extrakt des Urteils in Anlage vom 14. Oktober 1786 / Fallakte Johann Friedrich Grosch; in: ebd., fol. 212, 211, 214 f. 290 Zit. aus: Gnadendekret in Form eines immediaten Marginaldekrets auf dem Immediatbericht des Justizministers vom 14. Oktober 1786 / Fallakte Johann Friedrich Grosch; in: ebd., fol. 214.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Was der Lebenswandel zum Leben außerhalb der Gefängnismauern aussagt, ist das Aufführungszeugnis über das Leben in der Haft: Auch dieses konnte nach Meinung der Obrigkeit Aufschluss geben, ob eine verurteilte Person Hoffnung auf Besserung gebe. Im oben zitierten Fall von Maria Charlotte Schultzen hatte ihr Fürsprecher Gade als Hausvogtei-Inspektor Gelegenheit, sie „auf das genaueste“ zu beobachten, weshalb er sich autorisiert sah, ihr einen „untadelhaften Wandel“ und tiefe Reue zu attestieren [s. C.I.2.f)].291 Unter einer guten Aufführung verstand man nicht nur Gehorsam und Fleiß bei der Gefängnisarbeit, sondern vor allem Reue gegenüber der Tat. Von ihrer Reue konnte zum Beispiel Ilse Catharina Schulze die Richter überzeugen: Schließlich stellte sie ihre Reue nicht erst unter Haftbedingungen unter Beweis, sondern sogleich nach begangener Brandstiftung: Sie hatte nämlich sogleich Alarm geschlagen und sich bei den Löscharbeiten beteiligt [s. C.I.2.c)].292 Im Fall von Brandstiftung stellte die Vergebung der Geschädigten nach Meinung der obrigkeitlichen Akteure ein überzeugendes Indiz für die moralische Besserung des Delinquenten dar. Dies war bei Ilse Catharina Schulze der Fall: Ihre Nachbarn, die Opfer des von ihr gelegten Brandes waren, vergaben ihr nicht nur die Tat, sondern verzichteten obendrein auf Schadensersatz.293 Aus der Sicht der Richter waren dies hinreichende Indizien, die auf eine moralische Besserung und eine Resozialisierung der Brandstifterin in ihrem sozialen Umfeld hoffen ließen. Auch Friedrich Wilhelm II. befand sie aus diesen Gründen der Gnade für würdig.294 d) Resümee Zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Todesstrafe in Brandenburg-Preußen zwar des Öfteren verhängt, aber nur selten vollstreckt. Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung ist, dass alle Supplikationen und Fürsprachen für zum Tode Verurteilte vom Gnadenträger erhört wurden: Er schenkte insg. zehn Delinquenten und Delinquentinnen das Leben, belegte sie aber mit lebenslanger Haftstrafe und Arbeitszwang. Diese Form der Begnadigung macht rund 7,5 Prozent aller Gnadenakte aus. Vergleicht man diesen Befund mit Untersuchungen zu anderen frühneuzeitlichen Herrschaften, so passt dies zu einem Trend in der Strafvollzugspraxis: Denn die zum Tode Verurteilten wurden in der Tat sehr häufig begnadigt.295 Doch war die 291 Zit. aus: Fürsprache des Hausvogtei-Inspektors Gade vom 25. September 1788 / Fallakte Maria Charlotte Schultzen; in: ebd., fol. 66. 292 Vgl. Fürsprache der Kriminaldeputation und Rechtsgutachten o. D. [ca. 9. Februar 1789] / Fallakte Ilse Catharina Schulze; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235. 293 Vgl. ebd. 294 Vgl. Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 9. März 1789 / Fallakte Ilse Catharina Schulze; in: ebd. 295 Im Erzherzogtum Österreich unter der Enns im 18. Jh. wurden ebenfalls alle zum Tode Verurteilten begnadigt, für die eine Supplikation eingegangen war – vgl. Griesebner (Frühneuzeit-Info) 2000, S. 21 f. In der Reichsstadt Regensburg und in Württemberg wurde zumin-
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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frühneuzeitliche Gnadenpraxis im Ancien Régime weit davon entfernt, homogen zu sein, denn einer Gnadenpraxis, mit der Hinrichtungen vermieden werden sollten, stand eine andere Tradition gegenüber: Es gab auch Herrschaften, in denen an Todesurteilen prinzipiell festgehalten wurde.296 Trotz der prinzipiellen Bereitschaft, Hinrichtungen durch Gnadenakte zu vermeiden, zeigen die vorliegenden Fälle, dass auch die Begnadigung von zum Tode Verurteilten hinreichend begründet werden musste. Ausschlag gab dabei nicht ein einzelnes Kriterium, sondern verschiedene Kriterien, zum Teil sogar erst das Zusammenspiel mehrerer Kriterien: Auf der Ebene des Tathergangs bestand die Möglichkeit, die Schwere des Vergehens weniger hoch zu bewerten, wenn auf den Gebrauch einer Waffe verzichtet wurde. Auch die Umstände einer Tat konnten dazu beitragen, die persönliche Schuld zu mindern, wenn beispielsweise weder Vorsatz noch Motiv nachzuweisen waren, oder die verurteilte Person als unzurechnungsfähig angesehen wurde. Daneben spielte die moralische Einstellung der verurteilten Person eine wichtige Rolle: Sowohl aus ihrem bisherigen Lebenslauf und Leumund als auch aus ihrer Aufführung in der Haft wurden Indizien abgeleitet, die auf eine moralische Besserung schließen lassen sollten. Die Kriterien überzeugen zwar auf den ersten Blick in ihrer Stichhaltigkeit, wie etwa im Falle eines aus Fahrlässigkeit geschehenen Unfalls. Bei näherer Betrachtung des Einzelfalls wirken sie jedoch fragwürdig: Einem Räuber zugute zu halten, keine Waffe eingesetzt zu haben, ist fast zynisch, denn er konnte sein Opfer nur deshalb berauben, weil er es mit dem Messer bedroht hatte. Sowohl die Unterstellung, dass eine geständige Kindsmörderin geistig nicht zurechnungsfähig sei, als auch die These vom fehlenden Motiv einer Mörderin wirken nicht schlüssig, sondern konstruiert. Unklar bleibt, warum diese vom Justizminister und von den Richtern gewählte Argumentation auf eine Begnadigung hinauslief. Folgt man dieser Logik, dann hätten diese Argumente in beiden Fällen unbedingt eine Todesstrafe gerechtfertigt: Gerade weil das Handeln beider Frauen nach Ansicht der obrigkeitlichen Akteure nicht rationalen Gesichtspunkten folgte, gab es keine Garantie auf moralische Besserung, vielmehr bestand theoretisch die Gefahr, dass sie sich auch in Zukunft nicht normkonform verhalten, sondern von ihrem emotionalen Reaktionsvermögen gesteuert würden. Man kommt daher zu dem Schluss, dass Friedrich Wilhelm II. als oberster Richter Hinrichtungen vermeiden wollte und da war ihm fast jedes Argument recht, um die zum Tode Verurteilten zu begnadigen. Dies bedeutet aber nicht, dass der Monarch die Todesstrafe an sich infrage stellte. Die Todesstrafe wurde von Seiten der Obrigkeit auch Ende des 18. Jahrhunderts als ultima ratio des Strafkanons angesehen, da ihr im höchsten Maße eine abschreckende Wirkung zugesprochen wurde. dest mehr als die Hälfte der zum Tode Verurteilten begnadigt – vgl. Wernicke 2000, S. 400; vgl. Schnabel-Schüle 1997, S. 138. 296 Z. B. in Kurmainz und in Konstanz – vgl. Härter 2000, S. 167; vgl. Schuster 2000, S. 273 – 311.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
3. „Loßlassung“ von zu lebenslanger Haft Verurteilten Auch bei der Loßlassung von zu lebenslanger Haft Verurteilten handelt es sich um eine sehr weit reichende Begnadigung. Die Quellen weisen insgesamt 13 solche Gnadenakte auf; dies sind rund 9,7 Prozent aller Gnadenakte. Die lebenslange Haftstrafe verweist bereits auf die Deliktgruppen, in der diese Begnadigungen ausgesprochen wurden: Fast alle Verurteilten machten sich des Totschlags (insg. 11 Gnadenakte) schuldig; daneben kamen auch vereinzelt Majestätsbeleidigung und Aufruhr (je ein Gnadenakt) vor. Von den Loßlassungen gehen acht der 13 Gnadenakte auf Friedrich Wilhelm II. zurück, während die Entscheidung bei den fünf übrigen Begnadigungen erst in der Regierungszeit von Friedrich Wilhelm III. fiel. Eine Vorstellung von der Qualität der Begnadigung vermittelt der Zeitraum, nach dem die zu lebenslanger Haft Verurteilten freigelassen wurden: Mehr als die Hälfte der Begnadigten hatte bereits 16 und 30 Jahre ihres Lebens in Haft gefristet; die übrigen hatten dort rund neun bis 15 Jahre zugebracht; nur in einem Fall wurde ein Verurteilter bereits nach zwei Jahren Festungsarrest entlassen. a) Geänderte Gesetzesgrundlage zum Kindsmord Frauen, die im Verdacht eines Kindsmords standen oder einen solchen nachweislich begangen hatten und zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt worden waren, kamen mit Abstand am häufigsten in den Genuss der Freilassung. Begründet wurden die Begnadigungen damit, dass sich speziell für dieses Delikt die Gesetzeslage und die Strafpraxis geändert hatten. Die Urteile vormaliger Fälle, in den die Frauen wegen Verheimlichung der Schwangerschaft und Geburt in den Verdacht eines Kindsmords geraten waren, wurden im Wege einer Begnadigung dem nun üblichen milderen Strafmaß angepasst. Anlass zur obrigkeitlichen Intervention gab der Fall Anna Dorothea Devouschack. Bei der Prüfung der Suppliken, die ein Verwandter nach 16 Jahre Zuchthaus für sie einreichte, trat zutage, dass Devouschack mit Lebenslang eine Strafe erhalten hatte, welche nach den mittlerweile überarbeiteten Gesetzen auf 15 bis höchstens 20 Jahre bemessen worden wäre.297 Die Richter argumentierten gegen den zu erwartenden Einwand, dass einmal verhängte Urteile zu vollziehen seien: Wollte der Monarch bei solchen Fällen an diesem Grundsatz festhalten und auf eine Begnadigung verzichten, so hätte dies zur Folge, dass der „Krone“ damit „ihr schönstes Vorrecht“ geraubt würde.298 Mit anderen Worten: Aus der Sicht des Gerichts galt 297 Vgl. zwei Suppliken des Onkels Runge vom 12. Juli 1796 und nicht überlieferte Supplik o. D. [ca. Anfang August 1796]; Gnadendekret in Form von einer Resolution vom 25. Juli 1796; Weisung an die Kriminaldeputation vom 15. August 1796; Bericht der Kriminaldeputation vom 20. Oktober 1796 / Fallakte Anna Dorothea Devouschack (intus: Revision); in: ebd., fol. 23 – 25, 27, 44, 28 – 42. 298 Zit. aus: Bericht der Kriminaldeputation vom 20. Oktober 1796 / Fallakte Anna Dorothea Devouschack; in: ebd., fol. 38 und vgl. fol. 28 – 42.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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der Fall Devouschack in einem besonderen Maße als gnadenwürdig. Die Argumentation überzeugte offenbar sowohl den Justizminister als auch den Gnadenträger: Friedrich Wilhelm II. schenkte ihr nach rund 16 Jahren Zuchthaus die Freiheit.299 In ihrem Bericht zum Fall Devouschack plädierte die Kriminaldeputation des Kammergerichts dafür, alle wegen Verheimlichung der Schwangerschaft und der Geburt sowie wegen des Verdachts auf Kindsmord verurteilten Frauen zu begnadigen, wenn sie die derzeit vorgesehene Strafzeit bereits abgesessen hatten und einen tugendhaften Lebenswandel sowie gute Zeugnisse über ihre Aufführung in der Haft vorweisen konnten. Die Kriminaldeputation führte daraufhin eine Revision alter Kindsmordfälle durch, bei der die persönliche Schuld der im Strafvollzug befindlichen Kindsmörderinnen an der neuen Gesetzesgrundlage, dem ALR300, gemessen und ihr Lebenswandel begutachtet wurde [Näheres zu den Fällen und zu den Fürsprachen s. C.I.2.]. Im Rahmen der Revision wurden sechs Freilassungen von zu lebenslanger Haft Verurteilten bewilligt.301 Den begnadigten Frauen ist gemein, dass ihnen kein vorsätzlicher Kindsmord nachgewiesen werden konnte: Jede von ihnen hatte ihre Schwangerschaft und Geburt verheimlicht und nicht öffentlich angezeigt, vor allem aber war ihr Neugeborenes verstorben, wobei unklar bleibt, ob die Frauen möglicherweise eine Totgeburt gehabt hatten oder den Tod des Neugeborenen durch Vernachlässigung bzw. nicht nachweisbare physische Gewalt verursacht hatten. Diese vage Beweislage reichte aus, um sie des Kindsmordverdachts zu überführen, worauf nach altem Gesetz eine lebenslange Zuchthausstrafe stand. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wuchs das Verständnis für die prekäre soziale und wirtschaftliche Situation lediger Mütter: Man verstand Kindsmord mehr und mehr als Verzweiflungstat, die angeblich aus Angst vor sozialer Schande als ledige Mutter302 begangen wurde – was allerdings keineswegs zwangsläufig bedeu299 Vgl. Immediatbericht vom 27. Oktober 1796; Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 28. Oktober 1796; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 31. Oktober 1796 / Fallakte Anna Dorothea Devouschack; in: ebd., fol. 45 f., 46, 48 f. 300 Vgl. §§§ 887, 982, 969 ALR II 20. 301 Elisabeth Hoesken wurde nach 30 Jahren, Anna Sophia Winkeln nach 20 Jahren, Marie Louise Boltzin nach 16 Jahren, Anne Dorothee Schütz nach 15 Jahren, Sophia Sponholtz nach 11 Jahren aus dem Zuchthaus entlassen; Maria Elisabeth Petersen sollte noch drei Jahre dort verbringen, damit sie das auf neun Jahre nach unten korrigierte Strafmaß erfüllte (Näheres zu den Fällen und zu den Fürsprachen s. C.I.2.). – Vgl. Bericht und Fürsprachen der Kriminaldeputation vom 23. Mai 1797; Immediatbericht vom 12. Juni 1797; Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 14. Juni 1797; Weisung an die Kriminaldeputation vom 19. Juni 1797 / Revision; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 88 – 112. 302 Die Forschung hat allerdings die Annahme, dass Kindsmord in erster Linie begangen wurde, um der sozialen Schande als ledige Mutter zu entgehen, dahingehend korrigiert: Der Angst vor dem wirtschaftlichen und sozialen Abstieg durch Verlust der Arbeitsstelle oder einer Heiratsperspektive war mindestens ein ebenso starkes, wenn nicht stärkeres Argument, eine ledige Mutterschaft zu vermeiden. – Vgl. Ulbricht 1990, S. 161 – 174; vgl. KerstinMichalik, Kindsmord. Sozial- und Rechtsgeschichte der Kindstötung im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert am Beispiel Preußen, Pfaffenweiler 1997, hier S. 72 – 174; vgl. Richard van Dülmen, Frauen vor Gericht. Kindsmord in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1991, hier
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
tet, dass der von den Frauen gewählte Ausweg aus dieser Situation, also die Tötung des Neugeborenen, akzeptiert wurde.303 Das Schicksal, ungewollt schwanger zu werden, konnte – in Ermangelung effektiver Verhütungsmethoden – schließlich jede Frau treffen. Unter den Verurteilten finden sich vor allem Frauen, die viel versprechende Zukunftspläne hatten – seien es Töchter aus wirtschaftlich gut situiertem Hause oder seien es Mägde, die sich mit konkreten Heiratsabsichten trugen – denn gerade sie hatten viel zu verlieren, wenn sie erst als ledige Mütter stigmatisiert und wirtschaftlich entsprechend schlechter gestellt waren als kinderlose Ledige. Aus obrigkeitlicher Perspektive bot sich die Begnadigung dieser zumeist jungen Delinquentinnen, die sich in ihrem Leben zwar einen schweren, aber eben nur einen Fehltritt haben zuschulden kommen lassen, in besonderer Weise an [s. u.]. Es förderte den Ruf als gütiger Herrscher, gegenüber vom Schicksal geschlagenen Menschen Erbarmen zu zeigen. Stand ein Herrscher im Ruf, gütig zu sein, so festigte dies zugleich die paternalistische Beziehung zwischen Herrscher und Untertanen.304 Hinzu kam, dass Begnadigungen, die mit der Anpassung des Strafmaßes an neue Gesetze begründet wurden, zur Akzeptanz des Rechts bei den Untertanen beitrugen, da jenen damit die Vorteile vor Augen geführt wurden. S. 85 – 97; vgl. Gerd Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn / Berlin 1991, hier S. 412 – 414, 452; vgl. Regina Schulte, Kindsmörderinnen auf dem Lande; in: Hans Medick / David Sabean (Hg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beispiele zur Familienforschung, Göttingen 1984, S. 113 – 142. 303 Zum zeitgenössischen Diskurs um Kindsmord beispielhaft vgl. Wilhelm Wächtershäuser, Das Verbrechen des Kindesmordes im Zeitalter der Aufklärung. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung der dogmatischen, prozessualen und rechtssoziologischen Aspekte, Berlin 1973, hier S. 27 – 57; vgl. Michalik 1997, S. 210 – 286; vgl. Ulbricht 1990, S. 231 – 244; vgl. van Dülmen 1991, S. 98 – 108. 304 Ein weiterer Fall bestätigt diese These: Unter den wegen Totschlags zu lebenslanger Festungsarbeit Verurteilten gab es – neben den Kindsmörderinnen – auch einen jungen Mann, der in den Genuss der Freilassung kam: Der Mühlenbursche Christian Juncker hatte während einer Schlägerei vor dem „Roll-Krug“ in der Hasenheide einen Gesellen getötet, wobei nicht zu klären war, ob er der Angreifer war, oder ob er sich bloß verteidigt hatte. Friedrich Wilhelm II. lehnte indes alle Gnadenbitten ab. Erst im Rahmen des General-Pardon anlässlich des Regierungsantritts von Friedrich Wilhelm III. wurde Junckers Fall als gnadenwürdig angesehen: Nach 17 Jahren auf der Spandauer Festung wurde er schließlich entlassen. Nicht nur die lange Haftzeit, die der Begnadigung vorausging, sondern auch der Anlass zur Begnadigung – die Thronbesteigung Friedrich Wilhelms III. – sind Aspekte, die den Kindsmordfällen ähneln. Darüber hinaus handelt es sich auch hier um einen jungen Menschen, der einen guten Leumund besaß und nur durch ein vermutlich nicht vorsätzliches Vergehen sein Leben nun im Arrest fristen musste. Es scheint, dass in Junckers Fall ähnliche Bedingungen wie in den Kindsmordfällen herrschten, die zu seiner Gnadenwürdigkeit beitrugen – vgl. AnnahmeOrder vom 31. Dezember 1781; vgl. drei Suppliken der Mutter, eine Supplik des OberstLeutnant v. Brieze, eine Supplik des Sohnes Juncker und eine Supplik des Schwagers Gebhard vom 19. August 1786 bis 14. März 1798; vgl. Marginaldekret auf Supplik des Sohnes Juncker vom 25. Februar 1798; vgl. Wiederholung des Gnadendekrets in Form einer Resolution vom 26. März 1798 / Fallakte Christian Juncker; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.181.
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b) Indizien für moralische Besserung Die wegen Kindsmordes bzw. Kindsmordverdachtes verurteilten Frauen konnten zumeist einen guten Leumund und einen tadellosen Lebenswandel vorweisen. Im Zuchthaus überzeugten sie die Aufseher und den Prediger nicht selten durch ihre Reue und taten sich – laut Aufführungszeugnis aus der Strafvollzugsanstalt – als gehorsame und fleißige Arbeiterinnen hervor.305 Die Fälle der Kindmörderinnen Hedwig Sophia Schmidt und Maria Dorothea Jungen zeigen, dass die obrigkeitlichen Akteure bei der Entscheidung über Gnadengewährung bzw. -verwehrung großen Wert auf die angebliche moralische Besserung der Delinquenten und Delinquentinnen legten. Als nach 15 Jahren für Hedwig Sophia Schmidt eine Supplikation ihrer beiden Brüder einging, setzte Justizminister v. d. Reck vorerst ein Votum gegen eine Begnadigung auf. Das Maß an Gewalt hatte ihn vermutlich zu dieser Haltung gelangen lassen, denn die Dienstmagd hatte gestanden, ihr Neugeborenes mit einer Holzpantine zweimal getreten zu haben, bevor sie es im Trog des Pferdestalls vergrub. Als aber v. d. Reck seinen Immediatbericht an Friedrich Wilhelm II. nochmals durchging, strich er im Konzept den Passus, in dem er sich gegen eine Begnadigung Schmidts aussprach, jedoch wieder heraus, plädierte allerdings auch nicht für eine Freilassung, da man der Delinquentin beim Tathergang keine mildernden Umstände zugute halten konnte.306 Auch Friedrich Wilhelm II. war unschlüssig; er wollte eine Begnadigung von „ihrer würklichen Beßerung“ abhängig machen und ordnete daher an, dass die Zuchthausadministration Schmidt weiterhin beobachtet sollte.307 Der Monarch verfolgte demnach eine Gnadenpraxis, bei der die moralische Besserung eine Voraussetzung der Begnadigung bildete. Als eine weitere Supplik der Brüder einging, in der sie wortgleich um Freilassung ihrer Schwester baten, wurde vom Zuchthaus ein Bericht über ihre Aufführung eingefordert. Sowohl die Zuchthausadministration als auch der Zuchthausprediger stellten Hedwig Sophia Schmidt ein hervorragendes Aufführungszeugnis aus, in dem ihre angebliche Reue und ihr vorbildliches Betragen als gnadenwürdig betont wurden.308 V. d. Reck bezog sich in seinem Immediatbericht auf die Beurteilung Schmidts, die „ganz zu ihrem Vortheil ausgeschlagen“ sei; sein Votum fiel 305 Vgl. Bericht und Fürsprachen der Kriminaldeputation vom 23. Mai 1797 / Revision; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 88 – 112 [s. C.I.2.c)]. 306 Vgl. Supplik der Brüder Christian Friedrich und Elias Michael Schmidt vom 2. April 1788; Immediatbericht vom 25. April 1788 / Fallakte Hedwig Sophia Schmidt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 16 – 18, 20. 307 Zit. aus: Kabinettsorder vom 29. April 1788 / Fallakte Hedwig Sophia Schmidt; in: ebd., fol. 21. 308 Vgl. zweite Supplik der Brüder Christian Friedrich und Elias Michael Schmidt vom 2. Juni 1788; Bericht der Zuchthausadministration und des Zuchthauspredigers vom 5. August 1788 / Fallakte Hedwig Sophia Schmidt; in: ebd., fol. 22 – 24, 26 – 27.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
daraufhin positiv aus.309 Friedrich Wilhelm II. sprach sich nun auch für die Freilassung von Hedwig Sophia Schmidt aus: Er wolle die von den Brüdern nachgesuchte Begnadigung accordieren, weil sie sich „nach dem Zeugniß ihres Vorgesetzten auf dem Zuchthauß zu Spandow würklich Gebeßert hat.“310 Die Gnadenentscheidung belegt zum einen, inwieweit Reue und eine vorbildliche Aufführung in der Haft als Indizien für Gnadenwürdigkeit angesehen wurden. Zum anderen wird an diesem Beispiel deutlich, welche Bedeutung den Aufführungszeugnissen aus den Strafvollzugsanstalten im Gnadenvorgang zukam: Sie konnten den Ausschlag für eine Begnadigung geben. Auch im Fall Maria Dorothea Jungen gelangte die Revision von 1797 noch zu einem anderen Ergebnis: Jungen wurde vorerst von einer Begnadigung ausgeschlossen, da es sich in ihrem Fall um Kindsmord und nicht bloß um einen Verdacht handelte: Die damals 25-jährige Dienstmagd hatte ihre Schwangerschaft nicht nur verleugnet und ihr Kind heimlich geboren, sondern hatte dem Neugeborenen nach eigener Aussage den Schädel an der Fontanelle eingedrückt und es im Schnee verscharrt.311 Obwohl Jungen gestanden hatte, direkte physische Gewalt gegen das Neugeborene ausgeübt zu haben, sollte sie nicht hingerichtet werden, sondern erhielt unter Friedrich II. eine lebenslange Zuchthausstrafe nebst öffentlichem Staupenschlag.312 Aufgrund der Schwere des Vergehens plädierten die Richter im Rahmen der Revision dafür, an der lebenslangen Strafe für Maria Dorothea Jungen festzuhalten.313 Daher wurde ihre Begnadigung unter Friedrich Wilhelm II. abgelehnt.314 Die in Folge der Revision erfolgten Freilassungen von Kindsmordverdächtigen machten Jungens Anverwandten jedoch Mut, in ihrem Fall zu supplizieren: So309 Zit. aus: Immediatbericht vom 15. August 1788 / Fallakte Hedwig Sophia Schmidt; in: ebd., fol. 28. 310 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 26. August 1788 / Fallakte Hedwig Sophia Schmidt; in: ebd. fol. 29. 311 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 5. November 1777] und Extract aus Urteil vom 5. November 1777 / Fallakte Maria Dorothea Jungen; in: ebd., fol. 132 – 142, 143. 312 Vgl. Annahme-Order vom 13. November 1777 / Fallakte Maria Dorothea Jungen; in: ebd., fol. 144. Unter Friedrich II. wurde für Kindsmord die unter Friedrich Wilhelm I. übliche Todesstrafe des Säckens – ebenso wie die Folter und die Hurenstrafen sowie die Anzeigepflicht unehelicher Schwangerschaften – abgeschafft; zwar stand auf Kindsmord nach wie vor die Todesstrafe – nun in Form einer Hinrichtung – ihr Vollzug wurde jedoch meist vermieden – beispielhaft vgl. Wächtershäuser 1973, S. 29; vgl. Michalik 1997, S. 210 f.; vgl. Ulbricht 1990, S. 240 – 244; vgl. van Dülmen 1991, S. 99 f. 313 Vgl. Bericht der Kriminaldeputation o. D. [ca. 23. Mai 1797] / Revision; in: ebd., fol. 88 – 89. Neben Jungen wurden des weiteren auch Dorothea Christiane Otto, Maria Charlotte Schultzen, Dorothee Friederike Reinicken, Dorothea Ladewig und Marie Elisabeth Ficken von einer Strafverkürzung ausgenommen – vgl. Bericht der Kriminaldeputation vom 23. Mai 1797 / Revision; in: ebd., fol. 50. 314 Vgl. Fallakte Maria Dorothea Jungen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 130 – 154 und vgl. Bericht der Kriminaldeputation vom 23. Mai 1797 / Revision; in: ebd., fol. 88 – 89.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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wohl eine Tante als auch ein Anverwandter namens Rosenthal baten nach rund 20 Jahren, welche Jungen mittlerweile im Zuchthaus zugebracht hatte, um ihre Freilassung [s. B.I.6].315 Noch zum Ende der Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. hieß es in den darauf ergangenen Resolutionen, dass einer Milderung der zuerkannten Strafe in diesem Fall nicht stattgegeben werde.316 Kaum war Friedrich Wilhelm II. gestorben – der Hof hielt noch Trauer –, da setzte Rosenthal eine weitere Supplik auf, in der er seine Bitte, dieses Mal an Friedrich Wilhelms III. gerichtet, wiederholte.317 Seine Hoffnung sollte sich erfüllen: Friedrich Wilhelm III. hatte Maria Dorothea Jungen „huldreichst zu begnadigen geruhet“; sie sei „sofort auf freien fuß zu stellen“.318 Ein Plädoyer des Justizministers, dem das Für und Wider einer Begnadigung zu entnehmen wäre, fehlt in diesem Fall. Da der Verurteilten bei einem vorsätzlichen Kindsmord wie diesem kaum mildernde Umstände beim Tathergang zugute gehalten werden konnten, ist anzunehmen, dass ihre Gnadenwürdigkeit vor allem in der guten Aufführung während der 20-jährigen Haftzeit bestand. Laut eines Aufführungszeugnisses der Zuchthausadministration, welches der Supplikant Rosenthal seiner Supplik beigelegt hatte, habe sich Maria Dorothea Jungen: „( . . . ) jederzeit so aufgeführet, daß auch nicht das geringste nachtheilige von ihr gesagt werden kann. ( . . . ) Wenn Gefangene so lange Jahre hindurch sich gut betragen, so kann man wohl von ihren und also auch von der Jungin [Jungen] mit Gewißheit behaupten, daß sie gebeßert sind, und nach so langen Leiden ein beßeres Schicksahl verdienen.“319
Die Zuchthausadministration plädierte demnach für Jungens baldige Begnadigung und begründete dies mit ihrer guten Führung in der Strafanstalt. Ähnlich positiv äußerte sich der ebenfalls von Rosenthal angefragte Zuchthausprediger über Jungens „herrliche Frömmigkeit“, ihre „Liebe zum Fleiß, zur Ordnung und zum Frieden“ und bescheinigte ihr „gebesserten Sinn und Wandel“.320 Das Risiko, dass Jungen erneut eine ähnliche Straftat begehen würde, wurde folglich äußerst gering eingeschätzt; vielmehr stand zu erwarten, dass sie sich reibungslos in ihr 315 Vgl. Supplik der Tante Weber vom 3. August 1797 [im Original: 1779; irrtümlicher Zahlendreher] und erste Supplik des Anverwandten Rosenthal vom 20. September 1797 / Fallakte Maria Dorothea Jungen; in: ebd., fol. 145, 148 – 150. 316 Vgl. Dekrete abgelehnter Gnadenbitten in Form von Resolutionen vom 14. August 1797 und 9. Oktober 1797 / Fallakte Maria Dorothea Jungen; in: ebd., fol. 147, 151. 317 Vgl. zweite Supplik des Anverwandten Rosenthal vom 7. Dezember 1797 / Fallakte Maria Dorothea Jungen; in: ebd., fol. 153. 318 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 18. Dezember 1797 / Fallakte Maria Dorothea Jungen; in: ebd., fol. 154. 319 Aufführungszeugnis der Zuchthausadministration vom 7. September 1797 als Anlage zur ersten Supplik des Anverwandten Rosenthal vom 20. September 1797 / Fallakte Maria Dorothea Jungen; in: ebd., fol. 150. 320 Zit. aus: Aufführungszeugnis des Zuchthauspredigers vom 7. September 1797 als Anlage zur ersten Supplik des Anverwandten Rosenthal vom 20. September 1797 / Fallakte Maria Dorothea Jungen; in: ebd., fol. 149.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
soziales Umfeld fügen würde. Die Begnadigung einer an sich tugendhaften Frau, die ihr Vergehen aufrichtig bereute, fügte sich gut in das Bild eines gütigen Herrschers. In diesem Fall sollte daher auch die Funktion von Gnade in Betracht gezogen werden: Der Nachfolger Friedrich Wilhelms II. gab sich kurz nach seiner Inthronisation dezidiert populär und begnadigte großzügig, um die Gunst seiner Untertanen zu erhalten [s. C.II.1.a), C.II.4.a) und C.III.2.e)] – vielleicht erhoffte er sich davon, bei der Bevölkerung ähnlich beliebt zu werden wie sein Vorgängers, dem so genannten Vielgeliebten.321 Die obrigkeitlichen Akteure waren in beiden Fällen anfänglich zögerlich gewesen, eine Begnadigung zu befürworten, weil den Delinquentinnen beim Tathergang keine mildernden Umstände zugute gehalten werden konnten. Und doch wurde Schmidt auf Geheiß von Friedrich Wilhelm II. nach rund 15 Jahren Zuchthaus entlassen; Jungen wurde die Loßlassung nach über 20 Jahren Zuchthaus schließlich von Friedrich Wilhelm III. gewährt. Der Grund hierfür lag in den die Obrigkeit überzeugenden Indizien ihrer angeblichen moralischen Besserung, belegt durch die Aufführungszeugnisse der Zuchthausadministration und des Zuchthauspredigers. c) Allerhöchste Vergebung im Fall von Majestätsbeleidigung und Herrschaftskritik Neben Totschlag gab es weitere Delikte, die mit lebenslangem Arrest belegt wurden, aber unter bestimmten Bedingungen der Begnadigung würdig waren, wie zum Beispiel Majestätsbeleidigung und Herrschaftskritik. Der Hof- und Kriegsrat Schoenebeck hatte Friedrich Wilhelms II. als Person und die Wirtschaftspolitik Preußens in einem Brief an einen ausländischen Adressaten kritisch kommentiert, was ihm den Vorwurf der Majestätsbeleidigung einbrachte; er wurde offenbar ohne Gerichtsurteil auf unbestimmte Zeit verhaftet. Fünf Suppliken schrieb die Ehefrau Schoenebeck, die Friedrich Wilhelm persönlich bis zu seinem Tode allesamt ablehnte.322 Erst als der ungnädige Monarch verstorben war und ihm Fried321 Vergleichbar ist der Fall Dorothea Christiane Otto: Die 18jährige war ursprünglich zum Tode verurteilt, dann aber zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden, weil sie ihr Neugeborenes nach eigener Aussage vorsätzlich getötet hatte. Während Friedrich Wilhelm II. auf der Beibehaltung der lebenslangen Zuchthausstrafe beharrte, wurde Dorothea Christiane Otto – u. a. aufgrund ihrer guten Aufführungszeugnisse – auf die Liste der für eine Begnadigung anlässlich der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms III. Vorgeschlagenen gesetzt. – Vgl. Immediatbericht vom 9. Mai 1787; Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 11. Mai 1787; Supplik des Predigers Livius vom 7. Oktober 1795; Gnadendekret in Form einer abschlägigen Resolution vom 19. Oktober 1795; Supplik des „Freundes“ Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798; Marginaldekret o. D. auf derselben Supplik / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 40 – 62 (s. Anlagen Nr. 1 – 10). 322 Vgl. fünf Suppliken der Ehefrau Schoenebeck vom 19. Oktober 1796 bis 28. September 1797 nebst Marginaldekreten; Dekrete über abgelehnte Gnadenbitten in Form von Resolutionen vom 2. Januar 1797 bis 2. Oktober 1797 / Fallakte Schoenebeck (intus: Sohn Schoenebeck); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. B, Paket 15.972.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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rich Wilhelm III. auf den Thron nachfolgte, tat sich eine Chance auf, dass der Hof- und Kriegsrat eventuell begnadigt würde. Als dem neuen Herrscher die nunmehr sechste Supplik der Ehefrau vorgelegt wurde, verlangte er einen umfassenden Bericht zu dem Fall.323 Da dem Gericht keine Akten vorlagen, wurden Schoenebeck und seine Ehefrau vorgeladen, um den Sachverhalt zu klären.324 Der Justizminister sah einer Freilassung nichts im Wege stehen, da Schoenebeck bereits zwei Jahre Festungsarrest abgesessen hatte und seiner Meinung nach somit „seine Strafe ausgestanden“ habe.325 Dieser Haltung schloss sich Friedrich Wilhelm III. an und befahl, „Schoenebeck seines bisherigen Arrests aus Spandau zu entlaßen“.326 Da bei der Prüfung keine mildernden Umstände angeführt wurden, liegt die Annahme nahe, dass der ausschlaggebende Grund für die Begnadigung vor allem im Herrscherwechsel zu sehen ist. Majestätsbeleidigung war offenbar ein Delikt, welches in hohem Maße von der Person des Herrschers abhängig war: Entweder man konnte den beleidigten Herrscher zu einer Vergebung bewegen oder aber man musste dessen Ausscheiden aus der Regierung bzw. dessen Tod abwarten und hoffen, dass der Thronfolger dieser Angelegenheit gegenüber milder gestimmt war. Auch der Mechanicus Emanuel Detourner hatte sich illoyal gegenüber seiner Obrigkeit verhalten. Sein Vergehen lag allerdings im Bereich des Hochverrats und war schwerwiegender als der von Schoenebeck verfasste Brief: Detourner hatte nämlich versucht, das Militär zu einer Revolution aufzurufen, um anstelle der Monarchie eine preußische Republik nach französischem Vorbild zu etablieren.327 Detourner hätte nach Meinung des Justizministers v. Goldbeck die Todesstrafe verdient, wurde jedoch „wegen seines für den Staat gefährlichen Wahnsinns und politische Schwärmerey ( . . . ) auf seine lebenszeit eingesperrt“.328 Als Detourner im Arrest einen Selbstmordversuch „mit dem Stiele eines blechernen Löffels“ unternahm, galt dies als ein weiteres Indiz dafür, dass seine „Schwärmerey“ krankhaft einzustufen sei.329 Das Bild des gefährlichen Aufrührers, welches Detourner ursprünglich abgab, wandelte sich allmählich zu dem eines harmlosen „alten ein323 Vgl. sechste Supplik der Ehefrau Schoenebeck vom 16. November 1797; Kabinettsorder vom 21. November 1797 / Fallakte Schoenebeck; in: ebd. 324 Vgl. Berichte vom 16. und 17. Dezember 1797 / Fallakte Schoenebeck; in: ebd. 325 Zit. aus: Immediatbericht vom 18. Dezember 1797 / Fallakte Schoenebeck; in: ebd. 326 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 20. Dezember 1797 / Fallakte Schoenebeck; in: ebd. 327 Vgl. Immediatbericht vom 6. Dezember 1797 / Fallakte Emanuel Detourner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241. 328 Zit. aus: Urteil in Form einer Kabinettsorder vom 27. September 1797 / Fallakte Emanuel Detourner; in: ebd. 329 Dass man Detourner tatsächlich für krank hielt, belegt die Überlegung, ihn in die Charité zu überführen. Dies unterließ man aber, da er dort weder unter ständiger Aufsicht gestanden hätte, noch hätte ein Kontakt zu anderen Personen verhindert werden können. – Auszug aus einem medizinischen Gutachten; zit. in: Immediatbericht vom 6. Dezember 1797 / Fallakte Emanuel Detourner; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
fältigen Stümpers“, der an einer „Gemüthskrankheit“ litt.330 Detourners Ehefrau verstärkte in ihren Suppliken die Einschätzung, dass seine politische Gesinnung als krankhaft anzusehen sei, und bat um Loßlassung des vermeintlich Kranken.331 Die Supplikation der Ehefrau rückte den Fall Detourner wieder in den Blick des Justizdepartements. Detourner wurde in die Liste aufgenommen, in der einzelne Inhaftierte aufgeführt wurden, die für eine Begnadigung anlässlich der Thronbesteigung von Friedrich Wilhelm III. in Frage kamen.332 Der im Rahmen der Gnadenprüfung befragte Zuchthausinspektor schätzte Detourner als ungefährlichen „alten Greiß“ ein, dem man die „Revolutions-Gesinnungen“ erfolgreich ausgetrieben habe.333 Dem Inspektor ging es in erster Linie darum, Detourner loszuwerden, da dieser nicht mehr imstande war, seinen Unterhalt im Zuchthaus zu finanzieren, weil seine Finger – vermutlich durch Gicht – so „verdorben“ waren, dass er keine Spinnarbeit verrichten konnte.334 Eine nähere Begründung für Detourners Gnadenwürdigkeit sind den Akten nicht zu entnehmen. Die Tatsache jedoch, dass Detourner zur Begnadigung durch den Thronfolger vorgeschlagen wurde, zeigt, dass seine aufrührerische politische Einstellung in erster Linie als eine Illoyalität und Gehorsamsverweigerung gegenüber dem zu dieser Zeit herrschenden Monarchen, also Friedrich Wilhelm II., verstanden und damit quasi als Majestätsbeleidigung gewertet wurde. Das revolutionäre Potential von Detourners Ansichten, welches die Monarchie als Herrschaftsform insgesamt angriff, wurde zum Zeitpunkt seiner Begnadigung offenbar nicht mehr wahrgenommen, denn dies hätte eigentlich zur Folge haben müssen, dass Detourner der Gnade als unwürdig eingestuft worden wäre. Der Justizminister hatte seine Meinung zu dem Fall Emanuel Detourner gefasst, unklar war allerdings noch der Zeitpunkt der Entlassung. Da der Verhaftete offenbar wieder Anzeichen der Gemüthskrankheit zeigte, drängte der Justizminister nicht auf eine baldige Entscheidung. Erst neun Monate später wurde Detourner schließlich auf Zuraten des Justizministers von Friedrich Wilhelm III. begnadigt, allerdings sollte er frühestens in einem Jahr entlassen werden. Denn Detourner wurde zur Beobachtung vorerst noch in Haft einbehalten, um zu gewährleisten, dass er bei seiner Entlassung gesundheitlich tatsächlich wieder hergestellt sei.335 So eindringlich die darauf folgenden drei Supplikationen der Ehe330 Zit. aus: Bericht des Zuchthausinspektors Georgi vom 7. Januar 1799 / Fallakte Emanuel Detourner; in: ebd. 331 Vgl. Suppliken der Ehefrau Detourner o. D. [ca. Ende Nov. 1797] und vom 9. August 1798 / Fallakte Emanuel Detourner; in: ebd. 332 Dies geht aus einem Brief Detourners an seine Ehefrau hervor – Brief Detourners vom 6. Juli 1798 / Fallakte Emanuel Detourner; in: ebd. 333 Zit. aus: Bericht des Zuchthausinspektors Georgi vom 25. Juli 1798 / Fallakte Emanuel Detourner; in: ebd. 334 Zit. aus: ebd. 335 Vgl. Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 4. April 1799 / Fallakte Emanuel Detourner; in: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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frau Detourner waren, sie vermochten die angeordnete Beobachtungszeit nicht zu verkürzen.336 Erst nach Ablauf der anberaumten Frist wurde ein Mediziner beauftragt, den Gemütszustand von Detourner erneut zu begutachten: Der Physicus Wagner berichtete in seinem Gutachten, dass er keine „geringste Abweichung des Verstandes an ihm [Emanuel Detourner] bemerkt“ habe; der Häftling leide lediglich – bedingt durch die schlechte Kost – an Durchfall.337 Zu einem vergleichbaren Ergebnis kam der ebenfalls befragte Zuchthausprediger Hecker, der „gar nicht mehr Spuren von einer Verrückung des Verstandes bey ihm [Emanuel Detourner] entdeckt habe“.338 Detourners damalige Schwärmerey führte der Prediger vielmehr auf übermäßigen Alkoholgenuss zurück; außerdem war Hecker von Detourners Reue aufrichtig überzeugt.339 Nach der übereinstimmenden Einschätzung der Befragten über die angeblich geistige Genesung Detourners sah Justizminister v. Arnim die Bedingung für den königlichen Gnadenakt als erfüllt an. Daher befand es v. Arnim nicht für notwendig, den Monarchen in dieser Sache erneut zu konsultieren, und wies das Gericht und das Zuchthaus an, „daß dieser Mensch nunmehr ( . . . ) freigelaßen werden kann“.340 Den Fall sah das Justizdepartement offenbar als abgeschlossen an; keiner rechnete indes damit, dass sich der Monarch – vier Monate nach Detourners Entlassung – nach dem Stand der Dinge erkundigen würde.341 Nun war es am Justizminister v. Arnim, kleinlaut erklären zu müssen, dass Detourner bereits entlassen worden sei, fragte allerdings devot an, ob es dabei sein Bewenden haben solle.342 V. Arnim war vermutlich erleichtert über die königliche Reaktion: „[Hiermit] ( . . . ) billige Ich es, daß Ihr die Loßlassung des ( . . . ) Mechanici Detourners, bereits ohne weitere Anfrage verfügt habt.“343
In der Sache stimmte Friedrich Wilhelm III. v. Arnims Entscheidung zu. Der Zusatz aber, dass sein Staatsdiener die Weisung „ohne weitere Anfrage“ verfügt habe, birgt allerdings eine deutliche Kritik am eigenmächtigen Vorgehen des Staatsministers. Diese Rüge verstand v. Arnim sehr wohl, denn offenbar beschlich 336 Vgl. drei Suppliken der Ehefrau Detourner vom 10. April 1799, 19. Februar 1800 und 22. März 1800 / Fallakte Emanuel Detourner; in: ebd. 337 Zit. aus: Medizinisches Gutachten des Physicus Wagner vom 10. April 1800 / Fallakte Emanuel Detourner; in: ebd. 338 Zit. aus: Bericht des Zuchthauspredigers Hecker vom 10. April 1800 / Fallakte Emanuel Detourner; in: ebd. 339 Vgl. ebd. 340 Zit. aus: Weisung an Gericht und Zuchthaus vom 5. Mai 1800 / Fallakte Emanuel Detourner; in: ebd. 341 Vgl. Kabinettsorder vom 13. Oktober 1800 / Fallakte Emanuel Detourner; in: ebd. Die Freilassung Detourners erfolgte am 14. Juni 1800. 342 Vgl. Immediatbericht vom 13. Oktober 1800 / Fallakte Emanuel Detourner; in: ebd. 343 Kabinettsorder vom 18. Oktober 1800 / Fallakte Emanuel Detourner; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
ihn eine gewisse Furcht ob der Richtigkeit seines Handelns: Um sicher zu gehen, dass Detourner nicht wieder politisch aktiv werde und zur Abschaffung der Monarchie aufrufe, befahl er der Polizei, den Begnadigten zu „vigiliren“.344 An diesem Beispiel zeigt sich, dass sich die Bürokratie Ende des 18. Jahrhunderts noch immer in einem Ausdifferierungsprozess befand und dass selbst für die obrigkeitlichen Akteure zentrale Fragen der Zuständigkeit und der Delegierung nicht immer eindeutig waren. Majestätsbeleidigung und Herrschaftskritik sind Vergehen, welche direkt die Person und die Herrschaft des Monarchen angreifen, daher konnte eine Vergebung nur von ihm allein bzw. von seinem Nachfolger auf dem Thron ausgehen. Die Fälle Schoenebeck und Detourner belegen, dass Majestätsbeleidigung und der Aufruf zu einem Aufruhr zwar schwerwiegende Vergehen waren, deren Sühne aber eine relativ kurze Halbwertszeit haben konnte: Verstarb der betroffene Herrscher, der durch kritische Äußerungen oder Gehorsamsverweigerung beleidigt wurde, so gab es eine reelle Chance auf Begnadigung. Dies setzte allerdings voraus, dass die Verurteilten Reue zeigten und ihren früheren Ansichten abschworen bzw. dass sie nach Ansicht der Obrigkeit von der Schwärmerey und Gemüthskrankheit als genesen galten. Der auf den Thron folgende Herrscher – hier beide Male Friedrich Wilhelm III. – war offenbar nicht gewillt, Störungen des paternalistischen Herrschaftsverhältnisses zwischen Untertanen und seinem Vorgänger weiter zu ahnden; vielmehr setzte er auf die Politik der ausgestreckten Hand und der Vergebung, um eine neue auf Dankbarkeit beruhende Bindung zwischen den Untertanen und seiner Person aufzubauen.
d) Resümee Eine so weit reichende Begnadigung wie eine Loßlassung von zu lebenslanger Haft Verurteilten wurde eher selten gewährt, insg. liegen nur 13 Gnadenakte dieser Art vor. Bei Begnadigungen von Vergehen wie beispielsweise Majestätsbeleidigung oder Herrschaftskritik, welche die Person des Monarchen direkt betrafen, war seine explizite Vergebung Bedingung. Ein stichhaltiger Grund für eine Loßlassung war zum Beispiel die Modifizierung der rechtlichen Rahmenbedingungen und die damit verbundene Vorgabe, die bisherige Strafe an die geänderte Gesetzeslage anzupassen – ein eher seltenes Phänomen [s. C.II.4.g)]. Diesen Hintergrund weisen sieben der insgesamt 13 Gnadenakte von Loßlassung auf. Mit einer Ausnahme sind dies alle Homicidia-Fälle, in denen die zu lebenslanger Haft Verurteilten freigelassen wurden. Sechs davon gehen auf entsprechende Fürsprachen zurück – ein Ergebnis, welches auf die hohe Erfolgsquote von Fürsprachen verweist [s. C.III.1.a)]. Außerdem wurde bei einer solchen Begnadigung durch gezielte 344 Zit. aus: Weisung an die Polizei vom 29. November 1800 / Fallakte Emanuel Detourner; in: ebd. Detourner schien sich in Freiheit tatsächlich jeder kritischen politischen Äußerung enthalten zu haben, denn die Akte bricht hier ab.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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Anfragen bei den Strafvollzugsanstalten sichergestellt, dass sich die Verurteilten der Gnade als würdig erwiesen. Darunter verstanden die obrigkeitlichen Akteure, dass die Delinquenten und Delinquentinnen ihre Vergehen überzeugend bereuten und ihr Verhalten Anlass zur Hoffnung gab, dass sie sich reibungslos in die ihnen zugedachten Rollen der Ständegesellschaft wieder einfügen würden [s. C.II.2.c)]. Der Befund deutet darauf hin, dass zu lebenslanger Haft Verurteilte nur dann eine reelle Chance auf Freilassung hatten, wenn diese durch Fürsprachen und Aufführungszeugnisse von Seiten des Justizapparats unterstützt wurden. Gnadenbitten von Untertanen in Fällen mit lebenslanger Haftstrafe führten dagegen eher selten zu einer Gnadengewährung. Die Funktion der Begnadigung tritt in den hier skizzierten Fällen deutlich zutage: Sie bestand in der Erneuerung der paternalistischen Herrschaftsbeziehung zwischen Monarch und Untertanen.
4. „Die noch übrige Straf-Zeit erlassen“345 – Strafverkürzung Die Strafverkürzung ähnelt der Loßlassung, denn auch dort wurde die Strafdauer minimiert. Es ist dennoch sinnvoll, die beiden Spielarten von Begnadigung gesondert zu behandeln, da ihnen eine jeweils eigene Qualität innewohnt: Während es bei der Loßlassung von zu lebenslanger Haft Verurteilten um eine nicht bezifferbare Größe geht – nämlich um die Zeitspanne bis zum Tod der betreffenden Person –, handelt es sich hier um die Verkürzung der Haftstrafe in einem konkreten Umfang von beispielsweise einer Woche, einem Monat oder einem Jahr. Das Quellensample beinhaltet insgesamt 17 Gnadenakte in Form einer solchen Strafverkürzung, davon wurden zehn in der Regierungszeit von Friedrich Wilhelm II. und die übrigen sieben unter Friedrich Wilhelm III. bewilligt. Die 17 Strafverkürzungen machen rund 12,7 Prozent der insgesamt gewährten Gnadenakte aus; damit liegt diese Form im Mittelfeld der Ende des 18. Jahrhunderts praktizierten Begnadigungen. Eine Kürzung der Strafdauer konnte bereits in der Phase der Urteilsfindung oder kurz nach der Urteilsverkündung, also noch vor dem Strafantritt, ausgesprochen werden. Außerdem gab es die Möglichkeit, die Reststrafe zu erlassen, nachdem die Verurteilten bereits den Großteil der Strafe abgesessen hatten. Anders als die beiden zuletzt besprochenen Begnadigungsformen setzt diese Art der Begnadigung keine besondere Schwere des Vergehens voraus und ist somit nicht an bestimmte Deliktgruppen gebunden. Strafverkürzung wurde sowohl bei Kapitalverbrechen wie Totschlag und Raub als auch bei Diebstahl und Inzest oder bei Betrug gewährt. Die Qualität der Begnadigung war recht unterschiedlich: Die Spanne reicht von einer Woche Gefängnis bis zu neun Jahren Festungsarbeit, die erlassen wurden. Die größte Gruppe mit insgesamt 14 Begnadigungen stellt die 345 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 27. November 1797 / Fallakte Christian Friedrich Mette; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.077.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Verkürzung der Zuchthaus- bzw. Festungshaft dar; der Umfang der Begnadigung variiert hier zwischen einem Monat und neun Jahren. Die Verkürzung der Gefängnishaft wurde dagegen nur dreimal – im Umfang von einer Woche bis zu drei Monaten bzw. mit unbekanntem Umfang – erlassen. Die unterschiedlich starke Verteilung erklärt sich weitgehend dadurch, dass die verhängten Zuchthaus- und Festungshaftstrafen in den hier untersuchten Quellen die Gefängnisstrafen zahlenmäßig deutlich übertrafen, auch deshalb, weil sie weitaus häufiger Anlass zur Supplikation boten als Gefängnisstrafen. a) General-Pardon Bei der Strafverkürzung finden sich drei Verurteilte, die im Rahmen eines General-Pardon begnadigt wurden. In einem Fall war es Friedrich Wilhelm II., in den beiden übrigen Fällen war es Friedrich Wilhelm III., die anlässlich ihres Regierungsantritts den Delinquenten gegenüber Vergebung übten. Weil man den Bauernsohn Hartmann bezichtigte, „Sodomiterey mit einem Vie“ betrieben zu haben, fristete er 19 Wochen bei Wasser und Brot im Untersuchungsarrest bzw. in Haft, bevor es ihm schließlich gelang, zu fliehen.346 Sein Vater verwandte sich für ihn und bat um Niederschlagung der Reststrafe, damit sein Sohn wieder zum elterlichen Hof zurückkehre [s. B.I.3.]. In der Supplik wies er die Sodomitereibeschuldigung als nicht gerechtfertigt zurück; der Prozess sei allein aufgrund eines parteiisch geführten Zeugenverhörs für seinen Sohn negativ ausgegangen, das Vergehen konnte ihm angeblich nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden.347 Die Supplik wurde Friedrich Wilhelm II. ohne vorherige Prüfung durch den Justizminister direkt vorgelegt. Ganz gegen seine Gewohnheit, verzichtete der Monarch darauf, sich die Aktenlage schildern und sich eine Einschätzung der Gnadenwürdigkeit des Verurteilten geben zu lassen, und entschied dass die „gebethene Begnadigung ( . . . ) accordirt“ sei.348 Der Grund für die Entschlussfreudigkeit ist wohl in der – zumindest nach Ansicht des Monarchen – glaubhaften Behauptung des Vaters zu sehen, dass sich sein Sohn noch immer auf der Flucht vor der drohenden Strafe befinde. Damit fiel der Fall Hartmann unter den vier Monate zuvor erlassenen GeneralPardon, der allen wegen einer ausstehenden Strafe aus dem Herrschaftsgebiet geflohenen Untertanen die Möglichkeit einer straffreien Rückkehr einräumte.349 Eine weitere Prüfung der in der Supplik unterbreiteten Beschwerde über die mangelnde Beweislage erübrigte sich demnach. 346 Zit. aus: Supplik des Vaters Hartmann vom 3. Februar 1786 [korrekt: 1787] / Fallakte Hartmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. Den Akten liegen weder Rechtsgutachten noch Annahme-Order bei, so dass unklar bleibt, wie das Urteil lautete. 347 Vgl. ebd. 348 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 10. Februar 1787 / Fallakte Hartmann; in: ebd. 349 Vgl. General-Pardon vom 4. Oktober 1786; abgedruckt in: NCCPBPM 1791, 8. Bd., No LVII, Sp. 189 – 190.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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Einer, der von diesem Pardon auch profitierte, war der Pfeifenmacher Johann Friedrich Peters.350 Zusammen mit zwei Komplizen war er wegen Diebstahls zu sechs Jahren Zuchthausarbeit mit Willkommen und Abschied verurteilt worden.351 Nachdem Friedrich Wilhelm II. beide Gnadenbitten der Mutter abgelehnt hatte,352 wandte sie sich in ihrer dritten Supplik an dessen Nachfolger und berief sich darauf, dass sie zwei Jahre zuvor bei ihm als Kronprinz bereits in dieser Angelegenheit vorgesprochen hatte.353 Ausschlaggebend für den Erfolg der Supplikation war vermutlich der Zeitpunkt, den die Witwe gewählt hatte:354 Rund vier Monate nach der Thronbesteigung wurde im Justizdepartement entschieden, wer von den unter Friedrich Wilhelm II. Verurteilten in den Genuss des General-Pardon kommen sollte. Johann Friedrich Peters wurde, wahrscheinlich erst auf die Supplikation seiner Mutter hin, in den Kreis der zur Begnadigung ausgewählten Verurteilten aufgenommen.355 Was die mit dem General-Pardon betraute Kommission bewogen haben mochte, den Pfeifenmacher zur Begnadigung vorzuschlagen, geht aus den Akten jedoch nicht hervor. Vermutlich wurde er ausgewählt, weil er eine vergleichsweise harte Strafe für den Diebstahl erhalten hatte, diese immerhin schon zur Hälfte abgesessen und sich während der drei Jahre in der Haft gut aufgeführt hatte, so dass man auf Seiten der obrigkeitlichen Akteure Grund zu der Annahme hatte, er werde nie wieder ein solches Vergehen begehen und fortan ein gehorsamer Untertan sein. b) Mangel an Beweisen Wie schon beim Verzicht auf Bestrafung [s. C.II.1.] wurde auch beim Erlass der Reststrafe mit einer Minderung der persönlichen Schuld argumentiert. Die unklare Beweislage und der nachweislich nicht gegebene Vorsatz zur Tat stimmten Friedrich Wilhelm II. im Fall Johann Christian Gottfried Brandt gnädig: Die gesetzlich 350 Neben Johann Friedrich Peters kam auch Ludwig Kähler in den Genuss des von Friedrich Wilhelms III. gewährten General-Pardon: Weil Kähler am Totschlag eines Pferdediebes beteiligt war, wurde er in zweiter Instanz zu drei Jahren Festungsarbeit verurteilt. Auf Bitten seiner Ehefrau an Friedrich Wilhelm III. wurden ihm die restlichen 20 Monate erlassen. – Vgl. dritte Supplik der Ehefrau Kähler vom 28. Juni 1798; Gnadendekret in Form eines Marginaldekrets vom 29. Juni 1798 auf derselben Supplik / Fallakte Ludwig Kähler; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 579 f. 351 Vgl. Annahme-Order vom 19. August 1793 / Fallakte Johann Friedrich Peters; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.065. 352 Vgl. zwei Suppliken der Mutter Peters vom 5. September 1796 und 4. Juli 1797; Dekrete über abgelehnte Gnadenbitten vom 12. September 1796 und 10. Juli 1797 / Fallakte Johann Friedrich Peters; in: ebd. 353 Vgl. Supplik der Mutter Peters vom 14. Februar 1798 / Fallakte Johann Friedrich Peters; in: ebd. 354 In Ermangelung von mildernden Umständen hatte die Supplikantin einige Angaben in ihrer Supplik aus taktischen Gründen geändert [s. C.I.1.d)], was aus der Sicht der obrigkeitlichen Akteure ihre Glaubwürdigkeit diskreditieren musste – vgl. Marginalvermerke auf Supplik der Mutter Peters vom 14. Februar 1798 / Fallakte Johann Friedrich Peters; in: ebd. 355 So der Marginalvermerk „in der Liste“ auf der Supplik – zit. aus: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
vorgesehene Strafzeit von zwei Jahren Festungsarbeit ließ der Monarch um zehn Monate verkürzen.356 Durch unsachgemäßes Schießen bei einer Vogeljagd im herrschaftlichen Garten von Dahlwitz sollte Johann Christian Gottfried Brandt eine Feuersbrunst verursacht haben.357 Obwohl das Forstgutachten besagt, dass das Feuer nicht durch einen Schuss von 130 Schritten Entfernung gegen den Wind hätte ausgelöst werden können, hielt ihn das Gericht für schuldig.358 Auf die unklare Beweislage wies die Ehefrau Brandt in ihren beiden Supplikationen hin, um für ihren Mann zumindest eine Strafverkürzung durch Anrechnung des Untersuchungsarrestes zu erreichen [s. B.I.2.].359 Während ihre erste Gnadenbitte mediat noch abgelehnt wurde, stiegen die Chancen auf Begnadigung bei ihrer immediat vorgetragenen Supplikation: Der Monarch war im Grunde bereit zu begnadigen, forderte aber zuvor einen detaillierten Bericht zum Fall Brandt an.360 Der kollegial abgefasste Bericht des Justizdepartements bestätigte, dass Brandt keine „Bosheit, sondern nur eine grobe Unvorsichtigkeit bey dem Schießen“ zur Last gelegt werden könne.361 Der Justizminister gab offen zu, dass die Annahme, ein Schuss habe das Feuer ausgelöst, reine Hypothese sei, und dass die tatsächliche Ursache des Brandes nicht geklärt sei. Vor diesem Hintergrund plädierte der Justizminister zusammen mit den Räten für eine Anrechnung der zehn Monate Untersuchungsarrest auf die Strafdauer.362 Das Votum entsprach Friedrich Wilhelms II. Haltung, den Mangel an Beweisen zumindest im Rahmen einer Begnadigung zu berücksichtigen.363 Diese Gnadenpraxis364 spiegelt sich beispielsweise auch im Fall von Anna Sophie Magdalena Wagner wider: Sie wurde zwar vom vorsätzlichen Kindsmord 356 Vgl. Annahme-Order in zweiter Instanz vom 13. Juli 1787; Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 12. Februar 1788 und in Form einer Resolution vom 15. Februar 1788 / Fallakte Johann Christian Gottfried Brandt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. L, Paket 16.235. 357 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 16. November 1786] / Fallakte Johann Christian Gottfried Brandt; in: ebd. 358 Vgl. Annahme-Order in erster Instanz vom 3. Januar 1787; Annahme-Order in zweiter Instanz vom 13. Juli 1787 / Fallakte Johann Christian Gottfried Brandt; in: ebd. 359 Vgl. zwei Suppliken der Ehefrau Brandt vom 19. September 1787 und 29. Januar 1788; Dekret über abgelehnte Gnadenbitte vom 28. September 1787 / Fallakte Johann Christian Gottfried Brandt; in: ebd. 360 Aus einem Marginalvermerk auf der Kabinettsorder geht hervor, dass Friedrich Wilhelm II. aufgrund des Forstgutachtens eine Begnadigung vorsah – vgl. Kabinettsorder vom 8. Februar 1788 / Fallakte Johann Christian Gottfried Brandt; in: ebd. 361 Zit. aus: Immediatbericht vom 8. Februar 1788 / Fallakte Johann Christian Gottfried Brandt; in: ebd. 362 Vgl. ebd. 363 Vgl. Kabinettsorder vom 12. Februar 1788 / Fallakte Johann Christian Gottfried Brandt; in: ebd. 364 Ein weiteres Beispiel: Dem Puderhändler Carl Friedrich Telschow wurde vorgeworfen, dass er mit aus dem königlichen Magazin gestohlenen Tabak Hehlerei betrieben habe. Ohne das Justizdepartement konsultiert zu haben, verkürzte der Monarch Telschows außergewöhnlich harte Strafe von sechs auf zwei Jahre Festungsarbeit, weil dem Telschow nicht zweifels-
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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freigesprochen, da sie aber Schwangerschaft und Geburt verheimlicht hatte, stand sie nach Gesetz prinzipiell unter Kindsmordverdacht. Dieser wurde jedoch dadurch entkräftet, dass kurz nach ihrer Niederkunft ein Chirurgus und ein Accoucheur hinzugekommen waren, die bestätigen konnten, dass sie eine Totgeburt gehabt hatte. Nun bat Wagners Mutter um Erlass der restlichen 16 Monate der sechsjährigen Zuchthausstrafe [s. B.I.3.].365 In seinem Immediatbericht erwog v. d. Reck ihre Begnadigung, „da die Wagnern ihrem Kinde nicht die geringste Gewalt gethan“ und sie sich außerdem während des Zuchthausaufenthalts „wohl betragen“ habe. Friedrich Wilhelm II. ließ sich von den mildernden Umständen und der Gnadenwürdigkeit der Person überzeugen und befahl ihre Freilassung – sieben Jahre, bevor das ALR mit milderen Strafen für Kindsmordverdacht in Kraft trat.366 Friedrich Wilhelm II. verfolgte offensichtlich eine Gnadenpraxis, welche unter anderem die Funktion hatte, gesetzgemäße Verurteilungen auf der Grundlage von Verdachtsmomenten durch Begnadigung zu mildern.
c) Fehlender Vorsatz und Fahrlässigkeit Wie sich bereits beim Mangel an Beweisen [s. o.] angedeutet hat, spielt die Frage nach dem Vorsatz und damit nach der persönlichen Schuld bei dieser Form der Begnadigung eine zentrale Rolle. Samuel Ferdinand Struck konnte zum Beispiel kein Vorsatz für seine Tat nachgewiesen werden, lediglich wegen grober Fahrlässigkeit musste er sich verantworten: Der Töpfermeister hatte im Umkreis seiner Werkstatt in fahrlässiger Weise Rattengift verstreut, wodurch ein Kind zu Tode kam. Da die Vergiftung offenkundig nicht geplant war, erhielt Struck in zweiter Instanz eine milde Strafe von vier Wochen Gefängnis.367 Durch den Erfolg seiner vorherigen Supplikation [s. C.II.6.a)] ermutigt, bat er den Thronfolger in einer weiteren Supplik um gänzlichen Erlass der Gefängnisstrafe und um Niederschlagung der Kosten.368 frei nachgewiesen werden konnte, dass er darum wusste, dass es sich um Diebesgut handelte – vgl. Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 3. Februar 1787; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 5. Februar 1787 / Fallakte Carl Friedrich Telschow; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. 365 Vgl. Annahme-Order vom 13. Mai 1782; Supplik der Mutter Wagner vom 10. Februar 1787 / Fallakte Anna Sophie Magdalena Wagner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.175, fol. 30, 55. 366 Zit. aus: Immediatbericht vom 15. Februar 1787; Kabinettsorder vom 12. Februar 1787; Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 16. Februar 1787 / Fallakte Anna Sophie Magdalena Wagner; in: ebd., fol. 56 f., 54, 58. 367 In erster Instanz lautete das Urteil drei Monate Gefängnis, in zweiter Instanz vier Wochen Gefängnis – vgl. zwei Suppliken des Struck in eigener Sache vom 13. September 1797 und 27. November 1797; Gnadendekrete in Form von Resolutionen vom 25. September 1797 und 4. Dezember 1797 / Fallakte Samuel Ferdinand Struck; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. N, Paket 16.245. 368 Vgl. Supplik des Struck in eigener Sache vom 2. Januar 1798 / Fallakte Samuel Ferdinand Struck; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Da Friedrich Wilhelm III. sehr wohl einsah, dass Struck nicht in „böser Absicht“ gehandelt hatte, erließ er ihm den Großteil der Haftstrafe. Dennoch: „( . . . ) so finden Königliche Majestet von Preußen es jedoch nicht gerathen, ihm [Samuel Ferdinand Struck] einer Strafe gänzlich zu entbinden.“369
Der fahrlässige Umgang mit gefährlichen Stoffen sollte nicht ungestraft bleiben und so verfügte der junge König, dass Struck mit einer Woche Gefängnis und der Zahlung der Kosten dafür büßen sollte.370 d) Verzicht auf Waffengebrauch Der Ober-Appellationssenat sah sich im Fall von Johann Gottlob Schneider zu einer Fürsprache veranlasst, da er sein Vergehen minder schwer bewertete, weil er bei seinem Überfall keine Waffen gebraucht hatte [s. C.I.2.b)]: Der frustrierte Tagelöhner hatte versucht, eine junge Frau zu überfallen, war allerdings durch das Erscheinen von Passanten daran gehindert worden.371 Auf einem Raubüberfall standen eigentlich 15 Jahre Festungsarrest; die Richter der zweiten Instanz plädierten in ihrem Gutachten jedoch für eine Begnadigung Schneiders auf eine sechsjährige Strafe.372 Für die Milderung führten die Richter eine Reihe von Gründen an, wie zum Beispiel Schneiders guten Leumund, seine Jugend sowie eine gewisse Unzurechnungsfähigkeit, die auf übermäßigen Alkoholgenuss zurückging. Das Hauptargument bezog sich jedoch auf die Bewertung der Gewalt: Das Gericht hielt Schneider zugute, weder den Raub ausgeführt, noch „große Gewalttätigkeit“ an den Tag gelegt, noch eine Waffe bei sich getragen zu haben [s. auch C.II.2.a)].373 Justizminister v. Goldbeck nahm die Milderungsgründe in seinem Bericht auf, betonte dabei insbesondere die Bewertung der Gewalt, und legte dem Monarchen nahe, bei „diesen besonderen Umständen“ „Gnade vor Recht“ ergehen zu lassen.374 Die königliche Bestätigung des Urteils sah aufgrund dieser Fürsprache lediglich eine sechsjährige Strafe vor, die allerdings durch eine Züchtigung verschärft werden sollte.375 Damit 369 Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 4. Januar 1798 / Fallakte Samuel Ferdinand Struck; in: ebd. 370 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 4. Januar 1798 / Fallakte Samuel Ferdinand Struck; in: ebd. 371 Vgl. Rechtsgutachten und Fürsprache des Ober-Appellationssenats o. D. [ca. erste Hälfte Juni 1797] / Fallakte Johann Gottlob Schneider; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220. 372 Vgl. Antrag auf Annahme-Order in erster Instanz vom 21. Juli 1796; Rechtsgutachten und Fürsprache des Ober-Appellationssenats o. D. [ca. erste Hälfte Juni 1797] / Fallakte Johann Gottlob Schneider; in: ebd. 373 Zit. aus: Fürsprache des Ober-Appellationssenats o. D. [ca. erste Hälfte Juni 1797] / Fallakte Johann Gottlob Schneider; in: ebd. 374 Zit. aus: Immediatbericht vom 17. Juni 1796 / Fallakte Johann Gottlob Schneider; in: ebd. 375 Vgl. Annahme-Order in zweiter Instanz vom 17. Juni 1797 / Fallakte Johann Gottlob Schneider; in: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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ist dies einer der wenigen Fälle, in denen die Begnadigung bereits in das Urteil einfloss. Der Gnadenträger folgte der Einschätzung des Justizministers und des Ober-Appellationssenats, die Schneiders Raubversuch in der Absicht offenbar nicht ernst nahmen, sondern darin einen unter Alkoholeinfluss spontanen und irrationalen Akt der Frustration sah [s. C.I.2.b)].
e) Jugendlichkeit War ein Delinquent zur Tatzeit unmündig oder noch sehr jung, so wurde dies bei der Urteilsfindung zumeist mildernd berücksichtigt, da man annahm, dass sich ein junger Mensch den Folgen seines Tuns nicht unbedingt bewusst ist. Dass Jugend als mildernder Umstand gewertet werden konnte, war nicht nur unter juristisch Gebildeten bekannt: Die Argumentation zahlreicher Suppliken baut darauf auf.376 So auch bei dem 17-jährigen Stuhlmacherlehrling Christian Friedrich Mette, der seinen Lehrherrn bestohlen hatte: Aufgrund seiner Jugend wurde Mette nur zu 11/2 Jahren Zuchthausarbeit verurteilt.377 Doch damit nicht genug: Mettes Vater setzte bei seiner Gnadenbitte, seinen Sohn bereits nach sechs Monaten Haft freizulassen, nochmals auf dieses Argument. Um die persönliche Schuld seines 376 Die Jugend im Sinne von jugendlicher Uebereilung, die ein Vergehen als einen verzeihbaren Fehltritt erscheinen ließ, und mit der eine besondere Anfälligkeit für Verführung begründet wurde, bildete den am häufigsten genannten mildernden Umstand – vgl. Supplik des Vaters Ebel vom 23. Januar 1787 / Fallakte Abraham Ebel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.175, fol. 347; vgl. Supplik der beiden Brüder Schmidt vom 2. April 1788 / Fallakte Hedwig Sophia Schmidt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 16 – 18; vgl. Supplik des Bruders Carl Simon Guthschmidt vom 1. Mai 1788 / Fallakte Polixena Friederica Guthschmidt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.176, fol. 129; vgl. Supplik der Mutter Schoenemann vom 21. Dezember 1787 / Fallakte Ferdinand Ludewig Schoenemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 22 – 23; vgl. Supplik des Vaters Obheisch vom 1. November 1787 / Fallakte Anne Marie Cornelie Obheisch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.216, fol. 36 – 38; vgl. Supplik des Vaters Schäfer o. D. [ca. um den 7. Juli 1797] / Fallakte Heinrich Schäfer (intus: Tescher, Reichert, Bergmüller); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241; vgl. Supplik des Brotherrn, Kaufmann Friedrich, vom 23. März 1787 / Fallakte Guiremann (intus: Treptow); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053; vgl. Supplik des Onkels Pantzer vom 15. Mai 1787 / Fallakte Johann Michael Pantzer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053; vgl. Supplik des Stapelfeld in eigener Sache vom 2. April 1784 / Fallakte Dieterich Stapelfeld; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956; vgl. Supplik der Mutter Müller vom 28. August 1786 / Fallakte Johann Ferdinand Ludwig Müller; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 15.996; vgl. Supplik der Mutter Lohse vom 1. Januar 1787 / Fallakte Carl Friedrich Lohse; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053; vgl. Suppliken des Vaters Weihse vom 18. und 27. Januar 1787 und 28. Dezember 1788 / Fallakte Weihse; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. 395. 377 Vgl. Rechtsgutachten o D. [ca. Ende März 1797]; Annahme-Order vom 27. März 1797 / Fallakte Christian Friedrich Mette; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.077. Männliche Minderjährige wurden – ebenso wie Gebrechliche – von der Festungshaft verschont; stattdessen wurden sie ins Zuchthaus geschickt, welches ansonsten verurteilten Frauen vorbehalten war.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Sohnes am Diebstahl zu mindern, machte der Vater ihn um zwei Jahre jünger, als jener offenbar war.378 Der Vater behauptete darüber hinaus, dass Mette durch ältere Lehrburschen zum Diebstahl verleitet worden sei; vor Gericht hätte Mette angeblich die Schuld auf sich genommen: „( . . . ) als ein Soldaten-Sohn, und durch deren Zureden [seiner übrigen Consorten] alles auf sich nahm, als wenn Er allein, um die übrigen durchzuhelfen, Schuld hätte.“379
In der Rechtspraxis galt die Verführung junger Menschen zu einem Vergehen in der Tat als ein mildernder Umstand.380 Die Möglichkeit einer Verführung hatten die Richter bei der Untersuchung des Diebstahls tatsächlich geprüft, sie jedoch explizit ausgeschlossen: Im Rechtsgutachten wird festgestellt, dass Christian Friedrich Mette den Diebstahl „ohne jede Anreizung“ Dritter begangen hatte; seine beiden Freunde wurden daher freigesprochen.381 Der Vater versuchte dennoch die Schuld am Diebstahl auf mehrere Schultern zu verteilen – und hatte damit sogar Erfolg: In der Supplik wurde der Passus: „Mithülfe dieser Fremder Lehrjungen“ – wahrscheinlich vom Justizminister – mit Bleistift unterstrichen, weil ihm dieser Hinweis angesichts des jugendlichen Alters des Stuhlmacherlehrlings evident zu sein schien.382 Positiv auf die Gnadenwürdigkeit dürfte sich auch das Angebot von Mettes Brotherrn ausgewirkt haben, seinen Lehrburschen trotz des Vertrauensbruchs wieder aufzunehmen, damit dieser seine Ausbildung abschließen kann.383 Dieser Umstand stieß aber offensichtlich nicht so sehr auf das Interesse des Gnadenträgers wie der Hinweis auf die angeblichen Anstifter: Unter der Bedingung, dass die in der Supplik angeführten Umstände – insbesondere die Jugend des Delinquenten und die Mitschuld Dritter – „gegründet“ seien, solle Christian Friedrich Mette „die noch übrige Straf-Zeit erlassen“ werden, so der Wille des Monarchen.384 378 Vgl. Supplik des Vaters Mette vom 25. November 1797; Rechtsgutachten o. D. [ca. Ende März 1797] / Fallakte Christian Friedrich Mette; in: ebd. 379 Supplik des Vaters Mette vom 25. November 1797 / Fallakte Christian Friedrich Mette; in: ebd. 380 Dies lässt sich besonders deutlich am Delikt Inzest ablesen: Obwohl es sich in zahlreichen Fällen um eine Beziehung auf gegenseitigem Einverständnis handelte, und demzufolge die „persönliche Schuld“ theoretisch zu gleichen Teilen auf beide Partner verteilt war, wurde der ältere der beiden – häufig der Stiefvater oder die Stiefmutter – stets härter bestraft als der jüngere Partner. Man ging von der Vorstellung aus, dass die ältere Person die jüngere zu sexuellen Handlungen verleitet hatte; das Geschlecht spielte hier hingegen keine Rolle. Z. B. wurde Georg Henckel zu einem Jahr Festungsarrest, seine Stieftochter Elisabeth Hübner jedoch nur zu sechs Monaten Zuchthaus verurteilt, obwohl sie eine auf Übereinkunft beruhende Partnerschaft führten – vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 26. November 1796]; Annahme-Order vom 12. Dezember 1796 / Fallakte Georg Henckel und Elisabeth Hübner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.957. 381 Zit. aus: Rechtsgutachten o. D. [ca. Ende März 1797]; vgl. Annahme-Order vom 27. März 1797 / Fallakte Christian Friedrich Mette; in: ebd. 382 Zit. aus: Supplik des Vaters Mette vom 25. November 1797 [Unterstreichung im Original] / Fallakte Christian Friedrich Mette; in: ebd. 383 Vgl. ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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Die Strafverkürzung über 11 Monate – also fast zwei Drittel der Strafdauer – wurde gewährt, ohne dass, wie sonst üblich, die Behauptungen in der Supplik nochmals geprüft wurden, denn dann wäre die Diskrepanz zwischen den Ermittlungsergebnissen und den Aussagen des Vaters zur Sprache gekommen.
f) Ermittlungsdauer In den Suppliken wurde häufig die lange Dauer der gerichtlichen Ermittlung kritisiert, welche üblicherweise zwischen fünf Monaten und einem Jahr lag [s. A.III.3.b)]. Diese Zeit hatten die angeklagten Personen bereits im Untersuchungsarrest verbracht, bevor sie im Anschluss daran die eigentliche Haftstrafe antraten. Eine Strafverkürzung erhofften sich etliche Supplikanten und Supplikantinnen von der Anrechnung des Untersuchungsarrestes auf die Strafzeit. Hinter dem Ansinnen stand vermutlich die Meinung, dass die Angeklagten quasi doppelt bestraft wurden – zum einen durch den Arrest, zum anderen durch das Urteil. Die obrigkeitlichen Akteure ließen dieses Argument allerdings in der Regel nicht gelten: Eine solche Gnadenbitte wurde zumeist abgelehnt, da das Prinzip galt, dass der Untersuchungsarrest mit der gerichtlich erkannten Strafe nicht zu verrechnen ist. Der Fall des wegen Urkundenfälschung überführten Journalisten Christian Friedrich Wredow stellt in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar. Als der Journalist die Chance erhielt, in seiner Profession „ein Unterkommen“ in Südpreußen zu finden, versuchte er im Wege der Supplikation die baldige Freilassung zugesprochen zu bekommen, so dass er die Offerte annehmen konnte. Die Dringlichkeit seiner Gnadenbitte erklärte er damit, dass ihm – falls der „so günstige Zeitpunckt verloren“ ginge – „gar keine Hofnung“ mehr bliebe, in seiner Profession je ein ehrliches Auskommen zu finden, um seine prozessbedingten Schulden tilgen zu können.385 In zwei parallel an den Minister und an Friedrich Wilhelm II. gerichteten Suppliken bat er um Anrechnung der erlittenen Untersuchungshaft, was einem Erlass der restlichen Haftzeit von fünf Monaten entsprach. Als Begründung führte Wredow an, dass die Urteilsfindung sehr lange gedauert habe, obwohl er gleich zu Beginn der Untersuchung „ein offenes Bekenntniß“ abgelegt habe.386 Die Prozessakten wurden auf diese Behauptung hin geprüft. Da Wredow tatsächlich bei Prozessbeginn ein Geständnis abgelegt hatte, wurde ihm die Strafverkürzung gewährt, wenngleich nur um drei statt der erbetenen fünf Monate: 384 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 27. November 1797 und vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 4. Dezember 1797 / Fallakte Christian Friedrich Mette; in: ebd. 385 Zit. aus: mediate und vgl. immediate Supplik des Wredow in eigener Sache, beide vom 16. Januar 1796 / Fallakte Christian Friedrich Wredow; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220. 386 Zit. aus: immediate Supplik des Wredow in eigener Sache vom 16. Januar 1796 / Fallakte Christian Friedrich Wredow; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
„( . . . ) in Rücksicht der zwischen der Vorlegung der wider ihn verhandelten Untersuchungs-Acten und der erfolgten Sentenz verflossenen Zeit, drey Monath von dem erkandten Arreste erlaßen werden sollen.“387
Man fragt sich allerdings, warum in Wredows Fall die Ermittlungsdauer auf die Strafe angerechnet wurde, in zahlreichen anderen Fällen, in denen trotz des Geständnisses die Ermittlung sogar um einiges länger andauerte, jedoch nicht. Eine mögliche Erklärung bieten die guten Beziehungen, die Wredow als ehemaliger Journalist beim Geheimen Rat offensichtlich zu hohen Amtsträgern pflegte.388
g) Geänderte Gesetzesgrundlage zum Kindsmord Wie schon bei der Loßlassung von zu lebenslanger Haft Verurteilten gab es auch strafrechtliche Gründe für eine Strafverkürzung: Nach Inkrafttreten des ALR betraf dies, wie bereits erwähnt, die Minderung des Strafmaßes bei Kindsmordverdacht [s. C.II.3.a)]. Mit dieser Begründung wurde zum Beispiel Auguste Friederike Geitner die Reststrafe erlassen: Ihre Geschwister reichten eine Supplikation ein, in der sie auf das mildere Strafmaß auf Verheimlichung von Schwangerschaft und Geburt im ALR hinwiesen [s. B.I.5.].389 Nach Prüfung des Falles kam Justizminister v. Goldbeck zu dem Schluss, dass Geitner, die mit einer zehnjährigen Strafe belegt worden war, nach dem ALR aufgrund der erwiesenen Totgeburt lediglich sechs Jahre Zuchthaus absitzen müsste.390 Friedrich Wilhelm II. entschied daraufhin: „( . . . ) daß die im Zuchthause zu Spandau befindliche Geitnern wegen verheimlichter Schwangerschaft, die jetzo gesetzliche Zeit sechs Jahre aussitzen, mithin noch ein halbes Jahr daselbst behalten werden soll.“391 387 Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 8. Februar 1796 / Fallakte Christian Friedrich Wredow; in: ebd. Diese Begnadigung erstaunt auch insofern, als dem Journalisten bereits eine Umwandlung der Festungsstrafe in eine Gefängnisstrafe sowie ein regelmäßiger Ausgang zugestanden wurde [s. C.II.5.a)ee) und C.II.6.a)]. 388 Um seine Gnadenwürdigkeit zu unterstreichen, verwies Wredow in seiner Supplik auf seine gute Führung in der Haft, worüber angeblich der Kammergerichtsrat Heinrich Ludwig v. Warsing Zeugnis ablegen könne. In seiner Funktion als Richter des Kammergerichts hatte v. Warsing vermutlich beruflich mit dem Rats-Journalisten Wredow zu tun gehabt. Auch bestand theoretisch die Möglichkeit, dass v. Warsing tatsächlich Kontakt zu Wredow während dessen Arrest in der Hausvogtei hätte haben können, da der Richter laut Adress-Kalender ebendort wohnte. – Vgl. immediate Supplik des Wredow in eigener Sache vom 16. Januar 1796 / Fallakte Christian Friedrich Wredow; in: ebd. 389 Vgl. Supplik der Geschwister Geitner vom 28. Oktober 1795 / Fallakte Auguste Friederike Geitner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 33 – 35. 390 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 27. Mai 1790]; Annahme-Order vom 14. Juni 1790; Immediatbericht vom 30. November 1795 / Fallakte Auguste Friederike Geitner; in: ebd., fol. 21 – 29, 31, 36. 391 Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 1. Dezember 1795 / Fallakte Auguste Friederike Geitner; in: ebd., fol. 37.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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Hier zeichnet sich bereits ein Prinzip der Gnadenpraxis unter Friedrich Wilhelm II. ab: Im Wege der Begnadigung sollte das Strafmaß von Urteilen alter Fälle an das der milderen Konditionen des ALR angepasst werden. Der Fall Auguste Friederike Geitner hätte theoretisch bereits Ende 1795 der Auslöser für eine Revision alter Fälle von Kindsmordverdacht sein können. Es brauchte jedoch noch einen weiteren Anstoß – konkret die Supplikation im Fall Anna Dorothea Devouschack [s. C.II.3.a)] – und so dauerte es noch weitere zehn Monate, bis sich die Kriminaldeputation für eine Revision alter Kindsmordfälle einsetzen sollte.392 In Rahmen der Revision wurde unter anderem auch der Fall Maria Elisabeth Neyen geprüft und zur Begnadigung vorgeschlagen. Auch sie stand unter Kindsmordverdacht, weil sie Schwangerschaft und Geburt verheimlicht hatte; für den Tod ihres Kindes zog man sie indes nicht in die Verantwortung, da die Mediziner ihr eine Totgeburt bescheinigten.393 In einer Fürsprache wies die Kriminaldeputation darauf hin, dass das ALR im Fall einer verheimlichten Totgeburt lediglich eine vier- bis sechsjährige Strafe vorsah [s. C.I.2.c)], während Maria Elisabeth Neyen – wie Auguste Friederike Geitner – laut Urteil eine zehnjährige Zuchthausstrafe büßen sollte. Da Neyen – anders als Geitner – bereits über sieben Jahre in Haft saß, wurde sie 1797 mit sofortiger Wirkung begnadigt.394 Neben der strafrechtlichen Begründung gab die gute Führung im Zuchthaus – wie schon bei der Loßlassung von zu lebenslanger Haft Verurteilten [s. C.II.3.b)] – auch in den Fällen Neyen und Geitner den Ausschlag für die Strafverkürzung. h) „Conservation“395 der Wirtschaft Strafverkürzung wurde in Ausnahmefällen auch gewährt, wenn die Wirtschaft der Verurteilten unter ihrer haftbedingten Abwesenheit darbte, so dass der Unterhalt der Familie nicht mehr gewährleistet war [s. C.II.5.a)ee) und C.II.6.a)]. Von der wirtschaftlichen Notlage profitierte zum Beispiel der Bauer Christian Pallasch: Wegen Inzest mit seiner Stieftochter wurde Pallasch zu sechs Monaten Festungsarbeit verurteilt.396 Er supplizierte und bat um Umwandlung der Haftstrafe in eine 392 Ausschlag dafür gab 1796 der Gnadenfall Anna Dorothea Devouschack [s. C.II.3.a); zur Revision s. C.I.2.c)], vermutlich weil hier – anders als im Fall Geitner – die Kriminaldeputation in den Gnadenvorgang involviert war – vgl. Bericht der Kriminaldeputation vom 20. Oktober 1796 / Fallakte Anna Dorothea Devouschack; in: ebd., fol. 28 – 42. 393 Zum Tathergang und zum Verfahren vgl. Fallakte Maria Elisabeth Neyen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.177, fol. 259 – 274. 394 Vgl. Fürsprache der Kriminaldeputation für Maria Elisabeth Neyen vom 4. Mai 1797; Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 14. Juni 1797 / Revision (intus: Devouschack); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 85 f., 109. 395 Zit. aus: Schreiben an Prinzessin Friederike v. Preußen vom 31. Dezember 1789 / Fallakte Friederike Lentz; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055. 396 Eine erste Milderung der gerichtlich erkannten Strafe fand bereits im Wege der Urteilsbestätigung statt: Während die Gerichte sowohl in erster als auch in zweiter Instanz ein Jahr
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Geldbuße, damit er frei komme, weil sein Knecht „unter die Soldaten genommen“ worden sei und somit „mein eigenthümlicher Bauern-Hof, ganze Nahrung und Wirtschaft ledig steht“.397 Bei der Entscheidungsfindung über die Supplikation galt es für das Justizdepartement zu bedenken, dass es sich um einen Vollbauern handelte, von dessen Wohlstand auch die lokale Obrigkeit in Form von Abgaben profitierte.398 Ohne zuvor den Monarchen konsultiert zu haben, bewilligte das Justizdepartement Pallasch eine Strafverkürzung um sechs Monate Festungsarrest und begründete dies mit dem Erhalt der Wirtschaft.399 Die von Pallasch erbetene Geldbuße konnte nicht gewährt werden, da die Strafumwandlung üblicherweise nur bei Gefängnishaft, nicht aber bei einer Festungsstrafe bewilligt wurde [s. C.II.5.b)]. Deshalb hätte das Justizdepartement Pallaschs Gnadenbitte ohne weitere Begründung abweisen können. Von der inhaltlichen Zielsetzung der Gnadenbitte abzugehen und eigeninitiativ eine Alternative zur Lösung des wirtschaftlichen Problems zu suchen, stellt für die obrigkeitliche Gnadenpraxis eher eine Ausnahme dar und spricht für die wirtschaftliche Bedeutung von Pallaschs Hof als Einnahmequelle der Obrigkeit. Die Begnadigung war dem Supplikanten längst mitgeteilt worden, als acht Tage später Friedrich Wilhelm III. diese Entscheidung monierte: Er halte „die angetragene Milderung ( . . . ) um die Hälfte ( . . . ) nicht für zweckmäßig“, weil der verlassene Hof auch in einem halben Jahr ruiniert sein werde; stattdessen solle der Knecht vom Militärdienst zurückgestellt werden, damit dieser den Hof in Pallaschs Abwesenheit führen könne.400 Dem Justizminister blieb nichts anderes übrig, als die Order weiterzuleiten und damit die zuvor erteilte Begnadigung rückgängig zu machen.401 Für Christian Pallasch war es ein glücklicher Zufall, dass die Revision Festungsarbeit vorsahen, bewilligte das Justizdepartement lediglich sechs Monate. – Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 18. Mai 1797]; Annahme-Order in erster Instanz vom 6. Juni 1797; Urteilsvorschlag in zweiter Instanz vom 28. September 1797; irrtümliche Annahme-Order vom 9. Oktober 1797; Schreiben des Kammergerichts mit Bitte um Korrektur vom 19. Februar 1798; korrigierte Annahme-Order vom 5. März 1798 / Fallakte Christian Pallasch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 397 Zit. aus: Supplik des Pallasch in eigener Sache vom 27. April 1798 / Fallakte Christian Pallasch; in: ebd. 398 Vgl. auch den Fall des Vollbauern Georg Henckel, der ebenfalls wegen Inzest mit seiner Stieftochter zu einem Jahr Festungsarbeit verurteilt wurde; ihm wurde zugebilligt, die Strafe in zwei Etappen abzusitzen; schließlich bekam auch er die restlichen zwei Monate erlassen, um seine Wirtschaft aufrecht zu erhalten. – Vgl. Suppliken des Henckel in eigener Sache vom 6. Dezember 1797 und 28. Februar 1798; Kabinettsorder vom 2. März 1798 (kein Gnadendekret, aber hieraus geht die kurz zuvor genehmigte Begnadigung hervor) / Fallakte Georg Henckel (intus: Elisabeth Hübner); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.957. 399 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 7. Mai 1798 / Fallakte Christian Pallasch; in: ebd. 400 Zit. aus: Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Kabinettsorder vom 15. Mai 1798; vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 7. Mai 1798; Weisung an das Kammergericht vom 7. Mai 1798 / Fallakte Christian Pallasch; in: ebd. 401 Vgl. Weisung an das Kammergericht vom 21. Mai 1787 / Fallakte Christian Pallasch; in: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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des Dekrets nie bei der zuständigen Stelle eintraf, denn die königliche Order blieb offenkundig in den Mühlen der Bürokratie stecken. Es ist allerdings auch möglich, dass der Justizminister die Revision zwar pflichtgemäß aktenkundig gemacht hatte, aber die Weiterleitung bewusst torpedierte, damit die Eigenmächtigkeit seines Handelns nicht publik würde. Nach Aktenlage wurde Christian Pallasch jedenfalls nach einem halben Jahr auf freien Fuß gesetzt.402 Auch im Fall des Gärtners Johann Christian Lack wurde die Strafverkürzung wirtschaftlich begründet, wobei ein weiterer gnadenwürdiger Umstand eine große Rolle spielte: Die soziale Stellung und das Amt des Supplikanten. Der Gärtner Lack war ursprünglich zu zwei Monaten Zuchthausarbeit verurteilt worden, weil er gestohlenes Baumaterial aufgekauft hatte, welches aus dem königlichen Fundus stammte. Der Verurteilte wandte sich nach Verkündung des Urteils an den Kläger, den Königlichen Ober-Bau-Intendanten Bourmann, mit der Bitte, sich für ihn zu verwenden. Bourmann fand sich bereit, eine Supplik aufzusetzen, in der er für Lack gleich mehrere Strafmilderungen zugleich erbat: Gefängnis anstelle Zuchthaus, eine Verkürzung der Strafdauer, den Aufschub des Strafantritts bis zum Herbst und zudem zwei Tage Ausgang die Woche, damit Lack seiner Profession nachgehen könne [s. C.II.4.h) und C.II.5.a)ee)].403 Als Begründung führte er an, dass Lack „von seiner Hände Arbeit“ lebe, nämlich von der „Bestellung seines Gartens“, womit zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass eine zweimonatige Haft, zumal in der Hauptsaison der Gartenarbeit, Lack und seine Familie an den Bettelstab bringen würde.404 Diese Supplik setzt sich von der Mehrheit der devot gehaltenen Suppliken ab: Das selbstbewusste Auftreten des Supplikanten und die konkreten Vorschläge zum Sanktionsvollzug deuten darauf hin, dass der Supplikant davon ausging, die Modalitäten der Strafe aushandeln zu können. Es ist anzunehmen, dass die Amtsautorität des Supplikanten dazu beitrug, eine großzügige Begnadigung zu ermöglichen: Obwohl einen Gärtner ein zweimonatiger Arbeitsausfall im Winter sicherlich nicht sogleich in den Ruin getrieben hätte, wurde die Strafe auf vier Wochen halbiert; zudem billigte man Lack einen zweitägigen Ausgang je Woche zu, außerdem wurde der Strafantritt auf den Herbst verlegt.405 Das Justizdepartement begründete die Begnadigung damit, dass dies Maßnahmen „Zur Wahrnehmung seiner [Lacks] Wirtschaft“ seien.406 Die Supplikation für Lack ist 402 Dies geht aus einer Supplik hervor, die Pallasch einige Monate nach seiner Entlassung schrieb – vgl. zweite Supplik des Pallasch in eigener Sache vom 9. September 1798 / Fallakte Christian Pallasch; in: ebd. 403 Vgl. Supplik des Ober-Bau-Intendanten Bourmann vom 26. April 1796 / Fallakte Johann Christian Lack; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.062. 404 Zit. aus: Supplik des Ober-Bau-Intendanten Bourmann vom 26. April 1796 / Fallakte Johann Christian Lack; in: ebd. 405 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 2. Mai 1796 / Fallakte Johann Christian Lack; in: ebd. 406 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 2. Mai 1796 / Fallakte Johann Christian Lack; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
ein Beispiel dafür, dass den Supplizierenden offenbar bewusst war, dass sie einen gewissen Aushandlungsspielraum beim Sanktionsvollzug besaßen; eine solche Initiative führte allerdings nur in Ausnahmefällen zu einer weit reichenden Begnadigung wie der Strafverkürzung. Das Wirtschaftsargument für eine Begnadigung bezog sich nicht nur auf den produzierenden Teil einer Wirtschaft, wie etwa auf landwirtschaftliche oder handwerkliche Tätigkeitsbereiche, sondern auch auf den reproduktiven Teil einer Wirtschaft, wie die Kinderbetreuung und die Hauswirtschaft. Ein Beispiel dafür ist die Begnadigung von Friederike Lentz. Sie hatte gestohlenes Bauholz angekauft und sollte als Strafe entweder den Wert zehnfach ersetzen oder – im Falle, dass sie diese Summe nicht aufbringen konnte – zwei Monate Zuchthausarbeit verrichten.407 Sie fand eine prominente Fürsprecherin in der Person der Prinzessin Friederike v. Preußen: Diese bat den Justizminister, der Ehefrau ihres Arbeiters Lentz sowohl die Haftstrafe als auch die Kosten zu erlassen, da die Familie arm und kinderreich sei [s. B.I.10.].408 Daraufhin forderte das Justizdepartement einen Bericht über die Vermögensverhältnisse der Familie Lentz an.409 Nachdem der Hauswirt und die Nachbarn dazu befragt worden waren, kamen die Stadtgerichte zu der Einschätzung, dass die Familie Lentz „in sehr armseligen Umständen“ lebe.410 Da der Unterhalt gerade zum Überleben der siebenköpfigen Familie reiche, könne die Geldbuße nicht geleistet werden. Aber auch die Alternative zur Geldbuße, also die zweimonatige Zuchthausarbeit, wurde im Bericht der Stadtgerichte als problematisch erachtet, da Friederike Lentz von „schwacher und kränklicher Constitution“ sei.411 Die Einwände berücksichtigend entschied das Justizdepartement bzw. der Geheime Rat, der prominenten Fürbitte weitgehend entgegenzukommen, ohne dass der Fall Friedrich Wilhelm II. vorgelegt wurde. Justizminister v. d. Reck informierte Prinzessin Friederike v. Preußen über den Gnadenakt: „( . . . ) so ist es auf meinen im Geheimen Etats-Rath geschehenen Vortrag von der Lage dieser Sache, und in vorzüglicher Rücksicht auf Eurer Königlichen Hoheit gnädigstes Fürwort, unbedencklich gefunden worden, die erkannte 8 wöchentliche Gefängnißstrafe auf drey Tage herunter zu setzen.“412
Der Erlass von 7 Wochen Zuchthaus entsprach weitgehend dem Wunsch der Fürsprecherin, denn eine dreitägige Haftstrafe war sowohl für die Familie materiell 407 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 2. November 1789]; Annahme-Order vom 6. November 1789 / Fallakte Friederike Lentz; in: ebd. 408 Vgl. Fürbitte der Prinzessin Friederike v. Preußen vom 7. Dezember 1789 / Fallakte Friederike Lentz; in: ebd. 409 Vgl. Weisung an die Stadtgerichte vom 11. Dezember 1789 / Fallakte Friederike Lentz; in: ebd. 410 Zit. aus: Bericht der Stadtgerichte vom 23. Dezember 1789 / Fallakte Friederike Lentz; in: ebd. 411 Zit. aus: ebd. 412 Schreiben an Prinzessin Friederike v. Preußen vom 31. Dezember 1789 / Fallakte Friederike Lentz; in: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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als auch für Betroffene gesundheitlich schwer zu verkraften. Der Justizminister hielt bewusst an einer symbolischen Haftstrafe fest, da damit der prinzipielle Vollzug des Gerichtsurteils nicht konterkariert wurde. Die Strafverkürzung begründete der Justizminister explizit mit der „Conservation der Lentzerschen Eheleute“, also dem Erhalt ihrer Wirtschaft.413 Sowohl im Fall von Friederike Lentz als auch im Fall von Johann Christian Lack muss allerdings angenommen werden, dass es neben dem wirtschaftlichen Argument einen weiteren gnadenwürdigen Umstand gab, nämlich die engagierte Fürsprache einer Persönlichkeit mit sozialem Prestige. i) Resümee Die insg. 17 Fälle, welche rund 12,7 Prozent aller Gnadenakte ausmachen, zeigen, dass eine verurteilte Person relativ geringe Chancen hatte, die Haftanstalt vor Ablauf der anberaumten Strafzeit zu verlassen. Eine Verkürzung der Strafdauer in der Phase der Urteilsfindung oder kurz nach der Urteilsverkündung wurde zumeist nur in Verbindung mit Fürsprachen aus dem Justizapparat gewährt. Die obrigkeitlichen Akteure hielten in der Regel an den Prinzipien fest, dass ein Prozess ohne Intervention des Monarchen zum Abschluss geführt und gerichtlich verkündete Urteile vollzogen werden sollten, bevor eine Begnadigung erwogen wurde. Sehr viel häufiger findet sich daher die Variante, dass die noch verbliebene Strafe erlassen wurde, nachdem die Verurteilten bereits den Großteil der Strafe abgesessen hatten. Mit dieser Vorgehensweise demonstrierte die Obrigkeit die Gültigkeit der gerichtlichen Entscheidung. Außerdem hatten die obrigkeitlichen Akteure auf diese Weise Gelegenheit, die Delinquenten und Delinquentinnen in der Haft zu beobachten, um einzuschätzen, ob die Strafe ihren erwünschten Zweck – worunter vor allem Gehorsam sowie Reue über das Vergehen verstanden wurde – bereits erfüllt hatte [s. C.II.2.c) und C.II.3.b)]. Mit Ausnahme von zwei Gnadenfällen wurde in den hier untersuchten Fällen stets das Plazet des Monarchen eingeholt. Bei der Strafverkürzung handelte es sich offensichtlich um eine Form der Begnadigung, die zumeist ein immediates Gnadendekret notwendig machte. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass mit einer Strafverkürzung die ursprünglich im Urteil verhängte Strafe im Vollzug substanziell verändert wird;414 dies stellt einen Eingriff in die Rechtspraxis dar, welcher offensichtlich vom Landesherrn in seiner Funktion als Gnadenträger angewiesen wurde. Die Begründungen für eine Begnadigung im Sinne einer Strafverkürzung sind vielfältig: Hierbei handelt es sich größtenteils um Begründungen, die bereits bei Begnadigungen von weiterreichender Qualität bemüht wurden [s. C.II.1. – C.II.3.]: Zit. aus: ebd. Zwar stellen auch Begnadigungsformen wie die Strafumwandlung [s. C.II.5.] oder der Aufschub bzw. die zwischenzeitliche Aussetzung [s. C.II.6.] einen Eingriff in den Strafvollzug dar; das Strafmaß wurde dabei jedoch beibehalten, so dass man hier nicht von einem substanziellen Eingriff sprechen kann. 413 414
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Neben der Vergebung der Schuld im Wege des General-Pardon [s. C.II.1.a)] wurden vor allem eine Minderung der persönlichen Schuld [s. C.II.1.c) – d), C.II.2.b)] – etwa durch nachweislich fehlenden Vorsatz zur Tat – sowie mildernde Umstände des Tathergangs – wie etwa der Verzicht auf Waffengewalt [s. C.II.2.a)] oder die Verführung von Jugendlichen – angeführt. Daneben liegen auch hier verfahrensimmanente sowie strafrechtliche Gründe vor [s. C.II.3.a)] – wie etwa die Verurteilung auf der Basis von Verdachtsmomenten aus Mangel an Beweisen und die nachträgliche Anpassung der Strafe an neue Gesetze. Das Ansinnen der obrigkeitlichen Akteure, durch eine Begnadigung die Wirtschaft der betroffenen Familien vor dem Ruin bewahren zu wollen, taucht allerdings erstmals in diesem Kontext auf. Mit Blick auf die übrigen Begnadigungsformen zeichnet sich ab, dass es sich hierbei um keine spezifische Begründung für eine Strafverkürzung handelt [s. C.II.5.a)ee), C.II.5.b)cc), C.II.6.a)]. Das Wirtschaftsargument kam offensichtlich erst bei Begnadigungsformen mittlerer bis geringerer Qualität als gnadenwürdige Begründung zum Tragen. Es drängt sich die These auf, dass es sich hierbei um eine Begründung handelte, mit der die Supplizierenden die Modalitäten des Sanktionsvollzugs mit den obrigkeitlichen Akteuren in einem gewissen Maße aushandeln konnten. Die hier untersuchten Gnadenakte und ihre Begründungen legen die Vermutung nahe, dass neben einem überzeugenden gnadenwürdigen Umstand auch weitere Aspekte den Ausschlag für eine Begnadigung gaben: So etwa das soziale Prestige der Fürsprecher für die Verurteilten bzw. deren Beziehung zu Amtsträgern sowie die Berücksichtigung der materiellen Interessen der Obrigkeit. 5. „In via gratia“415 – Umwandlung in eine mildere Strafform Eine zentrale Form der Begnadigung stellt die Umwandlung der verhängten Strafe in eine mildere Strafform (i. S. von Festungs- bzw. Zuchthausstrafe, Gefängnisarrest, Geldbuße, Militärstrafe, Arbeitshaus, Züchtigung, Ehrstrafe etc.) dar. Diese wurde nicht nur häufig von den Supplizierenden erbeten [s. A.III.3.i) – k), B.I.1. – 10.], sondern unter der Regierung Friedrich Wilhelms II. auch relativ häufig gewährt: Die Umwandlung in eine mildere Strafform macht fast ein Viertel aller Begnadigungen aus, nämlich rund 23,9 Prozent. Die hier untersuchten Akten dokumentieren 32 Gnadenakte dieser Art, welche allesamt in der Regierungszeit von Friedrich Wilhelm II. erlassen wurden. Eine gerichtlich erkannte Strafe konnte nicht willkürlich in eine beliebige umgewandelt werden, denn eine solche Begnadigung folgte bestimmten Regeln. Die Qualität einer Begnadigung war von der gerichtlich erkannten Strafform abhängig: War eine ursprünglich Festungs- bzw. Zuchthausarbeitsstrafe verhängt worden, so 415 Zit. aus: Weisung an das Kammergericht vom 29. Juni 1796 / Fallakte Daniel Schröder, Abraham Pittack, Joachim Adermann, Christian Dowe, Dehne; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.063.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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konnte diese in einen Gefängnisarrest – nicht aber in eine Geldbuße – gemildert werden [s. C.II.5.a)]. Ein Gefängnisarrest wiederum konnte mit einer Geldbuße, die nach festen Sätzen berechnet wurde, abgeleistet werden [s. C.II.5.b)]. Außerdem konnten vereinzelt Ehrstrafen durch andere Strafen ersetzt oder Festungsstrafen in Militärstrafen umgewandelt werden [s. C.II.5.c)].
a) Gefängnis anstelle Festung bzw. Zuchthaus Betrachtet man die Strafumwandlungen, so wurde am häufigsten eine Verlegung von der Festung bzw. aus dem Zuchthaus in ein Gefängnis gewährt: Unter Friedrich Wilhelm II. wurden insg. 19 solcher Gnadenakte bewilligt. Gemessen an der Gesamtzahl aller 134 Gnadenakte entspricht dies rund 14,2 Prozent. Die Menge erklärt sich dadurch, dass die Anzahl der verhängten Zuchthaus- bzw. Festungshaftstrafen andere Strafformen in den hier untersuchten Quellen deutlich übertrafen, sicherlich auch deshalb, weil solche Haftstrafen eher als mildere Strafformen Anlass zur Supplikation boten. Bei dieser Spielart der Umwandlung unterscheiden sich die Ausgangsstrafen: zum einen Festungs- und zum anderen Zuchthausarrest. Die Haftbedingungen auf der Festung waren insgesamt härter als im Zuchthaus, sei es im Hinblick auf die Unterbringung, die Verpflegung oder die Art der Zwangsarbeit [s. A.III.3.i)].416 Vor allem aber galt ein Zuchthausaufenthalt – anders als ein Festungsarrest – offiziell nicht als ehrverletzend. Zahlreiche Supplikationen belegen allerdings, dass die Untertanen anderer Ansicht waren, denn das Zuchthaus stand schließlich dafür, eines kriminellen Vergehens überführt und mit einer Haftstrafe belegt worden zu sein.417 Dennoch handelt es sich bei der Festungs- und Zuchthausstrafe letztlich um die gleiche Strafform, die sich nicht nach der Schwere des Vergehens oder nach dem Strafmaß richtete, sondern sich am Geschlecht und Alter der Delinquenten und Delinquentinnen orientierte: Während Männer in der Regel auf die Festung Spandau geschickt wurden, kamen Frauen generell, aber auch junge wie kranke und greise Männer ins Spandauer Zuchthaus. Eine Verlegung von der Festung bzw. vom Zuchthaus ins Gefängnis bedeutete also in erster Linie eine nicht ehrenrührige Strafe [s. A.III.3.i)].418 Außerdem war 416 Auf der Festung wurden die Häftlinge in feuchtkalten Verliesen, teilweise angekettet, untergebracht. Die Zwangsarbeit war harte körperliche Arbeit, wie Festungs- und Straßenbau. Die Verpflegung bestand weitgehend aus Wasser und Brot. Das Zuchthaus hingegen verfügte über Zellen mit Bettstätten; die Verpflegung sah neben Wasser und Brot auch Kohl, Kartoffeln und Gemüse vor. Die Häftlinge mussten dort üblicherweise Spinnarbeit leisten – vgl. Schmidt 1915, S. 20 – 25; vgl. Schmidt 1960; vgl. Lieberknecht 1922, S. 24, 52. 417 Z. B. bat der wegen Diebstahls überführte Färbemeister Baegel um Umwandlung seiner Zuchthausstrafe in Gefängnis, weil er sonst, „wenn gleich nicht nach den Gesetzen, doch nach der Meinung des publici meinen guten Namen und Credit verliere“ – Supplik des Baegel in eigener Sache vom 18. Januar 1795; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.061. Zur Stellung des Zuchthauses vgl. Lieberknecht 1922, S. 24; vgl. Schmidt 1960, S. 18.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
man im Gefängnis von einer bestimmten Zwangsarbeit befreit; man ging dort je nach Fähigkeiten und Kräften verschiedenen Arbeiten nach, den Verdienst durfte man in der Regel zum eigenen Unterhalt nutzen.419 Darüber hinaus bot das Gefängnis weitere Vorteile: Unter Umständen bekam man einen zeitweiligen Ausgang gewährt, um in der eigenen Wirtschaft nach dem Rechten zu sehen [s. C.II.6.]. Außerdem war man im Gefängnis nicht so von der Außenwelt abgeschnitten, wie dies beim Zuchthaus oder bei der Festung der Fall war: Im Gefängnis durfte man regelmäßig Besuch empfangen [s. A.III.3.i)].420 Bei einer Umwandlung wurde die im Urteil erkannte Strafdauer in der Regel beibehalten. Die Begnadigungen wurden auf der Grundlage unterschiedlicher Begründungen, die größtenteils auch bei anderen Formen der Begnadigung angeführt wurden, gewährt. aa) Umgang mit „boshaften verderbten Mißethätern“421 Unter den zahlreichen Begründungen gibt es eine spezifische Argumentation, mit der die Umwandlung einer Festungs- bzw. Zuchthausstrafe in eine Gefängnisstrafe erbeten und gerechtfertigt wurde: Einige Supplikanten und Supplikantinnen beanstandeten, dass ein Aufenthalt auf der Festung bzw. im Zuchthaus die beabsichtigte moralische Besserung der Delinquenten nicht gewährleiste, da sich diese dort angeblich in der Gesellschaft von Kriminellen befänden und unter deren schlechten Einfluss geraten könnten; mit anderen Worten: der eigentliche Zweck der Strafe, die moralische Besserung, sei damit in Frage gestellt.422 Anders dagegen die Situation im Gefängnis: Dort saßen zum einen die Verurteilten minderschwerer Delikte ein; zum anderen waren dort die Angeklagten während ihres Untersuchungsarrestes untergebracht, deren Schuld zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewiesen war. 418 Das Gefängnis galt nicht als Leibesstrafe – vgl. Lieberknecht 1922, S. 13, 24; vgl. Schmidt 1915, S. 18. 419 Vgl. Reglement zur Arbeit der Gefangenen auf dem Kalandshof vom 14. August 1787 / Generalia und Fallakte: Gesuch des Handlungsdieners Pfeiffer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A 1 (Generalia), Paket 15.966, hier § 48, fol. 15 – 26. Allerdings konnte man auch im Gefängnis zur Arbeit verpflichtet werden: Da die Gefangenen die Verpflegungskosten selbst zu tragen hatten, zahlreiche unter ihnen aber unvermögend waren, ging man in den 1790er Jahren dazu über, den armen Untersuchungsgefangenen Arbeiten aufzuerlegen, um die entstandenen Kosten wieder hereinzuholen – vgl. Schmidt 1915, S. 25. 420 Zu den Haftbedingungen z. B. im Kalandshof vgl. Generalia: Instruktion für die Kalandshof-Bedienten vom 14. August 1787 bis 14. Januar 1788; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A 1 (Generalia), Paket 15.965; vgl. Eberhard Schmidt, Entwicklungen und Vollzug der Freiheitsstrafe in Brandenburg-Preußen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Freiheitsstrafe; in: Abhandlungen des kriminalistischen Instituts an der Universität Berlin, 3. Folge, 2. Band, 2. Heft, Berlin 1915, hier S. 22 – 25; vgl. Eberhard Schmidt, Zuchthäuser und Gefängnisse. Zwei Vorträge, Göttingen 1960. 421 Zit. aus: Bericht der Stadtgerichte vom 4. März 1793 / Fallakte Johann Andreas Krüger; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 422 Zum Strafzweck vgl. Wagnitz 1791, 1. Bd., S. 3 – 28.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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Auch wenn zahlreiche Supplizierende auf die besseren Haftbedingungen im Gefängnis [s. o.] spekulierten, ihre Bitte um Umwandlung in eine Gefängnisstrafe begründeten sie jedoch meist nur mit dem schlechten Umgang im Zuchthaus und auf der Festung. Diese Sicht teilten offenkundig auch die Staatsdiener im Justizwesen, denn mit diesem Argument rechtfertigten sie in fünf Fällen die erbetene Begnadigung. Zum Beispiel gaben der Justizminister und die Räte im Fall des 17-jährigen Carl Ludwig Glaser offen zu, dass „für seine Moralität in dem Zuchthause nichts Erspriessliches zu erwarten ist“ und begnadigten ihn deshalb zu einer ebenso langen Gefängnisstrafe.423 Galt dies bereits für das Zuchthaus, so waren die Vorbehalte gegenüber der Festung noch größer: Nachdem der Handlungsdiener Johann Andreas Krüger wegen Geldfälschung zu 11/2 Jahren Festungsarrest verurteilt worden war, bat sein Vater um eine Umwandlung der Strafe in Gefängnis.424 Er kritisierte, dass sein Sohn auf der Festung in Gesellschaft von Menschen „ohne allen Rath und Zurechtweisung“ sei, was zur Folge habe, dass: „( . . . ) sein Hertz verderben, und es völlig gegen die noch übrigen Regungen der Ehre und des kindlichen Gefühls abstumpfen werden.“425
Während die Festungshäftlinge weitgehend sich selbst überlassen seien, könne er als Vater im Gefängnis „durch Rath und Väterliche Ermahnungen“ Einfluss auf ihn nehmen. Außerdem bestehe dort die Möglichkeit, seinen Sohn für die elterliche Tabakmanufaktur arbeiten zu lassen.426 Das Anliegen des Vaters überzeugte die Richter der Stadtgerichte, welche zu einer Stellungnahme zur Krügerschen Supplikation aufgefordert worden waren: „Die Gründe, welche der Supplicant zu Unterstützung seines Gesuches anführet, scheinen uns nicht unerheblich zu seyn. Es ist richtig, daß in den hiesigen Gefängnißen, eine genauere Aufsicht gehalten, und die Gelegenheit zum Umgang mit boshaften verderbten Mißethätern, leichter benommen werden kann, als auf der Vestung, und ebenso gewiß ist es, daß der Vater, wenn er ihn hier in der Nähe hat, ihn leichter auf eine mögliche, seiner künftigen Bestimmung angemeßene Art, im Gefängniß beschäftigen, und durch seinen Zuspruch und väterliche Ermahnungen an beßere Ausbildung seines moralischen Charakters, mit arbeiten kan. Der erste Endzweck einer jeden Strafe, nämlich Beßerung des Missethäters, würde also höchst wahrscheinlich hierdurch eher erreichet werden, als auf der Vestung, wo er sich ganz selbst überlaßen, und von Seiten der bösen Gesellschaft, die er darselbst antrift, der Verführung zu größeren Übelthaten ausgesezt sein würde.“427 423 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 17. Juli 1797; vgl. Supplik des Vaters Glaser vom 15. März 1797 / Fallakte Carl Ludwig Glaser; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.065. 424 Zit. aus: Supplik des Vaters Krüger vom 14. Februar 1793 / Fallakte Johann Andreas Krüger; in: ebd. 425 Ebd. 426 Neben der Umwandlung bat der Vater um eine Strafverkürzung unter Anrechnung der fünf Monate Untersuchungsarrest – vgl. ebd. 427 Bericht der Stadtgerichte vom 4. März 1793 / Fallakte Johann Andreas Krüger; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Auch die Richter waren der Ansicht, dass die „Beßerung des Missethäters“ eher unter der väterlichen Aufsicht und fern des Umgangs mit „boshaften verderbten Mißethätern“ erreicht werden könne. Die Argumente leuchteten auch höheren Orts ein: Die Umwandlung in eine ebenso lange Gefängnisstrafe wurde „aus Gnaden“ gewährt.428 Daraus ist zu schließen, dass nicht einmal die Rechtsaufsichtsbehörde an die Wirkung, die man öffentlich dem Strafvollzug zuschrieb, glaubte. Für die obrigkeitlichen Akteure wirkte das Argument der moralischen Besserung auch aus dem Munde eines Landrats und Gutsherrn überzeugend: V. Arnim hatte neben den „Rädelsführern“ fünf weitere Drescher – Daniel Schröder, Abraham Pittack, Joachim Adermann, Christian Dowe und Dehne – des „langjährigen GetreideDiebstahls“ bezichtigt. V. Arnim bat in seiner Funktion als Gutsherr und Kläger, seine fünf Untertanen von einer Haft zu verschonen und schlug vor, sie stattdessen mit einer durch ihn zu verabreichenden Züchtigung zu belegen [zum Motiv s. B.I.9.].429 Mit folgendem Argument versuchte v. Arnim, den Gnadenträger von seinem Anliegen zu überzeugen: „Werden diese Leute dahingegen zum Vestungsbau unter einen ganzen Schwarm von Dieben und Bösewichtern gebracht, so wird ihr moralischer Character von Grund aus verdorben, und sie sind auf immer verlohren.“430
Auch v. Arnim hatte eine schlechte Meinung vom Strafvollzug auf der Festung: Er befürchtete, dass Häftlinge dort durch den Umgang mit Bösewichtern moralisch verdorben würden. Um gegenüber den obrigkeitlichen Akteuren zu zeigen, dass er an die Redlichkeit seiner Untertanen glaubte, verzieh er ihnen den Getreidediebstahl und verzichtete auf Schadensersatz.431 Als Friedrich Wilhelm II. die Supplik des Landrats und Gutsherrn vorgelegt wurde, delegierte er zwar die Entscheidung an seinen Justizminister, drückte zugleich aber seine grundsätzliche Bereitschaft aus, Gnade zu gewähren, indem er v. Goldbeck anwies, die von v. Arnim angeführten Umstände „in gehöriger Erwegung“ zu berücksichtigen.432 Daraufhin verlangte dieser vom Kammergericht eine Stellungnahme zur Gnadenbitte, gab dabei allerdings das Votum vor: Mit den „von dem Supplicanten angeführten Gründen“ ließe sich lediglich eine Umwandlung in Gefängnisstrafe „in via gratia“, jedoch kein genereller Erlass der Haftstrafe vertreten.433 Es hat den Anschein, dass v. Goldbeck mit dieser Vorgabe ein Plädo428 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Weisung an die Stadtgerichte vom 11. März 1793; vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 11. März 1793 / Fallakte Johann Andreas Krüger; in: ebd. 429 Vgl. Supplik des Landrats und Gutsherrn v. Arnim vom 18. Juni 1795; Annahme-Order vom 4. Juni 1795 / Fallakte Daniel Schröder, Abraham Pittack, Joachim Adermann, Christian Dowe, Dehne; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.063. 430 Ebd. 431 Vgl. ebd. 432 Zit. aus: Kabinettsorder vom 21. Juni 1795 / Fallakte Daniel Schröder, Abraham Pittack, Joachim Adermann, Christian Dowe, Dehne; in: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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yer der Richter auf Straferlass vorab verhindern wollte, weil dies aus seiner Sicht zu nachsichtig gewesen wäre. Das Gnadendekret fiel dementsprechend aus: Drei der Verurteilten – Schröder, Pittack und Adermann – wurden begnadigt, indem ihre Festungsstrafen in Gefängnis umgewandelt wurden, dafür erhielten sie allerdings noch eine „ihrer Leibes-Constitution angemeßene mäßige Züchtigung“.434 In der Resolution wurde den Delinquenten mitgeteilt, dass die Begnadigung nur deshalb gnädigst deferirt würde, weil ihr Gutsherr als Fürsprecher seiner Untertanen aufgetreten war: Er halte sie für Verführte, aber „sonst moralisch gute Menschen“, deren moralische Besserung man auf der Festung nicht erreichen könne.435 Die Botschaft war deutlich: Die Untertanen sollten wissen, dass sie nicht nur dem Gnadenträger, sondern auch ihrem Gutsherrn zu Dank verpflichtet waren. Mit diesem Gnadenakt wurde nicht nur die Herrschaft des Monarchen, sondern zugleich auch die der lokalen Obrigkeit inszeniert. Das Argument, der schlechte Umgang auf der Festung bzw. im Zuchthaus fördere nicht die beabsichtigte moralische Besserung der Delinquenten, ist bei näherer Betrachtung als Begründung für eine Begnadigung nicht stichhaltig: Folgt man dieser Logik, so hätte die Obrigkeit in keinem Fall die Delinquenten und Delinquentinnen auf die Festung bzw. in das Zuchthaus überstellen dürfen, da sie offensichtlich damit rechnete, dass entlassene Häftlinge nach kurzer Zeit wieder rückfällig würden – der Sinn und Zweck einer Haftstrafe bestand aber offiziell gerade darin, dies nachhaltig zu verhindern. Das Argument wurde allerdings nur in wenigen Gnadenfällen akzeptiert, in denen die Delinquenten noch recht jung waren und es nach Ansicht der obrigkeitlichen Akteure hinreichend Indizien für die Gnadenwürdigkeit der zu begnadigenden Personen gab – wie zum Beispiel Fürsprecher mit hohem sozialen Prestige wie etwa ein Gutsherr oder das Versprechen eines Vaters, dem Sohn eine strenge Erziehung angedeihen zu lassen.436
433 Zit. aus: Weisung an das Kammergericht vom 29. Juni 1796 / Fallakte Daniel Schröder, Abraham Pittack, Joachim Adermann, Christian Dowe, Dehne; in: ebd. 434 Keine Begnadigung erhielt hingegen Dowe, der angeblich zu den angeblichen Rädelsführern gehörte. Im Fall von Dehne hatte sich die Gnadenbitte erübrigt, da er freigesprochen worden war – zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 27. Juli 1795 / Fallakte Daniel Schröder, Abraham Pittack, Joachim Adermann, Christian Dowe, Dehne; in: ebd. 435 Zit. aus: ebd. 436 Die Erfordernis, zum einen die Gnadenwürdigkeit und zum anderen eine formale Begründung für eine erfolgreiche Begnadigung vorzuweisen, belegt auch der Fall des Johann George Baegel: Seinen guten Leumund ließ er sich durch zwei Militärkommandeure und durch den Obermeister des Färbereigewerbes bezeugen; formal wurde seine Begnadigung mit dem Erhalt seiner Wirtschaft begründet [s. u.] – zu den Zeugnissen vgl. Bericht der Stadtgerichte vom 30. März 1795; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 20. April 1795; Supplik des Baegel in eigener Sache vom 18. Januar 1795 / Fallakte Johann George Baegel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.061.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
bb) Kritischer Gesundheitszustand Für Kranke und Schwache bot das Gefängnis bessere Haftbedingungen als die Festung bzw. das Zuchthaus: Dies galt weniger für die hygienischen Umstände, als vielmehr für den im Gefängnis nicht geltenden Arbeitszwang. Außerdem bestand für Angehörige die Möglichkeit, die verurteilte Person täglich zu besuchen, sie mit Lebensmitteln und Decken zu versorgen und gegebenenfalls zu pflegen. So zum Beispiel im Fall von Maria Amelang: Sie wurde des Diebstahls überführt und erhielt eine dreimonatige Zuchthausstrafe.437 Ihr kritischer Gesundheitszustand veranlasste das Justizamt Alt-Ruppin zu einer Fürsprache, in der eine Umwandlung in eine Gefängnisstrafe nahe gelegt wurde: Sie bedürfe der Krankenpflege, da sie unter den „erbärmlichsten Leibesumstände[n]“ leide, und könne außerdem, „von Schlagfluß gelähmet“, die im Zuchthaus übliche Spinnarbeit nicht verrichten [ausführlich zu diesem Fall s. C.I.2.e)].438 Das Argument überzeugte den Justizminister und die Räte und so wurde der Fürsprache stattgegeben; die Akten verraten indes nicht, wie die Kranke die Gefängnishaft überstand.439 Der Vergleich mit anderen ernstlich erkrankten Verurteilten zeigt jedoch, dass diese Form der Begnadigung trotz der nachvollziehbaren Begründung offensichtlich eine Ausnahme darstellt.440 cc) Schutz des neugeborenen Lebens Auf Betreiben der ermittelnden Justizämter ließ das Justizdepartement in drei Fällen eine Zuchthaus- durch eine Gefängnisstrafe ersetzen [s. C.I.2.e)]. Begründet wurden die Begnadigungen damit, dass die verurteilten Frauen jeweils ein Stillkind zu versorgen hatten. Laut Urteil sollten die drei Frauen mehrere Monate bzw. zwei Jahre ins Zuchthaus, in welches sie ihre Kinder aber nicht hätten mitnehmen können.441 437 Vgl. Annahme-Order vom 10. März 1788 / Fallakte Maria Amelang; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.054. 438 Zit. aus: Fürsprache des Justizamts Alt-Ruppin vom 18. April 1788 / Fallakte Maria Amelang; in: ebd. 439 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 5. Mai 1788 / Fallakte Maria Amelang; in: ebd. 440 Im Vergleich zum Fall Amelang ist z. B. nicht ersichtlich, warum man dem schwer erkrankten Matthias Dunckert van der Hoff die wegen Hehlerei verhängte einjährige Festungsnicht in eine Gefängnisstrafe umwandelte: Laut Bericht der Stadtgerichte wurde Dunckert für transportunfähig gehalten und für die Festungsarbeit als „ganz unfähig“ eingeschätzt; er bedurfte sogar ständiger Pflege, ansonsten würde er „binnen kurzer Zeit darauf gehen und ein Raub des Todes werden“. Trotz Dunckerts kritischen Zustands verzichteten die obrigkeitlichen Akteure nicht auf den Vollzug der vorgesehenen Strafe, vielmehr sollte er solange im Gefängnis bleiben, bis er auf die Festung überführt werden konnte – zit. aus: Bericht der Stadtgerichte vom 11. Dezember 1793; vgl. Supplik des Dunckert in eigener Sache vom 26. November 1793; Dekret über abgelehnte Gnadenbitte vom 23. Dezember 1793 / Fallakte Matthias Dunckert van der Hoff; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.059. 441 Dorothea Sophie Hunzinger wurde wegen „Vielmännerey“ zu zwei Monaten Zuchthausarbeit verurteilt – vgl. Annahme-Order vom 27. April 1798 / Fallakte Dorothea Sophie
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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Die 25-jährige Dorothea Sophie Hunzinger hatte gerade vor vier Wochen entbunden. Das Justizamt Alt-Ruppin schlug in seiner Fürsprache vor, Hunzinger die ihr auferlegte Haft im Gefängnis vor Ort absitzen zu lassen, damit sie ihr Kind dorthin mitnehmen oder es sich zum Stillen bringen lassen könne [s. C.I.2.e)]. Das Justizamt prophezeite, dass die Einweisung der Mutter ins Zuchthaus den Tod des Neugeborenen bedeuten würde: „( . . . ) das Kind würde gewiß ein Opfer der strengen Gerechtigkeit werden, wenn wir solches von der Mutter Brust reißen ( . . . ).“442
Auch das Justizamt Lenzen hatte mit seiner Fürsprache im Fall der Witwe Ilse Marie Schütte Erfolg: Kategorisch wurde festgestellt, dass Schütte ihre Kinder nicht verlassen könne, weil das jüngste „noch von ihr gesäuget wird“ [s. C.I.2.e)].443 Anna Dorothea Meves, verehelichte Gaedicken, konnte keine amtliche Fürsprache vorweisen, wohl aber trug sie ihre Gnadenbitte im Justizamt Freienwalde mündlich vor. Ihr stand eine zweijährige Zuchthausstrafe bevor, doch hatte sie vor sechs Wochen entbunden: „( . . . ) so wüste ich nicht, wer unterdeßen die Pflege und Wartung meiner Kinder übernehmen sollte, insbesondere aber bedarf mein jüngstes Kind derselben vorzüglich, und kann bey seiner zarten Jugend der Mutter-Brust nicht sogleich entrißen werden.“444
Anna Dorothea Meves bat nicht um etwa Straferlass, sondern lediglich um Einweisung in das Gefängnis vor Ort. Ihr Anliegen wurde insofern vom Justizamt Freienwalde unterstützt, als im Begleitschreiben an das Justizdepartement betont wurde, dass sie „einen nicht unerheblichen Grund“ für die Gnadenbitte habe.445 Das in den drei Fällen vorgetragene Argument war offenbar überzeugend, denn nicht nur das Kammergericht, sondern auch das Justizdepartement plädierte in allen drei Fällen für eine Strafumwandlung: Dorothea Sophie Hunzinger sollte die zwei Monate im Alt-Ruppiner Gefängnis verbringen, Ilse Marie Schütte leistete die ihr auferlegten sechs Monate nun im Gefängnis zu Lenzen ab und Anna DoroHunzinger; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. Witwe Ilse Marie Schütte wurde wegen Unzucht mit ihrem Stiefsohn zu sechs Monaten Zuchthausarbeit verurteilt – vgl. Annahme-Order vom 6. März 1797 / Fallakte Ilse Marie Schütte (intus: Ludwig Nicolaus Schütte); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. Anna Dorothea Meves, verehelichte Gaedicken, wurde wegen Diebstahls zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt – vgl. Annahme-Order vom 10. November 1788 / Fallakte Anna Dorothea Meves, verehelichte Gaedicken; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.054 (1788), zum Fortgang des Falls vgl. auch ebd., Paket 16.055 (1789). 442 Fürsprache des Justizamts Alt-Ruppin vom 31. Mai 1789 / Fallakte Dorothea Sophie Hunzinger; in: ebd. 443 Zit. aus: Fürsprache des Justizamts Lenzen vom 9. Mai 1797 / Fallakte Ilse Marie Schütte; in: ebd. 444 Mündlich vorgetragene Supplik der Meves in eigener Sache vom 3. Januar 1789 / Fallakte Anna Dorothea Meves; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055. 445 Zit. aus: Begleitschreiben des Justizamts Freienwalde vom 7. Januar 1789 / Fallakte Anna Dorothea Meves; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
thea Meves durfte – allerdings nur „bis zur Entwöhnung ihres neugebohrenen Kindes“ – im Freienwalder Gefängnis bleiben, um darauf ins Zuchthaus überstellt zu werden; auf das Wohlergehen der Säuglinge sollte dabei Rücksicht genommen werden.446 Der Schutz Unschuldiger, die von der Bestrafung der Verurteilten unweigerlich mit betroffen waren, spielte im Gnadenverständnis offenbar eine wichtige Rolle, zumindest wenn das Leben von Säuglingen in Gefahr war. Dennoch reichte das Schutzverständnis nicht so weit, dass auf eine Haftstrafe gänzlich verzichtet wurde, denn allein die hygienischen Verhältnisse im Gefängnis stellten für ein Neugeborenes ein hohes gesundheitliches Risiko dar. dd) Schutz der Familienehre Von einer Festungs- oder Zuchthausstrafe waren unschuldige Familienmitglieder noch in anderer Hinsicht mit betroffen: Eine Festungsstrafe stellt offiziell einen Ehrverlust dar, während eine Zuchthausstrafe zumindest aus der Sicht der Untertanen die Ehre der Familie verletzte [s. o.]. Um dies zu verhindern, baten einige Familienangehörige um eine Umwandlung in einen Gefängnisarrest. Die mit Gnadenfällen betrauten Stellen gingen aber in der Regel nicht darauf ein, vermutlich weil sie der Meinung waren, dass die Sanktionsmacht Vorrang vor Ehrfragen betroffener Familien habe. Eine Begnadigung stützte sich in der Regel auf andere Begründungen.447 Dennoch gibt es ein Beispiel dafür, bei dem eine Begnadigung explizit mit dem Ehrmotiv gerechtfertigt wurde: Der Vater der wegen verheimlichter Schwangerschaft und Geburt verurteilten Auguste Friederike Charlotte Hanses bat um eine Umwandlung der ihr auferlegten vierjährigen Zuchthausarbeit in Gefängnisstrafe. Angesichts der angegriffenen Gesundheit der Tochter steht zu vermuten, dass ihr der Vater damit die Spinnarbeit und die Haftbedingungen im Zuchthaus zu ersparen versuchte.448 Dieses Argument führte er in seiner Supplik jedoch nicht an; vielmehr begründete er seine Gnadenbitte damit, dass die Zuchthausarbeit für ihn und sein Haus „Schande, die mir mein Leben kosten würde,“ 446 Vgl. Fürsprache des Instruktionssenats vom 11. Juni 1789; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 22. Juni 1789 / Fallakte Dorothea Sophie Hunzinger; in: ebd; vgl. Fürsprache des Instruktionssenats vom 18. Mai 1787; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 6. Juni 1797 / Fallakte Ilse Marie Schütte; in: ebd. Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 2. Februar 1789 / Fallakte Anna Dorothea Meves; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055. 447 Z. B.: Während die Begründungen der Gnadenbitten des bereits erwähnten Christian Friedrich Wredow die obrigkeitlichen Akteure überzeugten [s. C.II.4.f) und s. u.], wurde das in der Supplik seines Vaters angeführte Ehrmotiv – die Furcht, dass die Festungsstrafe seines Sohnes „Schande“ über die Familie bringen würde – bei der Gnadenprüfung nicht berücksichtigt – zit. aus: Supplik des Vaters Wredow vom 30. Juni 1793 / Fallakte Christian Friedrich Wredow; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220. 448 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 3. November 1791]; Annahme-Order vom 14. November 1791 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 170 – 183, 184.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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bedeute [s. B.I.3.].449 Dass Hanses den durch den Zuchthausaufenthalt seiner Tochter erlittenen Ehrverlust als Begründung für eine Begnadigung bemühte, belegt einmal mehr, dass nicht nur den Festungshäftlingen, sondern auch den Zuchthausinsassen ein entehrendes Stigma anhaftete, auch wenn eine Zuchthausstrafe offiziell als nicht ehrverletzend galt. Die Ehre der Familie Hanses war insofern überaus verletzbar, als der Vater die Ämter des Inspektors und des Pastors zu Strausberg ausübte. Gerade als Pastor war die Familie gehalten, moralisches Vorbild zu sein. Dieses Dilemma sahen auch die obrigkeitlichen Akteure: Angesichts der „Prostitution, welche die Familie darunter erleidet“, plädierte der Justizminister für eine Strafumwandlung.450 Auch für Friedrich Wilhelm II. war das Ehrmotiv nachvollziehbar und so gewährte er Auguste Friederike Charlotte Hanses „aus bloßem Mitleiden“ mit dem Vater „zur Abwendung der daraus für die unschuldige Familie entspringenden Schande“ einen Arrest von gleicher Dauer in der Hausvogtei [s. C.II.6.c)].451 Nicht unerheblich für die Gnadengewährung war in diesem Fall vermutlich das Renommee des Supplikanten. ee) Erhalt der Wirtschaft Fast die Hälfte der bewilligten Umwandlungen in eine Gefängnisstrafe wurde damit begründet, dass mit dieser Maßnahme die im Niedergang begriffene Wirtschaft der Verurteilten erhalten werden sollte (insg. neun von 19 Gnadenakten). Bei Lehrburschen wurde damit Rücksicht auf ihre in weiter Zukunft liegenden beruflichen Möglichkeiten genommen: Mit einer Zuchthaus- bzw. Festungskarriere war ihnen der Zugang zu ihrer angestrebten Profession verwehrt; mit einer Gefängnishaft hingegen konnten sie – soweit sich ihre Lehrherren dazu bereit erklärten – zumindest ihre Lehre beenden. So auch im Fall des 19-jährigen Lehrburschen Carl Friedrich Brasch, der wegen Diebstahls an seinem Lehrherrn zu einer einjährigen Festungsstrafe verurteilt worden war.452 Der bestohlene Händler erklärte sich bereit, Brasch weiterhin bei sich in der Lehre zu behalten, allerdings unter der Bedingung, dass dieser keine Festungs- bzw. Zuchthausstrafe erhalte.453 Der OberAppellationssenat ließ sich überzeugen, dass eine Festungsstrafe erhebliche Nachteile für die berufliche Zukunft des Delinquenten mit sich bringen würde und setz449 Zit. aus: immediate Supplik des Vaters vom 10. Februar 1792 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 187. 450 Zit. aus: Immediatbericht vom 17. Februar 1792 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 189. 451 Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 18. Februar 1792 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 188. 452 Vgl. Annahme-Order vom 8. November 1790 / Fallakte Carl Friedrich Brasch; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.058. 453 Vgl. Abschrift des Schreibens von Braschs Lehrherrn, Arnold Wever, vom 16. Februar 1791 als Anlage zur Fürsprache des Ober-Appellationssenats vom 23. Februar 1791 / Fallakte Carl Friedrich Brasch; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
te daher eine entsprechende Fürsprache auf [s. C.I.2.b)]. Daraufhin wurde die Festungsstrafe in einen Gefängnisaufenthalt umgewandelt.454 Wurde den Delinquenten und Delinquentinnen aus wirtschaftlichen Gründen eine Umwandlung in eine Gefängnisstrafe zugestanden, so wurde diese Begnadigung zumeist mit einer zeitweiligen Aussetzung der Strafe über einen bestimmten Zeitraum hinweg bzw. einem regelmäßigen wöchentlichen Ausgang verknüpft, damit sie sich um ihre Wirtschaft kümmern konnten (Näheres zur Strafaussetzung s. C.II.6.). Zum Beispiel stand der wegen Inzest mit seiner Pflegetochter verurteilte Seidenwirkermeister Johann Caspar Helm vor dem Problem, seine Wirtschaft während des einjährigen Festungsarrests zu erhalten: „Denn meine Fabrique ist von der Beschaffenheit, daß ich nach solcher selbst sehen muß, und dieses keinem andern übertragen kann.“455
Um nicht aufgrund des drohenden Niedergangs seiner Seidenfabrikation „eine ganze Lebenszeit unglücklich“ zu werden, bat Helm um Umwandlung der Festungs- in eine Gefängnisstrafe, „welche ich nach und nach ( . . . ) absitzen kann“.456 Die vom Justizdepartement für eine Stellungnahme angefragten Stadtgerichte unterstützten Helm in seinem Anliegen, seine Wirtschaft zu erhalten und plädierten daher für eine Gefängnisstrafe mit Ausgang, so dass er „zuweilen nach seinen Geschäften sehen könne“457 – eine zusätzliche Strafmilderung, die auch im Gnadendekret berücksichtigt wurde.458 Die Obrigkeit hatte offenbar ein starkes Interesse am Fortbestand der Seidenfabrikatur. Das fiskalisch-volkswirtschaftlich Interesse der Obrigkeit an der Wirtschaft wachzurufen, darin bestand die Chance für eine Begnadigung.459 Kollidierte der Anspruch der Obrigkeit, Gesetzesübertretungen zu sanktionieren, mit dem wirtschaftlichen Interesse, das Gewerbe zu erhalten und zu fördern, kam der Gnade in solchen Fällen die Funktion zu, einen Interessenausgleich zu finden. 454 Vgl. Fürsprache des Ober-Appellationssenats vom 23. Februar 1791; Aktenvermerk; Annahme-Order vom 28. Februar 1791 / Fallakte Carl Friedrich Brasch; in: ebd. 455 Supplik des Helm in eigener Sache vom 20. Mai 1795 / Fallakte Johann Caspar Helm; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 456 Zit. aus: ebd. 457 Zit. aus: Bericht der Stadtgerichte vom 25. Juni 1795 / Fallakte Johann Caspar Helm; in: ebd. 458 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 26. Juni 1795 / Fallakte Johann Caspar Helm; in: ebd. 459 Dies gelang z. B. auch dem Besitzer einer Färberei: Der wegen Hehlerei von Manchesterware verurteilte Färbemeister Baegel begründete seine Supplikation mit dem Erhalt seiner Färberei. Ihm wurde die Zuchthausstrafe „aus Gnaden in eine hiesige Gefängniß-Strafe dergestalt verwandelt, daß er solche successive soll absitzen können, damit diese Strafe dem Gewerbe des p[raedictus] Beegel [Baegel] so wenig als möglich nachteilig werden.“ – Gnadendekret in Form einer Resolution vom 20. April 1795 und vgl. Supplik des Baegel in eigener Sache vom 18. Januar 1795; Bericht der Stadtgerichte vom 30. März 1795 / Fallakte Johann George Baegel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.061.
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Die Strafumwandlung in dem Fall Johann George Hannemann ist ebenfalls ein Beispiel dafür, dass wirtschaftliche Gründe aus obrigkeitlicher Sicht weitaus eher geeignet waren, eine Begnadigung zu begründen als etwa die Hilfsbedürftigkeit unschuldiger Familienmitglieder. Der Bäckermeister Hannemann beklagte in seiner Supplik, dass die ihm wegen Fälschung von Obligationen auferlegte einjährige Festungsarbeit seine Familie „Zeitlebens unglücklich“ machen würde. Dem Gnadenträger stellte er die rhetorische Frage, dass „die Bestrafung des Unschuldigen ( . . . ) doch gewiß nicht die Absicht des weisen und gerechten Gesetzgebers“ sein könne.460 In drastischer Weise umriss Hannemann die Situation, die ihn nach seiner Entlassung erwartete: „( . . . ) was bliebe mir also nach aus gestandener Strafe beym Anblick meiner schuldlosen durch mich zu Grunde gerichteten Familie anders übrig, als zu ihrer Rettung neue würckliche Verbrechen zu begehen, oder dem Staat zur Last zu fallen, oder durch einen verzweifelten Schritt mir den Anblick so vieles Jammers zu ersparen.“461
Hannemann versuchte, den höchsten Richter und Gnadenträger moralisch unter Druck zu setzen, indem er an ihn appellierte, die Strafpraxis so einzurichten, dass Delinquenten dem Staat nicht zur Last fallen oder zu weiteren Vergehen und Verzweiflungstaten gedrängt würden. Nach Meinung des Supplikanten bestand die Lösung zumindest in seinem Fall darin, ihn lediglich mit einer Gefängnisstrafe zu belegen, und ihm dabei die Möglichkeit eines regelmäßigen Ausgangs einzuräumen, damit er in seiner Bäckerei und seiner Familie nach dem rechten sehen könne. Müsste er hingegen die Festungsstrafe absitzen, würde seine: „( . . . ) gantz unschuldige stets krancke Ehefrau[,] die ihre Niederkunft nach beyliegendes Attest täglich entgegen siehet, und mein 5jähriges Kind unvermeidlich an den Bettelstab gebracht.“462
Geschickt brachte Hannemann die Sprache auf seine schwierige wirtschaftliche Lage und auf den kritischen Gesundheitszustand seiner schwangeren Frau, die auf seine Hilfe angewiesen war. Mit einem medizinischen Attest ließ sich Hannemann letzteres belegen: „Das des Bäker Meister Hannemann seine Ehe-frau in gesegneten Leibesumstenden sich befindet und in der gantzen zeit ihrer schwangerschaft bestendig kräncklich und ( . . . ) ihres mannes sehr benöthiget zu ihrer unterstützung.“463
Die Supplikation Hannemanns vermittelt weniger den Eindruck eines demütig um Gnade Flehenden, vielmehr den eines Verhandlungsführers, der seine Interessen taktisch vertrat. Die obrigkeitlichen Akteure wiesen Hannemanns Vorschläge 460 Zit. aus: Supplik des Hannemann in eigener Sache vom 15. Dezember 1795 / Fallakte Johann George Hannemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.219, fol. 8 f. 461 Ebd. 462 Ebd. 463 Medizinisches Attest als Anlage der Supplik des Hannemann in eigener Sache vom 15. Dezember 1795 / Fallakte Johann George Hannemann; in: ebd., fol. 10.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
keineswegs als dreist zurück, sondern setzten sich mit seiner Lage auseinander. So geht der Bericht der Stadtgerichte auf die labile Konstitution der Ehefrau Hannemann ein, stellt diese aber in einen rein wirtschaftlichen Kontext: Die Ehefrau sei derzeit nicht in der Lage, die Bäckerei weiterzuführen, so dass Hannemann sein Geschäft während seiner Abwesenheit Fremden übergeben müsste.464 Um dies zu vermeiden, plädierten die Richter dafür, Hannemann die einjährige Haftstrafe im Kalandshof absitzen zu lassen und ihm die Erlaubnis zu geben, „wöchentlich einige Tage nach seiner Wirtschaft zu sehen“465 – ein Vorschlag, den Justizminister v. Goldbeck und die Räte genehmigten.466 Auch im Fall des Kaufmanns Johann Friedrich Wartenberg wurde die Notlage der Familie auf die wirtschaftliche Situation reduziert [s. B.I.10.]. Erst mit der sechsten Supplikation gelang es der Ehefrau, die Aufmerksamkeit des Gnadenträgers auf das Schicksal ihres zu zweijähriger Festungsarbeit verurteilten Ehemanns zu lenken: Das älteste Kind war vor kurzem im Alter von sieben Jahren gestorben – so sehr hat es sich „um seinen Vater geharmt und gegrämt“ – und auch die anderen Kinder zeigten bereits Krankheitssymptome, vor allem das jüngste, weil es „die grämige und beängstigte Mutter-Milch von mich genießen muß“.467 Bisher hatte die Kaufmannsfrau die Handlung offenbar weiterführen können, was ihr jedoch nun aufgrund der Pflege ihrer kranken Kinder nicht mehr möglich war. Die Notlage ließ sie sich durch vier Zeugnisse von „Augen-Zeugen“ belegen: Der Prediger der Georgenkirche bestätigte, dass sich die Familie in einem „Hülflosen und Mitleidens-würdigen Zustande“ befinde; zwei Stadtverordnete und ein Nachbar bezeugten, dass dem „bejammernswürdigen Umstand“ der Familie Wartenberg allein durch „Wiedergabe ihres Mannes“ abgeholfen werden könne.468 Wie schon in den vorherigen Suppliken erbat die Ehefrau für Johann Friedrich Wartenberg auch hier den Erlass der Reststrafe, ohne etwas grundsätzlich Neues vorzubringen. Doch dieses Mal verfehlten die Zeugnisse aus Wartenbergs sozialem Umfeld ihre Wirkung nicht: Obwohl, wie üblich, auf die bisherigen abschlägigen mediaten und immediaten Dekrete hätte verwiesen werden können469, trug der Justizminister v. 464 Vgl. Bericht der Stadtgerichte vom 11. Januar 1796 / Fallakte Johann George Hannemann; in: ebd., fol. 12 – 15. 465 Zit. aus: ebd. 466 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 25. Januar 1796 / Fallakte Johann George Hannemann; in: ebd., fol. 16. 467 Zit. aus: Supplik der Ehefrau Wartenberg vom 21. Mai 1791 / Fallakte Johann Friedrich Wartenberg; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.057. 468 Zit. aus: Zeugnis des Predigers der Georgenkirche, Zeugnis des Stadtverordneten Meutner, Zeugnis des Stadtverordneten Mannteufel und Zeugnis des Nachbarn, Bäckermeister Maaß, als Anlage der Supplik der Ehefrau Wartenberg vom 21. Mai 1791 / Fallakte Johann Friedrich Wartenberg; in: ebd. 469 Auf die Suppliken der Ehefrau Wartenberg mit Bitte um Umwandlung in eine Geldbuße bzw. um Strafverkürzung reagierte das Justizdepartement abweisend: „bey ermangelnden Gründen keine Statt finde“; ebenso erging es den immediaten Supplikationen, die „Seine Königliche Majestät ( . . . ) nicht zu deferiren geruhet“ – zit. aus: Dekreten über abgelehnte
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Goldbeck das Anliegen der Ehefrau Wartenberg dem Monarchen abermals vor: Er schlug vor, Wartenberg entweder die Reststrafe von einem Jahr zu erlassen oder ihn für die übrige Zeit in ein Gefängnis zu überstellen und ihm die Erlaubnis zu geben, nach seiner Wirtschaft zu sehen.470 Das Schicksal der Wartenbergs schien Friedrich Wilhelm II. zu berühren, denn er wollte „den gäntzlichen Untergang“ der Familie verhindern, indem er den Kaufmann für die restliche Strafzeit ins Gefängnis bringen ließ und anordnete, dass jener „zuweilen nach seiner Handlung und Wirthschaft selbst sehen könne.“471 Der Monarch war offensichtlich nicht willens, die Bitte der Supplikantin zu erfüllen, ihren Ehemann vorzeitig aus der Haft zu entlassen; stattdessen entschied sich Friedrich Wilhelm II. für eine alternative Lösung, der Familie zu helfen, ohne die Strafdauer zu verkürzen. Bei Begnadigungen, welche das Strafmaß im Prinzip bewahrten, waren die obrigkeitlichen Akteure offenbar bereit, von sich aus alternative Begnadigungsformen zu den in den Gnadenbitten geäußerten Wünschen der Supplizierenden vorzuschlagen. Wie schon im Fall Hannemann wurde die gesundheitlich bedingte Hilfsbedürftigkeit der Familienmitglieder in den wirtschaftlichen Kontext gestellt, um eine Begnadigung zu rechtfertigen.472 Die obrigkeitlichen Akteure ließen in beiden Fällen das Wirtschaftsargument für eine Strafumwandlung gelten, obwohl der Supplikant und die Supplikantin sich unterschiedlicher geschlechtsspezifischer Supplikationsmuster bedienten [s. B.II.1.d)] – die Ehefrau Wartenberg setzte in ihrer Supplikation stärker auf den Mitleidsfaktor, während der Bäckermeister Hannemann in seiner Supplikation als Unterhändler auftrat, um seine Strafe mit der Obrigkeit auszuhandeln. Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 26. Juli 1790 (mediat) und vom 25. Oktober 1790 (immediat) und vgl. fünf Suppliken der Ehefrau Wartenberg vom 25. Juli 1790 bis zum 30. März 1791 / Fallakte Johann Friedrich Wartenberg; in: ebd. 470 Vgl. Immediatbericht vom 23. Mai 1791 / Fallakte Johann Friedrich Wartenberg; in: ebd. 471 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 1. Juni 1791 / Fallakte Johann Friedrich Wartenberg; in: ebd. 472 Auch im Fall von Johann Erdmann Gabriel gab u. a. die wirtschaftliche Lage der betroffenen Familie Ausschlag für die Begnadigung. Die Witwe Gabriel hatte ihren eigenen Sohn der Liederlichkeit und des „ungebührlichen Betragens gegen mich“ angezeigt, da sie sich seiner im Alkoholrausch vollbrachten Gewalttätigkeiten und Randalierereien nicht mehr anders zu erwehren wusste. Kaum stand jedoch das Urteil über drei Monate Festungsarbeit fest, supplizierte sie für ihn und bat darum, ihren Sohn stattdessen mit Spinnarbeit auf dem Kalandshof zu belegen. Sie begründete ihre Gnadenbitte damit, dass eine Festungshaft „auch der familie nachtheilig“ sei, eine Formulierung, die sich sowohl auf die Familienehre als auch darauf bezog, dass sie auf die Unterstützung des Sohnes in der Wirtschaft angewiesen war. Während das Ehrargument im Bericht der Stadtgerichte keine Rolle spielte, wurde der angeblichen Hilfsbedürftigkeit der Witwe umso größere Bedeutung beigemessen. Dass Johann Erdmann Gabriel seine Strafe auf dem Kalandshof ableisten durfte, war aber vor allem auch der Tatsache zu verdanken, dass sich mit seiner Mutter die Klägerin für den Verurteilten einsetzte und damit ein Zeichen der Vergebung setzte. – Zit. aus: Supplik der Mutter Gabriel vom 5. August 1789; vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 11. Juli 1789]; Bericht der Stadtgerichte vom 29. August 1789; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 31. August 1789 / Fallakte Johann Erdmann Gabriel; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Zum Erhalt der Wirtschaft war Gefängnisausgang aber nicht immer erforderlich, denn im Gefängnis bestand die Möglichkeit, auf eigene Rechnung zu arbeiten. Allein aus organisatorischen Gründen war dies aber nur bei bestimmten Arbeiten möglich, da sowohl die benötigten Rohstoffe als auch das Werkzeug ins Gefängnis geliefert werden mussten. Zum Beispiel beabsichtigte Krüger als Direktor einer Tabakmanufaktur, seinen Sohn im Gefängnis mit Zuarbeiten zur Tabakherstellung zu beschäftigen.473 Auch der Journalist Christian Friedrich Wredow schätzte die Möglichkeiten, im Gefängnis Schreibtätigkeiten nachzugehen, durchaus positiv ein. Bevor er um die bereits erwähnte Strafverkürzung supplizierte [s. C.II.4.f)], bat er darum, den dreijährigen Festungsarrest in einen Gefängnisarrest in der Hausvogtei umgewandelt zu bekommen. Sein Anliegen begründete Wredow damit, dass er sich dort als Journalist „durch Arbeit etwas verdienen“ könne, um sich in der Haft aus eigener Kraft versorgen und seine Prozesskosten abdecken zu können.474 Das wirtschaftliche Argument überzeugte die obrigkeitlichen Akteure: In kollegialer Abstimmung mit den Räten genehmigte Justizminister v. Goldbeck die Umwandlung.475 Als er jedoch dem Kammergericht die Umwandlung mitteilte, nahm dieses ungefragt Stellung zum Gnadenakt und wies den Justizminister auf „die damit unvermeidlich verknüpften nachtheilige[n] Folgen“ hin.476 Als Argument gegen die Überstellung von Festungs- bzw. Zuchthaushäftlingen in das örtliche Gefängnis führte das Richterkollegium an, dass die Hausvogtei keine Aufnahmekapazität mehr habe: Männer und Frauen müssten sich dort gemeinsame Zellen teilen. Bei der Unterbringung könnte derzeit auch die „Qualitaet der Personen“ nicht berücksichtigt werden, also die räumliche Trennung zwischen den bereits schuldig gesprochenen Delinquenten und den Untersuchungshäftlingen, deren Prozess noch andauerte und deren Schuld noch nicht erwiesen war.477 Dies war insofern problematisch, als der Kontakt von „anständigen civiliter arretirten jurisdictions-Eingesessenen“ mit überführten Delinquenten die Ehre der Angeklagten verletzte.478 Die Zusammenlegung von Angeklagten und Verurteilten ermöglichte darüber hinaus einen Erfahrungsaustausch unter den Gefangenen: Einzelne Verurteilte würden den Angeklagten Hinweise geben, wie man den Ausgang des Prozesses zu ihren Gunsten beeinflussen könnte und diese „zum Lügen und Läugnen ermun473 Vgl. Supplik des Vaters Krüger vom 14. Februar 1793 / Fallakte Johann Andreas Krüger; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 474 Zit. aus: immediate und mediate Supplik des Wredow in eigener Sache vom 2. Juli und 4. Juli 1793 / Fallakte Christian Friedrich Wredow; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220. 475 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 8. Juli 1793 / Fallakte Christian Friedrich Wredow; in: ebd. 476 Zit. aus: Bericht des Kammergerichts vom 18. Juli 1793 / Fallakte Christian Friedrich Wredow; in: ebd. 477 Zit. aus: ebd. 478 Zit. aus: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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tern“, so die Befürchtung der Richter.479 Hinzu kamen Sicherheitsbedenken: Aufgrund der vielen Besuche bestehe in der Hausvogtei erhöhte Fluchtgefahr; zudem seien dort unerwünschte „Familiaritäten“ zwischen Häftlingen und Wärtern entstanden.480 Aus diesen Gründen plädierten die Kammergerichtsrichter dafür, „die Hausvoigtei mit Aufbewahrung dergleichen Verbrecher zu verschonen“.481 Auch wenn das Richterkollegium eingangs betonte, dass man weit davon entfernt sei, „die Beurtheilung dieser Begnadigung [gemeint ist der Fall Wredow] anmaaßen zu wollen“482, so bleibt dies im Kern eine harsche Kritik an der Gnadenpraxis des Justizdepartements. Inwieweit sich das Justizdepartement diese Kritik zueigen machte, bleibt unklar: Wredows Begnadigung wurde jedenfalls nicht rückgängig gemacht – das Justizdepartement wollte sich diese Blöße offenbar nicht geben, angewiesene Gnadenakte wieder zurückzunehmen. In den nächsten anderthalb Jahren wurden allerdings keine Strafumwandlungen für die Hausvogtei mehr ausgesprochen. ff) Resümee Sowohl der Gnadenträger als auch das Justizdepartement sahen in der Strafumwandlung eine praktikable Lösung, den Nöten der Verurteilten und ihren Familien entgegenzukommen, ohne im Mindesten von der Strafdauer des gerichtlichen Urteils abzuweichen. Entsprechend häufig wurde diese allerdings nicht sehr weit reichende Form der Begnadigung gewährt – mit 19 Gnadenakten macht sie rund 14,2 Prozent aller Begnadigungen aus. Von Seiten des Kammergerichts war aber nachhaltige Kritik an dieser Gnadenpraxis zu vernehmen. Die Richter begründeten ihre Haltung damit, dass die Aufnahmekapazität der Strafvollzugsanstalt erschöpft sei und daher die räumliche Trennung von Angeklagten und Verurteilten, von Männern und Frauen nicht mehr gewährleistet werden könne. Zu vermuten ist allerdings, dass hinter dem Ratschlag, künftig keine Festungs- oder Zuchthausinsassen ins Gefängnis zu überweisen, eine generell kritische Haltung gegenüber häufig gewährten Strafumwandlungen stand, da auch diese Form der Begnadigung das im Urteil festgestellte Strafmaß verwässerte. Geschah dies zu oft, dann bestand die Gefahr, so die mutmaßlichen Bedenken der Richter, dass die Rechtsprechung und damit die Justiz insgesamt an Autorität einbüßten. Strafumwandlungen wurden in den meisten Fällen dadurch gerechtfertigt, dass mit dieser Maßnahme die Wirtschaft der verurteilten Person erhalten werden sollte: Dies konnte durch einen Gefängnisarrest gewährleistet werden, wenn zudem ein Ausgang zur Erledigung der Geschäfte [s. C.II.6.] oder die Verrichtung von Arbeiten vor Ort gestattet wurde. Während das Wirtschaftsargument zur Begründung unterschiedlicher Begnadigungsformen taugte [s. C.II.4.h), C.II.5.b)ee), C.II.6.a)], 479 480 481 482
Zit. aus: ebd. Zit. aus: ebd. Zit. aus: ebd. Zit. aus: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
wurden Argumente, die sich auf Strafzweck [s. C.II.5.c)] oder Familienehre bezogen, vor allem im Hinblick auf die Umwandlung in eine Gefängnisstrafe thematisiert: Denn anders als bei einer Leibesstrafe galt für einen Gefängnisarrest der Grundsatz salva fama, also der Erhalt der Ehre. Der Umgang mit ehrlosen Verurteilten auf der Festung und im Zuchthaus, galt nicht nur als ehrverletzend, sondern wirkte sich, so die allgemeine Ansicht, negativ auf die Moralität aus und stellte damit den Strafzweck, also die moralische Besserung, infrage. Die obrigkeitlichen Akteure ließen daneben weitere Argumente für das Gefängnis gelten, etwa ein für eine Zuchthausarbeit nicht angemessen stabiler Gesundheitszustand [s. C.II.1.e), C.II.5.c) und C.II.6.c)] der der Schutz neugeborenen Lebens [s. C.II.5.a)cc), C.II.6.b)]. Anders als die bisher erläuterten Begnadigungsformen wurden Umwandlungen von einer Festungs- bzw. Zuchthausstrafe in eine Gefängnisstrafe größtenteils vom Justizdepartement in Abstimmung mit dem Geheimen Rat bewilligt. Es gibt insgesamt nur wenige Fälle, in denen ein immediater Gnadenspruch erfolgte. Daraus folgt, dass es sich hierbei offensichtlich um eine Form der Begnadigung handelt, über die nicht notwendigerweise der Gnadenträger selbst, sondern das Justizdepartement respektive der Geheime Rat in seinem Auftrag entscheiden durfte. Eine Delegation des Gnadenrechts war vermutlich auch nur deshalb möglich, weil hierbei lediglich die Modalität des Strafvollzugs gemildert, aber die im Urteil vorgesehene Strafdauer beibehalten wurde. Dieser Befund geht einher mit der Beobachtung, dass supplizierende Untertanen, mit der Bitte um Strafumwandlung recht fordernd auftraten, ganz so, als ob sie sich des Handlungsspielraums bewusst waren, eine Milderung wie diese mit den obrigkeitlichen Akteuren aushandeln zu können.
b) Geldbuße anstelle Gefängnis Eine Umwandlung in eine Geldbuße setzte voraus, dass die betroffene Person zu einer Gefängnisstrafe verurteilt bzw. bereits dazu begnadigt worden war. Im Untersuchungszeitraum weisen die Quellen insgesamt acht Gnadenakte auf, in denen ein Gefängnisarrest durch eine Geldbuße ersetzt wurde; dies entspricht rund 6,0 Prozent der insg. 134 Gnadenakte. Alle Gnadenakte wurden in der Regierungszeit von Friedrich Wilhelm II. gewährt. Die Spanne der erlassenen Gefängnishaft lag zwischen sechs Wochen und acht Tagen. Die Vorteile dieser Begnadigung liegen auf der Hand: Den begnadigten Männern und Frauen blieb der Arrest erspart und sie mussten ihre Wirtschaft nicht verlassen. Dabei ist zu beobachten, dass die Umwandlung nach festen Tauschsätzen vollzogen wurde:483 Für eine jede Woche wurde ein Satz von fünf Reichstalern verlangt. Auch wenn dies keine große Summe war, stellte eine Geldbuße für viele der betroffenen Familien eine zu hohe Belastung dar, so dass nur Personen mit solidem Auskommen in den Genuss dieser Begnadigung kommen konnten. 483
Auch in Württemberg war ein fester Satz üblich – vgl. Rublack 1998, S. 95.
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aa) Unverhältnismäßigkeit zwischen persönlicher Schuld und Strafmaß In einem Fall begründete der Geheime Rat die Begnadigung zu einer Geldbuße damit, dass das vom Gericht vorgesehene Strafmaß nicht im Verhältnis zum Vergehen stünde: Der Autor Johann Gottfried Bremer wurde wegen einer Verbalinjurie zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt. Der Autor hatte den Verlegern und Buchhändlern Petit und Schoene „Schwachheit“ im Streit um die Auflagenstärke seiner Schrift vorgeworfen und damit die Kreditwürdigkeit des Verlags in Frage gestellt. Nachdem seine Bitte um gänzlichen Straferlass abgelehnt worden war, beschwerte sich Bremer in einem zweiten Anlauf über das harte Strafmaß und bat um eine Umwandlung in eine Geldbuße.484 Diesen Einwand ließen die Räte gelten und genehmigten daher die Begnadigung: In Vertretung des Großkanzlers und Justizministers v. Goldbeck wandelte Johann Christian v. Woellner mit der Zustimmung der Räte die vierzehntägige Gefängnishaft zum üblichen Satz in eine Geldbuße von zehn Reichstalern um.485 Dem Hausvogteigericht erteilte Wöllner zudem eine Rüge dafür, in Bremers Fall eine für Realinjurien, nicht aber für Verbalinjurien adäquate Strafe verhängt zu haben.486 Wöllners Vorwurf, dass das Strafmaß zu hoch bemessen sei, erschließt sich im Vergleich zu Urteilen in vergleichbaren Fällen nicht: Da auf Realinjurien je nach Schwere mindestens vier Wochen Gefängnis standen, können 14 Tage Gefängnis für eine Verbalinjurie als durchaus üblich gelten. An diesem Beispiel zeigt sich, dass der Geheime Rat kollegial arbeitete: Fiel der für das Ressort zuständige Minister aus, so bearbeitete ein anderes Ratsmitglied die Angelegenheit und stellte seinen Vorschlag zur Entscheidung im Kollegium vor. Der Fall dokumentiert darüber hinaus auch, dass die Voten des Bearbeiters im Rat stets unkritisch befürwortet wurden, auch wenn die Fachkenntnis des Betreffenden für das zu vertretende Ressort nicht überzeugend war. bb) Unschuld und Unwissenheit Eine Umwandlung in eine Geldbuße konnte unter Umständen mit der Unschuld und Unwissenheit der Delinquenten begründet werden. Mit diesem Argument wurden zum Beispiel die Witwe Schultzin und der Invalide Trips in dem bereits oben erwähnten Fall [s. C.II.1.c)] begnadigt: Die Witwe hatte beim Pfandgeber Trips ein gestohlenes Taftkleid versetzt, weshalb sie zu einer 14-tägigen und er zu einer achttägigen Gefängnisstrafe verurteilt wurden.487 Nach Verkündung des Urteils 484 Vgl. zweite Supplik des Bremer in eigener Sache vom 21. Juni 1789; erste Supplik des Bremer in eigener Sache vom 1. Juni 1789; Dekret über abgelehnte Gnadenbitte vom 15. Juni 1789 / Fallakte Johann Gottfried Bremer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 485 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 22. Juni 1789 / Fallakte Johann Gottfried Bremer; in: ebd. 486 Vgl. Weisung an das Hausvogteigericht vom 22. Juni 1789 / Fallakte Johann Gottfried Bremer; in: ebd. 487 Vgl. Annahme-Order vom 22. Juni 1795 / Fallakte Witwe Schultzin und Invalide Trips; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.063.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
gab Witwe Schultzin ihr Unverständnis über die Strafe in einer Supplik zum Ausdruck: Sie gelte „als eine ehrliche und unbescholtene Frau“, welche „nicht aus Vorsatz, noch Boßheit, sondern in unwißenheit und Einfalt einen Fehler begangen hatt“; sie fühle sich „gantz unschuldig“, da sie den Verkauf des gestohlenen Kleides aus reiner Hilfsbereitschaft übernommen und nicht davon profitiert habe.488 Die Stadtgerichte sahen in ihrem Fall jedoch keine Veranlassung, die „gelinde“ Gefängnisstrafe in eine Geldbuße umzuwandeln.489 Während die Stadtgerichte üblicherweise für eine Begnadigung votierten und der Justizminister – zumindest was den Umfang einer Begnadigung betraf – eher bremsend wirkte, kehrte sich das Verhältnis in diesem Fall um: Auf Betreiben des Justizministers wurde der Witwe Schultzin entgegen des Votums der Stadtgerichte die erbetene Umwandlung gewährt.490 Nachdem die Witwe mit ihrer Supplikation Erfolg gehabt hatte, versuchte der mitangeklagte Pfandgeber Trips, für sich eine Milderung zu erzielen, indem er gleichfalls betonte, nichts davon gewusst zu haben, dass es sich bei dem von der Witwe versetzten Kleid um ein gestohlenes Gut handelte.491 Anstelle des von ihm erbetenen Straferlasses wurde die achttägige Gefängnisstrafe in eine Geldbuße von fünf Reichstalern umgewandelt, für die er kurze Zeit später sogar eine Niederschlagung erwirkte [s. C.II.1.c)].492 Der Unschuldsbeteuerung sowohl des Pfandgebers als auch der Witwe schenkte der Justizminister offenbar Glauben und gewährte ihnen die erbetene Geldbuße, obwohl zahlreiche wegen Hehlerei Verurteilte ebenfalls behaupteten, von der Herkunft des betreffenden Gutes nichts gewusst zu haben, ohne dass ihnen die Strafe gemildert wurde.493 488 Zit. aus: Supplik der Witwe Schultzin in eigener Sache vom 15. Juli 1795 / Fallakte Witwe Schultzin (intus: Invalide Trips); in: ebd. 489 Zit. aus: Bericht der Stadtgerichte vom 6. August 1795 / Fallakte Witwe Schultzin; in: ebd. 490 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 17. August 1795 / Fallakte Witwe Schultzin; in: ebd. 491 Vgl. Supplik des Trips in eigener Sache vom 14. Januar 1796 / Fallakte Invalide Trips (intus: Witwe Schultzin); in: ebd. 492 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 18. Januar 1796; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 8. Februar 1796 / Fallakte Invalide Trips; in: ebd. 493 Z. B. wurde im Fall von Joachim Wegener, der Eheleute Draeger und der Eheleute Papcke wiederholt um Strafmilderung mit der Begründung gebeten, dass die Angeklagten die Ware im guten Glauben gekauft hätten, nicht ahnend, dass es sich um Diebesgut handelte – vgl. Supplik des Wegener in eigener Sache vom 24. Oktober 1791; Dekret über abgelehnte Gnadenbitte vom 7. November 1791 / Fallakte Joachim Wegener; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.057; vgl. Suppliken der Eheleute in eigener Sache vom 18. August 1790 und 30. November 1790; Dekrete über abgelehnte Gnadenbitten vom 23. August 1790 und 6. Dezember 1790 / Fallakte Eheleute Draeger; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.056; vgl. Suppliken der Papcke in eigener Sache vom 15. Mai 1792 und 21. Juni 1792; Supplik des Ehemanns Papcke vom 21. Juni 1793; Dekrete über abgelehnte Gnadenbitten vom 21. Mai 1792, 25. Juni 1792 und 30. September 1793 / Fallakte Eheleute Papcke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.059.
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Ein anderer Gnadenfall zeigt, dass die Glaubwürdigkeit des Beschuldigten vermutlich stark vom Leumund und der Ehre der betreffenden Person abhing: Der Akzise-Offiziant Johann Friedrich Goetschmann war zu acht Tagen Gefängnis verurteilt worden, weil er eine junge Frau beleidigt und geschlagen hatte. Es handelte es sich um einen Streit zwischen Goetschmann, einem weiteren Freier und zwei Prostituierten, welche zu den „stets sich zu nächtlicher Zeit untern Linden herumtreibende[n] Mägden“ gehörten.494 Goetschmann beteuerte in der Supplik seine Unschuld und gab sich verwundert, warum man ihn in diesen „unerwiesenen und uneingestandenen Sachen“ schuldig gesprochen hatte.495 Der Justizminister sah diesen Fall offensichtlich als Lappalie an: Von den Stadtgerichten forderte er nämlich keinen Bericht über den Hergang des Streits an, sondern ließ vom Kollegium sogleich die Umwandlung in eine Geldbuße in Höhe von fünf Reichstalern bewilligen.496 Obwohl in diesem Fall Aussage gegen Aussage stand, schenkte der Justizminister der Darstellung des Akzise-Offizianten vorbehaltlos Glauben, während er sich nicht die Mühe machte, die Gegenaussage einer mutmaßlichen Prostituierten prüfen zu lassen. cc) Erhalt der Wirtschaft Wie schon bei der Umwandlung der Haftstrafe [s. C.II.5.a)ee)] dienten auch hier Begnadigungen vor allem dazu, die Wirtschaftlichkeit der Gewerbe zu erhalten. Sowohl der Uhrmacher Johann Ludwig Adami als auch der Brandweinbrauer August Ludwig Bier beschwerten sich über zu harte Urteile, obwohl diese in zweiter Instanz bereits erheblich gemildert worden waren. Beide waren wegen Überschreitung der Hauszucht gegenüber ihrem Gesinde angeklagt: Adami hatte seinem Gesellen mit einer spitzen eisernen Uhr eine Kopfverletzung zugefügt, weshalb er eine sechswöchige Gefängnisstrafe erhielt.497 Bier hatte seinen Lehrburschen mit Stock und Strick verprügelt, da er ihn des Diebstahls verdächtigte, und war in zweiter Instanz zu vier Wochen Gefängnis verurteilt worden.498 Beide Brotherren versuchten, ihre Schuld zu mindern, indem sie das Betragen ihres Gesindes für die Züchtigung verantwortlich machten – denn der Geselle habe, so Adami, „sich 494 Zit. aus: Supplik des Goetschmann in eigener Sache vom 30. Juni 1787 / Fallakte Johann Friedrich Goetschmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 495 Zit. aus: ebd. 496 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 2. Juli 1787 / Fallakte Johann Friedrich Goetschmann; in: ebd. 497 Dabei fiel die Annahme-Order mit sechs Wochen Gefängnis weitaus milder aus als das von den Stadtgerichten vorgeschlagene Urteil, welches drei Monate Festungsarrest vorsah – vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 13. Mai 1795]; Annahme-Order vom 26. Mai 1795 / Fallakte Johann Ludwig Adami; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.986. 498 Auch in diesem Fall fiel die Annahme-Order in zweiter Instanz mit nur vier Wochen Gefängnis weitaus milder aus als das Urteil in erster Instanz über einen dreimonatigen Festungsarrest – vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 13. Juni 1795]; Annahme-Order in zweiter Instanz vom 14. September 1795 / Fallakte August Ludwig Bier; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.986.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
äußerst ungebührlich gegen mich betragen“.499 Unisono beriefen sich beide auf das Züchtigungsrecht des Brotherrn, zugleich machten sie jedoch – wohl, um nicht als uneinsichtig zu gelten – ein zögerliches Zugeständnis, welches in Adamis Worten wie folgt klingt: „daß ich die Gränzen meiner Befugniß vielleicht überschritten hatte“.500 Nachdem Biers Bitte um Freispruch zweimal abgelehnt wurde, begnügte er sich in einer dritten Supplikation mit dem Versuch, aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus wenigstens den Gefängnisarrest zu verhindern, indem er aus eigenem Antrieb anbot, für die vier Wochen 100 Reichstaler zu zahlen.501 Im Vergleich zum üblichen Satz von fünf Reichstalern je Woche erscheint das Angebot als regelrechte Bestechung. Vor allem aber dokumentiert es das Selbstbewusstsein eines wohlhabenden Meisters, der offenbar um die Möglichkeit, in einem gewissen Maße die Strafe aushandeln zu können, wusste, und diese Chance nutzte. Der Justizminister ging jedoch nicht auf das Angebot ein, sondern legte bei der Strafumwandlung den für alle Verurteilten, gleich welcher Herkunft, geltenden Maßstab an: Dem Brandweinbrauer wurden für die vier Wochen Gefängnis „aus Gnaden“ 20 Reichstaler in Rechnung gestellt.502 Auch der Uhrmachermeister Adami begründete seine Bitte um Umwandlung in eine Geldstrafe mit den wirtschaftlichen Folgen, die seine sechswöchige Abwesenheit in der Wirtschaft haben würde: „( . . . ) ich würde ein gänzlich ruinirter Bürger sein, wenn die erkannte strafe sollte an mir vollzogen werden, meine Gesellen und Lehrburschen können bei meiner Handthierung nicht einen Tag ohne meine Gegenwart thätig sein, ich müßte sie sämtlich verabschieden.“503
Geschickt machte Adami auf die Bedeutung seiner Wirtschaftskraft aufmerksam: Nicht nur er und seine Familie würden unter einer Gefängnisstrafe zu leiden haben, sondern auch sein zahlreiches Gesinde, welches er angeblich dann aus dem Dienst entlassen müsste. Adami präsentierte sich als Meister, der für seine Uhrmacherei unersetzbar war. Zugleich machte er deutlich, was ein Gefängnisaufenthalt für die Reputation eines Geschäftsmanns bedeuten würde: Damit „würde ich nicht allein meine Kundschaft, sondern auch meinen Credit und das einen Mann von meinem Gewerbe ohnumgänglich nöthige Zutrauen des Publicums“ verlie499 Zit. aus: Supplik des Adami in eigener Sache vom 11. Dezember 1795 / Fallakte Johann Ludwig Adami; in: ebd. 500 Zit. aus: ebd. Bei Bier liest es sich wie folgt: „daß ich in der Hitze, meiner durch ihn gereitzten Leidenschaft, das Maaß meiner rechtlichen Befugniß vergaß“ – dritte Supplik des Bier in eigener Sache vom 8. Oktober 1795 / Fallakte August Ludwig Bier; in: ebd. 501 Vgl. ebd. 502 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 19. Oktober 1795 / Fallakte August Ludwig Bier; in: ebd. 503 Supplik des Adami in eigener Sache vom 11. Dezember 1795 / Fallakte Johann Ludwig Adami; in: ebd.
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ren.504 Adamis Argumente genügten dem Justizminister: In Abstimmung mit dem Geheimen Rat bewilligte er dem Uhrmacher „aus Gnade“ eine der Arrestdauer entsprechenden Geldbuße von 30 Reichstalern.505 Den Ausschlag für die Begnadigungen gaben in beiden Fällen die wirtschaftlichen Nachteile, die ein Gefängnisarrest für die Verurteilten und ihre Wirtschaft mit sich bringen würde, Nachteile, die angesichts der Bedeutung der beiden Wirtschaften eventuell auch Auswirkung auf das jeweilige Gewerbe im lokalen Raum insgesamt haben könnte.506 Der Versuch der beiden Supplikanten, ihre Schuld mit Verweis auf das Züchtigungsrecht als Brotherren herunterzuspielen, verfing hingegen nicht beim Justizdepartement.507 Diese Argumentation belegt allerdings, mit welchem Selbstbewusstsein und mit welcher Anspruchshaltung die Supplikanten ihr Anliegen vortrugen. Dass Verurteilte eine Gefängnisstrafe als Verhandlungssache begriffen, zeigt beispielsweise auch die Supplikation des Schlächtermeisters Carl Friedrich Bennemann: Wegen Beleidigung eines Gerichtsreferendars war er zu vier Wochen Gefängnis verurteilt worden, die er nun in eine Geldbuße umgewandelt haben wollte.508 Auch er führte wirtschaftliche Gründe an, warum er als Schlächtermeister und Viehhändler unabkömmlich sei: „Ich bin nicht allein Schlächtermeister, sondern treibe auch einen großen Viehhandel, und versorge das ganze hiesige Schlächtergewerk damit. Einen so großen Handel kann ich durch keinen anderen treiben laßen, und bin ich oft dieserhalb mehrere Monate auf Reisen. Würde ich nun gegenwärtig zum Arrest gebracht, so würde dieser ganze Handel liegen bleiben, und meine Frau und 5 Kinder in drückende Armuth gerathen. Ueberdies bezahlen mir sämtliche Meister das Vieh[,] welches sie von mir erhalten, nicht in baarem Gelde, sondern geben mir bloß Schuldscheine, die ich dem Cassirer und dem Schutzjuden LiebZit. aus: ebd. Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 21. Dezember 1795 / Fallakte Johann Ludwig Adami; in: ebd. 506 Z. B. wurde auch im Fall des Gastwirts Matthias Reichardt der Einwand berücksichtigt, dass das Urteil über vier Wochen Gefängnis, welches er wegen einer Schlägerei mit einem Nachbarn erhalten hatte, den „Verlust meines Vermögens und meiner Erwerbsmittel nach sich ziehen und zum Ruin meiner Familie gereichen“ würde. Der Justizminister sagte Reichardt daraufhin zu, dass er drei Wochen seiner Strafe in Form einer Geldbuße in Höhe von 15 Reichstalern ableisten könne; eine Woche musste er aber im Gefängnis absitzen. Bei der Entscheidung, auf eine Gefängnisstrafe nicht zu verzichten, spielte eventuell die Bedeutung der Wirtschaft eine Rolle: Von der Schließung der Reichardtschen Gastwirtschaft waren womöglich nicht so viele Hausmitglieder betroffen wie im Fall von Adami oder Bier. – Zit. aus: Supplik des Reichardt in eigener Sache vom 9. Januar 1792; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 30. Januar 1792 / Fallakte Matthias Reichardt; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202. 507 Diesem Umstand aber verdankten die beiden Brotherren Adami und Bier vermutlich die Milde ihres Urteils im Vergleich zu den vom Gericht zuerst vorgeschlagenen Strafen. 508 Bennemann konnte die ursprüngliche Strafe über drei Monate Festungsarrest durch eine öffentliche Genugtuung des beleidigten Gerichtsreferendars auf vier Wochen Gefängnis mindern – vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 31. Mai 1797]; Annahme-Order vom 12. Juni 1797 / Fallakte Carl Friedrich Bennemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.203. 504 505
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mann redire. Sobald ich nun in Arrest käme, würde der p[raedictus] Liebmann Zahlung von den Schlächtermeister verlangen, und da sie dazu unvermögend, würden selbige auf einmal ruinirt werden.“509
Wie schon Adami und Bier trat auch Bennemann selbstbewusst als Supplikant auf. Geschickt schuf er sich eine günstige Verhandlungsbasis, indem er die weit reichenden Folgen einer Bestrafung seiner Person betonte: Träfe Bennemann eine Strafe, die ihn von der Erledigung seiner Geschäfte abhielte, so würde nicht nur seine Familie, sondern auch seine Schlächterwirtschaft mit dem gesamten Gesinde darunter leiden. Doch damit nicht genug: Durch seine Verhaftung würde der regionale Viehhandel angeblich zusammenbrechen und somit würde ein regelrechter volkswirtschaftlicher Schaden entstehen. Es würde nicht nur die Lieferung von Schlachtvieh ausbleiben, sondern das Finanzsystem des gesamten Schlächtergewerbes würde dadurch Bankrott gehen, so Bennemanns Prophezeihung. Die Geschäfte wurden offenbar auf Treu und Glauben mit Schuldscheinen abgewickelt, was bedeutet, dass mit dem Ruin Bennemanns die Sicherheit der Schuldscheine infrage gestellt sein könnte; die Folge davon wäre, dass alle am Geschäft Beteiligten danach trachten würden, die Schuldscheine gegen bares Geld einzulösen, was manchen wegen Zahlungsunfähigkeit in den Bankrott treiben würde. Mit anderen Worten: Bennemann präsentierte sich in seiner Supplik als Monopolist des Berliner Fleischmarkts und nutzte seine wirtschaftliche Schlüsselstellung unverhohlen als Drohpotential, um sein Anliegen gegen die Obrigkeit durchzusetzen. Und dies mit Erfolg: Bennemann wurde die vierwöchige Gefängnisstrafe unter der Bedingung, 20 Reichstaler Geldbuße zu entrichten, erlassen – nicht ohne ihn allerdings zu drohen, dass ihm, sollte er sich nochmals eine Beleidigung zuschulden kommen lassen, der vierwöchige Gefängnisarrest hinzugerechnet werde.510 Es ist durchaus möglich, dass eine solche Verwarnung üblicherweise dann ausgesprochen wurde, wenn es sich um ein Vergehen gegen eine Amtsperson handelte, wie in diesem Fall die Beleidigung eines Gerichtsreferendars. Es kann aber auch sein, dass den Justizminister Bennemanns selbstbewusstes Auftreten störte, und er ihn auf diese Weise daran erinnern wollte, dass es noch immer die Obrigkeit war, welche die Sanktionsgewalt über ihn als Untertan ausübte.511
509 Supplik des Bennemann in eigener Sache vom 9. Juli 1797 / Fallakte Carl Friedrich Bennemann; in: ebd. 510 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 17. Juli 1797 / Fallakte Carl Friedrich Bennemann; in: ebd. 511 Dass es sich bei der Verwarnung um Verbalrhetorik handelt, zeigt sich, als Bennemann zwei Jahre darauf mit seinem Gesellen im Streit lag, weil er diesen zu Unrecht des Betrugs bezichtigt hatte: Der Schlächtermeister musste den Arrest nicht, wie angedroht, absitzen, sondern lediglich Abbitte leisten und die Kosten übernehmen – vgl. Abschrift des Dekrets zur Schlichtung vom 29. Mai 1799 als Anlage der Supplik des Bennemann in eigener Sache vom 29. Juni 1799 / Fallakte Carl Friedrich Bennemann; in: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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dd) Resümee Supplikanten wie Bennemann, Adami und Bier haben wenig gemein mit dem Bild eines Untertanen, der demütig um Gnade fleht: In ihren Suppliken traten die Verurteilten gegenüber der Obrigkeit selbstbewusst auf und waren sich ihrer hervorgehobenen sozialen Stellung und der wirtschaftlichen Bedeutung ihres Gewerbes durchaus bewusst; auch scheinen sie sich der Bewilligung ihres Anliegens relativ sicher gewesen zu sein. Was sich bereits bei der Umwandlung der Festungsbzw. Zuchthausstrafe in eine Gefängnisstrafe in Ansätzen zeigt [s. C.II.5.a)], tritt bei der Umwandlung einer Gefängnisstrafe in eine Geldbuße noch deutlicher zutage: Ab einem gewissen Strafmaß scheint zwar nicht die Strafe insgesamt, aber doch die Art und Weise des Strafvollzugs eine Frage der Verhandlung gewesen zu sein: die konkrete Form der Strafe war vom Verhandlungsgeschick und von der sozialen Herkunft der Supplizierenden, aber auch von der wirtschaftlichen Bedeutung des Gewerbes der verurteilten Person abhängig. Es ist davon auszugehen, dass es sich um eine gängige Praxis handelte, wenn Verurteilte diese Form der Begnadigung mit der Obrigkeit aushandelten – dies war immerhin bei rund 6,0 Prozent der Begnadigungen der Fall (insg. acht Umwandlungen einer Gefängnisstrafe in eine Geldbuße). Dafür spricht die Existenz von Regeln: etwa der feste Tauschsatz je Gefängnistag oder die Regel, dass eine Umwandlung in eine Geldbuße nur bewilligt wurde, wenn eine Gefängnisstrafe als Verhandlungsgrundlage vorlag. Anders als etwa in Württemberg machten die kurmärkischen Supplizierenden keine Versuche, die nach festen Sätzen berechnete Geldstrafe herunter zu handeln.512 Umgekehrt blieben die obrigkeitlichen Akteure in Brandenburg-Preußen – anders als etwa in Kurmainz – bei den festen Sätzen und lehnten höhere Geldbeträge, welche die supplizierenden Untertanen als Gegenwert für den Verzicht auf eine Gefängnishaft aus eigener Initiative anboten, ab.513 Die Regeln eröffneten nicht nur den Verurteilten und ihren Supplikanten einen Handlungsspielraum, sie spiegeln auch die Kompetenz des Justizdepartements in Gnadensachen wider: Bei der Umwandlung einer Gefängnisstrafe in eine Geldbuße handelt es sich offensichtlich um eine Form der Begnadigung, deren Entscheidung an den Justizminister respektive an den Geheimen Rat delegiert worden ist.514 Eine solche Begnadigung setzte allerdings eine Supplikation mit entsprechender Gnadenbitte und stichhaltiger Begründung voraus: Die Supplizierenden mussten den Justizminister entweder von der Unverhältnismäßigkeit zwischen 512 Dies war z. B. in Württemberg offensichtlich gängige Praxis – vgl. Rublack 1998, S. 93 f. 513 In Kurmainz ging man hingegen auf solche Angebote ein – vgl. Härter 2000, S. 479. 514 Diese Annahme gründet auf der Beobachtung, dass für diese Begnadigungsform weder Immediatberichte des Justizministers noch Gnadendekrete in Form von Kabinettsorder vorliegen; die Akten beinhalten lediglich Dekretschreiben des Justizdepartements im Auftrag des Landesherrn.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
persönlicher Schuld und Strafmaß oder von ihrer Unschuld bzw. Unwissenheit überzeugen. Oder aber sie mussten gewichtige wirtschaftliche Gründe gegen die Inhaftierung der verurteilten Person anführen, welche auch die volkswirtschaftlichen und finanziellen Interessen der Obrigkeit tangierten. Der solchermaßen eingeschränkte Entscheidungsspielraum des Justizdepartements ist eine Erklärung, warum die hier untersuchten Gnadenakte ohne Einwilligung des Gnadenträgers vom Justizdepartement bewilligt werden konnten.
c) Sonstige Strafumwandlungen Eine gesonderte Betrachtung erfordern die sonstigen Strafumwandlungen, die rund 3,7 Prozent der insg. 134 Gnadenakte ausmachen: In insgesamt fünf Fällen wurden die Urteile durch Militärstrafen, wie zum Beispiel Staupenschlag, ersetzt oder die auf die Ehre abzielenden Zusatzstrafen, wie zum Beispiel die öffentliche Ausstellung, erlassen und durch andere Auflagen ersetzt; in Ausnahmefällen wurde auch eine Verlegung von der Festung ins Zuchthaus gewährt. In zwei Fällen von Diebstahl wurde auf Betreiben der Kommandeure eine Militärstrafe anstelle einer sechsmonatigen Zuchthausstrafe verhängt.515 Für den 18-jährigen Johann Gottfried Hiller trat zum Beispiel der Generalmajor v. Meerkatz als Supplikant ein [s. B.I.9.b)]. Aus der Supplik geht hervor, dass Hiller aus dem Untersuchungsarrest geflohen war und sich auf seiner Flucht vom Militär hatte anwerben lassen: „( . . . ) um seine in der Uebereilung begangenen Fehler durch besonders gute Aufführung im Dienst des Königs wieder guth zu machen.“516
Der Generalmajor bescheinigte dem jungen Kanonier, dass sich jener während der bisherigen Dienstzeit an diesen Vorsatz „treulich gehalten“ habe; er bekundete seinen Wunsch, diesen Soldaten in seiner Artillerie zu behalten und bat daher um eine Umwandlung der Zuchthausarbeit in eine vom Militär zu vollziehende Strafe.517 Das Justizdepartement gab dieser Bitte statt, vermutlich aufgrund der Amtsautorität des Supplikanten und Hillers guter Führung beim Militär. Im Gnadendekret wurde aber zugleich deutlich gemacht, dass das Justizdepartement in seiner Funktion als Rechtsaufsicht auf der Beibehaltung einer Bestrafung beharrte, denn man schrieb dem Militär die äquivalente Strafe vor: Hiller sollte einem sechs515 Einen vergleichbaren Hintergrund wie bei Johann Gottfried Hiller weist der Fall von Johann Heinrich Hobeck auf, für den sich das General-Auditoriat eine Umwandlung in eine militärische Strafe ausbat [s. C.I.9.b)], welche ebenfalls bewilligt wurde – vgl. Supplik des General-Auditoriats vom 4. bzw. 7. Oktober 1797; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 23. Oktober 1797 / Fallakte Johann Heinrich Hobeck; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.065. 516 Supplik des Militärkommandeurs, Generalmajor v. Meerkatz, vom 7. November 1794 / Fallakte Johann Gottfried Hiller; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.060. 517 Zit. aus: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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bis achtmaligen Spießrutenlauf unterzogen werden.518 Auch wenn man die physischen Folgen eines Spießrutenlaufs mit einrechnet, so war diese Ersatzstrafe sicherlich milder als eine sechsmonatige Zuchthausstrafe, allerdings ging damit eine langjährige Verpflichtung des Delinquenten beim Militär einher. Hinter der Umwandlung einer zivilen in eine militärische Strafe stand eine utilitaristische Gnadenpraxis: Auf diese Weise rekrutierte man junge, gesunde Männer für das Militär, die diesem auf lange Zeit verpflichtet und obendrein motiviert waren, da sie sich glücklich schätzten, nicht Häftling sein zu müssen, sondern Soldat sein zu dürfen. Neben Militärstrafen gab es noch weitere Strafarten, die als Begnadigung dienen konnten: In einem Fall wurde zum Beispiel auf die öffentliche Ausstellung der Delinquentin zugunsten eines verlängerten Aufenthalts im Arbeitshaus verzichtet. Die Witwe Christiane Grenzenbach sollte wegen Betrugs – konkret wegen Anbietung magischer Praktiken gegen Entgelt – mit acht Wochen Spinnarbeit im Arbeitshaus und einer zweimaligen öffentlichen Ausstellung belegt werden. Die Stadtgerichte setzten eine Fürsprache auf, in der sie sich auf das Gutachten eines Chirurgus stützten, der in Anbetracht der epileptischen Anfälle der Delinquentin dringend empfahl, auf die öffentliche Ausstellung zu verzichten [s. C.I.2.d)].519 Das Justizdepartement erließ daraufhin ein Gnadendekret, dass unter diesen Umständen auf die öffentliche Ausstellung Grenzenbachs verzichtet werden könne, ihre Arbeitshausstrafe sich dann aber um vier Wochen verlängere.520 Mit dieser Begnadigung nahm man auf die gesundheitliche Befindlichkeit der Verurteilten Rücksicht, hielt aber zugleich die beabsichtigte Sanktionierung aufrecht. In zwei weiteren Fällen sollten die Delinquenten von den Widrigkeiten der Haftbedingungen auf der Festung Spandau aus ganz unterschiedlichen Gründen verschont werden. Der 24-jährige Simon Joseph Heinemann wurde wegen Betrugs zu zwei Jahren Festungsarbeit verurteilt. Sein Vater bat um dessen Verlegung ins Zuchthaus, weil sein Sohn auf der Festung angeblich in „böse Gesellschaft“ geraten war [s. B.I.3.].521 Vermutlich ging es dem Supplikanten in erster Linie darum, die Ehre seines Sohnes und seiner Familie zu schützen, da ein Zuchthausaufenthalt – anders als ein Festungsarrest – offiziell als nicht ehrverletzend galt;522 zudem waren die Haftbedingungen dort besser als auf der Festung. Dem Justizminister leuchtete die Argumentation ein, dass der Umgang mit Gesetzesbrechern auf der 518 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 10. November 1794 / Fallakte Johann Gottfried Hiller; in: ebd. 519 Vgl. medizinisches Gutachten; zit. in: Fürsprache der Stadtgerichte vom 6. Juli 1789 / Fallakte Christiane Grenzenbach; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 520 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 13. Juli 1789 / Fallakte Christiane Grenzenbach; in: ebd. 521 Zit. aus: Supplik des Vaters Heinemann vom 30. August 1787 / Fallakte Simon Joseph Heinemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 522 Zur Stellung des Zuchthauses vgl. Lieberknecht 1922, S. 24; vgl. Schmidt 1960, S. 18 [s. C.II.5.a)].
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Festung nicht unbedingt dazu beitragen würde, dass sich Simon Joseph Heinemann zu einem rechtschaffenden Lebenswandel bekehren lassen würde – obgleich dies einem Eingeständnis gleichkam, dass die moralische Besserung der Delinquenten, die in den Strafvollzugsanstalten durch Freiheitsentzug, Arbeitszwang und Anerziehung von Gehorsam, Fleiß und Frömmigkeit erzielt werden sollte, im Grunde eine Illusion war [s. C.II.5.c)]. Der Justizminister fragte beim Zuchthausdirektorium an, ob es gewillt sei, Simon Joseph Heinemann zu übernehmen, obwohl dieser bereits die Mündigkeit erreicht hatte und daher eigentlich der Festung zu übergeben war.523 Die Zuchthausdirektion zeigte sich kooperativ: „( . . . ) daß dieser Schutz-Jude Heinemann wenigstens mit 5 oder 6 nicht ganz verdorbenen Züchtlingen im besagten Hause auf eine Stube gebracht werden kann.“524
Der Zuchthausdirektion war dieser Neuzugang sicher recht, um sich im Vergleich zur Festung als die Strafvollzugsanstalt zu profilieren, aus der die Häftlinge geläutert herausgingen. Man gab sich bemüht, dem jungen Betrüger dort einen guten Umgang zu ermöglichen, so dass aus jenem ein „gebeßerter Mensch“ würde, wie es dessen Vater wünschte.525 Das Justizdepartement machte sich nicht die Mühe, in diesem Fall den Monarchen zu behelligen, und beschloss kollegial die Verlegung Heinemanns ins Zuchthaus.526 Auch im zweiten Fall versuchte eine Supplikantin zunächst, die Verlegung ihres Sohnes in ein Zuchthaus zu erwirken: Als Martin Schneider in erster Instanz vier Jahre Festungsarbeit wegen Straßenraub erhielt, bat seine Mutter um „eine Abänderung in Zuchthaus-Strafe“ in der Hoffnung, mit dieser Supplikation das Urteil in zweiter Instanz beeinflussen zu können.527 Sie ahnte jedoch, dass auch in der Appellation an der Festungsstrafe festgehalten würde, und so fügte sie ihrer Supplik die Bitte hinzu, in diesem Fall ihren Sohn auf die Küstriner Festung in der Nähe des Wohnorts der Familie zu überstellen, damit sie ihn wenigstens besuchen könne: „Hierdurch würde ich in den stand gesetzt werden, meinen armen Sohn mit Wäsche und mit den wenigen Bissen Brod[,] welche ich mir bei meiner kümmerlichen Lage abbrechen könnte, doch in etwas unterstüzzen zu können. Müste er aber nach Spandau, so könnte ich wegen der weiten Entfernung gar nichts für ihn thun, und mein Schmerz würde folglich desto trostloser sein.“528 523 Vgl. Schreiben an das Zuchthausdirektorium vom 7. September 1787 / Fallakte Simon Joseph Heinemann; in: ebd. 524 Bericht des Zuchthausdirektoriums vom 2. Oktober 1787 / Fallakte Simon Joseph Heinemann; in: ebd. 525 Zit. aus: Supplik des Vaters Heinemann vom 30. August 1787; vgl. Bericht des Zuchthausdirektoriums vom 2. Oktober 1787 / Fallakte Simon Joseph Heinemann; in: ebd. 526 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 8. Oktober 1787 / Fallakte Simon Joseph Heinemann; in: ebd. 527 Zit. aus: Supplik der Mutter Schneider vom 30. Dezember 1790 / Fallakte Martin Schneider; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985. 528 Ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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Aus der Begründung der Supplikantin geht hervor, inwieweit eine solche Verlegung aus der Sicht der Betroffenen eine gewisse Milderung der Haftumstände bedeutete. Diese Bitte bewilligte das Justizdepartement „in Gnade“, ohne den Monarchen zu konsultieren.529 Die Verlegung des Delinquenten auf Bitten der Supplikantin hin galt formal gesehen ebenfalls als Begnadigung, obwohl in diesem Fall nicht einmal die Strafform gemildert wurde. Resümee Auch bei anderweitigen Strafumwandlungen galt das Prinzip, dass eine Ersatzstrafe gefunden werden musste, welche mit dem Strafmaß der im Urteil genannten Sanktion vergleichbar war. Solange der Grundsatz beachtet wurde, dass der Gerichtsspruch dem Wesen nach seine Gültigkeit behielt und der Delinquent eine aus obrigkeitlicher Sicht angemessene Sanktion erfuhr, konnte das Justizdepartement Begnadigungen auf diesbezügliche Mediatsupplikationen eigenmächtig erteilen. Die hier zuletzt dargestellten Spielarten von Strafumwandlungen haben gemein, dass sie im Vergleich mit den bisher untersuchten Begnadigungsformen eine relativ geringe Qualität aufweisen, da die Ersatzstrafen das Strafmaß kaum minderten.530 In diesen Fällen war das Justizdepartement bemüht, den Supplizierenden wohlbegründete Gnadenbitten nicht abzuschlagen, deren Erfüllung der Obrigkeit aber im Grunde kaum ein Zugeständnis abverlangte. Selbstlos handelten die obrigkeitlichen Akteure jedoch nicht, vielmehr verbanden sie mit der Gnade auch einen utilitaristischen Nutzen: Anschaulich belegt dies die Umwandlung in Militärstrafen, mit der man zugleich Soldaten für das Militär rekrutierte. Der Nutzen konnte aber auch abstrakter Natur sein: Mit Begnadigungen konnte man den Ruf einer gütigen Herrschaft begründen und festigen. Die Gnadenpraxis sollte allerdings nicht den Anschein erwecken, dass sie die Strenge der Gesetze, die Unparteilichkeit der Gerichte und die Gerechtigkeit bei der Bestrafung illoyaler Untertanen unterlief. 6. Aufschub des Strafantritts und vorübergehende Aussetzung der Strafe Der Großteil der im Untersuchungszeitraum gewährten Begnadigungen, nämlich rund 31,3 Prozent, besteht im Aufschub bzw. in der vorübergehenden Aussetzung der Haftstrafe: Die 42 Gnadenakte wurden fast alle in der Regierungszeit von 529 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 3. Januar 1791 / Fallakte Martin Schneider; in: ebd. 530 Dies kann man sogar über die Militärstrafen sagen, die auf den ersten Blick zwar milder als ein mehrmonatiger Aufenthalt in einer Strafvollzugsanstalt ausfielen, mit denen aber eine langjährige Verpflichtung beim Militär verbunden war.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Friedrich Wilhelm II. (40 Gnadenakte) erlassen, nur zwei Gnadenakte bewilligte sein Nachfolger. Charakteristisch für diese Art der Begnadigung ist die Geringfügigkeit des Zugeständnisses seitens der Obrigkeit, da die Strafe in ihrem Vollzug lediglich aufgeschoben bzw. unterbrochen, jedoch weder in ihrer Dauer verkürzt noch in ihrer Strafform gemildert wurde. Die Qualität einer solchen Begnadigung war sehr unterschiedlich, da sie sich an den Bedingungen des jeweiligen Falles orientierte und sowohl bei Festungs- bzw. Zuchthausstrafen als auch bei Gefängnisstrafen angewandt werden konnte: Die Strafmilderung konnte darin bestehen, einen Aufschub des Strafantritts oder eine mehrmonatige Entlassung aus der Strafanstalt gewährt, die Haftstrafe in mehrwöchige Raten mit Phasen der Freilassung aufgeteilt oder einen regelmäßigen wöchentlichen Ausgang aus dem Gefängnis zugesagt zu bekommen. So geringfügig das Entgegenkommen seitens der Obrigkeit hier erscheint, so darf dabei nicht übersehen werden, dass eine solche Strafmilderung den Betroffenen und ihren Familien durchaus eine große Erleichterung verschaffte.
a) Erhalt der Wirtschaft Ein Aufschub des Strafantritts oder eine zeitlich begrenzte Aussetzung der Strafe wurde zumeist – konkret in rund 83,3 Prozent der Fälle – mit dem Erhalt der Wirtschaft begründet: Im Untersuchungszeitraum wurden insgesamt 35 Gnadenakte auf diese Weise genehmigt, davon 34 Gnadenakte in der Regierungszeit von Friedrich Wilhelm II. und ein Gnadenakt in der seines Nachfolgers. Brachte die Haftstrafe die Wirtschaft der verurteilten Personen und deren Familien nachhaltig in Schwierigkeiten, so standen den obrigkeitlichen Akteuren prinzipiell zwei Möglichkeiten zur Verfügung, die nachteiligen Folgen abzumildern: Hatte die verurteilte Person den Untersuchungsarrest überstanden und ihr Urteil vernommen, war aber noch nicht an die Strafvollzugsanstalt überwiesen worden, so bestand eine Möglichkeit darin, einen Aufschub des Strafantritts zu bewilligen (insg. zehn Gnadenakte). Hatte die verurteilte Person ihre Strafe bereits angetreten, so gewährte ihr das Justizdepartement bzw. der Geheime Rat eventuell eine Strafaussetzung in Form einer mehrmonatigen Freilassung, eines Absitzens auf Raten oder eines regelmäßigen wöchentlichen Ausgangs, damit sie dringliche Arbeiten zu Hause erledigen und ihre Wirtschaft somit vor dem Ruin bewahren konnten (insg. 25 Gnadenakte). Waren zum Beispiel mehrere Familienmitglieder am Vergehen beteiligt und entsprechend verurteilt worden, so sorgten die obrigkeitlichen Akteure mit einem Strafaufschub dafür, dass diese nicht gleichzeitig, sondern nacheinander zur Haft eingezogen wurden. Dadurch war gewährleistet, dass sich wenigstens eine Person, während die andere bereits in Haft saß, um die gemeinsame Wirtschaft kümmern konnte. So auch im Fall der Familie Langermann: Damit die Arbeit in der Färberei nicht eingestellt werden musste, gestand man der Witwe und ihrem Sohn zu, dass
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sie sukzessive eingezogen wurden: sie für sechs Wochen Gefängnis und er für ein Jahr Festungsarbeit.531 Auch der Fall Hartenthal zeigt, dass sich für die Betroffenen auch eine Begnadigung mit geringem Umfang lohnte: Die Eheleute durften die zwei bzw. drei Wochen Gefängnis, zu denen sie wegen Annahme von gestohlenem Geld verurteilt worden waren, nacheinander absitzen, um ihre Bierschenke, die „Goldene Kugel“, weiter betreiben zu können; andernfalls hätten Hartenthals die Schenke für den Zeitraum, in dem sie beide im Gefängnis eingesessen hätten, schließen müssen.532 Standen zum Zeitpunkt der Verurteilung noch saisonbedingte Arbeiten in der Landwirtschaft oder zu erledigende Aufträge im Gewerbe an, so half in diesen Fällen ein Aufschub des Strafantritts: Je nach Erfordernis betrug der Aufschub mehrere Wochen bis zu anderthalb Jahren und mehr. Der Ehefrau des wegen Bigamie verurteilten Zimmermanns, Friedrich Wilhelm Nelcke, gelang es zum Beispiel, die sechsmonatige Festungsarbeit ihres Mannes zweimal für neun Monate aufzuschieben. Das erste Mal wurde der Aufschub bewilligt, weil die Supplikantin „hoch schwanger“ war und „alle Tage“ ihre Entbindung erwartete, Nelcke aber in dieser Zeit das Auskommen der Familie allein bestreiten musste.533 Nach Ansicht des Justizdepartements bestand in Nelckes Fall allerdings Fluchtgefahr, da er als Zimmermann auf Wanderschaft gehen musste und – anders als ein Bauer – kein Eigentum an Grund und Boden hatte. Zur Sicherheit sollte Nelcke deshalb einen Eid leisten, dass er sich dem Gericht zur Verfügung halte. Zudem wurde die Regelung getroffen, dass die Kundschaft den Zimmermann nicht im Voraus auszahlen, sondern einen Teil der Zahlung zurückhalten sollte.534 Als Nelcke nach den neun Monaten Aufschub schließlich zur Festungsarbeit eingezogen werden sollte, supplizierte seine Frau erneut und bat um einen weiteren Aufschub mit der Begründung, dass ihr Mann in der Zwischenzeit krank gewesen sei und dadurch kaum etwas habe verdienen können. Dem Justizminister brachte sie ihre Situation nahe: „Erwägen höchstdieselben, was ein armer Zimergeselle für
531 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 2. Juli 1792; Supplik der Langermann in beider Sache vom 30. Juni 1792 / Fallakte Witwe Langermann und Sohn Christoph Friedrich Langermann (intus: Pinckow); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 532 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 2. Juli 1792; Supplik des Hartenthal in eigener Sache vom 23. Juni 1792 / Fallakte Eheleute Hartenthal (intus: Kosteletzky, Moses); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.059. Vergleichbar ist der Fall Krause: Um ihre Leineweberei am Laufen zu halten, durften die Eheleute Krause ihre jeweils einjährige Haftstrafe nacheinander absitzen [s. C.II.1.a)] – vgl. Supplik der Ehefrau Krause für das Ehepaar vom 4. Oktober 1797; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 16. Oktober 1797 / Fallakte Eheleute Krause; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220. 533 Zit. aus: Supplik der Ehefrau Nelcke vom 10. Februar 1787; vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 12. Februar 1787 / Fallakte Friedrich Wilhelm Nelcke; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 534 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 12. Februar 1787; Dekret zur Ausführung desselben vom 16. März 1787 / Fallakte Friedrich Wilhelm Nelcke; in: ebd.
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ein weniges Tagelohn erhält.“535 Sie habe in der Notlage sogar ihren Hausrat verkaufen müssen und nun: „( . . . ) habe [ich] auch nichts mehr, als was ich von meinen Kleidern am Leib trage, und weis des Abends selten, wo ich morgen Brod hernehmen soll.“536
Ihre Darstellung wirkte offenbar authentisch, denn man schenkte ihr Glauben und verzichtete auf weitergehende Nachforschungen. Nelckes Strafantritt wurde daher erneut um neun Monate ausgesetzt, dieses Mal bis zum November, dem Saisonende des Zimmermannhandwerks.537 Als Christiane Ring zu acht Tagen Gefängnis verurteilt wurde, weil sie eine Soldatenfrau fälschlicherweise des Feuerlegens bezichtigt hatte, war dies angeblich ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt für die Ring’sche Hutfabrikation, wie es der Ehemann in seiner Supplik betont [s. B.I.2.]: „( . . . ) da ich [Hutfabrikant Ring] aber wegen sehr dringender Regiments-Arbeit, wobey meine Frau das einfaßen der Soldaten-Hüte verrichten muß, und worüber ich einen Beschleunigungsbefehl vom Regiment erhalten habe, mir nicht möglich ist, meine ehefrau auch jrgend einen Tag aus meiner Wirthschaft zu entbehren ( . . . ).“538
Die Hutherstellung war zwischen den Eheleuten offenbar arbeitsteilig organisiert. So konnte der Fabrikant bei diesem Auftrag auf die Arbeitskraft seiner Ehefrau nicht verzichten und bat daher um Niederschlagung der Strafe oder um Umwandlung in eine Geldbuße. Das Justizdepartement ging jedoch nicht auf dieses Anliegen ein, sondern bewilligte der Ehefrau lediglich einen Aufschub der Gefängnisstrafe, bis der Auftrag erledigt sei.539 Auch hier zeigt sich, dass der Justizminister bzw. die Geheimen Räte bei den nicht-substanziellen Begnadigungen auch mal von der inhaltlichen Zielsetzung der Gnadenbitte abgingen und eine alternative Milderung gewährten. Mit dieser Lösung sollte gewährleistet werden, dass – ohne vom Strafmaß abzugehen – die Ringsche Hutfabrikation den Verträgen mit ihren Auftraggebern gerecht werden konnte. Außerdem zog sich damit das Justizdepartement nicht den Ärger des Militärs zu, welches auf die Fertigstellung der bestellten Hüte wartete. Wie schon dieser letzte Fall zeigt, konnte die Entscheidung über die Modalitäten des Strafvollzugs zu einem Politikum werden. So auch im Fall des Nauener Stellmachermeisters Johann Friedrich Pinckow, der wegen Veruntreuung von Schulden zu einem Jahr Festungsarbeit verurteilt worden war. Aufgrund eines Windbruchs in der Stadtheide herrschte in Nauen ein akuter Mangel an Stellmachern, zumal ein 535 Zit. aus: Supplik der Ehefrau Nelcke vom 1. Februar 1788 / Fallakte Friedrich Wilhelm Nelcke; in: ebd. 536 Ebd. 537 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 8. Februar 1788 / Fallakte Friedrich Wilhelm Nelcke; in: ebd. 538 Supplik des Ehemanns Ring vom 1. März 1793 / Fallakte Christiane Ring; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.203. 539 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 4. März 1793 / Fallakte Christiane Ring; in: ebd.
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anderer Stellmacher im Ort vom Militär eingezogen worden war, und der neben Pinckow noch Verbliebene im Ruf stand, seine „Profession nicht sonderlich“ zu beherrschen.540 Der Notstand rief den Magistrat und die Stadtverordneten auf den Plan, die im Namen der Bürgerschaft um die Begnadigung Pinckows supplizierten [s. B.I.9.a)].541 Bei einer von so zahlreichen Bittstellern getragenen Gnadenbitte stand das Justizdepartement in gewissem Maße unter Druck, dem Anliegen entgegenzukommen. Trotzdem wurde Pinckow die Haftstrafe nicht erlassen. Vielmehr hielt das Justizdepartement an dem Grundsatz fest, dass eine gerichtlich verhängte Strafe auch vollzogen wurde, nur eben zu einem späteren Zeitpunkt: „( . . . ) wollen wir gnädigst Geschehen laßen, daß die Vollziehung der dem dortigen Bürger und Stellmacher Pinckow zuerkannte Festungs-Strafe annoch auf drey Monate ausgesetzt werden könne. In der Zwischenzeit aber müßt Ihr Anstalt machen, daß die Stellmacher-Arbeit während der Abwesenheit des p[raedictus] Pinckow durch andere verfertigt werden könne.“542
Der Justizminister gewährte Pinckow einen dreimonatigen Aufschub und machte damit die Frist – anders als im vorherigen Fall – nicht von der Erledigung der Aufträge abhängig, vermutlich weil zu befürchten stand, dass die Nauener Bürger ihren Stellmachermeister dauerhaft zu beschäftigen wussten, damit sie nicht auf ihn verzichten mussten. Um eine mögliche weitere Supplikation mit dem gleichen Anliegen im Vorhinein auszuschließen, wurde im Gnadendekret darauf hingewiesen, dass der Magistrat diese Frist dazu nutzen soll, dauerhaft Ersatz für Pinckow zu finden. War bisher die Rede vom Aufschub des Strafantritts, soll hier nun die Strafaussetzung Thema sein. Während im Gewerbe meist eine Frist von wenigen Monaten zur Erledigung eines Auftrags ausreichte, so war dies in der Landwirtschaft anders: Ein Bauer war vom Frühling bis zur Wintersaat im Spätherbst von seinem Hof kaum abkömmlich. Zum Beispiel wurde Michael Gladow, dem Betreiber einer Tabakfarm, eine rund fünfmonatige Freilassung bis Martini mit der Begründung gewährt, dass „zur Wahrnehmung seiner Arbeit beym Tabacks-Pflanzen seine persönliche Gegenwart ( . . . ) unentbehrlich ist“.543 Auch den Kossäten Johann 540 Zit. aus: Supplik des Nauener Magistrats vom 31. Januar 1793 / Fallakte Johann Friedrich Pinckow und Ehefrau (intus: Mutter und Sohn Langermann); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 541 So die Begründung der Nauener Stadtverordneten: „Wenn also unser Ackerbau und das Fuhrwesen in der Heyde nicht leiden soll, so ist zu wünschen, daß dieser Pinckow sobald als möglich zu seiner Werck-Statt wieder zurück kehren möge, und dieses ist der Wunsch der ganzen in der größten Verlegenheit sich befindenden Bürgerschaft.“ – Supplik der Nauener Stadtverordneten vom 31. Januar 1793 / Fallakte Johann Friedrich Pinckow und Ehefrau; in: ebd. [s. B.I.9.a)]. 542 Gnadendekret in Form einer Resolution vom 11. Februar 1793; vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 8. Mai 1786]; Annahme-Order vom 29. Mai 1786 / Fallakte Johann Friedrich Pinckow und Ehefrau; in: ebd. 543 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 23. Mai 1796; vgl. mündlich vorgetragene Supplik der Ehefrau Gladow vom 6. Mai 1796 / Fallakte Michael Gladow; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.063.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Michael und Peter Stettin bewilligte Justizminister v. Carmer einen sechsmonatigen Aufschub der vier bzw. sechs Wochen Haft, zu denen sie wegen „grober Tätlichkeiten“ gegen den Grenadier Johann Joachim Riebe verurteilt worden waren: „( . . . ) daß die Vollziehung der ihnen zuerkannten Zuchthausstrafe bis zum Herbst nach geendigter Saatzeit ausgesetzt werden soll.“544
Der Justizminister bzw. die Geheimen Räte erkannten die Notwendigkeit saisonaler Arbeiten in der Landwirtschaft an und setzten in vergleichbaren Fällen das Ende der Saat oder der Ernte als Termin für den Strafantritt bzw. für die Fortsetzung der Haft im Falle einer Strafaussetzung fest. Wie wichtig der Obrigkeit der Erhalt von ertragreichen Höfen war, dokumentiert der bereits zitierte Fall [s. B.I.9.a)], in dem die Bauern mit der Aufkündigung der „Hofe-Dienste“, also der Hand- und Spanndienste, gedroht hatten. Obwohl es sich dabei um einen fundamentalen Angriff auf die Patrimonialherrschaft handelte, setzte sich der betroffene Gutsherr und Landrat selbst für eine Begnadigung seiner verurteilten Untertanen ein, an der er ein fiskalische Interesse hatte: In seiner Supplikation bat v. Alvensleben um Niederschlagung der Strafen bzw. um Strafminderung oder wenigstens um vorübergehende Entlassung seiner Untertanen Matthias Benecke, Andreas Nolop, Johann Joachim Gartz, Johann Friedrich Langnese und Johann Friedrich Thiede und begründete dies mit dem heruntergekommenen Zustand ihrer einstmals ertragreichen Höfe [s. B.I.9.a)].545 Um das Justizdepartement zu überzeugen, bedurfte es nicht immer eines der Vertreters der lokalen Obrigkeit; es genügte, wenn der Betroffene selbst Bittsteller in dieser Angelegenheit war: Matthias Benecke war mit seiner Supplikation v. Alvensleben zuvor gekommen und erhielt folgende Resolution: „( . . . ) daß der Benecke vorjezt bis zur künftigen Wintersaat-Bestellung seines Arrestes entlaßen, und hernach wieder zum Zuchthause gebracht werde.“546
V. Alvensleben hatte die Supplikation für seine Untertanen offenbar beim Altmärkischen Obergericht abgegeben. Dort unterstützte man sein Anliegen mit einem 544 Gnadendekret in Form einer Resolution vom 27. April 1787 / Fallakte Johann Michael und Peter Stettin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.984. 545 Vgl. Supplik des Landrats v. Alvensleben vom 30. Januar 1795 / Fallakte Johann Joachim Gartz, Johann Friedrich Langnese, Johann Friedrich Thiede; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240, fol. 42; vgl. Supplik des Landrats v. Alvensleben vom 27. Februar 1795 / Fallakte Matthias Benecke und Andreas Nolop; in: (intus: Kragel, Lamprecht), in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240, o. Fol. Vergleichbar ist der Fall von Sparmann, für den der Landrat v. Schöning supplizierte, damit jener die Ernte- und Saatarbeiten erledigen konnte – vgl. Fallakte Sparmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.055. 546 Gnadendekret in Form einer Resolution vom 16. Februar 1795; vgl. Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 13. Februar 1795 / Fallakte Matthias Benecke und Andreas Nolop; in: ebd.; die Supplik des Benecke in eigener Sache, auf die sich das Gnadendekret bezieht, ist allerdings nicht überliefert.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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Begleitschreiben an das Justizdepartement.547 Man war sich durchaus bewusst, dass dies ein gewisses logistisches Problem mit sich brachte, denn bei den erkannten Haftstrafen von einem Jahr bzw. sechs Monaten verlängerte sich der Zeitpunkt der Entlassung folgerichtig um die Dauer der Freilassung. Dennoch wurde den beiden Ackermännern eine mehrmonatige Aussetzung bewilligt, um die Ernte einzubringen und die Saat anzulegen.548 Viele supplizierende Untertanen wussten vermutlich um die Überzeugungskraft des Wirtschaftsarguments. Baten sie lediglich um eine zeitweilige Freilassung aus der Haft, so trugen sie ihr Anliegen im Vertrauen darauf vor, dass es sich hierbei um eine Form der Begnadigung handelte, die offensichtlich verhandlungsfähig war. So bat auch George Regeling, der wegen Getreidediebstahl zu sechs Monaten Festungsarbeit verurteilt worden war, selbstbewusst darum, bis Martini freigelassen zu werden: „Ich habe eine ansehnliche Acker-Wirthschaft, eine ganze Hufe Landes, Wiesewuchs, Haus und Garten, und das zur Wirthschaft benöthigte Vieh, meine Kinder sind noch sehr jung, und meine Frau ist Schwanger, ich sehe meinen Untergang vor Augen, wenn ich diese meine Ackerwirthschaft durch fremde Leute bestreiten lassen solte.“549
Sachlich listete Regeling seine Besitzstände auf und legte die familiäre Situation offen, um seine Gnadenbitte argumentativ zu unterstützen. Seine Freilassung wurde bewilligt, jedoch erst einige Monate später, vermutlich weil Regelings Behauptungen durch gerichtliche Ermittlungen verifiziert werden mussten und die vorübergehende Strafaussetzung erst bei der Ernte im Hochsommer bis Herbst sinnvoll war. Zugleich wurde die Strafanstalt darauf hingewiesen, ihn „nach abgelaufener Wintersaat ihn annoch vier Monate lang zu Festungsarbeiten an[zu]halten.“550 Das Justizdepartement ordnete nicht nur zeitweilige Strafaussetzungen an, sondern wollte zugleich sicherstellen, dass die aufgeschobene Strafe auch abgeleistet würde. Eine weitere Variante der Strafaussetzung stellte eine Zuchthaus- bzw. Festungsstrafe auf Raten dar. Dies wurde zum Beispiel der wegen Getreidediebstahls verurteilten Witwe Maria Goehren zugestanden. Aus ihrer Supplik geht hervor, dass sie sich der wirtschaftlichen Bedeutung ihrer Molkerei bewusst war: „Meine 547 Das Gericht votierte für die vorübergehende Freilassung von Benecke und Nolop – vgl. Bericht des Altmärkischen Obergerichts vom 5. März 1795 als Begleitschreiben zur Supplik des Landrats v. Alvensleben vom 27. Februar 1795 / Fallakte Matthias Benecke und Andreas Nolop; in: ebd., o. Fol. 548 Dabei wurde übersehen, dass Matthias Benecke diese Begnadigung bereits kurz zuvor gewährt wurde – vgl. Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 13. Februar 1795; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 16. Februar 1795; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 9. März 1795 / Fallakte Matthias Benecke und Andreas Nolop; in: ebd., o. Fol. 549 Supplik des Regeling in eigener Sache vom 31. März 1796 / Fallakte George Regeling; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.065. 550 Zit. aus: Weisung an die Festungsadministration vom 14. August 1789; vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 14. August 1789 / Fallakte George Regeling; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Wirthschaft ist nicht unbedeutend“ bei der es „vorzüglich auf die Wirthin ankommt“.551 Um möglichen Nachfragen zuvorzukommen, stellte sie klar, dass sie von ihren kleinen Kindern noch keine tatkräftige Unterstützung in der Wirtschaft erwarten konnte, im Gegenteil, denn alle sieben waren noch auf die Pflege und Wartung der Mutter angewiesen. Als Geschäftsfrau hatte sie eine klare Vorstellung davon, wie die dreimonatige Freiheitsstrafe mit der Leitung der Molkerei und der Aufsicht der Kinder miteinander zu vereinbaren sei: Sie bat um eine Umwandlung in eine Gefängnisstrafe, die sie in drei Raten zu je vier Wochen mit jeweils einem vierwöchigen Freigang zwischen den Phasen der Inhaftierung abzusitzen gedachte.552 Auch wenn Maria Goehren die erforderlichen Demuts- und Courtoisieformeln in ihrer Supplik benutzte, so erhält man doch den Eindruck, dass hier eine Geschäftsfrau selbstbewusst und fordernd ihre Interessen vertrat. Das Justizdepartement genehmigte Goehrens Wünsche, da sowohl das Interesse der Obrigkeit an der Sanktionierung der Getreidediebin als auch ihr fiskalisches Interesse an der Molkerei damit gewahrt blieben.553 Dieser Fall zeigt, dass Strafe bzw. konkret die Art und Weise des Strafvollzugs in gewissem Maße Verhandlungssache zwischen dem Justizminister bzw. den Geheimen Räten und den Supplizierenden war – solange das Strafmaß nicht substanziell verändert wurde.554 Bei einer Gefängnisstrafe konnte den Verurteilten mitunter sogar ein regelmäßiger Ausgang gewährt werden.555 Als zum Beispiel der Fischer Busse wegen tät551 Zit. aus: Supplik der Witwe Goehren in eigener Sache vom 2. März 1795 / Fallakte Witwe Maria Goehren; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.061. 552 Vgl. Supplik der Witwe Goehren in eigener Sache vom 2. März 1795 / Fallakte Witwe Maria Goehren; in: ebd. 553 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 16. März 1795 / Fallakte Witwe Maria Goehren; in: ebd. 554 Dies belegt auch der oben zitierte Fall der Langermanns: Nachdem die Mutter ihre sechs Wochen „rathäußliche Sitzung“ absolviert hatte (zur Begnadigung des sukzessiven Strafvollzugs s. o.), bat der Sohn um eine vorübergehende Freilassung während der einjährigen Festungsstrafe, um notwendige Arbeiten in der von der Familie betriebenen Färberei wahrnehmen zu können. Das Justizdepartement genehmigte Langermann, die Haftstrafe in Raten zu je vier Wochen absitzen zu dürfen, eine Maßnahme, die laut obrigkeitlicher Begründung der „Verhütung des gänzlichen Untergangs seines Gewerbes“ dienen sollte – zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 1. Oktober 1792; vgl. Supplik des Langermann in eigener Sache vom 22. September 1792 / Fallakte Witwe Langermann und Sohn Christoph Friedrich Langermann; in: ebd. 555 So z. B. der Fall des Zeugschmieds Christian Gottlieb Kaiser: Wegen Gewalttätigkeit gegenüber seinen Mietern, die bei ihm in Mietschulden standen, erhielt er eine zweimonatige Gefängnisstrafe. Da die Zeugschmiede während der Abwesenheit des Meisters nicht betrieben werden konnte, war seine Ehefrau und ihre vier kleinen Kinder dem „größsten Mangel ausgesetzt“. Das Justizdepartement ging auf die Bitte der Ehefrau ein und wies daraufhin die Stadtgerichte an: „( . . . ) daß Ihr die ihrem Ehemann zuerkannte 2 monathliche Arrest-Strafe dergestalt einrichten sollet, daß der Keyser [Kaiser] zuweilen, um nach seinem Gewerbe zu sehen, losgelassen werde.“ – Gnadendekret in Form einer Resolution vom 2. Mai 1796; zuvor zit. aus: Supplik der Ehefrau Kaiser vom 29. April 1796 / Fallakte Christian Gottlieb Kaiser; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.986.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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licher Beleidigung der Schildwache zu acht Wochen Gefängnis verurteilt worden war, bat er um eine Umwandlung der Haftstrafe in eine „mäßige“ Geldbuße. Er begründete sein Anliegen mit seiner besonderen Verantwortung angesichts der familiären Situation, denn er habe eine: „( . . . ) Frau, welche wegen gichtigsche Zufelle ein Krüppel ist, nebst 4 kleine unerzogene Kinder, nebst meine alte nahe an 80jährige Schwieger-Mutter, so beständig liegen muß, nebst einen elenden gebrechlich verwachsenen Schwager.“556
Busse musste folglich für den Großteil des Unterhalts aller Familienmitglieder allein aufkommen. Ein Verdienstausfall des Fischers von zwei Monaten hätte weitreichende Folgen für die ganze Familie, da ihn keiner hätte ersetzen könnte. Das Argument leuchtete dem Justizminister ein, aber zu einer Umwandlung in eine Geldbuße ließ er sich nicht bewegen. Offenbar befand er Busses beleidigendes Verhalten gegenüber Staatsdienern als zu gravierend, um damit eine Haftverschonung zu rechtfertigen. Möglich ist auch, dass er – sollte er auf Busses Wunsch eingehen – insgeheim mit einer darauf folgenden Supplikation rechnete, in der Busse um Niederschlagung der Geldbuße bat, die man ihm dann eventuell aufgrund der Armut der Familie tatsächlich gewähren musste; Busse würde in diesem Fall ohne Sanktion davonkommen – eine Gnadenpraxis, die der Justizminister ablehnte. Mit Zustimmung der Räte gewährte er dem Fischer daher einen regelmäßigen Ausgang während seines Gefängnisaufenthalts: „( . . . ) daß zwar nicht die Strafe erlaßen, jedoch die Sache so eingeleitet werden könne, daß der Busse die Strafe abwechselnd absitze, so daß ihm nach 14 Tagen immer 8 Tage zur Besorgung seiner Haußgeschäfte, frey zu laßen sind.“557
Die Maßnahme sollte Busse trotz Inhaftierung befähigen, sein Auskommen zumindest rudimentär bestreiten und zu Hause nach dem rechten sehen zu können. Hinzu kam, dass der Ausgang – anders als die erbetene Geldbuße – für die Familie Busse mit keinen Kosten verbunden war. Der Justizminister konnte sich zugute halten, mit dieser Lösung die Argumente des Supplikanten berücksichtigt zu haben. Bei kürzeren Gefängnisstrafen war auch ein wöchentlicher Ausgang möglich.558 Eine solche Erlaubnis erhielt zum Beispiel der Töpfermeister Samuel Ferdinand Struck bei der an sich schon milden Strafe von vier Wochen Gefängnis, die ihn 556 Supplik des Busse in eigener Sache vom 5. Mai 1791 / Fallakte Fischer Busse; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. C, Paket 15.985. 557 Gnadendekret in Form einer Resolution vom 30. Mai 1791 / Fallakte Fischer Busse; in: ebd. 558 So z. B. im Fall Trappen: Auf Betreiben seiner Mutter wurden dem Burschen während der drei Wochen Gefängnisarrest zwei Tage Ausgang pro Woche gewährt. Die Mutter begründete ihre Bitte mit wirtschaftlichen und pädagogischen Gründen: Trappen solle von seinem älteren Bruder in der gemeinsamen Wirtschaft „zur Arbeit angehalten“ werden – zit. aus: Supplik der Mutter Trappen vom 25. Juni 1797; vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 3. Juli 1797 / Fallakte Trappen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.065.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
sein fahrlässiger Umgang mit Rattengift gekostet hatte [s. C.II.4.c)].559 Struck bat darum, die vier Wochen nicht „in einer tour“ absitzen zu müssen, „da die Winter Monathe in meinem Metier dazu angewand werden müßen[,] um im Sommer außer Hause Arbeiten zu können“ – in der Wintersaison brannte der Töpfermeister Tonkacheln auf Vorrat.560 Der Justizminister nahm darauf Rücksicht und ordnete einen regelmäßigen Wechsel von Gefängnis und Ausgang an, so dass Struck „wöchentlich drei Tage in der Woche aber zu Erhaltung seiner Nahrung befreyt sey“.561 Kaum negative Auswirkungen auf ihre Wirtschaft dürfte indes die Gefängnisstrafe für die Händlerin Kortmann gehabt haben, denn auf die Supplikation ihres früheren Dienstherrn hin wurde ihr zugestanden, die acht Tage stets samstags und sonntags abzusitzen, damit sie unter der Woche ihrer Viktualienhandlung nachgehen könne.562 Die bisher dargestellten Fälle vermitteln ein Bild von einer Gnadenpraxis, bei der ein Aufschub oder eine Strafaussetzung bei einer entsprechenden Supplikation relativ selbstverständlich erteilt wurde. Wiederholt sei darauf hingewiesen, dass hier lediglich die Begnadigungen, nicht aber die abgelehnten Gnadenbitten betrachtet werden. Doch auch Vorgänge, die mit einem Gnadenakt schließen, dokumentieren, dass eine Begnadigung auch bei geringfügiger Qualität die Einhaltung bestimmter Kriterien voraussetzte. So zum Beispiel der oben zitierte Fall des Journalisten Christian Friedrich Wredow [s. C.II.4.f), C.II.5.a)ee)]: Als Wredow darum bat, von der Hausvogtei wöchentlich Ausgang ohne Begleitung der Wachen zur „Vermehrung meines Verdienstes und Erhaltung meiner schon sehr zerrütteten Gesundheit“ zu erhalten563, lehnte das Kammergericht dieses Anliegen mit folgender Begründung ab: „In der Sache selbst liegen keine Gründe, welche unserem Dafürhalten nach, das Gesuch des Wredow unterstützen, vielmehr scheinen uns die, welche derselbe anführet, zu den mit in dem Arrest verknüpften unangenemen Folgen zu gehören.“564 559 In erster Instanz lautete das Urteil auf drei Monate Gefängnis, in zweiter Instanz auf vier Wochen Gefängnis – vgl. zwei Suppliken des Struck in eigener Sache vom 13. September 1797 und vom 27. November 1797; Gnadendekrete in Form von Resolutionen vom 25. September 1797 und vom 4. Dezember 1797 / Fallakte Samuel Ferdinand Struck; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. N, Paket 16.245. 560 Zit. aus: Supplik des Struck in eigener Sache vom 27. November 1797 / Fallakte Samuel Ferdinand Struck; in: ebd. 561 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 4. Dezember 1797 / Fallakte Samuel Ferdinand Struck; in: ebd. 562 Vgl. Supplik des ehemaligen Dienstherrn der Kortmann, Graf v. Hertzberg, vom 12. April 1793; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 13. April 1793 / Fallakte Ehefrau Kortmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.061. 563 Zit. aus: Supplik des Wredow in eigener Sache vom 23. Mai 1795; vgl. Gnadendekret vom 22. Juni 1795 / Fallakte Christian Friedrich Wredow; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220. 564 Bericht des Kammergerichts vom 11. Juni 1795 / Fallakte Christian Friedrich Wredow; in: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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Aus der Stellungnahme geht zum einen hervor, dass auch für diese Art der Begnadigung eine stichhaltige Begründung notwendig war. Zum anderen verdeutlicht sie das Strafverständnis der Richter: Es liegt in der Natur der Strafe, dass sie nachteilige Umstände mit sich bringt, welche zu beheben nicht die Aufgabe der Justiz sein kann, da sich die verurteilte Person die Bestrafung selbst zuzurechnen hat. Mit anderen Worten: Die Funktion von Begnadigung bestand nach Ansicht der Richter des Kammergerichts nicht darin, Unannehmlichkeiten der Bestrafung zu mildern. Die unnachgiebige Haltung erklärt sich auch dadurch, dass Wredow die Nachsicht der Richter durch seine vorherigen Supplikationen und die daraufhin bereits gewährte Umwandlung der Festungs- in eine Gefängnisstrafe wahrscheinlich überstrapaziert hatte [s. C.II.5.a)ee)]. Eine neuerliche Milderung stellte aus der Sicht der Richter den Sinn und Zweck der Strafe in Frage. Der ablehnenden Haltung des Grichts zum Trotz gewährte das Justizdepartement dem Journalisten den erbetenen mehrstündigen Ausgang.565 Die Großzügigkeit erklärt sich eventuell dadurch, dass der Journalist Wredow durch seine Berichterstattung aus dem Geheimen Rat dem Justizminister und den Geheimen Räten bekannt war und diese ihm wohl gesonnen waren. Vielleicht lag der Grund auch in der Konkurrenz der Behörden im Hinblick auf ihre Zuständigkeiten: Das Justizdepartement als oberste Aufsicht der Rechtspflege wollte sich vom Gericht nicht belehren lassen, wie in Gnadensachen zu entscheiden war. b) Schutz des neugeborenen Lebens und Versorgung der Kinder Einen Strafaufschub oder eine vorübergehende Aussetzung der Haft begründeten die obrigkeitlichen Akteure vereinzelt auch mit dem Wohlergehen des Nachwuchses der verurteilten Untertanen. Eine so begründete Begnadigung war an das Geschlecht der verurteilten Person gebunden, da Geburt, Pflege und Aufzucht von Kindern, insbesondere das Stillen von Säuglingen, zum weiblichen Zuständigkeitsbereich gehörten: Daher handelte es sich bei den hier Begnadigten ausschließlich um Frauen. Obwohl fast jede verurteilte Frau eine Bitte um Strafmilderung unter anderem mit der Sorge um ihre Kinder begründete, ließ das Justizdepartement dieses Argument nur selten gelten. So wurde in der Regierungszeit von Friedrich Wilhelm II. lediglich viermal ein Aufschub bzw. eine zeitweilige Aussetzung der Strafe aus diesem Grund bewilligt; dies macht rund 3,0 Prozent der insg. 134 Gnadenakte aus. Art und Dauer der Begnadigung waren dabei abhängig von der jeweiligen familiären Situation: Die Spanne reicht von einer zwei- bis dreiwöchigen Aussetzung der Zuchthausstrafe bis zu einem Jahr Aufschub des Strafantritts. Mit einer mehrwöchigen Aussetzung der Zuchthausstrafe wurde zum Beispiel die Witwe Maria Elisabeth Bergemann begnadigt. Die Bäuerin war zu einem Jahr Zuchthausarbeit verurteilt worden, weil sie seit über einem Jahrzehnt mit ihrem 565 Vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 22. Juni 1795 / Fallakte Christian Friedrich Wredow; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Stiefsohn, Michel Friedrich Bergemann, in einer eheähnlichen Gemeinschaft lebte und mit ihm drei gemeinsame Kinder hatte.566 Letzterer erbat für seine Stiefmutter [s. B.I.4.]: „( . . . ) sich in Gnaden der Kindes-Mutter zu erbarmen, und ihre gedachte Strafe aller gnädigstig etwas zu lindern und zu erlaßen, das unsere Wirtschaft doch nicht zu Grunde geht.“567
Obgleich die Sorge um die Kinder den eigentlichen Anlass für Michel Friedrich Bergemanns Supplikation bildete, ist dieses Argument aufs Engste mit dem wirtschaftlichen Auskommen und dem Erhalt des Hofes verknüpft. Familiäre Fürsorge war ohne den wirtschaftlichen Aspekt nicht denkbar. Bei der Bergemannschen Kinderschar handelte es sich – Michel Friedrich Bergemann nicht eingerechnet – um sechs Kinder, drei Söhne und drei Mädchen im Alter von zwölf, zehn, acht und sechs Jahren sowie zwei Kleinkinder, die bereits aus dem Säuglingsalter herausgewachsen waren. Der Justizminister reagierte auf diesen Hilferuf und beauftragte das Kammergericht, der Frage nachzugehen: „( . . . ) auf welche Art der der Stiefmutter des Supplicanten zuerkannte Arrest ohne Nachtheil der 6 Kinder am besten eingerichtet werden könne.“568
Nach der Meinung der Richter des Kammergerichts stand die Obrigkeit in der Pflicht, die Versorgung zu gewährleisten. Im Falle, dass „Verbrecher“ Kinder hinterließen, sei es: „( . . . ) die Pflicht der Gericht-Obrigkeit ( . . . ), dafür zu sorgen, daß während der Dauer der Strafe die zurückgelaßenen Kinder gehörig verpflegt und erzogen werden und daß die dazu nötigen Anstalten am besten unter Beihülfe der nächsten Verwandten getroffen werden.“569
Die Fürsorge verwundert auf den ersten Blick, denn im Fall anderer Familien wurden selten derartige Überlegungen angestellt; allerdings war in diesen Fällen der Ehemann und (Stief-)Vater der Kinder meist zu Hause. Das Engagement für die Bergemannschen Kinder erklärt sich vermutlich dadurch, dass man den wegen Inzests angeklagten Michel Friedrich Bergemann nicht in die Pflicht als leiblicher Vater bzw. väterlicher Stiefbruder nehmen wollte – daher beabsichtigte man, die Aufzucht der Kinder an Verwandte zu übergeben. Bevor der Bericht des Kammergerichts beim Justizdepartement eintraf, gingen dort zwei weitere Supplikationen der Familie Bergemann ein. Die Witwe selbst versuchte, ihre Beziehung zu ihrem Stiefsohn zu verteidigen, indem sie beteuerte, 566 Vgl. Supplik des Stiefsohnes Michel Friedrich Bergemann vom 18. August 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956. 567 Ebd. 568 Weisung an das Kammergericht vom 7. September 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 569 Bericht des Kammergerichts vom 24. September 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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dass die Beziehung von ihrem greisen Ehemann damals ausdrücklich gebilligt worden war: „( . . . ) weil mein Mann sich der Unmöglichkeit, mir die eheliche Pflicht leisten zu können[,] bewußt, seinem Sohn diese Rechte gutwillig abtrat.“570
Damit gab sie vor, nicht begriffen zu haben, worin ihr Vergehen eigentlich bestand: Schließlich warf man ihr keinen Ehebruch, sondern den Verstoß gegen das Inzestverbot vor. Darunter fiel Ende des 18. Jahrhunderts unter anderem die sexuelle Beziehung zu einem Stiefkind, es sei denn, man konnte einen Dispens vorweisen.571 Maria Elisabeth Bergemann war aber nachweislich über die Möglichkeit des Dispenses und somit auch über das Inzestverbot informiert.572 Die Witwe beließ es in ihrer Supplikation aber nicht dabei, ihre vermeintliche Unwissenheit als Schuld mindernd ins Feld zu führen. Die erbetene Strafmilderung begründete sie in erster Linie mit der fehlenden Pflege und Aufsicht ihrer Kinder: „Die Entfernung von meinen sechs Kindern[,] davon noch 3 unerzogen der Mütterlichen Pflege bedürftig sind, naget mir am Herzen.“573
Das Klagen der Mutter aufnehmend, ging fünf Tage später eine Supplik der sechs Kinder ein: „( . . . ) da wier arme Kinder in allen sehr noch Leiden, weil unsere Mutter nicht Bey uns ist, sollten wier armen Kinder Ein Jahr ohne Mutter Sein, So würden wier vergehen müßen in noth und Ehlend.“574
Die Supplik mündete in der Gnadenbitte: „das wier unser Mutter bald wieder zu unser Pflüge und reinigung Erhalten“.575 Die Folgen, welche die Verhaftung von Maria Elisabeth Bergemann mit sich brachte, hatte die Familie damit geschickt aus allen Perspektiven dargelegt. Es lag vermutlich an dieser Strategie des Supplizierens, dass man im Justizdepartement rasch eine Begnadigung bewilligte, ohne zuvor, wie vom Kammergericht vorgeschlagen, nach Anverwandten Ausschau zu 570 Supplik der Bergemann in eigener Sache vom 14. September 1795; vgl. Supplik der Kinder Bergemann vom 19. September 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 571 Beispielhaft zum Inzest im 18. Jahrhundert vgl. Claudia Jarzebowski, Eindeutig uneindeutig: Verhandlungen über Inzest im 18. Jahrhundert; in: Jutta Eming / Claudia Jarzebowski / Claudia Ulbrich (Hg.), Historische Inzestdiskurse, Königstein / Taunus 2003, S. 161 – 188; vgl. Jarzebowski 2006. 572 So geht aus der Supplik der Witwe Bergemann hervor, dass sie selbst vor Jahren den Prediger ihrer Gemeinde gebeten hatte, sich beim Oberkonsistorium für einen Dispens einzusetzen. Dieser Prediger war es auch, der Maria Elisabeth und Michel Friedrich Bergemann angezeigt hatte, allerdings erst, als diese bereits drei gemeinsame Kinder hatten – vgl. Supplik der Bergemann in eigener Sache vom 14. September 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 573 Ebd. 574 Supplik der Kinder Bergemann vom 19. September 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 575 Zit. aus: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
halten, die sich der Kinder annehmen könnten. Im Gnadendekret hieß es, Maria Elisabeth Bergemann sei: „( . . . ) auf zwey oder drei Wochen aus dem Zuchthause zu entlaßen, um nach ihren Kindern und deren Pflege sehen zu können.“576
Wahrscheinlich wollte man der Mutter damit nur Gelegenheit geben, selbst eine Unterbringung ihrer Kinder für die restliche Dauer ihrer Haft zu finden, denn mit einer einmaligen und so kurzen Entlassung konnte natürlich eine verlässliche Versorgung der Kinder nicht gewährleistet werden. In zwei weiteren Suppliken beklagte Maria Elisabeth Bergemann die „Verwahrlosung“, in der sie ihre Kinder angetroffen hatte, und bat daher um Erlass der Reststrafe, um sie „in den Stand zu setzen, ( . . . ) meine mütterlichen Pflichten gehörig erfüllen zu können“.577 Unter ihrer mütterlichen Pflicht verstand sie die Versorgung und „moralische Erziehung“ der Kinder, aber auch ihre Arbeit in der Wirtschaft.578 Was auf das Gnadendekret folgte, belegt aufs Neue die mangelnde Durchsetzungskraft frühneuzeitlicher Zentralbehörden: Obwohl das Justizdepartement auf Befehl von Friedrich Wilhelm II.579 die Begnadigung angeordnet hatte, bedeutete dies nicht, dass die Zuchthausadministration die angeordnete Strafaussetzung sogleich auch vollzog. In den folgenden zehn Wochen gingen beim Justizdepartement vier weitere Suppliken der Kinder ein, in denen zwar für die bewilligte Beurlaubung gedankt wurde, zugleich aber darauf hingewiesen wurde, dass „die Adminisration [sic]“ diese „zu spenden“ nicht bereit sei.580 Daraufhin erließ das Justizdepartement erneut eine diesbezügliche Weisung an das Zuchthaus.581 Die Zuchthausadministration fügte sich nun der Anordnung, ließ sich aber mit der Umsetzung Zeit, denn Maria Elisabeth Bergemann musste noch zwei weitere Monate auf ihren Freigang warten. Trotz der fernerhin eingereichten Supplikationen ging das obrigkeitliche Fürsorgeverständnis allerdings nicht so weit, der sechsfachen Mutter eine weitergehende Begnadigung oder zumindest eine zweite Aussetzung der Haft zu gewähren.582 576 Gnadendekret in Form einer Resolution vom 28. September 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 577 Zit. aus: zweite Supplik der Bergemann in eigener Sache vom 19. Januar 1796 und dritte Supplik ders. vom 15. Juli 1796 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 578 Zit. aus: dritte Supplik der Bergemann in eigener Sache vom 15. Juli 1796 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 579 Vgl. Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 5. November 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 580 Zit. aus: Supplik der Kinder Bergemann vom 13. Dezember 1795; vgl. weitere Suppliken der Kinder Bergemann vom 23. Oktober 1795, 3. November 1795 und 8. November 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 581 Vgl. Weisung an das Zuchthaus und Resolution vom 21. Dezember 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 582 Vgl. zweite Supplik der Bergemann in eigener Sache vom 19. Januar 1796; dritte Supplik ders. vom 15. Juli 1796; Suppliken der Kinder Bergemann vom 30. Dezember 1795 und
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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In den übrigen Fällen wurde den Müttern ein Aufschub des Strafantritts bewilligt. Im Unterschied zu Maria Elisabeth Bergemann waren diese Frauen hochschwanger bzw. hatten Säuglinge, die noch gestillt wurden.583 Der Fall der Eheleute Blüthmann belegt, dass sich nicht nur das Gericht [s. o.], sondern auch die lokale Obrigkeit in der Pflicht sah, die Versorgung der Kinder einer verurteilten Frau zu gewährleisten. Die Eheleute Blüthmann waren beide zu sechs Monaten Zuchthausarbeit und Entzug des Schankrechts für ihr Wirtshaus verurteilt worden, weil sie eine vagabundierende „Diebesgesellschaft“ für 14 Tage in ihrem Gasthof beherbergt und von jener Diebesgut angenommen hatten.584 Daraufhin wurde der Gutsherr der Blüthmanns, v. Platen, beim Justizdepartement mit einer Supplikation vorstellig, in der er sich auf seine Pflicht als lokale Obrigkeit berief: „Ich halte es als Grundherrschaft für Pflicht, für die Conservation der Unterthanen zu sorgen“.585 Der Anlass seiner Supplikation war die Schwangerschaft der Ehefrau Blüthmann: Er bat, auf die Leibesumstände seiner Untertanin Rücksicht zu nehmen und schlug vor, entweder ihre Haftstrafe in eine Geldbuße zu verwandeln oder aber die Geburt abzuwarten und dann die Delinquentin mit Kind ins Gefängnis einzuweisen; sollte hingegen an der Zuchthausstrafe festgehalten werden, so müsste ihr ein Aufschub von rund zehn Monaten gewährt werden, bis das Kind abgestillt sei. Auf jeden Fall sollte die Begnadigung nach Meinung v. Platen dergestalt sein, dass die anderen vier „kleinen unmündigen Kinder nicht vor Hunger, und Mangel der Pflege umkommen“.586 Auch der Gutsherr verknüpfte hier das fürsorgerische mit dem wirtschaftlichen Argument: Der Supplikant betonte, dass die Ehefrau der Garant dafür sei, dass die Blüthmannsche Wirtschaft und der Gasthof Ertrag abwarfen, da ihr Ehemann als Zimmermann häufig unterwegs war. Der Gutsherr machte aus seinem wirtschaftlichen Interesse am Fall Blüthmanns keinen Hehl: In der Supplik legte v. Platen offen dar, dass eine längere Inhaftierung der Blüthmannin Mindereinnahmen für vom 27. Januar 1796; mündlich vorgetragene Supplik des Stiefsohnes Michel Friedrich Bergemann vom 9. September 1796; dazugehörige Dekrete über abgelehnte Gnadenbitten / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: ebd. 583 So wurde z. B. der hochschwangeren Ehefrau Krause und der jungen Mutter Dorothea Elisabeth Hoffmann zugestanden, ihre Strafen bis zum Zeitpunkt des Abstillens aufzuschieben. Mit dieser Maßnahme nahm der Justizminister sowohl Rücksicht auf die Bedürfnisse der Säuglinge als auch auf die wirtschaftliche Situation der Familien – vgl. Supplik der Ehefrau Krause für das Ehepaar vom 4. Oktober 1797; Gnadendekret in Form einer Resolution vom 16. Oktober 1797 / Fallakte Eheleute Krause; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220 (zur weiteren Begnadigung s. C.II.1.a); mündlich vorgetragene Supplik des Ehemanns Hoffmann vom 9. Mai 1793, Gnadendekret in Form einer Resolution vom 18. Mai 1793 / Fallakte Dorothea Elisabeth Hoffmann, geb. Braband; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. N, Paket 16.245. 584 Zit. aus: Rechtsgutachten o. D. [ca. 31. Januar 1788]; vgl. Annahme-Order vom 11. Februar 1788 / Fallakte Eheleute Blüthmann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.054. 585 Zit. aus: Supplik des Gutsherrn v. Platen vom 12. Dezember 1788 / Fallakte Eheleute Blüthmann; in: ebd. 586 Zit. aus: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
ihn als Gutsherrn zur Folge habe. Dieses Argument baute er taktisch aus und wies darauf hin, dass damit auch der Landesherr weniger Abgaben zu erwarten habe.587 Die Argumente v. Platens überzeugten das Justizdepartement und so erging die Weisung an das Kammergericht: „( . . . ) die Execution gegen die Blüthmannsche Ehefrau so einzurichten, daß sie ihrer Leibesfrucht unnachtheilig bleibt, und ihr zu deren Säugung die erforderliche Zeit gelaßen wird, auch in Ansehung des Blütmann die Strafe mit solcher Maasgebung vollstrecken zu laßen, daß der Nahrungsstand deßelben nicht gänzlich zerrüttet wird.“588
Welche Regelung das Kammergericht daraufhin traf, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der Ehefrau Blüthmann sowohl der Aufschub des Strafantritts als auch eine vorübergehende Aussetzung der Strafe aufgrund der familiären und der wirtschaftlichen Situation erlaubt wurden. Aus dem Gnadendekret geht hervor, dass man nicht bereit war, auf eine Leibes- und Freiheitsstrafe gänzlich zu verzichten, auch wenn diese zwangsläufig die Wirtschaftskraft minderte und sich damit negativ auf die materiellen Interessen der lokalen und zentralen Obrigkeit auswirkte. c) Kritischer Gesundheitszustand Ein Strafaufschub oder eine vorübergehende Aussetzung der Haft wurde auch zum Zwecke der Genesung – allerdings nur in Fällen gravierender Krankheit – gewährt. Daher liegen insgesamt nur drei so begründete Gnadenakte vor, zwei davon unter der Regierung von Friedrich Wilhelm II. und einer unter seinem Nachfolger. Die Art und Weise der Begnadigung war auf die jeweilige Erfordernis abgestimmt: Bis zur Genesung wurde der verurteilten Person eine Schonfrist erteilt, sei es die Aussetzung der Haft oder auch nur der Aufschub einer Züchtigung. Im bereits öfters zitierten Fall der Auguste Friederike Charlotte Hanses wurde zum Beispiel die Aussetzung der Strafe auf unbestimmte Zeit bis zur Genesung angeordnet. Die junge Frau war wegen verheimlichter Schwangerschaft und Geburt ursprünglich zu vier Jahren Zuchthausarbeit verurteilt worden, wurde dann aber zu einer Gefängnisstrafe begnadigt [s. C.II.5.a)dd) und zum Fall insg. s. A.III.3.b), B.I.3.].589 Nach rund drei Jahren Haft wurde der labile Gesundheitszustand von Auguste Friederike Charlotte Hanses besorgniserregend. Sie litt nämlich bereits: „( . . . ) seit ihrer zartesten Kindheit an einem äußerst kränklichen Körper, deßen Schwäche bei dem Mangel an freier Luft und Bewegung mit jedem Tage zunimmt und sie einem nahen Tode entgegen sehen läßt.“590 Vgl. ebd. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 26. Dezember 1788 / Fallakte Eheleute Blüthmann; in: ebd. 589 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 3. November 1791]; Annahme-Order vom 14. November 1791 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179, fol. 170 – 183, 184. 587 588
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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Dies veranlasste ihren Vater, ein Jahr vor ihrer regulären Freilassung eine mediate und eine immediate Supplikation gleichzeitig auf den Weg zu bringen. Er bat um die vorzeitige Entlassung seiner Tochter vor Einbruch des Winters: „( . . . ) da ich sonst mit jedem Tag den Schmerz befürchten muß, meine Tochter im Gefängniße sterben zu sehen.“591
Obwohl diese Gnadenbitte abgeschlagen wurde592, ließ sich der Vater nicht beirren und supplizierte drei Monate später erneut, als sich der Gesundheitszustand seiner Tochter angeblich weiter verschlechtert hatte: „( . . . ) daß ihr das Atemholen beynahe völlig untersagt ist, alle angewandten Mittel sind fruchtlos, und selbst der Arzt ist nicht vermögend, ihr von dieser gefährlichen Krankheit zu heilen, da sie so wenig frische Luft als Bewegung im Kerker genießen kann.“593
Die Hartnäckigkeit des Supplikanten zahlte sich aus, denn nun war das Justizdepartement bereit, Auguste Friederike Charlotte Hanses zur Genesung freizulassen, allerdings unter der Bedingung: „( . . . ) daß sie nach erlangter Gesundheit wiederum zur Absitzung des Überrestes der ihr zuerkannten Strafe zum Arrest gebracht werde.“594
Unklar bleibt, was den Justizminister nun doch zur Aussetzung der Haft bewogen hat: War es der Zeitpunkt der Supplikation – kurz vor Weihnachten – welcher zu einer gewissen Milde stimmte? Vermutlich war es eher die unparteiische Bestätigung von Hanses Krankheit durch einen hinzugezogenen Physicus. Auguste Friederike Charlotte Hanses wurde jedenfalls am 3. Januar 1795 freigelassen; sie benötigte rund zehn Monate zum Regenerieren; wirklich gesund wurde sie je-doch nicht, da sie mittlerweile chronisch krank war. Obwohl eine Fortsetzung der Haft für sie lebensbedrohlich war, wurde ihr ein Erlass der Reststrafe nicht gewährt.595 Auch George Friedrich Dittmar wurde eine zeitweilige Entlassung aus der Haft gewährt, um sich pflegen zu lassen; aber anders als im Fall von Auguste Friederike Charlotte Hanses kam die Begnadigung für den Todkranken zu spät – er ver590 Immediate Supplik des Vaters Hanses vom 25. September 1794 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 205. 591 Mediate Supplik des Vaters Hanses vom 25. September 1794 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 204. 592 Vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte vom 29. September 1794 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 206. 593 Supplik des Vaters Hanses vom 17. Dezember 1794 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 207. 594 Gnadendekret in Form einer Resolution vom 22. Dezember 1794 / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 208. 595 Vgl. Suppliken des Vaters Hanses ab dem 12. Oktober 1795 nebst medizinischem Gutachten als Anlage; diesbezügliche Dekrete über abgelehnte Gnadenbitten / Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: ebd., fol. 209 – 214.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
starb noch im Verlies. Dittmar war wegen Fälschung russischer Banknoten zu drei Jahren Festungsarrest verurteilt worden. Nachdem er rund zweieinhalb Jahre im Untersuchungsarrest und auf der Festung zugebracht hatte, wurde in der Supplik seines Sohnes erstmals auf Dittmars kritischen Gesundheitszustand aufmerksam gemacht – doch vergeblich, denn dem Justizdepartement genügte die Begründung offenbar nicht für eine Begnadigung.596 Dass Häftlinge von den Strapazen der Haft chronisch krank wurden, nahm man in Kauf. Das gesundheitliche Risiko bei einer Sanktion war implizit Bestandteil der Strafe. Zwei Jahre später, also drei Wochen und drei Tage vor Ablauf der regulären Strafe, meldete sich die Ehefrau zu Wort. Sich auf die Aussage des Doktor medicinae Ockel in Spandau berufend, bat sie um sofortige Entlassung ihres Mannes, denn dieser sei „zum Sterben erkrankt“: „Einem Menschen daß Leben zu retten, und einer familie den Versorger zu erhalten, sind[,] glaube ich[,] entschuldigungsvolle Gründe, wenn ich Ewre Königliche Majestät fußfälligst bitte, mir meinen sonst mit jeder Stunde dem Tode sich nähernden Mann zurük zu geben.“597
In seiner sofortigen Entlassung sah Dittmar die einzige Chance, um ihren Ehemann am Leben zu erhalten, denn eine Genesung war angesichts der Haftbedingungen auf der Festung ausgeschlossen: „In der Gefangenschaft auf der Vestung, zumal bey nächtlichen Einschluß, ist an einem solchen so schwer Erkrankten, die nöthige Pflege und Sorgfalt nicht auszuüben, mithin nichts sicherer zu erwarten, als ein plötziger Untergang vor der Zeit, zu meinem Ruin, und Behinderung des Fortkommens der zwey Söhne als gesittete Weld-Bürger.“598
Nun endlich gestand der Justizminister in Abstimmung mit den Geheimen Räten George Friedrich Dittmar zu, bis zu seiner Genesung auf freien Fuß gesetzt zu werden; die übrigen zwei Wochen bis zu seiner regulären Entlassung wurden ihm aus Prinzip nicht erlassen.599 Die Begnadigung kam jedoch zu spät, denn an demselben Tag, an dem das Gnadendekret aufgesetzt worden war, verstarb Dittmar auf der Festung, wie die Festungsadministration kundtat: „Der Festungs-Arrestant Dietmar [sic] bedarf nun keiner menschelichen Hülfe mehr. Er ist gestern früh gestorben.“600 596 Vgl. Supplik des Sohnes Dittmar vom 10. November 1793; Dekret über abgelehnte Gnadenbitte vom 25. November 1793; Annahme-Order vom 27. April 1791 / Fallakte George Friedrich Dittmar; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 597 Supplik der Ehefrau Dittmar vom 25. Januar 1795 / Fallakte George Friedrich Dittmar; in: ebd. 598 Ebd. 599 Die Annahme, dass die Krankheit Dittmars für die Aussetzung der Strafe ausschlaggebend war, ist dem Gnadendekret zu entnehmen, da die Dauer der Entlassung vom gesundheitlichen Zustand Dittmars abhängig sein sollte – vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 2. Februar 1795 / Fallakte George Friedrich Dittmar; in: ebd. 600 Bericht des Kanzlisten Poll vom Gouvernement der Festung vom 3. Februar 1795 / Fallakte George Friedrich Dittmar; in: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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George Friedrich Dittmar wurde ein Opfer der Haftbedingungen auf der Festung Spandau. In Anbetracht der unhygienischen Zustände im Strafvollzug ist es erstaunlich, dass die Akten nicht von weiteren Todesfällen zu berichten wissen. Es ist davon auszugehen, dass der Aufenthalt auf der Festung, im Zuchthaus oder im Gefängnis deutliche Spuren auf den Körpern der Verurteilten hinterließ – viele verließen ihre Zelle als chronisch Kranke. Auch im bereits zitierten Fall von Heinrich Schäfer zeigt sich, dass man nicht zimperlich mit Verurteilten umging und nur in Ausnahmefällen einen Aufschub der Strafe aus gesundheitlichen Gründen gewährte. Schäfer wurde als angeblicher Rädelsführer eines Aufstandes von Handwerksgesellen zu lebenslanger Festungsarbeit nebst öffentlicher Auspeitschung verurteilt.601 Bei seiner Verhaftung wurde Schäfer nach eigener Aussage von Wachsoldaten übel zugerichtet: „( . . . ) ich habe mich nicht einmahl gegen sie [die Wache] gewehrt, sondern sie hat gleich mit den Gewehrn auf mich losgeschlagen, wie meine viele Wund beweisen.“602
Es handelte sich hierbei nicht um harmlose Blessuren, denn aus dem Gutachten des Physicus geht hervor, dass sich Heinrich Schäfer in Lebensgefahr befand, da seine Wunden nicht verheilten.603 Die Diagnose veranlasste die Stadtgerichte, die mündlich vorgetragene Bitte des Verurteilten, auf die anstehende Züchtigung zu verzichten und die Festungsstrafe in Gefängnis umzuwandeln, zu unterstützen. Obgleich der kritische Zustand des Verurteilten zwar der eigentliche Grund für die Intervention war604, suchten die Richter nach einer weiteren Begründung: „( . . . ) daß durch die bisherigen öffentlichen Züchtigungen [der Mitangeklagten von Heinrich Schäfer] schon der Zweck der Strafe erreicht worden, das Publikum, bei zu öfterer Wiederholung darann gewöhnt, und dadurch der erste heilsame Eindruk wieder verlöscht werden mögte.“605
Die Richter argumentierten von der Warte des Strafzweckes: Von einer Sanktion erwartete man eine abschreckende Wirkung bei der Bevölkerung, welche man durch bestimmte öffentlich vollzogene Zusatzstrafen zu verstärken hoffte. In der 601 Vgl. Antrag auf Annahme-Order o. D. [ca. Anfang Juni 1795] / Fallakte Heinrich Schäfer (intus: Tescher, Reichert, Bergmüller); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241 [Näheres zum Fall s. B.I.3., B.I.9., A.III.4.a)aa) und b)bb)]. 602 Supplik des Schäfer in eigener Sache vom 15. August 1795 / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd. 603 Dies geht aus dem Bericht der Stadtgerichte hervor – vgl. Bericht der Stadtgerichte vom 12. Juni 1795 (als Begleitschreiben einer nicht mehr vorhandenen Supplik des Schäfer in eigener Sache) / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd. 604 Dafür spricht, dass die Richter den sofortigen Handlungsbedarf anerkannten und vorschlugen, Schäfer aus der Festung in das Gefängnis zu überstellen und auf die Züchtigung zu verzichten. 605 Bericht der Stadtgerichte vom 12. Juni 1795 (als Begleitschreiben einer nicht mehr vorhandenen Supplik des Schäfer in eigener Sache) / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Warnung nahm man Bezug auf die keineswegs intendierte, aber durchaus mögliche Auswirkung, nämlich auf das Phänomen der Abstumpfung gegenüber öffentlich inszenierter Bestrafung. Dahinter stand sicher auch die Befürchtung, dass sich die Sympathien der Zuschauer verkehren könnten: Schließlich würde mit Heinrich Schäfer kein bedrohlich wirkender Verbrecher, der aus der Sicht des Publikums vielleicht eine Strafe verdient hatte, sondern ein kranker, schwacher Mann der Peitsche der Obrigkeit ausgeliefert sein – ein prekäres Szenario, welches durchaus die Kraft hatte, beim Zuschauer Mitleid mit dem Verurteilten hervorzurufen und zugleich Wut auf die Obrigkeit zu provozieren. Der Handwerkeraufstand, an dem Schäfer beteiligt war, hatte auf Seiten der Obrigkeit eine gewisse Aufgeregtheit bewirkt; sogar Friedrich Wilhelm II. schaltete sich in die Ermittlung über den Tumult ein. Dies ist der Grund dafür, dass der Gnadenträger in persona – und nicht, wie beim Strafaufschub bzw. -aussetzung üblich, das Justizdepartement – über die Frage der Züchtigung befand: „( . . . ) daß dem Tischer-Gesellen Schaefer, die ihm als Theilnehmer an dem dortigen Tumulte, zuerkandte Züchtigung, nach seiner Wiedergenäsung, vor seiner ablieferung nach Spandau, nicht öffentlich, sondern nur auf dem Kalandshofe ertheilet werde.“606
Heinrich Schäfer wurde zwar bis zu seiner Genesung von der Auspeitschung verschont, nach dem Willen des Monarchen sollte auf diese jedoch keineswegs generell verzichtet werden. Der Monarch drängte im Fall des Handwerkeraufstandes auf ein hartes Vorgehen. Die Warnung der Richter vor einer von der Obrigkeit nicht intendierten Reaktion der Zuschauer nahm er allerdings ernst und verzichtete auf eine öffentliche Inszenierung der Züchtigung. Für Heinrich Schäfer bedeutete dies vermutlich eine gewisse Erleichterung der Strafe, denn bei einer Züchtigung innerhalb der Gefängnismauern konnte eher auf seine physischen Gebrechen Rücksicht genommen werden, während sich die Obrigkeit bei einer öffentlichen Zurschaustellung aufgerufen fühlen musste, Härte zu zeigen. Die Labilität von Schäfers Zustand dokumentiert ein medizinisches Gutachten, in dem der Physicus Welper nach sechs Wochen Genesung festhielt, dass Schäfer eine „sehr schwache Brust“ habe und noch immer Blut spucke; eine Haft würde er in diesem Zustand nicht überstehen, so die Meinung des Mediziners.607 Im Widerspruch zu dieser Einschätzung verkündeten die Stadtgerichte zwei Wochen später, dass Schäfer angeblich wiederhergestellt sei, so dass einer Überführung in die Festung nichts mehr entgegenstehe; allein die Züchtigung könne aus gesundheitlichen Gründen laut „Atteste des Physici“ „nicht ertheilet werden“.608 Justizminister v. d. Reck genehmigte daraufhin einen weiteren Aufschub der Züchtigung, nicht ohne 606 Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 15. Juni 1795 und vgl. Gnadendekret in Form einer Resolution vom 18. Juni 1795 / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd. 607 Zit. aus: Medizinisches Gutachten vom 31. Juli 1795 / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd. 608 Zit. aus: Bericht der Stadtgerichte vom 15. August 1795 / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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darauf zu verweisen, dass die „immediate Verfügung“ nach wie vor gelte, Schäfer von der Prügelstrafe also keineswegs entbunden sei.609 Aus der Akte geht hervor, dass Heinrich Schäfer zumindest die nächsten zweieinhalb Jahre auf der Festung überlebte, danach schweigen die Akten.610
d) Resümee Der Aufschub bzw. die Aussetzung war an die Bedingung geknüpft, dass die verurteilten Männer und Frauen nach Ablauf der ihnen gewährten Gnadenfrist ihre Haftstrafe auch tatsächlich fortsetzten. So gering das Entgegenkommen der Obrigkeit bei dieser Form der Begnadigung auch war, ein Aufschub des Strafantritts oder eine Aussetzung der Strafe wurde nur dann erteilt, wenn außergewöhnliche Umstände im jeweiligen Fall gegeben waren und diese Form der Begnadigung der Notlage tatsächlich Abhilfe bot. Das Gericht wies aus gegebenem Anlass ausdrücklich auf die Begründetheit einer Begnadigung hin: Eine Gnadenpraxis, welche Unannehmlichkeiten der Bestrafung zu mildern beabsichtige, würde den Sinn und Zweck der Strafe und damit letztlich des Rechtswesens insgesamt in Frage stellen. Als gnadenwürdiger Umstand galt, wenn die Wirtschaft der betroffenen Familie vom Niedergang bedroht war, wenn es neugeborenes Leben zu schützen galt und es den Kindern der Familie an elementarer Fürsorge fehlte oder wenn die verurteilte Person an einer Krankheit zu sterben drohte. Dem paternalistischen Selbstverständnis entsprechend, sah sich die Obrigkeit in der Pflicht, Schwache – wie Schwangere, Kinder und Kranke – in besonderer Weise zu schützen. Diese Form der Begnadigung gewährten die obrigkeitlichen Akteure am häufigsten, konkret in 42 Fällen; dies macht rund 31,3 Prozent aller Gnadenakte aus. Auffallend ist hierbei der Anteil von 83,3 Prozent (35 der insg. 42 Gnadenakte), den wirtschaftlich begründete Gnadenakte bei dieser Form der Begnadigung ausmachen. Diese Anzahl entspricht rund 26,1 Prozent aller Gnadenakte der unterschiedlichen Begnadigungsformen; folglich wurde über ein Viertel aller Begnadigungen als wirtschaftlich begründeter Aufschub bzw. Aussetzung gewährt. Da bei dieser Form der Begnadigung nicht die Strafe an sich geändert wurde, sondern lediglich der Zeitpunkt, wann sie abgegolten wurde, war eine Berufung auf das landesherrliche Gnadenrecht nur bedingt vonnöten. Wohl aus diesem Grund war die Entscheidung darüber de facto an die mediate Behördenebene delegiert worden: Die Instanz, welche den Aufschub des Strafantritts bzw. eine vor609 Zit. aus: Weisung an die Stadtgerichte vom 31. August 1795 / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd. 610 Ende 1797 ging die letzte Supplikation zugunsten des zu lebenslanger Haft Verurteilten ein; die Akte wurde – allerdings den Vorgang von Schäfers Mitangeklagten, Johann Gottfried Tescher, betreffend – bis in das Jahr 1801 geführt – vgl. Supplik des Vaters Schäfer vom 26. November 1797; Dekret über abgelehnte Gnadenbitte vom 18. Dezember 1797 / Fallakte Heinrich Schäfer; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
übergehende Aussetzung der Strafe in der Regel entschied, war das Justizdepartement respektive der Geheime Rat. Baten die supplizierenden Männer und Frauen nicht um eine hohe Gnade (z. B. um die gänzliche Niederschlagung der Strafe), sondern lediglich um einen Aufschub des Strafantritts oder eine Aussetzung ihrer Strafe, so fällt bei einigen Supplikationen der selbstbewusste Ton auf: Es hat den Anschein, dass die Untertanen hierbei weniger devot um Gnade flehten, als vielmehr die Bedingungen ihrer Strafe auszuhandeln versuchten. Die Supplizierenden wussten offenbar, dass die Obrigkeit unter Umständen bereit war, auf diese Bedürfnisse einzugehen, da jene selbst ein Interesse am Erhalt der Wirtschaftskraft ihrer Untertanen hatte. Im Hinblick auf die häufige Begnadigung in Form von Aufschub oder Aussetzung der Strafe und auf den Handlungsspielraum der supplizierenden Untertanen und Untertaninnen kann man hier von einer niederschwelligen Begnadigungsform sprechen.
7. Sonstige Strafmilderungen und Verfahrenserleichterungen a) Aufhebung der Landesverweisung Wurden nicht-preußische Untertanen einer schwerwiegenden Straftat überführt, so kam zu der üblichen Haftstrafe die Landesverweisung hinzu.611 Dies bedeutete, dass die verurteilte Person, nachdem sie ihre Haftzeit abgesessen hatte, aus Brandenburg-Preußen ausgewiesen wurde [s. A.III.3.q)]. Obwohl fast alle betroffenen Verurteilten eine Begnadigung von der Landesverweisung erbaten,612 widerriefen die obrigkeitlichen Akteure diese Auflage in nur zwei Fällen (von insg. 134 Gnadenakten). Die Strafe der Landesverweisung traf zum Beispiel auch den Mecklenburger Wilhelm Franz v. Barner, der nach drei Monaten Festungsarrest (ohne Zwangsarbeit) des Landes verwiesen werden sollte, weil er sich unter falschem Namen Geld geliehen hatte.613 V. Barner verfolgte eine Strategie der Einsicht: „ich fühle es und gestehe es gern, daß dies Vergehen Ahndung verdient ( . . . )“, und daher wolle er sich auch dem Festungsarrest „ohne Murren unterziehen“.614 V. Barner 611 Beispielhaft vgl. Dekret zur Landesverweisung gegen ausländische Delinquenten vom 14. August 1797 / Generalia: Revision Neumärkischer Fälle; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A 1 (Generalia), Paket 15.966. 612 Als Beispiel für eine abgelehnte Gnadenbitte um Aufhebung der Landesverweisung vgl. Fallakte Johann Michael Pantzer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053 [s. B.I.6.]. 613 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 3. März 1794]; Annahme-Order vom 17. März 1794 / Fallakte Wilhelm Franz v. Barner; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 614 Zit. aus: Supplik des v. Barner in eigener Sache vom 1. April 1794 / Fallakte Wilhelm Franz v. Barner; in: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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akzeptierte die Strafe, allein in Bezug auf die Landesverweisung bat er um Aufhebung. Diese Bitte wurde ihm jedoch ohne weitere Begründung abgeschlagen.615 Trotz seiner adligen Herkunft wurde v. Barner nicht als gnadenwürdig angesehen – vielleicht weil er ein Jahr zuvor aufgrund seines „zügellosen und ordnungswidrigen Lebenswandels“ aus dem Braun’schen Regiment, in dem er als Junker und Fähnrich gedient hatte, entlassen worden war.616 Nun schaltete sich v. Barners Onkel, ein Mecklenburg-Schwerinischer Gesandter, ein: In seiner Supplik bat er um die Aufhebung der Landesverweisung seines Neffen, verbürgte sich aber zugleich dafür, dass jener nach seiner Entlassung aus der Festung tatsächlich in seine Heimat zurückkehren werde. Der Onkel bezweckte damit, die Schande für die Familie zu begrenzen, indem zumindest die offizielle Landesverweisung gegen seinen Neffen zurückgenommen würde.617 Mit Rücksicht auf die Familienehre des Diplomaten war der Justizminister tatsächlich bereit, v. Barner die Landesverweisung zu ersparen. Dabei war es nicht notwendig, sich der Zustimmung des Monarchen zu versichern – vermutlich weil der Absicht des Urteils entsprochen wurde, den Ausländer, der wider die Gesetze gehandelt hatte, „aus den hiesigen Landen zu entfernen“.618 Die preußische Krone zeigte sich somit entgegenkommend gegenüber dem Gesandten und dessen Land, eine dort beheimatete adlige Familie vor allzu großer Schande zu bewahren. Da man vom Urteilstenor, v. Barner außer Landes zu schicken, letztlich nicht abging, sondern sich diplomatisch auf die freiwillige Ausreise einigte, fiel die Qualität der Begnadigung gering aus – allerdings entsprach dies dem Wunsch des Supplikanten. Bei diesem einen Fall kann man annehmen, dass nicht nur die soziale Herkunft des Supplikanten, sondern auch außenpolitische Erwägungen bei der Gnadenpraxis eine Rolle gespielt haben.619 Dem Maurergesellen Johann Gottfried Tescher wurde eine größere Gnade zuteil, denn er wurde – allerdings nach langem Vorlauf – von der Landesverweisung be-
615 Vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 7. April 1794 / Fallakte Wilhelm Franz v. Barner; in: ebd. 616 Dies geht hervor aus dem Antrag auf interimistische Annahme-Order vom 19. März 1794 / Fallakte Wilhelm Franz v. Barner; in: ebd. 617 Vgl. Supplik des Onkels v. Lützow vom 9. September 1794 / Fallakte Wilhelm Franz v. Barner; in: ebd. 618 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 22. September 1794 / Fallakte Wilhelm Franz v. Barner; in: ebd. 619 Die außenpolitische Dimension der Gnadenpraxis spielt für eine Herrschaft mit einem ausgedehnten Territorium wie Brandenburg-Preußen kaum eine Rolle, anders dagegen im Falle einer Stadt, die ungleich abhängiger war von ihren Nachbarn als eine politische Großmacht. So war die Gnadenpraxis der Stadt Konstanz z. B. stark von außenpolitischen Erwägungen geprägt – vgl. Schuster 2000, S. 306 f. Was für den Untersuchungszeitraum lediglich auf wenige Fälle zutrifft, ist bei einer städtischen Gnadenpraxis häufiger anzutreffen in kann die These von Peter Schuster – vgl. Schuster 2000, S. 306 f.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
gnadigt und durfte weiterhin in Brandenburg-Preußen leben. Tescher stand unter Verdacht, sich an dem Tumult, der unter Handwerksgesellen in der Cappstraße in Berlin entstanden war, beteiligt zu haben. Als gebürtiger Sachse wurde Tescher nicht nur zu zwei Monaten Festungsarbeit verurteilt, sondern sollte im Anschluss an die Haft des Landes verwiesen werden.620 In seiner mündlich vorgetragenen Gnadenbitte bat Tescher – ähnlich wie v. Barner – nicht um Erlass oder Verkürzung der Festungsstrafe, sondern lediglich um die Aufhebung der Landesverweisung. Er begründete sein Anliegen damit, dass er bereits seit 15 Jahren in Berlin lebe, seinen Unterhalt ehrlich verdiene und seit zehn Jahren mit einer Berlinerin verheiratet sei, die aufgrund von „schwachen und kränklichen Umständen“ auf seine Hilfe angewiesen sei.621 Eine Ausweisung bedeutete für Tescher eine ungewisse Zukunft, denn er hätte seine mühsam aufgebaute Existenz aufgeben und in seiner ursprünglichen Heimat Sachsen einen Neuanfang wagen müssen, was mit dem entehrenden Stigma als überführter Delinquent und Ausgewiesener schwierig gewesen wäre. Teschers Schicksal zeigt, dass eine Landesverweisung selbst die eingeheirateten Ausländer und mit ihnen deren Familien traf, also auch preußische Untertanen und Untertaninnen. Die Stadtgerichte übermittelten Teschers mündlich angetragene Supplikation an das Justizdepartement und fügten dem hinzu, dass sie die Gnadenbitte mit Rücksicht auf Teschers guten Leumund und auf den kritischen Gesundheitszustand seiner Ehefrau im Prinzip unterstützten.622 Ausschlaggebend für dieses Plädoyer war vermutlich Teschers langjährige Ehe mit einer Berlinerin. Justizminister v. Goldbeck nahm das Votum des Gerichts in seinen Immediatbericht auf und unterbreitete Teschers Gnadenbitte dem Monarchen mit wohlwollenden Worten.623 Er war überzeugt davon, dass sich der Monarch seiner Haltung anschließen werde, denn er hatte bereits vor der Audienz beim König eine Weisung an den Kommandanten der Festung Spandau konzipieren lassen, in der jener angewiesen wurde, Tescher nach seiner Entlassung nicht abzuschieben.624 Friedrich Wilhelm II. aber rückte vom Vorschlag seines Ministers ab, eine Begnadigung Teschers kam für ihn nicht in Frage: „Ich halte es nicht für rathsam, die gegen den Maurer Gesellen Tescher, wegen seiner Theilnahme an dem zu Berlin entstandenen Tumulte, erkandte Straffe zu mildern: Viel 620 Vgl. Antrag auf Annahme-Order o. D. [ca. Anfang Juni 1795] / Fallakte Johann Gottfried Tescher (intus: Schäfer, Reichert, Bergmüller); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.241. Dieses Schicksal ereilte auch drei der Mitangeklagten, die ebenfalls keine gebürtigen Preußen waren. 621 Zit. aus: Mündlich vorgetragene Supplik des Tescher vom 16. Juni 1795 / Fallakte Johann Gottfried Tescher; in: ebd. 622 Vgl. ebd. nebst Bericht der Stadtgerichte vom 16. Juni 1795 / Fallakte Johann Gottfried Tescher; in: ebd. 623 Vgl. Immediatbericht vom 24. Juni 1795 / Fallakte Johann Gottfried Tescher; in: ebd. 624 Vgl. noch nicht autorisiertes Konzept der Weisung an Kommandanten der Festung Spandau vom 24. Juni 1795 / Fallakte Johann Gottfried Tescher; in: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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mehr muß es, zum Exempel für andere Ausländer, nach der ersten Sentenz, dabey sein Verbleiben behalten, daß derselbe, nach ausgestandener Festungs-Straffe über die Grenze gebracht wird.“625
Friedrich Wilhelm II. beabsichtigte, mit harter Hand durchgreifen, um potentielle Nachahmer derartiger Tumulte von solcher Unruhestiftung abzuschrecken. Die an Tescher ergangene Resolution wies explizit auf die ablehnende Haltung des Monarchen hin.626 Dies entmutigte Teschers Ehefrau jedoch nicht, in einer Supplik ihr persönliches Schicksal zu schildern und erneut um die Aufhebung der nun anstehenden Ausweisung zu bitten: „( . . . ) mit Schaudern muß ich als Frau dem fürchterlichen Tage entgegen sehen[,] wo mein wahrhaft guter Mann als ein Verbrecher über die Grenze gebracht werden soll. Wenn lezteres geschiehet, so muß ich als Frau ihm dahin folgen, wo sein trauriges Schiksal ihn hinführen wird, und als eine geborene Berlinerin mein mir über alles werthes Vaterland und meine Blutsverwandten verlaßen.“627
Bewusst spielte Teschers Ehefrau den Vorteil ihrer Berliner Herkunft aus. Einem Ausländer gegenüber stand der Monarch nicht in der patriarchalen Schutzverpflichtung; doch vielleicht brachte es den Monarchen von seinem Entschluss ab, wenn er damit eine vaterlandsliebende Untertanin mitbestrafte, so ihre mutmaßliche Überlegung. Ihre Rechnung ging jedoch nicht auf: Ihre Supplik wurde dem Monarchen erst gar nicht vorgelegt, da er seine Haltung in diesem Fall bereits dargelegt hatte. Der Ehefrau Tescher wurde mitgeteilt, dass sie „statt eines Bescheides auf die letzte Cabinets-Resolution hierdurch verwiesen“ werde.628 Mittlerweile hatte Tescher seine Haftstrafe abgesessen, doch die Landesverweisung hing noch immer wie ein Damoklesschwert über ihm. Der inkonsequente Strafvollzug verschaffte ihm jedoch eine unverhoffte Atempause: Denn nach seiner Entlassung aus der Festung wurde er nicht sogleich über die Grenze gebracht, sondern konnte vorerst unbehelligt zu seiner Familie zurückkehren. Diese Zeit nutzte er, um nochmals mit Hilfe zweier Supplikationen zu versuchen, die Landesverweisung rückgängig zu machen.629 Er beteuerte seine Unschuld an den Tumulten und setzte auf seinen guten Ruf als Maurergeselle: Als Beleg legte er ein Zeugnis dreier Meister seines Gewerbes vor, die ihn als „friedlichen und wohlgesitteten Man“ charakterisierten, dem sie aufgrund seiner „regelmäßigen guten Aufführung 625 Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Kabinettsorder vom 26. Juni 1795 / Fallakte Johann Gottfried Tescher; in: ebd. 626 Vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 10. Juli 1795 / Fallakte Johann Gottfried Tescher; in: ebd. 627 Supplik der Ehefrau Tescher vom 30. Juli 1795 / Fallakte Johann Gottfried Tescher; in: ebd. 628 Zit. aus: Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 3. August 1795 / Fallakte Johann Gottfried Tescher; in: ebd. 629 Vgl. zwei Suppliken des Tescher in eigener Sache vom 3. und 18. September 1795 / Fallakte Johann Gottfried Tescher; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
als auch seines Fleißes“ „das beste Lob“ aussprachen.630 Gleichwohl wurde Teschers Bitte wieder „nicht statt gegeben“.631 Obzwar die Landesverweisung nach wie vor anstand, wurde Tescher nicht ausgewiesen, sondern lebte die nächsten sechs Jahre unbehelligt in Berlin.632 Man hatte ihn offenbar vergessen, nachdem der ihm zugestandene Aufschub von einem Monat, für den er eine Kaution in Höhe von 100 Reichstalern hinterlegt hatte, verstrichen war. Möglich ist auch, dass Tescher als wohlhabender Handwerker Rückhalt unter den Richtern der Stadtgerichte hatte, die ihm durch Stillschweigen und Nichthandeln einen weiteren Aufenthalt in Berlin ermöglichten. Für diese Hypothese spricht, dass es die Stadtgerichte waren, die seinen Fall dem Justizdepartement im Rahmen einer Revision zu einem Zeitpunkt wiedervorlegten, zu dem Tescher den Vollzug der Landesverweisung kaum mehr zu befürchten hatte.633 Der Justizminister verwandte sich für Tescher beim Thronfolger, Friedrich Wilhelm III.: Tescher habe in der Zwischenzeit hinreichend bewiesen, dass er ein ruhiger und loyaler Untertan sei, es gebe nun keinen Grund mehr, ihn des Landes zu verweisen, daher solle man ihn begnadigen und ihm seine Kaution zurückzahlen, so das Plädoyer des Justizministers.634 Friedrich Wilhelm III. befahl, „daß derselbe [Tescher] mit der Landes-Verweisung verschont werden kann“, nicht ohne aber die unteren Behörden zu rügen ob der „wenige[n] Achtsamkeit in Befolgung der Allerhöchsten Befehle“.635 So wurde Tescher schließlich durch Friedrich Wilhelm III. von der Landesverweisung begnadigt, obwohl Friedrich Wilhelm II. seinen Unwillen, in diesem Fall Gnade zu gewähren, unmissverständlich geäußert hatte. Dass hingegen der Thronfolger, die Stadtgerichte und der Justizminister Tescher einer Begnadigung für würdig befanden, scheint vor allem darin begründet zu sein, dass er eine Berlinerin geheiratet hatte – denn eine Untertanin des Königs v. Preußen hätte man nur ungern durch Landesverweisung zum Auswandern gezwungen. Außerdem sprach Teschers guter Leumund für ihn, den die Stadtgerichte aufgrund ihrer Nachforschungen bestätigen konnten.
630 Zit. aus: Zeugnis dreier Maurermeister als Anlage zur Supplik in eigener Sache vom 18. September 1795 und vgl. Supplik in eigener Sache vom 3. September 1795 nebst Anlage (Zeugnis) / Fallakte Johann Gottfried Tescher; in: ebd. 631 Zit. aus: Dekrete über abgelehnte Gnadenbitten in Form von Resolutionen vom 7. und 28. September 1795 und in Form einer Kabinettsorder vom 20. September 1795 / Fallakte Johann Gottfried Tescher; in: ebd. 632 Dies geht aus einem späteren Bericht der Stadtgerichte hervor – vgl. Bericht der Stadtgerichte vom 18. Mai 1801 / Fallakte Johann Gottfried Tescher; in: ebd. 633 Vgl. ebd. 634 Vgl. Immediatbericht vom 3. Juni 1801 / Fallakte Johann Gottfried Tescher; in: ebd. 635 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder vom 8. Juni 1801 / Fallakte Johann Gottfried Tescher; in: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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Resümee Bei der Landesverweisung handelte es sich um eine Zusatzstrafe, auf deren Vollzug die obrigkeitlichen Akteure in der Regel beharrten: Man war nicht gewillt, unruhige, nicht die Gesetze des Landes befolgende Untertanen ausländischer Herkunft zu dulden, selbst wenn diese seit Jahrzehnten in Brandenburg-Preußen lebten und sich integriert hatten. Eine Begnadigung wurde nur in Ausnahmefällen und nur aufgrund eines entsprechenden Plädoyers des Gerichts und des Justizdepartements gewährt. Mit Rücksicht auf die auswärtigen Beziehungen verzichtete man beispielsweise auf die offizielle Landesverweisung, wenn Angehörige von diplomatischen Vertretern anderer Herrschaften betroffen waren. War der ausländische Delinquent mit einem preußischen Untertanen verheiratet, so konnte sich dies auch günstig auf eine Begnadigung auswirken, vorausgesetzt, die betroffene Person konnte einen guten Leumund vorweisen. Der Vergleich mit anderen Fällen von Landesverweisung belegt, dass die obrigkeitlichen Akteure einen stichhaltigen Nachweis über die Gnadenwürdigkeit eines mit den Gesetzen in Konflikt geratenen Ausländers verlangten, um sicher zu gehen, dass sich dieser in Zukunft als ein loyaler Untertan erweisen würde.636 Der Fall Tescher dokumentiert darüber hinaus auch den Strafvollzug. Der behördliche Umgang mit der angewiesenen Landesverweisung ist ein Beispiel für das Funktionieren von frühneuzeitlicher Herrschaft: Als charakteristisch kann angesehen werden, dass es der Herrschaft an Durchsetzungskraft auf der unteren Ebene mangelte, da der Vollzug von Weisungen nicht kontrolliert wurde. Bedingt durch die fehlende Aufsicht besaßen untere Behörden einen gewissen Handlungsspielraum, den sie für ihre Interessen nutzen konnten: Es war ihnen möglich, sich ein Stück weit einer Weisung zu widersetzten, indem sie die Umsetzung verschleppten oder diese nach eigenem Gutdünken gestalteten. b) Entlassung aus dem Arbeitshaus Die hier untersuchten Akten dokumentieren mittelschwere und schwerwiegende Strafrechtsfälle, daher wurden in der Regel Festungs- bzw. Zuchthausstrafen oder Gefängnisstrafen verhängt. Eine Einweisung in ein Arbeitshaus wurde hingegen in nur wenigen Fällen, und dann zumeist erst nach der Entlassung aus dem Strafvollzug ausgesprochen. Im Kontext der hier untersuchten Gerichtsverfahren stellte ein Arbeitshausaufenthalt keine Regelstrafe für ein Vergehen dar, vielmehr war es eine prophylaktische Maßnahme, mit der die Obrigkeit einen Rückfall in den unmoralischen Lebenswandel zu verhindern suchte. Der Aufenthalt im Arbeitshaus war zeitlich nicht befristet; die Dauer wurde vielmehr davon abhängig 636 Z. B. wurden die Gnadenbitten im Fall Pantzer abgelehnt, da dieser bereits zuvor straffällig geworden war und der Justizminister folglich befand, „daß er ein nützlicher Bürger des Staates seyn werde, nicht zu hoffen ist“ – Immediatbericht vom 21. März 1787 / Fallakte Johann Michael Pantzer; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
gemacht, dass die betreffende Person einen Nachweis über künftig geregelte Lebensumstände und einen ehrlichen Unterhalt jenseits der Anstaltsmauern beibrachte. Die Quellen weisen lediglich zwei Fälle auf, bei denen Delinquenten nach Beendigung der Haft auf unbestimmte Zeit in das Arbeitshaus eingewiesen werden sollten, und in beiden Fällen wurden die Delinquenten begnadigt (von insg. 134 Gnadenakten). Dem Bedienten David Wilhelm Goetze wurde der Arbeitshausaufenthalt bereits im Urteil auferlegt: Der 23-jährige wurde der Fälschung von Dienstzeugnissen beschuldigt und obendrein eines „Vagabondey-Lebenswandels“ mit „viel Neigung zur Faulheit“ bezichtigt.637 Die sechs Monate Zuchthausarbeit und die Prügelstrafe Willkommen und Abschied absolvierte David Wilhelm Goetze, ohne Einwände zu erheben.638 Kurz bevor er seine Strafe abgesessen hatte und ins Arbeitshaus überstellt werden sollte, mobilisierte Goetze einen Anverwandten, den ehemaligen Feldlazarett-Inspektor Maeber. In einer Supplik verbürgte sich Maeber für Goetze und bat darum, ihm den Arbeitshausaufenthalt zu erlassen: „Da aber derselbe [David Wilhelm Goetze] ohne Unterstüzzung ganz ausser Stande ist, auf irgend eine Weise dahezuthun[,] womit er sich in der Folge ernähren könne, so halte ich es, als ein Verwandter von ihm, und besonders aus dem Grund, weil derselbe mit aufrichtigem Herzen Beßerung verspricht, für meine Pflicht, mich seiner anzunehmen, und für sein künftiges Fortkommen zu sorgen.“639
Maeber brachte die paradoxe Erwartungshaltung der Obrigkeit zur Sprache: Wie sollte jemand, der über längere Zeit in Haft und im Arbeitshaus einsaß, Gelegenheit haben, sich aus eigener Kraft eine Zukunft außerhalb der Gefängnismauern aufzubauen? Im Grunde war ein ehemaliger Häftling auf die volle Unterstützung seines sozialen Umfeldes angewiesen. Fand sich, wie in diesem Fall, ein Verwandter, der sich für den Entlassenen verantwortlich fühlte und dessen Lebenswandel nach der Entlassung beaufsichtigte, sahen der Justizminister und die Geheimen Räte offenbar keinen Bedarf, den Delinquenten weiterhin unter obrigkeitliche Aufsicht zu stellen. Das Versprechen Maebers, für Goetzes „künftiges Fortkommen“ sorgen zu wollen, genügte dem Justizdepartement, um Goetze vom Arbeitshaus zu begnadigen. Man verlangte allerdings von Maeber noch einen konkreten Nachweis, „auf welche Art derselbe [David Wilhelm Goetze] künftig seinen Unterhalt ehrlich erwerben könne.“640 Die Akte bricht zwar an dieser Stelle ab, doch ist davon auszugehen, dass Maeber diese Information nachreichte und Goetze damit die Einweisung ins Arbeitshaus ersparte. 637 Zit. aus: Rechtsgutachten o. D. [ca. 22. Juni 1793] / Fallakte David Wilhelm Goetze; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 638 Vgl. Annahme-Order vom 8. Juli 1793 / Fallakte David Wilhelm Goetze; in: ebd. 639 Supplik des Anverwandten Maeber vom 7. Januar 1794 / Fallakte David Wilhelm Goetze; in: ebd. 640 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Resolution vom 13. Januar 1794 / Fallakte David Wilhelm Goetze; in: ebd.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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In einem anderen Fall war die Einlieferung in ein Arbeitshaus nicht im Urteil vorgesehen, sondern wurde erst nach Vollzug der Strafe verhängt: Der Bäckermeister Carl Ludwig Runge lebte als Anführer einer Räuberbande offenbar vom Diebstahl und hatte wegen insgesamt 53 Diebstählen bereits acht Jahre auf der Festung zugebracht. Aufgrund dieser Vorgeschichte schätzte ihn der Justizminister als einen „incorrigiblen und äusserst gefährlichen Menschen“ ein.641 Nachdem Runge die ihm wegen des jüngsten Diebstahls auferlegte Festungsstrafe von einem Jahr abgesessen hatte, schlug Justizminister v. Goldbeck Friedrich Wilhelm II. vor, den Wiederholungstäter auf unbestimmte Zeit in ein Arbeitshaus einzuweisen, um ihn dort unter Kontrolle zu halten. Da sich das Berliner Arbeitshaus noch im Bau befand, sollte Runge bis zur Fertigstellung auf der Festung einbehalten werden.642 Friedrich Wilhelm II. schloss sich der Meinung von v. Goldbeck an: Es sei in der Tat „bedencklich“, den Anführer der ehemaligen „Joachimsthalschen Räuberbande“ „auf freien Fuß stellen zu laßen“. Er ordnete daher an, Runge in Spandau in „Verwarsam“ zu behalten: „( . . . ) bis eines der neuen Arbeits-Häuser so weit in stand gebracht seyn wird, daß er alda unter gebracht werden könne.“643
Runge verbrachte über sieben Jahre auf der Festung. In der Zwischenzeit war das damals geplante Arbeitshaus längst fertig gestellt, jedoch hatte man vergessen, Runge zu verlegen. Auf diese Situation wies nun der Gouverneur der Festung, v. Scott, hin. In seinem Bericht plädierte er für eine Verlegung Runges in eine „Aufbewahrungsanstalt“ und begründete dies wie folgt: „Da dieser Mensch seine erkannte Strafe ausgestanden hat, so scheint es einigermaaßen hart zu sein, daß er wegen Verbrechen, die er künftig erst noch begehen könte, und von ihm noch zu befürchten sein möchten, ferner einen so harten Arrest bei waßer und Brodt erdulden soll ( . . . ).“644
Hinter dem Appell verbirgt sich eine von den Ideen der Aufklärung geprägte Haltung: V. Scott kritisiert Runges Verwahrung auf der Festung als willkürliche Strafverschärfung, für die es keine Rechtsgrundlage in Form eines Gerichtsurteils gab und die lediglich mit der hypothetischen Annahme begründet wurde, dass der Delinquent in Freiheit möglicherweise wieder zu kriminellen Machenschaften greifen könne. Vor dem Hintergrund dieser Argumentation wirkt v. Scotts Vorschlag, Runge in eine andere Anstalt zu überstellen, nicht schlüssig, denn kon641 Zit. aus: Schreiben des Justizministers vom 2. August 1790 / Fallakte Carl Ludwig Runge; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.063. Zu Runges Vergangenheit als Anführer der Joachimsthalschen Räuberbande vgl. Rechtsgutachten o. D [ca. 31. August 1789] / Fallakte Carl Ludwig Runge; in: ebd. 642 Vgl. Schreiben des Justizministers vom 2. August 1790 / Fallakte Carl Ludwig Runge; in: ebd. 643 Kabinettsorder vom 9. September 1790 / Fallakte Carl Ludwig Runge; in: ebd. 644 Bericht des Gouverneurs der Festung Spandau, v. Scott, vom 7. Februar 1798 / Fallakte Carl Ludwig Runge; in: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
sequent wäre allein ein Plädoyer für seine Freilassung. Hinter dem halbherzigen Vorschlag v. Scotts stand vermutlich folgende Überlegung: Als Gouverneur war ihm vor allem daran gelegen, Runge möglichst bald loszuwerden, da die Festung Spandau längst an die Grenzen ihrer Aufnahmekapazität gestoßen war.645 Hätte er indes für die Freilassung Runges plädiert, so wäre – angesichts des harten Kurses, den das Justizdepartement im Einvernehmen mit dem Monarchen gegen den Wiederholungstäter eingeschlagen hatte – eine Ablehnung der Begnadigung durchaus wahrscheinlich gewesen, und Runge wäre der Festung weiterhin erhalten geblieben. Weitaus größere Chancen Runge loszuwerden, versprach indes eine Bitte um Verlegung des Delinquenten in eine andere Anstalt, die – anders als die Festung – nicht zur Bestrafung von Delinquenten genutzt wurde, so die mutmaßliche Überlegung des Gouverneurs. Obwohl sich Argument und Lösungsvorschlag widersprachen, hatte v. Scotts Intervention Erfolg, allerdings in anderer Weise, als es sich der Gouverneur vorgestellt hatte: Ein Marginalvermerk besagt, dass Runge „in der Tabelle eingerückt“ sei.646 Mit anderen Worten: Runge sollte anlässlich des vor wenigen Monaten vollzogenen Regierungsantritts von Friedrich Wilhelm III. begnadigt und entlassen werden. Den üblichen Nachweis darüber, wie der Begnadigte seinen Unterhalt künftig ehrlich zu erwerben gedachte, hatte man in Runges Fall – vermutlich wegen der besonderen Umstände des General-Pardon – vergessen einzuholen. Vielleicht galt den obrigkeitlichen Akteuren Runges siebenjähriger Aufenthalt auf der Festung als Garant dafür, dass dieser nicht wieder rückfällig werden würde – auch wenn dessen Vergangenheit dagegen sprach: Runge hatte bereits zuvor acht Jahre auf der Festung verbracht und wurde dennoch erneut des Diebstahls überführt. Möglich ist auch, dass der Justizminister die Argumentation des Gouverneurs nachvollziehen konnte, und konsequenterweise dafür plädierte, Runge in Ermangelung einer Rechtsgrundlage zu entlassen. Die spätabsolutistische Herrschaft war zwar noch weit entfernt davon, ein Rechtsstaat zu sein, dennoch gab es gewisse Grundsätze, die sie einzuhalten vorgab – so lag einer langjährigen Festungshaft üblicherweise ein entsprechendes Gerichtsurteil zugrunde.
645 Zum Problem der Überbelegung des Spandauer Zuchthauses und der Festung vgl. Lieberknecht 1922, S. 29. Zum allgemeinen Zustand der Strafvollzugsanstalten Ende des 18. Jahrhunderts vgl. Wagnitz 1791 / 1. Bd., S. 32 – 39. 646 Marginalvermerk auf dem Bericht des Gouverneurs der Festung Spandau, v. Scott, vom 7. Februar 1798 / Fallakte Carl Ludwig Runge; in: ebd. Die Akte enthält zwar kein ausdrückliches Gnadendekret, jedoch ist der Vermerk, dem ein „ad Acta 28. Feb[ruar 1798]“ hinzugefügt worden war, so zu interpretieren, dass die Begnadigung Runges tatsächlich vollzogen worden war.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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Resümee Von einer Strafverschärfung, nach Entlassung aus der Haft auf unbestimmte Zeit in ein Arbeitshaus eingeliefert zu werden, wurde recht selten Gebrauch gemacht: Zielgruppe dieser Maßnahme waren in erster Linie Delinquenten, die als notorische Wiederholungstäter galten oder solche, die man eines VagabondeyLebenswandels bezichtigte, die also nicht sesshaft waren und keinem ehrlichen Broterwerb nachgingen. Zweifelte die Obrigkeit daran, dass die Zuchthaus- bzw. Festungsstrafe zu einer moralischen Besserung des Delinquenten führen würde, so war sie bestrebt, diese auch nach ihrer Entlassung unter besonderer Kontrolle zu haben. Außerdem hoffte man darauf, dass sich die Zeit im Arbeitshaus positiv auf den Gehorsam und die Arbeitshaltung des Delinquenten auswirkte, so das Kalkül der Obrigkeit. Wenn ein Rückfall ausgeschlossen werden konnte und man dem Delinquenten zutraute, in Freiheit künftig einen ordentlichen Lebenswandel mit ehrlichem Broterwerb zu führen, konnte die Person aus dem Arbeitshaus entlassen werden. Die obrigkeitlichen Akteure ließen sich offensichtlich nicht durch Beteuerungen der Delinquenten davon überzeugen; vielmehr bedurfte es einer Bürgschaft eines gut beleumundeten Dritten. Um aus dem Arbeitshaus entlassen zu werden, war ein Insasse auf die Unterstützung seines sozialen Umfeldes angewiesen. Konnte der Insasse indes keinen Bürgen vorweisen, so wurde er solange unter obrigkeitlicher Kontrolle behalten, bis man zu hoffen wagte, dass man seine Freilassung riskieren könne.
c) Niederschlagung der Kosten Gerichtlich verurteilte Personen erwartete in der Regel nicht nur eine Strafe, darüber hinaus wurden sie auch verpflichtet, die Kosten für das Verfahren zu übernehmen. Auch wenn diese Unkosten nicht als Teil der verhängten Strafe zu verstehen und keinesfalls mit einer Geldbuße zu verwechseln sind, so stellen sie doch eine erhebliche Belastung für die betroffenen Personen und ihre Familien dar. Es mussten Gebühren für die gerichtliche Untersuchung und so genannte SitzeGebühren bezahlt werden. Einen großen Anteil an den Kosten machte die Alimentierung der angeklagten Person während des Untersuchungsarrestes aus. Die Verhafteten mussten im Untersuchungsgefängnis – anders als im Zuchthaus oder auf der Festung – keine Zwangsarbeit verrichten, trugen somit auch nichts zu ihrem Unterhalt bei. Wurden die Inhaftierten nicht durch Verwandte versorgt, so übernahm dies die Obrigkeit, stellte dann aber die Versorgungskosten der betreffenden Partei in Rechnung. Neben der Vielzahl an Supplikationen, in denen um Erlass oder Minderung der Strafe gebeten wurde, liegen auch einige wenige vor, deren Anliegen in der Niederschlagung der Prozesskosten bestand. In drei Gnadenfällen (von insg. 134 Gnadenakten) verzichtete die Obrigkeit auf das Eintreiben der Gelder, weil die betroffenen Familien zu arm waren, diese zu entrichten: Zum Beispiel wurde im
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Fall der Eheleute Valentin die Niederschlagung sämtlicher Kosten mit „der notorischen Armuth“ begründet.647 Je nach Dauer der Untersuchung konnten sich die Kosten auf ein Vermögen belaufen: Zum Beispiel sollten die Eheleute Schultz für den Prozess und für neun Monate Untersuchungsarrest Kosten in Höhe von 93 Reichstalern und 10 Groschen übernehmen. Da beide vom Diebstahlverdacht freigesprochen wurden, war für Christian Schultz nicht einzusehen, warum sie als Unschuldige für die Kosten aufkommen sollten. Er bat daher um Erlass der Kosten, auch weil er soviel Geld angeblich nicht aufbringen konnte, zumal er – bedingt durch den Arrest – einen neunmonatigen Verdienstausfall in seinem Leinwandhandel zu beklagen hatte.648 Auf Anfrage des Justizdepartements lieferten die Stadtgerichte eine Erläuterung zu den Kosten.649 Darauf befahl das Justizdepartement, dass: „( . . . ) vom Supplicanten nur diejenigen Kosten[,] welche auf sein Antheil fallen, und für die Alimentation seiner Ehefrau darauf gegangen, einziehen zu laßen; eine gänzliche Niederschlagung derselben findet aber nicht statt.“650
In einer folgenden Supplik rechnete Schultz vor, was ihm diese Begnadigung netto einbrachte, nämlich 31 Reichstaler und 10 Groschen. Da er für die Differenz weiterhin in der Pflicht stand, bat er um eine weitere Minderung; diese Bitte wurde jedoch abgelehnt.651 Der Fall zeigt, wie unerbittlich die Obrigkeit Ausstände einzog: Obwohl die Eheleute Schultz als Unschuldige aus dem Prozess hervorgingen, wurden ihnen lediglich die Gerichtsgebühren im Wege der Gnade erlassen, für ihre Versorgung im Untersuchungsarrest sollten sie indes aufkommen. Schultzes Behauptung, die ausstehende Summe nicht begleichen zu können, entsprach offenbar der Wahrheit, denn beim Eintreiben der Gelder gab es Schwierigkeiten.652 Das Justizdepartement wies daher die Stadtgerichte an, im Falle von Schultzes „Unvermögen“, die Ausstände vom zuständigen Magistrat in Ostpreu647 Zit. aus: Gnadendekret in Form einer Weisung an das Kammergericht vom 8. April 1793 / Fallakte Friedrich Valentin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49. Lit. K, Paket 16.217. Jahre zuvor wurde der Ehefrau bereits zugesagt, dass sie von den Kosten, die ihr Mann verursacht hatte, verschont werden soll – vgl. zwei Gnadendekrete in Form einer Weisung an das Kammergericht vom 8. August 1788 und in Form einer Resolution vom 5. September 1788 / Fallakte Friedrich Valentin; in: ebd. 648 Vgl. Supplik des Schultz in eigener Sache vom 4. Juni 1787 / Fallakte Eheleute Schultz; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. 649 Vgl. Weisung an die Stadtgerichte vom 11. Juni 1787; Bericht der Stadtgerichte vom 25. Juni 1787 / Fallakte Eheleute Schultz; in: ebd. 650 Gnadendekret in Form einer Resolution vom 6. Juli 1787 / Fallakte Eheleute Schultz; in: ebd. 651 Vgl. Supplik des Schultz in eigener Sache vom 17. Juni 1787; Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 27. Juli 1787 / Fallakte Eheleute Schultz; in: ebd. 652 Vgl. Bericht der Stadtgerichte vom 4. Februar 1788 / Fallakte Eheleute Schultz; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.054 (in dieser Akte wird der Vorgang Schultz weitergeführt).
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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ßen, der Heimat von Christian Schultz, einzuziehen.653 Aus den Akten geht hervor, dass also weder das Gericht noch die Strafvollzugsanstalt die Kosten übernehmen mussten; offenbar waren keine Kassen für einen solchen Posten vorgesehen. Daraus folgt, dass die Gerichte und Strafvollzugsanstalten ein großes Interessen daran haben mussten, dass die Unkosten tatsächlich beglichen wurden. Der Fall Rosenbaum gibt ebenfalls Aufschluss darüber, warum die Niederschlagung der Prozesskosten so selten gewährt wurde: Der Torschreiber Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum gestand, ein Attest im Namen des Ober-Kriegs-Collegio gefälscht zu haben, damit der ehemalige Soldat und Invalide Goerges in den Genuss des Gnadentalers kam.654 Wegen des Betrugs saß Rosenbaum acht Wochen im Festungsarrest. Als dann die Zahlung seines Anteils an den Prozesskosten anstand, bat Rosenbaum um Erlass der Kosten. Die Supplikation nutzte er zu seiner Verteidigung: „Mein eigenes Gefühl des Drucks einer Armuth begleitet mit Negsten-Liebe, drang so weit in mich, daß ich auf sein [Goerges] Andringen mich entschlos, ihm zu Erreichung des Gnaden-thaler eine Supplicke zu entwerfen ( . . . ).“655
Rosenbaum stellte sein Motiv, dem Invaliden in seiner Not helfen zu wollen, als ehrenwert dar. Dass Goerges für diese Hilfe mit Sicherheit eine Gegenleistung erbracht hatte, unterschlägt Rosenbaum geflissentlich, vielmehr versucht er seine persönliche Schuld an dem „in bloßen[m] Leichtsinn begangene[n] Versehen“ herunterzuspielen.656 Als Schreiber wusste Rosenbaum offenbar um die Möglichkeit, dass nachweislich in Armut lebenden Untertanen obrigkeitliche Gebühren erlassen wurden. Er sorgte dafür, dass er keine Stempelpapiergebühr zahlen musste: Als Zeichen seiner offiziell anerkannten Armut zierte ein Pauper den Kopf des Briefbogens seiner Supplik. Sodann legte Rosenbaum seine Finanzlage offen: Vor Jahren hatte er im Dienst als Kürassier gestanden, war jedoch durch eine Kriegsverletzung erblindet, so dass er „als invalide mit der gewühnlichen Gnaden-thaler unterstüzzet wurde.“657 Er lebte offensichtlich einige Zeit in völliger Blindheit, dann erhielt er sein Augenlicht, wenn auch spärlich, zurück. Sein Sehvermögen reichte immerhin aus, ihn mit der Stelle als Torschreiber zu Arneburg in der Altmark zu betrauen. Sein Lohn für diese Tätigkeit belaufe sich auf monatlich sechs Reichstaler. Der Lohn sei:
653 Vgl. Weisung an die Stadtgerichte vom 18. Februar 1788 / Fallakte Christian Schultz; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.054 (darin: restlicher Vorgang, welcher nicht in die bereits vorhandene Einzelfallakte Schultz im Paket 16.053 abgelegt wurde). 654 Vgl. Rechtsgutachten o. D. [ca. 27. Januar 1794] / Fallakte Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum (intus: Goerges); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218. 655 Supplik des Rosenbaum in eigener Sache vom 15. August 1794 / Fallakte Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum; in: ebd. 656 Zit. aus: ebd. 657 Zit. aus: ebd.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
„( . . . ) in Betracht der allgemein eingerißenen bekante Theurungen schon bisher oftmahls unzureichend gewesen, indem hirselbst das Holtz mit Berlin in gleichen Preiß stehet, und sonstige Lebensmittel öfters nicht ein mahl für Geld zu haben.“658
Rosenbaum traf den richtigen Ton: Seine Ausführungen wurden im Justizdepartement mit Aufmerksamkeit studiert, denn sowohl die Angabe zu seinem Verdienst als auch die Erläuterung zur Kaufkraft dieser Summe sind vom Leser seiner Supplik rot markiert worden. Der Justizminister wies das Altmärkische Obergericht wie folgt an: „Unser gnädigster Wille, daß Ihr wegen der in seinem Untersuchungs-Proceße aufgelaufenen Kosten auf die Armuth des Supplicanten Rücksicht nehmen und diese Kosten mit Ausschliessung der baaren auslagen niederschlagen sollet.“659
Was auf diese Entscheidung folgte, ist beispielhaft für die Arbeitsweise der frühneuzeitlichen Behörden: Das Altmärkische Obergericht leitete diese Entscheidung an den Magistrat zu Arneburg weiter, dem die Unkosten entstanden waren, weil Rosenbaum den Untersuchungsarrest im dortigen Gefängnis verbracht hatte. Über ein Vierteljahr später ging über das Altmärkische Obergericht die Bitte des Magistrats ein, dass das Justizdepartement diese Begnadigung zurücknehmen möge, damit Arneburg diese Kosten nicht übernehmen müsse.660 Der Justizminister beauftragte daraufhin das Gericht, Rosenbaums Vermögensumstände zu untersuchen und traf folgende Anweisung: Wenn sich der Rosenthals Unterhalt auf den von ihm angegebenen Lohn belaufen würde, bleibe es bei der Niederschlagung der Kosten, welche dann widerspruchslos vom Magistrat zu Arneburg zu übernehmen seien.661 Die Prüfung von Rosenbaums Finanzlage brachte offenbar nichts Neues zu Tage, denn neun Wochen später wiederholte der Justizminister die Entscheidung, Rosenbaum die Kosten zu erlassen.662 Es vergingen acht Monate bis der Magistrat zu Arneburg erneut beim Justizdepartement vorstellig wurde, dieses Mal ohne den Dienstweg über das Altmärkische Obergericht zu nehmen: Der Magistrat sah sich nicht in der Lage, für die entstandenen Unkosten aufzukommen, da die Justizbedienten aufgrund ihrer niedrigen Löhne die Summe nicht zu leisten imstande waren.663 Hier zeigt sich das Dilemma frühneuzeitlicher Herrschaftsstrukturen: Es gab keinen organisierten Ebd. Gnadendekret in Form einer Weisung an das Altmärkische Obergericht vom 18. August 1794 / Fallakte Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum; in: ebd. 660 Vgl. Bericht des Altmärkischen Obergerichts vom 27. November 1794 / Fallakte Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum; in: ebd. 661 Vgl. Weisung an das Altmärkische Obergericht vom 8. Dezember 1794 / Fallakte Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum; in: ebd. 662 Vgl. Weisung an das Altmärkische Obergericht vom 23. Februar 1795 / Fallakte Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum; in: ebd. 663 Vgl. Bericht des Magistrats zu Arneburg vom 5. November 1795 / Fallakte Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum; in: ebd. 658 659
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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Staat vor Ort, der solche Kosten hätte übernehmen können; vielmehr hafteten einzelne Amtspersonen mit ihrem eigenen Verdienst und Vermögen. Von dieser Verpflichtung waren auch Staatsdiener, die in der unteren Ebene der Hierarchie standen und einen entsprechend schmalen Geldbeutel hatten, nicht ausgenommen. Die Interessen seiner Staatsdiener vertretend, versuchte der Magistrat daher hartnäckig, die Zahlung abzuwenden: Es sei nicht zu leugnen, dass Rosenbaum nicht vermögend sei, doch stelle sich die Frage, ob ihm nicht eine angemessene Ratenzahlung zuzumuten sei.664 Der Justizminister blieb jedoch hart und wiederholte seine Entscheidung zugunsten des Supplikanten.665 Dieser Entscheidung musste sich der Magistrat wohl oder übel beugen, doch nutzte er noch eine letzte Möglichkeit: Über das Altmärkische Obergericht ließ der Magistrat anfragen, ob die Kosten nicht durch andere Leistungen der lokalen Obrigkeit wieder eingezogen werden könnten.666 Der Justizminister ging auf die angebliche Notlage des Magistrats ein und gestand ihm zu, die Summe anderweitig einziehen zu dürfen; offen bleibt jedoch, auf welche Weise dies geschehen sollte.667 Der Fall Rosenbaum zeigt, dass ein Begnadigter mitunter viel Geduld mitbringen musste, bis er in den Genuss des ihm offiziell gewährten Vorteils kam: Rosenbaum musste rund anderthalb Jahre warten, bis er Gewissheit hatte, dass ihm die Zahlung der Kosten tatsächlich erspart blieb. Resümee Die Kosten, die durch Prozessgebühren und Alimentierung der arretierten Person zusammenkamen, waren hoch und waren sogar von Angeklagten zu tragen, die von jeder Schuld freigesprochen wurden. Die obrigkeitlichen Akteure verzichteten nur in Ausnahmefällen auf das Eintreiben der Kosten. Da es keine Kasse für einen solchen Posten gab, musste die Behörde, bei der die Kosten angefallen waren, die ausstehende Zahlung übernehmen: In der Regel war dies die lokale Obrigkeit, der die Aufsicht über die Untersuchungsgefängnisse oblag; konkret traf es aber die einzelnen Amtspersonen mit ihrem eigenen Verdienst. Daher konnte eine Niederschlagung der Kosten auf den Widerstand der unteren Behörden stoßen und musste folglich stichhaltig begründet sein. Eine solche Begnadigung konnte offensichtlich nur mit einem offiziellen Nachweis begründet werden, dass die betroffene Familie das Geld aufgrund ihrer Armut nicht aufbringen konnte. Die beiden Fallbeispiele belegen, dass es für das Justizdepartement ein schwieriger und zeitaufwändiger Vorgang war, eine solche Entscheidung vor Ort durchzusetzen. Dies erklärt letztlich auch, warum die erbetene Niederschlagung der Vgl. ebd. Vgl. Weisung an den Magistrat zu Arneburg vom 16. November 1795 / Fallakte Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum; in: ebd. 666 Vgl. Bericht des Altmärkischen Obergerichts vom 11. Februar 1796 / Fallakte Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum; in: ebd. 667 Vgl. Weisung an das Altmärkische Obergericht vom 22. Februar 1796 / Fallakte Johann Gottlieb Ludewig Rosenbaum; in: ebd. 664 665
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Prozesskosten so selten gewährt wurde, auch wenn die Armut der betroffenen Person offenkundig war. d) Beschleunigung des Prozesses Wurde von Seiten der Obrigkeit die Beschleunigung des Verfahrens angeordnet, so entspricht dies auf den ersten Blick nicht der üblichen Vorstellung von einer Begnadigung, denn damit wurde lediglich das zuständige Gericht aufgefordert, den ohnehin anliegenden Prozess möglichst rasch zu bearbeiten. Betrachtet man diese Fälle jedoch genauer, so zeigt sich, dass es Supplikationen gab, deren inhaltliche Zielsetzung allein in der Bitte um Beschleunigung des Verfahrens bestand; die entsprechende Anweisung muss somit als Reaktion auf eine Supplikation verstanden werden. Aus diesem Grund wird hier die Weisung zur Beschleunigung als eine Form der Begnadigung angesehen, auch wenn diese im Vergleich zu den anderen Spielarten der Obrigkeit das geringste Zugeständnis abverlangte. Als Gnadenfall wird hier also lediglich der Fall von Beschleunigung gewertet, in dem der Justizminister auf der Grundlage einer entsprechenden Supplikation eine Beschleunigung des Gerichtsverfahrens anordnet. Würde man indes alle Fälle, in denen der Justizminister eine Verfahrensbeschleunigung anmahnte, einbeziehen, so würde dies den Blick auf die Gnadenpraxis verstellen.668 Denn obgleich mit einer solchen Weisung obrigkeitliches Handeln verbunden war, so beabsichtigte der Justizminister damit aber nicht, der angeklagten Person eine Begünstigung zukommen zu lassen. Der Quellenbestand weist in der Regierungszeit von Friedrich Wilhelm II. lediglich zwei Fälle (von insg. 134 Gnadenakten) auf, die diesen Kriterien entsprechen. So zum Beispiel der Fall von Caroline Wiedemann: Sie erhielt eine Strafe von zwei Jahren Zuchthausarbeit, die sie angesichts ihres Vergehens – sie hatte angemietete Betten versetzt – als zu hart empfand.669 Um ein milderes Urteil zu erlangen, verfolgte das Ehepaar Wiedemann zwei Strategien gleichzeitig: die Supplikation und die Appellation. In einer ersten Supplikation bat ihr Ehemann um 668 Keine Beachtung finden hier hingegen Eilanweisungen des Justizministers, wenn diese allein auf seine Initiative zurückgingen und keine entsprechende Supplikation vorlag, denn in diesen Fällen handelt es sich um eine behördeninterne Weisung der Rechtsaufsicht an ein Gericht; der Gnadenfall ist hier jedoch nicht gegeben. Auch Suppliken werden hier nicht berücksichtigt, in denen die Dauer der Untersuchung lediglich kritisiert wird, deren eigentliche Zielsetzung jedoch in einer anderweitigen Gnadenbitte lag – denn damit lag keine Gnadenbitte um Beschleunigung vor; diesbezügliche Nachfragen des Justizministers bei den Gerichten müssen in solchen Fällen ebenfalls als behördeninterne Weisungen verstanden werden. 669 Diese Haltung kommt z. B. in der Supplik ihres Ehemanns zum Ausdruck: „( . . . ) (nicht daß ich Ihre Schuld defenire) allein ich behaupte daß Sie nicht so straffällig ist, wie sie scheinet, denn ich glaube nicht[,] daß die Gerechtigkeit diese Sache in wahren Licht angesehen hat, sonst könnte Ihre Sentenz unmöglich so hart ausgefallen seyn.“ – Erste Supplik des Ehemanns Wiedemann vom 12. Mai 1792 / Fallakte Caroline Wiedemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.218.
II. Der Erfolg des Gnadenbittens
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eine Milderung des Urteils in erster Instanz.670 Zu diesem Zeitpunkt saß Caroline Wiedemann bereits über fünf Monate im Untersuchungsarrest. Um zu vermeiden, dass sich der Arrest durch die Appellation noch erheblich verlängerte, ließ der Ehemann fast zeitgleich eine zweite Supplik aufsetzen, in der er ausschließlich um ein rasches Verfahren in zweiter Instanz bat.671 Die Resolution, die Wiedemann auf seine beiden Supplikationen erhielt, weist eine Milderung des Urteils in erster Instanz mit der Begründung ab, dass der Prozess in eine zweite Instanz gegangen und der Prozessausgang abzuwarten sei.672 Aus der Resolution geht allerdings nicht hervor, ob die Bitte um Beschleunigung an das Gericht weitergeleitet worden war; auch eine diesbezügliche Weisung an das Kammergericht liegt nicht vor. Das Justizdepartement sah offenbar noch keinen Anlass für eine Intervention, da der Prozess in zweiter Instanz gerade erst anlief. Erst als Friedrich Wiedemann sechs Wochen später eine weitere Supplik mit demselben Anliegen einreichte, von Seiten des Gerichts aber noch kein Fortschritt in der Sache zu vermelden war, befahl der Justizminister dem Kammergericht, den Prozess baldmöglichst zu einem Abschluss zu bringen; über diese Weisung wurde der Supplikant in Kenntnis gesetzt.673 Die Tatsache, dass die Obrigkeit ihr Handeln gegenüber einem Untertanen transparent machte, zeigt, dass es sich hierbei nicht um eine übliche behördeninterne Weisung handelte, sondern dass damit der Gnadenbitte des Supplikanten entsprochen wurde. Da in dieser Fallakte die Unterlagen über die Appellation fehlen, kann keine Aussage dahin getroffen werden, inwieweit dieser Befehl die übliche Dauer für eine Untersuchung verkürzte. Auch der Pferdehändler Abraham Steffen erkannte für sich die Notwendigkeit einer Bitte um Prozessbeschleunigung, nachdem er die Erfahrung mit der Untersuchung in erster Instanz gemacht hatte. Für das Leugnen seiner Schulden vor Gericht sollte er wegen Meineid ein Jahr Festungsarrest erhalten und zudem öffentlich ausgestellt werden. Wie schon im Fall Wiedemann versuchte der Pferdehändler, mit einer Bitte um Beschleunigung günstige Bedingungen für die anstehende Appellation zu schaffen.674 Steffen hoffte darauf, seine Unschuld in zweiter Instanz unter Beweis stellen zu können. Der Justizminister befahl den Stadtgerichten daraufhin, den Prozess in zweiter Instanz möglichst rasch zum Abschluss zu bringen. Er machte Steffen zudem das Angebot, die Festungsstrafe sogleich freiwillig anzutreten, bevor das Urteil in Vgl. ebd. Vgl. zweite Supplik des Ehemanns Wiedemann vom 14. Mai 1792 / Fallakte Caroline Wiedemann; in: ebd. 672 Vgl. Dekret über abgelehnte Gnadenbitte in Form einer Resolution vom 21. Mai 1792 / Fallakte Caroline Wiedemann; in: ebd. 673 Vgl. Weisung an das Kammergericht vom 9. Juli 1792; Dekret in Form einer Resolution vom 9. Juli 1792 / Fallakte Caroline Wiedemann; in: ebd. 674 Vgl. Supplik des Steffen in eigener Sache vom 7. September 1795 / Fallakte Abraham Steffen; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.220. 670 671
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
zweiter Instanz gesprochen war, anstatt weiterhin unter Untersuchungsarrest zu stehen.675 Sowohl mit diesem Angebot als auch mit der entsprechenden Weisung an das zuständige Gericht entsprach der Justizminister der Bitte des Supplizierenden um Prozessbeschleunigung. Steffen hätte damit die Zeit, die er auf den Prozessausgang in zweiter Instanz auf der Festung wartend zugebracht hätte, bereits auf die Strafdauer anrechnen lassen können, was beim Untersuchungsarrest nicht möglich war. Ein vorzeitiger Haftantritt auf der Festung war vor allem dann sinnvoll, wenn der Angeklagte damit rechnete, in jedem Fall zu einer Leibes- und Freiheitsstrafe verurteilt zu werden. Steffen schlug dieses Angebot jedoch aus, da er auf einen Freispruch hoffte und sich nicht freiwillig der Ehrminderung, die ein Festungsaufenthalt zwangsläufig mit sich brachte, aussetzen wollte. Folglich verbrachte er die Zeit bis zum Abschluss seines Prozesses weiterhin im Untersuchungsgefängnis, dem Kalandshof. Die Eilanweisung des Justizministers zeigte in gewissem Maße Wirkung, denn schon nach vier Monaten war das Verfahren in zweiter Instanz abgeschlossen.676 Steffens Hoffnung wurde jedoch enttäuscht, denn das Urteil über ein Jahr Festungsarbeit und eine öffentliche Ausstellung wurde in zweiter Instanz bestätigt.677 Die Rechnung ging unter dem Strich zu Lasten des Supplikanten aus: Vier Monate – also die Dauer des Prozesses – blieb Abraham Steffen länger seiner Pferdehandlung fern, als wenn er das Angebot des vorzeitigen Haftantritts angenommen hätte. Resümee Die Fallbeispiele zeigen, dass auch die Beschleunigung des Verfahrens eine Form von Begnadigung darstellt: Sowohl die Eilanweisung an die Gerichte als auch das Angebot eines vorzeitigen Haftantritts stellten zwar keine großzügige Begnadigungen dar, da damit weder die Haftbedingungen gemildert wurden, noch die Strafdauer formal verkürzt wurde, aber sie bewirkten faktisch eine Verkürzung der in Unfreiheit verbrachten Zeit. Mit den anderen Formen der Begnadigung hat die Verfahrensbeschleunigung gemein, dass es Supplikationen waren, welche die Obrigkeit veranlasste, zu Gunsten der angeklagten bzw. verurteilten Personen zu handeln. Da mit den beiden Möglichkeiten, die Untersuchungszeit zu verkürzen, nicht substanziell in die Rechtsprechung eingegriffen wurde, bedurfte ihre Veranlassung keiner Zustimmung des Monarchen; die Entscheidung darüber fiel allein in die 675 Vgl. Weisung an die Stadtgerichte vom 14. September 1795 / Fallakte Abraham Steffen; in: ebd. 676 Der Gegenbeweis – also wie lange dieser Prozess ohne Eilanweisung gedauert hätte – kann selbstverständlich nicht geführt werden; jedoch zeigt ein Vergleich mit anderen Fällen, dass ein Verfahren in zweiter Instanz in der Regel mindestens sechs Monate dauerte. 677 Vgl. Antrag auf Urteilsbestätigung vom 7. Januar 1796 / Fallakte Abraham Steffen; in: ebd.
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Zuständigkeit des Justizdepartements. Der Justizminister veranlasste die Beschleunigung nach Aktenlage, offensichtlich ohne zu überprüfen, ob der betroffenen Person mildernde Umstände oder sonstige Gnadenwürdigkeit zugute gehalten werden konnten. Bei der Beschleunigung des Verfahrens gab es eine Überschneidung der Interessen seitens der Angeklagten und des Justizdepartements als Rechtsaufsicht.678 Eine zügige Durchführung der Prozesse wünschten sich nicht nur die Betroffenen, sondern auch der Justizminister, wie zahlreiche Ermahnungen an die Adresse der ermittelnden Gerichte belegen.679 Und so konnten sich die supplizierenden Männer und Frauen sicher sein, dass diesbezüglichen Gnadenbitten entsprochen wurde. Dennoch bildet die ausschließliche Gnadenbitte um Verfahrensbeschleunigung eher die Ausnahme.680 Es ist anzunehmen, dass aus der Sicht der Untertanen die geringe Qualität der Begnadigung den Aufwand einer Supplikation nicht lohnte. Schließlich trieb die Rechtsaufsicht die Gerichte auch ohne Gnadenbitte zur zügigen Bearbeitung der Fälle an, allerdings mit mäßigem Erfolg. Darüber hinaus bestand das Angebot des Justizministers an die in Appellation gehenden Angeklagten, gegen die voraussichtlich auch in zweiter Instanz eine Freiheits- und Leibesstrafe verhängt wurde, ihre Haft vorzeitig anzutreten, um sich auf diese Weise zumindest den weiteren Untersuchungsarrest zu ersparen.681 Da es für ein solches Angebot oder Eingreifen des Justizdepartements allerdings keine Garantie gab, stellte die Supplikation eine Möglichkeit dar, auf eine Prozessverzögerung aufmerksam zu machen.
678 Den zahlreichen Beschwerden über die lange Dauer der Prozesse entsprach die Zahl der Edikte und Dekrete sowie der fallspezifischen Ermahnungen an die Gerichte, die Verfahren zügig zu Ende zu führen – beispielhaft vgl. Deklaration wegen Beschleunigung der Criminal-Prozesse und Defension vom 17. Oktober 1796 / Generalia: Umfrage der Stadtgerichte zur Special-Inquisition; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A 1 (Generalia), Paket 15.966. 679 Vgl. Weisungen an die Stadtgerichte vom 4. September 1789, 1. Februar 1790, 19. März 1790 / Fallakte Jacob Michael Ferdinand Milster; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217; vgl. Weisungen an die Kriminaldeputation des Kammergerichts vom 29. Juni 1787, 23. November 1787, 14. Dezember 1787, 11. April 1788 / Fallakte Friedrich Valentin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. K, Paket 16.217. 680 Hierbei sind allerdings die zahlreichen Suppliken nicht eingerechnet, in denen zwar andere Gnadenbitten geäußert, aber auch die lange Dauer der Untersuchung kritisiert wurde. 681 So wurde z. B. Maria Thonin bereits nach der ersten Instanz angeboten, das endgültige Urteil der zweiten Instanz im Zuchthaus Spandau abzuwarten – vgl. vorläufige Annahme-Order vom 21. Januar 1793 / Fallakte Maria Thonin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.178. Ein Angebot des vorzeitigen Strafantritts machte der Justizminister z. B. auch drei Ackerleuten, verbunden mit dem Befehl an das Altmärkische Obergericht, das Verfahren zügig durchzuführen – vgl. Weisung an das Altmärkische Obergericht vom 12. Januar 1795 / Fallakte Johann Joachim Gartz, Johann Friedrich Langnese, Johann Friedrich Thiede; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. M, Paket 16.240.
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
III. Zwischenbilanz 1. Zwischenbilanz zur Gnadenquote und zur Typologie der Begnadigungsformen a) Gnadenquote An dieser Stelle soll ein Überblick über die Gesamtheit der Begnadigungsformen gegeben werden:682 Auf die 693 Gnadenbitten, die in Form von Mediat- und Immediatsuppliken und Fürsprachen eingereicht wurden, ergingen insgesamt 134 Gnadendekrete.683 Das Gnadenbitten im Wege einer Supplik oder einer Fürsprache hatte folglich zu rund 19,3 Prozent Aussicht auf Erfolg – oder anders ausgedrückt: ca. jede fünfte bis sechste Gnadenbitte wurde positiv entschieden. Davon wurden 116 Begnadigungen in der Regierungszeit von Friedrich Wilhelm II. ausgesprochen, die übrigen 18 Gnadenakte wurden unter Friedrich Wilhelm III. gewährt.684 Die Bereitschaft zu begnadigen war allerdings in anderen frühneuzeitlichen Herrschaften um ein Vielfaches ausgeprägter als in Brandenburg-Preußen: So errechnet zum Beispiel Andreas Bauer auf der Grundlage von Urfehdebriefen, dass im Hinteren Bregenzerwald und in Feldkirch des 15. und 16. Jahrhunderts die Verurteilten je nach Delikt in einer Größenordnung von 50 bis 80 Prozent begnadigt wurden.685 Auch im Erzherzogtum Österreich unter der Enns im 18. Jahrhundert 682 Bei den hier präsentierten Gesamtergebnissen der mediaten und immediaten Gnadenvorgänge wird nicht zwischen den einzelnen obrigkeitlichen Akteuren unterschieden. Schließlich stellt die Begnadigung das Ergebnis des Gnadenvorgangs dar, an dem alle obrigkeitlichen Akteure – angefangen vom Kanzleipersonal über die Richter und Staatsdiener im Strafvollzug, bis hin zu den Justizministern und Geheimen Räten und zum Monarchen – beteiligt waren. 683 Erläuterung zur Zählung der 134 Gnadendekrete [s. a. Einführung zu C.II.]: Als Gnadendekrete werden hier ausschließlich positive Entscheidungen bezeichnet, mit denen also eine Form von Begnadigung gewährt wurde. Zu den Gnadendekreten wurden auch solche gezählt, die von Friedrich Wilhelm III. bewilligt wurden, wenn der Gnadenfall bereits zur Zeit der Regierung von Friedrich Wilhelm II. eingesetzt hatte (zur Begründung s. Einleitung / Quellengrundlage). Dokumentiert eine Fallakte die Prozesse und die Gnadenfälle mehrerer Personen (etwa bei einem gemeinsam begangenen Delikt), so wurden, wie bereits erläutert [s. Einführung zu B.], die Gnadenfälle und somit auch die gewährten Gnadendekrete einzeln gezählt. Sah ein Gnadendekret Strafmilderungen für mehrere Personen vor – z. B. als Antwort auf eine Supplik mehrerer Supplikanten für mehrere angeklagte bzw. verurteilte Personen –, so wurde jede Strafmilderung einzeln gezählt. Ebenfalls mehrfach gezählt sind Fälle, in denen die Strafe einer verurteilten Person mehrfach gemildert wurde. 684 Diese 18 Gnadenakte wurden zu Beginn der Regentschaft von Friedrich Wilhelm III. – zumeist im Rahmen des General-Pardon anlässlich des Regierungsantritts – erlassen. Aufgrund des Ausschnittscharakters eignen sich diese wenigen Fälle nicht, um eine verifizierbare Aussage über die Gnadenpraxis von Friedrich Wilhelm III. über den Zeitraum seiner gesamten Regierung zu treffen; lediglich Hypothesen lassen sich auf dieser Grundlage aufstellen [s. Ergebnisse und Schlussfolgerungen / Gnadenpraxis; s. Ausblick]. 685 Konkret 42 Gnadenakte im Verhältnis zu neun Fällen mit regulärem Strafvollzug – vgl. Bauer 1996, S. 186 f., 201.
III. Zwischenbilanz
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wurden drei Viertel der gerichtlich verhängten Strafen bereitwillig durch Gnadenakte gemildert.686 Ganz so hoch fiel in anderen Territorien die Gnadenquote allerdings nicht aus: In Kurmainz des 17. / 18. Jahrhunderts wurde zum Beispiel etwas mehr als die Hälfte der Verurteilten begnadigt.687 In Regensburg des 15. Jahrhunderts führten Urfehden zu 60,5 Prozent zum Erlass bzw. einer Milderung der Strafe.688 Zu einem gänzlich anderen Ergebnis gelangt indes Peter Schuster für die Reichstadt Konstanz im Spätmittelalter: Dort lag die durch Urfehdebriefe ermittelte Gnadenquote Mitte des 15. Jahrhunderts bei nur fünf Prozent.689 Lässt man die Gnadenpraxis des Konstanzer Stadtrates außer Acht, so kann man sagen, dass in Brandenburg-Preußen im Vergleich zu den übrigen Gnadenquoten zweieinhalb bis sechs Mal seltener begnadigt wurde – eingedenk der prinzipiellen Problematik, dass die Ergebnisse aus anderen Territorien mit jeweils unterschiedlichen Herrschaftstraditionen, zumal aus anderen Jahrhunderten, nur eingeschränkt vergleichbar sind. Zumindest lässt sich daran die Tendenz ablesen, dass die Neigung Friedrich Wilhelms II. Gnade zu gewähren, im Vergleich zu anderen Landesfürsten offenbar relativ gering war. Die hier errechnete Gnadenquote gilt es zu spezifizieren, handelt es sich doch bei Suppliken und Fürsprachen um unterschiedliche Formen des Gnadenbittens: Zum einen gehen sie auf unterschiedliche Absender, die über völlig andere Handlungsspielräumen verfügten, zurück; zum anderen unterscheiden sie sich sowohl im Hinblick auf die Intention der Gnadenbitte als auch auf inhaltliche Zielsetzungen. Gute Aussichten auf eine Begnadigung hatten Fürsprachen aus dem Justizapparat: Von den insgesamt 28 Fürsprachen wurden nur sieben nicht bewilligt, die übrigen 21 Fürsprachen (darunter zwei mutmaßliche Fälle) wurden indes gewährt. Dies entspricht einer Gnadenquote von rund 75 Prozent bei Fürsprachen [zu den Begnadigten s. C.III.3.b)]. Der Erfolg der Fürsprachen erklärt sich dadurch, dass es sich bei ihren Absendern um Staatsdiener handelte, die aufgrund ihres Amtes in Sachen Strafrechtsverfahren und Supplikation fachlich kompetent waren: Da die Justizminister, die Geheimen Räte und Richter sowohl die gesetzlich vorgesehenen Strafen als auch die Kriterien für Gnadenwürdigkeit kannten und über den konkreten Fall informiert waren, konnten sie gut einschätzen, ob die in den Suppliken vorgebrachten Argumente ausreichten, um eine Begnadigung zu rechtfertigen. Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die Supplikationen, also die Gnadenbitten von supplizierenden Untertanen und Untertaninnen und der lokalen Obrig686 Konkret wurden 12 der insg. 15 Gnadenbitten bewilligt – vgl. Griesebner (Wahrheiten) 2000, S. 132 f. und vgl. Griesebner (Frühneuzeit-Info) 2000, S. 21 f. 687 Zu Kurmainz vgl. Härter 2005, S. 267. 688 Das Ergebnis ist allerdings nicht unmittelbar vergleichbar mit den Angaben aus anderen Territorien, da die Anzahl der Urfehden nicht gleichzusetzen sind mit der Anzahl der Verurteilten – vgl. Wernicke 2000, S. 400. 689 Konkret 40 Begnadigte im Verhältnis zu insg. 1.587 Verurteilten in den Jahren zwischen 1430 und 1460 – vgl. Schuster 2000, S. 288.
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keit sowie die Fürbitten von Angehörigen des Hauses der Hohenzollern betrachtet: Der Großteil – nämlich rund 83,3 Prozent – der Gnadenbitten in Form von Suppliken wurde abschlägig beschieden (554 abgelehnte Gnadenbitten im Verhältnis zu 665 in Form von Suppliken gestellten Gnadenbitten). Erfolg war den Suppliken in insgesamt 111 Fällen beschieden [zu den Begnadigten und den Supplizierenden s. C.III.3.b) und c)]. Prozentual betrachtet, liegt die Erfolgsquote der Supplikation somit bei rund 16,7 Prozent. Gemessen an der Begnadigungsquote bei Fürsprachen von rund 75 Prozent hatten Supplikanten und Supplikantinnen keine übermäßig große Chance auf Bewilligung ihres Anliegens, wenngleich es auch nicht unmöglich war, eine Strafmilderung zu erhalten.
b) Typologie der Begnadigungsformen Aus der oben genannten Gnadenquote geht nicht hervor, um welche Formen von Begnadigung es sich dabei handelt. Für die Untersuchung der Gnadenpraxis ist es allerdings wesentlich zu erfahren, wie häufig bestimmte Begnadigungsformen690 gewährt wurden, zumal diese Frage weitgehend ein Forschungsdesiderat darstellt.691 Ein zentrales Ergebnis ist, dass – anders als beispielsweise die Gnadenpraxis des 16. Jahrhunderts692 – Begnadigungen grundsätzlich erst nach Beendigung des Gerichtsverfahrens und nach der Urteilsverkündung gewährt wurden; zu einer Abolition kam es folglich nicht. 690 Theoretisch bietet es sich an, auch das Verhältnis zwischen den positiv beschiedenen Gnadenakten und der Anzahl abschlägig beschiedener Gnadenbitten je Begnadigungsform zu berechnen. Ein solches Unterfangen scheitert aber an der Quellenlage: Während die Gnadendekrete die Form der Begnadigung klar benennen, lassen sich die in den Supplikationen genannten Gnadenbitten nicht unbedingt einzelnen Begnadigungsformen zuordnen. Die supplizierenden Männer und Frauen baten in ihren Suppliken häufig generell um Gnade, ohne ihre Bitte weiter zu spezifizieren, oder aber sie erbaten eine ganze Reihe an möglichen Strafmilderungen für den Fall, dass eine der erbetenen Milderungen der Obrigkeit missfiel und nicht gewährt würde. Folglich entziehen sich die Gnadenbitten einer statistischen Auswertung. 691 Auskunft über Formen gewährter Begnadigungen von strafrechtlich Verurteilten kann lediglich von der Forschung zu Justizsupplikationen erwartet werden [s. Einleitung / Forschung]. Aussagen zur Häufigkeit einzelner Begnadigungsformen sind in den Studien kaum zu finden, da dafür die jeweilige Quellengrundlage zu schmal ist. Die verschiedenen Studien bestätigen allerdings, dass ein breites Spektrum an Begnadigungsformen existierte: Für den Vorarlberg im 15. / 16. Jh. macht z. B. Andreas Bauer unterschiedliche Formen aus: Strafverzicht, Strafmilderung durch Herabsetzung des Strafmaßes oder Ersatzstrafen wie Verbannung, verschiedene Ehrstrafen, Geldleistung oder kirchliche Buße – vgl. Bauer 1996, S. 51 – 62 und S. 170 – 187. Auch im Erzherzogtum Österreich unter der Enns im 18. Jh. wurde den zum Tode Verurteilten das Leben geschenkt; stattdessen wurden sie mit Haftstrafen oder öffentlichen Arbeitsstrafen belegt oder sie erhielten im Falle einer Freilassung Auflagen wie z. B. Verbannung – vgl. Griesebner (Wahrheiten) 2000, S. 134. 692 So stellt z. B. Andreas Bauer für sein Untersuchungsgebiet (Feldkirch bzw. Bregenzerwald im 15. / 16. Jh.) fest, dass Begnadigungen durchaus auch vor dem Gerichtsurteil erfolgten – vgl. Bauer 1996, S. 118 – 122.
III. Zwischenbilanz
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Die am häufigsten gewährte Begnadigungsform bestand in einem Aufschub des Strafantritts bzw. einer vorübergehenden Aussetzung der Strafe; sie machte fast ein Drittel aller Begnadigungen aus, konkret 31,3 Prozent aller Gnadenakte (42 von insg. 134 Gnadenakten). Das Ergebnis verwundert insofern nicht, als die Begnadigungsform der Obrigkeit lediglich ein marginales Zugeständnis abverlangte, da das Strafmaß in vollem Umfang gewahrt blieb und man den verurteilten Männern und Frauen lediglich im Hinblick auf den Zeitpunkt, wann sie sich in der Haftanstalt einzufinden hatten, entgegenkam. Die Häufigkeit dieser Begnadigungsform erklärt sich auch durch ihre Flexibilität in der Anwendung, da sie sowohl bei einer Festungs-, einer Zuchthausstrafe oder bei einer Gefängnisstrafe gewährt werden und ihre konkrete Ausgestaltung an den spezifischen Rahmenbedingungen des Falles ausgerichtet werden konnte: So wurde zum Beispiel einem zu Gefängnis oder Festungshaft verurteilten Bauern ein mehrmonatiger Aufschub des Strafantritts oder eine vorübergehende Aussetzung gewährt, damit er die Ernte einfahren oder die Saat ausbringen konnte. Wurden mehrere Familienmitglieder gemeinsam verurteilt, so gestand man ihnen zu, ihre Haftstrafen nicht zeitgleich, sondern nacheinander abzusitzen, damit eine Person den Betrieb in der gemeinsamen Wirtschaft aufrechterhalten konnte. Eine Haftstrafe konnte mitunter auch auf Raten abgesessen werden, um den Verurteilten die Möglichkeit zu geben, ihre Wirtschaft und ihre Familie notdürftig zu versorgen. Im Falle einer Gefängnisstrafe erlaubte man den Verurteilten sogar regelmäßigen wöchentlichen Ausgang. Einen Aufschub des Strafantritts oder eine vorübergehende Aussetzung der Strafe gewährte in der Regel das Justizdepartement respektive der Geheime Rat, ohne dazu die Zustimmung des Monarchen einholen zu müssen. Die Entscheidung lag vermutlich deshalb in der Verantwortung der obersten Staatsdiener, weil bei dieser Form der Begnadigung das gerichtlich verhängte Strafmaß nicht tangiert wurde. Auch wenn der Umfang bei dieser Begnadigungsform vergleichsweise bescheiden ausfiel, darf nicht unterschätzt werden, welche Erleichterung eine solche Strafmilderung für die Betroffenen darstellte. Ein Beleg dafür sind die zahlreichen Suppliken, in denen explizit darum gebeten wurde. Die große Anzahl dieser Gnadenbitten lässt sich aber auch dadurch erklären, dass die supplizierenden Untertanen und Untertaninnen darüber im Bilde waren, dass eine solche Bitte – anders als andere Formen der Begnadigung – hohe Chancen hatte, tatsächlich gewährt zu werden. Ähnlich stand es um die zweithäufigste Form der Begnadigung, die Umwandlung der Strafe in eine mildere Strafform, bei der es sich immerhin um ein etwas größeres Zugeständnis der Obrigkeit handelte. Auch mit einer solchen Gnadenbitte hatten die Supplizierenden häufig Erfolg – vorausgesetzt, sie führten plausible Argumente an [s. C.III.2.f)]: Die Strafumwandlung machte fast ein Viertel, konkret 23,9 Prozent (32 von insg. 134 Gnadenakten) aller Gnadenakte aus. Der hohe Anteil an Strafumwandlungen deckt sich mit der generellen Beobachtung, die Karl Härter für Kurmainz und Andreas Bauer für Feldkirch und den Bregenzerwald ge-
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macht haben: Begnadigungen wurden auch dort eher mit begrenztem Umfang gewährt, zumeist in Form einer Strafumwandlung.693 Wie schon beim Strafaufschub bzw. -aussetzung erließen in der Regel das Justizdepartement respektive der Geheime Rat einen solchen Gnadenakt. Die behördliche Zuständigkeit dafür ist wohl ebenfalls mit dem relativ beschränkten Gnadenwirken bei dieser Form der Begnadigung zu erklären: Denn der Vollzug der verhängten Strafdauer wurde bei der Strafumwandlung gewährleistet, lediglich die Strafumstände wurden erleichtert. Es gab allerdings wenig Gestaltungsspielraum, da diese Begnadigung von der Ausgangsstrafe abhängig war und der Umwandlung feste Regeln zugrunde lagen: So konnte eine Festungs- bzw. Zuchthausstrafe in einen ebenso langen Gefängnisaufenthalt umgewandelt werden; sah das Urteil eine Gefängnisstrafe vor, so konnte diese in eine Geldbuße verwandelt werden, wobei bei der Berechnung der Buße ein fester Satz angewandt wurde, nämlich fünf Reichstaler für jede Woche Gefängnis. Bei der Umwandlung der Strafe in eine mildere Strafform waren, wie gesagt, mehrere Varianten möglich: Besonders häufig gestatteten die obrigkeitlichen Akteure den verurteilten Männern und Frauen, die Haftstrafe im Gefängnis statt auf der Festung bzw. im Zuchthaus abzusitzen: Allein 19 Gnadenakte sehen diese Form vor; dies entspricht 14,2 Prozent aller Begnadigungen. Die relativ hohe Anzahl erklärt sich unter anderem dadurch, dass in den hier untersuchten Akten mehrheitlich schwerwiegende Strafrechtsverstöße dokumentiert sind, bei denen das Urteil weitaus häufiger eine Haftstrafe auf der Festung bzw. im Zuchthaus als im Gefängnis vorsah. Für die Betroffenen brachte der Wechsel in eine andere Strafvollzugsanstalt erhebliche Vorteile, da eine Gefängnisstrafe – anders als eine Festungs- bzw. Zuchthausstrafe – keine Leibesstrafe war und nicht als ehrenrührig galt. Außerdem war es um die Haftbedingungen im Gefängnis meist besser bestellt.694 Auch durfte man vermehrt Kontakt nach außen haben und konnte sich eventuell sogar einen regelmäßigen Ausgang erbitten. In acht Fällen – dies entspricht 6,0 Prozent aller Begnadigungen – wurde eine Umwandlung von einer Gefängnisstrafe in eine Geldbuße gewährt. Berücksichtigt man den fiskalischen Nutzen, den die Obrigkeit aus dieser Form der Bestrafung zog, erscheint die Quote relativ niedrig.695 Die erlassene Haftdauer betrug dabei acht Tage bis sechs Wochen; ersetzt wurden die Gefängnisstrafen durch Bußen zu festen Sätzen von fünf bis 30 Reichstalern. Damit blieb den verurteilten Männern Vgl. Härter 2005, S. 267; vgl. Bauer 1996, S. 170 – 187. Dies galt jedenfalls für die Hausvogtei, allerdings nicht unbedingt für die Gefängnisse auf dem platten Land, für die nicht selten der Aushub unter dem Kirchturm, nicht mehr als ein feuchtes Erdloch, genutzt wurde. 695 Nach Peter Schuster darf der fiskalische Nutzen von Geldbußen für die Obrigkeit nicht unterschätzt werden: So stellten die Strafbehörden z. B. in der Reichsstadt Konstanz im Spätmittelalter eine hohe Effizienz unter Beweis, die ausstehenden Bußen einzutreiben, obwohl dies einen nicht geringen Verwaltungsaufwand bedeutete – vgl. Schuster 2000, S. 250, 244. 693 694
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und Frauen ein Arrest erspart. Da sich eine Familie, die am Existenzminimum wirtschaftete, eine solche Strafumwandlung nicht unbedingt leisten konnte, begünstigte diese Form der Begnadigung wohlhabende oder zumindest liquide Untertanen. Auch wenn die Höhe der Geldbuße eine erhebliche Belastung darstellte, so war sie dennoch für viele Betroffene attraktiv, denn schließlich muss man die Einbußen, die eine Haft mit sich brachte, damit verrechnen. Neben den beiden hier dargestellten Varianten der Strafumwandlung gab es auch anderweitige Umwandlungen, bedingt durch die Besonderheiten des jeweiligen Falls (fünf Gnadenakte oder 3,7 Prozent der insg. 134 Gnadenakte): Auf Bitten von Militärkommandeuren konnten vereinzelt verurteilte Männer als Soldaten beim Militär verpflichtet werden. Dabei wurden die von zivilen Gerichten verhängten Strafen in Militärstrafen, wie zum Beispiel den Spießrutenlauf, umgewandelt. Mitunter wurde auch auf Zusatzstrafen, wie zum Beispiel die öffentliche Ausstellung, verzichtet; stattdessen wurde eine aus der Sicht der obrigkeitlichen Akteure angemessene Ersatzstrafe gefunden, wie beispielsweise ein verlängerter Aufenthalt im Arbeitshaus. In Einzelfällen wurden junge Straftäter von den harten Haft- und Arbeitsbedingungen auf der Festung verschont, indem man sie ins Zuchthaus überstellte, welches eigentlich nur Frauen, unmündigen und gebrechlichen Männern vorbehalten war. Auf Wunsch der Angehörigen wurde ein Verurteilter auch auf eine andere Festung in die Nähe des Wohnortes verlegt, damit er dort von seinen Familienangehörigen versorgt werden konnte. Der Aufschub des Strafantritts bzw. die Aussetzung der Strafe und die Strafumwandlungen stellen zusammengenommen über die Hälfte aller gewährten Begnadigungen dar (insg. 74 Gnadenakte bzw. rund 55,2 Prozent aller Begnadigungen). Es handelt sich hierbei um keine substanziellen Milderungen, vielmehr wurde im Prinzip am gerichtlich festgestellten Strafmaß festgehalten, gemildert wurden lediglich die konkreten Umstände bzw. der Modus des Strafvollzugs. Diese niederschwelligen Begnadigungsformen bilden den Rahmen, innerhalb dessen die verurteilten Männer und Frauen bzw. ihre Supplikanten und Supplikantinnen die Strafe mit der Obrigkeit in einem gewissen Maße aushandeln konnten. Für diese Annahme sprechen sowohl die hohe Anzahl an Gnadenbitten mit eben dieser inhaltlichen Zielsetzung, als auch die hohe Anzahl der gewährten Gnadenakte. Als Indiz dafür kann auch gewertet werden, dass das Justizdepartement bzw. der Geheime Rat über diese Formen von Begnadigung kollegial entscheiden durfte, ohne die immediate Zustimmung dazu einholen zu müssen. Die Obrigkeit konnte auf diese Weise die Bedürfnisse der Untertanen – die mitunter kongruent waren zu den obrigkeitlichen Interessen – berücksichtigen, ohne das Gerichtsurteil in Frage zu stellen und ohne das Strafmaß im Prinzip zu tangieren. Die niederschwelligen Formen der Begnadigungen boten sich der Obrigkeit in besonderem Maße an, sich als gnädige Herrschaft zu inszenieren, ohne ihre Sanktionsgewalt einschränken zu müssen. Substanzielle Begnadigungen, bei denen das Strafmaß tatsächlich gemindert wurde, kamen längst nicht so häufig vor wie Begnadigungsformen mit geringer Reichweite: Die Verkürzung der Haft steht mit 12,7 Prozent (17 von insg. 134
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Gnadenakten) mit großem Abstand an dritter Stelle in der Häufigkeit der Begnadigungsformen. Zum Vergleich: Die Strafumwandlung wurde doppelt und der Aufschub bzw. die Aussetzung der Strafe sogar zweieinhalb Mal so häufig gewährt wie die Strafverkürzung. Auch bei der Verkürzung der Haft waren unterschiedliche Varianten möglich: Die Begnadigung konnte sich auf eine Haft auf der Festung, im Zuchthaus oder im Gefängnis beziehen. Die Qualität der Begnadigung variiert von Fall zu Fall: Den Verurteilten wurde die Haftzeit von einem Monat bis zu neun Jahren Festung bzw. Zuchthaus erlassen; in wenigen Fällen wurde auch die Gefängnishaft im Umfang von einer Woche bis zu ca. drei Monaten gekürzt. Eine Strafverkürzung konnte bereits im Rahmen der königlichen Urteilsbestätigung ausgesprochen werden, so dass das Urteil milder ausfiel als vom Gesetz ursprünglich vorgesehen. Mitunter wurde die vorgesehene Strafdauer auch im Anschluss an die Urteilsverkündung auf eine Fürsprache aus dem Justizapparat hin gekürzt. Zumeist aber wurde die Begnadigung erst im Strafvollzug gewährt, nachdem die verurteilten Männer und Frauen den Großteil der Strafe bereits abgesessen hatten. Anders als bei den beiden zuvor genannten Begnadigungsformen wurde eine Strafverkürzung in der Regel durch den Monarchen selbst gebilligt – vermutlich weil es sich hierbei um eine Begnadigung substanzieller Qualität handelte, bei der die gesetzlich vorgesehene bzw. die gerichtlich verhängte Strafdauer verändert wurde. Einer immediaten Zustimmung bedurfte auch die Loßlassung einer zu lebenslanger Haft verurteilten Person. Sie folgt mit 9,7 Prozent aller Begnadigungen (13 von insg. 134 Gnadenakten) an vierter Stelle. Dabei handelt es sich im Grunde auch um eine Strafverkürzung, welcher jedoch eine unvergleichbar höhere Qualität zukommt, da die Strafe nicht um einen bestimmten Zeitraum von wenigen Wochen, Monaten oder Jahren, sondern faktisch gleich um die Jahre oder Jahrzehnte, welche der verurteilten Person bis zu ihrem Tode blieben, gekürzt wurde. Die Qualität dieser Form der Begnadigung muss daher an den Jahren gemessen werden, welche die betroffenen Personen bereits hinter Gittern verbracht hatten, bevor ihnen die Freiheit geschenkt wurde: Die Spanne reicht hier von neun bis 30 Jahren Festungs- bzw. Zuchthausarrest. Anders als die Strafverkürzung wurde die Loßlassung der zu lebenslanger Haft Verurteilten nur in Ausnahmefällen gewährt: Es mussten gravierende rechtliche Gründe vorliegen, wie beispielsweise eine veränderte Gesetzeslage. Als Inbegriff der Begnadigung gilt der gänzliche Verzicht auf Bestrafung – schließlich handelt es sich hierbei um die umfassendste Milderung, da das Gerichtsurteil zwar nicht formal, aber doch in seiner Wirkung faktisch aufgehoben wurde. Diese Form der Begnadigung steht allerdings erst an fünfter Stelle und macht nur 8,2 Prozent aller Begnadigungen (11 von insg. 134 Gnadenakten) aus. Die geringe Anzahl erklärt sich unter anderem dadurch, dass die Gnade im aufklärerischen Diskurs mehr und mehr in die Kritik geriet [s. A.I.1.d)]: Praktizierte Gnade wurde zunehmend als monarchische Willkür verstanden und „Straflosigkeit (impunitas criminis)“ wurde als „das größte Unrecht“ angesehen, so die Kritik von
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Immanuel Kant.696 Es verletzte das aufklärerische Rechts- und Gerechtigkeitsverständnis, wenn die Wirkung der als vernünftig erachteten Gesetze durch einen Gnadenakt außer Kraft gesetzt wurde. Aus dieser Sicht trug eine derart weit reichende Begnadigung wie der Verzicht auf Bestrafung nicht dazu bei, dass die Gesetze eine erzieherische Wirkung auf die Bevölkerung entwickeln konnten. In der Folge geriet die Gnade in Erklärungszwang. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass ein Verzicht auf Bestrafung nur nach eingehender Prüfung und mit stichhaltiger Begründung und fast ausschließlich nur zu einem symbolischen Anlass wie etwa dem Regierungsantritt des Thronfolgers gewährt wurde [zum General-Pardon s. C.III.2.e)]. Betrachtet man die Qualität, also den konkreten Umfang der gewährten Strafmilderung, so zeigt sich, dass diese – verglichen mit anderen Formen der Begnadigung – längst nicht so hoch liegt: Es gab zwar einige wenige Fälle, in denen die obrigkeitlichen Akteure auf das Eintreiben einer Geldbuße in der Höhe von 40 Reichstalern verzichteten oder den Verurteilten zwei Jahre Festung bzw. Zuchthaus alternativlos erließen. In den meisten Fällen jedoch wurde den Verurteilten lediglich wenige Wochen Gefängnis bzw. Zuchthaus geschenkt oder eine Geldbuße in einstelliger Höhe erlassen. Auch wenn es sich beim Strafverzicht formal gesehen um die umfassendste Milderung handelte, so bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass die Qualität der Milderung hoch ist. Bei der Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen Ende des 18. Jahrhunderts stellt der Strafverzicht keine zentrale Begnadigungsform dar; die gewährte Milderung war zudem in der Regel nur von geringer Qualität.697 Unter den von einer Strafe gänzlich Begnadigten fand sich indes niemand, der zum Tode verurteilt worden war. Es entsprach offenbar nicht dem Gerechtigkeitsverständnis, einen Verurteilten, dem man ein Kapitalverbrechen zur Last legte, die Strafe gänzlich zu erlassen. Für eine Begnadigung der zum Tode Verurteilten galt die Regel, dass eine alternative Strafe gefunden werden musste: Sie erhielten stattdessen entweder eine lebenslange Festungs- bzw. Zuchthausstrafe oder in den Fällen, in denen seit einer Gesetzesänderung Todesstrafe und lebenslange Haftstrafen nicht mehr üblich waren, eine 10- bis 20-jährige Haftstrafe. Ein solch weit reichender Gnadenakt setzte eine diesbezügliche Weisung des Monarchen voraus, die sich allerdings auf das Votum des Justizministers und auf die Stellungnahme des jeweiligen Gerichtes stützte. Die Begnadigung der zum Tode Verurteilten macht lediglich 7,5 Prozent aller Begnadigungen (10 von insg. 134 Gnadenakten) aus. Dies erscheint auf den ersten Blick nicht viel, dennoch wurde damit allen zum Tode Verurteilten, für die um Gnade gefleht wurde, das Leben geschenkt. Mit anderen Worten: in den Akten Zit. aus: Kant 1914, S. 337. Die Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen ist in diesem Punkt ein Stück weit vergleichbar mit jener in Kurmainz, in Feldkirch, im Bregenzerwald und in Konstanz: Auch dort wurde selten ein völliger Strafverzicht gewährt – vgl. Härter 2005, S. 267; vgl. Bauer 1996, S. 170 – 187; vgl. Schuster 2000, S. 290. 696 697
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findet sich keine abschlägig beschiedene Supplikation oder Fürsprache zugunsten eines zum Tode Verurteilten. Die Gnadenfälle vermitteln den Eindruck, dass die Supplikationen und Fürsprachen dem Monarchen gelegen kamen, um ein Todesurteil nicht vollziehen zu müssen. So schenkte er den Verurteilten bereitwillig das Leben, auch wenn die vorgebrachten Gründe für eine Begnadigung nicht wirklich plausibel waren. Auch in anderen frühneuzeitlichen Herrschaften konnte beobachtet werden, dass zum Tode Verurteilte sehr häufig begnadigt wurden, wie etwa im Erzherzogtum Österreich unter der Enns, in der Reichsstadt Regensburg und in Württemberg.698 Aus diesem Ergebnis darf allerdings nicht auf die generelle Strafvollzugspraxis im Ancien Régime geschlossen werden. Denn in anderen Herrschaften wurde eine Gnadenpraxis verfolgt, bei der an Todesurteilen prinzipiell festgehalten wurde – in Kurmainz und in Konstanz beispielsweise kam der Gnade nur geringe Bedeutung zur Abwehr einer Todesstrafe zu.699 Im Vergleich zu anderen frühneuzeitlichen Herrschaften nimmt die Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen in Bezug auf zum Tode Verurteilte auf der Skala von äußerst begnadigungswillig bis abwehrend eine gnadenbejahende Position ein. Neben den sechs oben genannten Begnadigungsformen gab es noch weitere Spielarten, die allerdings quantitativ gesehen kaum eine nennenswerte Rolle spielten. Dazu gehört beispielsweise die Niederschlagung der Kosten (drei von insg. 134 Gnadenakten oder 2,2 Prozent aller Begnadigungen). Mit dieser Begnadigung wurde der verurteilten Person die Zahlung der beim Prozess und bei seiner Versorgung im Untersuchungsarrest angefallenen Kosten erlassen. Dass die verurteilte Person für diese Kosten haftbar gemacht wurde, stellt im rechtlichen Sinne zwar keinen Bestandteil der Strafe dar, der Kostenerlass ist dennoch als eine Form von Begnadigung anzusehen, da sie eine nicht zu unterschätzende materielle Erleichterung für die betroffenen Familien bedeutete. In vier Fällen handelte es sich um den Verzicht auf eine Strafmaßnahme, die zusätzlich zur gerichtlich erkannten Strafe als eine nur in Ausnahmefällen praktizierte Sanktion verhängt worden war: Bei der Aufhebung der Landesverweisung (zwei von insg. 134 Gnadenakten) verzichteten die obrigkeitlichen Akteure auf die 698 Im Erzherzogtum Österreich unter der Enns im 18. Jh. wurden z. B. auch alle zum Tode Verurteilten begnadigt, für die eine Supplikation eingegangen war – vgl. Griesebner (Frühneuzeit-Info) 2000, S. 21 f. In der Reichsstadt Regensburg und in Württemberg wurden mehr als die Hälfte der zum Tode Verurteilten begnadigt – vgl. Wernicke 2000, S. 400; vgl. Schnabel-Schüle 1997, S. 138, wobei dieser Angabe zu Württemberg keine Supplikationen zugrunde liegen; es handelt sich hierbei um das Verhältnis von zum Tode Verurteilten zu den tatsächlich Hingerichteten, unabhängig davon, ob Dritte für diese suppliziert hatten. 699 So wurde in Kurmainz nur in einem Fall ein zum Tode Verurteilter begnadigt, während in 113 Fällen diese Gnade verwehrt wurde – vgl. Härter 2000, S. 167. In Konstanz wurden Gnadenbitten in nur 40 Fällen von insg. 1.587 Verurteilten (die allerdings nicht alle mit einer Todesstrafe belegt waren und für die nicht unbedingt eine Supplikation eingereicht wurde) wirksam – vgl. Schuster 2000, S. 273 – 311.
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Umsetzung einer Zusatzstrafe, mit welcher ausschließlich Verurteilte nicht-preußischer Abstammung belegt wurden, nämlich die Ausweisung aus dem brandenburgpreußischen Herrschaftsgebiet. Die Entlassung aus dem Arbeitshaus (zwei von insg. 134 Gnadenakten) hob eine Maßregel auf, welche dafür bürgen sollte, dass Wiederholungstäter nach der Entlassung aus der Haft weiterhin von der Gesellschaft fern gehalten wurden und unter obrigkeitlicher Kontrolle blieben. Anders als bei den bisher dargestellten Begnadigungen bedeutete es für den Justizminister kein Zugeständnis, sich für die Beschleunigung des Verfahrens einzusetzen. Bei dieser Form kann man sich in der Tat fragen, ob man sie als Begnadigung werten soll, da lediglich eine Leistung gewährt wurde, deren Vollzug ohnehin Aufgabe der Obrigkeit war, nur sollte sie eben zügiger erbracht werden. Zwei solcher Fälle werden hier dennoch als eine Sonderform der Begnadigung aufgeführt: erstens, weil es Gnadenbitten waren, die ausschließlich eine solche Intervention der Rechtsaufsicht im laufenden Verfahren erbaten; zweitens, weil dies voraussetzte, dass der Justizminister im Sinne der Supplizierenden eingriff; und drittens, weil das Einschreiten des Justizdepartements realiter eine Verkürzung der Untersuchungshaft für die Betroffenen zur Folge hatte. Die Typologie der Begnadigungsformen zeigt, dass die Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen Ende des 18. Jahrhunderts auf ein breites Spektrum von Begnadigungsformen zurückgreifen konnte, wobei zumeist von sechs Begnadigungsformen Gebrauch gemacht wurde.700 Die obrigkeitlichen Akteure verfügten über vielfältige, fein differenzierte Möglichkeiten, um die spezifischen Bedingungen eines jeden Falles abzuwägen und eine bestimmte Form der Begnadigung zu wählen, die ihnen der Schuld und der Gnadenwürdigkeit der betreffenden Person sowie den Begründungen der Supplizierenden angemessen erschien. Dabei konnte nicht nur die Form, sondern auch die Qualität bzw. der Umfang der Begnadigung bestimmt werden. Inwieweit die obrigkeitlichen Akteure den Entscheidungsspielraum, den ihnen das Spektrum an Begnadigungsformen bot, auch ausschöpften, ist eine andere Frage [s. u.]. Fest steht, dass Begnadigungen stets auf die jeweiligen Fälle abgestimmt wurden. Dies belegt aufs Neue, dass die Gnadenpraxis als kontextbezogene Handlung zu verstehen ist. So müssen bei der Untersuchung von Begnadigungen folgende Kontexte berücksichtigt werden: das zur Last gelegte Vergehen, das vom Gericht verhängte Urteil mit dem konkreten Strafmaß, die Situation der betroffenen Familie bzw. der Wirtschaft, die Umstände in der Haft sowie die dazugehörigen Supplikationen.
700 Das übliche Repertoire sah folgende Begnadigungen vor: Einem zum Tode Verurteilten wurde das Leben geschenkt; ein zu lebenslanger Haft Verurteilter wurde „loßgelassen“; einigen wurde unter Umständen die Strafe gänzlich erlassen; anderen wurden die Haftdauer verkürzt oder die verhängte Strafe in eine mildere Strafform umgewandelt; wiederum anderen Verurteilten wurde lediglich zugestanden, ihre Strafe zu einem späteren Zeitpunkt anzutreten oder die Strafanstalt vorübergehend zu verlassen.
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2. Zwischenbilanz zu den Gründen für eine Begnadigung und den damit verbundenen Motiven der Obrigkeit Bei der Untersuchung der Gnadenpraxis [s. C.I. – II.] wurde – soweit es die Quellen gestatten – unter anderem der Frage nachgegangen, warum eine Begnadigung im jeweiligen Fall gewährt wurde. Aufschluss über die Gründe geben in erster Linie die innerbehördlichen Schreiben, vor allem die Immediatberichte des Justizministers und die gerichtlichen Stellungnahmen zu Supplikationen, weil die obrigkeitlichen Akteure gehalten waren, ein Plädoyer für eine Begnadigung zu rechtfertigen. Die dort ausgeführten Begründungen konnten mit Hilfe der von den supplizierenden Männer und Frauen in ihren Suppliken angeführten Argumente näher erläutert werden. Als wenig aussagekräftig erwiesen sich dagegen die Gnadendekrete in Form von Resolutionen und königlichen Kabinettsordern, weil in ihnen die gewährte Begnadigung nur benannt, nicht aber die Entscheidung begründet wird. Ein Begründungszwang bestand nur im Binnenverhältnis der obrigkeitlichen Akteure untereinander – den Gnadenträger ausgenommen, wenngleich auch er seine Entscheidung mitunter begründete. Den supplizierenden Untertanen gegenüber sah man sich hingegen nicht in der Pflicht, das Gnadenhandeln zu begründen. Die obrigkeitlichen Akteure nutzten kein formales Deutungssystem, um die Gnadenwürdigkeit einer Person festzustellen. Dennoch lassen sich Kriterien und Gründe für eine Begnadigung induktiv aus der konkreten Gnadenpraxis ableiten. Bei einem Großteil der Gnadenakte ist die positive Entscheidung allerdings nicht auf einen einzelnen Grund zurückzuführen, sondern erklärt sich erst durch das Zusammenfallen mehrerer Gründe. Zu den ungeklärten Schwierigkeiten gehört, dass die Frage, warum Gnadenbitten in Fällen mit vergleichbaren Umständen abgelehnt wurden, auf der Grundlage der vorhandenen Quellen nicht zufrieden stellend beantwortet werden kann, da bei abgewiesenen Gnadenfällen keine Begründung geliefert wird [s. Einführung zu C.II.]. Es kann hier daher nur darum gehen, festzustellen, welche Begründungskomplexe zu einer Begnadigung führen konnten, im Bewusstsein, dass sie nicht zwangsläufig dazu führen mussten. Betrachtet man die unterschiedlichen Begründungen von Begnadigungen, so stellt man fest, dass sie zwei Bereichen angehören: Die Gründe sind entweder juristischer Natur oder sie stammen aus den elementaren Bereichen des alltäglichen Lebens: Darunter fallen zum einen die materielle Existenz eines Hauses und zum zweiten die Versorgung der Familie, insbesondere der Kinder, also die Lebenserhaltung und die Sicherung des Nachwuchses; und zum dritten geht es um die physische Existenz, also das Überleben der verurteilten Person. Systematisiert man die verschiedenen Gründe, so lassen sich insgesamt fünf Begründungskomplexe ausmachen: 1. der Neubewertung der im Verfahren angewandten Rechtsnormen im Sinne einer Selbstkorrektur der Rechtsanwendung; 2. der Neubewertung des Verhältnisses zwischen Tat und Schuld;
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3. der Bewertung der Folgen und Wirkungen des Strafvollzugs; 4. der Bewertung der moralischen Gnadenwürdigkeit der verurteilten Personen; 5. der Verfügung eines General-Pardon.
a) Neubewertung der im Verfahren angewandten Rechtsnormen im Sinne einer Selbstkorrektur der Rechtsanwendung Die kritische Auseinandersetzung mit der Rechtsanwendung im Einzelfall führte zuweilen zu einer Neubewertung der im Verfahren angewandten Rechtsnormen im Sinne einer Selbstkorrektur der Rechtsanwendung. Mit Hilfe der Begnadigung konnten nach Beendigung des Prozesses Unstimmigkeiten beim Verfahren, bei der gerichtlichen Beweisführung oder in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit von Schuld und Strafe korrigiert werden. Auf diese Weise wurde vermieden, dass die bestehenden Gesetze oder die Arbeit der Gerichte durch einen Widerruf des Urteils in ihrer Autorität beschädigt wurden, was der Legitimation der Herrschaft abträglich gewesen wäre. Hielt sich zum Beispiel ein Gericht sehr lange mit den Ermittlungen auf, wurde sowohl auf die Initiative des Justizministers als auch auf entsprechende Supplikationen hin die Beschleunigung des Verfahrens angeordnet [s. C.II.7.d)]. In Ausnahmefällen konnte die Dauer des Untersuchungsarrestes auch auf die Haftstrafe angerechnet werden [s. C.II.4.f)], obgleich – wie die Gnadenpraxis zeigt – das Justizdepartement in der Regel an dem Prinzip festhielt, dass die Ermittlungsdauer keine Auswirkung auf die Strafdauer hatte. Begnadigungen wurden auch in Fällen ausgesprochen, in denen eine Verurteilung auf der Grundlage von Verdachtsmomenten erfolgt war, also ohne dass man den verurteilten Personen das Vergehen hätte nachweisen können. Dabei handelte es sich allerdings nicht um einen Justizirrtum, denn das Gesetz stellte bei einigen Delikten (z. B. Hehlerei, Kindsmordverdacht) bereits den Tatverdacht unter Strafe. In einigen dieser Fälle war aus der Sicht der obrigkeitlichen Akteure die Verhältnismäßigkeit zwischen der mutmaßlichen persönlichen Schuld und der gesetzlichen Strafe nicht gegeben, so dass die Strafen entweder aufgehoben oder gemildert wurden [s. C.II.1.c), C.II.4.b), C.II.5.b)aa)]. Einen gewichtigen Grund für eine Selbstkorrektur lieferten das veränderte Rechtsbewusstsein und die entsprechend modifizierte Gesetzeslage. Das neue Recht kam dabei nicht im Wege eines neu aufgerollten Verfahrens zur Anwendung, vielmehr wurde das Strafmaß des Urteils im Wege der Gnade an die neue Strafpraxis angepasst. Innerhalb des Untersuchungszeitraums betraf dies insgesamt 13 Fälle von Kindsmordverdacht [s. C.I.2.c), C.II.3.a), C.II.4.g)]. Erst mit dem ALR wurde die ursprünglich lebenslange Zuchthausstrafe auf Kindsmordverdacht bzw. die zehnjährige Haftstrafe im Falle einer Verheimlichung von Schwangerschaft und Geburt mit nachweislicher Totgeburt auf eine in Abwägung der persönlichen
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Schuld der Angeklagten zeitlich begrenzte Haftstrafe reduziert. Voraussetzung für die Loßlassung bzw. für die Strafverkürzung war aber zudem die moralische Gnadenwürdigkeit der Delinquentinnen [s. u.]: Von ihnen wurde erwartet, dass sie Reue bekannten und Besserung gelobten und sich während ihrer Haft vorbildlich verhalten hatten. Im vorliegenden Quellenmaterial gibt es acht Gnadenfälle, in denen die Strafform umgewandelt wurde, obwohl das gerichtliche Strafmaß als juristisch korrekt angesehen wurde. Begründet wurden die Begnadigungen mit dem Argument, dass der Umgang mit Schwerkriminellen auf der Festung einen schlechten Einfluss auf die verurteilten Personen hatte. Die erhoffte Wirkung der Strafe sollte dadurch optimiert werden, dass die ursprünglich zur Festung Verurteilten ihre Haft im Gefängnis bzw. im Zuchthaus absitzen durften [s. C.II.5.a)aa), C.II.5.c)]. Indem die Obrigkeit dieses von den Supplizierenden vorgetragene Argument gelten ließ, stellte sie letztlich ihre Strafvollzugspraxis in Frage, deren vorgeblicher Sinn darin lag, Untertanen, die sich ein Vergehen haben zuschulden kommen lassen, moralisch zu bessern. Aus dem Argument, dass die Festungshaft schlechten Einfluss auf die Insassen nähmen, müsste eigentlich folgen, dass alle Häftlinge davor verschonen würden – dies kam natürlich nicht in Betracht. Zu einem solchen Zugeständnis war der Gnadenträger jedoch bereit, wenn es sich entweder um junge oder um gut beleumundete Straffällige handelte, für deren künftigen Lebenswandel entweder der Vater oder der Gutsherr bürgte, und damit hinreichend Gründe gegeben waren, auf ihre moralische Besserung zu hoffen. Die Optimierung der Strafwirkung sollte auch durch eine andere Art der Begnadigung erreicht werden: der Umwandlung der zivilen in eine militärische Strafe. Auf Bitten von Militärangehörigen wurde in zwei Fällen auf die verhängte Zivilstrafe verzichtet, um die Delinquenten stattdessen mit dem Spießrutenlauf zu belegen und sie als Soldaten dauerhaft beim Militär zu verpflichten. Das ausschlaggebende Argument dafür war, dass die Delinquenten durch militärischen Drill zu Gehorsam und moralischer Besserung erzogen werden sollten, und zwar nachhaltiger, als es angeblich eine Festungsstrafe zu leisten vermochte. Da die Verstärkung der Truppen im Interesse der Obrigkeit lag, sich aber zu wenig Rekruten freiwillig zum Militärdienst meldeten, hatte sie nichts dagegen einzuwenden, Straffällige in das Militär aufzunehmen – allerdings unter der Bedingung, dass das Militär eine adäquate Prügelstrafe vollzog, damit die gerichtliche Verurteilung auch spürbare Konsequenzen hatte. All die Begründungen, die im Rahmen der juristischen Selbstkorrektur fielen, führten zu recht unterschiedlichen Begnadigungsformen: vom gänzlichen Strafverzicht, über Strafverkürzung und Loßlassung von zu lebenslanger Haft Verurteilten, bis hin zu Umwandlungen von Zuchthaus- bzw. Festungsstrafen in eine Gefängnisstrafe bzw. von Gefängnisstrafen in eine Geldbuße. Gemeinsam war den hier aufgeführten Gründen die Korrektur der Rechtspraxis durch Begnadigung in Einzelfällen, bei der die Obrigkeit ihre aktuell geltende Vorstellung von Gerechtigkeit, Recht, Gesetz, Prozessverfahren und Strafzweck durchsetzte.
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b) Neubewertung des Verhältnisses zwischen Tat und Schuld Zahlreiche Begnadigungen beruhen auf einer Neubewertung des Verhältnisses zwischen Tat und Schuld. Hier steht das der verurteilten Person zur Last gelegte Vergehen im Mittelpunkt des Gnadenerwägens, also konkret: die Bewertung des Motivs, des Tathergangs und der persönlichen Schuldhaftung. Es handelt sich hierbei um Gründe, die zur Minderung der persönlichen Schuld beitrugen. Da aber mildernde Umstände, die beim Tathergang eine zentrale Rolle spielten, zumeist im Strafverfahren und bei der Festlegung des Strafmaßes berücksichtigt wurden, kam eine so begründete Begnadigung nur in Ausnahmefällen zustande. Begnadigungen wurden zum Beispiel damit begründet, dass der Tat kein Vorsatz, sondern nachweislich Fahrlässigkeit [s. C.II.1.d), C.II.2.b), C.II.4.c)] bzw. Unwissenheit [s. C.II.5.b)bb)] oder aus der Sicht der Richter Motivlosigkeit [s. C.II.2.b)] zugrunde lag. So wirkte sich zum Beispiel mildernd aus, dass zwei Delinquenten bei ihren Überfällen auf Gewaltanwendung verzichtet hatten [s. C.II.2.a), C.II.4.d)]. Voraussetzung war allerdings, dass es sich aus obrigkeitlicher Sicht um moralisch integre Personen handelte, die im Ruf eines guten Leumundes standen [s. C.III.2.d)] und sich sonst nichts haben zuschulden kommen lassen. Einen triftigen Grund für eine Minderung der persönlichen Schuld stellte zum Beispiel die Vergebung der Schuld dar. So wurde eine Begnadigung beispielsweise gewährt, wenn ein Opfer der verurteilten Person ihr die Schuld an dem von ihr angerichteten Schaden vergeben hatte. Diese Konstellation ist nur bei bestimmten Delikten möglich, so etwa bei Vergehen wie Injuria, Diebstahl und Brandstiftung: Konkret waren es Beleidigte [s. C.II.1.b)], Bestohlene [s. C.II.5.a)aa)] und Opfer von Brandstiftung [s. C.I.2.c)], die den Verurteilten ihre Schuld vergaben und auf Schadensersatz freiwillig verzichteten. Die obrigkeitlichen Akteure gingen vermutlich von der Annahme aus, dass die Geschädigten nur gegenüber solchen Personen Nachsicht zeigten, von deren moralischer Besserung sie überzeugt waren, so dass die Vergebung als ein Indiz für die moralische Gnadenwürdigkeit [s. u.] der Person gewertet werden konnte. Wurde eine Begnadigung mit der Vergebung durch das Opfer des Vergehens begründet, so waren ihre Form und Umfang abhängig vom Delikt: Vergab der Beleidigte seinem Beleidiger, so war das Delikt gewissermaßen gegenstandslos, so dass die obrigkeitlichen Akteure sogar auf eine Bestrafung verzichteten [s. C.II.1.b)].701 Im Fall einer Brandstiftung schenkte der Gnadenträger der zum Tode verurteilten Brandstifterin das Leben [s. C.II.2.c)]. Bei Diebstahl war er zu Milderungen bereit, wie zum Beispiel zu einer Umwandlung der Festungsstrafe in eine Gefängnisstrafe [s. C.II.5.a)]. In allen Fällen wurde eine weit reichende Begnadigung gewährt. Eine Vergebung galt als Akt der Nächstenliebe, des Mitleids und des Erbarmens und brachte damit christliche Grundwerte zum Ausdruck. Eine solche Vergebung 701 Der Injuriafall Böhme belegt z. B., dass eine offizielle Vergebung des Beleidigten in Form einer Supplikation Voraussetzung war, um eine Begnadigung des Beleidigers zu erlangen [s. C.II.1.b)] – vgl. Fallakte Böhme; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.202.
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honorierten die obrigkeitlichen Akteure, indem sie die Güte der Geschädigten als schuldmildernden Umstand bei der Begnadigung berücksichtigten. So kann man sagen, dass hier die Untertanen Gnade gezeigt haben und dass der Monarch sich bemüßigt fühlte, diese Haltung der Güte an die verurteilte Person im Wege der Begnadigung weiterzugeben. Auf diese Weise versicherten sich Monarch und Untertanen, dieselben Wertevorstellungen zu vertreten. Die obrigkeitliche Gnadenpraxis stand damit im Kontext des christlichen Wertekanons, der für die Herrschaft in der frühen Neuzeit konstitutiv war. Die in diesem Zusammenhang gewährten Gnadenakte stehen zugleich dafür, dass die Obrigkeit die Tradition außergerichtlicher Konfliktschlichtung zwischen den Streitparteien702 anerkannte, indem sie ihr im Wege der Gnade Geltung verlieh. So zeichnet sich hierbei eine Traditionslinie zur Gnadenpraxis in der germanischen Frühzeit ab: Dort wurde der geschädigten Partei das Recht zugestanden, über die Art und Weise der Konfliktlösung zu disponieren, konkret Rache zu nehmen oder die Schuld zu vergeben und beim Schaden zu einer gütlichen Einigung zu gelangen.703 Vergebung einer Schuld war zunächst einmal eine Geste unabhängig vom sozialen Rang der Person. So konnten nicht nur Untertanen, sondern es konnte auch der Monarch jemandem verzeihen, der ihm Schaden zugefügt hatte. Persönlich angegriffen war der Monarch bei Delikten wie Majestätsbeleidigung und Herrschaftskritik. Kritik an seiner Person oder an seiner Politik tangierte seine Ehre und stellte die Legitimation seiner Herrschaft in Frage. Wurde jemandem ein solches Kapitalvergehen nachgewiesen, so konnte er der lebenslangen Haftstrafe oder der Todesstrafe nur entgehen, wenn ihm der Monarch seine Schuld vergab. Dieser entschied nach Gutdünken, objektive Gründe wie mildernde Umstände zählten in diesem Sonderfall offenbar wenig. Friedrich Wilhelm II. wollte solche Vergehen gegen seine Person streng bestraft wissen und lehnte daher jede Bitte um Freilassung der wegen Majestätsbeleidigung und Herrschaftskritik zu lebenslanger Haft Verurteilten ab. Seinem Thronfolger, Friedrich Wilhelm III., fiel es leichter, den über Jahre einsitzenden Delinquenten zu vergeben, da sich die Angriffe nicht gegen seine Person, sondern gegen seinen Vorgänger auf dem Thron richteten [s. C.II.3.c)]. Majestätsbeleidigung und Herrschaftskritik sind in gewissem Maße als personenbezogene Vergehen zu verstehen: Verstarb der kritisierte Monarch, so war das Vergehen zwar nicht hinfällig, doch seine Brisanz ließ nach und damit stieg die Chance, vom Thronfolger begnadigt zu werden. Setzte dieser auf Versöhnung, so konnte er sich der Dankbarkeit und Loyalität des Untertanen und seiner Familie sicher sein. Auch auf diese Weise wurde die paternalistische Herrschaftsbeziehung zwischen Monarch und Untertanen gefestigt. Ein Gnadenakt konnte auch auf die Auffassung zurückgehen, dass eine gemilderte Schuld vorlag, wenn Delinquenten durch Dritte zur Tat angestiftet wurden. Vgl. Nubola 2005, S. 82 – 84. Zu den germanischen Wurzeln vgl. Krause 1971, Sp. 1715; vgl. Köbler 1986, S. 146; vgl. Hupe 1954, S. 37 – 41; vgl. Beyerle 1910, S. 4 f. 702 703
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Die Mitschuld Dritter wirkte sich auf den Hauptschuldigen nicht strafmildernd aus, da das Gesetz jeden, der an einem Vergehen beteiligt war, gleichermaßen mit Strafe belegte – eine diesbezügliche Milderung musste daher im Wege der Gnade erlangt werden. In einem Fall gelang es beispielsweise einem Vertreter der lokalen Obrigkeit, den Gnadenträger davon zu überzeugen, dass fünf seiner verurteilten Untertanen angeblich Mitläufer waren, während die Hauptlast der Schuld bei den drei Rädelsführern zu suchen sei [s. C.II.5.a)aa)]. Von einer Schuldminderung durch die Mitschuld Dritter waren die obrigkeitlichen Akteure vor allem dann zu überzeugen, wenn ein junger Mensch in ein Vergehen verwickelt war: Ihm wurde jugendliche Unbesonnenheit zugute gehalten und den Personen, denen der Schutz und die Führung des jungen Menschen oblagen – wie beispielsweise den Eltern oder einem dem Lehrburschen vorgesetzten Gesellen –, häufig eine Mitschuld gegeben [s. C.I.2., C.II.2., C.II.4.e)]. Dahinter steht die paternalistische Vorstellung, dass sozial höher stehende Personen in der Führungspflicht standen und die ihnen Anvertrauten davor schützen sollten, auf die schiefe Bahn zu geraten. Überhaupt wurde jungen Delinquenten ihr Alter schuldmindernd angerechnet. Das Gesetz sah für Minderjährige eine mildere Strafe vor, doch kam den hier Begnadigten dieser Status nicht mehr zugute, da sie als 17- / 18-jährige volljährig waren. Volljährigen, aber noch sehr jungen Delinquenten, bei denen man annehmen konnte, dass sie aufgrund ihres jugendlichen Alters unüberlegt mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, konnte das gesetzlich vorgesehene Strafmaß im Wege der Begnadigung gemildert werden. Den Grundsatz, die Jugend des Delinquenten bei der Bewertung seiner Schuld im Rahmen eines Gerichtsprozesses mildernd zu berücksichtigen, galt auch in anderen Herrschaften, spielte etwa in Kurmainz bei Begnadigungen allerdings keine Rolle.704 Wie bereits der Zusammenhang von Jugend und Leichtsinn zeigt, spielt die verminderte Zurechnungsfähigkeit bei der Begnadigung eine wichtige Rolle: Geistige Minderbemittelung war durchaus eine gängige Rechtfertigung für eine Begnadigung [s. C.II.1.d), C.II.2.b)]. Als nicht voll zurechnungsfähig wurden mitunter auch Personen angesehen, die an einer seelischen Krankheit litten: Zum Beispiel diagnostizierte man eine angebliche Gemüthskrankheit bei einem wegen politischer Schwärmerei Verurteilten; als diese aus obrigkeitlicher Sicht nicht mehr als gefährlich eingestuft wurde, entließ man die betroffene Person schließlich aus der Haft [s. C.II.3.c)]. In anderen Fällen sah man die Zurechnungs- und Schuldfähigkeit des Delinquenten als vermindert an, wenn dieser dem Alkohol übermäßig zugesprochen hatte [s. C.I.2.b)]. Alkoholeinfluss galt zwar offiziell als mildernder Umstand,705 konnte aber durchaus auch bei der Gnadenprüfung berücksichtigt werden. Beispielhaft vgl. Härter 2005, S. 265 f. Der übermäßige Alkoholgenuss sowie provozierte Wut gehörten neben der Jugend zu den klassischen mildernden Umständen – vgl. Härter 2005, S. 265 f. 704 705
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Eine Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit sah man auch bei bestimmten Angst- und Schmerzzuständen als gegeben an: Eine vorzeitige Geburt zusammen mit der Angst vor sozialer Schande als ledige Mutter konnten den Gnadenträger und seine Staatsdiener zur Milde stimmen [s. C.I.2.a), c), e), f), C.II.2.b)]. Allerdings gibt es zahlreiche vergleichbare Fälle, in denen die Frauen die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekamen, ohne dass ihre Gnadenbitten erhört wurden. Bei diesem Aspekt wird deutlich, dass die Frage, welche Person als gnadenwürdig angesehen wurde und welche nicht, von mehreren Faktoren abhängig war. Die persönliche Schuld der Delinquenten an der Tat konnte auch durch widrige soziale Umstände als weniger schwerwiegend gewertet werden. Zum Beispiel wurde einer Waisen zugute gehalten, dass sie in ihrer Jugend angeblich keine Bildung und damit keine moralische Werteerziehung genossen habe, folglich die Konsequenzen ihres Handelns nicht habe abschätzen können [s. C.I.2., C.II.2.b)]. In einem anderen Fall wurde die Verzweiflung des Delinquenten über die scheinbare Ausweglosigkeit seiner Lage als schuldmindernd gewertet. Widrige soziale Umstände wurden allerdings selten und dann auch nicht allein anerkannt, lediglich in Kombination mit anderen Gründen konnten sie zu einer Begnadigung führen. Gründe, die sich auf eine Neubewertung des Verhältnisses zwischen Tat und persönlicher Schuld beziehen, dienten zur Rechtfertigung einer Vielzahl von Begnadigungsformen: Unter Friedrich Wilhelm II. wurde angesichts solcher Gründe zum Teil gänzlich auf Bestrafung und auf den Vollzug der Todesstrafe verzichtet; zu lebenslanger Haft Verurteilte wurden freigelassen; Häftlinge wurden vorzeitig aus dem Strafvollzug entlassen und Festungsstrafen wurden in Gefängnisstrafen und diese wiederum in Geldbußen umgewandelt. Auffallend ist, dass die hier genannten Gründe häufig zu weit reichenden Begnadigungen führten: In allein sieben Fällen wurde den zum Tode Verurteilten das Leben geschenkt, darüber hinaus gab es viele Fälle der Loßlassung von Lebenslänglichen und solche, in denen die Strafdauer erheblich, zum Teil bis zu neun Jahren, gemindert wurde. Begnadigungen, die mit mildernden Umständen in Bezug auf Tat und Schuld begründet wurden, dienten offensichtlich zur Feinjustierung der Rechtsanwendung im Einzelfall. Das Gesetz sah zwar die Berücksichtigung einiger mildernder Umstände vor – wie beispielsweise das jugendliche Alter der Straftäter oder emotionale Ausnahmezustände –, jedoch konnten sie bei den vorliegenden Fällen aus formalen Gründen im Verfahren nicht berücksichtigt werden – sei es, weil die Straftäter zwar jung, aber volljährig waren, sei es, weil die auf Mord oder Totschlag stehende Todesstrafe mit dem Argument eines emotionalen Ausnahmezustands nicht abgewendet werden konnte. Der Gesetzesgrundlage706 zum Trotz gab es in der Rechtspraxis allerdings Umstände, welche nach dem Gerechtigkeitsempfinden der Richter und Justizminister die persönliche Schuld der Täter minderten. Da den 706 So wurden mildernde Umstände im ALR weitgehend ausgeblendet – vgl. Schwennicke 1995, S. 88.
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Gerichten in dieser Hinsicht kaum ein Ermessungsspielraum zugestanden wurde, kam im Urteil dieser Fälle die gesetzlich vorgesehene Strafe in voller Härte zum Tragen. Der Gnade kam in diesen Fällen die Funktion zu, sich über die Starrheit der Gesetze hinwegzusetzen, um im Einzelfall Gerechtigkeit zu gewährleisten. Dies steht eigentlich im Widerspruch zum obrigkeitlichen Rechtsverständnis, denn Ende des 18. Jahrhunderts verstand man unter Gerechtigkeit die buchstabengetreue Anwendung der Gesetze. Richterliche Auslegungskompetenz und Ermessensspielraum beim Strafmaß sowie Anerkennung von mildernden Umständen wurden bewusst beschränkt [s. C.I.2.]. Die Gnadenpraxis zeigt jedoch, dass das in der Forschung als Gesetzesabsolutismus707 bezeichnete theoretische Rechtsverständnis in der Praxis an seine Grenzen stieß: Im Einzelfall war eine Korrektur erwünscht, konnte aber nur im Wege der Gnade umgesetzt werden.
c) Folgen und Wirkungen des Strafvollzugs Neben Gründen, die dem Bereich der Tat angehören, gibt es auch Gründe, die dem Bereich des Strafvollzugs zuzuordnen sind: Konkret geht es um bereits eingetretene oder unmittelbar bevorstehende Folgen und Wirkungen des Strafvollzugs. Berücksichtigt wurden hierbei die durch den Strafvollzug ausgelösten widrigen Umstände, wenn diese zu einer extremen Härte führten. An erster Stelle stand der befürchtete Niedergang der Wirtschaft eines Delinquenten, sei es im Gewerbe, im Handel oder in der Landwirtschaft [s. C.II.4.h), C.II.5.a)ee), C.II.5.b)cc), C.II.6.a)]. Der Großteil aller Begnadigungen wurde mit dem Wirtschaftsargument gerechtfertigt: Der Strafvollzug sollte so gestaltet werden, dass die Wirtschaft keinen nachhaltigen Schaden nahm.708 Vor allem wenn es sich um Wirtschaften mit volkswirtschaftlicher Bedeutung handelte, waren die obrigkeitlichen Akteure – hier zumeist durch den Justizminister vertreten – schnell bereit, beim Strafvollzug auf die Erfordernisse entsprechend Rücksicht zu nehmen. Aber auch bei unbedeutenden Wirtschaften, die gerade das Existenzminimum einer Familie erbrachten, zeigten sich die obrigkeitlichen Akteure entgegenkommend. Es handelte sich hierbei zumeist um Strafmilderungen geringeren Umfangs, welche auf mediater Ebene vom Justizminister respektive von den Räten im Geheimen Rat gewährt wurden: Während eine Verkürzung der Strafe eher selten mit dem Wirtschaftsargument gewährt wurde, wurde in vielen Fällen ein Aufschub des Strafantritts bzw. eine Strafaussetzung bewilligt, damit der Delinquent die absolut notwendigen Arbeiten in seiner Wirtschaft erledigen konnte [s. C.II.6.a)]. Mit dem Wirtschaftsargument wurden häufig auch Umwandlungen von Festungs- bzw. Zuchthausstrafen in Gefängnis begründet: Denn im Gefängnis konnten sich die Zum Begriff Gesetzesabsolutismus vgl. Hattenhauer 1988, S. 42, 49 f., 65. Auch Karl Härter konnte für Kurmainz beobachten, dass die ökonomische Situation der verurteilten Personen – neben ihrem Leumund – häufig den Ausschlag für eine Begnadigung gab – vgl. Härter 2005, S. 251. 707 708
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Delinquenten unter Umständen Ausgang erbitten, um nach ihren Geschäften zu sehen. Außerdem mussten sie dort keine Zwangsarbeit verrichten, sondern durften sich – soweit möglich – ihrem Broterwerb widmen [s. C.II.5.a)]. Die obrigkeitlichen Akteure beriefen sich auch auf das Wirtschaftsargument, um den Betroffenen eine Gefängnisstrafe gegen eine Geldbuße zu erlassen [s. C.II.5.b)], damit die Wirtschaft der betreffenden Person nicht ohne Aufsicht blieb. Aber nicht alle hatten dazu die finanziellen Möglichkeiten; diese Form der Begnadigung konnte in den hier vorliegenden Fällen vor allem von wohlhabenden Meistern genutzt werden. Den Armen diente das Wirtschaftsargument dazu, die Prozesskosten niederzuschlagen, wenn die Delinquenten nachweisen konnten, dass sie nach damaliger Vorstellung arm waren und zum Beispiel den Gnadentaler bezogen [s. C.II.7.c)]. Die Bereitschaft der obrigkeitlichen Akteure, die Strafe zu mildern, wenn eine Wirtschaft vom Niedergang bedroht war, erklärt sich durch ihr starkes Eigeninteresse am Erhalt der Wirtschaftskraft der Untertanen: Vom Ertrag der einzelnen Wirtschaften hing die Höhe der Abgaben an die Obrigkeit ab. Außerdem galt es zu bedenken, dass eine Verarmung der Bevölkerung und der dadurch möglicherweise ausgelöste Wegzug von Untertanen einen Machtverlust mit sich brachte, nicht nur in volkswirtschaftlicher sondern auch in legitimatorischer Hinsicht: Eine Herrschaft, welche nicht imstande war, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit ihre Untertanen zumindest ein bescheidenes Auskommen hatten, und sie in einer existenzbedrohlichen Notlage nicht zu schützen imstande war oder wollte, hielt ihre Schutzverpflichtung nicht ein. Sie verlor nicht nur an Akzeptanz bei ihren Untertanen, sondern büßte allgemein an Ansehen ein. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum man auf obrigkeitlicher Seite bereit war, den Strafvollzug so zu gestalten, dass das wirtschaftliche Auskommen der Delinquenten und ihrer Familien im Prinzip gewährleistet war. War die Obrigkeit am Erhalt der Wirtschaft ihrer Untertanen interessiert, so war ihr auch deren physischer Erhalt ein Anliegen. Auf die Gesundheit der Häftlinge wurde zwar weder auf der Festung bzw. im Zuchthaus noch im Gefängnis Rücksicht genommen, doch wollte man im Justizdepartement vermieden wissen, dass ein nicht zu lebenslanger Haft verurteilter Häftling im Kerker zu Tode kam. Dahinter stand vielleicht die Sorge, dass ein Strafvollzug, bei dem die Delinquenten ihr Leben riskierten, die Wut der Untertanen über den Mangel an obrigkeitlicher Fürsorge anstacheln könnte. Solange die Häftlinge nur krank waren, aber nicht in Lebensgefahr schwebten, lehnten die obrigkeitlichen Akteure eine Strafminderung in der Regel ab.709 Erst wenn ihr physischer Zustand nach Aussage eines Chirurgus wirklich kritisch wurde, akzeptierte man im Justizdepartement die Genesung als Grund für eine Begnadigung. Nur in wenigen Fällen, in denen die Delinquenten nachweislich für den Rest ihres Lebens bettlägerig und pflegebedürftig waren, verzichteten der Justizminister und die Räte auf eine Strafe [s. C.II.1.e)], aber wohl 709 In dieser Hinsicht war die Gnadenpraxis in Osnabrück offenbar milder, denn eine Krankheit konnte dort sehr wohl eine Begnadigung rechtfertigen – vgl. Rudolph 2005, S. 439.
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auch nur deshalb, weil in diesen konkreten Fällen eine Umwandlung in eine Geldbuße wirkungslos geblieben wäre, da die Delinquenten zu arm waren, um eine Geldbuße zu entrichten. War hingegen mit einer Genesung zu rechnen, so bewilligten die Justizminister und Räte einen Aufschub bzw. eine Aussetzung der Strafe [s. C.II.6.c)]. Möglich war aber auch, dass sie trotz der Bettlägerigkeit des Häftlings lediglich zu einer Umwandlung der Zuchthaus- in eine Gefängnisstrafe bereit waren, damit er dort von seinen Angehörigen gepflegt werden konnte [s. C.II.5.a)bb)]. Stellte lediglich die Zusatzstrafe – wie in einem Fall die öffentliche Ausstellung – das gesundheitliche Risiko dar, so konnte darauf unter der Bedingung verzichtet werden, dass dafür ein Ausgleich gefunden wurde – wie zum Beispiel in dem konkreten Fall die Verlängerung der Arbeitshausstrafe [s. C.II.5.c)]. Auch wenn es einige Fälle gab, in denen die Begnadigung mit dem kritischen Gesundheitszustand der Delinquenten begründet wurde, so vermittelt die Gnadenpraxis insgesamt den Eindruck, dass es der Obrigkeit nicht um den Erhalt der Gesundheit, sondern nur in letzter Konsequenz um den Erhalt des Lebens ihrer Untertanen ging. Ähnliche Beweggründe standen auch hinter Begnadigungen, die damit begründet wurden, dass unschuldige Familienmitglieder von der Strafe in nicht zumutbarem Maße betroffen waren: Dies galt nach Ansicht der obrigkeitlichen Akteure vor allem für Kinder, insbesondere für Säuglinge. In einem solchen Fall stand die Obrigkeit nach Aussage der Kammergerichtsrichter in der Pflicht, „dafür zu sorgen, daß während der Dauer der Strafe die zurückgelaßenen Kinder gehörig verpflegt und erzogen werden.“710 Offen bleibt allerdings, warum es trotz dieser reklamierten Fürsorgepflicht so viele Fälle gab, in denen die Gnadenbitte abgelehnt wurde, obwohl in den betroffenen Familien vergleichbare Zustände herrschten. Eine Lösung bot die obrigkeitliche Gnadeninstanz dergestalt an, dass sie den verurteilten Personen einen Aufschub oder eine Aussetzung der Strafe gewährte [s. C.II.6.b)]. Die obrigkeitliche Fürsorgepflicht ging allerdings in nur einem Fall soweit, den Strafantritt solange aufzuschieben, bis das Neugeborene abgestillt und unabhängig von der Muttermilch versorgt werden konnte. Waren Mütter von Säuglingen von einer Haftstrafe betroffen, so bestand zudem die Möglichkeit, eine Zuchthausstrafe in einen Gefängnisaufenthalt in ihrem Wohnort umzuwandeln, so dass sie ihren Säugling entweder dorthin mitnehmen oder ihn sich zum Stillen bringen lassen konnten [s. C.II.5.a)cc)]. Eine weitergehende Form der Begnadigung wurde mit dieser Begründung indes nicht zugelassen, obwohl allein die hygienischen Verhältnisse im Gefängnis für einen Säugling extrem gesundheitsschädigend, ja lebensbedrohlich waren. Der Schutz eines unschuldigen Familienmitglieds muss auch in einem anders gelagerten Fall als Rechtfertigung verstanden werden: Bei der Begnadigung von der Landesverweisung spielte es – neben dem guten Leumund des Delinquenten 710 Zit. aus: Bericht des Kammergerichts vom 24. September 1795 / Fallakte Maria Elisabeth Bergemann; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. A, Paket 15.956.
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[s. u.] – eine zentrale Rolle, dass die Ehefrau des Auszuweisenden eine Preußin war. Mit dem Verzicht auf die Landesverweisung verhinderte man, dass die eigene Untertanin zusammen mit ihrer Familie auswanderte. Die Familien von Delinquenten hatten nicht nur erhebliche wirtschaftliche Lasten zu tragen, auch ihre Ehre wurde durch die Leibes- und Freiheitsstrafe ihrer Angehörigen in Mitleidenschaft gezogen. Die obrigkeitlichen Akteure sahen im Ehrverlust der Familienmitglieder eine zumutbare Nebenwirkung der Strafe, die sich die Delinquenten durch ihr ungesetzliches Handeln selbst zuzuschreiben hatten. Eine Begnadigung aus diesem Grund wurde daher in der Regel abgelehnt, obwohl dies ein häufiges – weil eigennütziges – Anliegen der Supplizierenden war. Nur in zwei Ausnahmefällen wurden Begnadigungen mit Rücksicht auf die Familienehre ausgesprochen: Zum einen handelte es sich um einen ausländischen Diplomaten, zum anderen um einen Staatsdiener im Amte eines Inspektors, der zudem Pastor war. In beiden Fällen waren es Supplikanten, die gewisse Verdienste vorzuweisen hatten. Im Falle des Diplomaten versprach man sich vom Gnadenakt vermutlich positive Auswirkungen auf die Beziehungen zur benachbarten Herrschaft. Die obrigkeitlichen Akteure waren nur zu einem geringen Zugeständnis bereit: So wurde zum einen die verhängte Zuchthausstrafe in eine offiziell nicht entehrende Gefängnisstrafe umgewandelt [s. C.II.5.a)], zum anderen wurde die Landesverweisung zwar offiziell aufgehoben, jedoch sollte dafür gesorgt werden, dass der Delinquent Preußen verließ [s. C.II.7.a)]. Es hat sich gezeigt, dass die durch den Strafvollzug bedingten wirtschaftlichen und physischen Gründe zu recht unterschiedlichen Formen von Begnadigung führten. Gemeinsam ist den Gnadenakten, dass mit ihrer Hilfe eine extreme Härte des Strafvollzugs vermieden werden sollte. Die Gnadenpraxis erweckt den Anschein, dass hinter der Absicht der Obrigkeit, ihre Untertanen vor extrem widrigen Umständen zu schützen, letztlich ein utilitaristisches Interesse stand: Begnadigungen wurden vor allem dann gewährt, wenn sich die Obrigkeit davon neben herrschaftslegitimatorischen auch fiskalische Vorteile versprach.711
d) Bewertung der moralischen Gnadenwürdigkeit der verurteilten Person Um eine Begnadigung zu rechtfertigen, kam in einem Großteil der Fälle neben den oben aufgeführten Gründen noch die Bewertung der moralischen Gnadenwürdigkeit der verurteilten Person hinzu. Bei der Gnadenprüfung wurden dabei zwei 711 Hier wird die These von Karl Härter aufgegriffen, die besagt, dass die Obrigkeit letztlich nur dann zur Begnadigung bereit war, wenn sie sich davon positive fiskalische und ordnungspoliceyliche Vorteile versprach – vgl. Härter 2005, S. 266, 273. Auf den Großteil der hier untersuchten Fälle mag diese Behauptung zwar zutreffen, dennoch muss diese These für Brandenburg-Preußen dahingehend erweitert werden, dass auch herrschaftslegitimatorische Faktoren bei der Gnadenentscheidung eine Rolle spielten.
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Phasen unterschieden: Die eine bestand in dem Lebensabschnitt, bevor die angeklagten bzw. verurteilten Personen mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren; die andere betraf die Zeit nach dem Vergehen.712 Für die erste Phase bezogen die obrigkeitlichen Akteure die Auskünfte über den bisherigen Lebenswandel der verurteilten Person beispielsweise aus Leumunds- und Dienstzeugnissen von Brotherren, Lehrherren, Gewerksmeistern oder von Militärkommandeuren, in einigen Fällen auch von Predigern der heimatlichen Gemeinde oder anderen Amtsautoritäten wie dem Bürgermeister. Von einer gnadenwürdigen Person wurden Zeugnisse erwartet, die belegten, dass diese einen guten Leumund vorweisen konnte, dass sie einem ehrlichen Unterhalt nachging, dass sie mit Fleiß ihre Arbeit verrichtete und sich stets respektvoll und gehorsam gegenüber der Obrigkeit und den Personen, denen sie unterstellt war, verhielt.713 Die Leumunds- und Dienstzeugnisse wurden nicht von den Stellen der Gnadenprüfung angefordert, sondern meist von den Supplizierenden in Auftrag gegeben und den Suppliken als Anlage beigelegt. Daher waren diese Zeugnisse zumeist voll des Lobes, denn ein schlechtes Zeugnis wäre einer Supplik erst gar nicht beigelegt worden. Ein gutes Zeugnis wurde bei der Gnadenprüfung zur Kenntnis genommen, war für eine Begnadigung jedoch nicht ausschlaggebend, sondern stärkte lediglich die Bereitschaft zu begnadigen, wenn aus der Sicht des Gnadenträgers ein triftiger Grund gegeben war [s. C.I.2., C.II.2.c), C.II.5.a), C.II.7.a)]. Für die mit dem Supplikations- und Gnadenvorgang beschäftigten Stellen war von höherer Bedeutung, wie die betreffende Person nach ihrer Verurteilung zu der Tat stand und wie sie sich während der Haft verhielt. Die Führung der Häftlinge attestierten die Zuchthausadministration bzw. das Festungsgouvernement und die dort beschäftigten Prediger.714 Von einer gnadenwürdigen Person wurde erwartet, dass sie sich in den Tagesablauf der Strafvollzugsanstalt reibungslos einfügte und den Befehlen der Wächter gehorsam Folge leistete, dass sie mit Fleiß ihre Zwangsarbeit verrichtete und dass sie mit ihrem Verhalten ein Vorbild für die anderen Straffälligen abgab. Mindestens genauso wichtig wie die Aufführung in der Haft war die Einschätzung des Predigers über die Frömmigkeit und die moralische Einstellung der betreffenden Person: Eine zu begnadigende Person musste schon die gebotene Reue an den Tag legen und Besserung geloben. Diese Aufführungszeugnisse wurden entweder von den Supplizierenden erbeten oder aber vom Gericht angefordert, welches diese Einschätzungen für seine Stellungnahme zu einer Supplikation benötigte. Die positive Beurteilung eines Häftlings während des Strafvollzugs war aber kein zwingender Grund für eine Begnadigung. Aber eine gute 712 Auch Karl Härter sieht – neben der ökonomischen Situation – im Leumund und im Verhalten der verurteilten Person während des Strafvollzugs zentrale Aspekte, welche die obrigkeitliche Gnadenentscheidung beeinflussen konnten – vgl. Härter 2005, S. 265 f. 713 Auch in Osnabrück sind Leumundszeugnisse im Rahmen der Gnadenvorgänge überliefert – vgl. Rudolph 2005, S. 438. 714 Führungszeugnisse wurden beispielsweise auch in Osnabrück verlangt – vgl. Rudolph 2005, S. 439.
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Aufführung in der Haft war zumindest ein gewisses Verdienst des Delinquenten, belegte es doch aus obrigkeitlicher Sicht, dass die Strafe ihre erhoffte Wirkung bereits getan hatte. Die Reue wurde dabei als Indiz dafür gewertet, dass sich der Delinquent bzw. die Delinquentin in Zukunft normkonform verhalten würde.715 Im Zusammengehen mit anderen Gründen konnte eine positive Bewertung der Aufführung in der Haft eine Begnadigung durchaus rechtfertigen [s. C.I.2., C.II.2. – 5.a)]. Neben Leumunds- und Aufführungszeugnissen gab es zwei weitere Möglichkeiten, den guten Leumund einer verurteilten Person zu belegen: Dies konnte zum einen dadurch geschehen, dass Supplikanten bereit waren, eine Bürgschaft für den künftigen Lebenswandel des Häftlings abzugeben. Dies war allerdings nur bei jungen Straffälligen üblich, für die sich ein Vormund einsetzte [s. C.II.7.b)]. Die andere Möglichkeit bestand darin, dass eine hochrangige Persönlichkeit für die verurteilte Person supplizierte. Die obrigkeitlichen Akteure gingen offenbar von der Überlegung aus, dass eine Person mit hohem sozialen Status ihren Namen für die Fürsprache eines Verurteilten nur hergab, wenn sie davon überzeugt war, dass dieser Mensch eine Chance nicht nur verdiente, sondern auch redlich zu nutzen wusste – denn im Falle, dass der Begnadigte rückfällig würde, fiele dies auf den guten Namen des Supplikanten zurück. Unter den Fürsprechern befinden sich beispielsweise Angehörige des Hauses der Hohenzollern, ein ausländischer Diplomat, Vertreter der lokalen Obrigkeit in Gestalt von Landräten und Gutsherren sowie unterschiedliche Amtsinhaber wie Magistratsangehörige, Bürgermeister oder ein Königlicher Ober-Bau-Intendant und einige Militärkommandeure. Die Gnadenpraxis zeigt, dass Supplikationen einer Persönlichkeit von sozialem Rang von den obrigkeitlichen Akteuren mit erhöhtem Interesse wahrgenommen und die Fälle einer wohlwollenden Prüfung unterzogen wurden. Dennoch waren solche Supplikationen keine Garantie für eine Begnadigung [s. B.I.10.], vielmehr kam es auch hier auf die Stichhaltigkeit der in den Suppliken angeführten Begründungen an. Im Ergebnis lief es meist auf eine weniger weitgehende Begnadigung hinaus: Gewährt wurden beispielsweise Strafverkürzungen, Umwandlungen von Festungs- bzw. Zuchthausstrafen in Gefängnisstrafen sowie von Zivil- in Militärstrafen, Aufschub und Aussetzung der Strafe sowie eine Aufhebung einer Landesverweisung. Festzuhalten bleibt, dass mit wenigen Ausnahmen weder die Fürsprache hochrangiger Persönlichkeiten noch gute Arbeits- und Leumundszeugnisse oder Zeugnisse über eine vorbildhafte Aufführung in der Haft für sich genommen Gründe waren, die ausreichten, um eine Begnadigung zu rechtfertigen. Erst im Zusammengehen mit anderen Gründen – zumeist auf der Basis der Bewertung der Folgen des Strafvollzugs oder des Verhältnisses zwischen Tat und persönlicher Schuld – erwogen die obrigkeitlichen Akteure eine Begnadigung. Für die Obrigkeit war die moralische Gnadenwürdigkeit allerdings ein Kriterium von Relevanz, denn in vielen Fällen waren Aufführungszeugnisse über die angebliche moralische Gnaden715 Die Reue spielte z. B. auch bei Begnadigungen im Osnabrücker Raum eine zentrale Rolle – vgl. Rudolph 2005, S. 442 f.
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würdigkeit sogar Voraussetzung dafür, dass beispielsweise ein mildernder Umstand auch als solcher anerkannt wurde. Denn ein Delinquent, der den Wertevorstellungen der obrigkeitlichen Akteure entsprach, gab Hoffnung auf Besserung und auf baldige Resozialisierung.716 Außerdem galt ihnen eine gute Aufführung während der Haft als Beleg dafür, dass die Strafe ihre erwünschte Wirkung gezeigt hatte. So waren die obrigkeitlichen Akteure vermutlich bestrebt, nur solche Untertanen vorzeitig aus dem Strafvollzug zu entlassen, welche im Zuchthaus oder auf der Festung nach den obrigkeitlichen Wertvorstellungen in Gehorsam, Fleiß und Frömmigkeit angeblich erfolgreich erzogen worden sind. Man kann also sagen, dass die in der Gnadenprüfung getroffene Bewertung einer verurteilten Person als moralisch gnadenwürdig für eine Begnadigung zwar notwendig, aber für sich genommen nicht hinreichend war.
e) General-Pardon Der General-Pardon stellt eine gesonderte Begründung dar, denn er lässt sich nicht den bisher aufgeführten Begründungszusammenhängen zuordnen, weil er nicht individuell sondern pauschal angelegt ist: Mit dem General-Pardon wurden kollektiv verurteilte Männer und Frauen begnadigt, auf die nicht zwingend einer der bisher aufgeführten Gründe, sondern ein formales Merkmal zutraf – beispielsweise ein konkretes Vergehen oder eine konkrete Strafe. Anders als die bisher thematisierten Begnadigungen wurde ein General-Pardon vom Monarchen in seiner Funktion als Gnadenträger unabhängig von Einzelfällen formal angewiesen und bedurfte daher nicht notwendigerweise einer Supplikation oder einer Fürsprache.717 Ein General-Pardon wurde zumeist anlässlich eines besonderen Ereignisses angesetzt: Üblicherweise wurde ein Pardon zur Thronbesteigung718 erlassen; Anlass konnte aber auch eine königliche Hochzeit oder die Geburt eines Thronfolgers sein. Für eine solche Begnadigung wurden häufig die so genannten ausgetretenen Untertanen ausersehen, die aus Angst vor einer Strafe oder vor der Rekrutierung beim Militär ins Ausland geflohen waren.719 Der Monarch vergab ihnen ihre Schuld und 716 Der Fall Grothin [s. C.II.1.a)] zeigt, dass die Obrigkeit nicht bereit war, Milderungen Personen zu gewähren, die als unverbesserlich galten: So wurde Grothins Begnadigung widerrufen, da sie erstens wiederholt straffällig wurde und zweitens gelogen hatte, um in den Genuss des General-Pardon zu kommen – vgl. Fallakte Catharina Marie Grothin; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053. 717 Supplikationen mit Bezug auf einen General-Pardon gab es dennoch: So mancher Untertan, der vor seiner Strafe geflohen war, wollte, bevor er sich aus der Deckung wagte, verbrieft haben, dass er in den Genuss des General-Pardon kam und nun keine Strafe mehr zu befürchten hatte. 718 So: „Es ist ( . . . ) bey Regierungs-Veränderungen der Gebrauch, Arrestanten zu begnadigen.“ – Schreiben des Kammergerichtspräsidenten F. L. Kircheisen vom 28. Juni 1798 an E. F. Klein; zit. in: Klein 1798 / 17. Bd., S. 159 – 169, hier S. 160.
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bot ihnen an, straffrei zurückzukehren und ihre Existenz wieder aufzubauen. Neben den Ausgetretenen kamen zumeist auch die Männer und Frauen in den Genuss einer Begnadigung, die bereits lange Zeit im Zuchthaus oder auf der Festung zugebracht hatten und bei denen die obrigkeitlichen Akteure davon ausgingen, dass sie nicht wieder mit dem Gesetz in Konflikt gerieten [s. C.III.2.d)]. Theoretisch war es auch möglich, im Rahmen des General-Pardon eine Amnestie für ein bestimmtes Delikt auszusprechen. So pauschal die Begnadigung im Wege des General-Pardon auch anmutet, tatsächlich war sie mit einer aufwändigen Gnadenprüfung einer Vielzahl von Einzelfällen verbunden. Der Prüfvorgang unterschied sich kaum von einem herkömmlichen Gnadenfall: Die obrigkeitlichen Akteure versicherten sich, ob ein Fall formal unter die jeweilige Definition des General-Pardon fiel und ob der Delinquent bzw. die Delinquentin tatsächlich in den Genuss der Begnadigung kommen durfte. Von einem herkömmlichen Gnadenfall unterscheidet sich der General-Pardon allerdings dadurch, dass dabei die Form der Begnadigung vorgegeben war: In der Regel wurde eine Strafverkürzung oder der gänzliche Verzicht auf Bestrafung gewährt. Auch Friedrich Wilhelm II. sprach anlässlich seiner Thronbesteigung Anfang November 1786 einen General-Pardon aus. Da in den Akten diesbezügliche Weisungen oder Fallbeispiele fehlen,720 stützen sich die folgenden Erläuterungen auf den besser überlieferten General-Pardon anlässlich des Regierungsantritts von Friedrich Wilhelm III.721 Als eine seiner ersten Regierungshandlungen wies der junge König am 30. Dezember 1797 den General-Pardon an: „Solchemnach Allerhöchstdieselben geneigt sind, von dergleichen Arrestanten denjenigen, die sich nach gewissen allgemeinen Grundsätzen zum Erlaß oder zur Milderung ihrer Strafen qualificiren möchten, Allerhöchst Dero Gnade angedeihen zu lassen.“722 719 Auch Friedrich Wilhelm II. machte bspw. den Austritt zum Kriterium für den GeneralPardon von 1786 – vgl. Anfrage des Instruktionssenats vom 16. November 1786 / Fallakte Catharina Marie Grothin; in: ebd. 720 Den Akten ist lediglich ein Hinweis zu entnehmen, dass auch Friedrich Wilhelm II. anlässlich seines Regierungsantritts einen General-Pardon gewährte – vgl. Anfrage des Instruktionssenats vom 16. November 1786 / Fallakte Catharina Marie Grothin; in: ebd. 721 Jeder Monarch hatte als Gnadenträger zwar theoretisch die Freiheit, die Gnadenpraxis nach seinem Gutdünken zu gestalten, so dass man nicht ohne weiteres von der Gnadenpraxis des einen auf die des anderen schließen sollte. Dennoch darf man davon ausgehen, dass einige Kontinuitätslinien in der Gnadenpraxis von Friedrich Wilhelm II. zu Friedrich Wilhelm III. zu finden sind. Für diese Annahme spricht, dass das Supplikationswesen im Grunde genauso organisiert war und dass hinter der Normsetzung die gleiche Intention stand, nämlich durch ein gleichförmiges Verfahren eine weitestgehende Delegation in Gnadensachen zu erreichen. Für eine gewisse Kontinuität bürgt außerdem das Gnadenverständnis zahlreicher Staatsdiener, die mit Supplikationen befasst waren – unter ihnen vor allem die Justizminister und die Richter des Kammergerichts –, die unter beiden Monarchen dienten [s. A.II.4.]. 722 Kabinettsorder vom 30. Dezember 1797; zit. in: Klein 1798 / 17. Bd., S. 172 – 178. hier S. 172.
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Der Kabinettsorder ist zu entnehmen, dass der Monarch beim General-Pardon die Auswahl der zu begnadigenden Personen keineswegs dem Zufall überlassen wollte. Seine Bereitschaft Schuld zu vergeben, war an bestimmte Voraussetzungen gebunden, denn: „es sollte die wiedererlangte Freyheit kein Lotterie-Gewinnst, sondern eine Wohlthat seyn.“723 Demnach sollten nicht irgendwelche verurteilten Männer und Frauen, welche zufällig das Kriterium des General-Pardon erfüllten, in den Genuss der Gnade kommen. Vielmehr vertrat der junge König mit der Ansage, dass er eine Begnadigung als Wohlthat verstanden wissen wollte, die Auffassung, dass sich eine zu begnadigende Person „nach gewissen allgemeinen Grundsätzen“ „qualificiren“ sollte, also sich der Gnade als würdig erweisen sollte. Zu diesem Zweck wurde eine Kommission unter der Leitung des Kammergerichtspräsidenten einberufen und mit der Aufgabe betraut, „diejenigen Gefangenen vorzuschlagen, die einer Begnadigung werth wären.“724 Dahinter steht die Auffassung, dass man sich die Gnade verdienen musste – sei es durch gute Aufführung in der Haft oder sei es durch mildernde Umstände. Daraus folgt für die Gnadenpraxis, dass der Monarch Begnadigungen nicht willkürlich, sondern anhand von bestimmten Kriterien zu gewähren beabsichtigte, kurz: er wollte sein Gnadenhandeln gerechtfertigt wissen. Die Kommission unterzog insgesamt 2.179 Fälle einer ersten Prüfung auf Gnadenwürdigkeit; davon gelangten 701 Fälle in die engere Auswahl.725 Ausgeschieden wurden dabei „vorsätzliche Mörder, Räuber, Brandstifter, Diebe und Wahnsinnige“, um „das Land nicht mit gefährlichen Verbrechern zu überschwemmen.“726 Folglich gab es Delikte bzw. Umstände wie Wahnsinn, die – zumindest bei diesem General-Pardon – als gnadenunwürdig galten. Berücksichtigt wurden auch Fälle, in denen bereits Supplikationen vorlagen. In einem nächsten Schritt sollten die ausgewählten Fälle von der Kommission auf bestimmte Kriterien hin untersucht werden:727 Die Frage war beispielsweise, ob der Verurteilung tatsächlich ein gesetzmäßiges Urteil zugrunde lag oder ob die verhängten Strafen nach der derzeit gültigen Rechtsprechung milder ausgefallen wären, als es die zur Tatzeit geltenden Gesetze vorsahen. Auch sollte geprüft werden, ob mildernde Umstände vorlagen, welche die Richter jedoch nicht befugt waren, beim Urteil und beim Strafmaß zu berücksichtigen. Außerdem hatte die Kommission Aufführungszeugnisse zu den 723 Zit. aus: Schreiben des Kammergerichtspräsidenten Kircheisen vom 28. Juni 1798 an E. F. Klein den General-Pardon vom 30. Dezember 1797 betreffend; zit. in: Klein 1798 / 17. Bd., S. 160. 724 Zit. aus: ebd., S. 161. Neben Kircheisen und v. Bömken bestand die Kommission aus folgenden Mitgliedern: dem Geheimen Rat v. Warsing, dem Kammergerichtsrat v. Hartwig, den Assessoren Reinhardt und Müller sowie dem Referendarius Giesecke. 725 Vgl. ebd., S. 164. 726 Zit. aus: ebd., S. 160 f. 727 Vgl. Kabinettsorder vom 30. Dezember 1797; zit. in: Klein 1798 / 17. Bd., S. 172 – 177; zu den Kriterien vgl. auch das Schreiben des Kammergerichtspräsidenten Kircheisen vom 28. Juni 1798 an E. F. Klein; zit. in: ebd., S. 162 – 163.
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für eine Begnadigung eventuell in Frage kommenden Delinquenten und Delinquentinnen von der jeweiligen Festungs- bzw. Zuchthaus- oder Gefängnisleitung angefordert, um die „Conduite“ der Verurteilten während der Inhaftierung dahingehend zu prüfen, ob ein „Angelöbniß eines künftigen bessern, ruhigern und folgsamern Betragens“ vorlag.728 Nach vollzogener Revision erstellte die Kommission eine Liste mit den zur Begnadigung empfohlenen Verurteilten. Der Monarch entschied daraufhin wie folgt: „Mit wenigen Ausnahmen haben des Königs Majestät die Vorschläge der Commission ( . . . ) zu genehmigen geruht.“729
504 Verurteilte begnadigte Friedrich Wilhelm III. im Rahmen des General-Pardon, indem er ihnen die Strafe kürzte.730 Der Exkurs zur Praxis des General-Pardon unter Friedrich Wilhelm III. zeigt, dass die Begnadigten nicht zufällig in den Genuss einer Strafmilderung kamen.731 Diese Form der Gnadenpraxis war nur insofern pauschal, als damit angekündigt wurde, dass der Monarch eine große Anzahl an Begnadigungen zu gewähren bereit war. Die Entscheidungen fielen jedoch nicht pauschal, sondern auf der Grundlage von Einzelprüfungen. Für die Gnadenprüfung waren eigens Kriterien aufgestellt worden. Dabei handelte es sich zum großen Teil um die oben aufgeführten Begründungskomplexe. Daraus folgt, dass auch bei einem General-Pardon die einzelnen Gnadenakte einer Rechtfertigung bedurften. Die Bedingungen für eine Begnadigung waren beim General-Pardon somit vergleichbar mit denen einer Begnadigung im Einzelfall, die durch eine Supplikation angestoßen wurde – allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Bereitschaft des Monarchen, Gnade zu gewähren, beim General-Pardon weitaus höher lag. Der General-Pardon diente dem Monarchen zur Festschreibung der patriarchalen Herrschaftsstrukturen. Gerade zu Regierungsantritt besaß ein General-Pardon 728 Zit. aus: Kabinettsorder vom 30. Dezember 1797; zit. in: Klein 1798 / 17. Bd., S. 172 – 178, hier S. 176. 729 Schreiben Kircheisens an E. F. Klein vom 28. Juni 1798; zit. in: Klein 1798 / 17. Bd., S. 163. 730 Unter den Begnadigten befanden sich 230 Kindsmörderinnen, 62 Soldaten, denen ein Militärdienstvergehen vorgeworfen wurde, 54 wegen Diebstahls Verurteilte, 36 wegen Totschlag Verurteilte, 29 wegen Körperverletzung Verurteilte, 20 „fleischliche Verbrecher“, 19 „Staatsverbrecher“, 17 Vagabunden, 10 Brandstifter und Brandstifterinnen, 8 wegen Beleidigung Verurteilte, 7 Betrüger und Betrügerinnen, 6 Zivildienstvergehen, 4 Duellanten und 2 „Banquerouttiere“ – vgl. ebd., S. 164. 731 Mit dem General-Pardon von Friedrich Wilhelm II. wurden u. a. ausgetretene Untertanen begnadigt. Dieses Kriterium wirkt an sich zwar pauschal, jedoch zeigt der Fall von Catharina Marie Grothin, dass auch diese Fälle einzeln überprüft wurden, und dass man keinesfalls duldete, einen durch Lüge erschlichenen General-Pardon gelten zu lassen oder einer erneut straffällig gewordenen Person eine Strafmilderung zu gewähren – vgl. Bericht des Justizamts Alt-Ruppin vom 2. Februar 1787; Bericht des Generaldirektoriums vom 7. Februar 1787; Schreiben des Justizdepartements an das Generaldirektorium vom 19. Februar 1787 / Fallakte Catharina Marie Grothin; in: ebd.
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eine starke Symbolkraft: Mit der Königswürde übernahm der Monarch unter anderem auch die Pflicht, seine Untertanen zu schützen. Die Begnadigungen waren ein Zeichen dafür, dass er sich dieser Pflicht bewusst war, indem er Verurteilte von ihrem Leid erlöste. Zudem signalisierte er damit, dass sich seine Herrschaft an christlichen Werten wie Güte und Erbarmen orientierte. Damit war er in gewisser Weise in Vorleistung getreten, denn nun war es an den Untertanen, den Schutzvertrag ihrerseits zu erfüllen, indem sie sich ihrem Herrscher gegenüber stets gehorsam und loyal verhielten. f) Begründungszwang Die Untersuchung der Gnadenpraxis führt zu dem Befund, dass Ende des 18. Jahrhunderts im Prinzip jede Begnadigung gerechtfertigt werden musste, so dass faktisch ein Begründungszwang herrschte. Die oben aufgezeigten Gründe belegen, dass die obrigkeitlichen Akteure genaue Vorstellungen von der Gnadenwürdigkeit einer Person und der gnadenwürdigen Umstände besaßen. Die Orientierung der Gnadenentscheidung an Begründungen muss im Zusammenhang mit der zunehmenden Bürokratisierung der Verwaltung Ende des 18. Jahrhunderts und mit dem Anspruch der Obrigkeit verstanden werden, dass Angelegenheiten der Untertanen vor Gericht oder in der Verwaltung effizient und vermeintlich objektiv, also ohne Ansehen der Person, entschieden werden sollten. Auch wenn das mit dem Begründungszwang verbundene Prüfverfahren diesen Anschein erwecken mag, so darf daraus allerdings nicht geschlossen werden, dass die Gnadenfälle tatsächlich objektiv entschieden wurden. Schließlich verblieb den obrigkeitlichen Akteuren hinreichend Entscheidungsspielraum: Zum einen waren sie in Besitz der Definitionsmacht, was als plausibler Grund gelten durfte, und zum anderen lag die Gewichtung der Gründe in ihrem Ermessen. Die Objektivierung der Gnadenentscheidung stellt sich in vielen Fällen als ein Anspruch heraus, der aber bei näherer Betrachtung oft nicht oder nur begrenzt eingelöst wurde: Denn bei zahlreichen Gnadenfällen ist die Herleitung der Gründe für die Gnadenentscheidung nicht nachvollziehbar. Dies gilt vor allem für die Fälle, in denen die erbetene Gnade verwehrt wurde, da die obrigkeitlichen Akteure im Falle einer abgewiesenen Gnadenbitte nicht gehalten waren, ihre Haltung näher zu begründen. Neben der Definitionsmacht über die Plausibilität von Gnadengründen war es den obrigkeitlichen Akteuren auch möglich, in Grenzen732 die Ausgestaltung der Begnadigung zu beeinflussen. Akzeptierten die obrigkeitlichen Akteure einen gnadenwürdigen Grund, so mussten Form und Qualität der Begnadigung in einem gewissen Maße auf die Begründung abgestimmt sein; einmal im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit von Schuld und verbleibender Strafe, zum anderen dahin732 Dabei verhielt es sich nicht unbedingt so, dass die obrigkeitlichen Akteure Form und Qualität einer Begnadigung frei wählten, vielmehr orientierten sie sich häufig, wie unten dargelegt [s. C.III.3.a)], an der inhaltlichen Zielsetzung der Gnadenbitte.
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gehend, dass die Milderung tatsächlich die erwartete Erleichterung in der Notlage versprach. So gesehen hatte die Begründung auch Einfluss auf Form und Qualität der Begnadigung. Aus der Existenz von Begründungen für Gnadenentscheidungen darf aber nicht geschlossen werden, dass die Gnadenentscheidungen einem Schematismus folgten, denn die Gewichtung der Gründe war in jedem einzelnen Fall anders gelagert: In einigen Fällen genügte ein triftiger Grund, in der Mehrzahl der Fälle wurde eine Begnadigung jedoch erst durch das Zusammenfallen mehrerer Gründe aus unterschiedlichen Begründungskomplexen ermöglicht. Für die Gewichtung der Gründe konnte beispielsweise das Ansehen der Fürsprecher eine entscheidende Rolle spielen: Eine Begnadigung wurde eher gewährt, wenn eine Fürsprache aus dem Justizapparat vorlag, oder wenn die lokale Obrigkeit, das Militär oder eine hochrangige Persönlichkeit für die verurteilte Person supplizierte [s. C.III.3.c)]. Auch Gerichtsurteile mit besonders harter Strafe konnten dazu führen, dass die obrigkeitlichen Akteure Milde zeigten. In diesem Zusammenhang ist der Umgang mit den zum Tode Verurteilten zu nennen: Die Gnadenpraxis verdeutlicht, dass sowohl Friedrich Wilhelm II. als auch seine Staatsdiener bestrebt waren, die Vollstreckung von Todesurteilen durch Begnadigung zu vermeiden, obwohl in einigen Fällen keine überzeugenden mildernden Umstände vorlagen. Die moralische Gnadenwürdigkeit spielte bei der Gewichtung der Gründe eine zentrale Rolle: Obwohl sie als singulärer Grund für eine Begnadigung nicht als ausreichend angesehen wurde, war sie jedoch in vielen Fällen die Voraussetzung dafür, dass ein anderer Grund als strafmildernd anerkannt wurde. Je größer die Vorleistung der verurteilten Männer und Frauen in der Haft im Hinblick auf Gehorsam, Tugendhaftigkeit, Loyalität und Fleiß war, umso überzeugender wirkte ihr in der Supplik dargelegter Integrationswille auf die obrigkeitlichen Akteure und desto wahrscheinlicher war ihre Begnadigung. Mit dem Prüfverfahren sollten ausschließlich die Delinquenten herausgefiltert werden, von denen die obrigkeitlichen Akteure für die Zukunft einen ehrlichen Lebenswandel, Gehorsam und Loyalität erwarten konnten. Die unterschiedliche Gewichtung der Gründe und die Inkonsequenz mancher Gnadenentscheidung bezüglich ihres Anspruches auf Objektivität und Rationalität sind Indizien dafür, dass es über die formalen Begründungen hinaus weitere Gründe gab, welche die Gnadenentscheidung beeinflussten. Diese – so die These – sind in der Interessenlage der Obrigkeit zu finden. Auch wenn sich die Gnadenpraxis den Anschein gab, Begnadigungen aus juristischen, sozialen bzw. humanitären Gründen zu gewähren, so ist doch der materielle Vorteil, den die Obrigkeit aus einer Vielzahl von Gnadenakten ziehen konnte, unübersehbar: Die Obrigkeit musste ein vitales fiskalisches Interesse daran haben, dass jedes Haus sein Auskommen hatte, wenn sie künftig nicht auf Abgaben verzichten wollte.733 Der materielle Vor733 Die These von Karl Härter, dass die Obrigkeit letztlich nur dann zur Begnadigung bereit war, wenn man sich davon fiskalischen Nutzen versprach, kann folglich für Brandenburg-
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teil, den die Obrigkeit aus einem Gnadenakt schöpfte, wurde im Prüfverfahren allerdings nicht explizit erwähnt, sondern durch Verweis auf die jeweilige Situation der Wirtschaft nur implizit thematisiert. Berücksichtigt man neben den fiskalischen Interessen auch die machtstrategischen und herrschaftslegitimatorischen Interessen der Obrigkeit, wie sie etwa in den einzelnen Begründungskomplexen zum Ausdruck kommen [s. o.], so kann man sagen, dass die Gnade Ende des 18. Jahrhunderts gewisse utilitaristische Züge trug. Es hat allerdings den Anschein, dass es dem Selbstverständnis des Gnadenträgers zuwiderlief, Gnade und Eigennutz offen zusammen auszusprechen – die Rhetorik des Gnadegewährens war eher von altruistischen Motiven durchdrungen, die auf christlichen Werten basierten. 3. Zwischenbilanz zu den Akteuren: Die obrigkeitlichen Entscheidungsträger, die Begnadigten und ihre Supplikanten a) Die obrigkeitlichen Entscheidungsträger und ihre Zuständigkeit Auch wenn der Monarch als Gnadenträger das Gewähren oder Verwehren von Gnade befahl, so sind doch die maßgeblichen Entscheidungsträger eines Gnadenaktes in der Regel im Justizdepartement respektive im Geheimen Rat zu finden: Auf die Geheimen Räten, insbesondere aber auf den Justizminister gingen sowohl bei Mediat- als auch bei Immediatsupplikationen die entscheidenden Voten zurück, in denen über die Gnadenwürdigkeit einer Person, für die eine Supplikation oder eine Fürsprache eingereicht worden war, befunden wurde. Der Einfluss, den die übrigen Staatsdiener, die zum Kreis der obrigkeitlichen Akteure zu rechnen sind, auf die Gnadenentscheidung nahmen, darf dennoch nicht unterschätzt werden. Denn die Gnadenprüfung war in den brandenburg-preußischen Behörden arbeitsteilig organisiert: Um sich ein Bild von der Situation der verurteilten Person und deren Angehörigen zu machen, forderte das Justizdepartement häufig das jeweils zuständige Gericht auf, zu der eingegangenen Gnadenbitte Stellung zu beziehen und Angaben zum Tathergang und zum Tatmotiv, zum bisherigen Lebenswandel der verurteilten Person, eventuell auch zu deren sozialem Umfeld und der wirtschaftlichen Situation der betroffenen Familie zu machen. Die Rolle, die den Gerichten bei der Gnadenprüfung zukam, war zentral. Entscheidungskompetenz hatten sie zwar nicht, aber ihre Meinung hatte Gewicht: Im Großteil der Fälle schloss sich der Justizminister der Stellungnahme des ermittelnden Gerichts zur Gnadenbitte an und erließ daraufhin entweder selbst den Gnadenakt oder aber er legte dem Monarchen einen Immediatbericht mit entsprechendem Votum vor. Einen gewissen Einfluss auf den Ausgang einer Gnadenprüfung nahmen auch die Administrationen der Festung bzw. des Zuchthauses sowie die dort tätigen PrePreußen bestätigt werden – vgl. Härter 2005, S. 266, 273. Vergleichbare Beobachtungen macht auch Andrea Griesebner – vgl. Griesebner (Frühneuzeit-Info) 2000, S. 20.
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diger: Die von ihnen verfassten Zeugnisse über die Aufführung der betreffenden Person in der Haft bestärkten den Justizminister mitunter in seiner Absicht, dem Monarchen einen Delinquenten zur Begnadigung vorzuschlagen. Abgefragt wurden vor allem der Gehorsam gegenüber Anweisungen der Wärter, der bei der Zwangsarbeit an den Tag gelegte Fleiß, aber auch die Frömmigkeit sowie die moralische Einstellung zum eigenen Vergehen – Reue war dabei unbedingt geboten. Gab eine Krankheit der verurteilten Person Anlass zu einer Supplikation, wurde zumeist ein Chirurgus hinzugezogen, der die Beschwerden attestieren sollte. Die Chirurgen machten allerdings eher selten konkrete Vorschläge, wie eine Genesung mit der Haft zu vereinbaren sein könnte; vielmehr beschränkten sie sich zumeist darauf, den Gesundheitszustand des Häftlings zu begutachten. Ein vom Chirurgus attestierter kritischer Gesundheitszustand des Inhaftierten führte aber nur in wenigen Fällen zu einer Begnadigung. Erst wenn eine Krankheit lebensgefährlich wurde, waren der Justizminister, die Geheimen Räte und der Monarch bereit, eine Genesungsphase zu gewähren, ohne aber vom Strafmaß abzurücken. Dass eine Haft den Gesundheitszustand der Inhaftierten beeinträchtigte, wurde von Seiten der Rechtsaufsicht offenkundig als Teil der Strafe angesehen. Die Gnadenpraxis dokumentiert, dass die obrigkeitlichen Akteure die formalen Zuständigkeiten, wie sie die zahlreichen Normvorgaben vorsahen, im Prinzip einhielten, wie etwa die Delegierung der Mediatsupplikationen an das Justizdepartement respektive an den Geheimen Rat [s. A.II.3. und C.I.1.b), d), e)]. Daneben gab es auch inhaltliche Zuständigkeiten, die sich auf bestimmte Begnadigungsformen bezogen und über welche die Edikte und Dekrete schweigen; als ungeschriebene Regel prägten sie gleichwohl die Gnadenpraxis grundlegend mit. Aus den Akten geht hervor, dass das Justizdepartement respektive der Geheime Rat bei Mediatsupplikationen nur bestimmte Formen der Begnadigung eigenmächtig gewährte, während Gnadenbitten mit weit reichenden Strafmilderungen in der Regel abschlägig beschieden wurden. Auf der zentralen Behördenebene fiel die Entscheidung zugunsten von Begnadigungsformen mit geringem Umfang, bei denen die gerichtlich erkannte Strafe im Prinzip beibehalten wurde: so etwa beim Aufschub des Strafantritts und bei der vorübergehenden Aussetzung der Strafe, bei der Umwandlung in eine mildere Strafform sowie bei sonstigen geringfügigen Strafmilderungen und Verfahrenserleichterungen. Obwohl es sich beim gänzlichen Verzicht auf Bestrafung formal gesehen um die umfangreichste Begnadigungsform handelt, wurde sie in der Regel nicht vom Monarchen, sondern zumeist vom Justizminister in Abstimmung mit den Geheimen Räten verfügt – allerdings handelte es sich durchweg um relativ geringe Strafen. Da in diesen Fällen Schuld und Strafe nach Meinung der obrigkeitlichen Akteure in keinem akzeptablen Verhältnis zueinander standen, war der Justizminister hier in seiner Funktion als Rechtsaufsicht gefordert, eine Korrektur vorzunehmen. Die Zuständigkeit des Justizdepartements in Abstimmung mit dem Geheimen Rat für diese Begnadigungsformen erklärt sich vermutlich dadurch, dass diese mildernden Maßnahmen als eine Aufgabe der Rechtsaufsicht im weiteren Sinne betrachtet wurden.
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Der Monarch dagegen behielt sich die Entscheidung in den Gnadenfällen vor, in denen eine weit reichende Milderung im Vergleich zu der im Urteil vorgesehenen Strafe zur Disposition stand. In seiner Hand lag es, einem zum Tode Verurteilten das Leben oder einem zu lebenslanger Haft Verurteilten die Freiheit zu schenken, die Dauer der Festungs- bzw. Zuchthausstrafe zu verkürzen oder einen GeneralPardon zu erlassen. Folglich hatten Gnadenbitten mit einer weiter reichenden inhaltlichen Zielsetzung in der Regel nur in Form einer Immediatsupplikation Erfolg, während sie als Mediatsupplikationen abschlägig beschieden wurden. Über Begnadigungen mit geringer Reichweite – wie etwa Aufschub bzw. Aussetzung der Strafe, Umwandlung der Strafform oder sonstige Erleichterungen der Haftbedingungen – befand der Gnadenträger in der Regel nur dann, wenn solche Gnadenbitten auf mediater Eben bereits abgewiesen, dann aber auf immediater Ebene erneut gestellt wurden. Die Einzelfallstudien haben außerdem gezeigt, dass sich der Justizminister und die Geheimen Räte bei der Wahl von substanziellen Begnadigungsformen stark an den in den Suppliken und Fürsprachen geäußerten Gnadenbitten orientierten. Im Rahmen des Prüfungsvorgangs wurde in der Regel primär über die Frage entschieden, ob man die vorliegende Gnadenbitte gewähren könne oder nicht. Über Alternativlösungen, welche dazu hätten beitragen können, die Notlage der Betroffenen zu lindern, wurde hingegen eher selten nachgedacht. Bei Fürsprachen ist ein solches Vorgehen nicht weiter verwunderlich, da diese auf obrigkeitliche Initiative zurückgingen, bei der das Justizdepartement davon ausgehen konnte, dass von dieser Seite vom Gnadenträger vertretbare und angemessene Begnadigungsvorschläge unterbreitet wurden. Schilderte indes ein Untertan in einer Supplikation Umstände, die nach obrigkeitlicher Logik eine gewisse Milderung gerechtfertigt hätten, bat aber um eine aus obrigkeitlicher Sicht als zu weitgehend befundene Begnadigung, so wurde diese Gnadenbitte mit den Worten, dass es mit der gerichtlich erkannten Strafe sein Bewenden habe, abgelehnt.734 Über eine Alternativlösung wurde in der Regel erst verhandelt, wenn in einer erneuten Supplikation eine aus Sicht des Justizministers angemessene Gnadenbitte vorgetragen wurde. In dieser Gnadenpraxis ist vermutlich der Grund dafür zu sehen, warum in den Supplikationen häufig mehrere Gnadenbitten zugleich angeführt wurden [s. Einleitung zu A.III.3.]: Wiesen die obrigkeitlichen Akteure eine Strafmilderung als zu weitgehend ab, so stand noch eine zweite, meist bescheidenere Form der Begnadigung zur Disposition. Auf diese Weise erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit, wenigstens eine Milderung gewährt zu bekommen. Eine proaktive Gnadenpraxis betrieben der Justizminister und die Geheimen Räte in Bezug auf unspezifische Gnadenbitten, bei denen lediglich generell Gnade 734 Z. B. wurden zwei Supplikationen für den in der Haft erkrankten Johann Friedrich Schlieck abgewiesen – vgl. Suppliken der Mutter vom 1. März 1786 und 27. November 1786; Dekrete über abgelehnte Gnadenbitten vom 13. Mai 1786 und 22. Januar 1787 / Fallakte Johann Friedrich Schlieck; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.053.
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erfleht wurde, ohne dass dabei Angaben bezüglich der Form oder Qualität der Milderung gemacht wurden. Kam in diesen Fällen eine Begnadigung in Betracht, so wählte der Justizminister in Abstimmung mit den Geheimen Räten zumeist eine niederschwellige Begnadigungsform wie etwa einen Aufschub bzw. eine Aussetzung der Strafe. Weitere Ausnahmen bilden einige wenige Fälle minderschwerer Vergehen, in denen die Verurteilten bzw. ihre Supplizierenden um einen gänzlichen Erlass ihrer an sich niedrigen Strafe baten: Dies konnte und wollte der Justizminister ihnen nicht gewähren, wohl aber eine Begnadigung geringen Umfangs.735 Auch im Bereich der Bitten um Milderungen geringer Qualität ignorierten der Justizminister und die Räte zuweilen die inhaltliche Zielsetzung der Gnadenbitten und wählten eine Form der Milderung, die ihnen der Situation angemessen erschien. Maßstab für eine angemessene Begnadigung bildeten die Gerichtsurteile: Es wurden zumeist nur Begnadigungen gewährt, die sich an den verhängten Strafen orientierten bzw. ein Äquivalent zum ursprünglichen Strafmaß darstellten. Die Gnadenpraxis dokumentiert, dass Gnade nicht als ius aggratiandi sondern als iusta causa aggratiandi verstanden wurde: Eine Strafmilderung wurde also nach gerechtfertigtem Grund sowie nach hinreichendem Besserungsgelöbnis und Integrationsangebot der betreffenden Person gewährt. Hintergrund für die starre Orientierung am Strafmaß ist die Vorstellung vom Gesetzesstaat, der für eine gerechte Justiz bürgen sollte. Insgesamt gesehen kann man sagen, dass die Gnadenpraxis dem Justizminister und den Räten einen relativ eng bemessenen Entscheidungsspielraum beließ, mit flexiblen Lösungsvorschlägen auf Missstände zu reagieren, obwohl ihnen theoretisch ein breites Spektrum an Begnadigungsformen zur Verfügung stand. Die an sie delegierte Zuständigkeit bei Gnadenentscheidungen bestand vornehmlich darin, über Milderungen, die als Teil der Rechtsaufsicht verstanden wurden, zu entscheiden. Die eigentliche Gnadengewalt lag beim Monarchen. Bei den immediaten Gnadenvorgängen nahm allerdings der Justizminister durch seine Voten entscheidend Einfluss auf das Gewähren oder Verwehren von Gnade. Hinter der wenig proaktiv ausgerichteten Gnadenpraxis stand vermutlich die Haltung der Obrigkeit, dass die Untertanen auf diese Weise dahingehend erzogen 735 Von der inhaltlichen Zielsetzung der Gnadenbitte wurde z. B. im Fall Christiane Ring abgerückt: Für seine Ehefrau erbat der Hutmacher Ring in seiner Supplik die gänzliche Niederschlagung der Strafe oder wenigstens die Umwandlung der achttägigen Gefängnisstrafe in eine Geldbuße [s. C.II.6.a)]. Obwohl bei der relativ kurzen Gefängnisstrafe eine Umwandlung in eine Geldbuße nicht unüblich gewesen wäre, entschied sich das Justizdepartement für eine Alternative: Es bewilligte lediglich einen Aufschub des Strafantritts, um der Ring’schen Hutfabrikation die baldige Erledigung eines Auftrags zu ermöglichen – vgl. Supplik des Ehemanns Ring vom 1. März 1793 und Gnadendekret in Form einer Resolution vom 4. März 1793 / Fallakte Christiane Ring; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. I, Paket 16.203. Auch im Fall Trips gewährte das Justizdepartement eine Begnadigung nach eigenem Ermessen – vgl. Supplik des Trips in eigener Sache vom 14. Januar 1796 und Gnadendekret in Form einer Resolution vom 18. Januar 1796 / Fallakte Invalide Trips (intus: Witwe Schultzin); in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. D, Paket 16.063.
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werden sollten, bescheidene und damit erfüllbare Gnadenbitten zu stellen und auf Gnadenbitten mit umfangreichen Begnadigungen zu verzichten. Eine solche Haltung bringt aber zugleich eine gewisse Selbstbeschränkung des obrigkeitlichen Handlungsspielraums mit sich, insofern sich dieser – mit Ausnahme von Begnadigungen geringer Qualität – weitgehend an der inhaltlichen Zielsetzung der Supplikation orientierte. b) Die begnadigten Männer und Frauen Im Verhältnis zu den insgesamt 327 angeklagten bzw. verurteilten Männern und Frauen, für die um Gnade gebeten wurde,736 macht der Anteil der 134 Begnadigten rund 41 Prozent aus. Das klingt nach einer hohen Gnadenquote. Die Zahlen spiegeln das Verhältnis jedoch nicht ganz korrekt wider: Während es sich bei den 327 Angeklagten bzw. Verurteilten um jeweils einzelne Personen handelt, befinden sich unter den 134 Begnadigten einige mehrfach gezählte Personen, soweit diese mehrere Male in den Genuss einer jeweils unterschiedlichen Form der Begnadigung kamen.737 Eingedenk dieser Problematik soll im Folgenden trotzdem von den Begnadigten die Rede sein. Unter den 134 Begnadigten waren 46 Frauen und 88 Männer; dies entspricht einem Verhältnis von rund 34,3 Prozent Frauen zu rund 65,7 Prozent Männern. Bedenkt man, dass weitaus mehr Männer als Frauen vor Gericht gezogen worden waren, so relativiert dies die Differenz erheblich: Die Angeklagten bzw. Verurteilten, für die suppliziert wurde, waren zu rund 71,6 Prozent Männer und zu rund 28,4 Prozent Frauen. Vergleicht man – eingedenk der oben dargelegten Problematik – das Geschlechterverhältnis der Angeklagten bzw. Verurteilten mit jenem der Begnadigten, so zeigt sich, dass bei der Begnadigung Männer und Frauen relativ ausgeglichen berücksichtigt wurden, wobei sich ein leichter Frauenüberhang abzeichnet.738 Im Hinblick auf die Ergebnisse der bisherigen Forschung zur Gna736 Zur Richtigstellung: Bei dieser Zahl handelt es sich nicht um alle Männer und Frauen, welche im fraglichen Untersuchungszeitraum vor Gericht gezogen wurden und deren Fälle Eingang in die Akten des Justizdepartements fanden, weil die Urteile eine königliche Bestätigung benötigten. Vielmehr handelt es sich hierbei nur um die Männer und Frauen, für die auch suppliziert wurde [s. Einleitung / Quellenauswahl]. 737 Will man die Problematik der Mehrfachzählung umgehen, so muss man sich von der Ebene der Akteure verabschieden und stattdessen eine Berechnung auf der Ebene der Handlungen aufstellen: Es handelt sich dabei um das bereits erläuterte Verhältnis der Gnadenbitten, die in Form von Suppliken und Fürsprachen vorliegen, zu den Begnadigungen: Konkret sind es 693 Gnadenbitten zu 134 Begnadigungen, dies entspricht einer Gnadenquote von 19,3 Prozent [s. C.III.1.a)]. 738 Bei den Männern ergibt sich folgendes Verhältnis: Rund 71,6 Prozent angeklagte bzw. verurteilte Männer, für die suppliziert wurde, stehen einer Quote von rund 65,7 Prozent begnadigten Männern gegenüber. Bei den Frauen sieht das Bild wie folgt aus: Rund 28,4 Prozent angeklagte bzw. verurteilte Frauen, für die suppliziert wurde, im Verhältnis zu rund 34,3 Prozent begnadigten Frauen. Daraus ergibt sich, dass rund 5,9 Prozentpunkte weniger Männer als Frauen begnadigt wurden.
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denpraxis stellt dies einen neuartigen Befund dar: Während Richard van Dülmen behauptet, dass unter den Begnadigten generell mehr Frauen als Männer waren, errechnet Steffen Wernicke einen weiblichen Anteil an den Urfehden in Regensburg des 14. bis 17. Jahrhunderts von rund 12,4 Prozent, und Karl Härter macht die Beobachtung, dass weitaus mehr arbeitsfähige Familienväter begnadigt wurden.739 Die disparaten Ergebnisse zeigen einmal mehr, dass bei der Untersuchung von Herrschaft im Ancien Régime Generalisierungen problematisch sind, da stets der territoriale und zeitliche Bezug zu berücksichtigen ist. Der sich aus der Berechnung des oben dargelegten Verhältnisses ergebende Frauenüberhang erklärt sich unter anderem durch den Umgang der Obrigkeit mit dem Delikt Kindsmord bzw. mit dem Verdacht auf Kindsmord. Das Delikt ist bereits geschlechterspezifisch definiert, da es die Tötung eines Neugeborenen durch die Gebärende voraussetzte. Hinzu kommt, dass sich relativ viele Frauen wegen eines Verdachts auf Homicidia vor Gericht zu verantworten hatten, da eine Totgeburt sie sogleich des Kindsmordes verdächtig machte, wenn sie Schwangerschaft und Geburt verheimlicht hatten. So kommt es, dass bei der Deliktgruppe Homicidia die Anzahl der Frauen sogar die der Männer übersteigt: Konkret sind es 19 angeklagte bzw. verurteilte Frauen und 15 angeklagte bzw. verurteilte Männer.740 Aufgrund eines Grundsatzes der Gnadenpraxis sollten die wegen Totschlag verurteilten Frauen nun verstärkt von der Gnade profitieren: Da das ALR Kindsmord bzw. Kindsmordverdacht milder bestrafte als die bisher gültigen Gesetze, sollten die ursprünglich ergangenen Urteile der Delinquentinnen im Wege der Gnade an die neue Strafpraxis angepasst werden [s. C.I.2.c)]. In der Folge wurde in 13 Fällen mit dieser Begründung eine Begnadigung gewährt. Hinzu kommen weitere vier Fälle, in denen den wegen Kindsmordes überführten und zum Tode verurteilten Delinquentinnen das Leben geschenkt wurde, so dass insgesamt 17 Frauen begnadigt wurden, die wegen Kindsmordes bzw. Kindsmordverdachtes verurteilt worden waren.741 So gesehen lieferte das Delikt in mehrfacher Hinsicht einen geschlechterspezifischen Grund für Begnadigungen von Frauen: zum einen die ausgeprägte Neigung der obrigkeitlichen Akteure, die wegen Kindsmordes zum Tode Verurteilten zu begnadigen und zum anderen die geänderte Strafpraxis zur Loßlassung der lebenslänglich Verurteilten (zehn begnadigte Frauen zu drei begnadigten Männern) und zur Begnadigung von der Todesstrafe (sechs begnadigte Frauen zu vier begnaVgl. van Dülmen 1988, S. 45; vgl. Wernicke 2000, S. 402; vgl. Härter 2005, S. 267. Eine große Unbekannte bleibt hier unberücksichtigt, nämlich die Grundgesamtheit der angeklagten bzw. verurteilten Männer und Frauen. Da die hier genannten Zahlen lediglich die Fälle an Gewaltverbrechen berücksichtigen, in denen für die Angeklagten bzw. Verurteilten Supplikationen oder Fürsprachen eingereicht wurden, kann nicht ausgeschlossen werden, dass im Verhältnis wesentlich häufiger für Frauen als für Männer, die sich vor Gericht für ein Gewaltverbrechen verantworten mussten, um Gnade gebeten wurde. 741 Unter den 17 Gnadenakten sind zwei Frauen, die zweimal in den Genuss einer Begnadigung gekommen sind: Zuerst wurde ihnen das Leben geschenkt und ihnen stattdessen eine lebenslange Zuchthausstrafe auferlegt; Jahre später wurden sie aus dem Zuchthaus entlassen. 739 740
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digten Männern). Der Befund erklärt darüber hinaus auch den relativen Frauenüberhang bei den Gnadenakten im Verhältnis zum Frauenanteil an den Angeklagten bzw. Verurteilten insgesamt. Der Umgang mit Kindsmord bzw. Kindsmordverdacht hatte auch Auswirkungen auf die Gnadenpraxis in Bezug auf Fürsprachen: Auf Initiative aus dem Justizapparat wurden Delinquentinnen rund dreimal häufiger als Männer begnadigt (16 begnadigte Frauen zu fünf begnadigten Männern). Die obrigkeitlichen Akteure waren offenbar geneigt, in besonderem Maße Frauen als gnadenwürdig anzusehen. Sie setzten sich vorwiegend für Frauen ein, die ledig, verwitwet oder Ehefrauen waren, welche im Streit mit ihren Ehemännern lagen. Es liegt die Annahme nahe, dass sich die Obrigkeit in einer paternalistischen Fürsorgepflicht gegenüber Frauen sah, die ihre Interessen nicht durch einen Geschlechtsvormund ihres Vertrauens vertreten lassen konnten. Befragt man die unterschiedlichen Begnadigungsformen auf das Geschlechterverhältnis, so fällt beispielsweise auf, dass diese allein bei der Beschleunigung des Verfahrens (eine begnadigte Frau zu einem Mann) und beim gänzlichen Straferlass (fünf begnadigte Frauen zu sechs Männern) relativ ausgeglichen ist. In der Tat lassen sich bei den angeführten Gründen für die Begnadigungen keine geschlechtsspezifischen Begründungen ausmachen742 – mit einer Ausnahme.743 Was die Verfahrensbeschleunigung angeht, so ist anzunehmen, dass die Geschlechtszugehörigkeit der zu begnadigenden Person eine marginale Rolle spielte: Zahlreiche Verordnungen zur effizienteren Bearbeitung von Prozessen belegen, dass es ohnehin im Interesse des Justizdepartements in seiner Funktion als Rechtsaufsicht lag, die Gerichte dazu anzuhalten, anliegende Verfahren zügig zu beenden. Da es sich bei den beiden Begnadigungsformen um relative Randerscheinungen744 in der Gnadenpraxis handelt, ist es bei einer solch geringen Fallzahl schwierig, ein Muster im obrigkeitlichen Handeln zu entdecken. Daher wird auch von Begnadigungsformen, die in der Gnadenpraxis ebenso rar vertreten sind, diesbezüglich wenig Aufschlussreiches erwartet, so dass im Folgenden auf eine nähere Untersuchung der Randerscheinungen verzichtet wird.745 742 Beim Verzicht auf Bestrafung wurden die Gründe – wie beispielsweise der Mangel an Beweisen, Fahrlässigkeit bei fehlendem Vorsatz oder ein kritischer Gesundheitszustand – sowohl bei Männern als auch bei Frauen anerkannt [s. C.II.1.c) – e)]. 743 Einer verurteilten Frau wurde eine angebliche geistige Minderbemittelung zugute gehalten, weshalb sie das Gericht im Grunde für unschuldig hielt und sie allenfalls der Fahrlässigkeit für schuldig befand. Hinter dieser Einschätzung verbirgt sich der Topos der unwissenden, beschränkten Frau – ein Bild, dessen Entstehen die Angeklagte durch ihr strategisches Auftreten vermutlich selbst provoziert und bewusst inszeniert hatte. 744 So macht der Verzicht auf Bestrafung nur einen Anteil von rund 8,2 Prozent aus und die Beschleunigung des Verfahrens einen Anteil von rund 1,5 Prozent im Verhältnis zu den insg. 134 Gnadenakten [s. C.II.1., C.II.7.d)]. 745 Eher selten wurde auf Begnadigungsformen zurückgegriffen, die hier unter sonstige Strafmilderungen und Verfahrenserleichterungen abgehandelt werden [s. C.II.7.]: Konkret handelt es sich um die Aufhebung der Landesverweisung (zwei begnadigte Männer), um die
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Sucht man eine Erklärung für die starke Präsenz von Männern unter den Begnadigten in absoluten Zahlen (88 Männer zu 46 Frauen), so ist diese bei Formen der Begnadigung zu suchen, die einen deutlichen Männerüberhang zu verzeichnen haben: Männer kamen zu rund 62,5 Prozent in den Genuss eines Aufschubs des Strafantritts bzw. einer Aussetzung der Strafe oder aber einer Strafumwandlung. Die Begnadigungen wurden dabei überwiegend mit dem Wirtschaftsargument begründet: Konkret wurden rund 83,3 Prozent der Begnadigungen in Form eines Aufschubs bzw. einer Aussetzung der Strafe damit begründet, dass mit dieser Maßnahme die Wirtschaft der verurteilten Person und ihrer Familie vor dem Niedergang bewahrt werden sollte [s. C.II.6.a)]. Bei einigen verurteilten Frauen akzeptierten zwar die obrigkeitlichen Akteure das Argument, dass ihre Präsenz in der jeweiligen Wirtschaft notwendig war, um das Auskommen der Familie zu sichern. Dass es sich hierbei eher um Ausnahmen handelt, wussten offenbar auch die Untertanen, denn in diesen Fällen beschrieben sie detailliert die Arbeitsteilung in ihrer Wirtschaft, um ihre Gnadenbitte zu untermauern. Überwiegend waren es Männer – vor allem Bauern und Meister –, mit deren Abwesenheit der bereits eingetretene oder drohende Ruin der Wirtschaft begründet wurde. Die Gnadenpraxis belegt, dass die obrigkeitlichen Akteure die Argumente der Supplizierenden, welche auf die Rolle des Mannes als Ernährers abhoben, für die Begründung einer Begnadigung übernahmen. Der in der Wirtschaft allein zurückgelassenen Ehefrau wurde hingegen die Rolle der hilflosen Frau zugedacht, welche ihr eine günstige Position verschaffte, um als unschuldig Mitbetroffene zu supplizieren. Begnadigungen, die mit dem Erhalt der Wirtschaft gerechtfertigt wurden, liegt eine geschlechterspezifische Argumentation zugrunde, welche weitaus eher Männern als Frauen eine Begnadigung ermöglichte. Für verurteilte Frauen eignete sich hingegen eine andere Begründung: die Versorgung der Kinder. Mit diesem Argument wurde Frauen ein Aufschub des Strafantritts bzw. eine Aussetzung der Strafe gewährt, damit sie jenseits der Gefängnismauern gebären und sich um ihre Kinder kümmern konnten. Das Argument war aber nicht besonders erfolgreich, denn die obrigkeitlichen Akteure gestanden nur vier Frauen eine so begründete Begnadigung zu [s. C.II.6.b)]. Auch bei Umwandlungen der Strafe in eine andere Strafform ist ein deutlich höherer Männeranteil zu konstatieren: Alle Varianten der Strafumwandlung zusammengenommen ergeben 24 Begnadigungen von Männern im Vergleich zu acht Begnadigungen von Frauen.746 Häufiger als andere Varianten der Umwandlung wurde die Begnadigung von einer Festungs- bzw. Zuchthausstrafe in eine GefängEntlassung aus dem Arbeitshaus (zwei begnadigte Männer) und die Niederschlagung der Kosten (drei begnadigte Männer). 746 Im Einzelnen: Von der Umwandlung einer Festungs- bzw. Zuchthausstrafe in eine Gefängnisstrafe profitierten 13 Männer und sechs Frauen. Außerdem erhielten Männer siebenmal häufiger eine Gefängnisstrafe in eine Geldbuße umgewandelt (sieben begnadigte Männer zu einer begnadigten Frau). Bei den wenigen anderweitigen Strafumwandlungen waren unter den Begnadigten vier Männer und eine Frau.
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nisstrafe gewährt: Über doppelt so viele verurteilte Männer wie Frauen erhielten diese Vergünstigung (13 begnadigte Männer zu sechs begnadigten Frauen). Ein Grund hierfür ist sicherlich, dass die den Männern vorbehaltene Festungshaft offiziell ehrenrührig war, während ein den Frauen vorbehaltener Zuchthausaufenthalt die Ehre zumindest offiziell nicht verletzen sollte – gleichwohl belegen zahlreiche Suppliken, dass die Bevölkerung auch von Zuchthäuslerinnen keine gute Meinung hatte.747 Die Strafumwandlung in eine Gefängnisstrafe verhinderte also bei Männern die drohende Ehrverletzung im Falle eines Festungsaufenthalts. Eine solche Begnadigung war vor allem für die beruflichen Aussichten von Männern im Handwerk, wo ein ausgeprägter Ehrkodex gepflegt wurde, von großer Bedeutung. Gaben es die gnadenwürdigen Umstände her, so waren die obrigkeitlichen Akteure durchaus bereit, auf diese Befindlichkeit Rücksicht zu nehmen. Die Festungsstrafe bot einen weiteren Anlass für eine Umwandlung in eine Gefängnisstrafe: Die obrigkeitlichen Akteure hofften, dadurch in einzelnen Fällen die moralische Besserung der Verurteilten zu befördern. Denn der Festung eilte der Ruf voraus, dass die Insassen durch den Umgang mit Schwerkriminellen moralisch verdorben und daher häufig rückfällig würden. Vor allem jungen Burschen, deren Vergehen aus obrigkeitlicher Sicht auf jugendlichen Leichtsinn zurückzuführen waren, sollte mit der Strafumwandlung noch eine Chance gegeben werden – vorausgesetzt der Vater, der Brot- und Lehrherr oder der Gutsherr verbürgten sich, den Betreffenden nach seiner Entlassung durch ein strenges Regiment wieder auf den rechten Weg zu bringen. Das Zuchthaus stand dagegen nicht in einem mit der Festung vergleichbaren Ruf und so wurde auch keine verurteilte Frau mit diesem Argument begnadigt. Eine Umwandlung in eine Gefängnisstrafe erlangten Frauen vielmehr durch einen anderen Grund: die Versorgung von Säuglingen. Handelte es sich bei den Verurteilten um stillende Mütter, so war das Gefängnis die einzige Strafvollzugsanstalt, in die Säuglinge mitgenommen werden durften. Dass Männer bei der Begnadigung in Form von Umwandlungen tendenziell bevorzugt wurden, lag aber auch an einer Begründung, mit der sowohl der Wechsel der Strafvollzugsanstalt als auch die Umwandlung einer Haftstrafe in eine Geldbuße gerechtfertigt wurde: Wie schon beim Aufschub des Strafantritts bzw. bei der Aussetzung der Strafe war der Erhalt der Wirtschaft ein zentrales Argument auch für diese Form der Begnadigung. Anders als die Festungshaft mit Zwangsarbeit bot das Gefängnis die Möglichkeit, seinem Broterwerb nachzugehen: Entweder konnte man in der Haft auf eigene Rechnung arbeiten oder man erbat sich einen regelmäßigen Ausgang, um in seiner Wirtschaft nach dem Rechten zu sehen – die Aussichten, eine solche Milderung zu erhalten, waren recht gut [s. o.]. Die Wirtschaft vor dem Ruin zu bewahren, das traute man offenbar nur den Bauern sowie 747 So stützt sich die Supplikation des Vaters der Verurteilten auf den mit der Zuchthausstrafe verbundenen Ehrverlust für die Familie – und er hatte ausnahmsweise Erfolg damit – vgl. Fallakte Auguste Friederike Charlotte Hanses; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.179.
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den Gewerbe- und den Handeltreibenden selbst zu und dies waren in der Regel Männer, nur in wenigen Fällen war es eine Frau, dann zumeist die Witwe des vormaligen Meisters, welche die Wirtschaft weiterführte. Bei der Begnadigung in Form einer Geldbuße fällt auf, dass – mit Ausnahme einer Witwe, die ihrem Haushalt selbst vorstand – allein die Vergehen der Hausväter pekuniär vergolten wurden, während die ebenfalls zu Gefängnisstrafen verurteilten Frauen den Arrest in der Regel absaßen. Auch hieran zeigt sich, dass die Präsenz der Männer in ihrer Wirtschaft als gewichtiger eingeschätzt wurde als die der Frauen. Dies war nicht nur die Haltung der obrigkeitlichen Akteure, sondern auch die der Supplizierenden, die eine Umwandlung von einer Haft in eine Geldbuße in der Regel nur für männliche Angehörige erbaten. Nicht selten trugen die Betroffenen selbst diese Gnadenbitte vor: Während die Geldbuße Männern auf Supplikation in eigener Sache hin in sieben Fällen bewilligt wurde, gab es einen einzigen Fall einer Supplikantin in eigener Sache, eine Witwe, die keinen Fürsprecher hatte, und die für ihren Lebensunterhalt selbst aufkam. Aus dieser Gnadenpraxis leitet sich ab, dass dem Hausvater – und nicht der Hausmutter – zugestanden wurde, über das Vermögen der Wirtschaft verfügen zu können. Das Supplikationsverhalten entspricht dem, denn die betroffenen Familien waren zu einer solchen Ausgabe offenbar nur dann bereit, wenn damit der Ernährer aus der Haft ausgelöst werden konnte. Auch bei der Strafverkürzung wurden Männer bevorzugt: 12 Männer im Vergleich zu fünf Frauen wurden auf diese Weise begnadigt. Der Befund erklärt sich auch hier durch das Wirtschaftsargument. Darüber hinaus wurden indes keine geschlechtsspezifischen Begründungen angeführt. Die Strafverkürzung stellte die typische Begnadigung für Delinquenten dar, deren Fall Anlass zu einer relativ weit reichenden Milderung gab. Im Vergleich zu den Männern gab es längst nicht so viele Delinquentinnen, die eine so lange Haftstrafe abbüßen mussten, dass eine Strafverkürzung hätte in Betracht gezogen werden können. Lässt man die unterschiedlich starke Präsenz von Männern und Frauen unter den Begnadigten beiseite, so fällt ein weiterer Unterschied auf: Begnadigte Männer waren zu rund 76,2 Prozent Ehemänner (67 begnadigte Ehemänner), die zum Beispiel Meister, Bauern, aber auch Tagelöhner und Akademiker waren, während ledige Burschen unter den Begnadigten nur zu rund 23,8 Prozent (21 begnadigte ledige Männer) vertreten waren.748 Bei Begnadigungen wurde ein Mann offensichtlich in erster Linie in seiner Rolle als Ernährer wahrgenommen.749 748 Wie schon beim Frauenanteil, so gilt auch hier, dass dieser Befund ohne Kenntnis der Grundgesamtheit der insgesamt angeklagten bzw. verurteilten Männer nur eingeschränkt Gültigkeit hat. 749 Diese Feststellung muss allerdings relativiert werden, denn es ist durchaus möglich, dass für verurteilte Männer, die als Meister, Bauern etc. einem großen Haus vorstanden und somit in besonderer sozialer Verantwortung standen, überproportional häufig suppliziert wurde bzw. dass sie in eigener Sache vorsprachen.
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Bei Frauen hingegen verkehrt sich das Bild geradezu in sein Gegenteil: Die begnadigten Frauen waren zu rund 52,2 Prozent ledig (24 begnadigte Ledige) und zu rund 13 Prozent verwitwet (sechs begnadigte Witwen), die übrigen rund 34,8 Prozent waren verheiratet (16 begnadigte Ehefrauen). Der Befund legt die Annahme nahe, dass Frauen, die keinen Ehemann als Geschlechtsvormund hatten, nicht nur als schutzbedürftig, sondern in einem besonderen Maße auch als gnadenwürdig angesehen wurden – immerhin machten sie rund 65,2 Prozent der begnadigten Frauen aus.750 Damit setzt sich der Trend, der bereits bei den Fürsprachen aus dem Justizapparat zu beobachten ist [s. o.], in der Gnadenpraxis fort. Dafür spricht auch die Tatsache, dass das Witwen- und Waisenargument in den Suppliken stark vertreten ist [s. B.I.1. – 10.]. Eine Gnadenpraxis, bei der Ledige und Witwen eine erhöhte Chance hatten, begnadigt zu werden, ließ sich durchaus mit dem Herrscherauftrag rechtfertigen: Denn die Obrigkeit stand in einer Fürsorgepflicht gegenüber Witwen und Waisen, also schutzbedürftigen Frauen und Kindern, die ohne Familienverband und damit ohne Geschlechtsvormund waren. Es ist anzunehmen, dass sich der Topos der schutzbedürftigen Frau nicht nur bei den supplizierenden Untertaninnen großer Beliebtheit erfreute [s. C.III.3.c)], weil sie sich von ihm eine große Wirkung im Hinblick auf die Bewilligung einer Begnadigung versprachen, sondern dass der Topos bei den obrigkeitlichen Akteuren tatsächlich eine größere Bereitschaft hervorrief, Milde walten zu lassen. Männer hingegen wurden aufgrund ihrer Rolle als Ernährer bei Begnadigungen begünstigt, die primär mit dem Wirtschaftsargument gerechtfertigt wurden.751 Der Hausvater in seiner Verantwortung für das Auskommen seiner Familie galt der Obrigkeit als Garant seines Gewerbes, Handels oder Hofes. Aus obrigkeitlicher Sicht erscheint es plausibel, dass man ihm eine Milderung der Strafe gewährte, damit er seine Wirtschaft vor dem Ruin bewahren konnte. Verbanden die Supplizierenden das Wirtschaftsargument mit der Bitte um eine Begnadigung geringen Umfangs,752 so bot sich ihnen in gewisser Weise die Möglichkeit, die Strafe mit den obrigkeitlichen Akteuren auszuhandeln. Für die Annahme, dass es sich bei einigen dieser Gnadenvorgänge um Formen des Aushandelns von Strafe handelt, spricht, dass die Fürsprachen753 hier eine eher geringe Rolle spielten, während die Supplikationen 750 Die Hypothese kann nicht in letzter Konsequenz belegt werden, da dafür die Zahlen der begnadigten Frauen mit ihrem jeweiligen sozialen Status mit jenen der insgesamt angeklagten bzw. verurteilten Frauen – also auch der Frauen, für die nicht suppliziert wurde – verglichen werden müssten, was allerdings über die hier getroffene Quellenauswahl hinausgeht. Auch ist nicht bekannt, wie hoch der Anteil der Ledigen und Witwen an der weiblichen Bevölkerung im Untersuchungsgebiet insgesamt war. 751 Konkret betrifft dies den Aufschub bzw. die Aussetzung der Strafe und an zweiter Stelle die Strafumwandlungen: Insgesamt profitierten 51 Männer, aber nur 18 Frauen von einer solchen Milderung. 752 Am größten war die Chance, einen Aufschub bzw. eine Aussetzung der Strafe zu erhalten (insg. 42 Begnadigte), an zweiter Stelle stand die Umwandlung von einer Festungs- bzw. Zuchthausstrafe in eine Gefängnishaft (insg. 19 Begnadigte) und an dritter Stelle folgte die Umwandlung von einer Gefängnisstrafe in eine Geldbuße (insg. acht Begnadigte).
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(64 gewährte Supplikationen) hier den Ausschlag gaben. Dabei wurden die Suppliken größtenteils von Männern aufgesetzt (46 Supplikanten zu 18 Supplikantinnen). Der Grund für den hohen Männeranteil unter den Supplizierenden liegt im rechtlichen Status begründet: Anders als man es ihren Ehefrauen zustand, vertraten die Männer die Interessen ihres Hauses nach außen, insbesondere gegenüber der Obrigkeit. c) Die Supplikanten und Supplikantinnen der Begnadigten Bei den Anteilen, die Männern und Frauen bei den erfolgreichen Supplikationen stellen, ist ebenfalls eine deutliche Differenz auszumachen: In dem Untersuchungszeitraum wurde 78 Gnadenbitten von Supplikanten und 33 Gnadenbitten von Supplikantinnen stattgegeben.754 Dies entspricht einem Verhältnis von rund 70,3 Prozent Männern zu rund 29,7 Prozent Frauen, die beim Supplizieren Erfolg hatten. Die Differenz erscheint eklatant, sie muss jedoch im Hinblick auf die Gesamtzahl an Supplikanten und Supplikantinnen relativiert werden: Von den 665 Gnadenbitten wurden 400 von Männern und 265 von Frauen vorgebracht [s. B.II.1.d)]. Das Verhältnis liegt also hier bei rund 60,2 Prozent Supplikanten zu rund 39,8 Prozent Supplikantinnen. Da demnach weitaus mehr Männer als Frauen supplizierten, erklärt dies folgerichtig auch den höheren Männeranteil an erfolgreichen Gnadenbitten. Setzt man die insgesamt eingereichten Supplikationen von Männern (400 Gnadenbitten) mit den daraufhin gewährten Begnadigungen (78 Gnadenakte) in ein Verhältnis, so ergibt dies eine Gnadenquote von rund 19,5 Prozent; bei den Supplikantinnen liegt sie mit rund 12,5 Prozent etwas darunter. Folglich wurden Supplikationen von Männern tendenziell eher positiv beschieden. Daraus darf allerdings nicht sogleich geschlossen werden, dass die Gnadenbitte einer Supplikantin abgeschlagen wurde, weil sie eine Frau war, und dass jene eines Supplikanten deshalb gewährt wurde, weil ein Mann sie vortrug – dies würde der Bedeutung, welche der Tat, den Tatumständen und der verurteilten Person bei der Gnadenentscheidung zukam, nicht gerecht. Darüber hinaus muss der Befund dahingehend relativiert werden, dass unter die Supplikationen von Männern auch die Gnadenbitten der lokalen Obrigkeit und der Militärkommandeure fallen, denen in der Gnadenpraxis eine besondere Rolle zu753 Auf Fürsprachen gingen vor allem die umfassendsten Milderungen wie die Begnadigung der Todesstrafe (7 Fälle nebst 2 mutmaßlichen Fällen) und die Loßlassung lebenslänglich Verurteilter (6 Fälle) zurück. 754 Richtet man das Augenmerk auf die Männer und Frauen, die mit ihren Supplikationen dafür gesorgt haben, dass in den Fällen begnadigt wurde, so müssen von den 134 Gnadenakten die 21 Gnadenakte (plus zwei weitere Begnadigungen) abgezogen werden, die (vermutlich) auf Fürsprachen aus dem Justizapparat zurückgehen. Für diesen Aspekt besteht die Quellengrundlage folglich aus 111 Gnadenfällen, in denen Supplikationen zu den Gnadenakten geführt haben.
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kam: Von den insgesamt eingereichten 24 Supplikationen lokalobrigkeitlicher Provenienz wurden immerhin 15 gewährt, was einer überdurchschnittlich hohen Gnadenquote von rund 62,5 Prozent entspricht, wenngleich diese noch nicht an die Gnadenquote von rund 75 Prozent bei Fürsprachen aus dem Justizapparat heranreicht [s. C.III.1.a)]. Da es sowohl für die Gutsherren und Landräte als auch für die Militärkommandeure wichtig war, dass sich ihre Untergebenen gehorsam und loyal verhielten, waren die obrigkeitlichen Sanktionen bei deviantem Verhalten im Prinzip in ihrem Sinne – solange dies ihrem eigenen Interesse nicht zuwiderlief. Während sich das Interesse der lokalen Obrigkeit an der Höhe der Abgaben bemisst, war das Militär an einer guten physischen Konstitution der Soldaten interessiert. Kollidierte die Bestrafung mit der eigenen Interessenlage, dann stellte die Supplikation das Mittel der Wahl dar, mit dem die Bestrafung der Untertanen derart modifiziert werden konnte, dass die Interessen allesamt gewahrt blieben. Bei den erbetenen Formen von Begnadigung handelte es sich durchweg um solche, die das Strafmaß formal nicht tangierten,755 was folglich dem Gnadenträger kein allzu großes Zugeständnis abverlangte. Der Landesherr und die Zentralbehörden hatten wiederum ein Interesse daran, auf der Ebene der lokalen Obrigkeit und des Militärs durch loyale Untergebene vertreten zu werden, die beispielsweise dafür sorgten, landesherrliche Weisungen auf der untersten Herrschaftsebene durchzusetzen. So ist anzunehmen, dass die obrigkeitlichen Akteure den Interessen der lokalen Obrigkeit und des Militärs bereitwillig entgegenkamen, weil es für sie auch um die Absicherung ihrer eigenen Machtposition ging. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum den Supplikationen dieser Provenienz eine hohe Chance auf Begnadigung innewohnte. Mit Ausnahme der Supplikationen der lokalen Obrigkeit und des Militärs sowie einiger hochgestellter Persönlichkeiten wie Diplomaten oder Angehörigen der Hohenzollern, darf der Einfluss, den die supplizierenden Untertanen und Untertaninnen auf den Ausgang ihrer Supplikation hatten, allerdings nicht überschätzt werden. Die Untersuchung der obrigkeitlichen Gnadenentscheidung hat gezeigt [s. C.I.2., C.II.1. – 7.], dass häufig die Überzeugungskraft der in der Supplik vorgebrachten Argumente den Ausschlag für eine Begnadigung gab. Für den Ausgang einer Gnadenprüfung war es eher sekundär, ob ein Mann oder eine Frau die Gnadenbitte vorbrachte, wenn man ausschließlich die Supplikationen der gemeinen Untertanen betrachtet. Die Differenz zwischen dem Männer- und dem Frauenanteil unter den Supplizierenden sagt weniger etwas über die Erfolgschancen einer Gnadenbitte aus, als vielmehr über das Rollenverständnis der Supplizierenden. So spiegeln sich die geschlechterspezifischen Rollenbilder des Ernährers und der schutzbedürftigen 755 Die Gnadenbitten beschränkten sich – mit einer Ausnahme – auf den Strafaufschub bzw. die Aussetzung der Strafe (neun gewährte Gnadenbitten), die Umwandlung von Festungsstrafe in Gefängnisstrafe (drei gewährte Gnadenbitten) und die Umwandlung einer zivilen in eine militärische Strafe (zwei gewährte Gnadenbitten).
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Frau auch bei den Supplizierenden wider: Entsprechend dem Rollenbild des agierenden Mannes, der seine eigenen Interessen vertritt, wurden die positiv beschiedenen Supplikationen in eigener Sache fast viermal so häufig von Männern (38 gewährte Gnadenbitten) wie von Frauen (10 gewährte Gnadenbitten) verfasst. Frauen vertraten ihre eigenen Interessen gegenüber der Obrigkeit meist nur dann, wenn sie keine geeigneten Fürsprecher finden konnten – etwa weil sie verwitwet oder ledig waren und daher keine Unterstützung von Seiten ihrer Familien oder Brotherrschaften erfuhren. Männer konnten dagegen als Anwalt in eigener Sache auftreten, vorausgesetzt, sie waren mündig und keine Lehrburschen mehr. Für letztere trat in der Regel der Vater [neun gewährte Gnadenbitten; s. B.I.3.] oder der Brotherr [eine gewährte Gnadenbitte; s. B.I.7.] in seiner Funktion als Vormund ein. Ehemänner hingegen sind – wie schon bei den Gnadenbitten insgesamt [s. B.I.2.] – bei den gewährten Gnadenbitten kaum vertreten (drei gewährte Gnadenbitten), obgleich der Ehemann Geschlechtsvormund seiner Ehefrau war. Es ist anzunehmen, dass es den Status als rechtschaffener Hausvater diskreditierte, wenn die Ehefrau mit dem Gesetz in Konflikt geriet, so dass Ehemänner von Supplikationen Abstand nahmen. Anders dagegen bei den Frauen: Neben den Supplikationen in eigener Sache hatten Supplikantinnen am häufigsten als Ehefrauen (15 gewährte Gnadenbitten) und als Mütter (sechs gewährte Gnadenbitten) Erfolg. In ihren Suppliken nahmen sie dezidiert eine Position der Schwäche ein, und verfolgten die Strategie, sich als unschuldige Opfer der Notlage zu präsentieren, welche durch Verurteilung und Verhaftung ihrer Ehemänner bzw. Söhne ausgelöst worden war. Kurz: Frauen konstruierten sich als Supplikantinnen gemäß dem Topos der schutzbedürftigen Frau. Die Strategie, die Opferrolle einzunehmen, war bei den Supplikationen von Männern hingegen nicht so ausgeprägt, wenngleich sie auch dort vorkam. Männer argumentierten dagegen häufig aus einer Position der Stärke in Bezug auf die verurteilte Person: In ihrer Rolle als Vormund oder als Gutsherr und Landrat machten sie gegenüber der Obrigkeit aus strategischen Gründen deutlich, dass sie nach der Entlassung des Delinquenten Einfluss auf die verurteilte Person nehmen, deren Reintegrationsprozess begleiten und für deren künftigen Lebenswandel bürgen würden. Männer hingegen konstruierten sich als Supplikanten gemäß der Rolle als verantwortungsbewusster Vormund und Ernährer. Bei den Supplizierenden, deren Gnadenbitten am häufigsten positiv beschieden wurden, handelt es sich um die Personen, deren Betroffenheit vom Niedergang einer Wirtschaft, von der Verwahrlosung der Kinder oder vom Ehrverlust am größten war – und dies gilt für Supplikationen von Männern wie von Frauen: Es waren die Verurteilten selbst (insg. 48 gewährte Gnadenbitten), die Eheleute (insg. 18 gewährte Gnadenbitten), die Eltern (insg. 15 gewährte Gnadenbitten) und die lokale Obrigkeit zusammen mit dem Militär (insg. 15 gewährte Gnadenbitten). Dies erklärt die starke Motivation der Supplizierenden und somit auch die hohe Anzahl der Supplikationen aus den genannten Personengruppen [s. B.I.1. – 3.]. Zugleich wird deutlich, dass die obrigkeitlichen Akteure in eben diesen supplizierenden Untertanen und Untertaninnen die unmittelbar bzw. mittelbar Betroffenen erblick-
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ten, welche die jeweilige Situation der Wirtschaft, das Auskommen der Familie und die Versorgung der einzelnen Familienmitglieder beurteilen konnten. Während die Darstellungen der gemeinen Supplizierenden den mit der Gnadenprüfung beauftragten Stellen allerdings als überprüfungswürdig galten, schenkte man den Ausführungen der Vertreter der lokalen Obrigkeit und des Militärs auch so Glauben. Abschließend sollen die Gnadenquoten der Supplikantengruppen, deren Bitten am häufigsten Erfolg hatten, näher betrachtet werden. Diese ergeben sich aus dem Verhältnis zwischen den Supplizierenden einer Gruppe insgesamt und dem Anteil derer, bei denen die Gnadenbitte Erfolg hatte. Bei den Männern zeichnet sich dabei folgendes Bild ab:756 Die Gnadenquote bei angeklagten bzw. verurteilten Männern, die in eigener Sache supplizierten, lag bei rund 18,1 Prozent. Es folgen die Väter mit rund 12,2 Prozent und die Ehemänner mit rund 7,3 Prozent.757 Die Zahlen über die erfolgreichen Supplikanten entsprechen somit in etwa den Ergebnissen bezüglich der Supplikation von Männern insgesamt [s. B.I.1. – 3., B.II.1.d)]. Die Gnadenpraxis zeigt, dass das Kalkül der Supplikanten aufging: Auch die obrigkeitlichen Akteure gestanden den angeklagten bzw. verurteilten Männern, den Vätern, aber auch den Ehemännern zu, plausible Gründe für eine Begnadigung zu haben. Es handelte sich dabei durchweg um Männer, die nach dem damaligen gesellschaftlichen Verständnis mündig und selbständig waren und größtenteils als Ernährer einem Haus vorstanden. Betrachtet man die Gnadenquoten der Supplikantinnen, so fällt auf, dass sich dabei dieselbe Reihenfolge ergibt, wie bei den Supplikanten: Auch bei den Frauen, die in eigener Sache suppliziert hatten, liegt die Gnadenquote mit rund 22,7 Prozent deutlich höher; mit großem Abstand folgt an zweiter Stelle die Gnadenquote von Müttern mit rund 12,2 Prozent und an dritter Stelle stehen die Ehefrauen mit einer Gnadenquote von rund 10,4 Prozent.758 Berücksichtigt man dabei hierbei die 756 Bei den Männern lag die Gnadenquote mit rund 40 Prozent bei Supplikationen von Nachbarn bzw. aus dem Arbeitsumfeld (vier gewährte von insg. zehn Gnadenbitten) am höchsten, gefolgt von rund 35,7 Prozent bei Supplikationen von Anverwandten (fünf gewährte von insg. 14 Gnadenbitten). Allerdings sind die Ergebnisse aufgrund der geringen Fallmenge als problematisch anzusehen und können daher nicht berücksichtigt werden. Das bereitwillige Entgegenkommen der obrigkeitlichen Akteure in diesen Fällen erklärt sich ein Stück weit durch die fallspezifischen Bedingungen: Sowohl die Nachbarn als auch die Anverwandten konnten den obrigkeitlichen Akteuren in diesen Fällen offenbar glaubhaft versichern, dass sie für den moralisch einwandfreien Lebenswandel der verurteilten Person in Zukunft bürgen könnten. 757 Konkret: Bei den angeklagten bzw. verurteilten Männern, die in eigener Sache supplizierten, beläuft sich die Quote auf insg. 210 Gnadenbitten im Verhältnis zu 38 Begnadigungen. Väter haben für ihre Kinder 74 Gnadenbitten eingereicht, von denen neun gewährt wurden. Ehemänner setzten sich nur 41 Mal für ihre Ehefrauen ein, davon hatten nur drei Gnadenbitten Erfolg. 758 Konkret: Es verwendten sich insg. 144 Ehefrauen für ihre angeklagten bzw. verurteilten Männer, davon wurden 15 Gnadenbitten bewilligt. Mit großem Abstand folgen die Müt-
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C. Obrigkeitliche Handlungsmuster
Ausgangszahlen – also die Gesamtzahl der Bittstellerinnen einer Supplikantengruppe – so muss man feststellen, dass sich bei der Gnadenquote – anders als bei den Männern – die Reihenfolge der am häufigsten agierenden Supplikantinnen umkehrt hat: Es gab ungleich mehr Ehefrauen (insg. 144 Gnadenbitten) als andere Supplikantinnen, die auf eine Begnadigung hofften, diese wurde ihnen indes nicht allzu häufig gewährt (rund 10,4 Prozent). Und es gab ungleich weniger angeklagte bzw. verurteilte Frauen, die um Gnade baten (insg. 44 Gnadenbitten). Diesen Bitten in eigener Sache wurde aber im Vergleich zu den anderen Konstellationen am häufigsten entsprochen (rund 22,7 Prozent). Die obrigkeitlichen Akteure nahmen die Anliegen angeklagter bzw. verurteilter Frauen folglich auch dann ernst, wenn sie in eigener Sache supplizierten. Sie zeigten sich sogar wohlwollender, als es die angeklagten bzw. verurteilten Frauen offenbar annahmen, denn sonst hätten sie vermutlich häufiger suppliziert. Mit Blick auf die Gnadenquoten der Supplikantinnen ist außerdem festzuhalten, dass das Kalkül vor allem von Ehefrauen, aber auch von Müttern, aus ihrer vermeintlichen Position der Schwäche als unschuldig Mitbetroffene einen strategischen Vorteil schlagen zu können, nicht in dem Maße aufging, wie es sich die Supplikantinnen offensichtlich erhofft hatten. Im Hinblick auf die Rolle als supplizierende Angeklagte bzw. Verurteilte, Ehefrau oder Mutter besteht zwischen der Einschätzung der Frauen über ihren möglichen Erfolg und der Gnadenpraxis der obrigkeitlichen Akteure eine – wenn auch kleine – Diskrepanz. Als Grund für die Diskrepanz zwischen Supplikationsverhalten und Gnadenpraxis dürfen unterschiedliche Vorstellungen vom Supplizieren und Begnadigen seitens der Untertanen und der Obrigkeit angenommen werden. Da Frauen zur Vertretung ihrer Interessen in der Regel einen Geschlechtsvormund benötigten, sahen sie das Unterfangen, als Angeklagte in eigener Sache zu supplizieren, vermutlich als nicht besonders aussichtsreich an und versuchten es in vielen Fällen gar nicht erst. Die obrigkeitlichen Akteure hingegen zeigten sich gegenüber den Anliegen von weiblichen Angeklagten bzw. Verurteilten, die in eigener Sache supplizierten, recht wohlwollend. Auf dieselbe obrigkeitliche Fürsorgepflicht pochten auch Ehefrauen und Mütter in ihren Supplikationen, sahen sie sich doch ohne ihren Ernährer und ihre Altersstütze in derselben schutzbedürftigen Lage wie Witwen. Den Grad der Schutzbedürftigkeit dieser Frauen schätzten die obrigkeitlichen Akteure offenbar anders ein, denn ganz so willfährig waren sie mit Begnadigungen nicht – es sei denn, die vorgetragenen Gründe überzeugten und es handelte sich um eine niederschwellige Milderung, die zum Erhalt der Wirtschaft beitrug. Aus obrigkeitlicher Perspektive hatten weniger verheiratete Frauen und Mütter als vielmehr allein stehende Frauen Anspruch auf besonderen Schutz – dies trug dazu bei, dass letzteren tendenziell ein höheres Maß an Gnadenwürdigkeit zugestanden wurde. ter, die sich 49 Mal für ihre Kinder eingesetzt hatten und in sechs Fällen eine Milderung der Strafe erreichten. Bei den angeklagten bzw. verurteilten Frauen, die in eigener Sache supplizierten, sind es insg. 44 Gnadenbitten, von denen zehn gewährt wurden.
Ergebnisse und Schlussfolgerungen Die Supplikations- und Gnadenpraxis der Sattelzeit offenbart einen inneren Widerspruch zwischen absolutistischem Herrschaftsanspruch und Herrschaftswirklichkeit. Die Diskrepanz deutet darauf hin, dass sowohl aus der Sicht der Untertanen als auch aus der Sicht der Obrigkeit der Maßstab für die Legitimität von Herrschaft Ende des 18. Jahrhunderts einem fundamentalen Wandel unterlag: An die Stelle einer Herrschaft, die ihre Legitimität aus dem Gottesgnadentum bezog, rückte mehr und mehr eine Herrschaft, in der das Wohl der Untertanen verbunden mit der Vorstellung von Gerechtigkeit als Maßstab legitimer Herrschaft fungierte. Analog zum Wandel des Herrschaftsverständnisses kam es im 18. Jahrhundert auch zu einer veränderten Grundhaltung gegenüber dem Institut der Gnade: Stand die Gnade noch Anfang des 18. Jahrhunderts im persönlichen Dienst des Gnadenträgers, so stand sie Ende des 18. Jahrhunderts im Dienst der Justiz. Mit ihrer Gnadenpraxis verfolgte die Obrigkeit das Ziel, Justiz und Verwaltung durch Optimierung ihrer Funktionsfähigkeit, durch Integrität und Würde zu stärken. Die Funktion der Gnade bestand nunmehr primär darin, Gerechtigkeit im Einzelfall zu schaffen, während ihre vormals zentrale Funktion, die Herrschaft des Landesherrn zu inszenieren, deutlich in den Hintergrund getreten ist. Das Supplikations- und Gnadenverfahren wurde einer Bürokratisierung und Rationalisierung unterzogen, welche die vormals unmittelbar-persönliche Gnadenentscheidung des Monarchen zugunsten einer größeren Eigenverantwortlichkeit der Verwaltung einschränkte. Gnade wurde zunehmend im Sinne einer iusta causa aggratiandi verstanden: Für eine Begnadigung musste ein gerechtfertigter Grund und ein gewisser Verdienst der zu begnadigenden Person vorliegen. Dies führte in einem gewissen Grad dazu, dass die Gnade ihren disponiblen Charakter im Hinblick auf die Entscheidung verlor. Wenn man Herrschaft systematisch betrachtet, so hat die im Gottesgnadentum noch zentrale Figur des Monarchen sowohl an Legitimität als auch an politischer Macht in Ausübung der Herrschaft verloren. An die Stelle eines durch Gott legitimierten Herrschers war nun ein bürokratisches System getreten, welches seine Legitimität dem Glauben an die Objektivität seiner Entscheidungen verdankte. Die politische Macht gelangte demzufolge mehr und mehr in die Hände der obrigkeitlichen Akteure in Justiz und Bürokratie. Hinsichtlich der Supplikationspraxis ist ein zentrales Ergebnis, dass das Supplizieren als eine Technik zu verstehen ist, mit der auf einer impliziten Ebene Motivationsmacht1 produziert und ausgeübt wurde. Das Handeln der Supplizierenden 1 Zur Motivationsmacht vgl. Baumann 2002, S. 131 – 133 [s. Einleitung / Methodischer Zugang].
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Ergebnisse und Schlussfolgerungen
war nicht nur durch die Interessen der Nutznießer der Gnadenbitten im Kontext der Sanktions- und Gnadengewalt des Monarchen bestimmt, sondern in erheblichem Maße auch durch das Machtverhältnis, in welchem sie selbst in Beziehung zu den angeklagten bzw. verurteilten Personen standen, motiviert.2 Das Gnadenbitten verschaffte den supplizierenden Männern und Frauen – so die hier aufgestellte These –, Motivationsmacht, mit deren Hilfe sie ihre Machtposition innerhalb der jeweiligen Beziehung zu sichern und zu stärken vermochten. Aus der Sicht der Supplikanten und Supplikantinnen stellt eine Supplikation eine win-win-Situation dar: Unabhängig davon, ob der Gnadenbitte entsprochen wurde oder nicht, vergrößerte sie den Handlungsspielraum des Fürsprechers. Die zentralen Ergebnisse der Studie und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen werden nachfolgend analog zum Aufbau der Arbeit zunächst für die Supplikationspraxis und dann für die Gnadenpraxis zusammengefasst.
I. Zur Supplikationspraxis 1. Das Supplikationswesen in Brandenburg-Preußen Ende des 18. Jahrhunderts zeichnet sich weitgehend durch eine Allzugänglichkeit3 in generativer, geschlechterspezifischer und sozialer Hinsicht aus. Die von der Forschung für verschiedene frühneuzeitliche Herrschaften4 aufgestellte These trifft auch für BrandenburgPreußen Ende des 18. Jahrhunderts mit einer die mobilen Randgruppen betreffenden Einschränkung zu. Allzugänglichkeit in generativer Hinsicht: Das Angebot zum Supplizieren stand Angehörigen jeder Altersgruppe offen und wurde auch entsprechend genutzt; unter den Supplizierenden ist das gesamte Spektrum an Altersgruppen von unerzogenen und unmündigen Kindern bis hin zum gebrechlichen Greis vertreten. Die Supplikationspraxis belegt zugleich, dass die Altersgruppen in unterschiedlichem Maße initiativ wurden: Das Supplizieren war vor allem eine Angelegenheit der Gleichaltrigen und der älteren Generation, gemessen am Alter der Angeklagten bzw. Verurteilten.5 Bedingt durch ihren sozialen Status besaßen sie eine allgemein an2 Natalie Zemon Davis formuliert bereits 1986 die These, dass die Entdeckung des frühneuzeitlichen Selbst in enger Beziehung zur Gruppenzugehörigkeit geschah, und zieht daraus die Erkenntnis, dass Personen in der Frühen Neuzeit stets als Teil eines Beziehungsnetzes zu sehen sind – vgl. Davis 1986, S. 7, 17. Diese These kann für das Supplizieren bestätigt werden: Auch hier tritt das Selbst des Supplikanten bzw. der Supplikantin stets in Bezug auf das soziale Umfeld, insbesondere in Bezug auf die Beziehung zum Nutznießer der Gnadenbitte auf. 3 Der Begriff geht auf Renate Blickle zurück – vgl. Blickle 2000, S. 278. 4 Beispielhaft vgl. ebd.; vgl. Ulbricht 1996, S. 152; vgl. Fuhrmann / Kümin / Würgler 1998, S. 269; Würgler 2001, S. 16 und zuletzt vgl. ders. 2005, S. 17. 5 Über die Hälfte der Supplizierenden gehörte derselben Generation an wie die Personen, für die sie um Gnade baten (z. B. Eheleute, Geschwister, Mitgesinde, Nachbarn etc.). Geschätzte 40 Prozent der Supplizierenden waren ältere Personen (z. B. Eltern, Anverwandte,
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erkannte Autorität und übten zumeist eine vormundschaftliche Funktion aus, zu deren Pflicht es unter anderem gehörte, Mitgliedern des Sozialverbandes Schutz zu gewähren und die Interessen des Hauses gegenüber der Obrigkeit zu vertreten. Allzugänglichkeit in geschlechterspezifischer Hinsicht: Das Supplizieren war eine Praktik, die sowohl von Männern als auch von Frauen ausgeübt wurde; während rund 60,2 Prozent der Gnadenbitten von Männern eingereicht wurden, betrug der Anteil der Frauen rund 39,8 Prozent.6 Vergleicht man den Frauenanteil an Justizsupplikationen mit den Befunden anderer frühneuzeitlicher Herrschaften, so gelangt man zu dem Ergebnis, dass – mit wenigen Ausnahmen7 – selten so viele Supplikantinnen auftraten wie in Brandenburg-Preußen: Sie sind hier schätzungsweise mehr als doppelt so stark vertreten wie anderswo8; nur einige städtische Regionen weisen eine in etwa gleich hohe Anzahl an Supplikantinnen auf.9 Der relativ hohe Frauenanteil erklärt sich teilweise dadurch, dass weitaus mehr Männer als Frauen mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren,10 für welche die Zurückgebliebenen – zumeist Ehefrauen, aber auch Mütter11 – um Gnade baten. Eine weitere Erklärung bieten die geschlechterspezifischen Rollenmuster: Die Untertanen verbanden offenbar mit einer von einer Frau vorgetragenen Gnadenbitte Brotherrschaft). Die jüngere Generation hingegen sah es in der Regel nicht als ihre Aufgabe an, für eine ältere Person um Gnade zu bitten: Nur rund vier Prozent der Supplikationen gehen auf jüngere Supplizierende, zumeist auf die Kinder der betreffenden Personen, zurück. 6 Konkret: insg. 400 Gnadenbitten von Männern und insg. 265 Gnadenbitten von Frauen. 7 Es gab Regionen, in denen Gnadenbitten fast ausnahmslos von Frauen aufgesetzt wurden, so bspw. im Erzherzogtum Österreich unter der Enns im 18. Jahrhundert und in Bayern – vgl. Griesebner (Frühneuzeit-Info) 2000, S. 14; vgl. Blickle 2000, S. 308, 309 und vgl. dies. 1998, S. 241 f., 246 und vgl. dies. 1997. Beim Vergleich muss allerdings berücksichtigt werden, dass die jeweilige Quellengrundlage der genannten Studien recht schmal ist bzw. nur aus einem Fallbeispiel besteht, so dass das Ergebnis stark durch die Quellenauswahl bedingt ist. 8 Z. B. im Vergleich mit der Markgrafschaft Baden-Durlach um 1798, mit der Landgrafschaft Hessen im 16. Jh. (darunter auch Gnadensupplikationen) oder mit dem Bregenzerwald im 15. / 16. Jh. – vgl. Holenstein 1998, S. 336; vgl. Neuhaus 1978, S. 163, Fn. 192; vgl. Bauer 1996, S. 145. Stichproben aus Hessen, Hessen-Kassel und Hessen-Oldendorf aus den Jahren 1728 und 1787 ergeben z. B. einen Frauenanteil von nur 13 bis maximal 34 Prozent – vgl. Würgler 2001, S. 26. In Schleswig Anfang des 17. Jahrhunderts befanden sich sogar nur vereinzelt Frauen unter den Supplizierenden – vgl. Ulbricht 1996, S. 157. 9 Zu einem ähnlichen Ergebnis von rund 40 Prozent gelangt z. B. Andreas Bauer für die Stadt Feldkirch im 15. / 16. Jahrhundert – vgl. Bauer 1996, S. 142, 145. Für Köln schätzt Gerd Schwerhoff den Frauenanteil auf rund ein Viertel bis maximal ein Drittel – vgl. Schwerhoff 2000, S. 482. Ähnlich fallen in Hessen auch einige wenige Stichproben aus dem oberen Bereich der errechneten Bandbreite aus – vgl. Würgler 2001, S. 26. 10 Konkret: Von den Angeklagten bzw. Verurteilten sind rund 71,6 Prozent Männer und rund 28,4 Prozent Frauen. 11 Konkret: 144 Gnadenbitten von Ehefrauen bzw. rund 54,3 Prozent der Gnadenbitten von Supplikantinnen bzw. rund 21,6 Prozent aller Gnadenbitte; 49 Gnadenbitten von Müttern bzw. rund 18,5 Prozent der Gnadenbitten von Supplikantinnen. Frauen supplizierten erst an dritter Stelle in eigener Sache: 44 Gnadenbitten von weiblichen Angeklagten bzw. Verurteilten in eigener Sache bzw. rund 16,6 Prozent der Gnadenbitten von Supplikantinnen.
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Ergebnisse und Schlussfolgerungen
bessere Aussichten auf Erfolg. Insgesamt fällt auf, dass Frauen eine Supplikation weitaus seltener als Männer mit ihren Pflichten gegenüber der Person, für die sie um Gnade baten, begründeten, als vielmehr mit den Pflichten argumentierten, die jene Person ihnen gegenüber als Ernährer oder als Stütze im Alter hatte. Untertaninnen supplizierten aus einer vermeintlichen Position der Schwäche heraus: Sie gaben sich als Hilfsbedürftige aus und erhoben auf diese Weise Anspruch auf den besonderen Schutz, den sozial schwach Gestellte wie Witwen üblicherweise vom Monarchen erhielten. Beim Supplizieren galt der Topos der unschuldigen, hilfsbedürftigen Frau generell als Erfolg versprechend; auch Suppliken anderer Territorien bedienten sich seiner.12 Mit dem Supplizieren der Männer verhielt es sich dagegen genau anders herum: Während Supplikantinnen eher stellvertretend für andere um Gnade baten, vertraten Männer primär ihre eigenen Interessen beim Supplizieren. So baten männliche Angeklagte bzw. Verurteilte fast fünfmal häufiger für sich selbst um Gnade als dies Frauen in derselben Situation taten.13 Anders als Frauen supplizierten Männer eher aus einer vermeintlichen Position der Stärke heraus: Supplikanten betonten zumeist ihre Pflichten gegenüber der Person, für die sie um Gnade baten. In der Position als Vormund bzw. als lokale Obrigkeit konnten sie Integrationsangebote für die Angeklagten bzw. Verurteilten formulieren, von denen sie annahmen, dass sie der Erwartungshaltung des Gnadenträgers entsprachen. Männer waren im Besitz der patria potestas. Dies erlaubte ihnen, für sich selbst zu sprechen und verpflichtete sie, die Mitglieder der Familie und des gesamten Hauses zu schützen und als Vormund deren Interessen nach außen zu vertreten.14 Die unterschiedlichen Handlungsmuster von Supplikantinnen und Supplikanten belegen einmal mehr, dass dem Geschlecht – neben anderen Faktoren wie soziale Herkunft, Alter, ethnische Abstammung und Religionszugehörigkeit – eine konstitutive Rolle für den Handlungsspielraum des Einzelnen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft zukommt. Allzugänglichkeit in sozialer Hinsicht: Die Supplikanten und Supplikantinnen stammten – mit Ausnahme von Angehörigen mobiler Randgruppen – aus nahezu allen gesellschaftlichen Schichten und repräsentieren auch hinsichtlich ihres rechtlichen Status ein breites Spektrum: Stark vertreten waren die Unterschichten, aber auch Vertreter des Handwerks, des Handels – darunter auch Schutzjuden – und der Landwirtschaft in ihren unterschiedlichen Rechts- und Besitzverhältnissen; allein der Adel supplizierte selten, und wenn, dann zumeist als Vertreter der lokalen Obrigkeit, der Militärführung oder des königlichen Hauses. Allein Vertreter mobiler 12 Diesen Topos nutzten vor allem Ehefrauen, so z. B. in Köln und im Erzherzogtum Österreich unter der Enns – vgl. Schwerhoff 2000, S. 483; vgl. Griesebner (Wahrheiten) 2000, S. 136 f.; vgl. dies. (Frühneuzeit-Info) 2000, S. 19. 13 Konkret: 210 Gnadenbitten von männlichen Angeklagten bzw. Verurteilten in eigener Sache bzw. rund 52,5 Prozent der Gnadenbitten von Supplikanten. 14 Zum Beispiel: 74 Gnadenbitten von Vätern bzw. rund 18,5 Prozent der Gnadenbitten von Supplikanten und 41 Gnadenbitten von Ehemännern bzw. rund 10,3 Prozent der Gnadenbitten von Supplikanten.
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Randgruppen fehlen unter den Supplizierenden. Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass einzelne Suppliken aus diesem Umfeld stammen, da auch sie Wege finden konnten, um zu supplizieren – jedoch ohne ihren Status als Nichtsesshafte zu offenbaren. Dies ist denn auch als Beleg dafür zu werten, dass ihnen aus ihrer Sicht keine Chance auf eine Begnadigung gewährt wurde, auch wenn offiziell keine Verordnung vorlag, die ihnen den direkten Zugang zum Gnadenträger verwehrte oder sie von der Gunst einer Begnadigung ausschloss. Doch trotz des Befundes, dass sich Vertreter mobiler Randgruppen beim Supplizieren nicht offen zu erkennen gaben, ist die These vertretbar, dass das Supplizieren eine niederschwellige und offenbar erschwingliche Form der Kommunikation zwischen Untertanen und Obrigkeit darstellte, die nach Ansicht der Untertanen und Untertaninnen zumindest fast allen Teilen der Bevölkerung eine gewisse Chance eröffnete, eine konkrete Lebenssituation zu beeinflussen, welche in der Hand der Obrigkeit lag. Die skizzierten Supplikationsmuster sind von der Position abgeleitet, welche die supplizierenden Männer und Frauen aufgrund ihres Alters, ihres Geschlechts und ihrer sozialen Herkunft im Beziehungsgeflecht zwischen angeklagter bzw. verurteilter Person, ihrem familiären und sozialen Umfeld sowie gegenüber der Obrigkeit einnahmen. Es handelt sich hierbei jedoch keineswegs um formale Voraussetzungen für das Supplizieren. Den Ausschlag, initiativ zu werden, gab vielmehr die Vorstellung der Akteure, dass diese Faktoren beim Gnadenbitten bedeutsam waren. Supplizieren bedeutet, dass sich die mittelbar und unmittelbar von der Verurteilung Betroffenen als Supplikanten und Supplikantinnen konstruierten. 2. In Studien zur Supplikationspraxis in anderen Herrschaften wurde festgestellt, dass Untertanen die Supplikation als Mittel nutzten, um mit der Obrigkeit das konkrete Maß der Sanktionen auszuhandeln. Als aushandelbar erwiesen sich in einigen Herrschaften durchaus auch Milderungen von schweren Strafen wie Todesstrafe oder langjährige Haftstrafen. Die Beobachtung führte zu der These, dass das Aushandeln im Wege der Supplikation sowie die Gnadenpraxis feste Bestandteile der frühneuzeitlichen Sanktionspraxis darstellen.15 Das Aushandeln von Sanktionen stand dabei im Zusammenhang mit dem Phänomen der Justiznutzung: Untertanen nahmen nicht nur die Justiz, sondern auch das Gnadenwalten der Obrigkeit gezielt für eigene strategische Ziele in Anspruch.16 Für den vorliegenden Untersuchungsraum kann im Vergleich mit anderen frühneuzeitlichen Herrschaften kein großer Spielraum für Aushandlungsprozesse bei 15 Für Kurmainz gilt nach Karl Härter, dass Strafen und Strafzwecke nicht „absolut“ durch ein geschlossenes, kodifiziertes Strafrecht vorgegeben seien, sondern erst ausgehandelt wurden – vgl. Härter 2000, S. 478, 480; ähnlich die Situation in Württemberg – vgl. Rublack 1998, S. 87 – 96. In Osnabrück konnte offenbar nicht nur das Rechtsurteil, sondern sogar das Rechtsverfahren ausgehandelt werden – vgl. Rudolph 2005, S. 422. Im Spätmittelalter bestanden offenbar noch umfassendere Möglichkeiten des Aushandelns – vgl. Schuster 2000, S. 293 – 297. 16 Zum Verhältnis Justiznutzung und dem Gnadenbitten vgl. Dinges 2000, S. 535.
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Ergebnisse und Schlussfolgerungen
schwerwiegenden Strafen festgestellt werden.17 Bei substanziellen Begnadigungsformen ließen der Begründungszwang und das hier angewandte Verfahren des alternativlosen Gewährens oder Verwehrens der vorgetragenen Gnadenbitte den obrigkeitlichen Akteuren wenig Handlungsspielraum. Die zurückhaltende bis restriktive Begnadigung belegt, dass das Prinzip des Aushandelns der Strafe in BrandenburgPreußen nicht die gängige Gnadenpraxis bildete.18 Dies gilt, obwohl sich die obrigkeitlichen Entscheidungsträger sehr wohl einen gewissen Aushandlungsspielraum zu verschaffen wussten, wie die zum Teil inkonsequente Anwendung des Begründungszwangs sowie undurchsichtige Entscheidungen belegen, die auf wenig überzeugenden Argumentationen beruhen. Die Absage an die mittelalterlich-frühneuzeitliche Tradition, Strafen auszuhandeln, ist im Rechtsverständnis begründet: Der brandenburg-preußischen Obrigkeit ging es um die faktische Umsetzung der Gesetze und damit auch um den Vollzug der mit ihnen verbundenen Strafen. Das Bestreben der Obrigkeit, Rechtsnorm und -wirklichkeit miteinander in Einklang zu bringen, ist in der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Herrschaft begründet, kann jedoch nicht losgelöst vom Herrschaftsverständnis der Untertanen verstanden werden, da sich die unterschiedlichen Vorstellungen gegenseitig beeinflussten: Denn das obrigkeitliche Herrschaftsverständnis ist auch als Reaktion auf den aus der Sicht der Untertanen veränderten Maßstab für die Legitimität von Herrschaft, welcher nunmehr das Wohl der Untertanen in den Mittelpunkt rückt [s. o.], zu interpretieren. Die Voraussetzung, um in Brandenburg-Preußen eine Strafe auszuhandeln, bestand darin, lediglich eine geringfügige Begnadigung (z. B. einen Aufschub des Strafantritts bzw. eine vorübergehende Aussetzung der Strafe oder eine Umwandlung einer Gefängnisstrafe in eine Geldbuße), welche das Strafmaß nicht tangierte, zu erbitten, oder aber es lag ein weniger schwerwiegendes Delikt mit einer entsprechend milden Strafe vor. Ein Indiz dafür, dass es sich hierbei um eine Verhandlungssituation handelte, ist das selbstbewusste Auftreten der Supplizierenden: Sie verlangten, auf mildernde Umstände im jeweiligen Fall Rücksicht zu nehmen, betonten die Wirtschaftskraft ihres Hofes bzw. Gewerbes, schilderten dem Gnadenträger die Vorteile, welche diesem angeblich aus der erbetenen Begnadigung erwachsen würden, mitunter unterbreiteten sie ihm sogar regelrechte Handelsangebote; zum Beispiel schlugen sie vor, ihre Haftstrafe etwa durch eine Geldbuße zu vergelten, die erheblich über dem üblichen Satz lag. Zu den Monarchenpflichten zählten die Supplizierenden den Schutz vor sozialem Abstieg und den Bestandsschutz ihrer Wirtschaft. Dies belegt, dass Ende des 18. Jahrhunderts dem Schutz 17 Auch Andrea Griesebner und Carl A. Hoffmann können die Aushandlungsthese für das Erzherzogtum Österreich unter der Enns im 18. Jh. bzw. für Augsburg im 16. Jh. nicht bestätigen – vgl. Griesebner (Frühneuzeit-Info) 2000, S. 22; vgl. dies. (Wahrheiten) 2000, S. 297; vgl. Hoffmann 2004, S. 92. 18 Die These, dass das Aushandeln der Strafe in Brandenburg-Preußen nicht die Regel war, belegen auch die Gnadenfälle der Littera E: Obwohl hier in Fällen mit geringem Strafmaß (Gefängnisstrafe von ca. einer Woche) suppliziert wurde, kam es selten zu einer Begnadigung – vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. E.
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des Eigentums eine herrschaftslegitimatorische Funktion zukam. Das Gnadenverständnis beruht damit auf der Vorstellung von einer gerechten Justiz und dem materiellen Wohlergehen der Untertanen. Mit anderen Worten: Aus der Sicht der Untertanen kam der Gnade die Funktion zu, im konkreten Einzelfall justizielle und materielle Gerechtigkeit zu gewährleisten. Die unterschiedlichen Auffassungen von Gnade seitens der Untertanen und der obrigkeitlichen Akteure kamen im Rahmen der Kommunikation im Wege der Supplikation und der Gnadendekrete entweder explizit oder auch implizit zur Sprache. Es ist daher davon auszugehen, dass sich die unterschiedlichen Auffassungen in einem ständigen Austausch zueinander befanden und sich gegenseitig beeinflussten. Dies legt wiederum die Hypothese nahe, dass das Gnadenverständnis der Supplizierenden zumindest mittelbar Einfluss auf die Gnadenpraxis der Obrigkeit hatte. 3. Das Supplizieren stellt ein Medium dar, mit dem Machtverhältnisse – insbesondere innerfamiliäre – zwischen den Supplizierenden und den Nutznießern der Gnadenbitten, verhandelt werden. Dies ist eine These, die sich aus der Analyse der Frage ergibt, wer für wen supplizierte.19 Ein zentrales, wenngleich nicht überraschendes Ergebnis im Hinblick auf die Supplikationsmuster ist, dass die Bereitschaft zu supplizieren umso größer war, je höher der Grad der eigenen Betroffenheit und je enger die Beziehung bzw. die verwandtschaftliche Nähe zwischen Supplikant bzw. Supplikantin und der angeklagten bzw. verurteilten Person war. Supplizieren war eine Angelegenheit der unmittelbar und mittelbar von der Anklage und Verurteilung Betroffenen – rund 92,2 Prozent aller Gnadenbitten stammen aus diesem Personenkreis. Unter den Supplizierenden sind die angeklagten bzw. verurteilten Männer und Frauen besonders stark vertreten,20 in der Hoffnung, ihre aktuelle Lebenslage im Wege einer Begnadigung verbessern zu können. Zugleich hatten sie ein lebhaftes Interesse daran, dass zusätzlich Dritte für sie ein gutes Wort einlegten. Die Fürsprache Dritter nahm die Obrigkeit als Indiz dafür, dass sie in ihrem sozialen Umfeld integriert und damit dem lokalen System informeller Sozialkontrolle unterworfen waren. Die Obrigkeit sah darin eine gewisse Garantie dafür, dass Delinquenten nach der Verbüßung ihrer Strafe künftig nicht mehr durch deviantes Verhalten auffielen.21 Entsprechend stark war das Supplizieren im engsten Familienkreis ausgeprägt: Rund 54 Prozent aller Gnadenbitten gehen auf Eheleute, Eltern, Kinder, Geschwister und Anverwandte zurück. Für Brandenburg-Preußen 19 Ein weiter gehender Vergleich der hier erzielten Ergebnisse mit der Supplikationspraxis in anderen frühneuzeitlichen Herrschaften steht noch aus, da bislang noch keine Studie vorliegt, die sich systematisch mit diesem Aspekt mit breiter Quellenbasis befasst; lediglich generelle Beobachtungen liegen vor. Daher kann nur in Bezug auf einzelne Aspekte an andere Studien angeknüpft werden [s. B.II.1.]. 20 Der Anteil der Supplikationen in eigener Sache macht rund 38,2 Prozent aller Gnadenbitten aus. 21 Diese von Karl Härter geäußerte Annahme kann für Brandenburg-Preußen bestätigt werden – vgl. Härter 2000, S. 479.
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Ergebnisse und Schlussfolgerungen
ist festzustellen, dass die Bereitschaft zum Supplizieren wesentlich von der innerfamiliären Hierarchie und Verwandtschaftsnähe der Beteiligten abhing.22 Der Befund bestätigt die generelle Einschätzung der Forschung zu anderen Territorien, dass ein hoher Anteil an den Supplikationen auf die Kernfamilie zurückgeht.23 Der Verwandtschaft kommt in der frühneuzeitlichen Gesellschaft eine zentrale Bedeutung bei Interessenvertretung und Schutz des Einzelnen zu. Jenseits der Familie, also im sozialen Umfeld der Angeklagten bzw. Verurteilten, stellte die Supplikation kaum mehr als eine Randerscheinung dar.24 Die Bittschriften der lokalen Obrigkeit und des Militärs sowie der Brotherrschaft und der Nachbarschaft bzw. des Arbeitsumfelds haben mit den Supplikationen mit verwandtschaftlichem Hintergrund gemein, dass ihnen vor allem wirtschaftliche und machtstrategische Eigeninteressen der Supplizierenden zugrunde liegen. Die Supplikationsmuster sind ausgerichtet am Ausmaß der eigenen Betroffenheit und am Grad der Verbindlichkeit der Beziehung zur angeklagten bzw. verurteilten Person, sei es in rechtlicher, wirtschaftlicher oder statusbezogener Hinsicht. Daraus lässt sich ableiten, dass das Supplizieren Einfluss auf die Gestaltung der Beziehungen im Umfeld der Angeklagten bzw. Verurteilten hatte. 4. Die Motive für das Supplizieren liegen vorrangig in der persönlichen Interessenlage, konkret in der Sicherung der eigenen Ressourcen, und im subjektiv empfundenen Leidensdruck begründet. Dem Supplizieren lag eine fallspezifische Gemengelage unterschiedlicher Faktoren zugrunde: Dabei spielte die emotionale Verbundenheit zwischen Supplizierenden und Nutznießer der Gnadenbitten ebenso eine Rolle wie die materiellen Interessen der Beteiligten sowie die Frage, welchen Grad an Verbindlichkeit die gegenseitigen Rechte und Pflichten aufweisen. Die Supplikationspraxis dokumentiert, dass die Untertanen die ihnen von der Obrigkeit zugestandenen Instrumente zur Formulierung ihrer Anliegen strategisch zu nutzten wussten. Die Delinquenten bzw. ihre Fürsprecher setzten sich über die 22 Am häufigsten setzten sich die Ehepartner der Angeklagten bzw. Verurteilten in ihrer Funktion als Hausmutter bzw. Hausvater für eine Milderung ein (rund 27,8 Prozent). An zweiter Stelle traten die Eltern als Supplikanten in Erscheinung (rund 18,5 Prozent). Auch Kinder, Geschwister und Anverwandte ließen – allerdings weitaus seltener (jeweils rund 2,6 Prozent) – eine Supplik aufsetzen. 23 Z. B. hat Renate Blickle darauf verwiesen, dass es die Aufgabe der „Nächsten“ (Ehefrauen, gefolgt von Ehemännern, Eltern und Vormündern) war, zu supplizieren, zugleich aber auch die „Über-Nächsten“ (fernere Verwandte, Bekannte, Amtsleute, lokale Obrigkeit) für weitere Gnadenbitten zu gewinnen – vgl. Blickle 2005, S. 294, 296, 304. Steffen Wernicke hat für Regensburg errechnet, dass sich rund 85 Prozent der Bittsteller für die Urfehde „aus dem Kreise der dem Gefangenen nahestehenden Personen“ rekrutierten – zit. aus: Wernicke 2000, S. 400 f. Auch für Kurmainz, den Vorarlberg und den Bregenzerwald sowie für Württemberg gilt, dass zahlreiche Supplikationen aus der Kernfamilie stammen – vgl. Härter 2000, S. 479; vgl. Bauer 1996, S. 151; vgl. Rublack 1998, S. 90. 24 Bei dieser Gruppe von Supplizierenden ist vor allem auf die lokale Obrigkeit und das Militär hinzuweisen, welche zusammen immerhin rund 3,6 Prozent der Gnadenbitten insgesamt aufsetzten.
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eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten, die der Inquisitionsprozess vorsah, hinweg, indem sie den direkten Kontakt zum Gnadenträger suchten und ihm ihr Anliegen vortrugen.25 Je nachdem, ob während des laufenden Prozesses oder nach Verfahrensabschluss suppliziert wurde, kommt der Supplikation die Funktion einer außer- bzw. nachgerichtlichen Verteidigung zu. So gesehen muss die Supplikation unter die Justiznutzung26 im weiteren Sinne gezählt werden. Die Untersuchung der Suppliken hat gezeigt, dass es neben der formalen Intention, einen Straferlass bzw. eine -milderung zu erlangen, noch weitergehende, zum Teil nur implizit angedeutete Motive und Interessen gibt. Der Topos Mitleid bildet einen festen Bestandteil des Supplizierens. Der Faktor Emotion spielt bei der vorgeblichen Motivation für eine Gnadenbitte eine zentrale Rolle – unabhängig davon, ob das Mitleid tatsächlich empfunden oder vorgetäuscht wurde. Die Emotionalität der Darstellung dient vor allem dazu, der Supplik eine authentische Note zu verleihen. Der Großteil der Supplikationen wird indes mit der Pflicht, in der sich der Supplizierende gegenüber dem Nutznießer der Gnadenbitte sah, begründet. In erster Linie standen Blutsverwandte, vor allem Männer in ihrer Funktion als Vormund, in der Pflicht, für ihre angeklagten bzw. verurteilten Angehörigen zu supplizieren.27 Die Beziehung zwischen der supplizierenden und der angeklagten bzw. verurteilten Person war aber nicht nur von Pflichten, sondern auch von Rechten geprägt. Es wird die These aufgestellt, dass es nicht nur die Pflichten waren, sondern auch die Rechte, welche die Supplizierenden gegenüber den Angeklagten bzw. Verurteilten besaßen, die sie zu ihrer Initiative bewegt hatten. Mit einer solchen Unterstützungsmaßnahme konnten sie die moralische Berechtigung erwerben, später auf die Einlösung ihrer Rechte zu pochen. Die Frage nach den Rechten führt zu dem zentralen Faktor des Supplizierens, nämlich zu den Eigeninteressen der supplizierenden Männer und Frauen, die unterschiedlich offen in den Suppliken zutage treten. Während bis auf wenige Ausnahmen die Erbfrage und die Ehrproblematik als Motive verschwiegen wurden, führten fast alle Supplikantengruppen die Hoffnung, den Niedergang ihrer Wirtschaft mit 25 In dieser Hinsicht kann Karl Härters These bestätigt werden, dass die Supplikation die ursprünglich mündliche Kommunikation des traditionellen Akkusationsprozesses nun im Inquisitionsprozess, der nur ungenügende Verteidigungsmöglichkeiten bot, ersetzen sollte – vgl. Härter 2005, S. 248. Auch Martin Dinges weist auf den Zusammenhang des Gnadenbittens mit älteren Traditionen der Verteidigung hin – vgl. Dinges 2000, S. 535. 26 Vgl. Dinges 2000, S. 503 – 505, 508, 513 (zum Konzept s. Einleitung / Forschung). Auch das Gnadenbitten muss laut Dinges im Rahmen der Justiznutzung verstanden werden – vgl. ebd., S. 535, 518. 27 In den Quellen ist die Rede von einer väterlichen, aber auch von einer kindlichen Pflicht des Sohnes, ebenso von einer brüderlichen Pflicht, seltener hingegen von einer schwesterlichen Pflicht oder einer vormundschaftlichen Pflicht sonstiger Blutsverwandter. Eine mütterliche Pflicht oder auch eine kindliche Pflicht der Tochter werden nicht erwähnt. Auch Bittsteller, die angeheiratet waren oder nicht zur Familie gehörten, führten andere Gründe, nicht jedoch die Pflicht als Motiv ihrer Gnadenbitte an.
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Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Hilfe einer Begnadigung abwenden zu können, als Motiv an.28 Dabei diente der Topos An-den-Bettelstab-gebracht-worden-zu-sein als Handlungsaufforderung oder auch Mahnung zur Pflichterfüllung an die Adresse des Monarchen, seinen Untertanen in der Not Hilfe und Schutz zu gewähren. Darüber hinaus gab es noch einen taktischen Grund, warum in Suppliken so häufig auf das Wirtschaftsargument zurückgegriffen wurde: Es weckte das Eigeninteresse der Obrigkeit, in dem jeweiligen Fall eine strafmildernde Maßnahme zu gewähren, denn diese war aus fiskalischen Gründen auf das wirtschaftliche Wohlergehen ihrer Untertanen angewiesen. Das Supplizieren diente auch als Mittel zur Sicherung von Entscheidungskompetenz und Mitsprachemöglichkeit: Mit Hilfe einer Supplikation versuchten zum Beispiel Brotherren, die lokale Obrigkeit, das Militär, aber auch die Nachbarschaft, ihr Recht auf Sanktion gegenüber der betreffenden Person geltend zu machen. Denn das Gerichtsurteil manifestierte den Willen der Obrigkeit, den Delinquenten bzw. die Delinquentin ihrer Sanktionsgewalt zu unterwerfen und zeigte den mittelbar Betroffenen unmissverständlich, dass der Fall nun außerhalb ihrer Zuständigkeit lag. Allein mit Hilfe der Supplikation konnte gegenüber der Gerichtsobrigkeit zumindest ein Mitspracherecht angemeldet werden. Daraus folgt, dass nicht nur die Anrufung der Justiz, sondern auch das Gnadenbitten als Bestandteile der Justiznutzung gesehen werden müssen. Das Supplizieren war unter Umständen eine subtile Form von Widerständigkeit und Eigen-Sinn29 gegenüber dem obrigkeitlichen Einschreiten in einen Zuständigkeitsbereich, den die Supplizierenden für sich in Anspruch nahmen. Hintergrund dieser Interessenlage sind Kompetenzstreitigkeiten zwischen Verwaltung und Justiz, zwischen zivilen Behörden und dem Militär sowie zwischen der lokalen Ebene, der Provinzialebene und der zentralen Ebene der Verwaltung. Die Supplikationspraxis dokumentiert die Spannungen zwischen den einzelnen Hierarchieebenen und damit zugleich die ersten Auflösungserscheinungen der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft. Der unterschiedliche Grad an Offenheit bei der Nennung der Motive und Interessen lässt allerdings keine Rückschlüsse auf ihre faktische Bedeutung im Verfahren zu, sondern lediglich auf das Maß an Plausibilität und Gnadenwürdigkeit, welches ihnen die Supplizierenden und ihre Schreiber beimaßen, sowie auf die von ihnen angenommene Eignung für einen möglichst authentisch wirkenden Vortrag der Gnadenbitte. Die Supplik ist ein Konstrukt, das auf der Vorstellung der Absender von der Erwartungshaltung des Adressaten beruhte. 5. Neben dem persönlichen Interesse, die eigenen Ressourcen mit einer möglichst günstigen Gnadenentscheidung zu sichern, ist bei vielen Supplizierenden ein 28 Das Wirtschaftsargument wurde von Eheleuten und Angehörigen unterschiedlichen Verwandtschaftsgrades, von Nachbarn und Geschäftspartnern bis hin zu Vertretern der lokalen Obrigkeit verwandt, und bezog sich sowohl auf produzierende Bereiche – etwa in der Landwirtschaft, im Handwerk oder im Handel – als auch auf den reproduzierenden Bereich des Hauswirtschaftens und der Versorgung von Kindern und Pflegebedürftigen. 29 Hier in Anlehnung an Alf Lüdtke – vgl. Lüdtke 1991, S. 50.
I. Zur Supplikationspraxis
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vitales Interesse am Supplizieren selbst zu konstatieren, unabhängig davon, ob die Gnadenbitte Aussicht auf Erfolg hatte oder nicht: Das Supplizieren – und dies ist eine zentrale These dieser Studie – hatte Einfluss auf die Machtverhältnisse zwischen Supplizierenden und den potentiellen Nutznießern ihrer Gnadenbitten.30 Innerhalb dieser Beziehung stärkte es die Position der Bittsteller und Bittstellerinnen. Die These stützt sich auf folgenden Befund: Die Beziehungen zwischen Supplizierenden und Angeklagten bzw. Verurteilten waren geprägt vom Wechselspiel der gegenseitigen Rechte und Pflichten. Die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern, zwischen Eheleuten, zwischen Geschwistern, zwischen Anverwandten, zwischen Nachbarn, zwischen Brotherren und Gesinde, zwischen Lehrmeister und Lehrburschen, zwischen lokaler Obrigkeit und den zu Hand- und Spanndiensten verpflichteten Untertanen, zwischen Militärkommandeuren und Soldaten – alle diese Paarkonstellationen stehen jeweils für ein Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit. Diese war allerdings von Asymmetrie geprägt. Mit anderen Worten: die Handlungsspielräume der Akteure waren unterschiedlich verteilt. An diesen Befund schließt sich folgende Beobachtung an: Supplizierende traten in der Beziehung zu den Nutznießern ihrer Gnadenbitten in Vorleistung. Zu supplizieren hieß, Zeit und in der Regel auch Geld für die Gebühren aufzubringen, mit der Gnadenbitte die Aufmerksamkeit der Obrigkeit auf sich zu lenken, ein persönliches Risiko einzugehen, weil man sich möglicherweise unliebsamen Nachfragen stellen musste und sich unter Umständen dem Vorwurf des Querulierens und den damit verbundenen Strafandrohungen aussetzte. Außerdem verlangte das Supplizieren, dass die Bittsteller und Bittstellerinnen ihren eigenen Leumund und ihre Ehre in die Waagschale warfen. Mit einer Supplikation demonstrierte man Solidarität mit der angeklagten bzw. verurteilten Person sowohl gegenüber der Obrigkeit als auch gegenüber dem eigenen sozialen Umfeld. Ein Zeichen der Solidarität galt der Obrigkeit als Beleg des Integrationswillens und konnte daher für die Bewilligung einer Begnadigung ausschlaggebend sein. Folglich war das Verhalten der Angehörigen und des engeren wie weiteren sozialen Umfeldes der angeklagten bzw. verurteilten Personen entscheidend für deren Reintegration – unabhängig davon, ob ihr eine Begnadigung gewährt wurde. So gesehen besteht im Solidaritätserweis und in der Stabilisierung einer sozialen Bindung die gesellschaftliche Funktion des Supplizierens. Folgende Rückschlüsse lassen sich hieraus ziehen: Das Verhalten der Angehörigen und des sozialen Umfeldes wirkte sich zwangsläufig auf die künftige Beziehung zwischen jenen und der angeklagten bzw. verurteilten Person aus. Dies gilt im Übrigen auch für das Nicht-Supplizieren, also für das Schweigen und untätige War30 In dieser Hinsicht besteht eine Parallele zu der von Martin Dinges beobachteten Justiznutzung: Auch beim Klagen nahmen Untertanen und Untertaninnen das Angebot obrigkeitlichen Handelns (hier i. S. der Androhung von Strafverfolgung und Strafvollzug) in Anspruch, um die eigene Ausgangsposition im Konflikt zu verbessern: „Die Justiznutzung sollte die Selbsthilfekapazität stärken.“ – zit. aus: Dinges 2000, 513 und vgl. ebd., S. 508.
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Ergebnisse und Schlussfolgerungen
ten, bis das Gerichtsverfahren beendet bzw. die Haftstrafe abgesessen war. Den Beitrag, den Dritte durch das Supplizieren als ihr Soll erbrachten, konnten sie in der Beziehung zu den Nutznießern ihrer Gnadenbitten auf der Haben-Seite verbuchen. Vor dem Hintergrund einer solchen Vorleistung konnte sich ein Nutznießer der Gnadenbitte den künftigen Verpflichtungen, welche die Beziehung zu seinem Fürsprecher mit sich brachte, im Grunde nicht entziehen – unabhängig davon, ob die Gnadenbitte erhört wurde. Wurde ihm tatsächlich eine Strafmilderung gewährt, so stand er nur noch tiefer in der Schuld seines Fürsprechers. Daraus kann die These abgeleitet werden, dass das Gnadenbitten die Position der Supplizierenden stärkte. Und dies wiederum konnte die Machtverhältnisse, die dieser Beziehung zugrunde lagen, zu Gunsten der supplizierenden Männer und Frauen verändern.31 Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass eine Supplikation aus der Sicht der Bittsteller und Bittstellerinnen eine win-win-Situation darstellte: Denn gleichgültig, ob die Gnadenbitte erhört wurde oder nicht, sicherte bzw. vergrößerte sie den Handlungsspielraum der Supplizierenden. Das Supplizieren kann man demnach als eine Technik verstehen, mit der auf der impliziten Ebene Motivationsmacht32 ausgeübt wurde: Die supplizierenden Männer und Frauen motivierten die Nutznießer ihrer Gnadenbitten zu einem Wohlverhalten ihnen gegenüber. Die These liefert auch eine Erklärung dafür, warum so häufig suppliziert wurde, auch wenn die Chance auf Gewährung der Gnadenbitte gering war. Mit dieser These lässt sich auch erklären, warum unter den Supplizierenden so viele Personen sind, die im Verhältnis zu den von ihnen zur Begnadigung vorgeschlagenen Angeklagten bzw. Verurteilten die jeweils schwächere Machtposition einnahmen – wie beispielsweise Ehefrauen. Der von Carl A. Hoffmann aufgestellten These, dass die Supplikation der Ehefrau oder der Familie keine wesentliche Bedeutung habe, sondern sich auf ein „reines Ritual“ reduziere, muss im Lichte der Ergebnisse dieser Arbeit widersprochen werden.33 Umgekehrt erklärt die oben erläuterte These, warum für andere Angeklagte bzw. Verurteilte nicht suppliziert wurde: Neben der relativen Unwahrscheinlichkeit, eine Strafmilderung gewährt zu bekommen, eben auch weil sich die Angehörigen oder anderweitig Betroffene von einer Supplikation angesichts der Beziehungskonstellation keine produktiv einsetzbare Motiva31 Diese These lässt sich auf der Grundlage der hier untersuchten Quellen leider nicht weiter verifizieren. Interessant wäre es der Frage nachzugehen, welche konkreten Auswirkungen eine Solidaritätsbekundung in Form einer Supplikation auf die Beziehung zwischen Supplikant bzw. Supplikantin und dem Nutznießer der Gnadenbitte haben konnte. Dazu müsste ein Fallbeispiel einer mikrohistorischen Analyse unterzogen werden, was aber voraussetzen würde, noch andere Quellen wie bspw. Testamente, Steuerregister etc. ausfindig zu machen – ein solcher Ansatz würde jedoch den Rahmen dieser Studie sprengen. 32 Zur Motivationsmacht vgl. Baumann 2002, S. 131 – 133 [s. Einleitung / Methodischer Zugang]. 33 Zit. nach: Hoffmann 2004, S. 92. Mit dieser These bleibt Carl A. Hoffmann auch für sein Untersuchungsgebiet die Erklärung schuldig, warum dann so viele Ehefrauen und andere Angehörige Kosten und Mühen auf sich nahmen, Supplikationen einzureichen.
I. Zur Supplikationspraxis
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tionsmacht versprachen. Die große Zahl der Supplikationen belegt indes, dass nach Meinung vieler Supplizierender der absehbare Nutzen für die eigene Person die Negativfolgen überwiegt. 6. Die Befunde bezüglich der Supplikationsmuster, der Motive und Interessen von Supplizierenden sowie der gesellschaftlichen Funktion des Supplizierens legen folgende Schlussfolgerung nahe: Das Supplizieren ist eine relationale Machttechnik, die soziale Beziehungen aktiv gestaltet, indem mit ihr über Macht, Schutz und Solidarität verhandelt wird. Die Machttechnik wird, analytisch betrachtet, auf einer expliziten und einer impliziten Ebene angewandt und gelangt dort entsprechend zur Wirkung – obgleich in der Praxis stets beide Ebenen zugleich im Spiel sind und sich nicht voneinander trennen lassen. Als explizite Ebene wird hier diejenige bezeichnet, die sich primär als Kommunikation zwischen supplizierenden Untertanen und dem Gnadenträger vollzog, und bei der die Akteure die Intention ihres Handelns in den Suppliken, Dekreten und den internen Behördenschreiben formal kundtun. Die implizite Ebene meint dagegen die mit der Supplikationspraxis verbundene Kommunikation mit Akteuren und ihre Wirkung auf Akteure, die in den Quellen nicht als Adressaten offen angesprochen sind: Denn beim Supplizieren handelten die Männer und Frauen nicht nur als supplizierende Untertanen gegenüber der Obrigkeit, sondern auch gegenüber den angeklagten bzw. verurteilten Personen, für die sie um Gnade baten.34 Während die explizite Ebene des Supplizierens anhand der überlieferten Dokumente rekonstruierbar ist, bleibt die implizite Ebene vage. Sie lässt sich nur im Ansatz und auch nur durch Andeutungen zwischen den Zeilen bzw. durch Vermutungen, die sich aus dem Kontext eines Falles sowie aus dem Vergleich mit gleichartigen und andersartigen Fällen speisen, nachvollziehen. Während die Quellen die großen Gesten des Flehens und des Gnadegewährens in grelles Scheinwerferlicht tauchen, spielen sich die implizite Kommunikation und die Wirkung der Machttechnik auf impliziter Ebene im Schatten des überlieferten Geschehens ab. Supplizieren stellt eine Form der Kommunikation dar, die explizit dem Interesse des Nutznießers der Gnadenbitte folgt, dabei aber zugleich implizit im Dienste des Interesses des Absenders steht. Ein Ziel dieser Arbeit bestand darin, diesem Aspekt zur Sichtbarkeit zu verhelfen. 7. Neben der Funktion, Motivationsmacht auf der impliziten Ebene zu schaffen, besteht eine weitere zentrale Funktion des Supplizierens, aber auch des Gnadegewährens und -verwehrens auf der expliziten Ebene darin, das paternalistische Herrschaftssystem mit seiner dichothomen Ordnung von Obrigkeit und Untertanen zu reproduzieren und zu festigen.35 Die Herrschaftsverhältnisse wurden mit jedem Vorgang bestätigt, unabhängig davon, wie die Gnadenentscheidung ausfiel. Gnade 34 Supplikationen in eigener Sache nehmen dabei eine Sonderrolle ein: hier fallen die explizite und die implizite Ebene zusammen. 35 Dies stellt sicher kein neues oder überraschendes, aber dennoch ein bedeutsames Ergebnis dar – zur Frühen Neuzeit vgl. zuletzt Rudolph 2005, S. 446; zum Frühen Mittelalter vgl. Koziol 1992, S. 289 – 324.
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Ergebnisse und Schlussfolgerungen
auszuüben und damit Hoheitsgewalt zu inszenieren,36 bedeutete für die Obrigkeit letztlich Machtsicherung und Friedensbewahrung.37 Und mit dem Supplizieren ging zumindest partiell eine freiwillige Bestätigung der Machtverhältnisse von unten einher, verbunden mit der Chance, dafür eine Vergünstigung zu erhalten, auf die es keinen Anspruch gab, und die auf keine andere Art und Weise zu erlangen war. Die Lektüre der Suppliken führt aber auch zu der These, dass Herrschaft Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend einem Legitimationszwang seitens der Untertanen unterworfen wurde: Maßstab für eine gerecht empfundene Herrschaft war das Wohl der Untertanen. Die Suppliken dokumentieren durchweg eine Idealisierung des Herrschers: Unisono heben die Untertanen die Güte und den Gerechtigkeitswillen des Herrschers hervor. Auffallend ist dabei die Diskrepanz zwischen Beurteilung des Gnadenträgers und der lokalen Obrigkeit: Nicht den Herrscher sehen die Untertanen in der Verantwortung für angebliche Fehlentscheidungen der Gerichte oder der Behörden, dafür ziehen die Untertanen vielmehr die Staatsdiener und die lokale Obrigkeit zur Rechenschaft. Mit Hilfe des Monarchenbildes wird in den Suppliken eine auf Loyalität aufbauende solidarische Beziehung zwischen dem idealtypisch konstruierten gütigen und gerechten Herrscher und dem ebenso idealtypisch konstruierten loyalen und gesetzestreuen Untertanen aufgebaut, welche die Supplikanten und Supplikantinnen für ihre Anliegen strategisch zu nutzen wussten.38 Zentral für das Monarchenbild, welches die brandenburg-preußischen Untertanen und Untertaninnen von ihrem Herrscher in den Suppliken entwarfen, war seine Pflicht, ihnen in 36 Diese Bedeutung der Gnade ist vermutlich so alt wie der Gnadenakt – beispielhaft zum Spätmittelalter vgl. Schuster 2000, S. 278. Dennoch kann man sagen, dass die Inszenierung von Herrschaft einen zentralen Charakterzug des Absolutismus darstellt – vgl. Wrede 2005, Sp. 32. 37 Die friedensstiftende Wirkung der Gnade wird hier vor allem im innenpolitischen Bereich verortet. Eine außenpolitische Dimension lässt sich – anders als es Peter Schuster für Konstanz ausmacht – für Brandenburg-Preußen mit einer Ausnahme nicht bestätigen – zu Konstanz vgl. Schuster 2000, S. 306 – 311; zur Ausnahme vgl. Aufhebung der Landesverweisung im Fall Wilhelm Franz v. Barner durch die Supplikation eines ausländischen Gesandten [s. C.II.7.a)]. 38 Berücksichtigt man, mit welchem taktischen Geschick Untertanen in Suppliken Monarchenbilder entwarfen, so müssen sich einige Studien zum Monarchenbild die Frage gefallen lassen, ob sie die Untertanen mit ihrem Eigen-Sinn als Produzenten und Adressaten von Monarchenbildern nicht unterschätzt haben: Auch wenn Monarchenbilder in Suppliken oder anderen Kontexten transportiert werden, so kann nicht zwangsläufig daraus geschlossen werden, dass sie von den Untertanen in aller Konsequenz auch wirklich angenommen worden sind. Man sollte vielmehr bedenken, dass die überlieferten Monarchenbilder zumeist interessegeleitet eingebracht wurden – wie etwa die inszenierte Geste des Gnadenbittens –, weil sie sich aus der Sicht der Untertanen in hohem Maße dazu eigneten, den Monarchen auf seine Pflichten hinzuweisen und indirekt Kritik zu üben, ohne der Beleidigung bezichtigt zu werden. Mit anderen Worten: Huldigungen, die in der Forschung als Beleg für einen naiven Monarchismus interpretiert werden, können auch auf strategisches Kalkül zurückgehen. – Zu Monarchenbildern und zum naiven Monarchismus vgl. Monika Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland und England von 1640 bis 1848, Göttingen 1993; vgl. Luebke 1997.
II. Zur Gnadenpraxis
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Notlagen Schutz zu gewähren. Im taktisch platzierten Monarchenbild verband sich die Gnadensemantik mit der Monarchenpflicht, seine Untertanen vor Not und Unrecht zu beschützen. Obgleich die brandenburg-preußische Obrigkeit keine willfährige Gnadenpraxis verfolgte, so kann man dennoch sagen, dass die Ansprüche der Untertanen an eine legitime Herrschaft, die sowohl Gerechtigkeit als auch das materielle Wohlergehen der Untertanen gewährleistete, nicht ohne Folgen auf die Gnadenpraxis blieben: Bei der Gnadenentscheidung ließen sich die obrigkeitlichen Akteure wiederum von ihrer Vorstellung einer gerechten Justiz leiten [s. u.]. Die Untersuchungsergebnisse legen nahe, von einer gegenseitigen Beeinflussung der Legitimationsverständnisse auszugehen.
II. Zur Gnadenpraxis 1. Aus den unter Friedrich Wilhelm II. erlassenen Verordnungen und Edikten lässt sich der Wille ablesen, das Supplikations- und Gnadenwesen zu formalisieren und zu strukturieren: Für die einzelnen Supplikationsformen (Justiz- und Gnadensupplikationen39 sowie Beschwerden) wurde ein so genannter Instanzenzug eingerichtet.40 Supplikationen, bei denen die formalen Vorgaben nicht eingehalten wurden, sollten von den Behörden abgewiesen werden. Dieser Vorgabe zum Trotz war die Zulassungspraxis bei Justizsupplikationen großzügig: Über Formfehler wurde in der Regel hinweggegangen und regelwidrige Suppliken wurden entgegen der Androhung nicht abgewiesen, sondern geprüft und beschieden. Dieser scheinbare Widerspruch zwischen angekündigter Handlungsabsicht und tatsächlich getroffener Entscheidung offenbart, dass die obrigkeitlichen Akteure dem Gnadenhandeln für die Herrschaftspraxis eine so hohe Bedeutung beimaßen, dass sie durch Annahme von Suppliken, die der verlangten Form nicht entsprachen, die proklamierte Verrechtlichung und Versachlichung des Regierungshandelns konterkarierten. Gnade blieb also ein zentrales Herrschaftssymbol und Instrument der Herrschaftslegitimierung. Sie diente als Mittel zur Demonstration einer den Untertanen zugewandten, pflichtbewussten Herrschaftspraxis. Aus den Supplikationen zogen die obrigkeitlichen Akteure noch einen weiteren praktischen Nutzen: Die in Suppliken zur Sprache kommenden Beschwerden über Unregelmäßigkeiten in den Gerichtsverfahren und Missstände in den Strafvollzugsanstal39 Zur Erinnerung: Unter Gnadensupplikationen sind Bitten um die Gewährung einer Gunst im Sinne von Privilegien, Schenkungen, Dispensen und Lizenzen zu verstehen; Justizsupplikationen beziehen sich dagegen auf Bitten in Justiz- und Verwaltungssachen, worunter beispielsweise Bitten um Zulassung zu einem Prozess, Beschwerden und Klagen gegenüber obrigkeitlichen Entscheidungen sowie Bitten um Milderung von Gerichtsurteilen fallen [s. A.I.2.a)]. 40 Das Bestreben der Obrigkeit, das Supplizieren zu reglementieren, zielte allerdings in erster Linie nicht auf Gnadenbitten für Angeklagte bzw. Verurteilte, sondern auf andere Supplikationsformen, insbesondere auf Beschwerden von Untertanen über ihre lokale Obrigkeit und über behördliche Entscheidungen.
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Ergebnisse und Schlussfolgerungen
ten bildeten für die zentrale Behördenebene einen wichtigen Indikator für das Funktionieren der ihr untergeordneten Verwaltung bzw. Gerichte: Die Supplikation ließ sich als Instrument zur Überwachung von Verwaltung und Justiz bis auf die lokale Ebene nutzen und war somit zugleich eine Art Seismograph für Anzeichen gesellschaftspolitischer Krisen oder Missstände und ein aussagekräftiger Indikator für die Einstellung der Untertanen gegenüber obrigkeitlichen Entscheidungen.41 2. Die Gnadenpraxis vollzog sich in einem regelrechten Geschäftsgang mit hierarchisierten Zuständigkeiten einschließlich der entsprechenden Entscheidungskompetenzen und Berichtspflichten: Supplikationen wurden einer Prüfung durch das Justizdepartement unterzogen, die Entscheidung über mediate Justizsupplikationen auf höchster Verwaltungsebene wurde an das Justizdepartement bzw. an den Geheimen Staatsrat delegiert und Begnadigungen wurden einem Begründungszwang unterworfen. Eine Folge der Rationalisierung des Verfahrens war – und dies ist ein weiteres zentrales Ergebnis dieser Studie –, dass der Entscheidungsspielraum des Gnadenträgers sowohl durch den Begründungszwang als auch durch den hierarchisierten Geschäftsgang de facto eingeengt wurde. Die formalisierte Gnadenpraxis ist, so die These, zugleich Ausdruck und Motor des Wandels der Herrschaftspraxis Ende des 18. Jahrhunderts42, im Zuge dessen die unmittelbar-persönliche Herrschaftsausübung des Monarchen zugunsten einer größeren Eigenverantwortlichkeit der Verwaltung zurückgedrängt wurde. Die These basiert auf folgenden Beobachtungen: Der Gnadenträger delegierte praktisch seine Gnadenbefugnis bezüglich der hier untersuchten Justizsupplikationen an das Justizdepartements. Die Einführung des sogenannten Instanzenzuges bewirkte, dass die Mehrheit der Supplikationen nicht mehr dem Monarchen zur Entscheidung vorgelegt wurde, weil sie bereits auf mediater Ebene entschieden wurde. Was die Immediatsupplikationen anbelangt, so war der Monarch in seiner Entscheidung insofern eingeschränkt, als auch er sein Handeln begründen musste. Mit zunehmender Formalisierung des Verfahrens machte er sich von der Zuarbeit des Justizdepartements und der Gerichte abhängig: So setzte eine stichhaltige Begründung für oder gegen eine Begnadigung nicht nur Kenntnis der Kriterien voraus, sondern erforderte auch Einblick in die jeweilige Verfahrensakte, das Aktenstudium wiederum verlangte juristisches Urteilsvermögen. Wollte sich der Gna41 Hier wird die insbesondere auf Gravamina und Beschwerden bezogene These von Fuhrmann, Kümin und Würgler aufgegriffen und auf Justizsupplikationen bezogen. Die Autoren stellen die These auf, dass Supplikationen der Obrigkeit als Informationskanal, als Sensor für Problemlagen, aber auch als Instrument zur administrativen Durchdringung des Lokalen und zur Kontrolle der Beamten dienten – vgl. Fuhrmann / Kümin / Würgler 1998, S. 320; vgl. auch Schwerhoff 2000, S. 489. 42 Diese These wird auch von Neugebauer mit Blick auf das Kabinett formuliert: Ende des 18. Jahrhunderts wurde die unmittelbar-persönliche Herrschaftsausübung des Monarchen nur noch in Ansätzen praktiziert, hingegen rückte die Verwaltung, insbesondere die dort in Lohn stehenden Staatsdiener bürgerlicher Abstammung, als Entscheidungsinstanz in den Vordergrund – vgl. Neugebauer 1993, S. 98 f.
II. Zur Gnadenpraxis
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denträger nicht von dieser zeitaufwändigen Arbeit aufreiben lassen, so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf die Voten seiner Staatsdiener zu den jeweiligen Supplikationen zu verlassen. Die Gnadenpraxis dokumentiert, dass der Monarch in der Regel die ihm vom Justizminister vorgetragene Sicht übernahm und entsprechend entschied. 3. Die Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen Ende des 18. Jahrhunderts legt folgende Einschätzung nahe: Die Rechtfertigung einer Begnadigung im Einzelfall diente dazu, der Gnadenpraxis den Anschein von objektiver Entscheidungsfindung zu verleihen. Der Vorsatz, Gnadenentscheidungen vorgeblich objektiv begründen zu wollen, steht im Widerspruch zum Verständnis von Gnade als ius aggratiandi, wonach Gnade ohne jede Rechtfertigung, einem Geschenk gleich aus reiner Güte gewährt wird. Daraus folgt, dass Gnade zunehmend im Sinne einer iusta causa aggratiandi verstanden wurde: Für eine Begnadigung musste ein gerechtfertigter Grund und ein gewisser Verdienst der zu begnadigenden Person vorliegen.43 Die Haltung verdeutlicht, inwieweit das landesherrliche Gnadenverständnis am Ende des Ancien Régime bereits säkularisiert war: Wenn Gnadenwürdigkeit in erster Linie am Verdienst, am Grad der Vorsätzlichkeit und mit Rücksicht auf mildernde Umstände gemessen wurde, so nimmt sie damit nicht Bezug auf das reformatorische bzw. lutherische Verständnis von der Unverdienbarkeit der Gnade.44 Die These gründet vor allem auf dem im Untersuchungszeitraum angewandten Begründungszwang beim Begnadigen. Als Ergebnis der vorstehenden Untersuchung über die Gnadenpraxis sind fünf Begründungskomplexe zur Feststellung der Gnadenwürdigkeit ausgemacht worden. Es gilt, daraus Rückschlüsse auf die möglichen Interessen, welche die obrigkeitlichen Akteure mit dieser so begründeten Gnadenpraxis verbanden, zu gewinnen:45 (1) Mit der Neubewertung der im Verfahren angewandten Rechtsnormen wurden nach Beendigung des Verfahrens Unstimmigkeiten beim Verfahren im Wege der Gnade korrigiert oder das Strafmaß einer neuen Gesetzeslage angepasst. Mit der nachträglichen Korrektur in Einzelfällen wurde vermieden, dass bestehende Gesetze oder Entscheidungen der Gerichte widerrufen werden mussten, was die Autorität dieser Institutionen nachhaltig beschädigt hätte. Eine solche Begnadigung ging zumeist auf eine Intervention der Gerichte in Form einer 43 Für den Vorarlberg konstatiert Andreas Bauer ebenfalls einen Wandel des Gnadenverständnisses vom grundlosen Geschenk hin zum begründeten Verdienst, den er bereits auf die Wende zum 16. Jh. datiert; allerdings bezieht sich das Gnadenverständnis nicht auf die obrigkeitliche Gnadenpraxis, sondern auf das Supplikationsverhalten der Untertanen – vgl. Bauer 1996, S. 165 f., 191 f., 204. 44 Zum reformatorischen Gnadenverständnis s. A.I.1.b) und vgl. Kraus 1991; vgl. Pesch / Peters 1981; vgl. Greshake 1977. 45 Da die Forschung bislang noch nicht auf den Aspekt der Begründung von Gnadenakten eingegangen ist, ist ein Vergleich mit der Gnadenpraxis in anderen frühneuzeitlichen Herrschaften derzeit nicht möglich.
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Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Fürsprache zurück. Auf diesem Wege versuchten die Richter ihren durch die Gesetze stark beschränkten Entscheidungsspielraum in Einzelfällen zu vergrößern. Neben diesem von einer einzelnen Akteursgruppe getragenen Eigeninteresse bestand in diesem Fall das der Begnadigung zugrunde liegende Interesse des Gnadenträgers im Erhalt der Autorität des Rechtssystems und der Legitimität der Herrschaft sowie ihrer Institutionen. (2) Bei der Neubewertung des Verhältnisses zwischen Tat und Schuld wurden mildernde Umstände nachträglich anerkannt, die nach Gesetzeslage bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt werden konnten.46 Der Gnade kam hier die Funktion zu, die Starrheit der Gesetze abzumildern und den geringen richterlichen Ermessensspielraum auszugleichen, um Gerechtigkeit im Einzelfall zu gewährleisten. Das obrigkeitliche Interesse bestand darin, das Bild einer gerechten Justiz und eines gnädigen Herrschers zu suggerieren, um im Gegenzug Akzeptanz und Legitimation zu erhalten. (3) Eine Begnadigung wurde auch bei widrigen Umständen gewährt, die als Folgen und Wirkungen des Strafvollzugs eingetreten waren und zu extremen Härten führen konnten. Diese Begründung bezog sich bei der Mehrheit der Begnadigungen auf den Verfall der Wirtschaft der verurteilten Person.47 Die Bereitschaft der Obrigkeit, die Strafe in einem solchen Fall zu mildern und auf eine Art und Weise vollziehen zu lassen, welche das notdürftige Betreiben der Wirtschaft gewährleistete, war groß. Sie erklärt sich mit dem starken obrigkeitlichen Eigeninteresse am Erhalt der Wirtschaftskraft der Untertanen. Das Interesse der Obrigkeit, den Gnadenbitten der Untertanen zu entsprechen, war in diesem Fall vor allem ein fiskalisches. Es ist außerdem davon auszugehen, dass hinter derart begründeten Begnadigungen die Überlegung stand, dass die durch obrigkeitliche Strafe verursachte Verarmung der Untertanen nicht nur ein großes Unruhepotential geschaffen, sondern letzten Endes zu einem Legitimationsverlust der Herrschaft geführt hätte. (4) Bei weiterreichenden Begnadigungen musste die angebliche moralische Gnadenwürdigkeit der verurteilten Personen sichergestellt sein. Belegt werden konnte sie durch Bürgschaften von Vormündern und durch Leumunds- und Dienstzeugnisse. Auskunft über die Aufführung der Delinquenten in der Haft sowie über deren angebliche Reue und Frömmigkeit gaben Zeugnisse der Zuchthausadministration bzw. des Festungsgouvernements und der dort ein46 Die persönliche Schuld der Verurteilten wurde als weniger schwer angesehen, wenn fahrlässiges Handeln ohne Vorsatz oder nachweisliche Unwissenheit gegeben oder die Tat durch die Mitschuld Dritter bzw. durch Anstiftung und Verführung junger Menschen geschehen war oder aber eine Vergebung seitens der geschädigten Partei vorlag. 47 Neben dem Wirtschaftsargument galten des Weiteren der physische Erhalt lebensbedrohlich erkrankter Delinquenten und die Versorgung von Kindern sowie von pflegebedürftigen Familienmitgliedern als Rechtfertigung einer Begnadigung. In Ausnahmefällen wurde eine Begnadigung auch mit dem Ehrverlust der Familie begründet, der aber üblicherweise als zumutbare Nebenwirkung der Strafe angesehen wurde.
II. Zur Gnadenpraxis
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gesetzten Prediger. Die moralische Gnadenwürdigkeit war für bestimmte Begnadigungsformen notwendig, aber nicht hinreichend: Damit eine Begnadigung mit der Gnadenwürdigkeit begründet werden konnte, mussten auch andere, den Gnadenträger überzeugende Gründe vorliegen. Das Interesse der Obrigkeit bestand darin, die die Gesellschaft zusammenhaltenden und letztlich auch die Herrschaft sichernden Werte sichtbar zu machen und demonstrativ zu unterstützen. Die Inszenierung von Herrschaft bezog beide Seiten, sowohl die Untertanen als auch den Herrscher, aktiv ein: Während die Supplikanten und Supplikantinnen den Integrationswillen der Delinquenten mit deren Reuegefühlen und Besserungsgelöbnissen zu belegen versuchten, bediente sich der Gnadenträger des idealtypischen Monarchenbildes, welches ihm in den Suppliken entgegengehalten wurde, indem er die Rolle des gnädigen Herrschers annahm und seinen reuigen Untertanen die begangenen Taten verzieh. (5) Eine Sonderrolle nahm der General-Pardon als ein pauschal angelegtes Verfahren der Gnadenpraxis ein: Wer in den Genuss einer Begnadigung kam, bestimmten die vom Gnadenträger ausgegebenen formalen Kriterien. Auch die Gnadenakte im Rahmen eines General-Pardon bedurften einer Begründung im Einzelfall. Durch Gnadenakte, die der Herrscher im Rahmen von Anlässen verkündete, die der Inszenierung von Herrschaft dienten (wie z. B. die Krönung), sollte signalisiert werden, dass die Herrschaft von Werten wie Güte und Erbarmen geprägt sei. Damit ging der Monarch in Vorleistung und konnte – darin bestand hier das obrigkeitliche Interesse – von seinen Untertanen in besonderer Weise Gehorsam und Loyalität verlangen. Es gilt festzuhalten, dass dies Gründe waren, die zu einer Begnadigung führen konnten, aber nicht zwangsläufig dazu führen mussten.48 Begnadigungen wurden selten monokausal begründet, ausschlaggebend war zumeist eine Gemengelage verschiedener Gründe. Die Analyse der Gnadenpraxis führt allerdings auch zu dem Ergebnis, dass in zahlreichen Gnadenfällen die Gewichtung der Gründe nicht nachvollziehbar und die Herleitung der Gründe fadenscheinig erscheinen. Dieser Befund deutet – gemessen an den in den Edikten und Verordnungen proklamierten Vorgaben – auf eine Inkonsequenz vieler Gnadenentscheidungen hin. Die Tatsache aber, dass eine Begnadigung stets begründet werden musste – unabhängig von der Überzeugungskraft der Argumente –, unterstreicht die Wirkungsmächtigkeit des Anspruchs, Gnade nur in begründeten Fällen zu gewähren. Zugleich ist die Inkonsequenz der Gnadenentscheidungen ein Indiz dafür, dass es jenseits der Begründung offensichtlich weitere Gründe gab, welche die Gnadenentscheidung beeinflussten. In welchen Fällen begnadigt und in welchen Fällen die Gnade verwehrt wurde, war – so die These – wesentlich von der obrigkeitlichen Interessenlage abhängig: Im fraglichen Untersuchungszeitraum unterlag Gnade Interessen der 48 Da die Akten zumeist verschweigen, welche Gründe zu einer Verwehrung der Gnade führten, gibt es keine zufrieden stellende Antwort auf die Frage, warum bestimmte Gnadenbitten abgelehnt wurden.
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Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Obrigkeit, sei es in fiskalischer Hinsicht, sei es im Hinblick auf die Tauglichkeit für die Inszenierung von Herrschaft oder sei es, dass Gnade zur Korrektur der Rechtspraxis diente, also als Mittel zur Flexibilisierung der starren Strafjustiz eingesetzt wurde, um damit der Herrschaft Legitimation zu verschaffen.49 Man kann zwei unterschiedliche Interessenbereiche feststellen: zum ersten ein utilitaristisch-materielles Interesse und zum zweiten ein ideell-legitimatorisches Interesse, eine im Sinne aufklärerischen Denkens gerechte Justizpraxis [s. u.] herbeizuführen.50 4. Ein zentrales Ergebnis dieser Studie ist, dass unter Friedrich Wilhelm II. eine zurückhaltende bis restriktive Gnadenpraxis verfolgt wurde, bei der relativ wenige Begnadigungen gewährt wurden: Auf insgesamt 693 Gnadenbitten und Fürsprachen entfallen nur 134 Gnadenakte; dies entspricht einer Gnadenquote von rund 19,3 Prozent. Im Vergleich dazu wurde in anderen frühneuzeitlichen Herrschaften zweieinhalb Mal bis fünfmal häufiger begnadigt: Dort machen Begnadigungen mitunter zwischen 50 und 80 Prozent der Gnadenbitten aus.51 Der Befund erfährt in seiner Tendenz sogar noch eine Zuspitzung, wenn man Supplikationen und Fürsprachen gesondert betrachtet: Während sich die Gnadenquote bei Supplikationen auf nur rund 16,7 Prozent (111 gewährte Gnadenbitten) beläuft, beträgt die Quote abgelehnter Supplikationen rund 83,3 Prozent (554 abgelehnte Gnadenbitten). Hinzu kommt, dass es sich bei den gewährten Begnadigungen zumeist um solche handelt, deren Reichweite relativ gering war. Anders stand es hingegen um Fürsprachen aus dem Justizapparat: Diese hatten gute Aussichten auf eine Begnadigung: Sie wurden zu rund 75 Prozent bewilligt (21 gewährte Begnadigungen bei insg. 28 Fürsprachen). Der Erfolg erklärt sich dadurch, dass ihre Absender Staatsdiener waren, auf deren Entscheidungskompetenz der Gnadenträger vertraute. Die Analyse der Gnadenpraxis macht folgende Maxime sichtbar: Ende des 18. Jahrhunderts galt die Regel, dass die Form einer Begnadigung aus obrigkeit49 Karl Härters These, dass der Begnadigung u. a. die Funktion zukommt, die Strafjustiz zu flexibilisieren, trifft auch auf die Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen zu – vgl. Härter 2005, S. 267. 50 Die These von Karl Härter, dass die Obrigkeit letztlich nur dann zur Begnadigung bereit war, wenn sie sich davon positive fiskalische und ordnungspoliceyliche Vorteile versprach, kann für Brandenburg-Preußen zwar für den Großteil der Fälle bestätigt werden, muss allerdings insofern ausgeweitet werden, als hier sehr wohl auch herrschaftslegitimatorische Interessen bei der Begnadigung eine Rolle spielten – vgl. Härter 2005, S. 266, 273. Auch Andrea Griesebner sieht die materiellen Interessen der Obrigkeit am Gnadegewähren als ausschlaggebend an – vgl. Griesebner (Frühneuzeit-Info) 2000, S. 20. 51 Z. B. liegt die Gnadenquote in Kurmainz bei geschätzten 50 Prozent – vgl. Härter 2005, S. 267. Im Erzherzogtum Österreich unter der Enns wurden dagegen 12 der insg. 15 Gnadenbitten gewährt – vgl. Griesebner (Wahrheiten) 2000, S. 132 f. und vgl. dies. (Frühneuzeit-Info) 2000, S. 21 f. Auch Andreas Bauer errechnet bei den Urfehdebriefen aus dem Bregenzerwald im 15. / 16. Jh. eine Gnadenquote von rund 80 Prozent (42 Gnadenakte im Verhältnis zu neun abgelehnten Supplikationen) – vgl. Bauer 1996, S. 170 – 187, 203, 207. In einigen anderen frühneuzeitlichen Herrschaften wurde die Gnadenpraxis allerdings auch gegen Ende des 17. Jh. zunehmend restriktiv gehandhabt, so z. B. in Württemberg – vgl. Rublack 1998, S. 101, 104.
II. Zur Gnadenpraxis
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licher Sicht dem jeweiligen Fall und der Gnadenwürdigkeit der zu begnadigenden Person angemessen und auf die Begründung der zugestandenen Milderung abgestimmt sein musste. Eine Begnadigung sollte die Wirkung der Gesetze – hier in Form der im Gerichtsurteil verkündeten Strafe – möglichst nicht aufheben oder in der Tendenz verfälschen. Zum einen musste beim Großteil der Begnadigungen eine alternative Strafe gefunden werden, die ein Äquivalent zum ursprünglichen Strafmaß darstellte. Zum anderen musste das Gerichtsverfahren abgeschlossen sein, bevor der Gnadenträger bzw. seine Staatsdiener die Möglichkeit einer Begnadigung in Betracht zogen; eine Abolition wurde daher nicht gestattet. Beim Großteil der Gnadenakte handelt es sich um eine eher geringfügige Form der Begnadigung, bei der das verhängte Strafmaß im Grunde gewahrt blieb, nur die Modalitäten des Strafvollzugs wurden zu Gunsten der Begnadigten verändert: Fast ein Drittel aller Begnadigungen bestand in einem Aufschub des Strafantritts bzw. einer vorübergehenden Aussetzung der Strafe52; etwas weniger als ein Viertel aller Gnadenakte macht die Umwandlung der Strafe in eine mildere Strafform53 aus. Substanzielle Begnadigungen hingegen, welche das Strafmaß tatsächlich minderten, wurden von den obrigkeitlichen Akteuren weitaus seltener gewährt als niederschwellige Begnadigungsformen. Voraussetzung für eine substanzielle Begnadigung war entweder die obrigkeitliche Fürsprache oder eine hinreichend überzeugende Begründung: Zum Beispiel gingen Strafverkürzungen54 zumeist auf Fürsprachen aus dem Justizapparat zurück; Loßlassungen von zu lebenslanger Haft Verurteilten55 wurden häufig mit einer veränderten Gesetzeslage in Bezug auf ein Delikt gerechtfertigt und ein gänzlicher Straferlass56 wurde nur in Ausnahmefällen bei eher geringfügigen Strafen oder bei bestimmten Strafen bzw. Delikten im Rahmen eines General-Pardon gewährt. Eine Sonderstellung nahm die Begnadigung von zum Tode Verurteilten bei der Gnadenpraxis ein, denn diese Begnadigung wurde entgegen der sonstigen Gnadenpraxis nicht restriktiv, sondern großzügig gewährt: Allen zum Tode Verurteilten, für die um Gnade gebeten wurde, schenkte Friedrich Wilhelm II. das Leben.57 Es entsteht der Eindruck, dass die obrigkeitlichen Akteure Todesurteile nur ungern vollstrecken ließen. Die Einstellung, dass 52 Konkret: 42 Aufschübe des Strafantritts bzw. vorübergehende Aussetzungen der Strafe von insg. 134 Gnadenakten bzw. rund 31,3 Prozent aller Gnadenakte. 53 Konkret: 32 Umwandlungen der Strafe in eine mildere Strafform von insg. 134 Gnadenakten bzw. rund 23,9 Prozent aller Gnadenakte. 54 Konkret: 17 Strafverkürzungen von insg. 134 Gnadenakten bzw. rund 12,7 Prozent aller Gnadenakte. 55 Konkret: 13 Loßlassungen von zu lebenlanger Haft Verurteilten von insg. 134 Gnadenakten bzw. rund 9,7 Prozent aller Gnadenakte. 56 Konkret: 11 Gänzliche Straferlasse von insg. 134 Gnadenakten bzw. rund 8,2 Prozent aller Gnadenakte. 57 Konkret: 10 Begnadigungen der zum Tode Verurteilten von insg. 134 Gnadenakten bzw. rund 7,5 Prozent aller Gnadenakte. Die von einer Todesstrafe Begnadigten wurden allerdings nicht freigelassen, sondern mit einer anderweitigen harten Strafe belegt, zumeist mit einer lebenslangen Festungs- bzw. Zuchthausstrafe.
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Ergebnisse und Schlussfolgerungen
dem Menschenleben Respekt gebührt, ist als Ausdruck des humanistisch geprägten Gedankenguts der Aufklärung zu verstehen. 5. Mit ihrer Gnadenpraxis verfolgte die Obrigkeit, so die These, primär das Ziel, Justiz und Verwaltung durch Optimierung ihrer Funktionsfähigkeit, durch Integrität und Würde zu stärken. Andererseits diente die Gnade zur demonstrativen Inszenierung von Herrschaft als schicksalhafter Instanz: Das Recht Begnadigungen auszusprechen galt Ende des 18. Jahrhunderts noch immer als „der Krone ihr schönstes Vorrecht“, nachdem sie sich dieses als landesherrliches Reservatrecht hatte sichern können.58 In der Gnade kam die Herrschaftsgewalt des Landesherrn gegenüber seinen Untertanen nicht wie so oft repressiv, sondern positiv zur Geltung. Eine jede Begnadigung dokumentierte die Güte und das Erbarmen des Monarchen und belegte damit die Ausrichtung seiner Herrschaft am christlichen Ethos. Ein Gnadenakt trug somit in mehrerlei Hinsicht zur Legitimierung von Herrschaft bei. Die Wahrnehmung beider Interessen zugleich barg allerdings einen theoretischen Widerspruch: Zeigte sich der Gnadenträger durchweg gnädig, und gewährte er entsprechend häufig die Gnadenbitten seiner Untertanen, so beförderte dies sicherlich seine Beliebtheit. Eine Gnadenpraxis musste jedoch auf lange Sicht die Integrität und die Würde der Justiz untergraben, wenn Gerichtsurteile nur selten uneingeschränkt vollzogen wurden. Ein Gnadenträger indes, der mit Gnade geizte, weil er hinter den Entscheidungen seiner Justiz stand, lief Gefahr, einen Verlust an Legitimität seiner Herrschaft zu erleiden – ein Phänomen, dessen mögliche Konsequenzen den Herrschern in Europa im Zeitalter der Französischen Revolution gewiss sehr klar vor Augen stand. Die in Brandenburg-Preußen geübte Gnadenpraxis dokumentiert, dass sich die obrigkeitlichen Akteure darüber im Klaren waren, dass das Institut der Gnade im Widerstreit zwischen zwei zentralen Herrschaftsinteressen lag.59 Die einander widersprechenden Interessen der Obrigkeit ließen sich daher nur in einer Gnadenpraxis auf einen Nenner bringen, bei der zwar vereinzelt Begnadigungen ausgesprochen, die Gnadenbitten aber mehrheitlich abgelehnt wurden. Friedrich Wilhelm III. brachte diese Haltung wie folgt zum Ausdruck: „der Herr“ solle „in Gnaden-Sachen“ „nicht zu willfährig“ sein.60 Zwischen der obrigkeitlichen Selbstbeschränkung bei der Ausübung des Gnadenrechts und dem absolutistischen Herrschaftsanspruch bestand also ein nicht auflösbares Spannungsverhältnis. 58 Zit. aus: Bericht der Kriminaldeputation des Kammergerichts vom 20. Oktober 1796 / Fallakte Anna Dorothea Devouschack; in: GStA PK, I. HA, Rep. 49, Lit. H, Paket 16.180, fol. 38. 59 So kann hier die von Rainer Polley auf der Grundlage von Normtexten zum Supplikationswesen in Brandenburg-Preußen geäußerte These bzgl. der Widersprüchlichkeit der obrigkeitlichen Interessenlage für die Gnadenpraxis bestätigt werden – vgl. Polley 1988, S. 347. 60 Friedrich Wilhelm III. (bzw. hier 1796 / 97 als Kronprinz); zit. in: Küntzel 1911, S. 107. Dies entsprach auch der Haltung renommierter Staatsrechtler und prominenter Staatsdiener, die von aufklärerischem Gedankengut geprägt waren, so z. B. Carl Gottlieb Svarez und Friedrich Leopold Kircheisen [s. A.II.4.].
II. Zur Gnadenpraxis
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An der Diskrepanz zwischen Herrschaftsanspruch und -wirklichkeit zeigt sich, dass sich das Verständnis von Herrschaft und Staatlichkeit Ende des 18. Jahrhunderts im Wandel befand: Der absolute Herrschaftsanspruch des Monarchen hatte allmählich an Bedeutung verloren, und an seine Stelle war zunehmend der Glaube an die vermeintliche Objektivität von Rechtsanwendung und bürokratischen Entscheidungen gerückt.61 6. Setzt man die hier gewonnenen Ergebnisse in einen größeren historischen Zusammenhang, so lässt sich über die Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen im Laufe des 18. Jahrhunderts – nach stichprobenartiger Akteneinsicht62 und in Kenntnis der jeweiligen historischen Rahmenbedingungen – folgende Hypothese zu ihrem Wandel über eine longue durée aufstellen: Stand die Gnade noch Anfang des 18. Jahrhunderts im persönlichen Dienst des Herrschers, so stand sie Ende des 18. Jahrhunderts im Dienst der Justiz, um mit ihrer Hilfe Gerechtigkeit im Einzelfall zu gewährleisten. Die Gnade bildete den Wandel des Herrschaftsverständnisses getreulich ab: Im 17. Jahrhundert bis Anfang des 18. Jahrhunderts waren die landesherrlichen Bemühungen noch darauf ausgerichtet, die Gnade als Reservatrecht des Landesherrn festzuschreiben und sie als einen symbolischen Ausdruck ihrer Herrschaft zu etablieren. Noch unter Friedrich I. waren das Supplizieren und das Gnadenhandeln stark von einem auf dem Gottesgnadentum basierenden Herrschaftsverständnis geprägt.63 Der Monarch konnte sich bei seiner Entscheidung in Gnadensachen – neben strategischen Überlegungen zur Machtsicherung und Friedensbewahrung – von seinem Gewissen leiten lassen und die Begnadigung zur Inszenierung seiner göttlich begründeten Herrschaft nutzen.64 Unter Friedrich Wilhelm I. indes gab es erste Ansätze, das Supplikationswesen zu regulieren, indem Immediatsupplikationen in Justizsachen begrenzt, eine ge61 Z. B. macht Peter Baumgart die Durchsetzung des neuen Staatsverständnisses daran fest, dass die Verwaltung in Brandenburg-Preußen Ende des 18. Jh. einen Prozess der Bürokratisierung und der Ablösung von der Person des Monarchen durchlief – vgl. Baumgart 1982, S. XXIV. 62 Die hier untersuchte Repositur 49 der I. Hauptabteilung hat eine Laufzeit von 1530 bis 1808, vereinzelte Dokumente reichen bis zum Jahr 1850. 63 Das auf dem Gottesgnadentum basierende Gnadenverständnis geht auf eine lange Tradition zurück: Auch für den französischen König im 14. Jh. weist z. B. Claude Gauvard nach, welche zentrale Bedeutung die Begnadigung für das Herrscherbild hatte: Die „Grâce Royale“ wird als „fille du sacré“ und die sich darin spiegelnde Barmherzigkeit als „vertu divine“ bezeichnet – zit. aus: Gauvard 1991, S. 904, 912. 64 Dies bedeutet allerdings nicht, dass Gnade das „Resultat zufälliger Milde“ war, vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass Gnade auch im Spätmittelalter als „Instrument der Politik“ im Sinne der Machtsicherung und der Friedensbewahrung diente – zit. aus: Schuster 2000, S. 301. Z. B. war es durchaus üblich, dass sich der Gnadenträger bei der Gnadenentscheidung selbst Regeln auferlegte, etwa bestimmte Delikte im Prinzip nicht zu begnadigen – vgl. Schuster 2000, S. 287, 283.
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Ergebnisse und Schlussfolgerungen
wisse Entscheidungsbefugnis an Behörden delegiert und die Sphäre der Justiz vor Eingriffen in laufende Gerichtsverfahren geschützt wurde. Diese veränderte Grundhaltung musste zur Folge haben, dass dadurch ein Gerichtsspruch unter Friedrich Wilhelm I. seltener als zuvor durch einen Gnadenakt in seinem Vollzug modifiziert wurde. Jedenfalls entspricht diese Gnadenpraxis einer Haltung, der zufolge der Justiz eine erweiterte Eigenständigkeit zugebilligt wurde, indem sie zunehmend von der unmittelbar-persönlichen Herrschaftsausübung des Monarchen – hier in Form seines Gnadenhandelns – abgegrenzt wurde. Der Nachfolger, Friedrich II., sah sich dieser Einstellung zwar generell verpflichtet, verfolgte aber eine andere Gnadenpraxis: Er förderte geradezu Immediatsupplikationen, weil er vor allem die Beschwerden der Untertanen, aber auch die hier interessierenden Gnadenbitten in Justizsachen dazu nutzte, die Arbeit seiner Staatsdiener in den Gerichten und Behörden zu kontrollieren. Die Gnadenpraxis fügt sich somit in die von Friedrich II. ausgeübte Kabinettsregierung und spiegelt somit das Herrschaftsverständnis der Zeit wider. Neben dem Potential, Herrschaft zu inszenieren, setzte die brandenburg-preußische Obrigkeit Mitte bis Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt auf einen weiteren Nutzen von Supplikation und Gnade: Die Suppliken eigneten sich in besonderem Maße als Instrument der Überwachung und der Korrektur des Handelns von mediaten Entscheidungsträgern. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts trat unter Friedrich Wilhelm II. die Tendenz zur Bürokratisierung und Rationalisierung von Herrschaft deutlicher zutage: konkret in Form einer Regulierung des Supplikationswesens, einer Standardisierung des Gnadenvorgangs mit verwaltungsinternem Prüfverfahren und eines Begründungszwangs bei Begnadigungen. Damit sollte sichergestellt werden, dass nur Personen begnadigt wurden, die eine iusta causa aggratiandi vorweisen konnten und die sich aus obrigkeitlicher Sicht der Gnade als würdig erwiesen. Eine zurückhaltend bis restriktiv gehandhabte Gnadenpraxis sollte gewährleisten, dass die Autorität der Gesetze und der Justiz gewahrt blieb. Von einer durchgreifenden Sanktionspraxis erhoffte man sich Respekt und Anerkennung der Gesetze.65 Hinter dieser Haltung steht die Ende des 18. Jahrhunderts verbreitete Vorstellung vom so genannten Gesetzesstaat, nach welcher der Landesherr der Gültigkeit gesetzter Normen ein stärkeres Gewicht gegenüber Einzelentscheidungen – wie sie etwa Gnadenakte darstellen – verlieh.66 Der Nachfolger, Friedrich Wilhelm III., hielt an der prinzipiellen Ausrichtung der Gnadenpraxis fest. Die zunehmende Bürokratisierung und Rationalisierung staatlichen Handelns führte Ende des 18. Jahrhunderts dazu, dass der Entscheidungsspielraum des Monarchen zunehmend eingeschränkt wurde. Der Monarch trat beim Gnadenhandeln nicht mit dem absoluten Herrschaftsanspruch auf: Er ließ Gnade nicht nach Gut65 In der Annahme, dass Gesetzen eine abschreckende Wirkung innewohnt, wurde von den Verfassern des ALR bewusst darauf verzichtet, in größerem Umfang mildernde oder modifizierende Umstände in das Gesetzbuch aufzunehmen – vgl. Schwennicke 1995, S. 88. 66 Zum Gesetzesstaat vgl. Willoweit 1990, S. 188.
II. Zur Gnadenpraxis
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dünken walten, sondern versuchte, sie zu rechtfertigen; den Bezugspunkt seines Handelns bildete dabei die Vorstellung von einer gerechten Justiz. Doch auch den Begnadigten wurden Auflagen gemacht: Sie mussten sich durch bestimmte Vorleistungen der Gnade als würdig erweisen. Begnadigt wurde nur noch mit stichhaltiger Begründung, was bedeutet, dass die Gnadenpraxis nach dem Grundsatz der iusta causa aggratiandi ausgerichtet wurde. Die Gnadenwürdigkeit war in einem gewissen Maße vom Verdienst und Integrationsangebot der zu begnadigenden Person abhängig. Die Gnadenentscheidung wurde in der Gnadenprüfung durch das Votum der Justizminister und Richter wenn nicht vorweggenommen, so doch maßgeblich vorgeprägt. Damit wurde die Gnadenentscheidung von der Person des Monarchen mehr und mehr entkoppelt: Auf diese Weise verlor die Gnade allmählich ihren Charakter als einsame persönliche Entscheidung des Monarchen. Die Entscheidung über Gnadenfälle wurde prozeduralisiert, hinsichtlich der Entscheidungsträger pluralisiert und damit aus der Sicht der Untertanen zunehmend anonymisiert. Die Erfolgsaussicht einer Gnadenbitte war durch die Bürokratisierung der Herrschaft berechenbarer geworden. Die Gnade verlor damit in einem gewissen Maße ihren disponiblen Charakter im Hinblick auf die Entscheidung. Die zentrale Schlussfolgerung dieser Studie ist, dass Gnade am Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr in erster Linie als Herrschaftssymbol genutzt wurde, sondern mehr und mehr im Dienste der Justiz im Sinne einer von der Obrigkeit als gerecht empfundenen Strafpraxis stand. Man kann sagen, dass die Funktion der Gnade Ende des 18. Jahrhunderts primär darin bestand, Gerechtigkeit im Einzelfall zu schaffen; dagegen ist die vormals zentrale Funktion von Gnade, die Herrschaft des Landesherrn zu inszenieren, deutlich in den Hintergrund getreten. Für das Herrschaftsverständnis Ende des 18. Jahrhunderts bedeutet dies, dass die im Gottesgnadentum noch zentrale Figur des Monarchen sowohl an Legitimationskraft für die Herrschaft als auch an politischer Macht in Ausübung der Herrschaft verloren hatte. An diese Stelle war nun ein Herrschaftsverständnis getreten, in welchem die Bürokratie zunehmend die zentrale Machtposition besetzte. Ihre Legitimation basiert primär auf Wertvorstellungen einer gerechten Justiz (i. S. von Gerechtigkeit der Gesetze und der Rechtspraxis) und eines sozialen Friedens. Man kann also sagen, dass es bereits Ende des 18. Jahrhunderts Anzeichen dafür gibt, dass sich das Herrschaftsverständnis gewandelt hatte bzw. sich noch im Wandel befand – einem Wandel hin zu einem Staatsgebilde, welches auf der Vorstellung des Konstitutionalismus und des staatlichen Gewaltmonopols beruht und welches sich durch den Willen seiner Staatsbürger – und später auch seiner Staatsbürgerinnen – legitimiert. Der Verlauf der Geschichte zeigt jedoch, dass dieser Weg lang war und nicht gradlinig verlaufen sollte.
Ausblick Gnade wurde erbeten und gewährt bzw. verwehrt auch über das Ende des 18. Jahrhunderts hinaus, freilich im Rahmen des sich wandelnden Herrschaftsverständnisses. Die unterschiedlichen Supplikationsformen differenzierten sich allmählich aus.1 Das hier interessierende Recht zur Begnadigung und das damit verbundene Recht, sich mit einer Gnadenbitte an das Staatsoberhaupt zu wenden, erhielten Verfassungsrang. Nach wie vor wurde der Monarch in den Verfassungen des 19. Jahrhunderts als Gnadenträger ausgewiesen. Das Gnadenrecht erfuhr allerdings in einer Hinsicht eine Beschränkung: Die Möglichkeit der Abolition wurde in den Verfassungen stark eingeschränkt, in vielen sogar ausgeschlossen.2 Denn das Eingreifen der Exekutive in schwebende Verfahren der Justiz war mit dem Gedanken der Gewaltenteilung schwerlich zu vereinbaren. Die theoretische Herausforderung bestand darin, die Institution der Gnade in ein System, welches auf der Gewaltenteilung basiert, zu integrieren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entbrannte ein Streit über die Rechtsnatur der Gnade und ihre Positionierung innerhalb der Gewaltenteilung der konstitutionellen Monarchie.3 Einhergehend mit der Ausgestaltung des Rechtstaatsprinzips rückte zudem die Frage in den Vordergrund, in welchen Grenzen das Gnadenrecht noch ausgeübt werden kann, ohne jene rechtsstaatlichen Prinzipien wieder außer Kraft zu setzen, die 1 Z. B. entwickelte sich aus der Supplikation i. S. einer Beschwerde bzw. einer Gravamina die Petition – vgl. Würgler 1995. 2 Vgl. Krause 1971, Sp. 1718; vgl. Zickler 1839, S. 793 f. Beispielsweise schuf die Bayerische Verfassung von 1818 die Abolition ab, während die Württembergische Verfassung von 1819 sie von einem Gutachten des Justizministeriums abhängig machte; auch die Preußische Verfassung von 1850 begrenzte das Abolitionsrecht – vgl. Lueder 1860, S. 69. Auch das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871 berücksichtigt die Abolition im Begnadigungsrecht nicht – s. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich nebst den gebräuchlichsten Reichs-Strafgesetzen, hrsg. v. Hans Rüdorff, 15. Aufl., Berlin 1890 und vgl. Davidsohn 1903, S. 24 f. 3 Die unterschiedlichen Gnadentheorien vertraten folgende Positionen: Die Befehlstheorie erkannte in der Begnadigung einen Staatsakt, konkret einen von Recht und Gesetz losgelösten Befehl der obersten Staatsgewalt an die zuständigen Behörden. Die Dispensationstheorie vertrat die Auffassung, dass nur der Gesetzgeber, also der Souverän, zugunsten einer Person dispensieren dürfe, ohne jedoch das Gerichtsurteil zu berühren. Die Restitutionstheorie wiederum leitete die Begnadigung von der Befugnis ab, den Verurteilten in den vorigen Stand der Ehre wieder einzusetzen. Die Verzichtstheorie sah im Gnadenakt den Verzicht des Staates auf den Strafanspruch. – Zu den Gnadentheorien vgl. Schuster 1949, S. 7 – 10; vgl. Grewe 1931, S. 28 – 40; vgl. Mickisch 1996, S. 34 f. Zu den Vertretern des Gnadenstreits werden u. a. Lueder 1860, Loeb 1881 und Elsas 1888 gezählt.
Ausblick
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man sich in der Folge der Französischen Revolution erkämpft und zur Richtschnur staatlichen Handelns gemacht hatte.4 Das Ersuchen und Gewähren von Gnade sind keine Phänomene, die sich auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit beschränken, auch unsere heutige Gesellschaft kennt Gnadengesuche und Begnadigungen.5 In Deutschland zum Beispiel hält die Diskussion über die Verortung von Gnade im Rechtsstaat an.6 Gnade wird heutzutage als ein Instrument genutzt, um zum Beispiel die Folgen eines Rechtsspruchs an die veränderte Rechtslage und an die Bedingungen der sozialen Umwelt anzupassen.7 Doch wird dies im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz als problematisch angesehen.8 Was sich bereits Ende des 18. Jahrhunderts andeutet, gilt auch noch heute: Die in der Gnade immanent angelegte Offenheit der Gnadenentscheidung macht es fast unmöglich, die Gnadenpraxis nach rationalen Kriterien eines Rechtsstaats auszurichten. Dies erkannte auch der Jurist und Politiker Gustav Radbruch (1878 – 1949): „Die Begnadigung ist ihrem Wesen nach irrational, d. h. zwecklos, aber sie ist deshalb noch nicht sinnlos.“9
Nach Radbruchs Meinung sollte auch ein Rechtsstaat aus Gründen der Staatsklugheit nicht auf die Gnade verzichten, denn allein wegen des ihr innewohnenden 4 Zur Entwicklung des reichsweiten bzw. preußischen Gnadenwesens im 19. / Anfang 20. Jh. vgl. Heinrich Frangen, Gnadenwesen und Strafmilderung in Preußen, Köln 1927, hier S. 17 – 59; vgl. Fritz Grau / Karl Schäfer, Das Preußische Gnadenrecht, Berlin 1931, hier Erlasse zum Gnadenwesen S. 251 – 253; vgl. Drews 1971. 5 Das Recht einer jeden Person, sich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden, genießt z. B. in der Bundesrepublik Deutschland Verfassungsrang und ist als Petitionsrecht im Grundgesetz (Art. 17 GG) sowie in den Verfassungen der Bundesländer garantiert – vgl. Rupert Schick, Petitionen: Von der Untertanenbitte zum Bürgerrecht, 3. überarbeitete Aufl., Heidelberg 1996, hier S. 36 – 42, 95 – 122. 6 Z. B. lehnen Dimoulis und Mickisch die derzeit herrschende Meinung ab, der zufolge die Gnade eine Gewalt sui generis sei, welche sich nicht in die rechtsstaatliche Gewaltentrias von Legislative, Exekutive und Judikative einordnen lasse. Uneinig sind sich die beiden Juristen allerdings darüber, wie die Rechtsnatur der Gnade zu bewerten ist: Während Mickisch in der Begnadigung einen Verwaltungsakt sieht und ihr damit einen Exekutivcharakter zuschreibt, versteht Dimoulis die Begnadigung als justizförmiges Verfahren und definiert sie folglich als einen Akt der Judikative – vgl. Mickisch 1996, S. 197; vgl. Dimoulis 1996, S. 128 – 206. 7 Die Funktion, welche der Gnade in unserer heutigen Gesellschaft zukommt, hat z. B. für die Bundesrepublik Deutschland das Bundesverfassungsgericht wie folgt definiert: Gnade ist zu gewähren, um „Härten des Gesetzes, etwaige Irrtümer der Urteilsfindung sowie Unbilligkeiten bei nachträglich veränderten allgemeinen oder persönlichen Verhältnissen auszugleichen“ – zit. aus: Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 23. April 1969; zit. nach: Mickisch 1996, S. 75. 8 Auf die mögliche Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes weisen Schätzler und Köbler hin – vgl. Schätzler 1976, S. 10; vgl. Köbler 1986, S. 146. Zum modernen Gnadeninstitut in Westeuropa, z. B. in Frankreich, Italien und Griechenland vgl. Dimoulis 1996; z. B. in der Bundesrepublik Deutschland vgl. ders.; vgl. Mickisch 1996, S. 75 – 150. 9 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. Aufl., Stuttgart 1963, hier S. 343.
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Ausblick
Versöhnungsgedankens habe sie ihre Daseinsberechtigung.10 Dennoch bleibt das Institut der Gnade ein Fremdkörper in der verrechtlichten und bürokratisierten modernen Staatlichkeit, denn Gnade lässt sich nicht denken ohne einen Rest an Voluntarismus, der den Handlungsspielraum des Gnadenträgers und zugleich den Wert des Instituts ausmacht. Dass dieser in der öffentlichen Meinung nicht unumstritten ist, dokumentiert eindrücklich die jüngste Diskussion über das Für und Wider einer Begnadigung von ehemaligen Mitgliedern der Rote-Armee-Fraktion. Das „gesetzlose Wunder innerhalb der juristischen Gesetzeswelt“ (Radbruch)11 lebt also fort, genauso wie die damit verbundene Gretchenfrage, ob Gnade verdient werden muss, oder ob sie ein Geschenk ist, welches keiner Rechtfertigung bedarf – juristisch gewendet: Gilt das ius aggratiandi im Sinne einer unverdienten Wohltat oder muss eine iusta causa aggratiandi, also ein gerechtfertigter, verdienter Grund vorliegen, um Gnade walten zu lassen? Es ist deutlich geworden, dass es kein universell gültiges Gnadenverständnis gibt – infolgedessen kann es auch keine einheitliche Gnadenpraxis geben. Vielmehr ist die Bedeutung und die Praxis der Gnade vom Herrschafts- und Rechtsverständnis sowie vom Wertekanon der jeweiligen Gesellschaft und der beteiligten Akteure abhängig, die – zumal in historischer Perspektive – erheblich variieren. Bei aller Verschiedenheit der Gnadenpraxis darf jedoch nicht übersehen werden, dass die in Europa verbreiteten Auffassungen von Gnade aus verwandten Wurzeln stammen und sich in Auseinandersetzung miteinander und in Abgrenzung zueinander entwickelten.
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Vgl. ebd., S. 341. Zit. aus: ebd., S. 279.
Quellen- und Literaturverzeichnis Quellenverzeichnis Ungedruckte Quellen Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. Hauptabteilung Geheimer Rat, Repositur 9 Allgemeine Verwaltung. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. Hauptabteilung Geheimer Rat, Repositur 21 Brandenburgische Städte, Ämter und Kreise. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. Hauptabteilung, Repositur 49 Fiscalia, Litterae A, B, C, D, E, F, G, H, I, K, L, M, N, R. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. Hauptabteilung Repositur 84 Justizdepartement. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. Hauptabteilung Repositur 84 a Justizministerium. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, II. Hauptabteilung Generaldirektorium, Abteilung 3 Generaldepartement. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, II. Hauptabteilung Generaldirektorium, Abteilung 14 Kurmark.
Gedruckte Quellen Adress-Kalender der Königlich-Preußischen Haupt- und Residenz-Stadt Berlin, besonders der daselbst befindlichen hohen und niederen Collegien, Instanzien und Expeditionen. Mit Approbation der Königlich Preußischen Academie der Wissenschaften, Berlin 1786 – 1794. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, hrsg. v. Hans Hattenhauer / Günther Bernert, 2. erw. Aufl., Neuwied / Kriftel / Berlin 1994. Beccaria, Cesare, Über Verbrechen und Strafen, übersetzt von Wilhelm Alff, Frankfurt a. M. 1966 (ND der Aufl. von 1764). Bekanntmachung vom 10. September 1814; in: Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1814, Teil A, No 247, Berlin 1814, S. 87 – 88. Benekendorf, Carl Friedrich, Karakterzüge aus dem Leben König Friedrich Wilhelm I. nebst verschiedenen Anecdoten von wichtigen unter seiner Regierung vorgefallenen Begebenheiten, und zu der damaligen Zeit sowohl im Militär- als Civil-Stande angestellt gewesenen merkwürdigen Personen, 3 Bde. in 12 Sammlungen, Berlin 1787 – 1798 (ND 1982). Beyerle, Konrad, Von der Gnade im Deutschen Recht (Rede zur Feier des Geburtstages seiner Majestät des Kaisers und Königs am 27. Januar 1910 im Namen der Georg-August-Universität); in: Universität Göttingen – Gelegenheitsdrucke 1906 – 1910, Göttingen 1910, S. 1 – 22.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Anhang
Dokument Nr. 1 Annahme-Order an das Kammergericht adressiert: königliche Bestätigung des Todesurteils für Dorothea Christiane Otto vom 9. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 49 Fiscalia, Lit. H, Paket 16.179, fol. 53
Anhang
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Dokument Nr. 2 Fürsprache des Justizministers v. d. Reck für Dorothea Christiane Otto in Form eines Immediatberichts an Friedrich Wilhelm II. vom 9. Mai 1787 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 49 Fiscalia, Lit. H, Paket 16.179, fol. 49
652
Anhang
Dokument Nr. 3 Gnadendekret in Form einer Kabinettsorder von Friedrich Wilhelm II. vom 11. Mai 1787 mit Eilanweisung des Justizministers v. d. Reck sowie der Vollzugsmeldung / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 49 Fiscalia, Lit. H, Paket 16.179, fol. 51
Anhang
653
Dokument Nr. 4 Supplik des Friedrich Wilhelm Livius, Prediger zu Friedersdorf, vom 7. Oktober 1795 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 49 Fiscalia, Lit. H, Paket 16.179, fol. 56
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Anhang
Dokument Nr. 5 Aufführungszeugnis des Zuchthauspredigers für Dorothea Christiane Otto vom 6. Oktober 1795 als Anlage zur Supplik des Predigers Livius vom 7. Oktober 1795 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 49 Fiscalia, Lit. H, Paket 16.179, fol. 57
Anhang
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Dokument Nr. 6 Aufführungszeugnis der Zucht- und Arbeitshausadminstration für Dorothea Christiane Otto vom 5. Oktober 1795 als Anlage zur Supplik des Predigers Livius vom 7. Oktober 1795 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 49 Fiscalia, Lit. H, Paket 16.179, fol. 58
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Anhang
Dokument Nr. 7 Gnadendekret in Form einer abschlägigen Resolution an den Supplikanten Livius vom 19. Oktober 1795 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 49 Fiscalia, Lit. H, Paket 16.179, fol. 59
Anhang
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Dokument Nr. 8 Supplik des Buchbinders Friedrich Ritter [Riller], einem „Freund“ der Verurteilten, vom 30. Januar 1798 mit Gnadendekret in Form eines Marginaldekrets o. D. über Begnadigung von Dorothea Christiane Otto / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 49 Fiscalia, Lit. H, Paket 16.179, fol. 60 r / v
658
Anhang
Noch Dokument 8
Anhang
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Dokument Nr. 9 Aufführungszeugnis der Zucht- und Arbeitshausadminstration für Dorothea Christiane Otto vom 30. Januar 1798 als Anlage zur Supplik des Freundes Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 49 Fiscalia, Lit. H, Paket 16.179, fol. 61
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Anhang
Dokument Nr. 10 Aufführungszeugnis des Zuchthauspredigers für Dorothea Christiane Otto vom 29. Januar 1798 als Anlage zur Supplik des Freundes Ritter [Riller] vom 30. Januar 1798 / Fallakte Dorothea Christiane Otto; in: GStA PK, I. HA Geheimer Rat, Rep. 49 Fiscalia, Lit. H, Paket 16.179, fol. 62
Register Abgaben S. 233 – 234, 237, 251, 254, 306, 318 – 319, 323, 361, 427, 518, 560, 570, 583 Abolition S. 30, 78, 105, 119, 174, 178 – 179, 191 – 192, 544, 607, 612 Absolutismus / absolutistisch S. 17, 20 – 23, 48, 51, 112, 122 – 123, 280, 532, 587 – 588, 608 – 611 – aufgeklärter Absolutismus S. 18, 21, 35, 112, 364 – Absolutismusforschung S. 24 Adel S. 43, 218, 336, 341, 344, 346, 348 / Fn. 466, 362, 380, 432, 525, 590 Advokat S. 97, 99, 101 – 102, 104, 118, 129 – 135; s. auch Defensor, Justizkommissar Akademiker S. 140, 580 Akzise-Kontrolleur S. 139, 224, 341, 495 Alkohol S. 220 – 221, 240, 258, 358, 405, 408, 459, 466 – 467, 557 Alltagsgeschichte S. 24 – 25 Alt-Ruppin S. 416 – 417, 429 – 430, 482 – 483 Altersversorgung S. 255, 261, 273, 275, 364 – 366 Altmark S. 19, 319 – 320, 535 v. Alvensleben S. 140, 187, 320 – 324, 508 Amtsträger / -leute S. 143, 259, 317 – 318, 327, 332, 359, 362, 470, 476 Angeklagte / Verurteilte S. 18 – 19, 24, 31, 46 – 47, 63 – 64, 67, 69, 71, 78 – 79, 130, 134, 138, 141, 174, 176 – 177, 164, 206, 215 – 217, 219 – 222, 228 – 230, 239, 252, 262, 271, 287 – 288, 296, 301, 308, 316 – 317, 343 – 345, 348, 350, 352 – 355, 357, 366 – 369, 372, 374 – 375, 416 – 417, 435, 437, 469, 478, 490 – 491, 537, 540 – 541, 554, 575 – 582, 586, 588, 590- 591, 593 – 595, 597 – 599 Angst S. 69, 97, 186, 234, 238, 246, 250, 286, 313, 398, 451, 558, 565
Anthropologie, historische S. 24 Antike S. 73, 87, 158 Anverwandte / r s. Familienmitglieder Apotheker S. 299 – 300 Appellation S. 86, 88, 177, 181, 192, 225, 234, 396, 405 – 406, 444, 485, 502, 538 – 539, 541; s. auch Gericht: Ober-Appellationssenat Aquin, Thomas von S. 75 / Fn. 15 Arbeitshaus S. 476, 501, 529 – 531, 533, 547, 551 Arenga S. 160 – 161, 199 Armenfürsorge / Gnadentaler S. 316, 326, 535, 560 Armut S. 117, 153 – 154, 176, 190, 233 – 234, 244 – 246, 338 – 339, 439, 497, 511, 534 – 538 Arneburg S. 535 – 536 v. Arnim S. 326 – 327, 459 – 460, 480 Attest, medizinisches s. Gutachten Audorf S. 320 Aufführung in der Haft / Aufführungszeugnis S. 87, 164 – 165, 275, 286, 314, 387, 411, 420, 423, 428, 448 – 449, 451, 453 – 456, 461, 562 – 565, 567, 572, 604 Aufklärung S. 20 – 21, 48, 80, 122, 531, 608 Aufruhr S. 61, 97, 177, 246, 258, 296, 303, 318, 321, 450, 460, 522, 524, 527; s. auch Aufstand, Streik, Tumult Aufstand S. 191, 206, 304, 331, 521; s. auch Aufruhr, Streik, Tumult Augsburg S. 46 Augustinus S. 74 – 75 / Fn. 14 – 15 Ausstellung, öffentliche s. Strafe: Ausstellung, öffentliche Ausweisung s. Strafe: Landesverweisung Baden(-Durlach) S. 43 Bäcker S. 142 – 144, 219 – 220, 388, 487 – 489, 531
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Register
Bau-Intendant S. 473 Bauer / Bäuerin S. 44, 66, 117, 132, 178, 205, 208, 232, 247, 255 – 256, 319 – 321, 323 – 324, 346, 348, 350, 471 – 472, 505, 507 – 508, 545, 578 – 580 – Bauernlegen S. 319 – Erbzinsbauern S. 319 Bayern S. 44, 50, 291 Beccaria, Cesare S. 81 Bedienter / Diener S. 186, 248, 277, 295, 302 – 303, 332, 339, 341 – 342, 364, 405, 530 Begnadigung; s. auch Gnade: – Aufhebung der Landesverweisung S. 524 – 529; s. auch Strafe: Landesverweisung – Aufschub des Strafantritts S. 192, 473, 503 – 524, 545, 547, 559, 572, 578 – 579, 592, 607 – Aussetzung der Strafe, vorübergehende S. 187, 486, 503 – 524, 545, 572, 592, 607 – Begnadigung von zum Tode Verurteilten S. 440 – 450, 607 – Beschleunigung des Prozesses S. 176, 210, 538 – 540 – Entlassung aus dem Arbeitshaus S. 529 – 533, 551 – Loßlassung von zu lebenslanger Haft Verurteilten S. 450 – 461, 470 – 471, 554 – Niederschlagung der Kosten S. 189 – 190, 465, 533 – 538, 550 – Straferlass, gänzlicher S. 428 – 440, 607 – Strafumwandlung in eine mildere Strafform S. 476 – 503; s. auch Strafe: Geldbuße – Strafverkürzung S. 181, 192, 206, 209, 338, 411, 461 – 476, 490, 548, 554, 564, 566, 580, 607 Behörden S. 17, 37, 52 – 56, 61, 63, 84, 96, 100, 103, 108, 110, 114, 116, 118, 120, 127 – 128, 149, 151, 157 – 158, 168, 190, 192, 202 – 204, 214, 247, 317 – 318, 323, 330, 334, 363, 376, 380, 383 – 384, 386, 388, 391, 399, 417, 480, 513, 516, 528 – 529, 536 – 537, 539, 546, 571 – 572, 583, 596, 600 – 602, 610 Behördenschreiben im Auftrag des Landesherrn S. 383, 389 – 390, 393
Beleidigung s. Injuria Bentham, Jeremy S. 82 Berlin S. 54, 58, 43, 173, 231, 249, 291 – 292, 331, 384, 400, 429 – 430, 439, 526 – 528, 531, 536 Beruf S. 93, 133 – 134, 172, 286, 346 – 347 Beschwerde s. Supplik Besserung, moralische / Besserungsgelöbnis S. 50, 67, 164, 205, 260 – 261, 297, 327, 335, 355, 404, 408, 434, 446, 448 – 449, 453, 456, 478, 480 – 481, 492, 502, 533, 554 – 555, 563, 565, 574, 579, 605 Bestätigungsrecht, königliches S. 33, 52, 55, 119, 122, 390 – 394 Betrug S. 61, 139, 143, 160, 176, 181, 209, 244, 259, 312, 328, 396, 414, 461, 501, 535; s. auch Fälschung Bettelstab S. 233, 338, 360 – 361, 473, 487, 596 Bettler S. 117, 281, 346, 360; s. auch Randgruppen, mobile Bibel S. 74 Bigamie S. 145, 417, 436 – 438, 505 Bittschriftenlinde S. 103 – 104 / Fn. 160 Blutschande S. 205, 254 – 255; s. auch Inzest, Unzucht Bote S. 386 Brandstiftung S. 61, 175, 228, 315, 396, 407, 409, 448, 555 Brauer / Bier- / Branntwein- S. 147, 242, 245, 495 – 496 Bregenzerwald S. 542, 545 Briefsteller S. 150, 160, 165, 167, 170 Brotherr / Brotherrschaft S. 186, 216, 230, 278, 295 – 308, 314 – 315, 318, 327, 332, 344, 348, 350, 354, 361 – 363, 366 – 367, 370 – 372, 405, 435, 447, 463, 468, 484, 494 – 497 Bruder s. Familienmitglieder Buchbinder S. 172, 290, 313 – 314, 386 Buchhändler S. 134, 277, 404 Bürger / Bürgerin 38, 90, 172 – 173, 222, 240, 310, 328 – 329, 346, 348, 496, 507, 520, 611 Bürgermeister S. 200, 259, 286 – 287, 317 / Fn. 351, 367, 437 – 438, 563 – 564 Bürgschaft S. 284, 533, 564, 604
Register Bürokratie / Bürokratisierung S. 23, 46, 65, 100, 120 – 121, 128, 430, 460, 473, 569, 587, 610 – 611; s. auch Rationalisierung Bundesrepublik Deutschland s. Deutschland Bursche / Lehrbursche S. 189, 195, 211, 258, 260, 270, 290 – 291, 295, 300, 302, 306 – 307, 332, 346, 349, 351, 361, 386, 404, 406, 432, 435 – 436, 468, 485, 495 – 496, 557, 579 – 580, 584, 597; s. auch Knecht, Gesinde Buße S. 48, 138, 223, 335, 546; s. auch Strafe: kirchliche Buße, Strafe: Geldbuße Calbe S. 246, 320 Calvin, Johannes S. 75 / Fn. 17 v. Carmer, Johann Heinrich Casimir S. 209, 211 – 212, 338, 340 – 341, 379, 400 – 401, 441 – 442, 508 Carpzow, Benedikt S. 80 Charlottenburg S. 329 / Fn. 403, 333 / Fn. 419 Chirurgus / Mediziner / Physicus S. 165, 226, 414 – 416, 438, 446, 459, 465, 471, 501, 519, 521 – 522, 560, 572; s. auch Gutachten, medizinisches clementia S. 73 v. Cocceji, Samuel S. 101 / Fn. 151 Codex Fridericianus S. 102 / Fn. 156 Conclusio S. 169 Constitutio Criminalis Carolina (CCC) / Peinliche Halsgerichtsordnung S. 78 contrat social / Gesellschaftsvertrag S. 103, 125 Corpus Juris Fridericianum S. 102 / Fn. 156 Courtoisie S. 66, 68, 129, 150, 158, 172 – 173, 269, 318, 337, 380, 510 Dahlwitz S. 248, 464 Dankbarkeit S. 169, 171, 324, 327, 342, 360, 420, 429, 460, 556 DDR S. 39 / Fn. 77 Defensor S. 129 – 135, 219 – 220, 248, 437 – 438; s. auch Advokat, Justizkommissar Dei gratia S. 76 Dekret S. 60, 62 / Fn. 170, 85, 204, 377, 380 – 381, 383 – 385, 389, 425, 473, 488, 599; s. auch Reskript Delikt S. 25, 54, 60 – 62, 175, 178, 183 – 184, 188, 191, 194, 221, 228 – 229, 271,
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296, 302 – 303, 318, 342, 358, 393, 396, 411, 413, 429, 432, 434, 450, 456 – 457, 461, 476, 542, 553, 555 – 556, 567, 576, 592, 607 Demut / Demutsbekundung S. 162, 164, 169, 198, 339, 510 Denunziation S. 47, 92, 111, 280, 308 – 309 Desideria s. Supplik Deutschland / Bundesrepublik Deutschland S. 35, 42, 613 Deutungsmuster S. 148, 216, 303, 347 Devotionsabstand S. 159, 172 Devotionsstrich S. 172 Diebstahl S. 61, 139, 147, 175, 185, 189, 218, 221, 237, 242, 252, 257 – 258, 261, 265, 271, 278, 291, 296 – 297, 300, 342, 347, 396, 404 – 405, 407, 416, 429, 434 – 435, 461, 463, 468, 480, 482, 485, 495, 500, 509, 531 – 532, 534, 555; s. auch Hausdiebstahl Diener s. Bedienter Diensterbietung S. 168 Dienstmagd s. Magd; s. auch Gesinde Diplomat s. Gesandter Dispens S. 85, 192, 208, 515 Dispositio S. 383 Disziplinierung S. 230, 297 – 298, 300, 309, 322, 327, 333, 335, 362 – 363 Duell S. 55, 80, 105, 348 / Fn. 466 Ego-Dokumente S. 40, 69 – 70; s. auch Selbstzeugnis Ehe S. 135, 146 – 147, 188, 197, 241 – 242, 255, 276 – 277, 286, 337, 402, 436 – 437, 487, 526 – Ehebruch S. 232, 240, 515 – Ehefrau und Ehemann s. Familienmitglieder Ehre S. 78, 80, 110, 184, 189, 223 – 224, 226, 240, 244 – 245, 262, 285, 288, 290 – 291, 296, 305, 366 – 368, 373, 432, 479, 484 – 485, 490, 492, 495, 500 – 501, 556, 562, 579, 597 – Ehrstrafe s. Strafe – Ehrverletzung S. 224, 367, 431, 579 Eid S. 177, 505 Eigentum S. 82, 107, 112, 120, 360, 505, 593
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Register
Eltern s. Familienmitglieder England S. 31, 42, 301 Erbe, das S. 253, 265 – 266, 273 – 275, 288, 292, 364 – 366, 373 – Erbe / Erbin S. 274, 365 – Erbfolge S. 274 – Erbrecht S. 274 – Erbzins S. 319, 323 / Fn. 376 Ermittlung S. 55, 210, 218, 249, 321, 392, 413, 415 – 416, 422 – 423, 469 – 470, 509, 522, 553 – Ermittlungsdauer S. 469 – 470, 553 Ernährer S. 231 – 232, 234, 238, 243 – 246, 248, 250 – 251, 316, 326, 353 – 354, 360, 369, 578, 580 – 581, 583 – 586, 590; s. auch Stütze im Alter Ernte S. 232 – 233, 246, 328, 508 – 509, 545 Eschatokoll S. 158, 172 Etingen S. 320 Evidenz- und Informationswert S. 60 Evokationsrecht S. 36, 78, 179 Fälschung S. 187, 256, 283, 286, 431, 469, 479, 487, 520, 530; s. auch Betrug Färber S. 481 / Fn. 436, 486 / Fn. 459 Familie S. 230, 272, 287 – 288, 295, 306, 316, 342 – 344, 348 – 350, 353, 357 – 362, 364, 366 – 372, 374, 476, 491 – 492, 523, 537, 545, 547, 550 – 552, 556, 559 – 562, 571, 578, 580 – 581, 584 – 585, 590, 593 – 594, 598; s. auch Verwandtschaft: Blutsverwandtschaft – Kernfamilie S. 343, 594 Familienmitglieder: – Anverwandte / r S. 272, 288 – 295, 343 – 344, 350, 354, 359 – 360, 364 – 365, 367, 370, 593, 597; s. hier auch Onkel, Tante – Bruder / Stiefbruder S. 273 – 288, 365 – 366; s. hier auch Geschwister – Ehefrau S. 231 – 252, 316, 353 – 355, 360, 369, 371 – 372, 562, 577, 578, 581 – 582, 584 – 586, 589, 598 – Ehemann S. 231 – 252, 354 – 355, 581, 584
– Eltern / Stiefeltern S. 252 – 262, 272 – 273, 287 – 288, 295, 316, 343, 349 – 350, 353 – 354, 359 – 360, 364 – 365, 367 – 371, 557, 584, 593, 597; s. hier auch Mutter, Vater – Geschwister S. 272, 273 – 288, 295, 343, 350, 354, 359 – 360, 364 – 367, 369 – 370, 593, 597; s. hier auch Bruder, Schwester – Kinder S. 251, 261 – 273, 287, 295, 316, 343, 349 – 350, 353 – 355, 359 – 360, 364 – 366, 368 – 372, 523, 552, 561, 578, 581, 584, 588, 593, 597; s. hier auch Sohn, Tochter – Mutter / Stiefmutter S. 251 – 262, 272 – 273, 307, 350, 353, 360, 365, 368 – 369, 371, 558, 561, 579, 584 – 586; s. hier auch Eltern – Onkel S. 288 – 295, 370; s. hier auch Anverwandte / r – Schwester / Stiefschwester S. 273 – 288, 365 – 366, 369 – 370; s. hier auch Geschwister – Sohn / Stiefsohn S. 262 – 273, 353, 369 – 370, 584; s. hier auch Kinder – Tante S. 288 – 295, 370; s. hier auch Anverwandte / r – Tochter / Stieftochter S. 262 – 273, 369; s. hier auch Kinder – Vater / Stiefvater S. 252 – 262, 272 – 273, 355 – 356, 365, 371, 554, 579, 584; s. hier auch Eltern Feldkirch S. 352, 542, 545 Festung / Festungshaft S. 229 – 230, 422, 491 – 492, 533, 545 – 549, 554, 558 – 560, 563 – 566, 568, 571, 573, 578 – 579, 604; s. auch Gefängnis, Zuchthaus, Strafe, Strafvollzug v. Feuerbach, Paul Johann Anselm S. 82 field-of-force, societal s. Kräftefeld Finalschnörkel / Schlussschnörkel S. 158, 173 Fiskal / Fiskalat S. 53 – 54, 115 fiskalisches Interesse / fiskalischer Nutzen S. 77 – 78, 251, 254, 306 – 307, 361 – 362, 374, 418, 486, 508, 510, 546, 562, 570 – 571, 596, 604, 606 Fleischer / Schlächter S. 241, 270, 497 – 498 Fleiß S. 116, 165, 258, 276, 448, 455, 502, 528, 563, 565, 570, 572 Folter S. 103 / Fn. 157, 222, 454 / Fn. 312
Register Frankreich S. 42, 47 – 50, 125, 149, 200, 280, 608, 613 Frauen- und Geschlechtergeschichte S. 14, 26 Freienwalde S. 142 – 143 / Fn. 345, 483 – 484 Freiheit, bürgerliche S. 107, 125, 220 Frieden S. 113, 169, 455 – Frieden, sozialer S. 92, 99, 611 – Friedenssicherung / Friedensbewahrung S. 43, 600, 609 Friederike v. Preußen s. Prinzessin Friederike v. Preußen Friedrich I. v. Preußen / Kurfürst Friedrich III. s. König Friedrich I. v. Preußen / Kurfürst Friedrich III. Friedrich II. v. Preußen s. König Friedrich II. v. Preußen Friedrich III. s. König Friedrich I. v. Preußen / Kurfürst Friedrich III. Friedrich Wilhelm s. Kurfürst Friedrich Wilhelm Friedrich Wilhelm I. v. Preußen s. König Friedrich Wilhelm I. v. Preußen Friedrich Wilhelm II. v. Preußen s. König Friedrich Wilhelm II. v. Preußen Friedrich Wilhelm III. v. Preußen s. König Friedrich Wilhelm III. v. Preußen Frömmigkeit S. 269, 281, 455, 502, 563, 565, 572, 606 Fürbitte s. Supplik Fürsprache s. Supplik Gärtner S. 310, 473 Gebetsfürbitte S. 50, 163 / Fn. 427, 170 – 171 Gebühren S. 151 – 156, 533, 535, 597 Geburtstag des Monarchen S. 197 – 199, 201 Gefängnis S. 229, 261, 359, 361, 491 – 492, 545 – 546, 548 – 549, 554 – 555, 558 – 562, 564, 568, 578 – 580, 592; s. auch Festung / Festungshaft, Strafe, Strafvollzug, Zuchthaus Geheimer Rat s. Rat, Geheimer Gehorsam S. 197, 257 – 258, 276, 318, 323, 335, 448, 475, 502, 533, 554, 565, 570, 572, 605 Geldbuße s. Strafe
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Gemeinde S. 38, 42, 69, 93, 169, 285, 310, 320, 563 Gender S. 26 – 27; s. auch Geschlecht General-Pardon S. 78, 119, 194, 429 – 431, 440, 462 – 463, 476, 532, 549, 553, 565 – 568, 573, 605, 607 Generaldirektorium S. 100 / Fn. 143, 101, 114, 127, 212, 377, 430 Generation S. 261, 265, 274, 299, 315, 349 – 350, 356, 365, 588 Gerber S. 241 Gericht; s. auch Justiz, Recht: – Gerichtsbarkeit S. 92, 247, 330, 334, 422 – Gerichtsdiener S. 145 – 146, 249 – 250, 261, 436, 438 – Gerichtsordnung S. 118, 131 Gerichte im Einzelnen: – Hausvogteigericht S. 184, 224, 419, 485, 490 – 491, 493, 512; s. auch Hausvogtei als Gefängnis – Hofgericht S. 44 – Kammergericht S. 55, 60, 110 – 111, 121, 123 – 124, 132, 142, 210 – 211, 228, 330, 378, 387, 389 – 391, 394, 403, 406, 416 – 419, 422 – 423, 430 – 431, 451, 480, 483, 490 – 491, 512 – 515, 518, 539 – Kriminaldeputation des Instruktionssenats beim Kammergericht S. 55, 121, 380, 387, 390, 400, 405, 406 – 413, 419, 421 – 422, 430, 442, 447, 451, 471 – Zivildeputation des Instruktionssenats beim Kammergericht S. 406 / Fn. 122 – Militärgericht S. 334 – Ober-Appellationssenat S. 394, 396, 400, 402 – 406, 420, 422, 437, 443, 466 – 467, 485 – Obergericht, Altmärkisches S. 319 / Fn. 353, 322, 508 – 509, 536 – 537, 541 – Obergericht, Uckermärkisches S. 434 / Fn. 277 – Stadtgerichte S. 55, 60, 140, 142, 208, 401, 413 – 416, 422, 433 – 434, 474, 479, 486, 488, 494 – 495, 501, 521 – 522, 526, 528, 534, 539 Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten, Allgemeine (AGO) S. 118, 131
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Gesandter / Diplomat S. 525, 562, 564, 583 Geschlecht S. 25 – 27, 34, 68, 93, 236, 252 – 253, 257, 263, 270, 303, 351 – 352, 355 – 356, 417, 477, 513, 590 – 591; s. auch Gender – Geschlechterrollen S. 251, 253, 287, 369 – Geschlechterspezifik S. 27 – 28, 49, 71, 219, 232, 236, 243 – 244, 251 – 252, 255, 278, 287, 345, 351, 355 – 356, 360, 369, 576, 578, 583, 588, 589 – Geschlechtsvormundschaft S. 275 – 277; s. auch Vormund / Vormundschaft Geschwister s. Familienmitglieder Geselle S. 195, 206, 257, 265, 270, 276, 291, 295, 302 – 306, 315, 331 – 332, 346, 361, 400, 404, 447, 495 – 496, 505, 521 – 522, 526 – 527, 557 Gesellschaft / Ständegesellschaft S. 122, 230, 261, 272, 295, 344, 346, 348, 350, 355 – 356, 358, 362, 366, 371, 373 – 374, 461, 551, 585, 590, 594, 596 – 597, 599, 605, 613 – 614 Gesellschaftsvertrag s. contrat social Gesetz S. 295, 347 – 348, 355 – 356, 358, 365, 370, 411, 421, 423, 452, 476, 503, 529, 548 – 549, 553 – 554, 557 – 559, 563, 566 – 567, 576, 584, 589, 592, 603 – 604, 607, 610; s. auch Norm – Gesetzeslage, geänderte S. 397, 450, 460, 548, 553, 603 – 604, 607 Gesetzbuch für die Preußischen Staaten, Allgemeines (AGB) S. 120 Gesetzesstaat S. 22 – 23, 574, 610 Gesinde S. 216, 241, 295 – 297, 299 – 302, 306 – 308, 314, 318 – 319, 350, 361 – 363, 370 – 372, 495 – 496, 498, 597; s. auch Bursche, Magd, Knecht – Gesindeordnung S. 297, 300, 319, 363 Geständnis S. 137, 222 – 223, 404, 407, 416, 419, 469 – 470 Gesundheitszustand S. 226, 254, 256, 282, 389, 414 – 417, 433, 437 – 439, 482, 487, 492, 518 – 523, 526, 561, 572; s. auch Krankheit Gewalt: – obrigkeitliche Gewalt S. 22 – 23, 77, 92, 107, 125, 180, 321, 612
– physische Gewalt S. 146, 226 – 227, 240, 286, 290, 315, 400, 405, 441 – 442, 451, 453 – 454, 465 – 466, 555 – Gewaltenteilung S. 107, 122 / Fn. 252, 612 – Gewaltmonopol S. 92, 99, 113, 611 Gewehr s. Waffen Gewerbe S. 117, 187, 213, 234 – 235, 238 – 239, 251, 302, 360, 486, 495, 497, 499, 559, 580 – 581, 592; s. auch Handel Glück S. 73, 111 – 112, 116, 162, 306, 312 Gnade: – genâde / ginâda S. 73 – Gnade Gottes / von Gottes Gnaden S. 74 – 76, 168, 170, 391 – Gnade vor Recht / Gnade für Recht S. 72, 161 – 162, 398 – 399, 407, 409, 440, 442, 466 – Gnade als landesherrliches Reservatrecht S. 21, 77 – 78, 81, 94 – 95, 99, 120, 424, 450, 608 – 609 – gratia S. 74 – 76, 476, 480 – Monismus der Gnade S. 74 – Richten nach Gnade S. 77 Gnadenpraxis: – Begründungszwang / Rechtfertigung der Begnadigung S. 80, 428, 439, 552, 557 – 558, 561, 568, 569 – 571, 602 – 603, 610, 614 – Gnade Aushandeln S. 44 – 47, 473, 476, 492, 496, 547, 581, 591 – 592 – Gnade Erschleichen S. 116, 127 – Gnadenquote S. 45, 542 – 544, 575, 582 – 583, 585 – 586, 606 – Gnadenwürdigkeit S. 148, 182, 264, 288, 292, 314, 339, 405, 411, 413, 420, 423, 431 – 432, 446, 454 – 455, 458, 462, 465, 468, 481, 529, 541, 543, 551 – 555, 562, 564 – 565, 567, 569 – 571, 586, 596, 603 – 605, 607, 611 Gnadenträger S. 17, 21, 48 – 50, 65, 67, 79, 104, 119, 162, 171 – 173, 192, 272, 335, 342, 352 – 353, 357, 362, 366, 370, 374, 376, 386, 390, 394, 401, 424, 436, 440, 444, 447 – 448, 481, 491 – 492, 500, 552, 554, 563, 565, 571, 573, 583, 587, 590 – 592, 595, 599 – 611, 614; s. auch Herrscher, Landesherr, Monarch, Souverän
Register v. Goldbeck, Heinrich Julius S. 208, 341, 380, 382, 384, 387 – 388, 390, 401 – 402, 406, 411 – 412, 431 – 433, 443 – 444, 457, 466, 470, 480, 488 – 490, 493, 526, 531 Gott S. 76, 110, 147, 168, 170, 244, 268 – 269, 288, 419, 587; s. auch Gnade: Gnade Gottes Gottesgnadentum S. 76, 103, 112 – 113, 124, 587, 609, 611 Gräningen S. 320 Gravamina s. Supplik Großkanzler S. 101, 212, 269, 340 – 342, 377, 379 – 380, 384, 400, 441, 493; s. auch Justizdepartement: chef de la justice, Justizminister Grundgesamtheit, im statistischen Sinne S. 64 – 65, 217 / Fn. 5 Grundherr / Grundherrschaft S. 320, 323, 517 Gutachten / Attest, medizinisches S. 165, 225 – 226, 256, 414 – 415, 438, 457 – 459, 487, 501, 518 – 523, 572 Gutsherr / Gutsherrschaft S. 187, 218, 247, 317 – 322, 324 – 328, 335, 346, 362 – 363, 480 – 481, 508, 517 – 518, 554, 564, 579, 583 – 584 Händel s. Schlägerei Händler / Handelspartner / Kaufmann / -frau / Kaufleute S. 139, 190, 227 – 228, 265, 278, 297 – 300, 302 – 303, 308, 311 – 313, 316, 338, 346 – 347, 400, 405, 441, 485, 488 – 489, 493, 497, 512, 539 – 540 Halbhüfer S. 234 Hamburg S. 132 Handel S. 251, 265, 313, 338, 348, 360, 559; s. auch Gewerbe Hand- und Spanndienste / Hofdienste S. 247, 319 – 322, 508, 597 Handwerk S. 173, 251, 290, 292, 348, 360, 579, 590 – Handwerker S. 329, 362, 528 Haus S. 199, 218, 224, 229, 231 – 233, 243, 255, 258, 263, 273, 285, 290, 294 – 296, 315, 331, 336, 342, 344, 348, 354, 359, 364, 369, 409, 435, 484, 509, 570, 585 – Hausdiebstahl S. 242, 252, 296, 300
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– Hausmutter S. 147, 187, 236 – 237, 240 – 241, 244, 250, 255, 258, 268, 343, 580 – Hausvater S. 245, 255, 257 – 258, 262, 307, 343, 371, 580 – 581, 584 Hausvogtei als Gefängnis S. 184, 198, 419 – 420, 422, 448, 485, 490 – 491, 512; s. auch Gerichte im Einzelnen: Hausvogteigericht Havelberg S. 311 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich S. 80 Hehlerei S. 175 – 176, 297, 337 – 338, 347, 396, 404, 435, 494, 553 Heilsgeschehen, göttliches S. 75 Heinrich v. Preußen s. Prinz Heinrich v. Preußen Heiratserlaubnis / -dispens S. 86, 188, 208, 515; s. auch Dispens Herkunft, soziale S. 34, 266, 346 – 349, 351, 499, 525, 590 – 591 Herrschaft: – Herrschaft als soziale Praxis S. 27 – 32 – Herrschaftsanspruch S. 22 – 23, 588, 608 – 610 – Herrschaftslegitimation S. 103, 112; s. auch Legitimation – Herrschaftsverständnis S. 68, 197, 350, 424, 460, 599 Herrscher; s. auch Gnadenträger, Landesherr, Monarch, Souverän: – Herrscherpflichten S. 51, 112, 149, 168, 374; s. auch Schutz vor Unrecht und Bedruck als Herrscherpflicht – Herrschertugenden S. 76, 160, 197, 368 Hessen / Hessen-Kassel S. 37, 42 Hildesheim S. 160, 195, 330 – 331 Hof, königlicher S. 19, 120, 254, 279, 320, 339, 455 Hohenzollern S. 17, 19, 59, 83, 94 – 96, 98, 100, 102, 105, 121, 127, 199, 336 – 342, 344, 354, 364, 474, 544, 556, 564, 583 Huldigung S. 160 – 161, 168 – 170, 173, 197 – 198 – Huldigungstag S. 145 – 146, 197, 201 Humanität / humanitär S. 415, 570 v. Humboldt, Karl Wilhelm S. 82 Hure / Hurerei s. Prostituierte / Prostitution Hutmacher S. 239, 506
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immediat Supplizieren / Immediatsupplik / Immediatsupplikation s. Supplikation / Supplizieren / Supplizierende indulgentia S. 73 Industrialisierung S. 39 Injuria / Injurie S. 61, 178, 189 – 190, 209, 223 – 224, 296, 432, 555 – Realinjurie S. 432, 493, 306 – Verbalinjurie S. 225, 493 Inscriptio S. 158 Integration S. 358, 447 – Integrationsangebot S. 50, 164, 260, 262, 294, 574, 590, 611 – Integrationswille S. 570, 597, 605 Interzession S. 50, 331 / Fn. 409 u. 411, 336 – 342, 432 Intitulatio S. 383 Inzest S. 61, 206, 461, 471, 486, 514; s. auch Blutschande, Unzucht Italien S. 42 ius aggratiandi S. 36, 78, 574, 603, 614 ius mitigandi S. 36, 78 iusta causa aggratiandi S. 80, 574, 587, 603, 610 – 611, 614 Jäger S. 261, 435 – 436 – Jagd S. 248, 464 Joachim I. Nestor s. Kurfürst Joachim I. Nestor Joachim II. s. Kurfürst Joachim II. Joachim Friedrich s. Kurfürst Joachim Friedrich Johann Georg s. Kurfürst Johann Georg Journal / Tagebuch S. 52, 378, 385, 389 Journalist 187, 469 – 470, 490, 512 – 513 Juden / jüdisch S. 51, 138, 227 – 228, 312, 346, 400, 497, 502, 590 Jugend / Jugendlichkeit S. 184, 270 – 271, 277, 304, 445, 466 – 469, 476, 483, 557 – 558 Jurist S. 82, 121 – 125, 130, 441, 446, 613; s. auch Richter Justiz; s. auch Gericht, Recht: – Justizamt S. 142, 416 – 418, 422, 482 – 483
– Justizapparat S. 34, 52, 61, 66, 217, 391, 395, 406, 422, 424, 428, 441, 444, 461, 475, 543, 458, 570, 577, 581, 583, 606 – 607; s. auch Gerichte im Einzelnen – Justiznutzung S. 47, 297, 300, 307, 506, 591, 595 – Justizpolitik S. 109 – 110 – Justizreform S. 102, 104 Justizdepartement: – chef de la justice S. 377, 379 – 380; s. auch Großkanzler – Kurmärkisches Spezialdepartement S. 55, 57, 379 – 380, 382 Justizkommissar S. 129 – 135; s. auch Advokat, Defensor Justizminister S. 17, 56, 62, 84, 157 – 159, 204, 215, 377, 379 – 403, 421 – 423, 427, 449, 494, 499, 506, 508, 510, 538, 540 – 541, 543, 549, 551 – 553, 558 – 561, 571 – 574, 603, 611; s. auch Großkanzler, Justizdepartement: chef de la justice Kabinettsjustiz S. 109, 111 Kabinettsregierung S. 103 / Fn. 159, 610 Kaiser, römischer S. 73 Kaiserreich (1871) S. 35 Kant, Immanuel S. 81, 549 Kanzlei / Kanzlist S. 66, 94, 126, 141, 150, 176, 179, 190, 192, 197, 210, 346, 378, 383, 385 – 386, 393 – 394 Kapital: – soziales Kapital S. 145, 186, 285, 305, 318, 336, 350, 355, 366, 373 – symbolisches Kapital S. 77 Kapitalverbrechen S. 397, 461, 549; s. auch Mord / Mordversuch, Totschlag Kattunglätter S. 176, 244 Kaufmann / -leute s. Händler Kinder s. Familienmitglieder Kindsmord / -verdacht S. 170, 182 – 183, 188, 199, 229, 257, 268, 270, 273, 276, 285 – 286, 288, 313, 398 – 399, 410 – 411, 413, 419, 421, 445 – 446, 450 – 451, 453 – 456, 464 – 465, 470 – 471, 553, 576 – 577 Kirche S. 85, 169, 281, 345 Kircheisen, Friedrich Leopold S. 121 – 125, 431
Register Kläger / Klägerin S. 47, 130, 179, 211, 223, 227, 300, 307, 310, 325, 433, 473, 480 Klage s. Supplik: Beschwerde / Klage Klein Bierstedt S. 247 v. Kleist, Heinrich S. 83 – 84 Knecht S. 172, 215, 295 – 296, 315, 320, 346, 349, 361, 445, 472; s. auch Bursche, Gesinde Köln S. 352, 359 König Friedrich I. v. Preußen / Kurfürst Friedrich III. S. 96 – 99 König Friedrich II. v. Preußen S. 102 – 109, 205 König Friedrich Wilhelm I. v. Preußen S. 100 – 102 König Friedrich Wilhelm II. v. Preußen S. 17, 19, 33, 59 – 60, 109 – 121, 123 – 124, 171, 178 – 179, 195 – 200, 202, 377, 386 – 388, 400, 408, 412, 420, 428 – 429, 436, 440 – 442, 445, 449 – 450, 453, 461 – 462, 465, 471, 476 – 477, 492, 504, 513, 518, 538, 542, 556, 558, 566, 601, 606 – 607 König Friedrich Wilhelm III. v. Preußen S. 60, 121 – 128, 169, 195 – 197, 388, 428 – 429, 438, 450, 455 – 460, 461 – 462, 466, 472, 528, 532, 542, 556, 568, 608, 610 Köpenick S. 261 Kolonist S. 209, 232, 256 Kommunikation / Kommunikationsmedium S. 44, 70 – 71, 90, 193, 215, 356 – 357, 366, 372 – 373, 591, 593, 599 Konfession S. 74 – 75 Konflikt S. 38, 41 – 42, 44, 47, 143, 227, 249, 255, 295, 297, 300, 307, 309, 318, 332, 347 – 348, 355 – 356, 358, 365, 433, 529, 557, 563, 566, 584, 589 – Konflikt mit der Obrigkeit / mit dem Gesetz S. 44, 143, 249, 255, 295, 318, 332, 347 – 348, 355 – 356, 358, 529, 557, 563, 566, 584, 589 – Konfliktlösung S. 44, 68, 86, 261, 297 – 298, 300, 309, 311, 316, 363, 556 – Konfliktregelung S. 308 Konstanz S. 43, 543, 550 Konstitutionalismus S. 118 – 119 / Fn. 238, 120, 611
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konstruiert / Konstruktion S. 26, 49, 68, 88, 91, 449, 584, 591, 600 Kontrolle, soziale S. 47, 230, 276 – 277, 294, 308 – 309, 311, 345, 362, 593 Konzil von Trient S. 75 Kossäte S. 182, 218, 246, 319 / Fn. 355, 323 / Fn. 376, 442, 507 Kräftefeld / societal field-of-force S. 30 – 31, 34, 215, 345, 373, 375 Krankheit S. 165, 184, 218, 238, 305, 333, 389, 414, 417 – 419, 518 – 523, 557, 572; s. auch Gesundheitszustand Krieg S. 199 – 201, 320, 334 Kriegs- und Domänenkammer S. 61, 100 / Fn. 143, 101, 114 – 115, 317 / Fn. 350, 320 – 321, 327 – 328 / Fn. 395 Kriminalitätsforschung, historische S. 24 – 25 Kriminalordnung S. 105 Krönung, s. Thronbesteigung Kurfürst Joachim Friedrich S. 95 Kurfürst Joachim I. Nestor S. 94 Kurfürst Joachim II. S. 95 Kurfürst Johann Georg S. 95 Kurfürst Friedrich Wilhelm S. 83, 95 – 96 Kurfürst Friedrich III. s. König Friedrich I. v. Preußen Kurialstil S. 158 – 159, 380 Kurmärkisches Spezialdepartement s. Justizdepartement: Kurmärkisches Spezialdepartement Kurmainz S. 192 – 193, 213, 359, 495, 543, 545, 550, 557 Kurmark S. 17, 19, 31, 33, 45, 54 – 55, 133, 192, 226, 330, 346, 379, 392, 401, 410, 421 Landesherr S. 17, 23 – 24, 44, 46, 51, 54, 57, 77, 79, 93 – 94, 99, 101, 105, 107 – 108, 119, 121 – 126, 377, 383 – 384, 388 – 393, 424, 429, 434, 440, 475, 518, 583, 588, 608 – 611; s. auch Gnadenträger, Herrscher, Monarch, Souverän Landesvater S. 111, 171 – 172, 199 – 200; s. auch Monarchenbild Landesverweisung s. Strafe Landrat S. 187, 317 / Fn. 350, 320 – 322, 324 – 326, 362 – 363, 480, 508, 584
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Landrecht für die Preußischen Staaten, Allgemeines (ALR) S. 118 – 219 Lebensgeschichte S. 146 – 147, 295, 314 Lebenswandel S. 117, 206, 230, 257, 260, 262, 276, 289 – 290, 292, 294, 296, 299, 371, 387, 446 – 448, 451, 453, 502, 525, 529 – 530, 533, 554, 563 – 564, 570 – 571, 584 Lebenswirklichkeit S. 24, 41, 67 – 68, 71, 356, 368, 374 Legitimation / Legitimität von Herrschaft S. 17, 28, 35, 44, 82, 94, 125, 173, 225, 268, 322, 327, 364, 395, 424, 553, 556, 587, 592, 600 – 601, 604, 606, 608, 611 Lehrbursche s. Bursche Leibeigenschaft S. 40 Leibesstrafe s. Strafe Lenzen S. 418, 483 Lese- und Schreibfertigkeit S. 129, 139 – 141 lettres de cachet S. 47, 49, 52, 280 lettres de rémission S. 48, 52 Leumund S. 166, 186, 215, 225, 248, 258 – 259, 262, 285, 295 – 296, 303, 305, 310, 327, 339, 347, 355, 358, 371 – 372, 405, 446, 449, 453, 466, 495, 526, 528 – 529, 555, 561, 563 – 564, 597 – Leumundszeugnis S. 312, 329, 438, 447, 563 – 564, 604 Liebe S. 94, 171, 200, 257, 283, 455, 535 Losbitten S. 77 Loyalität S. 169, 195, 324 – 325, 327, 374, 380, 556, 570, 600, 605 Lüneburg S. 319 Luther, Martin S. 75 Machnow S. 315 Macht / Machtverhältnis(se) S. 17 – 18, 22, 30, 32, 43, 48 – 49, 65 – 71, 76, 78, 80 – 83, 108 – 109, 120 – 122, 157, 215, 243, 304, 306, 308, 314, 318, 325, 327, 330, 342, 344, 371 – 372, 374 – 375, 403, 434, 587 – 588, 593, 597 – 600, 611 – Machttechnik S. 18, 349, 366, 371, 599 – Motivationsmacht S. 28, 588, 598 – 599 Machtspruch S. 33, 52, 100, 106 – 107, 109 – 111, 113, 120 – 121, 123 – 125
Magd S. 66, 172, 215, 296, 361; s. auch Gesinde Magistrat S. 138, 142, 304, 317 / Fn. 351, 328 – 330 / Fn. 406, 335, 346, 362 – 363, 507, 535 – 537, 564 Martini S. 302, 507, 509; s. auch Michaelis Marwitz S. 169 Marx, Karl S. 29 / Fn. 46 Maurer S. 206, 225 – 226, 231, 235, 432, 526 – 528 Mecklenburg S. 232, 524 – 525 mediat Supplizieren / Mediatsupplik / Mediatsupplikation s. Supplikation / Supplizieren / Supplizierende Meineid S. 539 Melanchthon, Philipp S. 75 / Fn. 17 Memorandum S. 143 Messer s. Waffen Michaelis S. 302, 319; s. auch Martini Militär / Militärdienst / Militärangehörige S. 85, 100, 117, 239, 276, 291, 317 – 318, 331 – 336, 344, 350, 354, 363, 380, 388, 457, 472, 500 – 501, 503, 506, 547, 554, 565, 570, 583 – 585, 594, 596; s. auch Soldat, Strafe: Militärstrafe – Militärkommandeur S. 317, 333 – 334, 346, 363, 547, 563 – 564, 582 – 583, 597 Minnewesen S. 77 Mitleid S. 83, 145, 147 – 148, 160, 172, 175, 219, 241, 244, 269, 272 – 275, 180 – 181, 291, 305, 311, 314, 327, 338 – 341, 353, 361, 367 – 371, 373 – 374, 403, 415, 488 – 489, 522, 555, 595 Mitsprache: – Mitsprachemöglichkeit S. 362, 373, 596 – Mitspracherecht S. 300, 307, 322, 327, 335, 363, 596 Mittelalter S. 41, 74, 76 – 77, 90, 364, 613 Mittelmark S. 19 Mitwisserschaft S. 166, 280 Molkerei S. 509 – 510 Monarch S. 173, 201, 214, 354, 361 – 362, 368 – 369, 374, 394, 397, 422 – 424, 449, 460 – 461, 475, 540, 545, 548 – 550, 556, 565, 567 – 569, 571 – 574, 587 – 588, 590, 592, 596, 600 – 603, 605, 608 – 612, s. auch Gnadenträger, Herrscher, Landesherr, Souverän
Register Monarchenbild S. 32, 112, 124, 126, 171 – 173, 456, 600 – 601, 604 – 605 Monarchie S. 51, 79, 125, 457 – 458, 460, 612 Montesquieu, Charles de S. 79 – 80 Moral S. 128, 165, 185, 259, 327, 345, 479, 492 Mord / Mordversuch S. 219, 290, 402, 443, 445, 558; s. auch Totschlag Müller S. 211 – 212, 332, 234 – 238, 249 – 250 Müller-Arnold-Prozess S. 108 – 109, 124, 126, 214 Mündlichkeit S. 65, 358 Mutter s. Familienmitglieder Nachbar / Nachbarschaft S. 136, 141, 145, 178 – 179, 209, 216, 230, 232, 235, 240 – 241, 308 – 311, 316 – 317, 331, 344, 350, 354, 359, 361, 363, 370, 408, 448, 474, 488, 594, 596 – 597 Nahrung S. 244, 251, 281, 316, 319, 338, 360, 472, 512 Narratio S. 161, 163, 165, 167, 263, 388 Nationalsozialismus S. 35, 50 Naturrecht / naturrechtlich S. 80 – 81, 103, 423 / Fn. 189 Nauen S. 328 – 330, 506 – 507 Neumark S. 54, 379 Neu-Ruppin S. 430 Neuschöneberg S. 310 Niederschlagung der Kosten S. 189 – 191, 465, 533 – 538, 550 Norm S. 25, 29, 32, 42, 65, 153, 250, 356, 367, 375, 381, 572, 610; s. auch Gesetz Notwehr S. 221, 224 Öffentlichkeit S. 44, 241, 327 Österreich S. 42 – Erzherzogtum Österreich unter der Enns S. 46, 49, 352, 359, 542, 550 Offizier s. Militär / Militärdienst / Militärangehörige: Militärkommandeur Onkel s. Familienmitglieder Osnabrück S. 46 Pantoffelmacher S. 209, 276, 439 Papst S. 89
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Parallelismus membrorum S. 59, 64 Paternalismus / paternalistisch S. 94, 112 – 113, 170, 197, 325 – 327, 339, 342, 364, 372, 375, 452, 460 – 461, 523, 556 – 557, 577, 599 patria potestas S. 171, 240 – 241, 243, 255, 261 – 262, 271, 295 – 296, 355 – 356, 371, 590 Paulus, Apostel S. 74 / Fn. 13 Pelagius S. 74 – 75 / Fn. 14; s. auch Semipelagianismus Pertinenzprinzip S. 54, 58; s. auch Provenienz / Provenienzprinzip Petitio S. 167 – 168 Petition / Petitionswesen / Petitionspraktiken S. 38 – 39, 52, 90 – 91, 128 Pfarrer S. 269, 352, s. auch Prediger Plattes Land S. 416, 422 Poenitentiaria Apostolica S. 89 Polen S. 148, 444 Policey S. 43, 85, 192, 330 Polizeidiener S. 221 Pommern S. 283 Posen S. 327 – 328 / Fn. 395 Post S. 157, 378, 385 Potsdam S. 158, 235, 386, 400 Praktik S. 17, 27 – 33, 45, 47, 77, 84, 91, 137, 163, 171 – 172, 272, 277, 348, 358, 372, 375, 501, 589 Prediger S. 169, 285 – 286, 345, 422, 447, 453, 459, 488, 563, 605; s. auch Pfarrer Prignitz S. 19 Prinz Heinrich v. Preußen S. 336, 341 – 342 Prinzessin Friederike v. Preußen S. 336 – 341, 474 Privileg S. 36 – 37, 73, 78, 85, 122, 128, 344 Prokurator S. 97, 99, 101 – 102, 130 – 133, 138 Prostituierte / Prostitution S. 185, 293 – 294, 224, 495, 485 Protest S. 149, 246, 311, 403 – Protestforschung S. 40 – Protestzug S. 44 Provenienz / Provenienzprinzip S. 53 – 54, 58 / Fn. 160, 66 – 67, 391; s. auch Pertinenzprinzip
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Register
Prozess: – Prozessführung S. 177 – Akkusationsprozess / Akkusationsverfahren S. 46 – Inquisitionsprozess / Inquisitionsverfahren S. 46, 230, 357, 395 Prügelstrafe s. Strafe Pufendorf, Samuel A. S. 81 – 81 Pupillen-Kollegium S. 326, 362 Querulieren / Querulanten S. 116, 118, 157, 193, 202, 205, 207 – 213, 224, 597 Rache S. 222, 402, 407, 409, 443, 556 Radbruch, Gustav S. 613 – 614 Randgruppen, mobile S. 346, 348, 588, 590 – 591 Raschmacher S. 285 Rat, Geheimer S. 18, 53, 56, 60 – 61, 95 – 96, 101, 104, 321, 339, 341, 376 – 377, 379 – 380, 382 – 383, 389, 393 – 395, 397, 402, 410, 422, 430, 439, 470, 474, 492 – 493, 497, 499, 504, 513, 524, 545 – 547, 559, 571 – 572 Rationalisierung S. 23, 103, 128, 587, 602, 610; s. auch Bürokratie / Bürokratisierung Raub S. 61, 396, 405 – 406, 447, 461, 466 – 467 Recht: – römisches Recht S. 87, 89, 91 – Rechtsmittel S. 78, 87 – 88, 384, 404 – Rechtspraxis S. 20, 120, 149 – 150, 183, 250, 397, 423, 468, 475, 554, 558, 606, 611 – Rechtsspruch S. 107, 613 – Rechtsstaat S. 118 / Fn. 238, 120, 532, 613 – Strafrecht / strafrechtlich / Strafrechtsprozess S. 17, 24, 46, 52, 55, 86, 100, 106, 119, 139, 193, 240, 297, 330, 334, 342, 353, 358, 370, 384, 391, 404, 406, 428, 470 – 471, 476, 543, 546, 606 – Zivilrecht / zivilrechtlich / Zivilrechtsprozess S. 52, 107, 120, 330, 341 v. d. Reck, Eberhard Friedrich Christian S. 339, 341, 378 – 380, 386, 398 – 401, 408, 420 – 421, 442, 447, 453, 465, 474, 522
Reformation S. 163 Regensburg S. 43, 292, 543, 550, 576 Reich S. 22, 88 – 89 Reichsstadt S. 43, 550 Reichstag S. 36 – 37 Religionsedikt S. 111 / Fn. 200 Reskript S. 383 / Fn. 30; s. auch Dekret restitutio famae S. 36, 78 Reue S. 48, 50, 67, 69, 164, 182, 276, 292, 313 – 314, 324 – 325, 335, 404, 408, 433, 447 – 448, 453 – 454, 459 – 460, 475, 554, 563 – 564, 572, 604 – 605 Revolution S. 125, 247, 457 – 458 – Französische Revolution S. 149, 608, 613 – Revolution von 1848 S. 38 Richter S. 31, 40, 55, 61, 67, 77 – 78, 95, 107, 109, 119, 122 – 124, 168, 208, 215, 225, 227, 358, 392, 394, 396 – 398, 400 – 401, 405 – 408, 410 – 411, 413 – 416, 422 – 424, 431, 433, 440, 442 – 443, 445 – 450, 454, 466, 468, 479 – 481, 487 – 488, 490 – 492, 513 – 514, 521 – 522, 528, 543, 555, 558, 567, 604, 611; s. auch Jurist Ritter S. 77 Ritual S. 44, 49, 598 Rollen S. 229, 252, 255, 461, 583 – 584, 589; s. auch Geschlecht: Geschlechterrollen Rote-Armee-Fraktion S. 614 Rubrum S. 173, 383 Sachsen S. 153, 429, 439, 526 Säkularisation / Säkularisierung / säkularisiert S. 48, 79, 103, 128, 603 Salutatio S. 158 Salva fama S. 492 Sanctio S. 168 Schande S. 166, 238, 281, 285 – 286, 398 – 399, 445 – 446, 451, 484 – 485, 525, 558 Schicht, gesellschaftliche S. 23, 49, 69, 94, 129, 346, 348 – 349, 356, 590 Schlägerei S. 61, 195, 221, 234, 270 – 271, 310 Schleswig S. 40, 351 Schmied S. 209, 232 Schneider S. 260 Schönefeld S. 315 v. Schöning S. 324 – 325
Register Scholastik S. 75 / Fn. 15 Schreiber S. 29, 31, 33, 41, 67, 70, 97 – 98, 101, 116 – 118, 129 – 151, 153, 155, 168, 170, 172 – 173, 181, 233, 238, 269, 303, 312, 373, 535, 596 Schuld S. 32, 146, 165, 179 – 180, 189, 204, 259, 262, 278, 300, 303, 313, 357 – 358, 399, 404, 406, 408, 431, 434 – 437, 439 – 440, 442, 446, 449, 451, 463, 465, 467 – 468, 476, 490, 493, 497, 500, 537, 551 – 559, 564, 567, 569, 572, 604 Schule S. 445 Schutz vor Unrecht und Bedruck als Herrscherpflicht S. 51, 111 – 113, 149, 168, 171, 362, 374 Schwängerung S. 446, 561 Schwangerschaft S. 163, 166, 178, 183, 256 – 257, 270, 276, 286, 313, 384, 394, 398 – 399, 409 – 410, 445, 450 – 451, 454, 465, 470 – 471, 484, 517 – 518, 553, 576 Schweiz S. 42 Schwester s. Familienmitglieder Seefeld S. 268 Seehausen S. 437 – 438 Seidenwirker S. 270, 400, 486 Sekretär S. 140, 383 – 385, 388, 394 Selbstdarstellung der Untertanen S. 116, 169, 211, 244, 258, 286, 399, 436 – 437, 457 – 458, 499; s. auch Topos Selbstverständnis: – Selbstverständnis der Obrigkeit bzw. des Gnadenträgers S. 21, 112, 126, 523, 571 – Selbstverständnis der Untertanen / der Supplizierenden S. 145, 228, 241 – 242 Selbstzeugnis S. 41, 69 – 70; s. auch EgoDokumente Semipelagianismus S. 74 – 75 / Fn. 14; s. auch Pelagius sententia definitiva S. 98 sententia ex plenitudine potestatis S. 107 Siedenlangenbeck S. 247 SMAD S. 57 – 58 Sodomie S. 255 – 256 Sohn s. Familienmitglieder sola gratia s. Gnade Gottes Soldat S. 232, 240, 276 – 277, 328, 333 – 335, 402, 443, 447, 472, 500 – 501, 503, 535, 547, 554, 583, 597; s. auch Militär
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Souverän S. 78, 80 – 82, 94, 118, 120; s. auch Gnadenträger, Herrscher, Landesherr, Monarch Souveränität S. 80, 107 Sozialgeschichte S. 36 Spezialdepartement, Kurmärkisches s. Justizdepartement: Kurmärkisches Spezialdepartement Spießrutenlauf s. Strafe Sprichwort S. 76, 93 Staat S. 19, 38, 42, 90, 100, 103, 107, 119, 292, 345, 457, 487, 537 – Staatsapparat / Staatsorgane S. 23, 51, 100, 109 – Staatsbürger S. 90, 611 – Staatsräson, Staatszweck S. 79, 83, 112, 284 – Staatsdiener / Staatsräte S. 31, 34, 66, 71, 103 – 104, 110, 115, 133, 137, 140, 142, 145, 156 – 157, 192, 205, 214 – 215, 225, 250, 287, 331 – 332, 336, 341 – 342, 345 – 364, 378, 393 – 394, 422 – 423, 459, 479, 511, 537, 543, 545, 558, 562, 570 – 571, 600, 603, 606 – 607, 610 Stände / Landstände S. 21, 26, 34, 37, 77 – 78, 93 – 95, 99, 172, 216, 257, 347 – 348, 404; s. auch Gesellschaft / Ständegesellschaft Stahlfabrikant / -arbeiter S. 160, 293, 300 – 302 Stallmeister S. 223 Staupenschlag s. Strafe: Prügelstrafe / Staupenschlag / Züchtigung Stellmacher S. 303 – 305, 328 – 330, 506 – 507 Stempelgebühren s. Gebühren Stempelpapier S. 151, 156, 378, 535 Strafe; s. auch Begnadigung: – Ausstellung, öffentliche S. 414, 500 – 501, 540, 547, 561 – Buße, kirchliche S. 48, 103 / Fn. 157 – Ehrstrafe S. 476 – 477 – Festungsarbeit S. 182, 210, 219, 386, 400, 404 – 405, 441, 452, 461, 464, 471, 487 – 488, 501 – 502, 505 – 506, 509, 521, 526, 540
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Register
– Festungsstrafe S. 182, 184 – 185, 191, 195, 211, 218, 298, 390, 393, 400, 405 – 406, 436, 443, 472, 477, 481, 484 – 486, 502, 509, 521, 526, 531, 533, 539, 554 – 555, 558, 579; s. auch Festung / Festungshaft, Gefängnis, Strafvollzug, Zuchthaus – Geldbuße S. 97, 185 – 186, 189, 190, 208, 337, 415, 428, 432, 435, 439, 472, 474, 476 – 477, 492 – 500, 506, 511, 517, 533, 544, 547, 549, 554, 558, 560 – 561, 579 – 580, 592 – Landesverweisung S. 55, 97, 105, 191 – 192, 284, 291 – 292, 366, 524 – 529, 550 – 551, 561 – 562, 564 – Leibesstrafe S. 55, 97, 106, 119, 181, 184, 393, 446, 492, 541, 546 – Militärstrafe S. 476 – 477, 500, 501, 503, 547, 564 – Prügelstrafe / Staupenschlag / Züchtigung S. 241, 306, 327, 331, 398 – 403, 406, 429, 433 – 434, 440 – 441, 443, 446, 454, 476, 480, 495, 500, 518, 521 – 523, 530, 554; s. hier auch Willkommen und Abschied – Spießrutenlauf S. 332 – 333, 501, 547, 554 – Todesstrafe S. 55 – 56, 102, 106, 186, 280, 387, 392, 396 – 403, 407 – 409, 418 – 422, 440 – 450, 454, 457, 549 – 550, 555 – 556, 558, 570, 573, 576, 591, 607 – Willkommen und Abschied S. 306, 421, 429, 446, 463, 530 s. hier auch Prügelstrafe – Zuchthausstrafe S. 56, 117, 145, 175, 181, 184 – 185, 205, 223, 235, 237, 299, 327, 339, 387, 402 – 403, 405, 408 – 409, 415, 417, 421, 428, 430, 441, 443, 450 – 451, 454, 465, 471, 476 – 478, 482 – 485, 492, 499 – 501, 504, 508, 513, 517, 529, 545, 546, 549, 553, 559, 561 – 562, 564, 573, 578; s. auch Festung / Festungshaft, Gefängnis, Strafvollzug Straferlass, gänzlicher s. Begnadigung Strafumwandlung in eine mildere Form s. Begnadigung Strafverkürzung s. Begnadigung Strafverschärfung S. 123, 189, 531, 533 Strafvollzug S. 36, 74, 81, 142, 174 – 175, 182, 188, 191, 193, 201, 217, 267, 327, 332, 363, 394, 414, 422, 439, 451, 480,
492, 499, 506, 510, 521, 527, 529, 547 – 548, 553, 558 – 560, 562 – 565, 604, 607 – Strafvollzugsanstalt S. 60, 85, 149, 184, 219, 314, 385, 389, 393, 396, 399 / Fn. 91, 414, 418, 421 – 423, 427, 453 – 455, 461, 491, 502, 504, 509, 535, 546, 551 / Fn. 700, 563, 579; s. auch Festung / Festungshaft, Gefängnis, Strafe, Zuchthaus Strafzweck S. 67, 80, 165, 260, 325 – 327, 334, 336, 404, 434, 475, 478, 481, 492, 513, 521, 523, 554 Strasburg S. 434 / Fn. 227 Straßenraub s. Raub Strausberg S. 139, 485 Streik S. 303 – 304; s. auch Aufruhr, Aufstand, Tumult Student S. 135 – 136, 184, 285, 346 Stütze im Alter S. 253 – 255, 261, 272, 291, 354, 369, 590; s. auch Ernährer Subscriptio S. 172 Sühne S. 61, 460 Sünde / Sündenverständnis S. 48, 168, 248, 334 Supplik: – Beschwerde / Klage S. 31, 38, 42, 47, 51, 79, 86, 88, 90 – 92, 94, 96 – 98, 101, 104, 113 – 115, 117 – 119, 125 – 128, 141, 145, 149, 163, 167, 194, 205, 208, 210, 214, 221 – 222, 234, 238, 247, 250 – 251, 254, 275, 288, 296 – 298, 300, 309, 311, 320 – 321, 350, 355, 361, 432, 462, 515, 572, 601, 610 – Desideria S. 91 – Fürbitte S. 50, 77, 84, 170 – 171, 203, 243 – 244, 279 – 280, 312, 336 – 342, 344, 354, 364, 421, 428, 474, 544 – Fürsprache S. 34, 62, 63 / Fn. 176, 217, 229, 262, 272, 317 – 318, 337 – 342, 356, 376, 391 – 392, 395 – 397, 402 – 407, 410 – 424, 428 – 429, 439 – 444, 448, 451, 461, 466, 471, 475, 482 – 483, 486, 501, 542 – 544, 548, 550, 564 – 565, 570 – 571, 573, 577, 583, 593, 604, 606 – 607 – Gnadensupplik / Gnadensupplikation S. 37, 51 – 52, 85 – 87, 601 – Gravamina S. 37 – 39, 41 – 42, 52
Register – Justizsupplik / Justizsupplikation S. 37, 41, 45, 49, 50, 52, 85 – 87, 96 – 97, 104, 113, 192, 202, 589, 601 – 602 – Memorial / Memorabile S. 91 – Rechtssupplik S. 87 – Supplicat / supplicatio / supplicationis remedium / supplicium / Supplique S. 84, 87 – 88, 101 Supplikation / Supplizieren / Supplizierende: – Allzugänglichkeit des Supplizierens S. 34, 93, 348 – 351, 356, 588 – 590 – Handlungsspielraum der Supplizierenden S. 29, 32, 44, 46 – 47, 229, 354, 474, 492, 499, 524, 588, 590, 598 – immediat Supplizieren / Immediatsupplik / Immediatsupplikation S. 17, 53, 56 – 57, 96, 99, 115, 159, 380 – 381, 386, 394 – 395, 519, 542, 571, 573, 602, 609 – 610; s. hier auch mediat – Instanzenzug S. 20, 100, 104, 114 – 116, 118, 121, 127, 202, 601 – 602 – Interessen und Motive des Supplizierens S. 18, 24, 32, 34 – 35, 42, 68, 134, 144, 148 – 149, 167, 204 – 205, 215 – 216, 225, 229 – 230, 232, 234 – 235, 237, 239, 244, 247, 251, 255 – 256, 261, 264, 266, 268, 274 – 275, 286, 288 – 290, 294 – 295, 299 – 300, 305 – 307, 311 – 314, 316, 318, 324, 326 – 332, 336, 338, 341, 343, 350, 357 – 375, 403, 413, 415, 418, 423 – 424, 429, 468, 476, ,86, 488, 500, 508, 510, 517 – 519, 524, 535, 541, 547, 552, 554, 562, 570 – 571, 577, 583 – 584, 587 – 588, 590, 594 – 599, 603 – 606, 608 – mediat Supplizieren / Mediatsupplik / Mediatsupplikation S. 17, 56, 96, 116, 159, 169, 380, 382, 389, 394 – 395, 425, 503, 519, 572 – 573; s. hier auch immediat – Pflicht zu Supplizieren S. 32, 147, 173, 252, 256, 264 – 268, 270, 272 – 273, 275 – 277, 279, 283 – 284, 287, 289 – 291, 293 – 294, 318, 321, 345, 355, 362, 370 – 375, 516 – 517, 523, 534, 589 – 590, 594 – 595, 597, 600 Svarez, Carl Gottlieb S. 112, 121 – 126 Symbol / Symbolik S. 30, 49, 77, 95, 149, 158 – 159, 162, 171 – 172, 182, 198, 200, 204, 233, 392, 475, 549, 601, 609, 611
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Tabakmanufaktur 507 Täter / Täterin S. 531 – 533, 551, 558 Tagebuch s. Journal / Tagebuch Tagelöhner S. 237, 242, 402, 405 – 406, 466, 580 Tangermünde S. 236 Tante s. Familienmitglieder Thronbesteigung S. 113, 195 – 197, 430, 456, 458, 463, 465 – 466 Thronerbe S. 121, 196, 199 – 200 Tochter s. Familienmitglieder Todesstrafe s. Strafe Töpfer S. 407, 465, 511 – 512 Topos S. 76, 273 – 274, 279, 287, 356, 368 – 370, 436, 581, 584, 590, 595 – 596 Totschlag S. 61, 195, 234, 254, 271, 332, 443, 450, 456, 461, 558, 576; s. auch Mord / Mordversuch Tuchmacher S. 257, 289 – 290 Tugend / Tugendhaftigkeit S. 48, 73, 81, 160, 165, 258, 275 – 276, 298, 334, 339, 570 Tumult S. 61, 258, 296, 303, 318, 522, 526 – 527; s. auch s. Aufruhr, Aufstand, Streik Uckermark S. 19 Uhrmacher S. 495 – 497 Umstände, mildernde S. 62, 165, 175, 179, 194, 221, 295, 306, 358, 386, 396, 404, 406, 423, 441, 476, 541, 555 – 556, 567, 592, 603 – 604 unmündig / Unmündigkeit S. 147, 190, 236, 238, 241, 245, 263 – 264, 270, 272 – 273, 284, 349, 362, 369, 467, 517, 547, 588 Unschuld S. 32, 138, 177, 180, 193, 206, 222, 233, 241 – 242, 247 – 248, 251, 259, 262, 282, 358, 370, 435 – 436, 484, 487, 493 – 495, 500, 527, 534, 539 Untersuchungshaft S. 142, 146, 176 – 177, 181, 184, 186, 192, 205, 217 – 218, 223, 229, 234 – 235, 237, 241, 248, 266, 301 – 302, 305, 394, 429 – 430, 432, 434, 438, 447, 462, 464, 469, 478, 500, 504, 520, 533 – 534, 536 – 537, 539 – 541, 550 – 551, 553 Unwissenheit S. 147, 221, 227, 241 – 242, 437, 440, 493, 500, 515, 555
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Register
Unzucht S. 61, 182, 188, 240, 266 – 267, 272, 302 – 303, 418; s. auch Blutschande, Inzest Urfehde S. 43, 543, 576 Vaganten s. Randgruppen, mobile Vater s. Familienmitglieder Velten S. 169 Verfassung S. 93, 128, 416, 612 Vergewaltigung S. 303 Vergiftung S. 61, 237, 465 Verhör S. 228, 392, 410 Verleger S. 493 Versammlung S. 320 Verteidigung S. 174, 209, 221, 223, 225, 230, 247 – 249, 251, 357 – 358, 404, 435, 535, 595 Verurteilte s. Angeklagte / Verurteilte Verwandtschaft S. 162, 286, 288, 290, 292 – 294, 344, 368, 371, 594; s. auch Familie – Blutsverwandtschaft S. 290 – 291, 294 – 295, 371, 527, 595 Vormund / Vormundschaft S. 275, 277 – 279, 284, 287, 290 – 292, 294 – 295, 325 – 326, 350, 360, 362, 367, 370, 564, 584, 590, 595 Vorsatz / Vorsätzlichkeit der Tat S. 398 – 399, 410, 435 – 438, 442 – 446, 449, 463, 465 – 466, 476, 494, 555, 603 Wache S. 240 – 241, 331, 512, 521 Waffen S. 186, 386, 400, 402, 435, 441 – 445, 449, 466 – 467, 476 Waise / Waisen S. 85, 168, 268 – 270, 272, 346, 353 – 354, 445, 558, 581 Wandel, gesellschaftlicher S. 48, 103, 107, 126, 587, 602, 609, 611 Wegenstedt S. 320 Werder S. 200 Werte / Wertekanon / Wertvorstellungen S. 24 –25, 65, 67 – 69, 128, 241, 257 – 258, 264, 273, 308, 364, 371, 556, 558, 565, 569, 571, 605, 611, 614
Widerstand S. 97, 169, 249, 537 Willkommen und Abschied s. Strafe Willkür S. 21 – 23, 47, 80 – 82, 107 – 109, 112, 122 – 123, 223 – 225, 280, 396, 548 – Schutz vor Willkür S. 112 Winkeladvokat / -schriftsteller / -schriftstellerei S. 97, 116 – 118, 130, 135 – 139, 149 – 150 Wirtschaft: – Wirtschaftsargument S. 232, 250 – 251, 305, 338, 359, 361 – 362, 364, 474, 476, 489, 491, 509, 559 – 560, 578, 580 Wirtshaus S. 505, 517 Wittstock S. 142 / Fn. 343, 327 / Fn. 394 Witwe / Witwen S. 262, 307, 346, 353 – 354, 581, 586, 590 – Witwenargument S. 354 / Fn. 480, 354 v. Woellner, Johann Christoph S. 111 / Fn. 200, S. 383 – 384 / Fn. 32, 493 Württemberg, Herzogtum S. 42 Wusterhausen S. 138, 163, 227 Wut / Zorn S. 102, 214, 221, 224 / Fn. 32, 358, 402, 443, 522, 560 Zauberei S. 61 Zeitung / Intelligenz-Blätter S. 115, 279 Zeuge S. 166, 178, 221 – 223, 230, 248 – 249, 251, 258, 416, 462, 488 Zeugmacher S. 310 – 311 Zimmermann S. 187, 315, 505 – 506, 517 Zopfschulzen-Prozess S. 111, 120 / Fn. 245, 123 – 124 Zorn s. Wut / Zorn Zuchthaus S. 219 / Fn. 10, 229 – 230, 422, 491 – 492, 533, 545 – 549, 553 – 554, 559 – 566, 568, 571, 579; s. auch Festung / Festungshaft, Gefängnis, Strafe, Strafvollzug Züchtigung s. Strafe: Prügelstrafe / Staupenschlag / Züchtigung Zug-gen-Hof S. 44 – 45 Zunft S. 85, 330 Zwingli, Ulrich S. 75 / Fn. 17