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German Pages 264 [266] Year 1977
Die Schauspieltheater der DDR und das Erbe
(1970-1974)
Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Die Schauspieltheater der DDR und das Erbe (1970-1974) Positionen -Debatten -Kritiken
eingeleitet und herausgegeben von Manfred Nössig
Akademie-Verlag • Bedin 1976
Mit Beiträgen von: Hendrik Arnst Gisela Begrich/Werner Freese Christoph Funke Michael Hamburger Gert Jurgons Martin Linzer Manfred Nössig Liane Pfelling Klaus Pfützner Ursula Püschel Anselm Schlösser Manfred Starke
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag, Berlin, 1976 Lizenznummer: 202-100/246/76 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried WilhelmLeibniz«; 445 Gräfenhainichen/DDR • 4621 Bestellnummer: 752 877 7(2150/38) • LSV 8403 Printed in G D R E V P 8,50
Inhalt
Einleitung : Ererben und Erwerben (Manfred Nössig)
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Dispute und Rezensionen Zwei Debatten
49
Etwas über Maßstäbe (Manfred Nössig, Michael Hamburger, Hendrik Arnst, Ursula Püschel, Klaus Pfützner, Christoph Funke)
,49
Viermal „Hamlet" und viele Fragen offen (Liane Pfelling, Martin Linzer, Gert Jurgons, Gisela Begrich/ Werner Freese, Anselm Schlosser, Michael Hamburger, Manfred Nössig) i
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Kritiken und Aufsätze (Manfred Nössig)
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Goethe: Faust I — Halle Schiller: Die Räuber — Volksbühne Berlin \Goethe: Urfaust — Annaberg, Eisenach, Greifswald Schiller: iJW/i»jte«-Trilogie — Leipzig . . Klassiker am Stadttheater (Goethe: Egmont — Görlitz/Zittau, Schiller : Die Räuber— Frankfurt/Oder, Shakespeare : Maß für Maß— Bautzen, Shakespeare: Othello — Stendal) Shakespeare: Hamlet — Leipzig Shakespeare: Hamlet — Weimar . . Shakespeare: Othello — Stendal Shakespeare: Othello — Weimar Ibsen : Jobti Gabriel Borkmann — Dresden Ibsen: Die Wildente — Volksbühne Berlin Strindberg: Erik XIV. - Maxim Gorki Theater Berlin
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99 109 115 122
128 136 142 144 147
150 153 . . . ._ 158
Gorki: Nachtasyl— Halle . . . 162 Gorki: 'Zarbaren Maxim Gorki Theater Berlin 167 Über den Umgang mit Brecht-Stücken (Lehen des Galilei — Landesbühnen Sachsen, Der gute Mensch von Se^uan — Karl-Marx-Stadt, Ger Kaukasische Kreidekreis — Wittenberg) . . '. 173 Brecht : Der gute Mensch von Seytan — Volksbühne Berlin . . . . 182 Brecht: Herr Puntila und sein Knecht Matti — Dresden, Gera . . . 184 Brecht: Turandot oder Der Kongreß der Weißiväscher — Berliner Ensemble . . . 190 Brecht: Die Mutter — Berliner Ensemble 196 Anhang Abkürzungen Anmerkungen Werke des Erbes im Repertoire — Eine Statistik . . . . . . . (Manfred Nössig) Chronik und Bibliographie zur Erbe-Debatte 1970-1974 . . . . (Manfred Starke) Personen- und Werkregister
201 202 211 235 256
Einleitung
Ererben und Erwerben I „Was du ererbt von deinen Vätern hast, / Erwirb es, um es zu besitzen." 1 meint Faust im Angesicht des Urväter-Hausrats in seiner Studierstube. Damit beschreibt er eines der allgemeinsten, grundlegenden Probleme des Menschengeschlechts: Wie sind die überkommenen Erfahrungen, Kenntnisse, Leistungen der Generationen vor uns aufzuheben und zu nutzen, damit sie der sich, ständig verändernden gesellschaftlichen Wirklichkeit und den von ihr gestellten Aufgaben entsprechen? Man kann diese Frage von ihrer umfassenden theoretischen Bedeutung her zu beantworten versuchen. Für die einzelnen Wirklichkeits- und Lebensbereiche, besonders für das Kunst-, speziell für das Theaterschaffen bieten sich dann allerdings bei der praktischen Auslegung und Anwendung vielfältige Probleme, auch Versteckwinkel. Das ist vor allem der Fall, wenn — wie in den letzten Jahren — neue Überlegungen für den Umgang mit dem dramatischen Erbe auf dem Theater gefordert sind" und angeboten werden. Hier wird versucht, diesen Prozeß induktiv zu verfolgen, d. h. die reale Kunstpraxis der Erbe-Rezeption im Schauspieltheater der DDR am Beginn der siebziger Jahre zu belegen. Die Darstellung von Repertoirestrukturen und Diskussionsstandpunkten, die Beschreibung von Inszenierungsergebnissen und auffälligen Entwicklungstendenzen sind gewissermaßen die Grundlage, von der aus Standpunkte bezogen, Urteile angeboten werden. Die angestrebte Darstellungsmethode geht von der Prämisse aus, daß der Marxismus das souveränste weltanschaulichmethodische Konzept für den Umgang mit dem in Jahrtausenden entstandenen Fundus menschlicher Schöpferkraft 7
vorgelegt hat. Er liefert damit auch die entscheidende Alternative zum spätbürgerlichen Akademismus, Schlendrian und Modernismus auf dem Gebiet der Bewältigung des literarischen Erbes — den gegenwärtigen Hauptformen bourgeoiser „Lösungsversuche" dieses wichtigen Problemkomplexes. Demgegenüber plädiert der Marxismus für „eine genaue Kenntnis der durch die gesamte Entwicklung der Menschheit geschaffenen Kultur" 2 und versteht die sozialistische Kultur als die „Entwicklung der besten Vorbilder, Traditionen und Ergebnisse der bestehenden Kultur vom Standpunkt der marxistischen Weltanschauung und der Lebensund Kampfbedingungen des Proletariats" 3 . Die Betonung des Maßstabs der marxistischen Weltanschauung und der konkreten Lebens- und Kampfbedingungen der Arbeiterklasse durch Lenin ist dabei ebenso bedeutsam wie dessen Verteidigung des bleibenden Werts der in der Klassengesellschaft entstandenen kulturellen Leistungen. In dieser Dialektik von Aufbewahrung und aktuellem, durch die konkreten Kampfbedingungen bestimmtem Gebrauch liegt die marxistischleninistische Auffassung vom Ererben und Erwerben begründet. Es ist dies eine dynamische Methode, die nichts mit dem Erbrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu tun hat. Da gilt weder die Einschüchterung durch angemaßte Besitzrechte jener Klassen, denen die Schöpfer dieser Werke dereinst angehörten, noch der Zwang, mit den geistigen Werten auch die geistigen Bankrotte zu übernehmen. Die Aneignung des kulturellen und künstlerischen Erbes der Vergangenheit folgt deshalb auch keinem ästhetisierenden Regelbuch. Sie muß im Klassenkampf und beim Aufbau des Sozialismus und Kommunismus in jeder Phase, auf den gewonnenen Erfahrungen aufbauend, ständig neu erarbeitet werden. Nichts steht einem Sozialisten weniger an als Hochmut gegenüber vergangenen, aber auch gegenwärtigen Versuchen, sich an diese Dialektik entsprechend der politischen Gesamtstrategie, unter ganz konkreten Kampf bedingungen heranzuarbeiten. Ließe man dies unberücksichtigt, wäre es einfach, vielen sozialistischen Künstlern unver-. zeihliche Verstöße gegen marxistische Grundsätze nachzuweisen. Friedrich Wolf etwa, der 1926/28 in einer Zeit tief8
sten Arbeiterelends meinte, daß es „heute wichtigere Dinge gibt als den Konflikt der Königinnen Elisabeth und Maria Stuart, als Wallensteins Tod oder Iphigeniens Sehnsucht nach Griechenland" 4 ; oder Sergej Tretjakow, der 1931 angesichts der lebensentscheidenden Kämpfe gegen das Kulakentum und seine Ideologie in der Sowjetunion heftig „mit dem Zauber der Adelsnester, Herrenhöfe, philosophierenden Landedelleute und entzückenden Gutsfräulein" in den Werken Tolstois und Turgenjews polemisiert und befürchtet, daß „jene gottseligen Menschen aus den Erzählungen Dostojewskis, Leskows und Ostrowskis [. . .] den Geist unwissender Bäuerinnen" verwirren 3 ; auch den deutschen Theaterschaffenden, die in den fünfziger Jahren relativ einseitig politische Auslegungen der Vorgänge in klassischen Schauspielen vermittelten. Wolf und Tretjakow waren dabei übrigens nie traditionslos. Sie orientierten auf auch von der Arbeiterbewegung noch zu wenig beachtete andere, plebejische und frühsozialistische, künstlerische Uberlieferungen. Ihre Eingrenzungen des Erbefonds verengten zeitweilig das kulturelle Kampffeld, aber sie führten erst dann zu grundlegenden theoretischen Irrtümern, wenn sie über die konkrete Situation, in der sie gemacht wurden, hinaus eine Verallgemeinerung erfuhren oder eine solche davon abgeleitet wurde. Die marxistisch-leninistische Grundauffassung vom humanistischen Kultur- und Kunsterbe als eine der unveräußerlichen Quellen und Bestandteile der sozialistischen Kunst und Kultur beweist ihre Richtigkeit und Produktivität gerade im Prozeß der Vorbereitung und Durchführung der sozialistischen Revolution sowie beim Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung. Die Erfahrungen der Sowjetunion, die Einheits- und Volksfrontpolitik der III. Internationale, die Durchsetzung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz durch die im Gefolge des zweiten Weltkriegs entstandene sozialistische Staatengemeinschaft und die Errichtung der entwickelten sozialistischen Gesellschaftsordnung in diesen Ländern selbst haben die Grundthese von der Bedeutung des humanistischen Kulturerbes der Vergangenheit für die Periode des siegreichen Sozialismus nur erhärtet, dem humanistischen Erbe und seinem schöpferischen Erwerb eine steigende Bedeutung zukommen lassen. 9
D a s stellt auch die in der D D R praktizierte Beziehung zur kulturellen Tradition unter Beweis. Die Entwicklung der Künste in unserem Land ist ohne die schöpferische Anwendung der marxistisch-leninistischen Erbe-Theorie nicht denkbar. Nach der Zerschlagung des Faschismus bildete das humanistische, vor allem das nationale und internationale klassische Kunsterbe eine außerordentlich wichtige, man kann sagen die entscheidende Grundlage für den Aufbau einer antifaschistischdemokratischen Kultur, aus der sich unsere sozialistische Nationalkultur entwickelte. Über die Erforschung und Aneignung der humanistischen Traditionen vollzog sich in der Folgezeit sehr wesentlich die Entdeckung und das Verständnis der politisch-sozialen Inhalte des Kunstschaffens. In der Periode nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse in der D D R , also in den sechziger Jahren, führte das Ringen um die künstlerische Gestaltung der neuen Wirklichkeit und der sie gestaltenden Menschen zeitweilig und teilweise zu einer kontemplativeren Haltung gegenüber dem Erbe. E s wurde nicht selten nur oder doch zumindest vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Antizipation, der Vorausnahme jetzt sich praktisch realisierender Ideale betrachtet. Übertriebene Harmonievorstellungen, auf die Gegenwart bezogen, unterstützten diesen Trend und eine Praxis, die das bürgerliche Ideal mit dem sozialistischen linear gleichsetzte, dieses n u r als die Verwirklichung von jenem betrachtete. In den letzten Jahren, beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft unter den Bedingungen der sich verstärkt durchsetzenden Prinzipien der friedlichen Koexistenz und der wachsenden Schärfe der ideologischen Klassenauseinandersetzungen im internationalen Maßstab erhält das humanistische Kulturerbe neue wichtige Funktionen. Der VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 1971 hat durch seine schöpferischen kulturpolitischen Maximen entscheidenden Anteil daran, daß verstärkt ein neuer Verständigungsprozeß über Bedeutung und Funktion des Kunsterbes als eines Quells des sozialistischen Gegenwartsschaffens und als Gegenstand aktueller Rezeption einsetzte. Die bibliographische Dokumentation am Ende dieses Bandes vermittelt einen Eindruck von den vielfältigen wissenschaftlichen Aktivitäten auf diesem Gebiet und den dabei dis10
puderten neuen Anforderungen. Die gegenwärtige praktische und theoretische Arbeit mit dem Kulturerbe unter den neuen Lebens- und Kampfbedingungen des Proletariats und seiner Verbündeten sammelt Erfahrungen für die siebziger und achtziger Jahre. Dieser Prozeß vollzieht sich keineswegs national isoliert. Im Gegenteil: Die theoretischen Überlegungen und die praktischen Versuche auf diesem Gebiet, wie sie sich gegenwärtig in der DDR vollziehen, sind vielfältig angeregt und laufen parallel zu prinzipiell gleichorientierten Bestrebungen in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern sowie bei progressiven Künstlern in den imperialistischen und in den jungen Nationalstaaten. Von vielen Seiten aus also erfolgt das Heranarbeiten an die neuen Gesetzmäßigkeiten der Erbe-Aneignung und deren Variationsbreite. In einer solchen Situation kann der Versuch einer Bilanz und Analyse der Leistungen unserer Theater bei der Rezeption und Vermittlung des Erbes ein Teil des notwendigen Erfahrungsaustauschs sein.
II Die Aufgaben des Theaters und derjenigen, die es machen oder sich unmittelbar mit seiner Praxis beschäftigen, sind auf ihre Art schwieriger als die der allgemeinen Erbe-Theorie oder der speziellen Literaturwissenschaft. Es geht hier nicht in erster Linie um allgemeinste marxistische Grundsätze des Erbens und Erwerbens künstlerischer Werke der Vergangenheit, sondern um ganz konkrete dramatische Texte. Und der Schaubühne ist der gesamte „Apparat" der wissenschaftlichen Erläuterung verschlossen; ihre Sache ist die Unmittelbarkeit. Ästhetik, Literatur- und Theaterwissenschaft liefern wichtige, für das sozialistische Theaterschaffen unabdingbare Voraussetzungen, die auch auf ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstand noch viel zu wenig genutzt werden. Aber sie helfen dem Theaterpraktiker nur bedingt über die besonderen Klippen seines Metiers hinweg, beispielsweise in der Geschichte des Prinzen von Homburg eine humanistische Position in den politischen und geistigen Kämpfen der Befreiungskriege am Beginn des 19. Jahr-
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hunderts darzustellen. Die Methode des theatralischen Historisierens ist nicht gleichzusetzen mit der Vermittlung für das Fabelverständnis wichtigen Geschichtswissens. Viele gute literaturwissenschaftliche Analysen dramatischer Werke, die dem Leser neue Einblicke und Assoziationen durch eine historisch-kritische Lektüre ermöglichen, verschließen sich einer theatralischen Umsetzung. Der Theaterabend ist, auch beim Erbestück, stets unmittelbare Gegenwart. E r wird v o m aufgeschlossenen Zuschauer, der kein allgemeines Bildungserlebnis erwartet — auf welche Art „verfremdet" auchimmer —, als ein Teil s e i n e r Lebenspraxis rezipiert. J a , gerade die bewußte Deutung, parteiliche Sinngebung der dramatischen Votlage durch die Inszenierung ist, um Langeweile oder falsche Assoziation auszuschließen, auf das historische Bewußtsein und die ästhetische Bildung des Zuschauers verwiesen. Das Theater steht also wie alle darstellenden und interpretierenden Künste, insbesondere bei Werken des Erbes gewissermaßen zwischen der Kunstwissenschaft, die das W e r k bereits weitgehend für uns aneignet, und dem Bildersaal, der das Original völlig unkommentiert vorstellt. Das verlangt von den Theaterkünstlern einen hohen Grad schöpferischer Kraft zur Verwirklichung einer marxistischen Haltung zum E r b e , das ihnen stets in F o r m eines konkreten Werkes, seiner Größe und seiner Widersprüche entgegentritt. Und da zugleich jede Inszenierung, letztlich jede einzelne Aufführung, ein relativ selbständiges Kunstwerk ist, realisiert sich in ihr auch in einem hohen Maß die Subjektivität des Regisseurs und der Darsteller. J a , die unverwechselbare Sicht auf das alte Stück macht ihre Arbeit überhaupt erst zu einer künstlerischen; Handwerk, Technik ist nur, allerdings unerläßliche Voraussetzung. So erscheint oft eine größere Vorsicht als bei der Einschätzung wissenschaftlich-theoretischer Positionen geboten, wenn es darum geht, „Richtungen" voneinander abzugrenzen und aus ihnen weltanschauliche Positionen abzuleiten. Jede, Kunst, und die des Theaters auch bei ihrem Bemühen um die Aufführungen von Werken des Erbes, braucht einen gewissen Experimentier- und Spielraum, um nicht nur die künstlerische Eigenart des Subjekts, sondern auch ihre weltanschauliche Qualität auszuprägen. Und da „die Bühne und der Saal, die 12
Schauspieler und die Zuschauer erst ein G a n z e s " 6 machen, ist das künstlerisch-theatralische Experiment in vielen Fällen auch nicht von der Probebühne her zu beurteilen. D a s bedeutet keine Nachsicht gegenüber abwegigen Konzeptionen und keinen Verzicht auf notwendige Fragen an jedes Kunstwerk. Aber es erfordert feinfühliges, differenziertes Herangehen, verbietet vorschnelles, vor allem ideologisches Abstempeln — ob nun mit einem Qualitäts- oder Makelzeichen. D a s Feld der Versuche bei der praktischen Aneignung des Erbes in unserem Theater ist so breit und offen, daß jedes Festschreiben von Schaden wäre. Weite und Vielfalt und ständige Entwicklung sozialistischer Positionen bei der Interpretation und Rezeption des dramatischen Erbes sind grundlegende Gesetzmäßigkeiten dieses schöpferischen Prozesses. Allgemeine Konzilianz und allgemeine Skepsis sind gleich schädlich. Entscheidend, so wollen die vorangestellten Bemerkungen betonen, ist die exakte Untersuchung und Einschätzung der konkreten künstlerischen Leistungen bei der Erbe-Rezeption. Deshalb wurden im Hauptteil dieses Bandes Rezensionen zusammengestellt, die einige dieser Inszenierungen aus den Jahren 1970 bis 1974 reflektieren. Allerdings, und dieser Hinweis ist wichtig, trägt dieses Kompendium von journalistischen Beschreibungen und Einschätzungen kräftige Z ü g e des Subjektiven und Zufälligen. E s erscheint mir sinnvoll nutzbar nur' unter Beachtung dieser Tatsache. Subjektivität ist gegeben, indem Urteile eines Kritikers zusammengestellt sind, die nicht den Anspruch erheben können, in jedem Fall die gesellschaftliche Einschätzung der jeweiligen Produktion, ja nicht einmal die Urteilsfindung der Kritiker zu repräsentieren. E s sind gerade die markantesten Aufführungen, die mehr oder weniger unterschiedliche, zum Teil sogar diametral entgegengesetzte Wertungen durch die Kritik erfahren haben. D a s verweist auf den Prozeß neuer Positionsbestimmungen bei der Herausarbeitung allgemeiner Wertungskriterien für die Erbe-Rezeption unter den Bedingungen der reifen sozialistischen Gesellschaft und des weltweiten ideologischen Klassenkampfes. D i e Kritik arbeitet sich an diese Aufgabe •ebenso heran wie die Theaterpraxis. E s wäre deshalb eine verdienstvolle andere Arbeit, für einige umstrittene repräsentative 13
Inszenierungen einen Querschnitt von Presse- und Zuschauerurteilen zusammenzutragen und von diesem Material aus zu weiterreichenden Einschätzungen des Standards unserer ErbeRezeption — in Praxis, Kritik und Theorie — zu gelangen. Hier würde versucht, die Subjektivität der Rezensionen für den Leser durchsichtiger zu machen, indem zwei Dispute im Zusammenhang mit Erbe-Inszenierungen und daraus abgeleiteten kulturpolitischen und theoretischen Problemstellungen an den Anfang der Texte gesetzt wurden. Sie ermöglichen, den Standpunkt des Autors mit anderen Haltungen zum Erbe zu konfrontieren — als Lesemaßstab auch für das folgende. Zufälligkeit bei der Zusammenstellung der Texte schließlich ist aus zwei Gründen gegeben. Der erste ist objektiver Natur. Die rund 550 Erbe-Inszenierungen in den Spielzeiten 1970/7i bis 1973/74 konnten unmöglich von einem Menschen gesehen werden, nicht einmal die zehn oder fünfzehn wichtigsten pro Spielzeit — wobei es sicher schon schnell einen Streit darüber gäbe, welche das wären. Der zweite Grund ist subjektiver Art. Der Autor leitete in den Jahren, die hier zur Debatte stehen, die Zeitschrift Theater der Zeit. Die Auswahl der Inszenierunssbeo sprechungen war deshalb zuerst durch die Redaktionspraxis bestimmt, nicht von dem Ziel, einen möglichst umfassenden Überblick zu Erbe-Inszenierungen durch schriftlich festgehaltene Eindrücke zu geben. Es ist vielleicht der bedauerlichste Mangel dieser Zusammenstellung, daß auf diese Weise markante Inszenierungen nicht eingehend beschrieben und analysiert werden. Das betrifft z. B. O'Caseys Juno und der Pfau (Regie Adolf Dresen) 7 *, Shakespeares Leben und Tod König Kichard des Dritten (Regie Manfred Wekwerth) oder Tschechows Onkel Wanja (Regie Wolfgang Heinz) am Deutschen Theater, die Inszenierungen des Berliner Ensembles von Brechts Im "Dickicht der Städte (Regie Rüth Berghaus) und Wedekinds Frählingserwachen (Regie B. K. Tragelehn und Einar Schleef), Der goldene Elephant von Kopkow (Regie Fritz Marquardt) und Gozzis König Hirsch (Regie Benno Besson) an der Volksbühne Berlin, ebenso eine Reihe wichtiger Versuche der Republiktheater von 7 * Als Lesehilfe wurden die Ziffern, die auf weisen, durch einen Stern gekennzeichnet.
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Sachanmerkungen
hin-
Sophokles' Antigone in Karl-Marx-Stadt (Regie Piet Drescher) und Euripides' Medea in Gera (Regie Christian Bleihoeffer) über Shakespeares Wintermärchen in Görlitz/Zittau (Regie Anne Eicke) und Grabbes Napoleon oder Die hundert Tage in Meiningen (Regie Horst Rupprecht) bis zu Wolfs Cyankali in Neustrelitz (Regie Hasso von Lenski und Horst Rehberg) und Nerudas Murieta-Stück in Bautzen (Regie Heinz-Uwe Haus), Berlin (Regie Klaus Erforth und Alexander Stillmark) und Dresden (Regie Hannes Fischer). Die Einleitung wird versuchen, die durch diese Arbeiten gegebenen Anregungen mit zu verarbeiten.
III Wenn über die DDR-Theater und das Erbe gehandelt werden soll, muß man sich darüber verständigen, was als Erbe angesehen wird. Auch in diesem Punkt kann hier keine detaillierteBegründung der getroffenen Entscheidung gegeben werden. Wenn man jedoch vom Leninschen Erbe-Begriff ausgeht, die gesamte Entwicklung der Menschheit in die Erwägung zieht, verbietet sich von vornherein eine zeitliche, stilistische oder geschmackliche Eingrenzung — etwa auf die klassischen Perioden, bestimmte Gestaltungsweisen oder eine gewisse Problemintensität. Ebenso zweifelsfrei ist es von einer solchen Position aus, die sich auf die besten Vorbilder, Traditionen und Ergebnisse stützt, daß unter dem Erbe, das die Arbeiterklasse und die mit ihr verbundenen Volksschichten antreten, kein Sammelsurium künstlerischer Produktionen verstanden werden kann. Humanismus und gesellschaftlicher Fortschritt als Orientierungspunkte der ästhetischen Wirklichkeitsaneignung und Ideenvermittlung, jeweils gemessen an den historischen Voraussetzungen, sind unveräußerbare Voraussetzung. Das bedeutet aber nicht, widerspruchsreiche oder sich nicht sofort als „brauchbar" anbietende Kunstleistungen, etwa aus der Phase der spätbürgerlichen Dramatikentwicklung, als Erbe zu verwerfen. Was heute nicht erschließbar erscheint, kann schon morgen, wenn die sozialistische Gesellschaft und Kunstpraxis einen Zugang dazu ent15
deckt, von großem künstlerischen Reiz sein und wichtige Anregungen vermitteln. Offen für alle, auch verborgene oder partielle geistige und ästhetische Qualitäten in den dramatischen Werken der Vergangenheit, die von tragischen, ernsten, komischen und heiteren Konflikten zwischen Menschen in den Gesellschaftsprozessen von der Sklavenhalterordnung bis zur praktischen Gestaltung des Sozialismus berichten, bietet sich dem sozialistischen Theater ein breites Feld an Ererbens- und Erwerbenswertem. Die unterschiedliche Impulskraft, die dabei einzelnen literarischen Epochen, Strömungen, Autoren und Werken zukommt, die differenzierte Intensität gesellschafts- und persönlichkeitsbereichernder und -aktivierender Möglichkeiten (und hier gibt es in verschiedenen Phasen durchaus Bedeutungswandel), ist kein Koeffizient, der über Annahme oder Ausschluß aus dem Erbefonds entscheidet. Hier wird die Untersuchung der Relation im Repertoire und die Art der Interpretationen Aufschluß über den Reifegrad geben, wie das Theater die vielfältigen Möglichkeiten des dramatischen Erbes zur allseitigen politisch-ästhetischen Bereicherurig der Gesellschaft nutzt. Von diesem Standpunkt aus wurden prinzipiell alle jene um die Verteidigung des Humanismus bemühten Autoren und Werke zum Erbe gezählt, die uns von der Antike her bis zur Mitte dieses Jahrhunderts überliefert wurden. Nicht berücksichtigt wurden, um eine Pervertierung und Inflationierung des Erbe-Begriffs zu vermeiden, jene Stücke, die trotz teilweise gesellschaftskritischer Akzente mehr oder weniger dem spätbürgerlichen Unterhaltungstheater zugerechnet werden müssen. Das betrifft die Lustspiele von Arnold und Bach, Schönthan, auch von Curt Goetz, die gelegentlich von DDR-Theatern gespielt wurden. Was den Endpunkt für eine solche Art der Bestimmung des Erbefonds anbelangt, war eine möglichst exakte Entscheidung notwendig. Sie wurde (vor allem für die statistischen Zwecke) dahingehend getroffen, daß die Autoren den Schwerpunkt ihres Schaffens spätestens in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts haben — in der Regel bis zum Ende des zweiten Weltkrieges, also dem Beginn einer neuen Phase des weltrevolutio16
nären Prozesses und der allgemeinen Krise des Imperialismus — und ihr Lebenswerk durch den Tod abgeschlossen ist. Das bedeutet, daß beispielsweise das dramatische Schaffen von Hans J. Rehfisch, Günther Weisenborn oder Jewgenij Schwarz, vor und nach 1945 von vergleichbarer Bedeutung, in den Erbefonds eingeschlossen wurde (auch wenn die DDR-Bühnen vor allem bei den beiden demokratischen Schriftstellern der BRD vorwiegend die Spätwerke spielten). Andererseits blieb Carl Zuckmayer, der gleichfalls in beiden Perioden Bühnenstücke schrieb, ausgeschlossen (selbst wenn er im Repertoire nur durch sein frühes Drama Der Hauptmann von Köpenick wirksam war). Diese Art Unpräzisheit scheint eher vertretbar als eine mechanistische Trennung des Lebenswerkes einzelner Autoren durch die Jahreszahlen 1945 oder 1950. Diese Weite des Erbefonds ist vor allem wichtig für die Analyse der Repertoirestruktur. Die im statistischen Teil vorgenommene Untergliederung Dramen der Antike Shakespeare, seine Zeitgenossen und Nachfolger Spanische, italienische und französische Klassik Deutsche Dramatik zwischen 1525 und 1848 Russische und andere slawische Klassiker Kritische Realisten des 19. und 20. Jahrhunderts Von Maxim Gorki bis Jewgenij Schwarz Das Erbe der sozialistischen deutschen Dramatik Weitere sozialistische, antifaschistische und bürgerlichdemokratische Autoren zwischen 1917 und 1945 soll in erster Linie den Überblick erleichtern. Sie erhebt keinen Anspruch auf exakte wissenschaftliche Kategorisierung. Sie folat ö eher den sich in der Praxis des Theaters abzeichnenden Hauptsäulen eines modernen Spielplans im Erbe-Bereich. Vor allem die letzte Gruppe ist in sich sehr heterogen, erscheint aber, will man nicht zu einer Atomisierung gelangen, als eine legitime Möglichkeit, die weite Skala von Werken der jüngsten Vergangenheit zusammenzufassen. Die eingehendere Beschäftigung mit Rezeptionsproblemen im Kritiken-Teil dieses Bandes beschränkt sich dabei auf die auch zahlenmäßig das Repertoire am stärksten bestimmenden Teile: Die deutsche Klassik (pro Spielzeit 500—900 Auffüh2
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rungen), Shakespeare (350—550), Kritischer Realismus (550— 800), Gorki ( 5 0 - 1 2 0 ) und Brecht (400-550). Andere Bereiche, die langfristig eine größere Repräsentanz in den Spielplänen besitzen — die Auseinandersetzung mit O'Casey (250—400) und Jewgenij Schwarz (100—175), dem klassischen spanischen, italienischen und französischen Lustspiel (500—750) — bleiben unberücksichtigt, weil die speziellen Aufgabenstellungen für diese „Abteilungen" des Erbes v o m Autor an Hand von Aufführungen nicht genauer verfolgt wurden. D a s trifft auch auf andere Teilbereiche zu: die Antike, die russische Klassik, die sowjetische Revolutionsdramatik ' sowie weitere Autoren des kritischen Realismus (Hauptmann, Sternheim, Tschechow, Wedekind), die allerdings auch weniger spielplanbestimmend sind. Die Auswahl der Rezensionen, sosehr sie durch subjektive Faktoren bedingt ist, sagt also durchaus etwas über den Stand, den Umfang, die unterschiedlichen Interessen und Erfahrungen unserer Theater beim U m g a n g mit den alten Stücken aus.
IV Die Erbe-Rezeption beginnt bei der Auswahl für das Repertoire. Der Anteil von Erbestücken in den Spielplänen allerdings ist keine Frage des Prozentsatzes. D a s sowjetische Theater z. B. hat ständig eine beeindruckende Palette von Inszenierungen klassischer Werke des eigenen bürgerlichen und sozialistischen Nationaltheaters und der internationalen Dramatik anzubieten. Sie stehen oft jahrzehntelang im Repertoire, bilden sozusagen einen „goldenen F o n d s " , werden aber wesentlich weniger angesetzt als die zahlreichen neuen Werke. Nicht nur an einigen Bühnen Moskaus oder Leningrads, sondern auch in anderen Städten machen sie kaum mehr als 1 0 % des Monatsspielplans aus. D a s Theater in Deutschland hat andere Traditionen. Sie wirken auch in der D D R weiter. Die Klassiker vor allem trugen hier seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Repertoire der ambitionierten Bühnen zu etwa 5 0 % . Wir beobachten solche Re18
lationen noch zu Beginn der sechziger Jahre. Der Anteil des Erbes an den Schauspielaufführungen lag 1960/61 bei 51 und 1961/62 bei 46%. In den siebziger Jahren hat .sich dieses Verhältnis deutlich verschoben. In den Spielzeiten 1970/71 bis 1973/74 sind 31 bis 36% der Aufführungen. Werken des Erbes vorbehalten. Die Ursachen für diesen Rückgang liegen einmal in einer leichten Erhöhung des Anteils an zeitgenössischen Stücken — etwa 36% zu Beginn der siebziger Jahre gegenüber rund 33% am Anfang der sechziger Jahre —, vor allem aber im Ausbau jenes Sektors im Spielplan, der speziell für Kinder und Jugendliche der unteren Altersstufen gedacht ist. Widmete sich das Gesamt-Schauspielrepertoire der DDR in den Spielzeiten 1960/61 und 1961/62 mit 17 bis 20% dieset Aufgabe, so erhöhte sich dieser Anteil zwischen 1970/71 und 1973/74 auf 28 bis 31%. Diese Tendenz verweist zugleich darauf, daß auch bei der Auswahl und bei der Interpretation von Werken der Vergangenheit der Aspekt des Spielens vor einem zum Teil sehr jungen Publikum an Gewicht gewonnen hat. Unkomplizierte heitere Werke der Weltliteratur (Komödie der Irrungen, Der Diener zweier Herren, Die Gaunerstreiche des Scapin), Stücke, die Lehrstoff der oberen Klassen sind (Nathan der Weise, Egmont, Urfaust), sowie Dramen mit jugendlichen Helden (Romeo und Julia, Die Räuber, Kabale und hiebe) gewinnen nicht zuletzt deshalb in den Spielplänen an Gewicht. Diese Veränderungen haben zur Folge, daß den durchschnittlich 340 Erbe-Inszenierungen, die am Beginn der sechziger Jahre mit 6000 bis 7000 Aufführungen pro Spielzeit im Repertoire waren, zehn Jahre später nur etwa 280 Einstudierungen mit 4000 bis 4500 Aufführungen gegenüberstehen. Die Anzahl der Inszenierungen ist um rund 17% zurückgegangen, die der Aufführungen um 33%. Die durchschnittlichen Aufführungszahlen der Einstudierungen von Erbestücken liegen also Anfang der siebziger Jahre deutlich niedriger als ein Jahrzehnt vorher. Einige Momente der gegenwärtigen Repertoiregestaltung scheinen sich gegenseitig zu bedingen: begrenzte Breite des Angebots (Zahl der Inszenierungen), eingeschränkte Publikumsresonanz (Zahl der Aufführungen) und — von diesen beiden Faktoren abgeleitet — relativ geringe Stimulierung des Experiments, sowohl was die Rezeptionsmöglichkeiten des 19
Theaters als was die Inspiration der Rezeptionsfähigkeit des Publikums, letztendlich der sozialistischen Gesellschaft betrifft. Franz Fühmann spricht, offensichtlich an diese Folgenkette denkend, von „Gleichgültigkeit", ja von „Unbehagen an der Klassik" 8 — eine Skepsis, die nicht unbegründet ist. Dennoch wäre es ein Kurzschluß, von prinzipiellem „Erbe-Überdruß" zu sprechen. Das könnte nur dazu führen, Aischylos, Shakespeare, Goethe, Gorki und Brecht „abzuschreiben" oder sie auf Teufelkomm-herauszur Wirkung zu bringen. Es ist vielmehr eher so, daß die Ansprüche eines neu, vor allem jugendlich zusammengesetzten realen und viel weiter reichenden potentiellen Publikums an die Vorführungen überlieferter dramatischer Texte gewachsen sind. Der zunehmenden Zurückhaltung gegenüber einigen Standard-Erfolgsstücken und vor allem kontemplativen Inszenierungen steht ein steigendes Interesse für andere Werke mit bedeutsamenhistorisch-politischenDimensionen, besonders aber für tieflotende und aufregend-zeitgenössische Interpretationen gegenüber. Die Theater versuchen — meines Erachtens noch zu unsicher, zu pragmatisch und zu spontan — auf diese Bedürfnisse zu reagieren. Das zeigt sich u. a. in Veränderungen der Repertoirestruktur. Es gibt seit langem eine große Zurückhaltung gegenüber der Antike. Sie ist am Beginn der siebziger Jahre nicht aufgegeben worden. Zehn Inszenierungen in vier Spielzeiten — das macht einen Anteil von noch nicht einmal zwei Prozent am genutzten Erbefonds aus. Auch das Bemühen zeitgenössischer sozialistischer Autoren um Neuübersetzungen und Adaptionen dieser alten Werke — damit im Zusammenhang stehende Probleme können hier nicht behandelt werden — ist von den Theatern kaum honoriert worden. Dabei beweisen gute Aufführungen der letzten Zeit, etwa die Antigone in Karl-Marx-Stadt und Medea in Gera, daß die Problemtiefe und strenge künstlerische Formgebung des antiken Dramas auf erhebliche Resonanz nicht zuletzt bei jungen Zuschauerschichten stößt. Offenbar scheuen viele Theater die erheblichen geistigen und künstlerischen Anstrengungen, die mit Inszenierungen solcher anspruchsvoller Werke verbunden sind. Grenzen der Leistungsfähigkeit von Regisseuren und Ensembles sind hier kaum zu kaschieren. Unter den antiken Klassikern spielt Aristophanes eine domi20
nierende Rolle. Seine Stücke und darauf aufbauende Adaptionen beanspruchen zwei Drittel der Aufführungen dieses Erbe-Bereichs. Das weist auf einen generellen Akzent unserer gegenwärtigen Spielpläne hin : auf das sich verstärkende Interesse an heiteren, besonders unterhaltsamen Stücken. In dieser Richtung auch verschieben sich die Proportionen innerhalb anderer Abteilungen des Erbefonds. So gewinnen zwischen 1970 und 1974 die alten spanischen, italienischen und französischen Komödien und Lustspiele an Interesse. Von Goldoni, Molière, auch Lope de Vega werden nicht mehr nur die gängigen Stücke gespielt. Gozzi (König Hirsch, Prinzessin Turandot) und de Rojas (Celestina) kommen neu ins Spiel. So stehen den knapp 500 Aufführungen aus diesem Erbe-Bereich in der Spielzeit 1969/70 über 700 am Ende des hier betrachteten Zeitraums gegenüber. Auch der wachsende Anteil der Stücke Shakespeares und seiner Zeitgenossen (von 400 auf 600 Aufführungen pro Spielzeit) ist vor allem der hohen Zahl an Komödienproduktionen zuzuschreiben. Lange vergessene Stücke (Der Bàtter von der flammenden Mörserkeule, Hartholomäusmarkt) bereichern das Repertoire. Das Fazit ist: Der kräftige und geistvolle volkstümliche Spaß verschafft sich auf unseren Bühnen über die alten Stücke mehr Rechte. Damit wird manche Disproportion vergangener Jahre korrigiert, werden die Bedürfnisse breiter Publikumsschichten nach theatralischer Unterhaltung stärker berücksichtigt, auch dem jugendlichen Zuschauer altersspezifische Zugänge zum Erbe eröffnet. Aber es ist auch nicht von der Hand zu weisen, daß auf diese Weise Publikumserwartungen zum Teil mechanisch aufgegriffen wurden und die Hoffnung Pate stand, daß man in den heiteren Genres mit künstlerisch nicht so ausgereiften Lösungen Erfolge erzielen könne. Auch Geschichten mit märchenhaften, parabolischen Dimensionen werden häufiger gespielt. Shakespeares Wintermäreben und Cymbeline reizen die Interpreten und beschäftigen das Publikum; die Stücke von Jewgenij Schwarz werden zu Bestsellern — dramaturgische und szenische Phantasie erweisen sich als zeitgemäß. Doch im gleichen Maß, wie hier ein bestimmter Sektor des Erbes anwächst, in dem die weltanschaulich-politische Durchdringung der Konflikte gut und gern in den Hintergrund zu 21
treten vermag, gibt es auf anderen Gebieten Rücklauf und Stagnation. Vor allem die deutsche Klassik ist in den beiden letzten Spielzeiten auffällig in den Hintergrund getreten (500 statt früher 1000 Aufführungen in einer Saison). Die Schwierigkeit, große dichterische Ideale auf heutige Weise anziehend zu machen, sie über idealistische und utopische Entwürfe hinweg zu behaupten, führt zur Einschränkung wichtiger geistiger Anregungen im Erbe-Repertoire. Das wird auch durch einen anderen Umstand unterstützt. Die Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Erbe der sowjetischen und deutschen Dramenliteratur stagniert weiter. Eine Ausnahme bilden dort nur die Werke Brechts und in einem gewissen Grade die Gorkis. Bevorzugt werden neuerdings auch hier — zum Teil auf bisher nicht gespielte Stücke zurückgreifend — Lustspiel (Katajew), Satire (Majakowski), Groteske (Kopkow: Der goldene Elepbant) und Parabolik (Bulgakow). Verschiebungen haben sich auch im Bereich des kritischen Realismus ergeben. Gesunken oder ganz erloschen ist das Interesse an jenen Autoren, die in den sechziger Jahren am meisten gespielt wurden: Gerhart Hauptmann, G.B.Shaw, Gabriela Zapolska. Gewachsen oder völlig neu erwacht sind die Sympathien für Ibsen (über die Nora hinaus), Sternheim, Strindberg, Wedekind. Diese Neuüberprüfung - eines ganzen Literaturbereichs für uns geht noch zögernd vor sich, kündigt sich — auch bei Tschechow — erst in vereinzelten Inszenierungen an. Die genannten Autoren und ihre Stücke stellen interessante und lohnende Aufgaben nicht zuletzt deshalb', weil in vielen ihrer Geschichten die' komplizierte Auseinandersetzung bürgerlicher Menschen mit dem heraufkommenden Imperialismus im Zentrum steht. Für die gegenwärtigen Klassenauseinandersetzungen mit dem Imperialismus in seiner Spätphase werden dabei Überlegungen über unser Verhältnis zu den unter diesem System lebenden, von ihm bewußt oder unbewußt beeinflußten Menschen angeregt und damit wichtige Fragen der marxistischen Strategie und Taktik in den gegenwärtigen revolutionären Weltprozessen ins Bewußtsein gehoben. Die neuen Akzente im Erbe-Repertoire deuten auf eine Erhöhung des Anteils an heiter-volkstümlichen Werken, 22
auf ein wachsendes Interesse an poetischen und phantasiereichen Gestaltungsweisen hin und lassen in Ansätzen mehr Aufmerksamkeit für dramatische Historien und widerspruchsreiche Menschenschicksale in revolutionären Umbruchszeiten und im Alltag d^r spätbürgerlichen Gesellschaft erkennen. Dieser Prozeß vollzieht sich, auch was die Nutzung der ganzen Breite des Erbefonds über bestimmte „Standardwerke" hinaus anbetrifft, in langsamen aber deutlichen Schritten. Besonders im Bereich der Antike, des klassischen und nachklassischen deutschen Erbes, der russischen Realisten, der internationalen bürgerlich-demokratischen, antifaschistischen und vor allem sozialistischen Dramatik der zwanziger und dreißiger Jahre sind Fortschritte noch am zaghaftesten, einseitigsten. Diese sich andeutenden Entwicklungen bei der Auswahl für den Spielplan bieten durchaus die Voraussetzung, an die Interessen des Volkes anknüpfend, das Theater als Stätte vergnüglicher Bereicherung sozialistischer Persönlichkeiten, ihres politischen und Geschichtsbewußtseins auszubauen. Aber auch mögliche Widersprüche zwischen mehr Spaß und erhöhtem ästhetischen Anspruch einerseits und einer Vernachlässigung zupackender gesellschaftlicher Verbindlichkeit deuten sich an. Es scheint nicht zufällig, daß solche Momente sich auch in Struktur und Entwicklung des Musiktheater-Repertoires widerspiegeln: Der Anteil der Opernaufführungen — davon sind rund neun Zehntel Werken des bürgerlich-humanistischen Erbes gewidmet — sinkt (von rund 20% des Gesamtrepertoires - 1970/71 - auf etwa 17% - 1973/74), während gleichzeitig Operette und Musical ihre Position von ungefähr 18% halten, die „seriöse" Schwester also innerhalb des Untersuchungszeitraums überholen. Der Blick auf die Totale der Repertoire-Struktur muß ergänzt werden durch die Darstellung jener Probleme, die sich bei der Arbeit mit dem Erbe für einzelne Theater oder Gruppen von Theatern ergeben. Es zeigt sich nämlich, daß ihr Anteil an der Bewältigung der Erbe-Problematik recht unterschiedlich ist. In der Spielzeit 1973/74 z. B. war er bei einigen Schauspielensembles außerordentlich gering: Prenzlau (1 von 13 Inszenierungen), Anklam (1 von 11), Freiberg 23
(1 von 9), Parchim (1 von 7), Annaberg (2 von 10), Bautzen (2 von 9), Quedlinburg (4 von 17). Bei all diesen Bühnen, mit Ausnahme von Bautzen, liegt auch die Aufführungszahl von Erbe-Werken unter 2 5 % (Extreme: Prenzlau — 3 % , Freiberg — 8%). Selbst wenn sich dieses Verhältnis über einen längeren Zeitraum betrachtet als etwas günstiger erweisen sollte, wird doch eines deutlich: Die alten Stücke haben heute an vielen kleineren Theatern eine geringe Chance. Sie ist in den letzten Jahren gesunken. Sie steht auch bereits an mittleren Theatern (Eisenach: 4 von 12 Inszenierungen — 1 0 % der Aufführungen; Dessau: 3 von 10 Inszenierungen — 2 0 % der Aufführungen; Cottbus: 5 von 17 Inszenierungen — 2 2 % der Aufführungen) deutlich unter dem Durchschnitt. Diese Feststellungen sind völlig unpolemisch getroffen. Sie sind auch alles andere als eine zwangsläufige Tendenz. Unter den Theatern, bei denen das Erbe einen wesentlichen Anteil im Repertoire hat, sind auch Brandenburg ( 5 8 % der Inszenierungen, 5 9 % der Aufführungen), Altenburg ( 5 7 % der Inszenierungen, 4 9 % der Aufführungen), Plauen ( 5 4 % der Inszenierungen, 4 4 % der Aufführungen). Hier spielen zum Teil Traditionen, Erfahrungen des Theaters und seines Publikums mit dem Erbe eine Rolle, ebenso Gegebenheiten der technischen und personellen Voraussetzungen. Auch Entscheidungen der Theaterleitungen über das Profil ihrer künstlerischen Arbeit vermögen wesentlich über den Anteil von Erbestücken im Spielplan mitzubestimmen. Im sozialistischen Theater, das die Kunst der Vergangenheit und Gegenwart als einen einheitlichen Strom betrachtet, sind aus solchen Unterschieden keinerlei moralische Bewertungen abzuleiten. Trotzdem sind die auffälligen Differenzierungen zwischen verschiedenen Theatern nicht bedeutungslos. Die marxistische Auffassung von der widersprüchlichen Einheit vergangenheitsgeschichtlicher und zeitgenössischer Kunst erfordert doch, diese Totalität möglichst allseitig für die geistige und gefühlsmäßige Bereicherung der Staatsbürger zu nutzen. Und auch der Umstand, daß die Erbe-Aneignung ein wichtiger Teilbereich der internationalen ideologischen Klassenauseinandersetzung ist, zwingt dazu, die Ursachen dieser auffälligen Disproportionen zu beleuchten. 24
Wir beobachten: Die Aufnahme von Erbestücken in den Spielplan ist in der Regel desto schwieriger, je kleiner das Ensemble, je bescheidener seine technische und kadermäßige Ausrüstung. Die Gründe dafür bieten sich unschwer an. Viele der besten alten Werke haben zahlreiche Rollen und stellen erhebliche Anforderungen an die Ausstattung. Die Ensemblestärke und die Abstecherbühnen des Theaters in Prenzlau lassen eben keine Wallenstein-K\Äiüh.t\ingzn. zu. S o l c h e Art Bescheidung ist völlig natürlich unter den Bedingungen eines weiterverzweigten, viele Kleinensembles einschließenden Theatersystems, wie es für die DDR charakteristisch ist. Es wäre jedoch zu überlegen, wie diese Chance einer vielgliedrigen sozialistischen Theaterlandschaft außerhalb des genannten Extrembeispiels besser zu nutzen ist. Beispielsweise durch Zusammenarbeit und Austausch zwischen den bestehenden Theatern, vor allem aber durch eine stärkere Aktivierung und kontinuierliche schöpferische Nutzung der Laienkunst; Das Meininger Theater hat in letzter Zeit bei solchen „Großunternehmen" wie den Inszenierungen von Grabbes Napoleon oder Die hundert Tage und Shakespeares Julius Cäsar Anfänge in dieser Richtung gemacht. Die Kulturarbeit der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre könnte — verbunden mit den materiellen Voraussetzungen unseres sozialistischen Berufstheaters und der örtlichen Großbetriebe — hier wichtige Anregungen geben. Doch es sind nicht nur objektive, sachliche Gründe und ungenutzte organisatorische Lösungen, die die Arbeitsmöglichkeiten unserer kleineren Theater mit dem Erbe begrenzen. Es gibt zugleich eine Reihe subjektiver Bedingungen, die das gegenwärtig begünstigen. Dazu gehören vor allem der Stand an künstlerischer und politischer Erfahrung und Qualifikation der leitenden Kader und der Künstler in vielen kleineren und auch mittleren Theatern sowie der auch von ihrer bisherigen Arbeit abhängende Reifegrad künstlerischer Konsumtionsfähigkeit bei breiten Bevölkerungsschichten in deren Spielgebieten. Das führt, gemeinsam mit den vorher genannten Widersprüchen, zu einer Art Selbstbescheidung der außerhalb der großen Städte und ohne die großen Apparate 25
arbeitenden Theaterleute. Da sie berechtigte Angst vor einer Trivialisierung der großen Werke der Weltdramatik und deren Folgen für Künstler und Publikum haben, sehen sie im wesentlichen keine Chance für das Erbe, wenn es umfassender erschlossen und vermittelt werden soll als über eine lustige Goldoni-Inszenierung, die handfeste Interpretation eines Shakespeare-Lustspiels oder die gutwillig-bemühte Einstudierung eines deutschen „Standard"-Klassikers wie Kabale und hiebe, Der zerbrochene Krug, oder Minna von Barnhelm. Die Arbeit der kleinen Theater ist aber so lange in wesentlichen Punkten unvollkommen, wie sie das Erbe nur bedingt als Bestandteil sozialistischer Kultur zu erfassen vermag. Sie verzichtet auf wesentliche Erlebnissphären der Entwicklung eines gesellschaftlich aktivierenden Verständnisses für die enge Verbundenheit heutigen Handelns mit den historischen Kämpfen des Menschengeschlechts, die in anderen Weltteilen noch Gegenwart sind und auch unsere Lebenspraxis direkt und indirekt beeinflussen. Das ist ein ideologischweltanschauliches Problem. Zugleich erschwert eine solche Einengung des Angebots, die Unterschiede zwischen Stadt und Land, Industrie-Zentren und kleinstädtisch-dörflichen Siedlungsgebieten abzubauen: etwa in den Möglichkeiten zur Befriedigung allseitiger kultureller Bedürfnisse, zu denen im Theater, dessen Spezifik durch kein Massenmedium auszugleichen oder gar zu ersetzen ist, das Vergnügen an der Begegnung mit den großen geistigen und ästhetischen Gütern der Vergangenheit gehört. Das ist ein soziologisches Problem. Die in dieser Hinsicht bestehenden Diskrepanzen werden gegenwärtig nicht nur ständig reproduziert, sondern zum Teil sogar erweitert reproduziert. Zur Veränderung einer solchen Situation, die auf die Gestaltung des Theaters der entwickelten sozialistischen Gesellschaft hemmend einwirkt, gibt es von Seiten des Verbandes der Theaterschaffenden umfassende Pläne zur Verbesserung der ideologisch-ästhetischen Qualifizierungsarbeit unter den Bühnenkünstlern. Zu vage aber sind noch die Zielvorstellungen, wie die für verantwortliche Erbe-Inszenierungen unabdingbare Entwicklung der Zuschaukunst erfolgen soll. Das Vertrauen auf das gewachsene historische Bewußtsein des DDR-Bürgers ist ohne ästhetische 26
Aufhebung dieses Zustands eine bloße Illusion. Natürlich wird ein solcher Prozeß vor allem durch gute Aufführungen stimuliert. Aber zugleich ist dafür die Aktivierung der Kulturarbeit der Arbeiterklasse und ihre Verbindung mit der Theaterarbeit — letztlich die Realisierung des Theaterbeschlusses des FDGB von 1971 — unerläßlich. Auch hier geht es — um aus dem Stadium der guten Absichten herauszukommen — wieder wesentlich um Organisation, um zeitgemäße Anwendung der vor fast fünfzig Jahren geschaffenen proletarischrevolutionären Traditionen. Natürlich trifft all das nicht nur auf die kleineren und mittleren Theater zu. Die Aufgaben sind für die Hauptstadt, die wichtigsten Bezirksstädte und ihre Theater die gleichen. Doch hier sind die Voraussetzungen zur Nutzung des Erbes für nachhaltige, die sozialistische Persönlichkeit bewegende und bereichernde Erlebnisse günstiger. Das betrifft die Erfahrungen der Ensembles und ihrer Mitglieder, ihre zahlenmäßige Stärke und künstlerische wie wissenschaftliche Potenz, die materiellen Ressourcen und — in der Regel — die Ausstattung der Bühnenräume, Zuschauersäle und Werkstätten, nicht zuletzt den meist auf großen Traditionen aufbauenden Entwicklungsstand der Zuschaukunst. Es wird auch unter Theaterleuten der D D R die Ansicht vertreten, daß gerade diese Traditionen problematisch seien. Sie sind hindurchgegangen durch eine lange Phase der Restriktion in der Zeit spätbürgerlichen Museums-, L'art pour l'art- und Unterhaltungstheaters und der faschistischen Unkultur hinter einet Talmiglanz-Fassade. Sie wurden auch beeinflußt durch reformistische Theorien und Praktiken, die weit in die mit der Arbeiterbewegung verbundene Volksbühnenbewegung reichten. Diese Vergangenheit gebe keine tragfähige Basis für die gegenwärtigen Aufgaben des sozialistischen Theaters. Ein völlig unkonventionelles, ja ein „armes" Theater (in Lagerhallen und Katakomben, auf Straßen und Plätzen) sei die Alternative für die „großen Apparate", die nicht zuletzt eine wirklich zeitgenössische Erbe-Rezeption verhinderten. Solche bewußten Gegenströmungen haben sicher — wenn sie auf klaren ideologischen Positionen aufbauen — Berechtigung dort, wo die aufwendigen Produktionsinstrumente in det 27
Hand der Bourgeoisie sind, wo die an den bürgerlichen Schauspielschulen ausgebildeten Darsteller, abhängig von den Gagenbudgets, im Bannkreis ihrer Ideologie, der von ihr goutierten traditionellen und modernistischen Kunstauffassungen stehen. Eine Analogie zum sozialistischen Theater jedoch ist ein Kurzschluß. Hier befinden sich die „Apparate" in den Händen und in der Verfügungsgewalt des Volkes. Die dreißigjährige Praxis eines antifaschistisch-demokratischen und sozialistischen Theaters hat unter Beweis gestellt, welche Potenz die großen Theater, die erfahrenen Spitzenensembles bei der Erbe-Rezeption besitzen. Nicht gegen sie, sondern mit ihnen müssen und können die alten Stücke zum lebendigen Besitz der Zeitgenossen gemacht werden. Das schließt nicht aus, daß aus Tradition und Gewöhnung auch Hemmnisse — nicht zuletzt bei der Aneignung des Erbes — erwachsen. Die großen „Apparate", die sicher versorgten Ensembles sind oft schwerer in Bewegung zu bringen als kleine, unaufwendig operierende Kollektive von Berufs- und Laienkünstlern. Das gilt insbesondere in Zeiten, in denen die gesellschaftliche Praxis gründliche und rasche Veränderungen fordert. Der gewohnte und nicht von heute auf morgen versagende Erfolg läßt leicht auf geistig-künstlerischen Konzeptionen verharren, die in der auslaufenden Entwicklungsphase erarbeitet wurden. Oder Wendungen werden — unter Verlust an politischer Verbindlichkeit — zu einseitig-artifiziell vorgenommen. Der Fortschritt bei der Bewältigung der Erbe-Problematik in der theatralischen Praxis wird von beidem abhängen: dem Ausbau der Tradition und dem Elan flexibler Ensembles, die an mittleren und kleineren. Theatern wirksam werden können (dafür bietet die Geschichte des DDR-Theaters genügend Beispiele) oder die sich — eventuell auch nur zeitweilig — neu formieren. Weder das blinde Vertrauen in die erwiesene Leistungskraft der großen Theater noch die vage Hoffnung auf neue, unverbrauchte Ensembles — beides Formen des Spontaneitätsglaubens — sind sinnvoll. Aber bleiben wir bei den Realitäten. Die großen haupt- und bezirksstädtischen Theater richten, vom statistischen Anteil her gesehen, einen wesentlichen Teil ihrer Arbeit, ihrer Ideen auf die Erbe-Rezeption. So befinden sich unter jenen zehn 28
Schauspielensembles, die den höchsten Prozentsatz an ErbeAufführungen in ihren Spielplänen haben, drei Berliner Theater (Berliner Ensemble, Volksbühne und Maxim Gorki Theater) sowie die Bühnen in Leipzig, Dresden, Weimar und Karl-Marx-Stadt. Das Deutsche Theater Berlin und andere bedeutende Großstadttheater wie die in Halle und Magdeburg liegen auf guten „Mittelplätzen". Diese Namen deuten übrigens zugleich darauf hin, daß die angemessene Pflege der älteren Werke keine Zurückhaltung gegenüber dem Gegenwartsstück, der sozialistischen Dramatik unserer Tage vor allem, bedeuten muß. Viele der genannten Bühnen haben sich — kontinuierlich oder eine gewisse Zeit lang — für das Zeitstück sehr bewußt eingesetzt. Erbe-Rezeption und Pflege des sozialistischen Gegenwartsschaffens erweisen sich hier besonders deutlich als zwei Teile eines einheitlichen Prozesses. Die Berliner und andere Großstadttheater — vor allem KarlMarx-Stadt 9 *, Leipzig und das ihnen gleichzustellende Nationaltheater Weimar — nutzten am Beginn der siebziger Jahre zumindest von der Intensität der Bemühung her kontinuierlich ihre günstigen Voraussetzungen (dazu gehört auch ein relativ umfangreiches, sich über mehrere Spieljahre hin vervollständigendes Repertoire), um gewichtige Beiträge zum zeitgenössischen Erwerb des Erbes zu leisten. Zur gleichen Zeit gab es zielstrebige und teilweise sehr eigenständige Arbeit auf diesem Gebiet vor allem in Dresden-Radebeul, Görlitz/Zittau, Meiningen, Neustrelitz, Plauen und Schwerin. Deutlich wird auf jeden Fall, daß die größten Leistungen und schöpferischen Probleme, wie sie sich in den ersten siebziger Jahren zeigten, von einem begrenzten Kreis der Theater, Ensembles und Regisseure eingebracht wurden. Das ist, entsprechend dem Aufbau unseres Theatersystems natürlich. Natürlich ist auch, daß die Wirkungen wichtiger Inszenierungen auf die Breite der Theaterlandschaft ausstrahlen. Allerdings machten sich in dem Erfahrungsaustausch zwischen der „Spitze" und der „Breite" in den letzten Jahren neue Akzente bemerkbar. Neben der erwähnten Selbstbescheidung, ja Resignation gegenüber dem Erbe an einigen kleineren Theatern gibt es andernorts auch eine große Ambitioniertheit, Experimente, die in den Großstädten Aufmerksamkeit erregen, nachzuvollziehen. Da29
bei werden Inszenierungen oder künstlerische Programme hin und wieder einfach kopiert. Es gibt eine Verwässerung des Modellprinzips. Dieses Prinzip hatte in den fünfziger und sechziger Jahren wesentliche Bedeutung für den Aufschwung unserer Theaterkunst in der ganzen Breite. Mit seiner Hilfe hatten sich unsere Theater — gestützt auf die Erfahrungen des Berliner Ensembles — an die Brecht-Interpretation herangearbeitet. Später wurden auf diesem Weg die neuen Errungenschaften solcher Berliner Inszenierungen wie der von Lessings Minna von Barnbelm (1960, Regie Wolfgang Langhoff) Schwarz' Drache (1965, Regie Benno Besson) oder Lessings Nathan der Weise (1966, Regie Friedo Solter) für die Republik fruchtbar gemacht. Sicher, auch hier gab es mehr und weniger gelungene Beispiele der Modellbenutzung; die unterschiedliche Souveränitäten der Handhabung und konkreten Umsetzung der Vorbilder führte zu Erfolgen und Mißerfolgen. Gegenwärtig droht in einigen Fällen die Gefahr, spektakuläre Produktionen großer Theater in ihren Erscheinungsbildern zu kopieren, ja die Kopien verschiedener Vorbilder zu vermischen oder überhaupt bestimmte auffällige Haltungen zum Erbe relativ bedenkenlos „anzuwenden". Besonders dort, wo die Erfahrungen der Regisseure und Ensembles in politisch-weltanschaulicher, ästhetischer und handwerklicher Hinsicht nicht ausreichen, die Modelle zu verstehen, zu bedenken und umzusetzen, treten modische Attraktionen an die Stelle gesellschaftlicher und künstlerischer Relevanz. Aus der eigenständigen diskussionswürdigen Qualität der Inszenierungs- oder Methodenvorbilder wird hochtrabend einherschreitende Scharlatanerie. Aber nur vom Fundus der produktiven Anregungen aus sind jene Probleme zu artikulieren, die neu oder auf neue Weise am Beginn der siebziger Jahre in Erscheinung traten. Das geschah vielleicht besonders deutlich an den Produktionen einiger haupt- und großstädtischer Theater, ihrer namhaften Regisseure und Ensembles, aber nie losgelöst von der prinzipiell einheitlichen Theaterkultur der DDR und seiner 47 Schauspielensembles.
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V Es hat wohl kaum zuvor — von Einzelbeispielen abgesehen — so viele, nicht zuletzt in wesentlichen Punkten unterschiedliche Meinungen zu den Erbe-Inszenierungen in den DDR-Theatern gegeben wie seit 1970. Genauer gesagt: Den Auftakt zu diesem anhaltenden Disput gab die Einstudierung des Faust I am Deutschen Theater, die, besorgt von Adolf Dresen und Wolfgang Heinz, im Herbst 1968 Premiere hatte. Zuvor waren in Leipzig (1965, Regie Karl Kayser) und Weimar (1966/67, Regie Fritz Bennewitz) bereits die beiden Teile dieser großen dramatischen Dichtung auf die Bühne gekommen. Die unterschiedlichen Positionen sind bereits markiert, notiert und — durchaus noch von der aktuellen KontroverSe her — bewertet worden. 10 Der Disput, auch im großen öffentlichen Rahmen auf einem Kolloquium des Verbandes der Theaterschaffenden geführt, soll deshalb hier nicht näher beleuchtet werden. Zu erinnern allerdings lohnt sich an die Hauptstreitpunkte. Es ging darum, ob der Held — also Faust — bis zum Ende des ersten Stückteils so in seine ausweglosen Widersprüche verstrickt gezeigt werden dürfe, daß das Göethesche Ideal von dem um Selbstverwirklichung und gesellschaftliche Produktivität ringenden Menschen in den Hintergrund tritt; ob die spießige Kleinlichkeit der Welt, in der er wirkt, so prononciert hervorgekehrt werden soll und ob die Durchbrechung der historischen Konkretheit zum Zwecke der Vermittlung größerer Handhaben für aktuelle Assoziationen (etwa durch die Verwendung von Biedermeierkostümen in der Osterspaziergang-Szene) legitim sei. Wir werden bei den folgenden divergierenden Praktiken auf dem Gebiet der theatralischen Erbe-Rezeption und bei den Meinungsdifferenzen über deren Tragfähigkeit für das sozialistische Theater eben jene Streitfragen immer wieder aufgeworfen finden: das Helden- (letztlich das Menschenbild, die Gesellschaftsdarstellung und die Möglichkeiten von Gegenwartsassoziation bei der Repräsentierung der alten Stücke. Darum geht es — um vorerst markante Punkte der öffentlich oder intern geführten Debatten und die darin eingeschlossenen Produktionen zu benennen — 1970 bei den Versuchen, Brechts 31
Parabel vom Guten Menschen von Se^uan an der Berliner Volksbühne (Regie Benno Besson) und in Karl-Marx-Stadt (Regie Hartwig Albiro und Piet Drescher) auf verschiedene Weise produktiv vor ein Publikum zu bringen, das den Antagonismus der Klassengesellschaft nicht mehr direkt kennt und doch in einer Welt lebt, in der er noch kräftig wirksam ist. In der Spielzeit 1970/71 entzündete sich der Streit an drei profilierten Berliner Erbe-Inszenierungen, die die gesellschaftliche Determination menschlichen Handelns und Denkens unter antagonistischen Klassenverhältnissen besonders betonten: Schillers Die Räuber an der Volksbühne (Regie Manfred Karge und Matthias Langhoff), Lorcas Dona Kosita bleibt ledig oder Die Sprache der Blumen am Deutschen Theater (Regie Siegfried Höchst) und Brechts Im Dickicht der Städte im Berliner Ensemble (Regie Ruth Berghaus). Ihnen gegenüber wurden beispielsweise die Inszenierungen von Goethes Faust I am Landestheater Halle (Regie Horst Schönemann) und Gorkis Kleinbürger am Staatstheater Dresden (Regie Hans Dieter Mäde) als im einzelnen sehr unterschiedliche methodische Gegenvorschläge für eine zeitgenössische sozialistische Erbe-Rezeption empfunden. Ähnliche praktische Vorschlagsvarianten lieferten die nachfolgenden, teilweise durch die Berliner Produktion angeregten KäuberInterpretationen in Dresden (Regie Jens-Peter Dierichs), Magdeburg (Regie Konrad Zschiedrich) und vor allem KarlMarx-Stadt (Regie Hartwig Albiro). Mit diesen Versuchen, also etwa ab Herbst 1971, verlagerte sich auch, was neue Inszenierungen anbetraf, die Aufmerksamkeit stärker auf die Republiktheater. Hier wurde z. B. mit den Interpretationen von Shakespeares Sommernachtstraum in Halle (Regie Christoph Schroth) und Magdeburg (Regie Werner Freese) sowie Goethes Urfaust in einigen kleineren Theatern — auch die Hallesche Nachtasjl-lnszcmet\ing (Regie Horst Schönemann) muß da mit eingeschlossen werden — das Ringen um neue Positionen als eine sehr breite Bewegung offenkundig. Die vorgelegten Lösungen waren in der Regel nicht so radikal wie in den zuerst genannten Inszenierungen, unterschieden sich aber auch deutlich von den Ende der sechziger Jahre erreichten Positionen, stellten diese in den besten Fällen produktiv in Frage. Einen neuen Höhepunkt erreichte der öffentliche Disput 32
mit den vier Hamlet-Interpretationen in Leipzig (1971 — Regie Karl Kayser), Weimar (1972 - Regie Fritz Bennewitz), Magdeburg (1973 — Regie Werner Freese) und Schwerin (1973 — Regie Gert Jurgons). E r ließ gleichzeitig die Meinungsunterschiede — auf der Bühne und in den Debatten — wieder härter aufeinandertreffen. In dieser Phase stellte das Berliner Deutsche Theater 1972 vor allem mit seinen drei Inszenierungen von Shakespeares heben und Tod des König Richard des Dritten (Regie Manfred Wekwerth), Tschechows Onkel Wanja (Regie Wolfgang Heinz) und O'Caseys Juno und der Pfau (Regie Adolf Dresen) unter den Theaterleuten hochgeschätzte, aber weniger diskutierte und deshalb leider in der Breite relativ folgenlose Arbeiten vor, in denen der Zusammenhang mit bisher erarbeiteten Erbe-Positionen und das Bemühen um ihre Weiterentwicklung besonders deutlich wurden. Veranstaltungen des Verbandes der Theaterschaffenden zur Interpretation der Stücke O'Caseys auf den Bühnen der D D R (Ende 1972)» und zum Stand der Brecht-Rezeption (Anfang 1973) 12 bereicherten in dieser Zeit das Gespräch. Seit Beginn der Spielzeit 1973/74 — parallel zum erwähnten Hamlet-Disput und die Leipziger Inszenierung des Schillerschen Wallenstein (Regie Karl Kayser) zu wenig berücksichtigend — verlagerte sich das Schwergewicht des Interesses wieder stärker auf die Berliner Theater. Erneut waren es vor allem drei Inszenierungen, die durch ihre betonte Neusicht der alten Stücke das Pro und Contra auslösten: Ibsens Wildente an der Volksbühne (Regie Manfred Karge und Matthias Langhoff), Wedekinds Frühlingserwachen (Regie B. K. Tragelehn und Einar Schleef) und Brechts Die Mutter (Regie Ruth Berghaus) am Berliner Ensemble. Aber während sich in der Theaterpraxis die unterschiedlichen Antworten auf die bereits mit der Berliner RZ/MV-Aufführung von 1968 aufgeworfenen Problemstellungen immer deutlicher ausprägen, tritt die Prinzipialität der Beurteilungskriterien — die bei der F««i/-Diskussion von 1968/69 noch sehr apodiktisch gehandhabt wurden — gegenüber dem Verständnis für divergierende Positionen bei der sozialistischen Erbe-Aneignung auf der Bühne zurück. Hierin drückt sich die neue schöpferische Aufgabenstellung, die Kunst und Literatur durch den VIII. Par3
Nössig
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teitag der S E D von 1971 erfuhr, das Bewußtsein über die Kompliziertheit ihrer Bewältigung aus. Der Abbau normativer Vorstellungen über den sozialistischen Realismus, seine inhaltlichen und methodischen Möglichkeiten erweiterten auch das Feld der Versuche bei der Erbe-Interpretation und das Verständnis für unterschiedliche Wege. Eine solche Praxis und Politik entspricht der Reife des sozialistischen Gesellschaftssystems, das d e r s c h ö p f e r i s c h — k r i t i s c h e n Aneignung des Erbes wachsende Bedeutung zukommen läßt. Das Theaterschaffen der D D R kannte zu keiner Zeit einen „einfachen" Erbschaftsvorgang gegenüber den Werken der fernen und nahen Vergangenheit — etwa im Sinne eines-sich weltanschaulich neutral dünkenden Bildungstheaters. Aber die Etappen, in denen sich dieser Erwerbensprozeß vollzog und vollzieht, sind von der Reife der gesellschaftlichen Verhältnisse und der sie gestaltenden und von ihr geprägten Menschen — Interpreten wie Zuschauer — abhängig. Sie lassen sich bei einem Rückblick auf die dreißigjährige Geschichte des D D R Theaters heutzutage relativ gut überschauen. Diese Entwicklungsabschnitte markierend, bin ich mir der Unschärfe einer hier nur umrißhaft zu liefernden Verallgemeinerung bewußt und berechne ein, daß sich keinesfalls jede der vergangenheitsgeschichtlichen Erbe-Inszenierungen in eine solche Etappe hineinpressen läßt. Es gab immer entscheidende Vorgriffe — und auch markante Rückfälle. In der Totale jedoch ist sichtbar, daß in den endvierziger Jahren bei der Aneignung des Erbes durch das Theater das Aufdecken des — oft sozial noch keineswegs präzise erschlossenen — humanistischen Ideals eine entscheidende Rolle spielte. In den fünfziger Jahren vor allem erfolgte die Entdeckung der sozialen Komponenten in den Stücken der Vergangenheit, entwickelte sich das Bemühen um — meist noch sehr direkt bezogene — Tangenten zu den realpolitischen Konflikten, in denen die sich unter komplizierten nationalen Bedingungen und in einer Periode des offenen, friedensgefährdenden welthistorischen Antagonismus etablierende neue, sozialistische Gesellschaft stand. Die sechziger Jahre waren insbesondere gekennzeichnet durch das tiefere Eindringen in die Widersprüchlichkeit der dramatischen Vorgänge und damit das Herausheben der Verantwortung des sich in Kon34
flikten bewährenden Individuums, wobei die dichterische humanistische Antizipation als Bestätigung der vollzogenen sozialen Revolution und zugleich als Verpflichtung für nacheiferndes Entsprechen in einer Phase des Sicherns und Ausbauens errungener Positionen wirksam wurde. Bereits diese Skizzierung wesentlicher Momente der theatralischen Erbe-Rezeption von 1945 bis zum Ende der sechziger Jahre offenbart, daß sich hier nicht verschiedene Gesichtspunkte oder gar Moden ablösten, sondern ein Prozeß der schrittweisen Vertiefung beim erkenntnisvermittelnden und vergnüglichen Erwerb des dramenliterarischen Erbes vonstatten ging. Die neuen Aufgaben der siebziger Jahre bauen auf diesem Fundament, können den „Standard" der sechziger Jahre nur negieren, indem sie ihn innerhalb einer von den Möglichkeiten und Aufgaben der Gegenwart gespeisten und geforderten neuen Souveränität aufheben. Überheblichkeit gegenüber markanten Inszenierungen der fünfziger und sechziger Jahre ist unangebracht. Sie negiert die wichtigen Erfahrungen: humanistische Unabdingbarkeit, sozial-politische und weltanschauliche Funktion, realistisch-widersprüchliche Wahrhaftigkeit. Auch dann, wenn die verschiedenen Vorschläge, die im sozialistischen Rezeptionsbemühen praktisch und theoretisch erwogen wurden — etwa Wolfgang Langhoffs Egmont-Inszenierung von 1951 und Bertolt Brechts 'Egmont-Notate von 1953 —, unhistorisch, apodiktisch gegenübergestellt werden. Welches sind nun die Hauptgesichtspunkte, die spätestens seit 1970 einen besonderen Einfluß auf die Auswahl von Erbestücken und ihre szenische Realisierung haben? Vor allem, das zeigen die praktischen Beispiele, gibt es neben dem Interesse für das Heiter-Unbeschwerte, und als eine Art Gegenreaktion, großes Bemühen um die Vertiefung der weltanschaulich-politischen Dimension und Tragweite, die man mit den alten Geschichten, über die Konflikte ihrer Helden ins Publikum transportieren möchte. Dieser Anspruch ist nicht nur legitim, sondern ein objektives Bedürfnis. Er entspricht den weltweiten geistigen Auseinandersetzungen zwischen Sozialismus und Imperialismus, die das Leben der Menschen immer nachhaltiger bestimmen und die man in dem gesellschaftlichen Ereignis Theater befriedigen möchte. Viele Werke des Erbes 35
bieten mit ihren grundlegenden ideologischen Substanzen gerade dafür gute Voraussetzungen. Das bedeutet, daß den Widersprüchen, die in der dichterischen Darstellung der Wirklichkeit, der Menschen und ihrer praktischen und geistigen Aktivitäten deutlich werden, wachsendes Interesse geschenkt wird. Neben der Suche nach dem Antizipatorischen richtet sich dabei der Blick stärker auch auf die Unterschiede zwischen Dichterideal und sozialistischer Weltanschauung, die man auf produktive Weise transparent zu machen sucht. Dem Bemühen um deutliche Herausarbeitung der weltanschaulichen Brisanz der Stücke und der historisch- bedingten Widersprüchlichkeit ihres Geschehens tritt als zweites Merkmal gegenwärtiger Erbe-Interpretation das Ringen um kraftvolle theatralische Vermittlung dieses Anliegens zur Seite. Auch eine solche Tendenz liegt im Wesen der Sache selbst. Je deutlicher die geistigen Komponenten eines Stücks und die ihnen innewohnenden Widersprüche sinnlich hervorgekehrt werden sollen, desto stärker wird man auf die besonderen Mittel des Theaters verwiesen. Hinzu kommt, daß sich die Bühnenkunst im Ensemble der massenwirksamen Medien auf ihre Spezifik besinnen muß, wenn sie das i h r e an ästhetischer und damit gesellschaftlicher Wirkung erzielen will. Körperlichkeit, Artistik dominieren immer mehr über Rhetorik und malerisches Arrangement, Modellhaftigkeit über historische Detailfülle und -treue. Ich meine, daß solche Züge in der Inszenierungspraxis nicht zuletzt auch durch die veränderte Zusammensetzung des Publikums, in dem die Jugend — der Oberschulen und Hochschulen vor allem — einen sehr großen Anteil hat, begünstigt werden. Ganz zu schweigen davon, daß die sozialistische Gesellschaft als Ganzes sich jung, entdeckerfreudig, mit überlegenem historischen Sinn den alten Stoffen und Konflikten stellen möchte, Theatererlebnisse mit kräftigen Konturen schätzt. Diese Entwicklungsrichtung, in den letzten Jahren an den besten und vielen guten Leistungen unserer Theater unübersehbar abzulesen, bietet alle Voraussetzungen, das Theater nicht nur schlechthin „attraktiver" zu machen, sondern seinen politischen Gehalt zu verstärken. Diese Aufgabenstellung ist es wohl, die den Tenor vieler De36
hatten um Erbe-Inszenierungen am Beginn der siebziger Jahre prägt. An den beiden abgedrucktenBeispielen etwa wird deutlich, daß Verständnis für Vielfalt, Bemühen um sachliche Beschreibung, Fähigkeit zum Aufspüren notwendiger Diskussionspunkte oft mit stark verallgemeinernden terminologischen Schlußfolgerungen verbunden sind, die den interessierten, aber auch ungeduldigen Ton der Gespräche bestimmen. Das begrenzt nicht zuletzt ihr theoretisches Niveau. Man sollte jedoch auch für solche Schwierigkeiten Verständnis haben. Denn jene oben markierten Absichten und Ziele, die eine neue Phase des Erwerbens, der schöpferisch-kritischen Aneignung des dramatischen Erbes für uns bezwecken und bedeuten, setzen sich nicht gradlinig durch. Auf welchen Wegen wurde nach Lösungen gesucht? Welche Erfolge, welche Probleme, welche Aufgaben zeichneten sich ab ? Da die unterschiedlichen historischen Entstehungsphasen, die jeweiligen Autoren, die verschiedenen Stücktypen, letztlich jeder einzelne Text spezifische Aufgaben stellen, kann es darauf keine generelle Antwort geben. Es liegen unterschiedliche Ergebnisse vor. Die gesichertsten, meine ich, gibt es in jenem Sektor, der bereits von den dramatischen Vorlagen her Impulse aus alten Volkstheater-Traditionen zu schöpfen versucht. Die Inszenierungen von Gozzis König Hirsch an der Volksbühne Berlin (Regie Benno Besson), von Jonsons Bartholomäusmarkt und de Rojas Celestina am Deutschen Nationaltheater Weimar (Regie Fritz Bennewitz) liefern dafür anschauliche Beispiele. Auch hier gibt es nicht unbedeutende Unterschiede in den Handschriften, die durch die Stücke mitbestimmt sind.Besson setzt stärker Elemente einer auf demonstrative Schauspielerhaltungen und Schminktechnik gestützten Groteske ein. Bennewjtz fordert den Schauspieler zur vitalen Verkörperung von Typen und Charakteren heraus. Die einfache Kunstwelt des Budentheaters und die Urbanität des Volksdarstellers sind hier und da mehr und weniger gefragt. Aber es kommt zu gleichen Ergebnissen: ein Blick auf die reale Widersprüchlichkeit des Lebens von der Position der Unterdrückten, gelenkt von den tieferen Einsichten des sozialistischen Zeitgenossen. Solcherart anspruchsvolles Vergnügen, 37
bei dem Wirklichkeitssinn und .Gegenwartsbewußtsein bedient, kultiviert und befördert werden, haben auch andere, nicht zuletzt kleine Theater realisiert. Vor allem Versuche mit Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung und Komödie der Irrungen in Anklam, Eisleben und Meiningen bzw. Neustrelitz brachten dabei wichtige Erfolge für Ensemble und Publikum. Auf diesen Erfahrungen aufzubauen scheint wichtig, weil mit den neuen Angeboten natürlich noch nicht alter Schlendrian oder äußerlich aufgesetzte Bedeutsamkeit in diesen vielgefragten Genres ausgemerzt sind. Die Leistungen bei der Entwicklung vom Volkstheater hergeleiteter anspruchsvoller Interpretationen reichen aber über das Gebiet der heiteren Dramatik hinaus. Manfred Wekwerths Inszenierung des Shakespeareschen Richard III. steht in dieser für heute genutzten Tradition. Die Doppelung der Titelpattie — als Rollenfigur und Vice-Gestalt, als Spielmeister, der die Vorgänge durchschauen hilft — erreichte nicht nur eine neuartig interessante, sondern eine höchst geistvolle, politisch-anregende Interpretation des Stücks. Horst Schönemann stützte sich mit seiner halleschen Faust I- Interpretation, bei dem Versuch, die Beziehungen Individuum — Gesellschaft von unserem sozialistischen Verständnis aus darzustellen,-auf die plebejisch-volkstümlichen Quellen und Möglichkeiten des Stücks. Auch die mitreißende Interpretation des Neruda-Stücks Glan% und Tod des Joacquin Murieta durch Berliner Schauspielstudenten unter der Regie von Klaus Erforth und Alexander Stillmark 13 * hat den kämpferischpolitischen Ton eines Volksschauspiels aufgegriffen und vermittelt. All diesen Versuchen gelingt vor allem eine widerspruchsvolle Herausarbeitung der individuellen und gesellschaftlichen Komponenten der Konflikte. Sie vermeiden jede (mechanische) Überbeanspruchung oder (voluntaristische) Unterbelichtung des materiellen Determinismus. Gerade hier aber liegen, wie noch zu zeigen ist, wesentliche Probleme anderer Formen gegenwärtiger Erbe-Rezeption. Es scheint nicht zufällig, daß diese Arbeiten, die Geschichten von Prozessen des realen und ideologischen Klassenkampfes über Volkstheater-Erzählweisen vermitteln, ästhetisch und politisch zu den produktivsten Erbe-Inszenierungen der frühen siebziger Jahre zählen. 38
Nicht alle Werke des E r b e s erschließen sich auf diesem W e g , o f f e n b a r e n ihre weltanschaulich-politische D i m e n s i o n über einen „plebejischen G e s t u s " . E s ist k a u m zufällig, daß die lebhaftesten D i s k u s s i o n e n der letzten J a h r e u m Interpretationsversuche v o n Hamlet, Die Räuber, Faust und spätbürgerliche und frühsozialistische Stücke mit g r o ß e m gesellschaftsanalytischem Gehalt entbrannten. D a s B e m ü h e n u m eine zeitgenössisch-sozialistische D a r b i e t u n g solcher A r t „ W e l t a n s c h a u u n g s d r a m e n " , Geschichten v o n Menschen in großen Z e i t u m b r ü c h e n , ist wesentlich darauf gerichtet, v o n bloßer Beschaulichkeit, die erwiesenermaßen k a u m noch interessiert, Abschied zu nehmen. M a n steht damit durchaus in einer seit 1945 in der D D R zielstrebig entwickelten T r a dition und kann sich bei solcher Absicht auf das gewachsene Geschichtsbewußtsein des sozialistischen P u b l i k u m s und seine Bereitschaft zur Auseinandersetzung über gesellschaftliche G r u n d f r a g e n stützen. D a s E r b e s t ü c k dient dazu, sich über den weltgeschichtlichen A n t a g o n i s m u s unserer E p o c h e zu v e r s t ä n d i g e n ; es wird zu einer A r t Spiegel, in d e m H a l t u n g e n in u n d zur Klassengesellschaft als I m p u l s e f ü r heutige E n t scheidungen reflektiert oder assoziiert werden. Hier liegen übrigens die objektiven Wurzeln f ü r das g e g e n w ä r t i g e V e r g n ü g e n an vielen ü b e r k o m m e n e n Werken des bürgerlichen und des proletarisch-revolutionären, sozialistischen Erbes. D a s betrifft nicht nur die Rezipienten in einem sozialistischen Staat. D i e s e spannungsreiche Beziehung z u m Heute bildet auch den A u s g a n g s p u n k t für eine wachsende Zahl gesellschaftlich brisanter u n d wirksamer Interpretationen v o r allem durch die v o n unterschiedlich reifen demokratischen Positionen ausgehenden Kritiker der staatsmonopolistischen Gesellschaft im bürgerlichen Theater. D e r weltweite K a m p f zwischen N e g a t i o n , skeptischer Preisgabe und V e r t e i d i g u n g der humanistischen Alternative z u m imperialistischen System spielt sich auf künstlerischem Gebiet zu einem wesentlichen Teil über das E r b e ab. E s kann zur A k t i v i e r u n g wie zur Manipulierung menschlichen D e n k e n s u n d Fühlens eingesetzt werden. D a s erhöht die Verpflichtung der sozialistischen Theater-
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künstlet, die Fabeln und die in ihnen gefaßten Ideen unverwechselbar von einer dialektisch-materialistischen Position, vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus zu erschließen und zu übermitteln. Angesichts einer Reihe unterschiedlich gelungener Versuche nonkonformistischer, allgemein-humanistischer und revolutionär-demokratischer Interpretationen des Erbes im bürgerlichen Theater (wobei dieser Rahmen teilweise schon gesprengt wird) liegt die Gefahr nahe, dort entwickelte „aktivistische" Les- und Spielarten zur Hervorkehrung bestimmter Stückgehalte, vor allem Hypertrophierungen von rebellischen und kritischen Akzenten, bereits für eine ausreichende, eine sozialistische Alternative zu halten. Die überlegene Position des sozialistischen Humanismus in der Auffassung der historischen Klassen- und Menschenkonflikte und zu deren Widerspiegelung mit zeitgenössischem Bewußtsein — auch unsere wesentlich andere Kampfposition in den antiimperialistischen Auseinandersetzungen — stellt und ermöglicht weitreichende Aufgaben. In ihnen ist vor allem das Geschichts- und Menschenbild der Arbeiterklasse integriert. Im gleichen Maß wie es die realen Klassenkämpfe, die sich in ihnen entwickelnden Positionen und Perspektiven stets konkret, frei von utopistischen Vereinfachungen und vulgärsoziologischen Determinationsvorstellungen einschätzt, hilft es auch, die in der künstlerischen Gestaltung erfaßte vergangene Wirklichkeit beziehungsreich zu erschließen. Welche Vorschläge nun machten die Theater in jenen Fällen, wo es — im direkten oder übertragenen Sinne — um Leben oder Tod geht? Es gibt eine Reihe Versuche, die sehr kontinuierlich auf den bewährten Traditionen unserer sozialistischen Erbe-Rezeption aufbauen. Sie stützen sich auf Stanislawski wie Brecht und den Austausch der Erfahrungen beider Methoden, der in den sechziger Jahren erfolgte, und versuchen, sie dem Stück und den konkreten historischen Aufgaben entsprechend ständig und undemonstrativ zu bereichern. Ich würde eine Inszenierung wie Wekwerths Bächard III. nicht ausschließen, vor allem aber die Arbeit von Wolfgang Heinz an Tschechows Onkel Wanja, Adolf Dresen an O'Caseys Juno und der Pfau oder Piet x Drescher an Sophokles' Antigone dazu rechnen. 40
Natürlich wirken da verschiedene Methoden und Handschriften. Aber gemeinsam ist diesen Versuchen, daß sie die Intentionen des Autors und die künstlerische Struktur des Werkes nahtlos zu verknüpfen versuchen mit Grunderkenntnissen des historischen Materialismus und aktuellen Interessen der Gegenwart. Vor allem eint sie das Bemühen, die echten Ideale der dramatischen Figuren ernst zu nehmen und deren aktive Züge zu entdecken, zu behaupten und darstellerisch zur Geltung zu bringen. Mir scheint, daß es diese Art der Auseinandersetzung mit dem Erbe gegenwärtig nicht einfach hat. Gegen diese Inszenierungen ist — auch von denen, die eine andere Art Theater zu spielen oder zu sehen schätzen — nie etwas Entscheidendes gesagt worden. Aber sie sind, viel gelobt, meist weniger im Gespräch als andere Arbeiten. Sie bieten oft nicht so viel auffallend Neues, erscheinen einfach als „gutes Theater". Aber auch das hat seine Schwierigkeiten. Die genannten Beispiele überzeugen durch die Kunst des Regisseurs, die Fähigkeiten der Darsteller zur lebendigintensiven Gestaltung von widerspruchsvollen Menschen und Situationen zu nutzen, zu fordern und zu fördern. Nicht in allen Fällen ist es auf diesem Wege der Erbe-Aneignung in den letzten Jahren aber gelungen, den Hauptpartner dieser Methode, den Schauspieler, auf den gemeinsamen Weg mitzunehmen. Da wurde aus dem guten Theater „richtiges" — oder besser: richtig gewolltes —, letztlich langweiliges. Nicht zuletzt die Verteidigung gegen ungerechtfertigte und berechtigte Einwände hat teilweise dazu geführt, daß sich bestimmte Seiten des realistischen Credos einer solchen Methode verabsolutierten: Der Kampf gegen die leichtfertige Preisgabe von Figuren führte zu unbegründeten Rechtfertigungen, nicht realisierbare darstellerische Vielfalt verflüchtigte sich in unsinnliche Rhetorik. Damit wurde das Herzstück dieser Methode — die Dialektik — preisgegeben. Dieser Realismus wird — zeitweilige Überstülpungen souverän überdauernd — unsere Arbeit mit dem Erbe beleben, wenn er sich von Vereinseitigungen und Trivialisierungen abgrenzt und wenn es gelingt, die Arbeit mit dem Schauspieler als Darsteller widerspruchsreicher, lebenspraller Menschen zu aktivieren. Es gibt weiterhin das Bestreben, Erreichtes und Gefordertes 41
zu verbinden, i n d e m die T a n g e n t e n zur G e g e n w a r t anders angelegt werden als bis z u m E n d e der sechziger J a h r e . D a s bedeutet, v o n relativ gradlinigen Antizipationsmustern w e g z u k o m m e n , N ä h e und Ferne, Recht und Unrecht der dramatischen Figuren, ihrer Taten und G e d a n k e n genauer zu überprüfen — bis zur g r u n d l e g e n d e n Neueinschätzung v o n K o n f l i k t t r ä g e r n und -partnern. Solche E n t w i c k l u n g e n sehe ich beispielsweise bei d e m Regisseur K a r l K a y s e r , in seinen Inszenierungen v o n Hamlet und Wallenstein. Erreicht w u r d e auf diese Weise eine d e m historischen Bewußtsein der Z u schauer, ihrer aktuellen Assoziationsfähigkeit genauer angepaßte Spielweise, die auch einen freieren G e b r a u c h theatralischer Mittel einschließt. Erhalten bleibt der eminent politische Charakter dieses Theaters, das sich neuen Einsichten erschließt, nicht etwa nur F o r m e n oder gar M o d e n übernimmt. D i e G e f a h r eklektizistischer S y m b i o s e alter E r f a h r u n g e n und neuer A n g e b o t e kann auf einem solchen W e g allerdings nicht ausgeschlossen werden. D a s gewählte Beispiel zeitigt eine Bereicherung der Palette unserer g e g e n w ä r t i g e n E r b e Rezeption, die, aufs konkrete Stück b e z o g e n , A n r e g u n g e n zu geben und F r a g e n zu provozieren v e r m a g . E i n e Reihe v o n Regisseuren und E n s e m b l e s gehen jedoch auf unterschiedliche A r t rigoroser an die B e w ä l t i g u n g der neuen A u f g a b e n . Sie korrigieren bisherige Lesarten und Spieltraditionen gründlich, revidieren v o n der sozialistischen Literaturwissenschaft und Theaterpraxis erarbeitete G r u n d positionen und Figurenkonzeptionen, verwischen oder verzichten auf konkrete historische A n s i e d l u n g der Geschehnisse — oder versetzen sie in eine nahezu totale Determination. E s k o m m t zu radikalen Stückeinrichtungen und Regiefassungen. D a s hat aber in der Regel nichts mit Bilderstürmerei zu tun. E i n m a l sind viele dieser V e r ä n d e r u n g e n gegenüber d e m Original sehr feinfühlig und mit wissenschaftlicher A k r i b i e v o r g e n o m m e n . Z u m anderen b e g e g n e n sich divergierende Absichten und Tendenzen in auffälligen Einzelheiten. D a gibt es in den Berliner Käubern die demonstrative Bloßstellung des Adelsrebellen K a r l v o n M o o r und im Leipziger Wallenstein die E n t l a r v u n g der hilf- und folgenlosen Schwärmerei des Generalleutnantssohns M a x Piccolomini. N e b e n d e m leerge-
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räumten Disputierpodium des halleschen Nachtasyl steht die zeitneutrale Symbolbühne der Mutter-, bedeutungsschwangere dekorative Assoziationen gibt es im Deutschen Theater bei Dona Kosita und Richard III. Und zahlreiche radikale Deutungsversuche sind vielfältig verbunden mit Momenten kräftigen Herausarbeitens plebejisch-volkstümlicher Züge bei einzelnen Figuren und in einigen Situationen. Das zeigt, daß es oft unterschätzte, von der gemeinsamen Aufgabe bestimmte Gemeinsamkeiten selbst bei sehr unterschiedlichen Regisseurpersönlichkeiten und Inszenierungskonzepten gibt — und daß die Details, vor allem die Mittel, nicht das Wesen ausmachen. Zentrale künstlerische und ideologische Probleme der radikalen Neuerungsansprüche treten uns in einigen wesentlichen Gestaltungsfragen entgegen, vor allem, wenn es um die Sicht auf die Figuren und die Darstellung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft geht. Umfangreich sind z. B. die Versuche, bei denen „Zuspitzungen" in der Anlage des Figurenprofils und der Darstellung von Gesellschaftszuständen dominieren. Auffällig ist die Belastung der Karl-Figur in der Volks- i bühnen-Inszenierung der Räuber (und der damit verbundene Determinismus des Adelssprosses) ebenso wie die ins Skurrile gesteigerte Weltfremdheit des Rosita-Vaters in der Lorca-Inszenierung des Deutschen Theaters (gestützt durch Sterilität der gesellschaftlichen Umwelt) oder die Akzentuierung von Hamlets real-politischem Versagen in Magdeburg und Schwerin. Unbestritten bleibt das Recht, ja die Pflicht des Theaters zu kräftig akzentuierten Figuren und Gesellschaftsprofilen. Aber es kommt viel darauf an, ob man nur bestimmte Seiten, Züge, Lesarten ins Extrem treibt oder damit zugleich die ganze Dialektik der Geschehnisse und Menschen, ihre historischen Dimensionen herausarbeitet. Trotzdem: Keine nachfolgende Arbeit täte gut daran, bisher oft unterbelichtete und jetzt zur Dominanz erhobene Seiten der in den Figuren wirkenden Widersprüche einfach zu ignorieren. Fast immer sind da zumindest bedenkenswerte Entdeckungen gemacht worden. Werden tradierte Idealfiguren einer zum Teil radikalen Kritik unterzogen, ist das, wo das Stück Material dazu liefert (das oft erst mit dem historisch-materialistischen Blick auf die Vor43
gänge freigelegt wird), an s i c h no'ch kein Grund zur Unzufriedenheit. E s sollte unbestritten sein, daß auch über den grundsätzlich kritisierten Helden schöpferische Emotionen, Gedanken und Aktivitäten beim Betrachter freigesetzt werden können. E s gibt ganze Stücke, ja dramatische Genres, die von diesem Effekt leben. Was aus den Erfahrungen bei der Auseinandersetzung mit dem Erbe am Beginn der siebziger Jahre zu denken gibt, ist vielmehr die sich offenbar verbreitende Furcht vor der Idealvermittlung über dramatische Helden und das anwachsende, manchmal fast manisch erscheinende Interesse für den kritikwürdigen oder gebrochenen Helden, überhaupt für ein Theater, dessen Hauptfunktion die kritische Durchleuchtung der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist. Die Dialektik von Abbild und Ideal in der künstlerischen Aneignung und Gestaltung der Wirklichkeit ist eine gesetzmäßige Erscheinung. Sie ist auch dann keineswegs für die Vergangenheit aufgehoben, wenn das Ideal der bürgerlichen Klasse vielfältig und notwendig in der Utopie erscheint, also im nackten Geschehnisvorgang eines Stücks folgenlos bleibt, Tragödien formieren hilft. Oder wenn es sich deutlicher, prinzipieller als wir das in der Vergangenheit betonten, von der sozialistischen Weltanschauung und ihrer Haltung zum Menschen, zur Gesellschaft, zum Humanismus unterscheidet. Die Reduzierung des Widerspruchs, in dem historische Gestalten — auch Heldenfiguren — denken und handeln, auf die Negation widerspricht den realen geschichtlichen Prozessen in der Gesellschaft und im menschlichen Denken und Dichten. Daraus künstlerisch ein dominierendes Prinzip abzuleiten bedeutet zugleich, das Bewußtsein des sozialistischen Zeitgenossen über die Geschichte, ihre Kämpfe und Perspektiven in eine falsche Richtung zu lenken — letztendlich den historischen Sinn seiner aktiven Potenzen zu entkleiden. Wenn solche Wirkungen bei Erbe-Inszenierungen eintreten, ist das zumindest in dieser Konsequenz oft ungewollt. Die konzeptionellen Gedanken der Regisseure reflektieren meist viel deutlicher Absichten zu wirklicher Widerspruchsgestaltung, als auf der Bühne sichtbar und dem Rezipienten bewußt wird. Die Theaterkünstler unterschätzen offenbar zum Teil selbst die großen Wirkungen des sinnlichen Wesens ihrer Kunst. Es fällt 44
ihnen deshalb manchmal gat nicht auf, daß sich die eingesetzten theatralischen Mittel verselbständigen, damit den angestrebten politischen Zweck verfehlen, ja gegenteilige Assoziationen und Wirkungen hervorrufen können. Und schließlich bleibt nicht selten der Blick getrübt für die Gefährdung des schauspielerischen Realismus durch eine einseitige, undialektische, trotz praller gestischer Erscheinung wenig lebendigen Reichtum zeigende Funktionalisierung oder Denunzierung von dramatischen Gestalten. Einige Inszenierungen von Werken der kritischen Realisten des 19. und 20. Jahrhunderts offenbaren da besonders deutlich ihre Probleme. Viele Stücke von Ibsen, Strindberg, Schnitzler, Wedekind, Tschechow — und auch Gorki —, die vor allem seit 1968 im westeuropäischen Theater eine größere Rolle spielen, wurden bei uns kaum oder gar nicht gezeigt. In der Saison 1973/74 kamen allerdings, allein in Berlin drei Neuinszenierungen aus diesem Literaturbereich heraus: Wedekinds Frühlingserwachen, Ibsens Wildente und Strindbergs Erik XIV. Parallel dazu läuft ein Interesse am frühen Brecht, auf den das Berliner Ensemble mit seinen Inszenierungen Im Dickicht der Städte (1971) und heben Eduards des Zweiten (1974) aufmerksam machte. Auch hier sind die Wege des Herangehens sehr verschiedenartig. Eine Tendenz jedoch dominiert: die Betonung der Verkrüppelung der Menschen in einer inhumanen Welt, die Entlarvung des vom Gesellschaftssystem geprägten und es stabilisierenden menschlichen Verhaltens. Einer oft bis zum beklemmend-grotesken determiniertenWelt stehen kraftlos-egozentrische, kämpf- und lebensuntüchtige Subjekte gegenüber. Der Marxismus hat jedoch weder mit übersteigertem Determinismus noch mit aktivistischem Subjektivismus philosophisch etwas zu tun. Für Theatermacher in den kapitalistischen Ländern, die sich gegen den Imperialismus engagieren möchten, mag es eine wichtige taktische Leistung sein, Abscheu vor jener jüngeren Vergangenheit zu erwecken, in der die Keime ihrer gesellschaftlichen Gegenwart liegen. Um diese Stücke als Teil der sozialistischen Kultur zu erwerben, scheinen mir solche Ziele zu eng gesteckt. Nicht nur, weil der sozialistische Zuschauer dabei relativ wenig Neues erfährt, Zustandsdarstellungen sich vor die Prozesse der Fabel drängen, sondern auch, 45
weil gerade das besonders komplizierte, widerspruchsvolle Ringen um eine humanistische Lösung des auf die Individuen zutretenden gesellschaftlichen Antagonismus Erfahrungen übermittelt, die dem sozialistischen Staatsbürger zum Beispiel Dimension und Chance der Bündnisnotwendigkeit in den gegenwärtigen weltgeschichtlichen Klassenkämpfen bewußter machen helfen. Da sind humanistische Potenzen, Ansätze, Möglichkeiten nicht als eine Art psychologische Vernebelung zu unterschlagen, sondern gerade ins Licht zu rücken. Natürlich im Sinne der realen Kompliziertheit, so daß nicht Schönfärberei und Wunschdenken auf andere Weise den Zugang zu vertiefter Einsicht in Lebenspraxis und gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit verstellen. Hier wird noch viel zu tun sein, um das Ausprobieren von Extremen in einer neuen lebendigen, künstlerisch überzeugenden dialektischen Meisterung weiterzuführen. Bisher sind mehr jene Mittel des Darstellers aktiviert worden, die die Negativität von menschlichem Verhalten auf der Bühne sinnlich werden lassen. Das geht — was Menschendarstellung und Markierung des gesellschaftlichen Umfelds betrifft — bis zum fast schon inflationistischen Gebrauch von Zeichen und Symbolen. Sie werden zum Teil durch wiederholte Strapazierung bereits wieder stereotyp: Abfallplätze und Schindanger als Spielräume einer verrotteten Gesellschaft, überdeckt mit der Glanzfolie einer Wohlstandsfassade. Zu fragen wäre, ob nicht überhaupt dieser Zug zu mechanistischer Kunstweltschöpfung (die ich von künstlerischer Abstraktion, Stil, unterscheiden möchte) die gesellschaftliche Überzeugungskraft und Orientierungsfähigkeit sozialistischer Werkinterpretation erheblich einschränkt. Die für eine große Experimentierphase bei der Erbe-Rezeption wie zu Beginn der siebziger Jahre charakteristischen weiten Pendelschläge, die dabei erkennbaren unterschiedlichen Wege zur Herausarbeitung spezifisch sozialistischer Komponenten in der Übermittlung der dramatischen Vorgänge und des Verhaltens der Figuren, die nicht zu übersehenden Gegensätzlichkeiten in den methodischen Ausgangspunkten, lassen es oft so erscheinen, als ob im wesentlichen nur zwei divergierende Konzeptionen bei der Erbe-Bewältigung existierten. Eine solche Herausstellung von zwei Linien in der Erbe-Rezeption am Beginn der siebziger Jahre hat in der theaterprakti46
sehen, journalistischen und auch wissenschaftlichen Polemik eine Rolle gespielt. Ansätze zu einet solchen Sicht auf die ablaufenden Prozesse habe ich 1971/72 selbst gegeben, z. B. mit dem Versuch, die bereits genannten drei Berliner Erbe-Inszenierungen der Spielzeit 1970/71, die durch ihre unterschiedlich prononcierte künstlerische Polemik mit überlieferten Darstellungsweisen im sozialistischen Theater auffielen, auf ein gemeinsames ästhetisch-weltanschauliches Credo hin zu befragen. 14 In der Debatte um Heiner Müllers Macbeth-Adaption richtete vor allem Wolfgang Harich einen scharfen Angriff gegen alle Formen der Neudeutung und Umstülpung klassischer Texte und stellte dem die absolute Ehrfurcht gegenüber dem Original als einzig akzeptable sozialistische Haltung gegenüber. 15 Und bei dem Versuch, eine Art Bilanz über den Stand der Ham/¿/-Rezeption in der ersten Hälfte der siebziger Jahre zu ziehen, setzte Liane Pfelling Beobachtungen bei Inszenierungen des Shakespeare-Stücks mit anderen auffälligen Tendenzen bei der Aneignung klassischer und kritisch-realistischer Werke des bürgerlichen Erbes in Beziehung, stellte die These über zwei „konzeptionell unterschiedliche Grundpositionen" 16 in den Verhaltensweisen von Regisseuren und Ensembles der DDR zu den Erbestücken auf und schrieb: „Gemeint sind erstens die Bemühungen, die historisch-konkret bedingten Widersprüche und Schönheiten der alten Werke mit ihrem übergreifenden Humanismusgehalt zu verschmelzen und so ,das in unsere Zeit Hinweisende' bloßzulegen. Und zweitens die Versuche, Zeitnähe und Publikumswirksamkeit der alten Dichtungen dadurch zu erzielen, daß das Kritikwürdige der in ihnen dargestellten Gesellschaftszustände, die historische Begrenztheit der ihnen immanenten Ideen und Figurenhaltungen prononciert hervorgekehrt wird." 1 7 Sicher steckt in all diesen Beobachtungen über „Traditionalisten" und „Neuerer", auch in den daran gebundenen weltanschaulichen Fragen ein realer Kern. Trotzdem ist die „ZweiStrömungs-These" verwirrend und fehlerhaft. Sie übersieht, unterschiedliche Erscheinungen auf zwei Grundhaltungen reduzierend, das breite Spektrum, in dem a}l diese Versuche wirksam werden. Dieser Aufsatz versuchte deshalb, einige wesentliche Punkte der vielfältigen Praxis und der damit ver47
bundenen Problematiken darzustellen — beim kontinuierlichen Weiterführen bewährter Traditionen, beim Kampf gegen die Gefahr der Konvention, beim Anbieten kühner neuer Vorschläge usw. Eine Reduzierung dieser Absichten und Praktiken auf zwei Tendenzen widerspricht den realen Vorgängen. Es werden ideologische Unterschiede, ja Gegensätze aufgebaut, wo die Lösung der vom lebendigen Theater aufgeworfenen ideologisch-weltanschaulichen Fragen notwendig ist. Verloren geht auf diese Weise die Gemeinsamkeit in den Bemühungen der Theaterschaffenden, von marxistischer Position aus auf dem vom VIII. Parteitag der SED vorgezeichneten Weg auch bei der Interpretation der dramatischen Werke des Erbes hohe künstlerische Qualität zu erreichen, die unverwechselbar den Interessen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und den Bedürfnissen ihrer Gestalter verpflichtet ist. Vorschläge, wie das Erbe vom gegenwärtigen sozialistischen Theater produktiv und attraktiv erworben werden soll, gibt es sicher heute mehr als vor zehn oder vor zwanzig Jahren. Dabei entstehen allerdings in geringerem Maß als in vorangegangenen Etappen unserer Gesellschafts- und Theaterentwicklung abgerundete, typprägende, „modellwürdige" Inszenierungen. Typisch ist vielmehr ein breites handschriftliches und methodologisches Spektrum, in dessem Rahmen unterschiedliche Seiten der Werke in vielen Fällen betont experimentell herausgestellt werden. Weite und Vielfalt als eine Gesetzmäßigkeit sozialistischer Kunst vorausgesetzt, erwächst daraus eine wichtige Aufgabe für heute und morgen: die enge und engere Verbindung aller Vorschläge mit dem weltanschaulichen Konzept der Arbeiterklasse und ihrer Partei, das die Grundlage auch für die Gestaltung des kulturellen Lebens unserer Republik darstellt. Dies ist die Voraussetzung, um die größte Errungenschaft des DDR-Theaters, die sich nicht zuletzt in seiner Erbe-Pflege als eine Leistung von Weltruf manifestiert, zu erhalten und auszubauen: seinen Charakter als p o l i t i s c h e s T h e a t e r in den Klassenauseinandersetzungen der Gegenwart. Das ist, auch wenn es um Aischylos und Calderon, Shakespeare, Goethe und Ostrowski, Ibsen und Strindberg, Gorki, Brecht und Wolf geht, die entscheidende Quelle wahrhaft künstlerischer Qualität und Attraktivität. 48
Dispute und Rezensionen Zwei Debatten
Etwas über
Maßstäbei*
MANFRED NÖSSIG
Der VIII. Parteitag der SED hat die wachsende Führungsfunktion der Arbeiterklasse und ihrer wissenschaftlichen Weltanschauung auf allen Gebieten des Lebens beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft überzeugend begründet und nachdrücklich betont. Wenn wir die objektiven Forderungen der Arbeiterklasse, ihre Ideale und nicht zuletzt ihr Geschichtsbild zum entscheidenden Kriterium auch für die Einschätzung theatralischer Kunstleistungen machen wollen und müsseh, wird ein noch bewußteres Herangehen an die Beurteilung von Kunstwerken notwendig. In jeder Hinsicht. Beispielsweise im Abbau der Überheblichkeit gegenüber in der Problemtiefe begrenzter Heiterkeit ebenso wie in der Auseinandersetzung mit Tendenzen, ideologische und ästhetische Flachheit mit dem Hinweis auf die Bedürfnisse der hart an der Bewältigung der ökonomischen Aufgaben arbeitenden Werktätigen verteidigen zu wollen. Doch ich glaube, daß diese und andere wichtige Aufgaben nicht lösbar sind ohne Auseinandersetzung und prinzipielle Verständigung über einige Vorgaben, die die hauptstädtischen Bühnen in der vergangenen Spielzeit insbesondere bei Werken der weiteren und der jüngeren Vergangenheit vorgestellt haben. Berlin ist ein Zentrum von internationaler Bedeutsamkeit und nationaler Ausstrahlungskraft. Bestimmte Probleme, unter uns ungeklärt, auch exportiert, potenzieren sich, wenn wir sie nicht klären an den Maßstäben der Arbeiterklasse. Drei Inszenierungen vor allem haben Für und Wider ausgelöst — und zum Teil mit Kritikerpreisen der Berliner Zeitung* im wesentlichen eine, wie ich meine, vorschnell-einseitige öffentliche Sanktionierung erfahren: Die Dona Rw/Za-Inszenierung 4
Nössig
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des Deutschen Theaters, die Volksbühnen-Räuber und Brechts Im Dickicht der Städte am Berliner Ensemble. Verzichten wir einmal bewußt auf den Disput um die einzelne Aufführung, der nach wie vor wichtig ist, aber unsere Verbandsarbeit in Zukunft im Interesse umfassenderer Gesichtspunkte nicht allein bestimmen sollte. Ich möchte die Frage aufwerfen, worin sich meines Erachtens Gemeinsames in den handschriftlich so verschiedenartigen Produktionen (die darzustellende Probleme auch mit unterschiedlicher Gewichtigkeit und von verschiedenen Seiten her — Spielweise, Grundkonzeption, Stückwahl — aufwerfen) ausdrückt, und wie sich das mit der weltanschaulichen Position der Arbeiterklasse verträgt. Da steht in Dona Rosita3 der gesunden, sympathischen Menschlichkeit der Haushälterin eine Welt des kleinbürgerlichen Verfalls gegenüber, der in der Titelfigur und in der Lehrergestalt schöne, lebensbejahende Züge einer gesellschaftlichen Tragik abgewonnen werden — weil da, teils streckenweise, teils konzentrierter, der Kampf um Ideale mitgeteilt ist. Aber insgesamt wird in einer emotionell tief wirksamen Weise von der Kraftlosigkeit und Lebensuntüchtigkeit der Menschen — unter Symbolen gesellschaftlicher Determiniertheit — erzählt. Ich halte Lorca in der Totalität seiner Sicht auf die Menschen, auf seine Figuren, dem Maxim Gorki näher als dem Tennessee Williams. Er gestattet es, in den Behauptungen der oft sehr verschütteten humanistischen Ideale oder Wünsche der Figuren die Überlegenheit unserer auf den Menschen bezogenen marxistischen Gesellschaftsanalyse deutlich hervortreten zu lassen, statt ihn — vom prämierten Bühnenbild her besonders deutlich abzulesen — für eine trotz aller Phantastik letztlich doch soziologische Kleinbürgerkritik zu benutzen. Über die Räuier-lnszenietung habe ich mich bereits ausführlicher ausgelassen/1 Wiederholen möchte ich hier nur, daß die Zerstörung der Schillerschen Dialektik von Gesellschaftskritik und widerspruchreicher Idealentfaltung aufgehoben wird in einer sehr einfach aktualisierenden, Alternativen aussparenden Kritik kleinbürgerlich-anarchistischer Haltungen, denen übrigens über weite Strecken — seltsamerweise, oder, so möchte ich behaupten, logischerweise — mehr tragische Sympathie als real aktivierende Distanz abzugewinnen ist. 50
Und Im Dickicht der Städte5 führt mit durchaus kritischer Absicht eine durch perfektionierte Modellhaftigkeit allgemeine Welt gesellschaftlichen Verfalls und menschlicher Kontaktlosigkeit vor. Projektionen lenken auf eine Anwendung der Geschichte auf den heutigen Imperialismus und seine Praxis der Selbstentfremdung des Menschen. Aber die idealistische Grundkomponente dieses frühen Brecht-Stücks wird keineswegs durch eine sozialistische Sicht auf den G e s a m t Vorgang, das Figurene n s e m b l e aufgehoben. Ich zweifle, ob das bei diesem Stück überhaupt möglich ist. Aber ich beobachte als Arbeitsergebnis, und das ist doch wohl entscheidend, eine letzten Endes idealistische antibürgerliche Attacke, die den Erfahrungsschatz der Arbeiterklasse in der Imperialismuskritik nicht zu erfassen vermag. All diese Inszenierungen wurden zweifellos mit der Absicht veranstaltet, dem sozialistischen Zeitgenossen erregende Theatererlebnisse zu vermitteln und dafür nicht zuletzt vielfältige, bisher vernachlässigte theatralische Mittel einzusetzen. Aber Absicht und Ergebnis stimmen nicht überein, weil der konkrete Maßstab der objektiven Ansprüche der Arbeiterklasse an die Ideen und Ideale, die eine Theatervorstellung zu vermitteln vermag, nicht als die Hauptarbeitsmaxime sichtbar wurde. So wie es Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag formulierte, wenn er die Künstler aufforderte, „[. . . .] mit dem ganzen Reichtum ihrer Handschriften und Ausdrucksweisen auf d i e P r ä g u n g der s o z i a l i s t i s c h e n P e r s ö n l i c h k e i t u n s e r e r Z e i t " — also auch, insbesondere bei der Erbe-Rezeption, auf das sozialistische Bild vom Menschen — „ z u o r i e n t i e r e n " , „bei ihrem Suchen nach neuen Formen [. . .], die K u n s t d e s s o z i a l i s t i s c h e n R e a l i s m u s zu b e r e i c h e r n " . 6 (Hervorhebungen — M. N.) Gerade eine solche Stärkung der Position des sozialistischen Realismus vermag ich in den genannten Inszenierungen jedoch nicht zu erkennen. Denn der sozialistische Realismus bereicherte und bereichert sich im wesentlichen durch Entdeckungen zur vielfältigen und vertieften künstlerischen Gestaltung der schöpferischen Kräfte des Menschen, um von da aus die Hauptkomponenten historischer und aktueller Klassenkämpfe realistisch-überzeugend darstellen zu können. 4«
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Die Arbeiterklasse hat eine große Hochachtung vor den historischen Leistungen der Menschheit und der Menschen. Deshalb liebt sie die Werke des humanistischen Erbes, in denen der K a m p f des Menschen um seine Vermenschlichung — widerspruchsvoll wie die Lebenspraxis, konfliktreich, oft tragisch — im Zentrum steht. Diese Art der Epochenkritik in großen Menschengeschichten auf eine Kleinbürgerkritik zu reduzieren, entstellt die Geschichte wie die meisten Kunstwerke, negiert das souveräne, von der Kontinuität der K ä m p f e der Menschen für Humanismus und Würde, gegen Unterdrückung und Entwürdigung geprägte Geschichtsbewußtsein der Arbeiterklasse. Zugleich — um ganz aktuell zu sein: Diese forcierte, einseitige Kleinbürgerkritik hilft der Arbeiterklasse, uns allen, wenig bei der Bewältigung der großen politischen und ideologischen Aufgaben, denn sie rückt den grundlegenden Klassenantagonismus (über die Verzerrung der antagonistischen Konflikte, die in den realistischen Kunstwerken der Vergangenheit gestaltet sind oder in ihnen assoziierbar werden) gegenüber dem „Kleinbürgerproblem" in den Hintergrund. Diese Gestaltungsweise birgt zugleich große Gefahren für die Entwicklung unserer sozialistisch-realistischen Schauspielkunst. E s wird in diesen Inszenierungen viel K r a f t und Phantasie darauf verwendet, artifizielle Mittel zur — oft hypertrophierten — F i g u r e n d e n u n z i a t i o n zu erproben und zu „kultivieren", statt neue Erfahrungen bei der sozialistisch-realistischen M e n s c h e n d a r s t e l l u n g , der schauspielerischen Gestaltung lebenswahrer und widersprüchlicher Figuren zu gewinnen. D a s schafft Zeitverlust — vor allem in Ensembles, deren hochqualifizierte Darsteller wir für eine Maßstabsetzung heute dringend brauchen. Abschließend möchte ich jedoch auch gegen eine Tendenz polemisieren, unbefriedigende Theaterabende auf einen Haufen zu werfen oder das Bemühen um prononcierte Theatralik schlechthin zum Problem zu erheben. Wir müssen die Maßstäbe der Arbeiterklasse nicht nur nachdrücklicher, prinzipieller, sondern auch konkreter als bisher zur Anwendung bringen, wenn der notwendige Meinungsstreit zu Ergebnissen, zur wirksamen Selbstverständigung führen soll.
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MICHAEL HAMBURGER
In seinem Diskussionsbeitrag auf der 2. Vorstandssitzung des Theaterverbandes befaßt sich Manfred Nössig mit drei Berliner Inszenierungen, darunter Doña Kosita bleibt ledig in den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Seine stark ablehnende Haltung zu diesen Aufführungen stellt sich mehrmals der Öffentlichkeit vor. 7 * Nun spricht nichts dagegen, daß an einer Inszenierung Kritik geübt wird, auch nichts, daß ein Kritiker so massiv auftritt, wie es ihm Stellung und Autorität ermöglichen, auch nichts, daß er sich allein gegen die fast einmütige Auffassung seiner Kritikerkollegen stemmt; denn Kritik bringt Meinungsstreit, die härteste Kritik die gründlichste Klärung, und einer kann im Recht sein, wo viele irren. Aber: ein Angriff, der so eigenhändig, so heftig und mit solcher Repetition geführt wird wie Nössigs, muß sich zumindest auf eine Begründung stützen. Damit ist es allerdings schlecht bestellt. Zwar setzt Nössig seinen Beitrag hoch an, er bezieht sich auf die „objektiven Forderungen der Arbeiterklasse" als Maßstab und hält ein „grundsätzlich neues Herangehen an die Beurteilung von Kunstwerken" 8 * für notwendig, eine Präambel, die zu Erwartungen einer fundierten Kritik mit Beobachtungen, Beschreibungen, Beweisen und Analysen berechtigt. Aber von alledem ist im ganzen Artikel nichts zu finden. Ohne ein Wort der Begründung versteigt sich Nössig zu Behauptungen immenser Dimensionen, die vom Vorwurf der „soziologischen Kleinbürgerkritik" ausgehen bis zur „Gefährdung unserer sozialistischen Schauspielkunst", zur „Geschichtsentstellung" und. zum ,,Divergierep von den objektiven Grundforderungen der Arbeiterklasse" reichen, also dem Versuch einer ideologischen Diffamierung gleichkommen. Eine derartige Eskalation zur politischen Diskriminierung wäre selbst dann nicht gerechtfertigt, wenn Nössig den Beweis der Kleinbürgerkritik als — wie er glaubt — einziges Moment unserer Doña Ro-ixta-Inszenierung erbracht hätte. Ohne auch nur den Versuch eines Beweises sind diese Äußerungen nichts als politische Invektiven, eines verantwortungsvollen Kulturwissenschaftlers unwürdig. Wenn Nössig schon das kultur53
politische Novum eines „grundsätzlich neuen Herangehens" einführt, sollte er . sich wenigstens von Erich Honeckers Worten leiten lassen: „Dem Schaffen des Künstlers kann sich selbstverständlich nur jener als Partner anbieten, der sich bemüht, in den Inhalt und das Wesen eines Kunstwerkes einzudringen, das ihm zur Beurteilung vorliegt." 9 Noch einmal der Klarheit halber: Wir begrüßen den Meinungsstreit und sind bereit, an jeder fruchtbaren Diskussion über unsere Inszenierung teilzunehmen, jeden Einwand sorgfältig zu prüfen. Den Anwurf, die Grundposition der Arbeiterklasse verlassen zu haben, weisen wir entschieden zurück. An Nössigs Beitrag läßt sich kein Meinungsstreit anknüpfen, da sich jede Erwiderung mit Gegenbehauptungen auf die Ebene fruchtloser Problematik begeben müßte. Wir verlangen eine Begründung oder Zurücknahme seiner politischen Beschuldigungen. Was wir uns wünschten, wäre ein sachliches Gespräch über Erfahrungen, Wege und Möglichkeiten bei dsr gewiß nicht leichten Aufgabe, progressive Kunst anderer Länder unter Berücksichtigung nationaler, sozialer und ästhetischer Eigenheiten für unser Theater produktiv zu machen.
HENDRIK ARNST
Dieser Artikel hat mich angeregt, besser gesagt provoziert, Ihnen zu schreiben. Ich teile nicht die Meinung Manfred Nössigs, der in den drei genannten Inszenierungen Tendenzen zur „soziologischen Kleinbürgerkritik", „Divergenz zwischen den objektiven Grundinteressen der Arbeiterklasse und den ideologisch-ästhetischen Inszenierungsergebnissen" beobachtet hat. In diesem Zusammenhang verstehe ich beispielsweise die Konstellation Gorki, Lorca, Williams nicht. Solche pauschalen Einordnungen haben meines Erachtens im Zusammenhang mit der Forderung nach einem konkreten sozialistischen Realismus keine Berechtigung. Ohne einem nebulösen Stilproblem das Wort reden zu wollen, finde, ich es begeisternd, wie die RcwVtf-Inszenierung beispielsweise mit großer Konsequenz auf einen wohlgemerkt platten Realis54
mus verzichtet und sich in ihren Intentionen ganz und gar auf den phantastischen, symbolkräftigen Dramatiker eingestellt hat. Das Ergebnis sehe ich nicht darin, daß von der Kraftlosigkeit und Lebensuntüchtigkeit der Menschen erzählt wird. Die Inszenierung gibt mir ein abgerundetes Bild vom Kampf der eben unter der vom Stück vorgegebenen gesellschaftlichen Determination agierenden Figuren um menschliche Selbstverwirklichung. Kampf natürlich nur im Rahmen des Wirklichkeitsausschnittes, der in dieser Hinsicht beengten Stückfabel. Die Menschen um die Rosita herum sind nun einmal keine Renaissanceriesen. Ihre konventionellen und sehr kleinmütigen Haltungen und Handlungen führen in eine Sackgasse, da auch von außen keine aktivierende Kraft einD ' wirkt. Die einzige Möglichkeit, ihre Probleme zu lösen, bestünde in einer Veränderung der gesellschaftlichen Grundlage. Das wird in der Inszenierung deutlich belegt und darin sehe ich ihre Parteilichkeit. Das große Verdienst der Räai^-Inszenierung besteht für mich in der Wiederbelebung eines heute nicht mehr spielbaren Stücks mit Ausdrucksmitteln des modernen sozialistisch-realistischen Theaters. Die Preisgabe des Helden seit je, Karl Moor, halte ich für richtig, denn dadurch wird der Blick auf Hintergründe und Vorgänge der Fabel freier. Die sozialen Handlungsmotive der Figuren werden plötzlich wichtiger als jede idealistische Sentenz. Wiederum kann ich keine Verletzung der objektiven Grundinteressen der Arbeiterklasse entdecken. Die Dickicht-Inszenierung ist der Versuch, das frühe BrechtStück unserem heutigen Publikum zugänglich zu machen. Wenn das bei diesem anarchistischen Stück nicht restlos gelungen ist, kann man wohl kaum der Regie radikalistische Absichten vorwerfen, was Nössig ja auch nicht getan hat. Ich meine, daß eine Konzeption vom sozialistischen Realismus, die es sich zum obersten Gebot macht, die Maßstäbe der Arbeiterklasse nicht zu verletzen, und dies nicht als selbstverständliche Voraussetzung betrachtet, zu eng und vor allen Dingen überholt ist.
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URSULA PÜSCHEL
I. Manfred Nössig hat in einem Diskussionsbeitrag, dessen Bezugspunkt der VIII. Parteitag war, am Beispiel dreier Inszenierungen gefordert: „Wir müssen also die Maßstäbe der Arbeiterklasse nicht nur nachdrücklicher, prinzipieller, sondern auch konkreter als bisher zur Anwendung bringen, wenn der notwendige Meinungsstreit zu Ergebnissen, zur wirksamen Selbstverständigung führen soll." 10 So prinzipiell muß man wohl an Probleme unserer Arbeit herangehen, wenn man den VIII. Parteitag tatsächlich auswerten will — und nicht nur Zitate suchen und Formulierungen deuten. Wir sind nicht nur dann gemeint, wenn von Kunst die Rede ist. Nachdrücklich und eindeutig wurde auf die Bedeutung der materiellen Produktion, auf die Rolle der Arbeiterklasse orientiert — verbindlich für alle Teile unserer Gesellschaft. Und das betrifft nicht mehr und nicht weniger als Quelle und Ziel unserer Arbeit. Das Verhältnis Arbeiterklasse und Kultur spielt schon seit der Jugendzeit der Arbeiterbewegung eine Rolle, und immer berührte es sowohl das Aufnehmen wie das Entstehen der Kunst. Das ist nicht neu. Aber die Veränderungen der Gesellschaft beeinflußten auch die gesellschaftliche Funktion der Kunst. In unserer sozialistischen Gesellschaft entsteht Neues innerhalb einer jeden Etappe. In dieser Vielfalt scheint mir für unsere Arbeit am wichtigsten, daß gegenwärtig eine qualitativ neue Stufe der Partnerschaft von Künstlern und Klasse erreicht ist. Das verlangt von uns, den Praxisbezug unserer Arbeit zu überprüfen, nämlich nicht nur die gesellschaftswissenschaftliche Theorie schlechthin, sondern auch die Ästhetik mit dem, was Marx „revolutionäre Praxis" nannte, in Einklang zu bringen — aus den Anregungen der FeuerbachTbesett die aufzunehmen, daß die Interpretation der Welt zu ihrer Veränderung führen müsse. Mit der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft entwickelt sich die Effektivität der Künste, Erich Honecker hat erst kürzlich auf diese Gesetzmäßigkeit verwiesen: „Charakteristischerweise nimmt 56
auf Grund der objektiven Gegebenheiten im Sozialismus die Rolle des subjektiven Faktors auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens immer mehr zu, und es ist nur folgerichtig, daß die Partei der Förderung des sozialistischen Bewußtseins der Menschen größte Aufmerksamkeit widmet, daß sie in der ideologischen Arbeit das Herzstück ihrer Führungstätigkeit sieht." 1 1 Im Verweis auf den subjektiven Faktor, an dessen Konstituierung die Kunst hohen Anteil hat, steckt auch Auskunft darüber, daß „Einheit von Kunst und Leben" nicht nur eine moralische Forderung ist, sondern objektive Gesetzmäßigkeit.
II Wie sehen nun die Maßstäbe der Arbeiterklasse in unseren Tagen aus — was ist klar, was unklar, was ist alt und ungültig oder alt und gültig, was ist neu? Sicher ist: Dieser Maßstab ist kein Rezeptkatalog. Schon deshalb nicht, weil wir von Prozessen auszugehen haben, weil sich die Klasse in der Entwicklung befindet, weil sie gerade jetzt in Bedürfnissen, Ansprüchen, Reife, Denk- und Empfindungsweisen starke Differenzierungen aufweist. Eindrucksvoll dialektisch war daher auf dem VIII. Parteitag von der allseitig entwickelten Persönlichkeit als Ziel und Errungenschaft der sozialistischen Gesellschaft die Rede. Doch berechtigt das Beachten solcher Differenzierungen nicht zu Relativismus. Dialektik ist gefordert, und die macht Mühe. Dabei könnten wir beim Überprüfen und Konkretisieren des Praxisbezugs der Kunst entschiedener bei den Politikern in die Lehre gehen. Nicht als bloße „Pflichtübung", sondern wir sollten uns zum Beispiel vergegenwärtigen, daß einem solchen Satz von Lenin die Praxis der Weltgeschichte selber Beweise seiner Richtigkeit geliefert hat: „Die Dialektik verlangt die allseitige Erforschung einer gegebenen gesellschaftlichen Erscheinung in ihrer Entwicklung sowie die Zurückführung des Äußerlichen und Scheinbaren auf die grundlegenden Triebkräfte, auf die Entwicklung der Produktivkräfte und den Klassenkampf." 12 „Die allseitig entwickelte Persönlichkeit" ist objektiv Ziel 57
der Arbeiterklasse, seit sie in die Arena der Geschichte eingetreten ist. In ihren Kämpfen hat sie Eigenschaften, Lebensauffassungen, Ideale ausgeprägt, die nach ihrem Sieg reicher werden, mehr Seiten des menschlichen Lebens umfassen, die individuellen Züge des Menschen durch seine Freisetzung als gesellschaftliches Wesen voll entfalten. Der hohe Entwicklungsstand der Produktionsmittel in unseren Tagen in beiden Teilen der Welt verringert nicht die Bedeutung dieser zentralen Probleme der Menschwerdung, im Gegenteil. Wir wissen heute: entweder wird die Menschheit gar nicht sein, oder sie wird sozialistisch sein. Dazu schrieb der Ökonom Dieter Klein: „Das Ziel der Gesellschaftsentwicklung und des ökonomischen Wachstums, der durch die jeweiligen Produktionsverhältnisse bestimmte Sinn des Lebens in den beiden Gesellschaftsformationen wird voraussichtlich in den siebziger Jahren zu einem entscheidenden Feld des Klassenkampfes zwischen Sozialismus und Imperialismus [. . .]" 1 3 Das dürfen wir nie vergessen. Und darum ist die Kernfrage: Ist es zulässig, mit den Lebensvorstellungen . und -ansprüchen der Arbeiterklasse wie mit etwas Unverbindlich-Beliebigem umzugehen oder sind sie das Hauptfeld unserer gegenwärtigen Arbeit bei der Entwicklung des sozialistischen Realismus? Darauf darf es keine bloß verbale Antwort geben. Nun ist der Grad des aktiven Eindringens in Lebensvorstellungen, Lebensgefühl und damit auch in Kunsterwartungen der Arbeiterklasse eine Frage der politischen Moral des Künstlers. Aber es ist auch ein Arbeitsproblem. Ohne den Zuwachs kollektiver Erfahrungen, geprüft und für gut befunden im Meinungsstreit, werden wir langsamer vorwärtskommen und mehr Fehler machen als nötig sind.
III Mit dem Meinungsstreit haben wir Schwierigkeiten, nicht erst seit heute. Aber vielleicht war uns seine Rolle als bewegendes Moment der Entwicklung, als Prüffeld von Arbeitsschritten und Entdeckungen — nicht als unverbindlicher 58
Austausch^ von Ansichten! — nie so klar wie jetzt nach dem Parteitag und den durch ihn vorgegebenen neuen Aufgaben. Zum Beispiel die Reaktionen auf Manfred Nössigs Diskussionsbeitrag, die mir bekannt sind, kommen aus zwei entgegengesetzten Richtungen: fröhliche Erleichterung die eine, daß endlich einmal nicht schlechthin, sondern im Zusammenhang mit Arbeitsergebnissen vom Maßstab Arbeiterklasse die Rede war; die andere: gekränktes Mißfallen mit der Unterstellung, hier sei politischer Rufmord begangen oder nach administrativem Eingreifen gerufen worden. Ursachen dafür liegen zum Teil in der Sache selbst. Es geht ja um ein Arbeitsfeld, für das man Subjektivität braucht. Lenin hat für die Literatur konstatiert, was für alle Künste gilt, und das berühmte Zitat soll noch einmal hier stehen: „Kein Zweifel, das literarische Schaffen verträgt am allerwenigsten eine mechanische Gleichmacherei, eine Nivellierung, eine Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Kein Zweifel, auf diesem Gebiet ist es unbedingt notwendig, weiten Spielraum für persönliche Initiative und individuelle Neigungen, Spielraum für Gedanken und Phantasie, Form und Inhalt zu sichern." 1 4 In diesem Sinne war auf dem VIII. Parteitag vom Reichtum der Handschriften und Ausdrucksweisen die Rede — und im Zusammenhang damit von der Aufgabe der Partei, diese Fähigkeiten der Künstler auf die Prägung der sozialistischen Persönlichkeit zu orientieren. Also nicht Relativismus, sondern Dialektik von Persönlichem und Gesellschaftlichem, Subjektivem und Objektivem — eine empfindliche Sphäre, in der die zeitweilige Stabilität immer neu erobert sein will. „Oberflächlichkeit, Äußerlichkeit und Langeweile" hängen mit Verletzungen dieser Sphäre zusammen. Das trifft zu, wenn bloße Illustration gesellschaftlicher Erkenntnisse als Kunst ausgegeben und verkauft wird, also für das Fehlen einer ausgeprägten künstlerischen Subjektivität — ebenso aber, wenn das Schöpferische jenseits des politischen Standpunkts angesiedelt wird, der mit den Arbeitsergebnissen nur noch soviel zu tun hat, daß er den Schöpfer als „ehrenwerten Mann"' ausweist, also das Verabsolutieren der Subjektivität. Das ist ein weites Feld . . . ( „ [ . . . ] parteilich,
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aber angereichert mit Phantasie", stand neulich in einer Zeitung zu lesen). Zur Voraussetzung eines guten Meinungsstreites gehört es, die richtigen Fragen aufzuwerfen. Zum Gewinnen übertragbarer Ergebnisse sind u. a. praktische Versuche nötig. Das Sichern und Verallgemeinern des schon Erreichten ist dringend. Vieles hat nur begrenzte Gültigkeit — etwa didaktisches Theater. Anderes gewinnt an Bedeutung — zum Beispiel das Verhältnis zu Idealen, zu Vorläufern im Zusammenhang mit dem Ziel unserer Arbeit, der allseitig entwickelten Persönlichkeit. Diese Frage wird seit Jahren diskutiert. Mit Heftigkeit, als Hans Dieter Made bei seiner HamletArbeit von Fragen des Ideals ausging. 15 * Dann bei der FaustInszenierung von Dresen und Heinz. 16 * Jetzt vertreten anläßlich der Berliner Räuber wieder Kollegen die Ansicht, soziale Gründe allein motivieren das Handeln. Sie haben die Sache mit dem Primat des gesellschaftlichen Seins verstanden, aber dem Leninschen Gedanken, daß das Bewußtsein des Menschen die objektive Welt nicht nur widerspiegelt, sondern sie auch schafft, können sie nur schwer folgen. Ich möchte gern herausfinden, was wir falsch gemacht haben könnten, wenn die gleichen Diskussionen bei jeder Generation von Schauspielschülern neu beginnen. Gewiß, seit Beginn dieser Diskussion ist keine lange Zeit vergangen — und trotzdem. Wird der Posten in unserer Rechnung, um den es hier geht, nicht als ein Posten im Klassenkampf realisiert? Verwirrt der taktische Wechsel von Demagogie und Offenheit bei den Ideologen der bürgerlichen Klasse? So schön schriftlich bekommen wir's nicht alle Tage, wie es etwa zur Zeit unserer Hamlet-Diskussionen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stand: „Der Glaube an ein goldenes Zeitalter ist der kriminelle Kern des revolutionären Intellekts. Kriminell im Sinne eines mörderischen geistigen Dilettantismus, der menschlichen Korrekturen eine zeitlose Wirkung zutraut [. . .] Ihre Verfasser von Münzer über Robespierre bis zu den kommunistischen Theoretikern heute sollten vor das Gericht der Geschichte gestellt werden." 17 Zu den Mängeln unseres Meinungsstreites gehört es, daß wir vor der Kompliziertheit der Dinge gern ins Allgemeine 60
entweichen, wo sich leicht Übereinstimmung herstellen läßt, die aber folgenlos bleibt, daß wir im Vorfeld stehenbleiben, bloß Voraussetzungen klären, in die vielschichtige Kunstprozesse selber aber nicht eindringen. Und wir werden nur weiterkommen, wenn wir diese Probleme als Arbeitsprobleme begreifen und handhaben. Mit einer „Stimme von oben" ist in solchen Kunstfragen nicht zu rechnen. Wir tragen die Verantwortung.
IV Zwei Arbeitsprobleme am Beispiel von Inszenierungen, von denen in Manfred Nössigs Beitrag die Rede war: Die Räuber in der Volksbühne. Kritiken und Diskussionen darüber verweisen erneut darauf, daß brisantes Zentrum der Erbe-Rezeption die Bewertung von Idealen, Vorläufern, fortschrittlichen demokratischen Ideen der Vergangenheit — hier speziell die Rolle von „Helden" als Ideologieträgern — bleibt. Praktische Konsequenzen für Regie und Schauspielkunst betreffen die Dialektik von Kritik und Rechtfertigung solcher „Helden". — Ich gebe zu, daß mich der gegenwärtige Zustand von Diskussion und Meinungsäußerung irritiert. Der Marxismus verfügt zu Fragen der Vorläufer und progressiver Ideen in der Geschichte über einen eindeutigen, bewährten Standpunkt. Aber Kollegen und Genossen drücken ihre Befriedigung darüber aus, daß Karl Moor preisgegeben, daß seine Landung im Establishment prognostiziert wird. Das sei nicht so langweilig wie das überlieferte Heldenschema (als ob's um diese Überlieferung ginge!), und der Zulauf von Jugend rechtfertige das Verfahren. Bestürzt lese ich, daß Franz Fühmann aus Sorge, daß uns das klassische Erbe verlorengeht, gesagt hat: „Wir müssen das Erbe um jeden Preis wirksam machen, wörtlich: Um jeden Preis." 18 Franz Fühmann, der die Erzählung geschrieben hat über das furchtbare Einswerden von Pervertierung klassischer Dichtung und nazistischer Barbarei — König ödipus. (Wenn er doch weise lächeln würde, weil ich das „um jeden Preis" denn doch zu wörtlich genommen habe.) Selbst solche „Preise" lassen mich nicht 61
gleichgültig: bei uns äußerte sich ein junger Mann kritisch darüber, daß unser Karl 19 * solange zögert, bis er seine Amalia ersticht. Er hatte auch die Berliner Aufführung gesehen, und die rasche Entschlossenheit, mit der das dort erledigt wird, habe ihm besser gefallen. (Auch das ist charakteristisch für den gegenwärtigen Zustand des Meinungsstreits: Ich traue mich kaum, das mitzuteilen, aus Furcht, es würde als Bewertung der Inszenierungen verstanden — ebenso wie die Unbefangenheit fehlt, über Gutes, Neuentdecktes bei den Berlinern wie über Mißlungenes bei uns offen zu reden, solange Größenordnungen und objektive Kriterien nicht gesichert sind.) In der Rä#for-Diskussion in der Akademie der Künste der DDR sagte Wolfgang Heise: „Im Grunde bleiben der in der historischen Kontinuität bedeutsame Konflikt und die Botschaft, die Kette der emanzipatorischen Kämpfe, das ideell organisierte Moment. Und daran will ich Kritik üben — obwohl ich die Aufführung hinsichtlich ihrer theatralischen Lebendigkeit, vieler szenischer Lösungen produktiv finde, hinsichtlich des Bemühens um eine gegenwärtige Sprache der Klassik. Aber ich bejahe nicht die Wirkung um jeden Preis. Der Preis darf ja nicht Schillers Botschaft, der eigentliche Gehalt sein. Sonst wäre es ja richtiger, den Text offen als Material eines ausschließlich eigenen Zweckes zu behandeln. Aber hier kann eben keine Beziehung zu einem bloßen Rohstoff bestehen, nicht nur wir wiegen das Werk, sondern es wiegt auch uns. Es ist schon auf die Problematik der Darstellung des Karl Moor hingewiesen worden. Karl ist doch derjenige, den die Räuber als ihren Hauptmann anerkennen, der — wenn auch in tragischer Verblendung — den weitertragenden ideologischen Gehalt, die über die miserable Wirklichkeit hinausweisende Idee bringt, aus bürgerlicher Bildung." 2 0 Das ist der Kern der Frage. Und das hat schon mit der Meinung der Arbeiterklasse zu den Potenzen von Ideen als materieller Gewalt, zur dialektischen Bewertung positiver Anläufe, zur Aktualität der Zunahme des „subjektiven Faktors" zu tun. Darüber läßt sich mit Bezug auf die "Räuber leichter reden als über Fragen der Dona Rojv/a-Inszenierung, die in ungesichertes Territorium vorzustoßen hatte. Manfred Nössigs 62
Unbehagen, das ich teile, scheint mir auch mit Vernachlässigungen der Inhalt-Form-Dialektik zusammenzuhängen — eine von den wichtigen Arbeitsfragen unserer Tage. Ich möchte mich auf die Rosensymbolik beschränken, die durchgehend ihre Rolle spielt — von des Onkels Gewächshaus („Zu schlapp für die Geschäfte! Völlig verblödet mit seinen Rosen: [. . .] Kein Unglück, das er nicht gelindert hätte [. . .]" 21) bis zu Dona Rositas traurigem Lied: „Offen war die rote Rose. / Doch der Abend zog herauf; / ein Gerücht von trübem Schnee / lastete auf ihren Zweigen. / Als der Schatten wiederkehrte, / als die Nachtigall dann sang, / ward sie krank und ward sie weiß / wie ein Weib, zu Tod bekümmert." 22 Es ist ihr Lied, als sie weiß, der Bräutigam, der dann eine Reiche heiratet, wird sie sitzenlassen: „Lieben und den Leib nicht finden" 23, und als der Onkel keinen anderen Trost hat, als ihr die sorgsam gehütete Rose abzuschneiden. In der Kunst der Völker gilt die Rose als Symbol für die Identität von Glück, von Liebe und Schönheit. In dem pantomimisch-prologartigen Vorspiel, das die Regie für Dona Kosita erfunden hat, wird dem Rosensymbol eine andere Interpretation gegeben. Rosen sind der Anzug eines Todesengels dieser Pantomime, und Rosen werden zusammen mit Babys von wütigen Frauen (alten Jungfern?) einem schönen weißen Pferd aus dem Bauch gerissen. Die Haushälterin, die Frau aus dem Volk, ist mit ihrem Realitätssinn, mit ihrer starken Solidarität, mit ihrer optimistischen Lebenskraft Orientierungspunkt, Maßstabfigur. Sie sagt: „Für mich riechen die Blumen nach totem Kind oder Nonnengelübde oder Kirchenaltar." 24 War dieser Satz für die Pantomime als Orientierung der Zuschauer der Ausgangspunkt? Wurde er zur Direktive der Handlungsentschlüsselung? Doch zu diesem Zeitpunkt ging es dem Dichter, der die modernistische Phase der Dichtung seines Landes mitgemacht und hinter sich hatte, um mehr. Die Pantomime klingt wie: verflucht seien die alten Jungfern, jedoch Garcia Lorca hat seine Haushälterin sagen lassen: „Verflucht seien die Reichen! Verflucht!" 25 Geht man von solchen Dimensionen des Stückes aus, dann bleibt in des Onkels Flucht aus den „Geschäften" in die Rosenwelt Sehnsucht nach Schönem spürbar, dann ist 63
bei der kitschigen Darstellung der alten Jungfern das solidarische Hilfsangebot, als Dona Rosita und die Ihren die Wohnung räumen müssen, von Bedeutung usw. Hier will ich eine Geschichte erzählen, die auf den ersten Blick abwegig erscheint: In der Chronik eines Arbeitskollektivs, dem wir freundschaftlich verbunden sind, steht eine Eintragung über Auszeichnungen am Tag der Brigaden. Als die Abteilung mit neuen Maschinen bestückt wurde, ging es um ihre effektive Auslastung, also Schichtbetrieb. Die Frauen der Abteilung, die ja für Haushalt und Familie sowieso noch eine „Schicht" zugeben, haben rückhaltlos und mit hohem Verständnis mitgemacht — einer der Gründe, warum die Abteilung ihre Frauen schätzt und sich Gedanken machte um eine würdige Auszeichnung: sie sollte allen gelten, und sie sollte etwas Besonderes sein. „Eine Blumenschale ist zwar sehr schön, aber nichts Persönliches. Der Meister hatte die rettende Idee: Eine zusätzliche Schicht für unsere Frauen." Der Meister erzählt, wie er gezittert hat, ob er für diese romantische Idee genug Männer zusammenkriegt. Und wie dann, nachdem alles vorbei und die Geheimhaltung aufgehoben war, viele Kollegen fragten, warum sie nicht auch hätten mitmachen können. „Jeder Kollege, der eine Zusatzschicht gefahren hatte, bekam eine Blume mit dem Namen der Kollegin, die er zum Tanz auffordern sollte", und so bekamen die Frauen Zeit geschenkt. Und die Männer hatten ein Gefühl dafür, daß diese nützliche Kostbarkeit auch etwas mit Schönheit zu tun hat. Dafür war die Blume das Symbol, und am Schluß der Eintragung heißt es: „Dieser Tag ging in die Geschichte unserer Abteilung als der Rosentag ein." 26 Zu einem solchen Vorfall im Leben einer Brigade sind durchaus unterschiedliche Haltungen möglich. Er mag zum Beispiel als „kitschig" bewertet werden, oder er mag wie ein Gruß durch die Zeiten verstanden werden — eine Inszenierung ergibt er nicht. Die Frage ist, ob eine Inszenierung gemacht werden kann, eine heutige, eine bei uns, ohne zu wissen, daß sich solche „Vorfälle", für die meine Geschichte steht, in unserer Wirklichkeit begeben. „Für mich riechen die Blumen nach totem Kind [. . .]", wenn daraus die Direktive zum Entschlüsseln der Handlung bezogen wird und nicht aus dem 64
Lebensbezug der Rosen, dann siedelt man Lorca in der Tat — wie Nössig schrieb — in der Nähe Tennessee Williams' an, statt seine Gorkischen Potenzen aufzuspüren. Beide Autorennamen stehen hier nur als Synonyme — für bürgerlichen Psychologismus einerseits, in dessen Optik Trauer fatalistisch unabwendbar erscheint, und andererseits für ein Lebensvertrauen, das sich auf die Beziehung zum Volk gründet und in dessen Optik Trauer hart und schwer erscheint, gerade weil sie nicht unabwendbar ist. Wir wären es ja selbst einem Autor wie Williams schuldig — wieviel mehr erst Lorca —, daß wir ihn besser verstehen als das bürgerliche Theater. Daß wir bei Lorca das aufspüren, was sich erst andeutet, um ihn bei uns zu behausen, den Dichter, der wußte, daß der „die Wahrheit zu eigen hat", „der mit heiterer Ruhe in der Ferne das erste Leuchten des Tagesanbruchs auf den Feldern sieht [. . . ] und das neue Leben kommen fühlt, das über der Welt schwebt". 27 * Orientierung auf Lebenserhaltung, Lebensgefühl und Lebensanspruch der Arbeiterklasse enthält gewiß keine Rezepte für inszenatorische Details, keine direkten Antworten auf Probleme der Übertragung anderer nationaler Formen in unsere Bühnenwirklichkeit. Aber sie gibt der Suche nach Formen die inhaltliche Grundrichtung. Es gibt im westeuropäischen Theater gegenwärtig eine Fülle von Formexperimenten. Den meisten ist gemeinsam, daß sie Pessimismus gegenüber der Erkennbarkeit und Veränderbarkeit der Welt ausdrücken. Diese Fülle ist bei uns nicht wirkungslos, und zu den Reaktionen darauf, daß wir oft die Augen hungrig gelassen haben, zählt auch die, nicht den Anschluß verpassen zu wollen als „Moderne". Juri Ljubimow hat beim Brecht-Dialog dieses Dilemma so ausgedrückt: „Wir wollen einerseits alle Revolutionäre sein, wenigstens in der Kunst, und andererseits haben wir alle Angst, Dogmatiker zu werden." 28 Es ist beunruhigend, wenn wir deswegen, weil es in der Vergangenheit dogmatische Vereinfachungen der komplizierten Inhalt-Form-Dialektik gab, heute wieder einmal dazu neigen, diese dialektische Unauflösbarkeit zu ignorieren. Der Parteitag hat auf die Notwendigkeit verwiesen, dem Sozialismus eigene Formen zu entwickeln. Dazu brauchen wir 5
Nössig
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die Wiedeibesinnung auf kühne formale Lösungen von Theaterleuten, die einem realistischen Inhalt verpflichtet sind — Ochlopkow, Strehler, Brecht, Towstonogow zum Beispiel. E s geht um einen eindeutigen Trennungsstrich zu modischen Experimenten, so daß die von Gorki geforderte soziale Klarheit und Unangreifbarkeit im Zuschauerraum spürbar wird.
V Bei den Notwendigkeiten des Meinungsstreits fällt nicht nur das Entwicklungstempo im eigenen Land ins Gewicht, sondern auch die internationalen Kämpfe. Unser sozialistisches Land ist zu Beiträgen und Beweisen fähig für die Möglichkeiten einer neuen Kunst. Einer Kunst, die nach dem Aufheben antagonistischer Widersprüche von der bloßen Negation zur Position vorstößt. A u f solche Gesichtspunkte hat Manfred Nössig bereits in seiner Einschätzung der Saison 70/71 verwiesen: „Unser Theater hat in den vergangenen Jahren seinen R u f daheim und im Ausland nicht zuerst durch technische Perfektion und eigenwillige Lesarten errungen, sondern durch humanistische Brisanz, und zwar vor allem in der Bejahung der widerspruchsvollen, weltbejahenden Tendenzen des Menschen." 2 9 D a wiegen uns also unsere jüngsten Traditionen, die des sozialistischen Realismus. Ihnen wird für das Theater aus allen Künsten zugearbeitet — das Werk von Seghers, Maurer, Becher enthält Antworten auf unsere Fragen. Reden wir von Brecht. Sein W e g v o m anarchistischen Chaos zu klassischer Klarheit liegt offen vor uns — es ist dies ein W e g von der spontanen Reaktion auf die Wirrnisse der „großen Städte" zu einer bewußten Durchdringung der Welt in Geschichte und Gegenwart vom Standpunkt der Arbeiterklasse. Unsere Verpflichtung im internationalen Kräftefeld besteht nicht darin, mal zu probieren, wie, der W e g unter neuen Bedingungen rückwärts geht, sondern zu zeigen, welche Faszination Klarheit und Helle besitzen, wenn wir es mit den „Mühen der E b e n e n " zu tun haben.
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KLAUS PFÜTZNER
Sozialistischer Realismus auf dem Theater ist „aufs innigste zu wünschen", doch stellt er sich selten in k o m p l e x e r künstlerischer Verwirklichung, in idealer Weise ein. Ich finde das normal. Die Inszenierung ist eine Synthese vielet Künste und künstlerischer Individualitäten, ein Ganzes aus vielen Elementen bis hin zum Detail schauspielerischer Verkörperung. Sie entzieht sich in ihrer Ganzheit oft schon vom Stück her dieser komplexen sozialistischen Deutung. Da gelingen in diesem Sinne oft nur Elemente: eine Figur (und die auch nur streckenweise), eine Szene. Mitunter schafft nur das Bühnenbild Möglichkeiten, unseren Standpunkt groß genug einzubringen, und oft genug beobachten wir auch, daß szenische Lösungen, die uns gelungen erscheinen, von den Zuschauern nicht bemerkt oder anders verstanden werden. Und selbst das Bemühen der Ensembles, eine marxistischleninistische Position zum Ausdruck zu bringen, ist begleitet von Irrtümern oder einem Nicht-ganz-Erreichen dieser Positionen. Auch das ist normal und dürfte uns nicht hindern, Gelungenes und Noch-nicht-zum-Ausdruck-Gekommenes zu benennen. So habe ich den Beitrag von Manfred Nössig 'Etwas über Maßstäbe verstanden, der, wenn man ihn genau liest, Erreichtes und Nichterreichtes zum Beispiel in der Doña Roji/a-Inszenierung des Deutschen. Theaters darstellt. Da finde ich keine „Eskalation politischer Diskriminierung", wie sie Maik Hamburger vorwirft. Noch-nicht-Erreichen eines Optimums sozialistischer Interpretation, also der objektiven Ansprüche der Arbeiterklasse auf dem Theater, und die Benennung dieses Fakts ist — so sehe ich das — keine „Diffamierung", denn niemand unterstellt damit, daß etwas gegen den Sozialismus Gerichtetes beabsichtigt oder zum Ausdruck gekommen sei. Im Bühnenbild zu Doña Kosita zum Beispiel ist dieses Optimum — meiner Meinung nach — nicht erreicht, was logisch auch den Aussagewert der ganzen Inszenierung f ü r u n s schmälert. Das beklemmend Faszinierende, künstlerisch Außerordentliche dieser Arbeit von Sagert ist unbenommen, doch sie verunklärt eher das Werk als daß sie 5*
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klärt, aufklärt über jene Art von Welt, in der Rosita (und nicht nur sie) zugrunde geht. Einem Leichentuch gleich liegt das Weiß des Farbgrundtons über dieser Welt, die sich mit Stierköpfen und Palmen als spanische Welt zu erkennen gibt. Die Mutter Maria als Blickfang wird konfrontiert mit dem Schicksal Rositas: Kritik an den erstarrten ethischen Imperativen des Katholizismus, an den Alt-Vätertraditionen (vergilbte Fotos) und der öden Moral, an Konventionen, dem Gequatsche der Leute und gegenseitigem Bespitzeln — sichtbar in den vielen künstlerischen Zeichen, die Sagert dafür gefunden hat. Doch bleibt das alles nur Ideologiekritik, also Moral- und Verhaltenskritik, im wesentlichen auf das katholische Dogma bezogen, das sich gegen den Menschen richtet. Doch Lorca sagt mehr über Spanien als Sagert in seinem Bühnenbild enthüllt — „mehr" im Sinne konkreter, sozialer, klassenmäßiger Kritik: Denn die Kinder der Reichen sind es, die Don Martins Kollegen mißhandeln; die Reichen werden von der Haushälterin verflucht und in die Hölle gewünscht, und die Reichen sind es, die ihre Söhne zwingen, mit ihrer Heirat weiteren Reichtum anzuhäufen und nicht ihr Glück zu finden. Hier sehe ich den Kern des spanischen Gesellschaftsbildes und den konzeptionellen Ansatz, um die Phantasie in Gang zu setzen und poetische Bilder und bauliche Lösungen zu finden, die uns gestatten, das Werk mehr noch f ü r u n s aufzuschlüsseln. Da wird ethnologisch Reizvolles ebenso eingeschlossen sein können wie Kritisches zu den katholischen Moralkonventionen. Doch würde eine solche Konzeption nicht den Hauptstoß dagegen führen, sondern gegen ein soziales System der Klassenherrschaft und ihre ideologischen Instrumentarien. Wenn schon das Werk diesen gesellschaftlich totaleren Blick nur verbal schafft — im Bühnenbild hätte das sinnliche Kraft erhalten können. Nun gut, das hat Sagert nicht getan. Ihn interessierte offenbar anderes. Das ist legitim und ein Ausdruck der im sozialistischen Theater möglichen und immer wieder geforderten individuellen künstlerischen Äußerungen. Freilich eröffnet uns — meiner Meinung nach — die marxistischleninistische Weltanschauung größere Möglichkeiten, das Werk voll zu erschließen. 68
CHRISTOPH FUNKE
Ein Streit über Ansprüche und Maßstäbe ist — wieder einmal — zum Streit über Theaterkritik geworden. Manfred Nössig lieferte den Ausgangspunkt mit der These, daß einige Berliner Aufführungen der Spielzeit 1970/71 (Dona Kosita bleibt ledig / Kammerspiele, Die Räuber / Volksbühne, Im Dickicht der Städte / Berliner Ensemble) eine einseitige Kleinbürgerkritik lieferten und keine Stärkung der Position des sozialistischen Realismus ermöglichten. Zunächst: Das ist eine Ansicht, die in einer Vorstandssitzung des Verbandes der Theaterschaffenden zur Diskussion gestellt worden ist — und über die also gestritten werden darf und soll. Bei aller Kollektivität ist Theaterarbeit immer persönlich geprägt, und auch die Kritik muß bei allem Mühen um objektive Maßstäbe, bei allem Ringen um eine klare marxistische Position, diesen Stempel des Persönlichen behaupten, wenn sie nicht langweilig und fade werden will. Persönliche Ansichten über von starken Persönlichkeiten geprägte Ergebnisse unserer Theaterarbeit können also keine Ausnahme, sondern sollten die Regel sein. Und selbstverständlich stehen Aufführung und Kritik gemeinsam zur öffentlichen Diskussion. Es wäre schön, würden wir alle lernen, dieses notwendige und oft nur „hinter der Hand" geführte Gespräch ohne Gereiztheiten, sachlich und freundschaftlich zu führen. Denn die Kritiker — muß man das wirklich wieder sagen ? — fühlen sich auch als Theaterschaffende, stehen der Arbeit unserer Bühnen nicht gegenüber, sondern möchten sie mit ihren Mitteln unterstützen und fördern. Ich verzichte darauf, hierfür Beispiele zu nennen. Zur Sache: Auch ich sehe die von Manfred Nössig beschriebenen Aufführungen in einem Zusammenhang. Sie bekennen sich voller Leidenschaft zu den Möglichkeiten und Besonderheiten des Theaters, sie liefern starke sinnliche Erlebnisse, betonen in oft vehementer Weise die Körperlichkeit der Darsteller, fordern und entfesseln die Phantasie des Zuschauers. Eine andere Frage ist aber, ob in diesen Aufführungen die spezifische Dialektik des Objektiven und des Subjektiven richtig ausgedrückt wird. Dona Kosita bedeu69
tete für mich eine fast schmerzhafte Überwältigung durch einen in ausweglose Melancholie getauchten Rausch der Schönheit. Sind Lorcas Menschen wirklich so ausgeliefert, so verfallen an ein bitteres, aber ästhetisch „zauberhaftes" Schicksal? In den Räubern erkannte ich nicht den großen Anlauf, den auch Karl Moor bei all seiner idealischen Vetblasenheit macht, um aus der Miserabilität der gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen mit seiner Bande herauszukommen. Und Ruth Berghaus' furiose, atemberaubende Interpretation des Stücks Im Dickicht der Städte vermochte meine Ratlosigkeit gegenüber diesem frühen Werk Brechts mit seinem totalen Aneinandervorbeilaufen mechanisch angetriebener Individuen in einer leeren Welt nicht abzubauen. Wofür also wurden gerade in diesen drei Aufführungen mit ihren vorwiegend negativen Aussagen über den Menschen die Mittel des Theaters so überwältigend entfaltet? Das ist eine Frage, über die zu reden lohnt. Manfred Nössig hat sie zugespitzt beantwortet, indem er drei einzelne, in sich ganz verschiedene Aufführungen auf eine ideologische Plattform montierte.. Auf diese Plattform wollen sich die Kollektive der drei Aufführungen mit gutem Recht nicht stellen. Aber damit sind die Probleme, die ihre Aufführungen hervorrufen, doch noch nicht aus der Welt geschaffen!
MANFRED NÖSSIG
Ein Resümee unserer Maßstäbe-Diskussion zu ziehen wäre verfrüht. Es gibt genug Leistungen und Probleme in unserer Theaterkunst, -Wissenschaft und -kritik, genannte und ungenannte, die eine Fortsetzung, Belebung, Qualifizierung des — zugegeben schwer — in Gang geratenen vorurteilsfreien öffentlichen Gesprächs als Forum der Meinungen und zur Klärung der Positionen, also zum Zwecke des schnelleren, effektiveren Voranschreitens, notwendig machen. Aber zugleich halten wir es für nützlich, über die konkreten Gegenstände, zu denen ich auf der 2. Vorstandssitzung des Theaterverbandes sprach, hinauszukommen und dazu einige Erfahrungen der Maßstäbe-Diskussion festzuhalten. 70
Wir sind wohl alle noch zu wenig an das Streitgespräch gewöhnt, denken zu schnell, daß hinter einer prononcierten Meinung,noch „irgend etwas" anderes stecken müsse als die Person des Disputanten. Die 3. Vorstandssitzung hat deshalb mit Nachdruck darauf orientiert, daß es im Verband und seinen Publikationsorganen ein Recht auf Meinungsäußerungen geben muß, aber daß diese, wie auch Wolfgang Heinz betonte, als persönliche Ansichten aufzufassen sind, die dem Ziel dienen, im Meinungsaustausch die Wahrheit zu finden. Eine große Rolle bei dem Für und Wider zur MaßstäbeDiskussion spielte die Frage, ob der angeschlagene Ton bei der Polemik unmißverständlich freundschaftlich war und ob der Versuch, unterschiedliche Arbeiten unter einem Gesichtspunkt zu koppeln, beobachtete Tendenzen ohne Detailkritik (die allerdings in allen diesen Fällen vorausgegangen war) zu verallgemeinern, nützlich gewesen sei. Die Auseinandersetzung um solche Fragen hat verschiedene Lehren erbracht, die wir im weiteren Meinungsaustausch beherzigen sollten. Die erste ist: Das Urteil über konkrete Kunstleistungen muß die Hauptform unserer Auseinandersetzung sein, und wir müssen lernen, Standpunkte immer präziser aus der beweiskräftigen Einschätzung von Inszenierungsganzem und -details herzuleiten. Aber wir dürfen auch nicht den Mut zur Tendenzbeurteilung verlieren (und wissen, daß dabei die Totalität der Einzelerscheinungen vernachlässigt werden muß). Die zweite ist: Wir sollten auch in Zukunft unsere Diskussion fest an den objektiven Ansprüchen der Arbeiterklasse orientieren. Aber es muß deutlicher, feinfühliger noch, als ich das versuchte, der P r o z e ß des Inübereinstimmungbringens von sozialistischer Absicht und konkretem Kunstergebnis berücksichtigt werden. Und die dritte ist: Wir sollten bei kritischen Urteilen, wenn sie nicht den unseren entsprechen oder gar uns selbst betreffen, nicht in einer ersten verständlichen Ärgernishaltung verharren. Einen guten Gedanken durch einen besseren präzisieren, aber auch ein Urteil, das einem falsch oder dumm erscheint, durch eines zu korrigieren, das man für richtig und klug hält — das scheint uns der erstrebenswerte Zustand für die Beziehungen unter sozialistischen Theaterleuten. 71
Viermal „Hamlet" und viele Fragen offen 30* LIANE PFELLING
Allgemeines Auf unseren Bühnen sind gegenwärtig vier Ins2enierungen von Shakespeares Hamlet zu sehen: in Leipzig (Regie Karl Kayser), in Magdeburg (Regie Werner Freese), in Schwerin (Regie Gert Jurgons) und in Weimar/Jena (Regie Fritz Bennewitz). Die Regisseure in Magdeburg und Schwerin bedienen sich der deutschen Fassung von Maik Hamburger und Adolf Dresen. Karl Kayser und Fritz Bennewitz spielen die Schlegelschen Übersetzung. Diese Inszenierungen zeugen davon, daß und wie die Theater versuchen, die bisherigen Erfahrungen der ErbeRezeption durch neue Experimente und Lösungsvorschläge zu bereichern und weiterzuführen. Nicht nur im Hinblick auf die Methodenvielfalt, die sich besonders seit Ende der sechziger Jahre bei der Aneignung der alten Dichtungen herausgebildet hat, sondern auch im Hinblick auf die beiden konzeptionell unterschiedlichen Grundpositionen, von denen aus die Klassikerrezeption in unserer Bühnenpraxis betrieben wird. Gemeint sind erstens die Bemühungen, die historischkonkret bedingten Widersprüche und Schönheiten der alten Werke mit ihrem übergreifenden Humanismusgehalt zu verschmelzen und so „das in unsere Zeit Hineinweisende" 31 bloßzulegen. Und zweitens die Versuche, Zeitnähe und Publikumswirksamkeit der alten Dichtungen dadurch zu erzielen, daß das Kritikwürdige der in ihnen dargestellten Gesellschaftszustände, die historische Begrenztheit der ihnen immanenten Ideen und Figurenhaltungen prononciert hervorgekehrt wird. Die vier Hamlet-Inszenierungen sind Bestandteil dieses widerspruchsvoll-schöpferischen Prozesses aktueller Erbe-Aneignung, eines Prozesses, der wesentlich auf objektive Ursachen zurückzuführen ist. So unter anderem auf den gewachsenen Grad an Geschichtsbewußtsein, an Informiertheit, an intellektuellem Urteilsvermögen und ästhetischen Ansprüchen der Kunstinterpreten und -rezipienten in der 72
sich entwickelnden sozialistischen Gesellschaft, als auch auf die ideologischen und kunsttheoretischen Positionen, wie sie im System- und Ideenkampf unserer Tage entwickelt werden. Inszenierungen Der Schweriner Hamlet spielt in einer Art Zirkusarena (Bühnenbild und Kostüme Edda Naumann). Im Hintergrund Seile, Leinentücher, Strickleitern rechts und links, darauf zwei clowneske Typen, in einer Art Prolog Stand und Name der handelnden Personen ausrufend. Farbintensive Gobelins und Kostüme verdeutlichen feudale Pracht inmitten rustikaler Umgebung. Hamlet (Reinhard Hellmann) ist ein rebellierender, zorniger junger Mann, fordernd, aufbegehrend, hitzig, wild, rasch in Wort und Bewegung. Ein Hamlet, der beim Monolog „Welch Meisterwerk ist der Mensch" alle Viere von sich streckend auf dem Boden liegt; der das „Sein oder Nicht-Sein" provokativ ins Publikum schleudert; der die Königin wie bei einem Vergewaltigungsakt aufs Bett wirft, die Leiche Polonius' schwitzend vor Anstrengung vom Tatplatz zerrt. Kurz, ein Hamlet, dessen Aktionen ganz aus dem Spontanen, kaum aber aus geistigen Erwägungen kommen. Laut Programmheft wird dieser Hamlet schließlich „zum sarkastischen Nihilisten und Renegaten seiner einstigen Ideale und fällt zurück in feudale Lebensnormen". Derbheit und Brutalität bestimmen auch weitgehend Gestik, Mimik, Sprache und Verhalten der anderen Figuren: Claudius (Kurt Nolze) etwa, der sich im letzten Bild vor Hamlets Degenstößen feige hinter dem steifen, toten Körper der Königin verbirgt; oder Fortinbras (Hans-Jürgen Plust), der angesichts des Trauerspiels ein gelles Lachen ausstößt und damit den dissonanten Schlußpunkt des Geschehens setzt. Kein Lichtblick ist in dieser Inszenierung. Nicht das Vermächtnis des Horatio, der hier gleichmütig inmitten der Entseelten sitzt und in einem Buche liest. Eine Feudalfehde ist abgelaufen, Roheit, Gewalt und Kampf veranschaulichend. Aktion, Tempo, harte Töne bestimmen das Spiel. Der Vorteil: 73
Hamlet wird als großes Handlungsdrama gespielt und bezieht von daher seine Publikumswirkung. Der Nachteil: Der humanistische Kern der Dichtung, der ideelle Gehalt, die gedankliche Tiefe und poetische Schönheit gehen über weite Strecken verloren. Ein rasanter Schauspielergestus wird gefordert, der auf Kosten der Figurentiefe und zu Lasten der Kunstwirklichkeit geht. Auch in der Magdeburger Inszenierung wird der „Spiel"Charakter des Stücks betont. Die schmucklos, halbbraun gehaltene Ausstattung (Bühnenbild und Kostüme Günter Altmann) wird bestimmt von einem Podest in der Bühnenmitte, auf dem Fahnen oder zwei grob gefertigte Königssessel stehen. Im Hintergrund eine Jazzband; rechts und links an den Seiten Schauspieler, die auf ihre Auftritte warten. Extrem gekennzeichnet sind die Vertreter der verfallenden Feudalwelt. Sie tragen graubraune bis farblos graue Pullover und Hosen, sind in die Nähe „schlotterichter" Figuren gerückt. Hamlet tritt in gestreiften Jeans auf. In diesem fragwürdigen — soziologisierenden und aktualisierenden — Inszenierungsrahmen ein wilder, aufbegehrender, trotzig-eruptiver Hamlet (Berndt Stübner), der — trotz gelegentlich leise resignierender, lyrisch-weicher Töne — recht tatbereit wirkt. Sichtbar dort, wo er seine Kontrahenten durch Gegenhandlungen verwirrt; wo er nicht nur disputiert, sondern sich willig in die praktische Arbeit der Totengräber einbeziehen läßt; wo er das „In Bereitschaft sein" mutig verkündet und wo seine Versöhnung mit Laertes (Olaf Polenske) fast wie eine humanistische Alternative zu den Verbrechen der alten Welt erscheint. Und wenn dann Fortinbras (Rolf MeyDahl) im Abgehen wegwerfend und gleichgültig seine Bestattungsanweisungen gibt, wirkt das — nach dem Voraufgegangenen — wie ein warnender Kontrapunkt zu Hamlet (und Laertes), der sinnlos geopfert wird, aber sich wehrend gestorben ist. Aussagestark sind auch andere Passagen: die schlicht, aber mit Größe und Gefühlstiefe agierende, in der Wahnsinnszene zum Vulgär-Sinnlichen herabsinkende Ophelia (Eva Weißenborn), die energische, sich ihrer Schuld bewußte, Claudius schützende Königin (Ingeborg Schmitz) oder auch Claudius 74
(Klaus-Rudolf Weber), dessen Schläue, Durchtriebenheit, Angst besonders im zweiten Teil zunehmend überzeugen. All diese Vorgänge stehen im Widerspruch zu der im Programmheft geäußerten Fabfeierzählung, die sich auf Peter Hacks stützt, der Hamlet als „die Tragödie von der Unvollkommenheit aller Verbesserungen" bezeichnet und von Hamlet sagt: „Zu stolz, sich mit einem relativen Fortschritt abzufinden, verrät er den Fortschritt." 32 Die stark zum Aktionsdrama tendierende Magdeburger Inszenierung beweist, daß sich Shakespeares Ham/et-Fa.bei nur schwer zu einer Tragödie des Fortschrittsverrats umformen läßt. Tatsächlich ist das lumpig-plebejische Äußere der Inszenierung, die Unterbelichtung des geistig-weltanschaulichen Ringens und als Folge davon die starke Vernachlässigung der Sprache, der Diktion und des historisch-konkreten Elements in Spiel und Gestik der Figuren, sind diese Shakespeare beschädigenden Züge der Inszenierung auf eine solche, kritikbetonte HamletSicht zurückzuführen. Einen anderen Weg beschreitet Karl Kayser. Seine Inszenierung versucht, die Vorgänge im Sinne einer großen geistigphilosophischen Aussage zu organisieren. Gezeigt wird ein Spiel, in dem Gefährlichkeit der gesellschaftlich verdorbenen Umwelt ebenso schuldig ist am Scheitern des Humanisten Hamlet wie das eigene Zaudern dieses seiner Zeit unbewußt überlegenen Helden. Der Größe dieses Anliegens entspricht die Würde der äußeren Gestaltung (Bühnenbild Falk von Wangelin). Leicht verblichene Teppiche, variabel in den weiten Bühnenraum gehängt, schaffen — ebenso wie der stark zergliederte Bühnenboden — Raum und Platz für großräumige Aktionen. Im Zentrum eine Thronbank, die auch als Grab, Altar oder Bett dient. Der Hof trägt kostbare Renaissancekostüme. Hamlet geht in Schwarz. Auch die illustrativ-pantomimischen Schauelemente dienen der Verdeutlichung des Aussagegehalts. Sie schaffen optisch sichtbaren Einblick in Beweggründe und Motive von Verhaltensweisen, vor allem Hamlets. Sein Haß auf die dänischen Zustände z. B. wird verdeutlicht durch eine Hintergrundszene, die ein höfisches Gelage und die lüsterne Gertrud zeigt. Hamlet (Friedhelm Eberle) ist ein intellektueller Typ, 75
unsentimental, grüblerisch, sensibel, aber auch agil, energisch, genau und scharf trennend zwischen Verstellung und menschlicher Freundlichkeit. Er ist einer, der zaudert, weil Mord seinem Humanismusbild widerspricht, und der doch begreifen muß, daß er mit den Mitteln zu kämpfen gezwungen ist, die er bei seinen Gegnern verachtet. Er ist einer, der trotz alledem sein „In Bereitschaft sein" wie ein politisches Programm verkündet. Hier sind Monologe und Reflexionen untrennbarer Bestandteil des geistigen Ringens und der Aktionen einer großen, widerspruchsvollen Figur. Die zum Gesellschaftsbild tendierende Lesart des Stücks bezieht ihre Wirkung nicht zuletzt aus der klaren Polarisierung zwischen Feudal- und humanistischer Gegenwelt sowie durch die, besonders bei der Königin angestrebte diffizil-vielschichtige Figurenzeichnung. Beeinträchtigt wird die Inszenierung vor allem durch einige stark rhetorisch in Szene gesetzte Passagen, die gewissermaßen neben dem szenisch-optisch Auffallenden stehen und den Zuschauer leicht in eine bloße Betrachter- bzw. Zuhörerrolle versetzten. Auch das Weimarer Nationaltheater versucht in der für die Aufführung in Jena zum zweiten Mal überarbeiteten Inszenierung den humanistischen Ideengehalt des Werks szenisch zu verdeutlichen. Die Konzeption stellt Hamlets Tatbereitschaft, seine Größe und Grenzen in den Mittelpunkt. Die Dichtung wird, laut Programmheft, verstanden als ein Gleichnis für „das unaufhörliche Streben nach dem erfüllbaren Ideal des Menschen". Auch hier bestimmt ein würdiger äußerer Rahmen wesentlich das Fluidum der Aufführung: die fast dekorationslose Bühne wird durch drei halbhohe graue Vorhänge zerteilt, so die einzelnen Schauplätze rasch und zügig freigebend (Bühnenbild Franz Havemann). Die Kostüme (Ingrid Rahaus) sind farbkräftig und im Renaissancestil gehalten. Über allem spannt sich ein erleuchteter Fotomontagerahmen, Gesichter und Augen bekannter Gemälde aus jener Zeit darstellend. Eine Art Kontext zum Humanismusbild Hamlets. Bemerkenswert in vielen Passagen ist die klare, den Gedankeninhalt verdeutlichende Diktion der Schauspieler, ist das Bemühen, Handlungen und Reflexion miteinander zu verbinden. Auch hier ist Hamlet (Detlef Heintze) ein intellektueller junger 76
Mann, der nach der Begegnung mit dem Geist begreift, daß die Zeit aus den Fugen ist, der sich — nach der Szene mit dem deklamierenden Schauspieler — Kraft zuspricht. Aber er ist auch ein Hamlet, der seine Absage an Ophelia, seine ausweglose Lage überhaupt, fast körperlich schmerzhaft empfindet und sein „In Bereitschaft sein" fast melancholisch vorbringt. An den Theaterabend aber bleiben Fragen offen. Sowohl im Hinblick auf eine zu einseitig aufs Wort gestellte, aktionsarme Figuren- und Handlungsführung, besonders im zweiten Teil der Tragödie, die zur Erzeugung von Langeweile tendiert. Zum anderen dadurch, daß durch Textstriche Motivationen wegfallen. So das in Hamlets Welthaltung begründete Motiv, das einen Mord aus dem Hinterhalt an Claudius verbietet. Andere Szenen wieder — bedingt durch flüchtig-unscharfe Spielkonturen — verflachen die Tragik des Geschehens. So nimmt Hamlet den Mord an Polonius gleichmütig, fast wie ein Kavaliersdelikt wahr. Durch solche Unausgewogenheit wird der große philosophische Anspruch der Konzeption zu wenig nachvollziehbar umgesetzt.
Ansichten Die vier Inszenierungen sind nicht einfach in produktive und unproduktive Klassikerinterpretatiorien einzuteilen. Jede von ihnen bringt wichtige Erfahrungen ein. Die Verdienste der Leipziger und bedingt auch der Weimarer Lesart liegen in der Bewahrung von Shakespeares humanistischem Welt- und Menschenbild; in dem Versuch, Größe und Grenzen Hamlets ebenso hervorzukehren wie den widerspruchsvollen Habitus der höfischen Gegner; in dem Versuch, durch die Synthese zwischen Aktion, Reflexion und Schauwert eine theatralisch attraktive, geistig anspruchsvolle Inszenierungsweise aufzubauen. Aber auch die beiden anderen Inszenierungen haben wertvolle Erfahrungen beizusteuern. Diese liegen in dem großen Aktionsreichtum, dem Tempo, in der Erfindung handlungsintensiver,,aussagestarker Details, die die szenischen Möglichkeiten der Klassiker enorm erweitern. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß die produktiven 77
Ansätze der Schweriner und Magdeburger Inszenierungen den humanistischen Kern der Dichtung verletzen, daß hinter dem Aktionismus um jeden Preis, hinter den soziologisierenden Tendenzen, hinter dem rabiaten Abbau vieler Figuren Positionen stehen, die mit der marxistisch-leninistischen Haltung zum Erbe, zum Geschichtsfortschritt überhaupt schwer vereinbar sind. Vor allem deshalb, weil Shakespeares Dichtung letztlich unter dem Einfluß geschichtspessimistischer bzw. ultralinker Anschauungen interpretiert wird, die das objektive, sich durch Jahrhunderte hindurchziehende Gesetz des Gesellschafts- und Menschheitsfortschritts objektiv in Frage stellen und nicht berücksichtigen, daß sich das Humanismusideal historisch konkret immer neu und immer anders artikuliert. Auffällig ist schließlich, daß durch die in Schwerin und Magdeburg gewählten Lesarten sowohl der Kunstwert des Stücks als auch das schauspielerische Gestaltungsvermögen beeinträchtigt werden. Der plebejisch-soziologisierende Inszenierungshabitus in Magdeburg drängt die Darsteller zur Vernachlässigung des sprachlich-gedanklichen Elements und fordert ihnen kaum zeit- und standesbedingte Figurenhaltungen ab. Auch der rasante, ganz auf die körperliche Aktion gestellte und das Humanismusideal beschädigende Inszenierungstyp in Schwerin unterfordert die Schauspieler. Es besteht Gefahr, daß die Klassik ihrer Funktion als Erzieher bedeutender Darstellerpersönlichkeiten, als Mitformer einer neuen Zuschauerkunst verlustigt gehen. Diese Inszenierungen sind objektiv dort im Recht, sie gegen museal-deklamatorische, aktions- und szenisch arme Klassikerinterpretationen polemisieren. Aber sie bieten noch keine echte Alternative, wenn sie in ihren aktionsbetonten Lesarten das gedanklich-philosophische Moment weitgehend eliminieren. Hier gilt, was Gottfried Fischborn im Zusammenhang mit der Gegenwartsdramatik über die Bedeutung des Wortes schreibt: „Manch anderen .Ansprüchen', die sich als theaterspezifisch ausgeben, gilt es, eher zu widerstehen, wie z. B. [. . .] der modischen Forderung nach action, nach .Handlung', a n s t e l l e von ,Gerede'. Alle großen Theaterautoren sind auch b e r e d t . Und das Gespräch, die Debatte, ist im Leben die adäquate 78
Form des Austragens von Widersprüchen [. . .], ist unmittelbare Erscheinungsform des Handelns." 33 So problematisch solche und ähnliche humanismusabwertende Lesarten sind, so nachdrücklich provozieren sie Überlegungen, die bis heute der theoretischen Durchdringung harren. So beispielsweise die Frage nach der positiven Wirkungskraft negativer, „abgebauter" Helden. Ist die These beweiskräftig, daß das sozialistische Publikum kraft seines gewachsenen Geschichts- und Gesellschaftsbewußtseins eine die Kritik betonende Klassiker-Interpretation richtig assoziiert und durch seine Erfahrungswerte ergänzt? Damit steht die Frage nach dem von kritikwürdigen Figuren ausgehenden ästhetischen Genuß. Offensichtlich ist es so, daß ein versagender Held das Publikum ebenso zu einer aktiven Parteinahme herausfordert wie der Vorbildheld. Aktive Parteinahme bedeutet hier gedanklich-korrigierendes Auseinandersetzen mit der kritikwürdig dargestellten Figur. Daran wiederum knüpft sich die Frage, ob die Theaterpraxis (und in ihrem Gefolge die Theaterwissenschaft) nicht ein größeres Recht auf extreme Klassikerdeutungen besitzt als die Literaturwissenschaft. Denn das Theater will doch in erster Linie die Zuschauer für die alten Dichtungen interessieren. Ist es nicht so, daß die Unausschöpfbarkeit der Klassik das Theater immer wieder dazu befähigt, neue TanO
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genten zum Tage zu entdecken, während die marxistische Literaturwissenschaft den Ideengehalt der alten Stücke im Grunde nur einmal, dafür aber umfassend und „richtig" herausarbeitet? Handelt es sich bei der gegenwärtig auch auf die Interpretation von Werken des kritischen Realismus übergreifenden Tendenz zur Preisgabe des positiven Ideals um eine Modeerscheinung, um ein notwendiges Durchgangsstadium, oder um die für eine sozialistisch-realistische Interpretationskunst mögliche und nötige Postulierung einer legitimen Methode? Wenn die marxistisch-leninistische Kunst- und Theaterästhetik dennoch immer wieder mit Nachdruck darauf orientiert, die Größe insbesondere der Shakespeare-Dichtungen herauszuarbeiten und ihren Humänismusgehalt als Vermächtnis für die Gegenwart zu erschließen, so hängt das wohl mit der Rolle zusammen, die diese Werke in der gesellschaftlichen und künstlerisch-kulturellen Entwicklung der Menschheit gespielt haben. Shake79
spearesWerke entstanden in der Aufstiegsphase der bürgerlichen Gesellschaft. Das humanistische Ideal des Dichters befand sich — unbesehen aller bereits erkennbaren Widersprüche — weitgehend in Einklang mit der progressiven, das heißt antifeudalen Klassenposition des jungen Bürgertums. Das Selbstbewußtsein, die Kraft, der Nachdruck, mit denen Shakespeare dieses für seine Zeit progressive Ideal zu propagieren und künstlerisch zu bewältigen weiß, machen seine Werke unserer, sich ebenfalls im Aufbruch befindlichen Gesellschaft wert und teuer. Denn sie artikulieren, eben durch die widerspruchsvolle Identität zwischen Dichter- und Gesellschaftsideal, deutlicher als die Werke der bürgerlichen Spätzeit die große geschichtliche Kontinuität, mit der sich der Fortschrittsgedanke durch die Jahrhunderte auf unsere Zeit zubewegt. So gesehen wird das künstlerisch-ideelle Ringen um die Bewahrung und szenische Erschließung des humanistischen Grundanliegens in Shakespeares Werk immer zentrales Anliegen der sozialistisch-realistischen Klassikerrezeption sein.
MARTIN LINZER
Im Gegensatz zu den großen Werken der nationalen Klassik wird Shakespeares Hamlet relativ viel gespielt. Daß gegenwärtig gleich vier Inszenierungen im Repertoire des DDR-Theaters sind, mag ein Zufall sein, doch steht diese Tatsache für das vitale Interesse der Theaterproduzenten (und offenbar auch der -rezipienten) an den im Stück zu findenden Ideen, Vorgängen, auch an seinen poetischen Schönheiten. Den Beobachtungen und Fragen, die Liane Pfelling aus ihrer Sicht zur Diskussion stellt, sollen hier nun einige weitere — aus meiner Sicht — zugefügt werden. Sie sind nicht polemisch gemeint, sollen aber helfen, einen schöpferischen Meinungsstreit anzuregen über die aufgeworfenen Fragen der Erbe-Rezeption, die' Fragen nach dem Standort unseres Theaters überhaupt implizieren. Mir scheint, daß die „Methoden-Vielfalt" bei der Aneignung des Erbes nicht nur ein Fortschritt ist, sondern daß sich dahinter viele unausgesprochene Unsicherheiten ideologisch80
ästhetischer Art verbergen. Meines Erachtens zeugen die Aufführungen selbst, zeugen die in Programmheften formulierte Konzeptionen, zeugen Widersprüche zwischen verbalen Absichten und Inszenierungsergebnissen, zeugen auch einzelne kritische Reaktionen von mangelnder Klarheit, klärende Diskussionen fordernd. Liane Pfelling beschreibt zwei Wege, sich gegenwärtig den klassischen Werken zu nähern: „[. . .] die historisch-konkret bedingten Widersprüche und Schönheiten alter Werke mit ihrem tiefgreifenden Humanismusgehalt zu verschmelzen" und — „Zeitnähe und Publikumswirksamkeit der alten Dichtungen dadurch zu erzielen, daß das Kritikwürdige der in ihnen dargestellten Gesellschaftszustände [. . .] prononciert hervorgekehrt wird". Ich würde vorschlagen, diesen nur scheinbaren Widerspruch näher zu untersuchen, die Fragestellung zu ergänzen und zu erweitern. Dabei müßten sehr konkret Stück und Inszenierungen untersucht werden. Wolfgang Heise hat darauf hingewiesen, daß der Abschied von utopischen Illusionen einer vollendeten Harmonisierung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit auch Konsequenzen haben muß für unsere Beziehung zum Erbe, für seine Bewältigung als Aufgabe für unsere Gegenwart. Dabei sehe ich auf der einen Seite die Gefahr einer Reduziel
rung des Humanismusbegriffs auf das platte Ideal. Die Theorie der Antizipation, die davon ausgeht, daß die in den alten Werken artikulierten Träume und Sehnsüchte der Menschheit in unserer Gegenwart verwirklicht seien, hat doch offenbar da ihre Grenze, daß der „tiefe und weite Gehalt des Erbes reduziert [wird] auf das bloß Vorhandene, das auch in unsere Zukunft noch Verweisende abgeschnitten" würde. 34 Die statische Auffassung des Humanismusbegriffs aber muß auf dem Theater notwendig auch zu statischen, unproduktiven, letztlich unattraktiven Lösungen führen, die die historischen Vorgänge auf Illustrationen einer These reduziert. Auf der anderen Seite ist ein einfacher theatralischer Aktionismus natürlich keine Alternative, und jeglicher fade Modernismus steht einer echten Erschließung der klassischen Werke zuverlässig im Wege. Zu unterscheiden wäre aber, würde ich 6
Nössig
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vorschlagen, zwischen bloßer Aktion (also ohne Inhalt und Ziel) und gestischem Handeln (also Vermittlung von — äußeren wie inneren — Vorgängen durch schauspielerische Haltungen). Mir scheint, es geht nicht nur einfach um eine Synthese von Reflexion, Aktion und Schauwert, die mit einer bloßen Summierung sich schon zufrieden geben kann, sondern um das Finden eines schauspielerischen Gestus, der über die konkreten Vorgänge zu einer Bewertung der Figuren und deren Aussageabsichten und darüber zu Aussageabsichten der gesamten Inszenierung über das Werk führt. Ich räume dabei ein, daß der Begriff des Gestus zu neuen Mißverständnissen Anlaß geben könnte. (Ich verweise in diesem Zusammenhang auf das Problem der Übersetzung, lasse, aber unbeantwortet die Frage, inwieweit die von den einzelnen Theatern gewählten Fassungen sozusagen „mitschuldig" sind am Inszenierungsergebnis.) Wenn es richtig ist, daß wir die Rezeption der alten Werke begreifen als Aufgabe für die Gegenwart,.in ihrer zutiefst geschichtlichen Bestimmung, so lassen sich meines Erachtens alle Fragen bündeln in der übergreifenden Frage nach der Dialektik von Historizität (historisch konkrete Darstellung der in den alten Werken wirksamen gesellschaftlichen Kräfte in ihrer klassenmäßigen Bestimmung) und Aktualität (Verkörperung der übergreifenden menschheitlichen; humanistischen Ideen in ihrer Relevanz für unsere gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung). Das scheint freilich das Einfache, das so schwer zu machen ist. Im Ziel einig, gehen die Meinungen über Methoden, Lesarten, Realisierungsmöglichkeiten auseinander. Das darf nicht verwischt werden, darüber wäre zu reden.
GERT JURGONS
„Was ich nicht gern sehe: wenn in einer Kritik (ins Deutsche übersetzt) steht: ,Die Farbe meines Hutes sei zu dunkelblau und wäre besser hellblau, wenn die Farbe meines Hutes gelb ist.'" 35 Der Ärger beginnt beim Gegenstand. Bei dem Theaterstück Hamlet von Shakespeare. Offenbar, hat Liane Pfelling eine gesicherte Lesart des Werks. Sie beklagt, daß in der Schweriner Inszenierung „Figurentiefe" und „Kunstwirklichkeit" (?) ver82
• loren gehen. Sie merkt an, daß die Magdeburger Aufführung beweise, daß sich Shakespeares Hamlet-Fabel nur schwer zu einer Tragödie des Fortschrittverrats umformen läßt, daß Shakespeare damit beschädigt würde, und sie läßt durchblicken, daß die Leipziger Inszenierung, die „die Vorgänge im Sinn einer großen geistig-philosophischen Aussage" organisiert, ihren Intentionen am nächsten komme. Ich versage mir an dieser Stelle, unsere Lesart des Stücks zu beschreiben, eines Stücks, das, wie Brecht bescheiden bemerkte, mehrere Lesarten ermöglicht. Aber: Theater besteht eben nicht darin, einem Kritiker das ihm Bekannte und von ihm Erwartete noch einmal ausdrücklich durch die Aufführung zu bestätigen. Und: Ein Kunde, der seinen Fleischer dafür tadelt, daß sein Schweinebauch nicht als Landleberwurst verwendet werden kann, wird den braven Gewerbetreibenden in einiger Ratlosigkeit lassen . . . Mir geht es hier um den „humanistischen Kern", um den „ideellen Gehalt". Liane Pfellin^ beschwört sie mehrfach, versäumt aber, sie zu definieren. — Ich bin verunsichert. „Während Ödipus das blinde Schicksal zwingt, läßt Hamlet sich hineinfallen. Er ist nicht determiniert, er wählt die Determination. Er wird Fatalist, dankt die Vernunft ab. Unter den zufälligen Leichen ist er schließlich selbst. Shakespeare kritisiert Hamlet nicht, alles steht vielmehr in der Fabel, sie erweist, wohin es führt. A b e r S h a k e s p e a r e ist auch nicht g l e i c h H a m l e t . Wo Hamlet den Schlaf wählt, da w e c k t S h a k e s p e a r e den Z u s c h a u e r . D a r i n b e w ä h r t er sich als H u m a n i s t . " 3 6 (Hervorhebung — G. J.) — Hier kann ich folgen. Ungünstig ist die Methode der Rezensentin bei der Beschreibung und Wertung von Inszenierungsdetails. Die Enttäuschung, das von ihr Erwartete nicht geliefert zu bekommen, veranlaßt sie, sträflich ungenau zu beschreiben, einzelne Details aus ihrem szenischen Zusammenhang zu reißen und unzulässig zu verallgemeinern. So sieht sie — um ein Beispiel zu nennen —, daß Hamlet die Königin „wie bei einem Vergewaltigungsakt" auf das Bett wirft, schlußfolgert daraus, daß „Derbheit und Brutalität" der bestimmende Inszenierungsgestus sei. Sie übersieht in der gleichen Szene den zarten Versuch Hamlets, die Königin von Claudius abzubringen, und verschweigt schließlich seine 6»
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stille Erschütterung über den spontanen Totschlag an Polonius, den er dann allerdings — da hat sie richtig gesehen — schwitzend vom Tatplatz schleppt (der Mann wiegt 85 kg). Liane Pfelling ist nicht frei von der liebenswürdigen Eigenschaft vieler unserer Landsleute zu systematisieren, zu katalogisieren, Ordnung und Übersicht in das Ganze hineinzubringen. Und so teilt sie denn ein: „Erstens die Bemühungen, die historisch-konkret bedingten Widersprüche und Schönheiten der alten Werke mit ihrem übergreifenden Humanismusgehalt zu verschmelzen, und zweitens die Versuche, Zeitnähe und Publikumswirksamkeit der alten Dichtungen dadurch zu erzielen, daß das Kritikwürdige der in ihnen dargestellten Gesellschaftszustände prononciert hervorgekehrt wird." Ich versichere, daß wir bei unserer Arbeit mit dem Stück weder historisch-konkret bedingte Widersprüche mit „übergreifendem Humanismusgehalt" verschmelzen wollten, noch daß es in unserer Absicht lag, kritikwürdige Gesellschaftszustände p r o n o n c i e r t hervorzukehren. Wir hatten ein Theaterstück von Shakespeare gelesen und glaubten, in ihm, in seiner Fabel und in seinen Figuren produktive gesellschaftliche Impulse für unser Publikum zu entdecken. Wir fanden zum Beispiel auch hier, daß Shakespeare, wie Brecht einmal sinngemäß sagte, kein Interesse daran hatte, sein Werk zu ordnen, um eine I d e e , die nur ein Vorurteil sein kann, mit einem Argument zu versehen, das nicht aus dem Leben gegriffen ist. Hamlet, so lasen wir, der denkt, wo er handeln müßte, und handelt, wo er denken müßte, verdient unsere Achtung, unser Mitleid, aber auch unsere Kritik. Unsere Achtung vor seinen zutage tretenden intellektuellen und moralischen Potenzen, unser Mitleid für die Qualen des von ihm tief empfundenen Widerspruchs von Ideal und Wirklichkeit, unsere Kritik für seine Tatenlosigkeit, sejne Arroganz, seine Menschenverachtung („Er kennt die Menschheit, die Menschen sind ihm fremd. Er ist zu sehr Philosoph, um zu lieben und zu hassen." 37 ) und seine folgenschwere Umkehr zu feudalen Praktiken. Das alles ist sehr widersprüchlich. Aber jede Inszenierung, die an diesen i m S t o f f b e g r ü n d e t e n Tatbeständen und daraus folgenden Konsequenzen vorbeigeht, verletzt elementare, wenn auch noch keineswegs gesicherte Grunderfahrungen marxistischer Erbe-Rezeption. Wir haben nicht das 84
Recht, sagt Towstonogow, in ein klassisches Werk einen Sinn hineinzulegen, der beim Autor nicht vorhanden ist; den Theaterleuten steht ( es aber frei, bestimmte Seiten eines Werks hervorzuheben, auf die es ihnenbesonders ankommt. Und Brecht meint, daß man alte Stücke nicht verdrehen, verfälschen und schlau ausdeuten dürfe, daß man vor allem nicht spätere Gesichtspunkte ü b e r die Gesichtspunkte des betreffenden Stückeschreibers stellen sollte, weil damit der W e g frei würde, diese Werke durch eine selbstgefällige und selbstherrliche „Interpretierung" zu beschädigen. Marxistische Erbe-Aneignung kann also nicht bedeuten, alte Meisterwerke gewissermaßen als verschlüsselte Gegenwarts-. stücke konzeptionell zurechtzufrisieren und dadurch opportunistische, also verfälschende Abbildungen an den Zuschauer abzuliefern. Es kann immer nur darum gehen, ob in alten Stükken gesellschaftliche und individuelle Vorgänge enthalten sind, die uns heute nützliche Einsichten vermitteln können, anders gesagt, die die dialektische Einheit von Historizität und Aktualität durch das konkrete Kunstwerk realisieren. Im folgenden wird das Ärgerliche zur politisch-ideologischen Yerketzerung der Theatermacher in Schwerin und Magdeburg. Liane Pfelling schreibt: „Andererseits ist nicht zu übersehen, daß die produktiven Ansätze der Schweriner und Magdeburger Inszenierungen den humanistischen Kern der Dichtung verletzen, daß hinter dem Aktionismus um jeden Preis [!], hinter den soziologisierenden Tendenzen [. . .] Positionen stehen, die mit der marxistisch-leninistischen Haltung zum Erbe, zum Geschichtsfortschritt überhaupt schwer vereinbar sind. Vor allem deshalb, weil Shakespeares Dichtung letztlich unter dem Einfluß geschichtspessimistischer bzw. ultralinker Anschauungen interpretiert wird [. . .]". Nun kann ich über die Arbeit der Magdeburger Kollegen nicht sprechen, da ich bisher keine Gelegenheit hatte, sie kennenzulernen. Richtig ist jedenfalls, daß jede Äußerung eines Menschen in Bereichen, die hier zur Debatte stehen, politische, ideologische, ästhetische Ansichten und Absichten freilegt. Aber wer es unternimmt, solche Ansichten öffentlich wertend zu beschreiben und sie — aus einer gesehenen Aufführung rückschließend — Regisseuren oder ganzen Kollektiven zu unterstellen, m u ß verantwortlicher zu Werke gehen.
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Vom v o r l i e g e n d e n Stück ausgehend, war es uns nicht möglich, die Perspektivlosigkeit des untergehenden Feudalismus zu verschleiern, die Brutalität seiner Praktiken zu mildern und die durchaus ehrenwerten Fehlkonzeptionen bürgerlicher oder frühbürgerlicher Opponenten (Hamlet) mit dem milden Licht allgemeinmenschlichen Fortschrittsglaubens zu umgeben. Wir konnten da voll dem Realismus des großen Shakespeare vertrauen. Alle wesentlichen Figuren dieser Tragödie, Hamlet wie Claudius, Ophelia wie Laertes, Rosencrantz wie Horatio, behaupten ihr menschliches Antlitz, zeigen ihre Kraft und deuten ihre hoffnungsvolle menschliche Totalität an. Sie sind aber durch die Struktur der Gesellschaft, durch die antagonistischen, barbarischen Widersprüche des Systems zum Untergang verurteilt, mögen sie subjektiv schuldig oder unschuldig sein. Der von Friedrich Engels als Literaturkritiker hochgeschätzte Ludwig Börne38 sagt in seiner Ham/et-Analjse abschließend: „Man hat'viel von Shakespeares Ironie gesprochen. Vielleicht habe ich nicht recht-verstanden, was man darunter verstand. Doch im ,Hamlet' finde ich Ironie, und keine erquickliche. Der Dichter, der uns immer so freundlich belehrt, uns alle unsere Zweifel löst, verläßt uns hier in schweren Bedenklichkeiten und bangen Besorgnissen. Nicht die Gerechten, nicht die Tugendhaften gehen unter, nein schlimmer, die Tugend und die Gerechtigkeit." 39 Vielleicht ist hier die Überlegung angebracht, daß fünfundzwanzig Jahre gelebter sozialistischer Gesellschäftspraxis nicht ohne Spuren an unserem Publikum vorbeigegangen sein können. Es empfiehlt sich, die Kraft der geschichtlichen Realität des Sozialismus in all ihren Konsequenzen im Sein und Bewußtsein unserer Zuschauer nicht zu tief anzusetzen. Die Frage ist berechtigt, in welcher Weise zum Beispiel das Bewußtsein der eigenen Geschichtlichkeit dem Betrachter neue Aufschlüsse über ein Kunstwerk ermöglicht. In diesem Zusammenhang zitiere ich Dieter Schiller: „Konnte es zeitweilig nützlich sein, Auffassungen zu tolerieren, die den Sozialismus als Testamentvollstrecker der progressiven utopischen bürgerlichen Ideale betrachten, so wird heute eine solche Auffassung zu einem ernsten Hemmnis, ja mehr noch: sie birgt die Gefahr, auf weltanschauliche Positionen zurückzufallen, die dem Klassen86
feind ideologische Einbruchsmöglichkeiten bieten. Nötig ist nicht nur, die neuen Qualitäten sozialistischer Kultur und Kulturauffassungen hervorzuheben, sondern auch, die Wechselbeziehungen wie die geschichtlichen Differenzierungen zwischen sozialistischem, revolutionärem und humanistischem Erbe bewußt zu machen und das widerspruchsvolle Verhältnis zwischen bürgerlichem Humanismus und revolutionärem Demokratismus zu klären." 40 Wenn ich Liane Pfelling in einem Teil ihrer Ausführungen richtig verstanden habe, befinden wir uns bei dieser Überlegung in einiger Übereinstimmung. Liane Pfelling beklagt schließlich den „Aktionismus" der Schweriner Inszenierung und holt Gottfried Fischborn zu Hilfe, der die Erfahrung gemacht hat, daß das Gespräch, die Debatte im Leben die adäquate Form des Austragens von Widersprüchen sei. Zu Shakespeares Zeiten war dies offensichtlich noch nicht üblich; die Leute haben sich dort weit öfter tot geschlagen als tot geredet.
GISELA BEGRICH/WERNER FREESE
Wir wollen nicht um Details streiten; als Regieteam mehrerer Shakespeare-Stücke bekennen wir uns ohne Absolutheitsansprüche zu einer bestimmten Methode künstlerischer Aneignung. Zwei von Liane Pfelling aufgeworfene Probleme interessierten uns besonders. Sie schreibt erstens, „daß die produktiven Ansätze der Schweriner und Magdeburger Inszenierung den humanistischen Kern der Dichtung verletzen, daß hinter dem Aktionismus um jeden Preis, hinter den soziologisierenden Tendenzen, hinter dem rabiaten Abbau vieler Figuren Positionen stehen, die mit der marxistisch-leninistischen Haltung zum Erbe, zum Geschichtsfortschritt überhaupt schwer vereinbar sind". Sie spricht ausdrücklich von „humanismusabwertenden Lesarten". Ursache all dessen ist ihrer Meinung nach eine kritikbetonte Hamlet-Sicht. Wir fragen: Bedeutet Kritik Verletzung des humanistischen Ideals? Die konkrete Figuren- und Szenenanalyse belegt, daß Hamlet n i c h t a priori von Anfang bis Ende des Stücks 87
Vertreter des humanistischen Prinzips ist. Sein Scheitern ist weniger ein Nichtdurchsetzen des Ideals als dessen Preisgabe. Die Figur durchläuft eine Entwicklung, an derem Ende Aufgabe des Ideals steht; durch praktisches Verhalten Hamlets ausgewiesen: beispielsweise läßt er nicht nur kaltblütig ohne zwingende Notwendigkeit Rosencrantz und Güldenstern ermorden (die Tat wird durch Horatio kritisiert), sondern bekennt sich auch zum Eroberer Fortinbras („Er hat mein sterbend Wort"). An diesen Punkten das Verhalten Hamlets zu bejahen oder auch nur außer acht zu lassen, bedeutet in der Endkonsequenz gerade die Beschädigung des Humanismus im Stück. Ein Infragestellen der Hamlet-Figur ist nicht gleichzusetzen mit einem Infragestellen des gesellschaftlichen Fortschritts. Hamlet ist nicht dessen Inkarnation, sondern eine Theaterfigur, die an bestimmten konkreten Punkten zum Vertreter des gesellschaftlichen. Fortschritts wird. Das Ideal widerspiegelt sich bei Shakespeare nicht nur in einer Figur (wie etwa bei manchen Helden Schillers), sondern in sich widersprüchliche Menschen sind Träger des Ideals. Das Welt- und Menschenbild wird nicht über e i n e Figur und ihre Auseinandersetzung vermittelt, sondern durch die Fülle der Figurenbeziehungen. Humanismus ist vom Zuschauer nicht als abstrakter Zustand, sondern als konkreter Prozeß zu begreifen. Es ist nicht nur der Vorbildheld, über den sich die humanistische Grundhaltung eines Stücks herstellt. Sie entsteht ebenso in der lebendigen Wechselbeziehung zwischen Bühne und Zuschauerraum, durch das, was die szenischen Vorgänge im Bewußtsein des Publikums bewirken. Und da geht der Weg ebenso über Distanz wie über Identifizierung. Liane Pfelling bemängelt an unserer Hamlet-Inszenierung zweitens die Vernachlässigung des „historisch konkreten Elements in Spiel und Gestik der Figuren". Ihr fehlen „zeitund standesbedingte Figurenhaltungen". Ihre Kritik ist uns Lob. Wir bekennen uns dazu, wir plädieren für einen heutigen Gestus; auch bei alten Stücken! Um das historische Verhalten von Figuren konkret nacherlebbar zu machen, bedarf es der heutigen Assoziation. Zum Beleg Beispiele: Sommernacht st räum Hermia wagt entgegen den herrschen88
den Konventionen als Frau und Tochter (also Eigentum des Vaters), am Hofe nicht nur zu sprechen, sondern zu widersprechen. Für den z e i t g e n ö s s i s c h e n Zuschauer war der Vorgang in seiner Außerordentlichkeit verständlich, er ist es nicht für den h e u t i g e n . Der Vorgang, heute entsprechend der „zeit- und standesbedingten Figurenhaltung" (Kniefall usw.) dargestellt, vernachlässigt paradoxerweise gerade c|ie historische, bedeutsame Seite von Hermias Verhalten. Ni^r über die gestische Assoziation heutiger Jugendlicher wird die Haltung in ihrer Ungewöhnlichkeit transparent und als wesentlicher Fabelpunkt nacherlebbar. Für den Fabelverlauf des Sommernachtstraum ist wesentlich, die Liebe der Paare auch als körperliches Begehren zu zeigerl. Im Wald wird diese Komponente erster kreatürlicher Ausdruck ihres von Konventionen befreiten Menschseins. Hier bietet sich unserer Meinung nach ein heutiger Gestus geradezu an; Verhaltensweisen junger Menschen unserer Zeit sind der Erotik des Stücks weitaus näher als die historischen des 17. Jahrhunderts, die uns als Konvention erscheinen müssen. Publikum und Kritik bestätigten in diesem Fall unser Bemühen. „Ein sehr lebendiges Theater spielte sich da ab, das die Zuschauer ganz unbezweifelbar fesselte. Selten sah man in den letzten Jahren eine Jugendvorstellung, die ein so unmittelbares Interesse ringsherum erweckte, ein Interesse, das weit mehr den Figuren und ihren Erlebnissen galt, als einzelnen [. . .] Gags und Späßchen." 42 Hamlet. Wie reagiert eine Mutter, auch wenn sie Königin ist, wenn ihr Sohn unverschämt wird? (Denn das ist für Gertrud das Wesentliche an der Situation.) Wohl kaum, indem sie hochtrabend Sätze zitiert. Die Ohrfeige in unserer Inszenierung ist keine „zeit- und standesbedingte Figurenhaltung", doch sie beschreibt die Situation. Für das Theater genügt es nicht, eine Szene in ihren historischen Beziehungen zu analysieren, sie ist auch auf ihre heutige Nachvollziehbarkeit zu überprüfen. Die Nacherlebbarkeit der Haltungen und Empfindungen von Figuren schafft die Voraussetzung für emotionelles und intellektuelles Begreifen. Über die Beschreibung dessen, was uns mit Hamlet, mit den Liebespaaren im Sommernachtstraum verbindet, wird deutlich, was uns trennt! 89
Die Frage nach heutigem oder historischem Gestus ist ebenso wie die Frage nach dem Humanismus und Menschenbild einer Inszenierung ein Angelpunkt für Klassikerinterpretation. Wir sind der Meinung: Theater vermittelt nicht Geschichte, sondern Einsichten aus der Geschichte für die
ANSELM
SCHLÖSSER
„Hamlet-. Süßer Prinz ausgemachter Schurke?" — So lautet der Untertitel eines Beitrags zur Hamlet-Kontroverse von Patrick Cruttwell aus dem Jahre 196343, der ebensowenig wie die folgende Ausführung mit einem Ja zu einer der Alternativen endet, vielmehr eine Sondierung und Korrektur einseitig zugespitzter Meinungen anstrebt. Vier Ha^/e/-Inszenierungen an Bühnen der DDR stehen zur Debatte. Zwei davon versieht Liane Pfelling in ihrer wohlgewogenen kritischen Betrachtung mit einem prinzipiellen Fragezeichen — wie mir scheint, zu Recht. Vorweg sei festgehalten: „Auch das erhabenste Genie steht nicht unter Denkmalschutz."44 Aneignung des Erbes heißt nicht, es kopieren, sondern ist immer wieder — zumal bei Verlebendigung auf dem Theater und z. B. im Falle Shakespeares auch bei der Übersetzung — ein schöpferischer Prozeß. Keine Hamlet-Inszemetung gleicht der anderen und sollte es auch nicht. Die Unausschöpflichkeit des Kunstwerks hat Methodenvielfalt zum Korrelat. Eine alleinseligmachende Haw/^-Interpretation gibt es nicht. Daraus folgert freilich keine X-Beliebigkeit der Ausdeutung. Gewisse Prinzipien im Umgang mit dem Erbe wollen respektiert sein. Die sozialistische Gesellschaft sichtet und rezipiert die Schätze der Kultur auf neue Weise. Zunächst verstehen wir unter Erbe — so steht's jedenfalls noch in dem soeben erschienenen Buch Zur Theorie des sozialistischen Kealismus45 — die großen fortschrittlichen Kulturleistungen. Wir richten unser Augenmerk auf die humanistischen Leitbilder und die Ideale der Vergangenheit, die bereits auf unsere Epoche hinzielen. 90
Die um sich greifende Mode, alte Stücke zwecks Hervorkehrung ihrer historischen Begrenztheit gegen den Strich zu inszenieren, bewährt sich in einigen Fällen, in anderen nicht. Der Abbau von Idealen aus Bange, sie könnten „platt" sein, endet leicht in deren Verkehrung ins Gegenteil; und da begegnen sich unversehens die Demontierer von links mit o o Leuten wie Wilson Knight oder Salvador de Madariaga, die von der anderen Seite her seit geraumer Zeit dabei sind, das Prestige Hamlets zu unterhöhlen. Setzen wir einmal den Fall, die eingenommenen (ultra)linken Positionen seien dennoch berechtigt. W e n n Hamlet in der Tat „zum sarkastischen Nihilisten und Renegaten seiner einstigen Ideale" würde und „den Fortschritt verriete", wie die Programmhefte von Schwerin und Magdeburg postulieren, wäre Shakespeares Drama eine Art „Endspiel" und fiele — so leid es uns täte — nicht unter den Begriff des progressiven Erbes. Johannes R. Becher stellte den Satz auf: „ J e d e Tragödie, insofern sie diesen Namen rechtfertigt, wirkt erhebend, wirkt optimistisch." 4 6 Wäre Hamlet wirklich — nach Peter Hacks — eine pessimistische „Tragödie von der Unvollkommenheit aller V e r b e s s e r u n g e n " h ä t t e das Stück seine Legitimation verwirkt, und es bestünde wenig Anlaß, es ausgerechnet im fünfundzwanzigsten Jahr der D D R aufzuführen. Z u m Trost versichert man uns, daß ein versagender Held das Publikum ebenso zu einer aktiven Parteinahme herausfordere wie der Vorbildheld. D a s ist an sich richtig. N u r erscheint Hamlet mitnichten als ein Versager. Auch zu früh gekommene Verkünder humanistischer Ideale streiten nie ganz umsonst. Sein im dunkeln geführter, leidenschaftlicher, konfliktreicher und widerspruchsvoller, aber g e r e c h t e r K a m p f , den wir zufolge der Publikumsnähe der Gestalt in allen seinen Stadien zum Mit- und Nachdenken aufgefordert erleben, zeitigt immerhin meßbare Erfolge. Hamlet tritt als agierende geschichtliche Persönlichkeit hervor. D e m beim Volke Beliebten und u m sein E r b e Betrogenen gelingt es — bezeichnenderweise mit der Waffe der Kunst und des gesprochenen Worts —, den K ö n i g in die E n g e zu treiben und ihn zu verzweifelt elaboraten und verhängnisvollen Maßnahmen zu nötigen. D a s feudalabsolutistische Claudius-Regime geht 91
sowohl an den Aktionen Hamlets als auch an seiner eigenen, selbstzerstörerischen Über-Raffinesse zugrunde. Durch sein Vermächtnis an Fortinbras und Horatio bestimmt Hamlet den Weiterlauf der Dinge nach seinem Tode. Dieser Weiterlauf führt, so würde ich meinen, als nächstes zur Cromwell-Diktatur, (nebst ihrem Verfechter Milton) und zur „Aufklärung" (in jedem Sinne), Etappen auf dem Weg des Fortschritts in der auch vom humanistischen Ideal Hamlets anvisierten Kompaßrichtung. Diese meine Auffassung, die ich eingedenk des eingangs Gesagten n i c h t als apodiktische Verlautbarung ex cathedra offeriere, befindet sich in Übereinstimmung mit der im Weimarer Programmheft stehenden These vom „unaufhörlichen Streben nach dem erfüllbaren Ideal des Menschen" und im Widerspruch zyr geschichtspessimistischen Deutung des Schlusses, wonach Dänemark durch die Machtübernahme des Fortinbras vom Regen in die Traufe gekommen ist. Jedoch die Dialektik des unbestritten ironisch getönten Stückendes besteht darin, daß die Thronfolge dieses von Hamlet als Beispiel „grob wie Erde" empfundenen und zugleich in seiner Fragwürdigkeit erkannten Kondottiere auf der anderen Seite die Beilegung der alten Fehde und die Vereinigung zweier Königreiche bedeutet. Kein Grund zum großen Tusch, .gewiß; aber auch keiner, den Fortinbras ein gelles Lachen ausstoßen zu lassen, um darzutun, daß alles für die Katz war. Es ist pervers, Shakespeares Tragödie derart umzupolen. Beginnt sie doch, wie die leider in Leipzig weggelassene und in Weimar zusammengestrichene Eingangsszene als Ouvertüre symbolisch aussagt, mit einer Wachablösung unter widersprechenden Parolen in tiefster Nacht und reicht bis hin zum Morgen, der im groben roten Bauernkittel (in russet mantle clad) den Tau des östlichen Berges beschreitet. Sie ist über Hamlets Tod hinaus hoffnungsträchtig: Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. W i r wissen über historische Gesetzmäßigkeiten besser Bescheid, als Shakespeare es vermochte. Eben deshalb aber sollten wir die seinen in einer Zeit progressiver Umwälzungen entstandenen Stücken innewohnende Z u v e r s i c h t hervorkehren, statt sie negierend abzubauen. 92
Was bei den auf letzteres orientierten Inszenierungen alles an pseudomodernem Beiwerk auftaucht, ist lediglich Symptom und bietet keinen zusätzlichen Anlaß zur Ereiferung. Falls es sich herausstellt, daß unsere Jugendlichen ihren Hamlet lieber in anderswo entliehenen gestreiften Jeans sehen als in Schwarz — meinetwegen. Der Glaube, man müsse einen Klassiker erst richtig zusammenstauchen und mit mehr oder weniger puerilen Mätzchen ordentlich aufmöbeln, um ihn genießbar zu machen, mag sich beim Publikum bewähren oder nicht. Ich finde derlei zugegebenermaßen etwas abgeschmackt; aber man soll auch nicht mit Kanonen nach Spatzen schießen. Die von Martin Linzer aufgeworfene interessante Frage, inwieweit die von den einzelnen Theatern gewählten Übersetzungen am Inszenierungsergebnis sozusagen „mitschuldig" seien, würde ich dahingehend beantworten, daß Schlegel mit seiner Patina für die Leipziger und Weimarer Auffassung wahrscheinlich das passendere Medium der Vermittlung des Erbes darbot, während die Fassung von Hamburger und Dresen, die mehr Haare und Zähne hat, den Dramaturgen in Schwerin und Magdeburg attraktiver erschienen sein mag. Jedoch im Gegensatz zu den dort gesetzten interpretatotischen Akzenten, die zum Widerspruch herausfordern, erscheint diese neue deutsche Version als ernstzunehmender und weitgehend erfolgreicher Versuch, das Drama Shakespeares nach Form und Inhalt vollständig, ungeschminkt und werkgerecht in adäquatem modernen sprachlichen Ausdruck zu übermitteln. Was daran etwa schockiert, ist die exakte Reproduktion der ganzen Skala der Shakespeareschen Wortkunstmittel in voller Amplitude — und dem müssen wir uns stellen. Ich habe die Übersetzung, die Anspruch auf die Bezeichnung Nachdichtung hat, Zeile für Zeile mit dem Original verglichen und verbürge mich für ihre Zuverlässigkeit. Von einer Mitschuld an falschen Tönen ist sie freizusprechen. MICHAEL
HAMBURGER
Meine erste Hamlet-Aufführung sah ich vor fünfundzwanzig Jahren in einer englischen Provinzstadt mit John Gielgud in der Titelrolle. Die Wirkung auf mich war durchaus erhebend. 93
Hamlet, ganz in Schwarz, "sensibel philosophierend, das edle Opfer einer.bösen Welt. Mit Schaudern vernahm ich die unaufhaltsame Tragödie seines Untergangs, und als ich mich auf dem Nachhauseweg in-dunklen Straßen zwischen schemenhafte Passanten schlängelte, beschloß ich, künftig ein besserer Mensch zu werden.' Gewiß g i n g e s vielen Zuschauern ähnlich, der Suggestionskraft eines solchen Schauspielers kann man sich schwer entziehen. Diese Aufführung .wurde Shakespeare und seinem Stück a b s o l u t gerecht, Hamlet als Held und Identifikationsfigur, als Träger von fraglos y akzeptierten Idealen, eben als bürgerlicher Humanist, der ja für das Bürgertum der a b s o l u t e • Humanist war. Diese- Grundsicht auf Hamlet hatte sich seit Shakespeares Zeit in der ganzen Periode des bürgerlichen Theaters bei aller Wandlung der Spielweise, bald anämischer, bald blutvoller, nicht'wesentlich geändert, doch was als Ideal ursprünglich postuliert worden war, würde immer mehr zum leeren Trost oder, zur erhebenden-Moral angesichts der miserablen Wirklichkeit. Ob jene Aufführung dem Zuschauer seiner Zeit, dem Nachkriegspublikum von 1950, gerecht wurde, 'darüber habe ich damals nicht riachgedacht und die anderen Zuschauer wohl auch nicht. Erst jetzt, mit der eingreifenden, auch die Theater erfassenden totalen Resignation kann man Klassikeraufführungen zu sehen bekommen, die die ursprüngliche Wertung völlig negieren und den hohen Helden in den Dreck trampeln; .zumindest haben die Ersteller solcher Inszenierungen begriffen, daß das tradierte humanistische Ideal in den heutigen kapitalistischen Verhältnissen nur noch zum Einlullen des Publikums dienen kann; doch kennzeichnet die dort gebotene Alternative, die entwe'der zum Nihilismus oder zur Linksradikälität ausschlägt, diesen Ausweg als Sackgasse. Einige Künstler von hohem Rang wie Peter Brooke haben es verstanden, Shakespeares Stücke unter Wahrung ihrer Substanz zeitgemäß aufzuführen, aber gerade Brookes jüngste Versuche, das Theater in,der Substanz zu internationalisieren, deuten auf seine Unzufriedenheit mit bisherigen Lösungen angesichts der gegenwärtigen Weltlage. Wie sieht es mit den Shakespeare-Aufführungen in der DDR aus? Es ist nicht von ungefähr, daß die Auseinandersetzung 94
um die Erbe-Rezeption so langwierig und kompliziert ist, geht es doch um Rezeption, nicht um Rezepte. Bedauerlicherweise überwiegt die Auseinandersetzung auf dem Papier die in der Praxis und schafft mitunter dort Inhibitionen, die die schöpferische Entwicklung hemmen. Ich möchte deshalb betonen, daß nach meiner Kenntnis keine der wegen Aktualisierung oder Verletzung des „humanistischen Kerns" kritisierten Aufführungen, mögen sie gelungen sein wie sie wollen, mit den erwähnten ultralinken Versuchen des spätkapitalistischen Theaters etwas gemein haben, sondern daß sie als ernstzunehmende Bemühungen um unsere lebendige: Erbe-Aneignung zu bewerten und zu beurteilen sind. Die Frage des Humanismusbildes auf unserer Bühne ist nämlich nicht so einfach, wie es sich die Kritiker manchmal machen. So sehr die Feststellung, daß wir als Sozialisten alle progressiven Ideale der Vergangenheit weitertragen, schon zur Selbstverständlichkeit geworden ist, so wenig ist sie etwas, das ein Theater unmittelbar sinnlich verwerten kann. Wollen w i r humanistische Ideale schlechthin auf der Bühne propagiert sehen, um von den Widersprüchen im Leben abzulenken? Doch wohl nicht. Wir brauchen Inszenierungen, die beim Publikum „einrasten". Die das Ideal in einer konkreten, jedesmal neu zu entdeckenden Handlung jedesmal neu und neuartig artikulieren. Die gerade die Spannungen zwischen Ideal und Wirklichkeit im Werk finden, die für unsere Zeit mit i h r e n Spannungen interessant sind. Denn jedes Stück von Shakespeare enthält bei einer gegebenen, nicht zu verletzenden Grundkonstellation dennoch eine Unendlichkeit von Spannungen und Widersprüchen. Das ist der Triumph von Shakespeares Realismus, wohl des Realismus überhaupt. Der Gedanke, daß die marxistische Wissenschaft den Ideengehalt alter Stücke ein für allemal und „richtig" herausarbeiten könne, riecht nach Mumifikation. Die marxistische Wissenschaft, die sich, eine lebendige Lehre, mit der lebendigen Kunst befaßt, wird sich hüten, derartige Ansprüche zu hegen. Sogar über gesellschaftliche Aspekte wie die Klassenkonfiguration im Hamlet läßt sich begründet streiten. Anders als Anselm Schlösser sehe ich Claudio als Vertreter der neuen 95
Klasse: Seine machiavellistische Intrigenführung, seine pragmatische, von Ritterkodex unberührte Skrupellosigkeit, aber auch seine Verhandlungsbereitschaft mit Norwegen (Claudius, nicht Hamlet, stiftet den Frieden mit dem Nachbarstaat) und seine auf echte Partnerschaft orientierte Beziehung zu Gertrud setzen ihn sehr deutlich vom alten Hamlet, dem Exponenten des Feudaladels, ab, so daß Shakespeare mit Claudio und Hamlet die Polarität zwischen Wesenheit und Sehnsucht der bürgerlichen Ära vorahnen läßt. Beide Elemente gehören dem historischen Fortschritt an, obwohl sie auch die von Anfang an haftenden Makel der Gesellschaftsordnung in sich tragen; das Wissen um die „blut- und schmutztriefende" Geburt des Kapitals bedeutet ja noch keinen Geschichtspessimismus, ebensowenig wie die deutliche Tatsache, daß Hamlet auch den zerstörten „feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnissen" nachtrauert, den transzendierenden Inhalt seines Ideals beeinträchtigt. Im Gegenteil, gerade wenn man das Ideal über die konkrete Stückwirklichkeit a p r i o r i erheben will, bekommt man einen romantischen Utopismus, der ebensogut nach hinten wie nach vorne weisen kann. • Also: Ich will diese Lesart eines Dramas in der Epochenwende nicht zur Alleingültigkeit erheben,* aber sie entspricht völlig der Stückrealität ohne etwas gegen den Strich zu bürsten. Aber um auf das „Einrasten" zurückzukommen: Als ich i fünfzehn Jahre nach jenem Theaterbesuch den Hamlet gemeinsam mit einigen Kollegen erneut gründlich las (die dazwischenliegenden Lektüren hatten für mich eigentlich immer nur bestätigt, was ich gesehen hatte, der Hamlet war für mich sozusagen abgeschlossen), da stießen mir einige Merkwürdigkeiten auf, die ich offenbar bis dahin übersehen hatte. Ich gewahrte, daß Hamlet, vor einem Mord zurückschreckend, acht Menschen den Tod bringt und dabei zwei Familien ausrottet. Ich war nicht bereit, die Toten als unwichtiges Beiwerk hinzunehmen oder sie allein auf das Konto der damaligen Verhältnisse zu setzen. Ich war gegen Leichen empfindlicher geworden, und ich glaube nicht, daß hier eine historische Arroganz gegenüber dem Autor vorliegt, denn hier kam die historische Verantwortlichkeit gegenüber meinem eigenen Zeitalter zu Wort. Es entging mir nicht, daß Hamlet den Vater seiner ge96
liebten Ophelia, den er eben versehentlicht erdolcht hat, mit den Worten wegbringt: „Ich schlepp die Kutteln in den Nebenraum" ( k e i n e Vergröberung des englischen „Fll lug the guts into the neighbour room"). Ich bemerkte, daß nicht nur gesagt wird: „Welch ein Meisterstück ist der Mensch", sondern daß dieser Satz Teil einer ergreifenden antithetischen Passage ist, wo der Held im gleichen Atemzug davon spricht, daß ihm die Welt als „ein stinkender und bestialischer Haufe von Dünsten" erscheint. (Warum zitieren ausgerechnet die Kritiker, denen es so sehr um die Gedankentiefe eines Werkes zu tun ist, immer nur die Sentenzen,- die von philosophischem Tiefsinn noch gar nichts verraten?) Ich sah, daß der Satz „bereit sein ist alles", dem heutzutage, vielleicht in vager Anlehnung an den Pioniergruß, eine übermäßig positive Bedeutung beigemessen wird, den Punkt markiert, wo Hamlet jede gezielte Handlung aufgibt und sich dem Fatalismus hingibt. Diese Vervollkommnung meiner Sicht bedeutete für mich keine Negierung des Helden, sondern eine ungemeine Vertiefung der Figur und des ganzen Dramas, das mich plötzlich als etwas Quicklebendiges, Ergreifendes und Aktivierendes ansprang. Das humanistische Ideal schwebte nicht als Engel über dem Stück, sondern nahm Gestalt in einer konkreten, widerspruchsvollen Handlung. Das Drama wurde zu einem griffigen, zähen Gegenstand, mit dem eine Auseinandersetzung lohnte. „Ganz im Gegensatz zur deutschen Philosophie, welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird hier von der Erde zum Himmel gestiegen", schreibt Marx in der Deutschen Ideologie. „D. h., es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht von dem gesagten, gedachten, eingebildeten, vorgestellten Menschen, um davon aus bei den leibhaftigen Menschen anzukommen ; es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt." 48 Das war mir aus dem Herfen gesprochen. Wollen wir doch endlich aufhören, das Theater unterschwellig als Wurmfortsatz der deutschen Philosophie zu be7
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trachten. Ist es nicht das große Plus unserer sozialistischen Gesellschaft, daß j e d e r Mensch in die Entwicklung, das heißt in die Konflikte und Probleme der Gesellschaft einbezogen ist? Welch ein Publikum für ein Theater, das vom wirklichen Lebensprozeß ausgeht, das die Realität hier wie dort nicht mit wohltönender Phrase zudeckt; sondern das die Konflikte eines alten Stückes mit den heutigen Konflikten konfrontiert und aus dem spielerischen Wechselverhältnis von Nähe und Ferne, von Korrespondenz und Unterschied seine heutige Wirkung erreicht. Und die Philosophie? Eine Shakespeare-Aufführung muß an zwei Punkten in der Erde verankert sein: im heutigen Leben — im wirklichen, nicht im vorgestellten Leben — einerseits und in der historischen Stückwirklichkeit andererseits. Ist das gegeben, so soll sie kraft ihrer Spannungen bis in den Himmel steigen — das ist dann eiiie Frage der künstlerischen Meisterschaft. Eine Aufführung aber, der diese Verankerung fehlt, kann da oben im Himmel noch so viel mit den Beinen strampeln, sie wird die Erde nie erreichen.
MANFRED NÖSSIG
Liane Pfelling hat HaW«/-Inszenierungen in Leipzig, Magdeburg, Schwerin und Weimar rezensiert. Dieser Problemartikel (wie die ergänzenden Bemerkungen von Martin Linzer) war als eine Diskussionsgrundlage gedacht. Der reale Widerhall entspricht nicht unseren Erwartungen — zumal wir. eine Reihe Theaterschaffende und Wissenschaftler um ihre Meinungen gebeten hatten. Neben Anselm Schlössers temperamentvoller und streitbarer Stellungnahme meldeten sich aber nur die Regisseure jener beiden Inszenierungen, in Magdeburg und Schwerin, zu Wort, an deren Arbeiten die größten, problemträchtigsten Fragen gestellt wurden. Es ist ihr gutes Recht, ihre Standpunkte zu verteidigen und zu erläutern, vor einer vorschnellen „Zuordnung" ihrer Arbeiten zu warnen. Aber der Fragen sind nicht weniger geworden, im Gegenteil : Die weltanschaulich-politische Brisanz der Meinungsdifferenz — die nicht um theatralische Formen geht — hat sich be-
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stätigt. Ich ziehe — über das Theater hinausdenkend — z. B. die Bestimmung der Hamlet-Position als „ehrenwerte Fehlkonzeptionen bürgerlicher oder frühbürgerlicher Opponenten" in Zweifel; was verbindet, was trennt ihn von den „Riesen" der Renaissance; ist die richtige Unterscheidung zwischen bürgerlichem und sozialistischem Humanismus so zu verabsolutieren? Ich halte auch die These von der Allmacht „heutiger" Verhaltensweisen für die Verständlichkeit historischer Vorgänge auf der Bühne für fragwürdig. Ich hoffe, daß durch die klarere Artikulierung unterschiedlicher Standpunkte, beim Nachdenken darüber, wie die Positionen der Arbeiterklasse zu den geschichtlichen Kämpfen der Menschheit (zu denen die künstlerischen Werke zählen) unverwechselbar zum Ausdruck kommen, Anregungen frei werden zur Fortsetzung des Gesprächs.
Kritiken und Aufsätze Goethe: • Faust I (Landestheater Halle; 1970 — Regie Horst Schönemann) 4 9
Die hallesche Aufführung des ersten Teils von Goethes Faust markiert einen bedeutsamen.Entwicklungspunkt für die sozialistische Klassikerrezeption — nicht ohne Fragen aufzuwerfen, Probleme zu markieren. Sie faßt andernorts und in Halle selbst gesammelte Erfahrungen der letzten Jahre zusammen. Und sie stützt sich auf die weiterwirkenden Ergebnisse der Bühnenrezeption des Faust in Leipzig (1965) und Weimar (1966), wie sie zugleich produktive Antworten auf die Problematik der FaustInszenierung des Deutschen Theaters (1968) gibt. In ihrem Bestreben, die philosophische Idee des Werks über einen eminent theatralischen Vorgang zu realisieren, steht sie dabei den Weimarer und Berliner Aufführungen auf unterschiedlich widerspruchsvolle. Weise besonders nahe. Vor allem auf diese beiden Produktionen zurückzugreifen, wird also unerläßlich und nützlich sein. Das Neue, Vorwärtsweisende der halleschen Leistung für 1*
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stätigt. Ich ziehe — über das Theater hinausdenkend — z. B. die Bestimmung der Hamlet-Position als „ehrenwerte Fehlkonzeptionen bürgerlicher oder frühbürgerlicher Opponenten" in Zweifel; was verbindet, was trennt ihn von den „Riesen" der Renaissance; ist die richtige Unterscheidung zwischen bürgerlichem und sozialistischem Humanismus so zu verabsolutieren? Ich halte auch die These von der Allmacht „heutiger" Verhaltensweisen für die Verständlichkeit historischer Vorgänge auf der Bühne für fragwürdig. Ich hoffe, daß durch die klarere Artikulierung unterschiedlicher Standpunkte, beim Nachdenken darüber, wie die Positionen der Arbeiterklasse zu den geschichtlichen Kämpfen der Menschheit (zu denen die künstlerischen Werke zählen) unverwechselbar zum Ausdruck kommen, Anregungen frei werden zur Fortsetzung des Gesprächs.
Kritiken und Aufsätze Goethe: • Faust I (Landestheater Halle; 1970 — Regie Horst Schönemann) 4 9
Die hallesche Aufführung des ersten Teils von Goethes Faust markiert einen bedeutsamen.Entwicklungspunkt für die sozialistische Klassikerrezeption — nicht ohne Fragen aufzuwerfen, Probleme zu markieren. Sie faßt andernorts und in Halle selbst gesammelte Erfahrungen der letzten Jahre zusammen. Und sie stützt sich auf die weiterwirkenden Ergebnisse der Bühnenrezeption des Faust in Leipzig (1965) und Weimar (1966), wie sie zugleich produktive Antworten auf die Problematik der FaustInszenierung des Deutschen Theaters (1968) gibt. In ihrem Bestreben, die philosophische Idee des Werks über einen eminent theatralischen Vorgang zu realisieren, steht sie dabei den Weimarer und Berliner Aufführungen auf unterschiedlich widerspruchsvolle. Weise besonders nahe. Vor allem auf diese beiden Produktionen zurückzugreifen, wird also unerläßlich und nützlich sein. Das Neue, Vorwärtsweisende der halleschen Leistung für 1*
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die Faust-Rezeption, aber auch — hier sich in eine allerdings noch keineswegs längere Reihe anderer Klassikerinszenierungen eingliedernd — für unsere Auseinandersetzung mit dem Erbe in seiner Totalität sehe ich vor allem in folgendem: Die bisherigen Inszenierungen dieses Werks gingen in erster Linie davon aus, die Faust-Figur in eine konkrete gesellschaftliche Umwelt zu stellen, sie ihr gewissermaßen entgegenzusetzen — durch aktive Auseinandersetzung mit einer gegebenen Welt in Weimar, durch „Aufbruch aus unfruchtbarer Isolation" 50 am Deutschen Theater. In einem solchen Vorgehen zeigt s;ch das Bemühen um die Bereicherung erster wesentlicher Ergebnisse der sozialistischen Klassikrezeption in den fünfziger Jahren. Damals war vor allem das soziale Panorama der Geschehnisse zum Zwecke der Herausarbeitung des Klassencharakters der Konflikte betont worden. Jetzt ging es darum, diese grundlegenden Erfahrungen stärker noch zu verbinden mit dem Ringen um die künstlerische Gestaltung einer schöpferischen Menschenbildkonzeption, die die Heldenfigur in ihren idealen und praktischen Auseinandersetzungen zu erfassen bemüht war. (Die bürgerliche Begrenztheit und „Ankränkelung" der Faust-Gestalt im Deutschen Theater hatte gerade diesen Übergang — im Gegensatz zur Nathan-Gestaltung am selben Haus — zu einer souveränen sozialistischen Menschenbildkonzeption über die Darstellung der Zentralfigur problematisiert.) Regisseur Horst Schönemann und sein hallesches Kollektiv stellen die Figuren des Stücks, die Beziehungen zwischen Menschen ins Zentrum des Interesses, bemühen sich, daraus die Fabel zu realisieren, wobei die Umwelt sozusagen den Hintergrund abgibt — in Jürgen Heidenreichs Bühnenbild in der Kleinstadtsilhouette, vor der sich die Gretchen-Tragödie abspielt, besonders prägnant umgesetzt. Hier sehe ich — an einem solchen komplizierten Stück konsequent angestrebt — eine außerordentlich fruchtbare Methode, um einer sozialistischen Menschenbildkonzeption als Angelpunkt der Auseinandersetzung mit dem Erbe auf der Bühne eine weitere Dimension zu verleihen, als das bisher durch die Erschließung der schöpferischen Potenzen bei einer oder bei einigen wenigen Figuren möglich war. Das Bewußtsein über die schöpferischen Potenzen der Menschengattung (Grundidee letztendlich des 100
Goetheschen Werkes auch) erfährt so für den sozialistischen Zuschauer, der diese Entdeckung in unserer Wirklichkeit an ungezählten praktischen Beispielen macht, Bestätigung und Vertiefung. Die Produktivität des Menschen — Hauptstreitpunkt zwischen sozialistischer und spätbürgerlicher Weltanschauung — wird auf diese Weise nicht nur als eine Möglichkeit (realisierbar in der außergewöhnlichen Heldenfigur), sondern als Wesensmerkmal — das in vielfältiger Form verborgen oder verschüttet sein kann — künstlerisch erfaßbar. Das Theater liefert damit mehr als Vorbilder, als Beispiele; es korrespondiert mit dem durch seine Lebenspraxis klüger gewordenen Zuschauer, versucht weniger ihn zu erziehen, als seine Erfahrungen durch künstlerische Erlebnisse ästhetisch zu vertiefen, weltanschaulich zu verfestigen, zu verallgemeinern und damit wiederum anwendbar zu machen — also sein Wesen mit bilden zu helfen. Hiermit scheint mir Wesentliches für eine zeitgenössisch-sozialistische Wirkungskraft des Theaters erschlossen zu sein. Ein solches Aufspüren der aktiven Seiten der Bühnengestalten führt zuerst zu einer außerordentlich frischen, lebensnahen Konzipierung solcher Zentralgestalten wie Faust und Gretchen, die uns nicht gegenüberstehen als außergewöhnliche Menschenexemplare, deren Schicksal man verfolgt, sondern die uns als „Brüder", als Nachbarn erscheinen, an deren Geschick wir teilhaben. So ist Böwes Faust kaum der Gelehrte — wie er auch heute noch gern als Typus vermittelt wird: eingesponnen in die engen Bezirke seiner Forschung und in ihren Grenzen nach Erfüllung, auch nach Nutzen für die Gemeinheit strebend. Fred Düren hatte am Deutschen Theater einen Abend lang vor allem die Unproduktivität dieses fast blasierten Forscheregoismus (der sich in der puren Sinnenlust gegenüber Gretchen als Variation einer Grundhaltung nur bestätigte) von der Bühne her vermittelt. Wolfgang Dehler in Weimar hatte die Unrast, aus einer solchen Haut zu schlüpfen, über eine große geistige Agilität und körperliche Aktivität zum hochinteressanten Zentrum seiner Gestaltung gemacht. Böwe spielt einen Greis, der sich schwer auf seinen Stock stützt beim Osterspaziergang — aber dem irdischen Genuß kräftig zugetan ist (und in diesen Momenten jung sein 101
kann, den Stock kaum noch braucht): wenn ihm der Takt der Hochzeitsmusik in die Glieder geht, wenn er dem Brautvater ganz unkompliziert die Hand schüttelt, der Braut einen K u ß auf die Wange drückt, den Willkommenstrunk mit Erfahrung leert, sich den Rest des Weins ungeniert mit dem Ärmel aus dem Barte wischend. Schon im A n f a n g s m o n o l o g hatten wir diese Urbanität bestaunt, die die Lebenskraft eines Renaissancemenschen in einer nahezu bäurischen Direktheit mit Sinn fürs Praktische als bedeutsame menschliche Haltung offenkundig werden ließ — als er den Tisch für seinen „ N o stradamus" frei räumt und mit großer Armbewegung den Staub der scholastischen Bücher von der Tafel wischt, als er das schwere Möbel mit kraftvoller Anstrengung zur Seite hebt, um Platz in der engen Studierstube für seine Beschwörungsakte zu schaffen. Diese Ursprünglichkeit ist gepaart mit immenser Lust, Gewohnheiten in Frage zu stellen: Unterm Mantel verborgen, eingeschlagen in ein schwarzes Tuch, bringt er den Nostradamus in sein Zimmer und präpariert sich für dieses neue Abenteuer, ehe der M o n o l o g beginnt. (Interessant der Unterschied im Detail gegenüber der Weimarer Inszenierung, wo Dehler das Magiebuch angestrengt aus dem eigenen Bücherschatz herausgräbt.) Die Bibelübersetzung wird mit Spaß am Suchen völlig neuer Lösungen geleistet. Und die greisenhaften T ö n e nach dem Osterchor stehen neben einem kauzig-überlegenen Lachen angesichts des gefangenen Teufels. Eins allerdings ist meines Erachtens für ein Erfassen des g a n z e n Faust noch zu leisten: die kraftvollen Aufschwünge und Zielstellungen der Figur auch durch das Ausschreiten der Verzweiflungssituationen noch bedeutsamer, als große individuelle Leistungen erkennbar werden zu lassen. In der Gretchen-Welt begegnen wir diesem Faust in einer bisher ungewohnten Form der Verjüngung. Vor der Stadtkulisse steht kein Liebhaber, kein „ D a n d y " . Ein fünfunddreißig- bis vierzigjähriger Bürger spricht Gretchen an, nicht lüstern ob seiner neuen Möglichkeiten, sondern mit dem Ziel —. fast ein wenig scheu —, die zurückgewonnenen Chancen lebenspraktisch-erotischer Bewährung beim Schopf zu greifen. D a s Ansprechen erfolgt — nach einem Moment der Überwindung —, als Margarete fast schon die Bühne überquert hat, es 102
hat männliche Reife und Anstand. Mit dieser „maßvollen" Verjüngung wird von den Möglichkeiten des Darstellers her eine bedeutsame konzeptionelle Linie der halleschen Inszenierung ausgedrückt. Für Günter Grabbert in Leipzig, der besonders die philosophische Bedeutung der Figur vorführte, war die Rückkehr in eigentlich vergangenes Lebensalter kein Problem gewesen. Dehler vermochte den Sprung zum Liebhaber in der sehr real bezogenen Weimarer Fabellesart nicht zu schaffen. Düren reduzierte ihn vorwiegend auf die Begehrlichkeit eines Wieder-Befähigten. Böwe, dem der Z u g a n g zum Philosophen der Studierstubenszenen — wie übrigens auch Dehler — besonders naheliegt, macht aus dieser „ N o t " eine T u g e n d . Statt des letztlich auf die sexuellen Ansprüche verwiesenen Jünglings zeigt er den verantwortungsbewußten Mann, dessen D r a n g zur Bewährung in der Lebenspraxis auch im erotischen Erlebnis durchschritten werden muß. D a s ermöglicht eine außerordentlich frische, historisch stimmige und zugleich zeitgenössisch aktivierende Darstellung der Gretchen-Tragödie. Und ich bestreite Urteile in der Tagespresse, daß hier gegenüber dem Studierzimmer- und Osterspaziergang-Teil ein Abfall der ideell-künstlerischen Qualität der A u f f ü h r u n g erfolge. (Hier scheinen mir Mängel im Detail, aber auch in der ästhetischen Realisierung der Konzeption — über die noch zu sprechen sein wird — für wichtiger genommen als die grundlegend vorwärtsweisende Sicht auf die Fabel des Stücks und die sie tragenden Figuren.) Der große Gewinn besteht darin, daß die Beziehung Faust — Gretchen (auch über die Betonung des Altersunterschieds) eine bisher kaum erschlossene Ernsthaftigkeit erhält, die wirklich den V o r g a n g „Liebe" assoziieren läßt, ihn weder durch männliche Lüsternheit noch jungfräuliche Neugier in den Bereich animalischer Triebkonflikte verweist. Soviel Sentiment ohne Sentimentalität auf der Bühne zu erleben, ist nicht nur erfreulich, ist unserer Gegenwart — ohne jegliche vordergründige Aktualisierung — außerordentlich nahe und hat damit entscheidende Bedeutung für das Verständnis der Goetheschen Dichtung. Was Böwes Faust an Möglichkeiten einer heutigen Betrachtung in den historischen Konflikt einbringt (ohne ihn zu relativieren, zu bagatellisieren), nutzt Ursula Werner zur Dar103
Stellung einer uns tief berührenden Gretchen-Gestalt. D a werden nicht sosehr äußerliche Assoziationen geweckt zur Ungebärdigkeit einer J u g e n d oder zu bürgerlich-pedantischer Beschränktheit, wie das in Weimar beziehungsweise in Berlin in dem kleinen Detail des abendlichen Wäscheordnens sichtbar wurde: hier ein ausgelassenes Verstreuen der Kleidungsstücke, dort ein gewissenhaft-adrettes „Auf-Kante-Legen". In Halle erregt eine andere Nuance besondere Aufmerksamkeit. Den Schmuck probierend, sich an ihm erfreuend, schließt die Szene — nachdem Gretchen das Geschmeide wieder abgelegt hat — mit einem "Blick in den Spiegel: „ N a c h G o l d e drängt,/ A m Golde h ä n g t / D o c h alles. Ach wir A r m e n ! " Als entscheidend herausgestellt wird nicht der „naive" theatralische Vorgang — das Ausziehen, die Schmuckprobe —, sondern die große menschliche Potenz Gretchens, die in der L a g e ist, sich zuerst in Gedanken über ihre Alltagswelt zu erheben und dann immer bestimmter ihren unveräußerlichen Persönlichkeitsanspruch zu behaupten. J a , diese Entfaltung menschlichen Selbstbewußtseins macht den Hauptreiz der Gretchen-Tragödie in der halleschen Inszenierung aus, läßt streckenweise den Konflikt Faust — Mephisto in den Hintergrund treten. Eine der Ursachen dafür ist allerdings auch die große Leistung von Ursula Werner. Ihr gelingt es, das volle Interesse des Betrachters auf dieses Gretchen zu lenken: wenn sie sich in Marthes Garten über die Erinnerung an das Ammen-Erlebnis ihrer selbst bewußt wird, die Scheu vor dem sozial und geistig höherstehenden Mann vergißt, durch ihre Natürlichkeit, ohne jegliche Koketterie, die Führung in der sich entwickelnden Liebesbeziehung erhält; wenn sie ihr Gebet vor der Mater dolorosa nicht nur oder vorwiegend als religiösen A k t spielt, vielmehr in der Mutterfigur mit dem Kinde eine Gleichgesinnte sieht, der sie sich, den Stein mit den Händen berührend, mehr mitteilt als daß sie einfach Hilfe erfleht. Überraschend,^überzeugend auch die Schlußzene für dieses Gretchen, die als eine große Emanzipations- und Antizipationsfigur aufgefaßt ist. Wir sehen nicht Wahnsinn, sondern das Durchringen zur letzten, historisch möglichen Erkenntnis: wenn sie um die Erhaltung ihrer Liebe ringt, Faust in ihren Kerkerkäfig zieht, dann dem Geliebten vorauseilend zur Flucht bereit ist, 104
schließlich mit eigener Hand zielbewußt die Eisentür hinter sich zuzieht. E s gibt für sie in dieser konkreten Welt keine L ö s u n g für den mit großem Einsatz gewagten Ausbruch ins Reich der Menschlichkeit. Aber es werden nicht nur jene „Ideal"-Figuren in ihrer überhistorischen Größe und historischen Widersprüchlichkeit so prononciert herausgearbeitet. Auch jene Gestalten, die bisher fast ausschließlich als Typen gesehen und damit als Chargen gespielt wurden, erhalten ein Profil, in dem die menschlichen Möglichkeiten deutlich hervorgekehrt erscheinen. Famulus Wagner (in der Premiere Roman Silberstein) ist keineswegs der „trockene Schleicher". D e m Gelehrten Faust, der in seiner rustikalen Art, vor allem aber durch seinen gezielten Wissensdrang letztlich eine Einheit von Theorie und Praxis erstrebt, steht ein ernst zu nehmender Gelehrter gegenüber, der aber über den Bereich der Wissenschaft nicht hinauszudenken vermag. Die Dialoge Faust — Wagner erhalten so ein sehr konkretes szenisches Profil und zugleich philosophische Bedeutsamkeit, weltanschauliche Verallgemeinerungskraft. Faust ist nicht nur immer strebend bemüht, er offenbart die menschheitliche Substanz dieses Bemühens durch die Auseinandersetzung mit dem Prinzip eines sich selbst genügsamen Wissensdrangs. Damit werden entscheidende Denkanstöße für aktuelle Anforderungen sozialistischer Wissenschaftsrevolution vermitte,lt. Der Schüler, W o l f g a n g Winkler spielte ihn zur Premiere', ist kein Trottel oder — sozial gesehen — der gutbürgerlich-beschränkte Sohn aus besserem Hause. Die Sozialkritik am Bildungswesen des Klassenstaats, die sich über solche Darstellung anbietet, heben die Hallenser in einem V o r g a n g mit umfassender weltanschaulicher Bedeutung auf: In die Studierstube tritt ein pausbäckiger Bursche, lernbegierig und mit im Prinzip gesunden, dem Bewußtsein des Volkes entsprechenden Ansichten. Aber diese Haltung widersteht nicht dem teuflischen Bestreben, eine Welt blinder Wissenschaftsehrfurcht zu glossieren — und zu schaffen. Auch dieser V o r g a n g der Manipulierung, des A b b a u s menschlicher Werte durch die mephistophelische D e m a g o g i e greift in zeitgenössische Weltanschauungsprobleme ein. 105
Ähnlich Absicht und Vorgang in Auerbachs Keller. Diese Studenten zeigen politische Interessen, Potenzen revolutionärer Haltung gegenüber der verkommenen Feudalordnung und der ins System integrierten Reformation: Brander dichtet am Anfang selbst das Lied von Doktor Luther, das er später vorträgt. Doch auch jene unzufriedenen Rebellen „hinter der vorgehaltenen Hand" sind als manipulierbar durch Mephistos Künste gezeigt. Die gutmütig-frechen Studentenspäße des Anfangs werden unter Mephistos Wein und Zauberei zur animalischen Brutalität im weinselig-äffischen Gebaren, hinter dem die Auerbach-Gäste ihr Menschenantlitz verlieren. Und schließlich erfolgt ein gelungener Angriff auf das Klischee der Kuppelmutter Matthe Schwerdtlein (nachdem beispielsweise Linde Sommer in der Weimarer Aufführung bereits interessante Seiten der Widersprüchlichkeit dieser Figur aufgedeckt hatte). Die Hallenser Marthe (am Premierentag Ursula Sukup) wird in ihrem Zimmer beim Besenbinden gezeigt. Sie verdient sich, verlassen, ihren Unterhalt also selbst und geht mit dieser lebenspraktischen Einstellung an Mephistos Bericht heran. Da gibt es echte Erschütterung nach der Nachricht von ihres Mannes Tod (und Trostversuche Gretchens — die Beziehung zwischen diesen beiden Frauen als gesund zeigend), Enttäuschung und letztlich wieder das ungebrochene Bekenntnis zu einer vergangenen, echten Liebe. Hier gelingt es Mephisto nicht, durch verführerischen Schwindel einen Menschen zum selbstzerstörerischen Zweifel und damit zur Aufgabe seiner menschlichen Würde zu „überreden". Von gesunder Vitalität ist dann auch von Marthes Seite aus das Werbegespräch im Garten geführt — ehrlich, nicht lüstern. Und da Mephisto ihr ausweicht, entscheidet sie sich — „Ach, ihr versteht mich nicht" —, den seltsamen Gast nur noch als willkommenen Unterhalter zu betrachten. Dieses Bemühen, die schöpferischen Seiten in den Menschen zu entdecken, ermöglichte, im Detail große weltanschauliche Probleme — unter dem Grundaspekt der Dichtung — aufzügreifen und dem Betrachter nahezubringen. Es hat dagegen in einigen Rezensionen Einwände gegeben, weil man die Werktreue beschädigt glaubte. Ein gründliches Lesen des Texts läßt mich diesen Meinungen entgegentreten. Goethe hat in jenen 106
Szenen, viel Zeitkritik und Menschenkritik versammelt. Aber er hat Menschen, nicht Typen, geschaffen — und vor allem tief widersprüchliche Situationen. Sie entschlüsselnd — und zwar nicht nur vom „Gang" der einzelnen Szene her, sondern von der Alternativfrage nach dem Wert oder Unwert menschlicher Existenz ausgehend —, haben die halleschen Betrachtungen grundlegende Möglichkeiten einer sozialistischen Interpretation für die siebziger Jahre gefunden. Das heißt nicht, daß damit auch künstlerisch bereits maximale Ergebnisse vorgelegt wurden. Die Inszenierung trägt deutlich Experimentcharakter und polemische Züge. Für die Rezeption sicher ein Vorteil, weniger für den ästhetischen Gesamteindruck. So ist die verschiedentlich geäußerte Kritik an der neuen Sicht auf die Figuren dort berechtigt, wo auf unterschiedliche Weise der entdeckte Widerspruch noch nicht präzis genug erfaßt würde. In der Studentenszene zum Beispiel hatte man gegenüber einer verhältnismäßig späten Probenphase die recht eindeutige Positivität der Anfangsposition gemildert. Aber statt zu den Widersprüchen vorzustoßen, erschien auf der Szene ein Kompromiß. In der Schülerszene wiederum war die Entwicklung, der Abbau dieser Figur nur schwer bemerkbar, da sich der Manipulationsakt Mephistos durch Regie und Darstellung vordergründig verselbständigte, seine Wirkung auf den Schüler dagegen wenig ausgebaut war. Überhaupt drückt sich oft das Vorwärtsweisende dieser Arbeit mehr im Detail als bereits auch in der Totale aus (so daß beispielsweise die künstlerische Geschlossenheit der Weimarer Aufführung keineswegs überholt ist). Das scheint sich mir unter anderem in zweierlei Hinsicht zu zeigen. Der Konflikt Faust — Mephisto ist vom Prolog im Himmel aus als die zentrale philosophische und szenische Idee gefaßt. Aber: Ist der Paktabschluß, in den Faust erst nach genauen, gezielten Fragen, mit der Haltung des alles Überlegt-Habenden einwilligt, nicht so gespielt, daß kein Zweifel mehr über den Ausgang besteht und damit der Widerspruch zwischen dem prinzipiellen menschlichen Schöpfertum und seiner Bewährung in vielfacher praktischer Auseinandersetzung zu einfach gesetzt ist? Und: Erfährt Mephisto als Theaterfigur volle Gerechtigkeit, wenn die Varietät seiner Erscheinung betont (und 107
in K o s t ü m und Dialektfärbung der Sprache unterstrichen) wird — so das allseitig wirkende negative Prinzip hervorkehrend —, aber auf diese Weise die dienende Funktion gegenüber Faust stärker hervortritt als die treibende, also mehr spielerische als kämpferische Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden konträren Partnern stattfinden? Peter Schroth vermag als Mephistopheles zum Teil sehr vergnügliche Wirkungen und auch Entlarvungen vorzuführen, aber das philosophische Band, in der Konzeption und in vielen szenischen Details erfrischend zeitgenössisch geknüpft, verliert sich über weite Strecken im Faust — Mephisto-Verhältnis, das ja nun die Achse des Stücks ist. D a s Ringen mit dem großen Stoff und seiner Durchdring u n g v o m Standpunkt unserer Zeit und für unser Publikum äußert sich auch in völlig neuen Zügen der Regiehandschrift Schönemanns. Vieles, was man von ihm brillant gelöst erwartete — Hexenküche, Walpurgisnacht —, gelang weniger als die Entwicklung großer emotioneller Haltungen bei den Schauspielern. D i e Auseinandersetzung mit dem Anspruch unserer Zeit an das Theater und mit dem großen Werk des Erbes bereichert die Künstlerpersönlichkeiten — aber eben widerspruchsvoll, d. h. eventuell auch unter zeitweiligem Verlust an künstlerischer Geschlossenheit. . Solche Probleme ergeben sich übrigens auch beim Bühnenbild Jürgen Heidenreichs. Die zwei Hauptsphären, Studierstube und Stadtwelt, werden durch einen überzeugenden K o n trast bewältigt: D a s hochaufgetürmte Bücherreich mit der spartanischen Schläfstatt, dem massigen Tisch und dem auf Stufen zu erreichenden Schreibpult am schmalen Fenster auf einem Wagen von drei Meter Breite — und das sich ausdehnende Stadtpanorama, aus dem Gretchens Zimmer, Marthes Stube und (Wirtschafts)garten herausgefahren werden. Aber diese Einheit formt sich gegenüber Goethes Szenenvielfalt dann nicht zu ästhetischer Einheitlichkeit, wo die „reale" Welt verlassen wird (Hexenküche, Walpurgisnacht, Wald und Höhle, Trüber Tag/Feld). Trotz Einsatz von Prospekten und Maschinen bleibt da viel Improvisation (letztlich wiederum den Verfolg des durchgehenden philosophischen Impetus des Stücks erschwerend). Und auch die an sich reizvollen Einfälle, 108
Zwinger und Kerker in die Stadtsilhouette zu stellen (odet den D o m als Soloszene im Punktscheinwerfer zu spielen — eine allerhöchste Anforderung an die Schauspielerin stellende Lösung), bleiben nicht problemlos: Die Intimität der Materdolorosa-Szene erscheint auf den Markt verlegt, und aus dem Kerker wird ein öffentlicher Pranger. Der konzeptionellen und theatralischen Lösungen sind viele, entscheidende vorgelegt worden. Sie haben Maßstäbe für eine souveräne, weltanschaulich tieflotende Menschenbildauffassung geliefert. Von dieser Vorgabe aus wird das noch zu Leistende zu diskutieren und zu erarbeiten sein.
Schiller: Die Räuber (Volksbühne Berlin; 1971 — Regie Manfred Karge/Matthias Langhoff) 5 1
Die Einstudierung des ersten Schiller-Stücks durch Manfred Karge und Matthias Langhoff in den von Pieter Hein geschaffenen Bühnenräumen und Kostümen hatte wenige Tage vorm II. Kongreß des Theaterverbandes Premiere. 52 * Mochte es diese kurze Zeitspanne der Wirksamkeit, mochte es der Charakter des Kongresses sein — sie blieb dort undiskutiert, obwohl sie genügend Zündstoff bietet, die im Rechenschaftsbericht und in der Diskussionsgrundlage aufgeworfenen Probleme der Erbe-Rezeption unseres sozialistischen Nationaltheaters am konkreten Gegenstand zu erörtern. Die Arbeit der Volksbühne ist dafür nicht zuletzt deshalb prädestiniert, weil sie — von großer Leidenschaft getragen, in einer unverwechselbaren künstlerischen Handschrift vorgestellt — niemanden kalt, gleichgültig läßt. Erregende Theaterabende entsprechen dem Bedürfnis des sozialistischen Zuschauers; der über Wochen hinaus gutbesetzte große Zuschauersaal der Volksbühne liefert die Bestätigung. Aber wird mit dieser Interessantheit allein bereits ein Maximum an konkreter gesellschaftlicher Produktivität erzielt? Über diese Frage ist sich die Pressekritik — sind sich auch andere Disputanten — nicht einig. Die mir vorliegenden elf Rezensionen reichen von genereller, teils emphatischer Zu109
Stimmung in der Berliner Zeitung (Schumacher), der BZ am Abend(Bellmann), der Neuen Zeit (Ullrich), der Tribüne (Gersch) und dem Eulenspiegel (Wiesner) über zurückhaltende Einwände zur Inszenierungskonzeption im Sonntag (Stephan) und in der Weltbühne (Cwojdrak) bis zur Polemik mit entscheidenden Komponenten des Anliegens der Regisseure im Neuen Deutschland (Kerndl), in der National^eitung (Eichler), im Morgen (Funke) und in der Jungen Welt (Pfelling). 53 Dabei fällt auf, daß die positiven Reaktionen wesentlich widerspruchsloser sind, Probleme, die anderwärts zur Diskussion gestellt werden, gar nicht benennen; während die warnenden Stimmen kräftig differenzieren zwischen Anerkennung und Ablehnung der Experimentergebnisse von Karge/Langhoff und ihren Mitarbeitern. Die Inszenierung geht aus von der großen Widersprüchlichkeit des Schillerschen Jugendwerks. Diese findet schon ihren Ausdruck in den verschiedenen Fassungen und Varianten, die der Autor lieferte, in seinen unterschiedlichen Selbstaussagen zum Stück und dessen Figuren. Solche Deutungsvarianten des Autors können leicht dazu benutzt werden, eine subjektivistische Sicht auf Geschehen und Gestalten — einen freien, ja willkürlichen Umgang mit dem Text-,,Material" zu „autorisieren". Dem sind die Regisseure bei der Suche nach unbedingt Neuem nicht entgangen; obwohl sie — im Vergleich zu ihren Inszenierungen von Siebengegen Theben und Wald54 — weniger in das Stück hineinprojiziert als herausgelesen haben. So stellen sie nicht eine widerspruchsvoll-einheitliche konkrete gesellschaftliche Welt auf die Bühne, wie sie Schiller gerade in der Verknüpfung von Familien- und Räubertragödie zeigt, sondern schaffen deutlich zwei stilisierte Ebenen: die kalte, äußerlich wohlgestaltete („beige-weiße") Welt des Schlosses im Hintergrund und — davor — die lebensvolle, wilde („bunte") Sphäre des Studenten- und Räuberlebens. Karl führt zum Schluß die beiden Ebenen zusammen. Optisch sichtbar wird also nicht der Antagonismus einer Welt, der sich vertieft und tragisch aufbricht, sondern die Übereinstimmung einer „zweifachen Welt". Es entsteht Entlarvung ohne Perspektive. Ja, der Enthusiasmus, die Leidenschaft der jungen anarchistischen Rebellen (die sich so groß gegen das künstliche Zeremoniell 110
im Schlosse abheben) emanzipieren sich auf diese Weise letztlich zu einer Art. Maßstab, weil hier der einzige Alternativv e r s u c h geboten wird. Aber aus Schillers Bemerkung, „Räuber sind die Helden des Stücks", hat man nicht nur die „Vordergrundfunktion" und szenische Attraktion der Geschehnisse in den böhmischen Wäldern abgeleitet, sondern auch das Recht, Karl als Zentralfigur auf eine, fast die „mieseste" Variante der Räuberideologie zu reduzieren. Nun ist die Zielstellung, Karl nicht als widerspruchsfreien Helden, der den revolutionären Geist Schillers unmittelbar personifiziert, zu zeigen, seine Don Quichote-Rolle, die ihm Schiller im Vorwort seiner ersten Ausgabe zuschreibt, mitzuliefern, ein gar nicht mehr so junges Ergebnis unserer marxistischen Schiller-Interpretation, die beispielsweise im Berliner Maxim Gorki Theater (vor allem in der Zweitinszenierung von 1960) sowie in Halle (1968) Ausdruck fand. Das Arbeitskollektiv der Volksbühne hat solche historischen Erfahrungen unserer eigenen sozialistischen Theatertradition offenbar zu wenig geprüft oder zu schnell verworfen. Sie gesteht Karl kein Ideal, keine produktive Alternative gegenüber dem Fäulnisprozeß der Feudalordnung zu. Seine Sätze gegen das tintenklecksende Säkulum — beileibe noch kein Programm, aber ein großer Protest — spricht Wyzniewski, im propren Herrenanzug aufs Bett gestreckt, wie ein ironisiertes Zitat seiner selbst, das ihm nichts mehr bedeutet. Die Tatsache, daß Karl sein Lotterleben (also seinen i n d i v i d u a l i s t i s c h e n Ausbruch aus dem Adelskodex) aufgeben will, väterliche Verzeihung erbittet, soll der Regie die Berechtigung dafür geben. Aber der Versuch zur Disziplinierung ist doch nicht gleichbedeutend mit der Aufgabe humanistischer Sehnsucht — im Gegenteil. In der Berliner Inszenierung jedoch verläuft von der Figurenhaltung am Anfang bis zum Schlußprospekt, der den Zuschauer mit Schillers einmal notierter (aber doch wohl nicht nur aus Zeitmangel unausgeführter) Absicht bekanntmacht, in einer Stückfortsetzung den reuevoll mit dem Weltengang sich abgefundenen Karl Moor zu zeigen, e i n e (von Ernst Schumacher am konsequentesten beobachtete) Linie: Der adlige Schwärmer, dem auf Grund von Privatintrigen seines Bruders die Heimkehr an den väter-
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liehen Herd verwehrt wird, ergreift — von Skrupeln und Schrecken geplagt — den Strohhalm des Anarchismus, befreit sich davon durch das theatralische Opfer seiner Geliebten, um ins Privatleben zurückkehren zu können. Eine solche „Lesart" ermöglicht zweifellos eine Widerlegung des Anarchismus — ein Aspekt, den eine heutige Inszenierung nicht unterschlagen darf. Diskreditiert jedoch wird auf diese Art das Ideal und seine Veränderung im Verlauf der Ereignisse: Karls Traum von der Republik, dessen reales Scheitern an der Praxis, den Widersprüchen in der Bande, in der sich der Pragmatismus der Marodeure durchsetzt, und dessen (moralische) Neuorientierung — Bekenntnis zur „Tugend", zur Utopie vom „König, der für die Rechte der Menschheit streitet". Das ist keine „moralisierende Romantik", ebensowenig wie Schweizers Gericht über Spiegelberg „aus rückständiger Ehrpusseligkeit" (Ernst Schumacher) resultiert, sondern das Aufbrechen und Austragen eines grundlegenden Antagonismus unter den Rebellen zwischen humanistischer und antihumanistischer Gesellschaftsalternative. Die Inszenierung breitet in der Drastik der Räuberszenen vielfältige, widersprüchliche Haltungen aus, sie schafft durch Werner Tietzes „an sich" herrliche Leistung als Spiegelberg die Möglichkeit zu einer ernst zu nehmenden Kontrastfigur — und verschenkt sie durch die verträumte Konzeptionslosigkeit Karls. So werden zwar große Gegensätzlichkeiten ausgestellt, aber die im Stück gestalteten realen, konkret-historischen gesellschaftlichen Widersprüche nicht erfaßt, die humanistische Moral, das Ideal (auch durch die Eliminierung der Moser-Figur und durch Texttausche in den Räuberszenen) zugunsten der puren Aktionen über Bord geworfen. Nur so bietet sich ja überhaupt die einfache — frappierende, aber unhistorische, falsche — Analogie zu heutigem Revoluzzertum an. Vom Menschenbild Schillers wird die in der Karl-Figur und anderen, hier jedoch durch Biederkeit (Bodo Krämers Schweizer) und bewußte künstlerische Blässe (Karl Thieles Kosinsky) unterbelichteten Räuber-Gestalten angelegte schöpferische Möglichkeit unterschlagen, also gerade das, was es mit dem sozialistischen Bild vom Menschen verbindet. Die noch so attraktive bloße Kritik an einem angeblichen „späten Revo112
luzzer", der Versuch, „heutige Protagonisten gesellschaftlicher Revolten in ihrer fast pathologischen An- und Hinfälligkeit bloßzustellen und sie der Aura von Volkstribunen zu entkleiden", wie ihn Ernst Schumacher in der eingangs erwähnten Rezension meines Erachtens richtig an der Inszenierung beobachtet (und verteidigt), vermögen uns Schillers Geist und Werk in seiner echten historischen und gegenwärtigen Bedeutung nicht zu erschließen. D a s ergibt höchstens eine Art Lehrstück für die Söhne wohlhabender Familien in den „Linksbewegungen" der westeuropäischen Gegenwart (oder sich für sie Begeisternde). Dabei wäre es falsch, eine Reihe von Entdeckungen der Inszenierungen über ihrer Problematik zu vergessen. V o n der lebendigen Vielfalt der Räuberbande (die wirkungsvolle Möglichkeiten zur Gestaltung gesellschaftlicher Widersprüche gäbe) war schon die Rede; der Abschied der Bande v o m toten Roller (Dieter Montag) ist als besonders gelungen beeindruckende Szene hervorzuheben: Wie die v o m K a m p f Erschöpften auf ganz individuelle Weise, in der echte Erschütterung wie bloße Räuberromantik noch bewußter ausdrückbar wären, dem Leichnam die letzte Ehre erweisen. (Damit ist diese Situation weitgehend konkret im Vergleich beispielsweise zur Ausstellung des v o m Galgen geretteten Roller, bei der sich neben leeres Pathos überwindende Realistik — die Sprachlosigkeit der Bande, die sich in verlegenen Hilfereichungen und dem stockend beginnenden Bericht v o m Geschehen schrittweise auflöst — eine neue mißdeutbare, die unhistorische Darstellung der Fabel unterstützende Symbolpathetik stellt: Roller mit dem fahlen, blutgestriemten, von einem Schurz nur verhüllten Leib als Figuration des Schmerzensmannes Christus?) Unter den Anregungen zu nennen wäre auch die herb-unsentimentale Anlage der Amalia Heide K i p p s — bei der sich zum Schluß dann allerdings doch wieder untaugliche Adelsromantik vordrängt. D o c h der Verzicht auf das Ideal, die moralische Alternative, die damit verbundene unhistorische Verallgemeinerung/Aktualisierung zu allumfassender „Spätzeitkritik" erlaubt nicht, Entdeckungen im realistischen Detail zur Grundlage einer realistischen A u f f ü h r u n g zu machen. D a s verhindert auch die 8
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Deutung der Franz-Figur: Günter Junghans vermittelt vor allem eine Häßlichkeitspathologie (statt die historisch-konkrete Darstellung des Mißbrauchs eines widersprüchlichen Trivialmaterialismus im Dienste feudaler, antihumanistischer Interessen), und die Regie geht dabei bis zu einer — zielgerichtet eingesetzten — geschmacklos-peinlichen psychoanalytischen „Begründung" für die schurkische Verbitterung jenes Franz, der in einer pantomimischen T e x t - „ E r g ä n z u n g " schon im Kindesalter beim Spiel mit den Puppen als der Benachteiligte gezeigt wird. Aber all das, was da an Unbefriedigung entsteht, ist nicht primär eine Frage der verwendeten theatralischen Mittel, sondern die ihres Gebrauchs, der nicht konsequent auf die Herausarbeitung der Widersprüche u n d des Ideals, die historisch-konkrete Darstellung der Konflikte gerichtet ist. D i e großenteils zwiespältig reagierende westdeutsche Presse legt das — in letzter Zeit auffällig um Ratschläge für einen „neuen" sozialistischen'Realismus im D D R - T h e a t e r bemüht — auf ihre Weise aus, wenn dort bedauert wird, daß die sogenannten modernen Mittel nicht durch einen „Modernismus der Überzeug u n g " 5 5 ergänzt wird. Auch diese Reaktion zeigt, daß die Rä»^er-Inszenierung ein Experiment im Rahmen unseres sozialistischen Theaters ist, das es verantwortlich zu diskutieren gilt. Reicht die Problematik der Aufführung doch bis zu speziellen Problemen unserer sozialistisch-realistischen Schauspielkunst. Die Gegensätze zwischen dem Realismus en detail und dem unhistorischen Herangehen ans Ganze wirken sich auf die Darstellungsprinzipien aus. D e n n nicht nur ich beobachte in dieser Hinsicht eine hinter dem Aktionsreichtum der B ü h n e zurückbleibende bedenkliche Verarmung der schauspielerischen Charakterisierungskunst: Auffällig und „ g r o ß " spielt Franz (Hermann ersetzend) seinem Vater den fingierten Bericht von Karls T o d vor, knüpft er die Gardinenkcfrdel zwischen zwei gegenüberliegende Türklinken, um sich von den hereinstürmenden Räubern erdrosseln zu l a s s e n ; aber seine Monologe liefert er — meist ins enge Treppengehäuse zurückgezogen als pure Textpassagen, in denen Materialismustheorien und Herrenstandpunkt hinter allgemeiner Fiesheit unter114
gehen. Und Karl hat — indem er mehr reagiert als agiert — zwar den Schreck deutlich herausgestellt zu spielen, als man ihm die Idee von der Räuberbande mitteilt, und eine einfache, abrupte Haltungsveränderung zum „Ich will Euer Hauptmann sein", nicht aber die hier sich vollziehende Auseinandersetzung; die Ringe an seiner Hand erläutert er dem Pater in schwärmerischer Pose, fast eingelernt und nicht in der Überzeugung seines Rechts (die d i e s e r Karl allerdings gar nicht hat). Charaktergestaltung wird durch Figurenbeurteilung ersetzt; die Widersprüche auch in der einzelnen Figur, aus der sich ja ihre realistische Charakterologie aufbaut, sind eliminiert — vielleicht mit Ausnahme des Spiegelberg, der eben dadurch zum interessantesten Aspekt des Abends wird. Kein Wunder, so scheint mir, daß viel szenische Attraktion, aber kein durchgehender Konflikt über die Rampe kommt, keine große, einheitliche Handlung, sondern eine Folge (gelungener und nicht gelungener) Nummern in der Erinnerung bleibt: vom vielbeschriebenen — wirkungsvoll „gebauten" — Skandierchor um Schillers Stückmotto („Was Medizin nicht heilt, heilt Eisen, was Eisen .nicht heilt, heilt Blut!") als „Vorspiel des Ensembles" bis zu den provokativ in den Etagen des niedergebrannten Schlosses hockenden Räubern zum Schluß, die sich dann in alle Winde verlaufen. Viel Leidenschaft war eingesetzt — beim Engagement fürs Stück und auf der Bühne. Aber da sie Schillers Leidenschaft des Protests gegen seine Zeit von des Dichters leidenschaftlichem Bekenntnis zum humanistischen Ideal in d e r g e s t a l t e t e n W i r k l i c h k e i t trennt, wird das Stück zwar nicht seiner Wirksamkeit, aber der maximalen Rezeptionsmöglichkeit für unsere Zeit beraubt. Das sozialistische Theater aber braucht beides! Goethe: Urfaust (Stadttheatec Eisenach;
Annaberg;
1971 -
Regie
1971
— Regie
Rainer
Nitzke/Landestheater
Fritz Westphal/Theater Greifswald; 1 9 7 1
-
Regie Jörg Liljeberg) 5 6
Wenn diese Zeilen erscheinen, wird kaum noch eine der drei Inszenierungen auf den Spielplänen stehen. Sie sind rasch abgespielt, die Produktionen unserer kleinen Theater. 8*
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Aber Probleme, die sie bieten, werden nicht so schnell „abgesetzt". Übrigens kennen zwei der Ensembles bereits meine Meinung im Detail, mitgeteilt auf Arbeitsgesprächen der Bezirksorganisationen des Theaterverbandes. Und hier ist schon das erste Problem. In Annaberg waren vier Kollegen aus KarlMarx-Stadt erschienen; die anderen Theater fehlten, auch das Freiberger, das den Urfaust in der vergangenen Saison spielte. In Greifswald unterhielten sich zwei Universitätsprofessoren und ein Mitarbeiter der Theaterverbandszentrale nach der Vorstellung mit dem Ensemble, nachdem die Kollegen aus Rostock und Stralsund in letzter Minute ihre Teilnahme an einem lange geplanten Kolloquium abgesagt hatten. Kein Interesse am konkreten fachlichen Meinungsstreit, Scheu, Zeitmangel? Ich vermag keinen Grund anzuerkennen. Was im Bezirk Neustrelitz seit Jahren praktiziert wird, kann andernorts nicht unmöglich sein — wenn vor allem auch die Leitungen es für nützlich halten. Und daß die Annaberger — obwohl in Aussicht gestellt — nicht an kritisierten Punkten der Inszenierung weiterarbeiteten, deutet die Gefahr an, daß hie und da Meinungsstreit als eine Art „Zeitvertreib" angesehen wird. Und dabei ist doch gerade an den kleineren Theatern jener Teufelskreis, der von den schwierigen Arbeitsbedingungen gezogen wird, nur dann zu durchbrechen, wenn alle Möglichkeiten der Qualifizierung genutzt und alle dabei gewonnenen Erkenntnisse praktisch verwertet werden. Und da ist, ehe wir zur „Kunst selber" kommen, gleich noch ein Problem. Nur in Greifswald hat man sich (kann man sich?) auf das eigene Ensemble verlassen. In Annaberg und Eisenach inszenierten Gastregisseure. Zwar handelt es sich einmal um einen „Vorgriff" auf ein Engagement in der Spielzeit 1972/73, zum anderen um sozialistische Hilfe innerhalb des Bezirks — lobenswerte Absichten, aber mehr durch die Not als durch bewußte, auf Qualifizierung bedachte Planung diktiert und deshalb in der Regel mit ungenügender Vorbereitung feezahlt. Und schließlich wurden wesentliche Rollen der „jungen Fächer" ebenfalls von Gästen übernommen (in Annaberg der Mephistopheles, in Eisenach Faust und Margarethe) — während Marthe Schwerdtlein hier wie dort doppelt besetzt ist. So 116
signalisiert diese Rundreise erneut unsere großen Aufgaben: bei der qualitativ und quantitativ den Anforderungen entsprechenden Ausbildung des Nachwuchses, beim planvollen Einsatz junger Künstler (auch an kleineren Theatern) — und bei der Spielplanung. Denn zu wenig noch, dünkt mich, nutzen wir v o r h a n d e n e Potenzen — z. B. in den reifen Frauenfächern. Die „unbequemen Damen" 57 * gibt es keinesfalls nur in Berlin; und sie mit „halben" Rollen abzuspeisen scheint mir nur eine „halbe" Lösung. Unter diesen Bedingungen den Urfaust? Alle drei Theater spielen das Stück erklärtermaßen, weil sie den Faust-Stoff für wichtig, den sozialistischen Zeitgenossen berührend (und wohl auch — mit einem Blick auf den Lehrplan der Schulen — für „gewinnbringend") hielten, aber Goethes „End"-Fassung personell und auch technisch (Abstecher!) nicht realisieren können. Auch hier eine Notlösung^ Ersatz-Faust? Das Ergebnis widerspricht einer solchen These. Man spürt überall das Ringen um die Eigenständigkeit dieses Stücks und alle drei Programmhefte zitieren Brecht: Über die Möglichkeit und den Reiz, ein Fragment aufzuführen. Aber eben da beginnen die Schwierigkeiten. Sparsam ist man zwar beim Aufgreifen des Brechtschen Vorschlags, die „Lücken sollten vorsichtig ausgefüllt werden" 58 . Der Greifswalder Versuch, durch einen stummen' Handschlag den im JJrfaust nicht vorgesehenen Pakt zwischen Faust und Mephistopheles einzufügen (was aber — für die hier gewählte Konzeption — völlig unerheblich ist), erscheint alk der „kühnste" Schritt in diese Richtung. Begieriger hat man nach jenem Satz gegriffen, daß es der Urfaust leichter mache als das fertige Werk, „sich die Frische, den Entdeckersinn, die Lust am Neuen des erstaunlichen Textes anzueignen" 59 . Doch da sind Mut und Sinn oft schwer unter einen Hut zu bringen. Am behutsamsten und am produktivsten scheint mir da Fritz Westphal für die Eisenacher Inszenierung ans Werk gegangen zu sein. Sicher zeigt sich das mehr im konzeptionellen Ansatz und im Detail als in einer geschlossenen Einheitlichkeit der Inszenierung, die vor allem bis zur frühen Pause (nach Auerbachs Keller) keinen rechten Zugang zum Stück ermöglicht, aber dann die im Urfaust zentrale Gretchen-Tragödie — 117
ohne Unterbrechung gespielt — zum Anliegen des Abends macht. Doch Frank Trunz als Faust zeigt da in erster Linie einen ehrlich-leidenschaftlichen Liebhaber; den Wissenschaftler, der schon in der Studierstube so wenig herauskam und doch wichtig ist, um soziale Ungleichheiten in der Faust — Margarethe-Beziehung als e i n e n wesentlichen Konfliktpunkt zu erfassen, läßt er nur einmal — im Religionsgespräch — aufblitzen. Und Heiderose Seifert spielt vor allem die reine Scheu der Margarethe (steif vorgestreckte Arme bei der ersten Umarmung Fausts; die Einladung des Geliebten in ihre Kammer dem bereits Abgehenden mehr in einem Zwang als in echter Bereitschaft angetragen), so daß die Figur letztendlich zu klein bleibt. Am überzeugendsten ist in dieser Vereinfachung Hans Günter Schmidt als Mephistopheles, auf äußerliche Gags verzichtend, das Vergnügen an der Rolle aus einer drastischen Naivität seiner Haltungen und Repliken entwickelnd. Diese Kauzigkeit kommt beim Publikum am besten — und keineswegs flach — an; die Figur erinnert bei aller Historizität an heutige Störenfriede. Allerdings: Auch dieser Teufel ist ein recht „bescheidener", ihm gegenüber hat es Faust relativ leicht, der Überlegene zu sein (z. B. Ohrfeigen anzubieten); erst spät kommt da mehr Gefährlichkeit — und nie ganz große — ins Spiel. Dieser „unkomplizierte" Figurenaufbau der Inszenierung macht die Geschichte etwas harmlos. Wichtiges für die konzentrierte Vorführung der GretchenTragödie leisten die Bühnenbilder Klaus Webers. Wenn eine Tür, an verschiedene Stellen vor oder hinter das Spielgerüst gesetzt, auf einfache Weise immer neue Räume schaffen hilft (oder Gretchens Zimmer aus verschiedenen Blickrichtungen bespielen läßt), erhalten die Darsteller wesentliche Hilfe für ihre Aktionen, deren klare logische Vorführung. (Während man in Annaberg — Unüberlegtheit mit Stilisierung „begründend", das realistische Detail unterschätzend — mitunter durch die „Wände" ging, die man kurz vorher im Spiel geschaffen hatte.) Diese Räume unterstützen an den gelungensten Stellen der Inszenierung Schönheit und Realistik des Einzelvorgangs: Z.B., wenn Valentin betrunken vor Gretchens Tür erscheint und bramarbasiert, von Faust in ein Degengefecht verwickelt wird (was im Urfaust nicht steht, aber in 118
der Inszenierung auch anders als in Faust I verläuft), dabei in seinem Rausch stürzt, Faust den Weg durch die Tür — zu Gretchen — freigebend. Hier, dünkt mich, sind das „Ausfüllen" des Fragments und der Entdeckersinn für das Frische, auch Ungebärdige des Urfaust glücklich vereint. Die größte Unsicherheit in diesem Punkt weist Rainer Nitzkes Annaberger Inszenierung aus. Dabei gibt es auch hier ohne Zweifel ein achtbares Ringen um die Rollen; etwa bei Heinz Dieter Busch, der den Faust spielt (dazu jedoch von der Regie einige offenbar nur recht äußerliche Anhaltspunkte bekommen hat: ein Spiel mit dem Globus in der Studierstube, das an Galilei erinnert; einen Strick, den er sich zu knüpfen hat und der die im Urfaust nicht vorhandene Viole ersetzen soll), oder bei Hannelore Fiedler-Staude, die für ihre Margarethe einige überzeugende Züge des Naiven, Sauberen, auch einer wachsenden Selbstbewußtheit — eine Mischung von Wachheit und Wahnsinn im Kerker z. B. — zu erarbeiten wußte. Diesem bemühten Einsatz, der echte menschliche Beziehungen zwischen Faust und Margarethe — nicht jedoch den historisch konkreten Konflikt zwischen ihnen — aufbauen hilft, steht allerdings der Mephistopheles von Heino Wolters gegenüber. Die Situation überspielend oder verkehrend, macht er sich effekthascherisch — rülpsend, popelnd, spuckend — auf der Bühne breit: ein Gast, der das Ensemble eher desorientiert als seine Maßstäbe formen hilft. Die Unsicherheit der Regie zeigt sich im Gewährenlassen einer solchen selbstgefälligen Art des Theaterspiels und — bei dem Versuch, tiefgründig zu sein — in der Komplizierung, ja Mystifizierung von Vorgängen, die den Zugang zu den realen Inhalten des Werks erschweren und verbauen. Da lümmelt sich Mephistopheles während der ersten Studierzimmerszene als Beobachter im Hintergrund auf der Szene (was meint dieses Symbol?); da wird aus dem Erdgeist eine schöne, der Uta ähnliche Frauengestalt (weshalb die Klage über das „schröckliche Gesicht"?); da werden Zwinger, Dom und Valentin-Szene aneinander und durcheinander montiert, schleift Valentin seine Schwester in den Dom, wo Faust und Margarethe links, Mephistopheles und Valentin rechts um den Bösen Geist versammelt sind, dessen Priesterornat auf einen 119
nur äußeren statt auf den inneren Konflikt Margarethes verweist, wie das gesamte Arrangement eher eine mephistophelische Verschwörung als die tiefen gesellschaftlichen Widersprüche in den Menschen nahelegt. Diese Aufbereitung des Stücks, der jetzt öfter zu beobachtende Versuch, zusätzliche, nur dem Regisseur bekannte Bedeutsamkeiten auszustellen, machte mir die bei einem solchen klassischen Werk doch kaum zu erwartende kontemplativ-abwartende Haltung des Annaberger Publikums zur Aufführung verständlich. D a hat es der Greifswalder Regisseur J ö r g Liljeberg besser. Wesentliche Teile des Publikums in dieser Universitätsstadt interessiert eine experimentelle Inszenierung (und die Meinungen gehen dafür und dawider). Zugleich ist die gewählte „Lesart" auf der Bühne immer deutlich zu erkennen. Bei der seltsamen Parallelität von szenischen Erfindungen in Annaberg und Greifswald (hier wie dort die „Schatten"-Funktion Mephistopheles' am Anfang, die schöne Frauenerscheinung als Erdgeist, der Böse Geist der Kleriker) werden hier doch wenigstens die damit verbundenen Absichten erkennbar: Wenn beispielsweise die Erdgeist-Uta neben ein flirrendes Atom-Symbol gestellt und die Textstelle „[. . .] und würcke der Gottheit l e b e n d i g e s K l e i d " deutlich herausgehoben ist, begreift man, daß dieser „Partner" Fausts (das „schröckliche Gesicht" ist gestrichen) hier als Prinzip der schöpferischen Naturkräfte aufgefaßt ist. Überhaupt setzt die Inszenierung deutliche Akzente zur Betonung der historischen Umstände: wenn am Anfang — zu ins Grelle sich verzerrenden Bachschen Tönen — Projektionen, Wissenschaft und Folter figurierend, gegenübergestellt werden oder Textpassagen wie Fausts Hinweis, daß zur Erkenntnis strebende Männer von „je gekreuzigt und verbrannt" wurden, durch Schreien herausgehoben sind. . Aber wie schon hier mehr Direktheit als echte inszenatorische Phantasie für ein beabsichtigtes Wirkungsziel eingesetzt sind, so war ein gleiches auch bei der Rollenanlage und Schauspielerführung zu beobachten. Achim Wolfs Mephistopheles gerät streckenweise zum Faxenmacher, weil der K a m p f mit und um Faust und Margarethe — bei aller Grobschlächtigkeit der Goetheschen Urgestalt — doch zu äußerlich aufgefaßt, zu 120
demonstrativ vorgeführt wird. Und in der Bewertung Fausts und Margarethes stehen Mut zur Konsequenz und Einseitigkeit eng beieinander." Die Greifswalder sehen, die GretchenTragödie ernsthaft auf ihre Unterschiede zu Faust I befragend, Margarethe als am weitesten in die Zukunft projizierte Figur, den eigentlichen Konfliktpartner des Mephistopheles (und schaffen auf der Szene vielfältige; Beziehungen zwischen diesen beiden Figuren, die Margarethes Aversion und aktive Gegenwehr offenkundig machen). Christine Schuster folgt dieser Konzeption und kommt zu schönen darstellerischen Leistungen, gipfelnd in der Kerkerszene, in der Leiden ihre Gefühle bedrängen, nicht Irresein ihren Geist verwirrt — eine Figur, die bis zur letzten Minute ihr Schicksal bewußt durchlebt. Aber wenn Margarethe, um ihre „Natürlichkeit" zu „zeigen", sich vor der ersten Begegnung hinter der Mater dolorosa versteckt, Fausts Wegrichtung „berechnet", um ihm direkt in die Arme laufen zu können, also demonstriert wird, daß sie angesprochen sein will — dann schert man sich kaum noch um Stück, historische Konkretheit des Charakters, Wahrheit der Handlung. Dasselbe passiert im Gartenhäuschen — warum wohl verlegt man diese Szene vor eine alte Scheune? —, wenn Faust liegend, sichtbar vom Beischlaf ermattet, mit Margarethes Religionsfragen konfrontiert wird. (Und die große geistige Auseinandersetzung Faust — Mephistopheles in Nacbt. Offen Feld ist zu einer Bankettszene geworden' — mit Marthe als Aufwärterin! —, wo sich der schlemmende Faust von Mahl und Trank losreißen muß.) Wenn Margarethe so, bei allen guten Absichten, letztlich jenseits der realen gesellschaftlichen Widersprüche angesiedelt wird, hat dies — und die streckenweise plakativ sinnliche Inszenierungsweise, die ich nochmals nicht mit Phäntasiereichtum zu verwechseln bitte — Auswirkungen auch für den Faust. Er ist sozusagen weniger wert als Margarethe. Liljeberg hat die Titelrolle mit Jürgen Hilbrecht besetzt, der bisher meist in komischen Rollen ausprobiert wurde. Der Regisseur wollte also offenbar von vornherein die Figur nicht zu heldisch erscheinen lassen. Nun hat der Schauspieler Schwierigkeiten mit dem „Fach" u n d mit der konzeptionellen Orientierung, stellt immer wieder recht bieder den wirklichkeitsfremden Wissen121
schaftler, seine abgeklärte, ja kalte Sachlichkeit — allerdings auch seine humanistische Anständigkeit! — in den Vordergrund; menschlicher Reichtum, Liebe kommen da kaum zum Zug. So bleibt von der tiefen Widersprüchlichkeit der Gretchen-Tragödie (der Verweigerung von Glück für zwei Menschen, die die Schranken ihrer Zeit durchbrechen wollen) letztlich ein tödlicher Liebeskonflikt zwischen einem Bürger und einer Plebejerin übrig. Die Schwierigkeiten bei der souveränen Durchdringung der Dialektik klassischer Fabeln und damit bei der widerspruchsvollen Figurengestaltung am Beispiel dreier Urfaust-lnszenierungen, die so verschiedene „Extreme" brachten, also eines von uns allen zu bewältigenden Problems eingedenk, meine ich doch: Die Greifswalder Inszenierung, am geschlossensten, am perfektesten, gerät mit der Rigorosität ihrer Sicht auf Margarethe und Faust zugleich am deutlichsten in Konflikt mit dem, was dieses Stück des klassischen Erbes für uns an antizipatorischen Möglichkeiten (und nicht nur an eventuellen soziologischen Analogien) bereit hält.
Schiller: Wallensiein-T
nlogic
(Städtische Theater Leipzig; 1 9 7 4 — Regie Karl Kayser) 0 0
I Bedeutsame Inszenierungen der großen Dramen unserer deutschen Klassiker sind rar. Die letzten Wallenst ein-Kuiiuhmnge.'ci in der DDR z. B. gab es Mitte der sechziger Jahre. 61 * Karl Kaysers neuerliche Auseinandersetzung mit Schillers Trilogie (nach Weimar 1953, Leipzig 1957) ist schon unter diesem Aspekt mit Nachdruck zu begrüßen. Die Einrichtung für einen — knapp vierstündigen — Abend ist angesichts heutiger Rezeptionsmöglichkeit und -praxis fast eine Selbstverständlichkeit. (Es sei denn, es gelänge eine Sensation, von der man die Fortsetzung sehen m u ß . ) Kürzungen, die mehr als die Hälfte des Texts betreffen, sind also notwendig. Mir erschien das geschaffene Theaterkompendium geglückt. Auch 122
die Reduktion des Wallensteinschen Sternenglaubens (Seni gibt es in Leipzig nicht) auf umfassendere, Astrologie einschließende fatalistisch-„dämonisierende" Züge bedeutete meines Erachtens keine grundsätzliche Beschädigung des Stücks.
II Problemreicher als die Straffung ist die Fassung, die Karl Kayser — natürlich auch durch Striche — seiner Konzeption zugrunde legt (oder durch die diese geprägt wird). Ein Hauptmoment ist die Verschmelzung des Lagers mit den Individualgeschichtcn. Das Vorspiel und der erste Akt der Piccolomini sind eng verzahnt: Questenberg trifft mit den Offizieren im Lager zusammen; nach ihrem Abgang ist der Soldateska wieder das Feld überlassen, erfolgt der Auftritt des Kapuziners; dann erleben wir vor der Lagerszenerie — unter einem aufgerollten „Baldachin" — die Questenberg — Octavio — Max-Szenen; es folgen weitere Kapuziner-Situationen. Dann wird zwar das Lager abgeräumt, aber die kriegerische Aushängung der Bühne läßt es quasi als Rahmen des Geschehens zwischen den Protagonisten präsent bleiben. Zweimal noch wird es (ausgesparte Szenen des Vorspiels) mit der Haupthandlung konfrontiert, bis es schließlich — bei Wallensteins Ermordung — waffenstarrend und brutal das Geschehen abschließt. Dieser interessante Vorschlag zur szenischen Realisierung des Schillerschen Hinweises, daß das Lager Wallensteins Verbrechen erkläre, ist jedoch nur eine Seite der Bearbeitung, ein Moment in Kaysers Generalkönzeption. Diese relativiert vor allem Schillers theatralisches Credo durch die Berufung auf die Historie und den Historiker Schiller: Die Wallenstein-Figur wird durch Unterbewertung oder Betonung entsprechender Textpassagen als ein miserabler Hausmachtpolitiker aufgefaßt, der die Worte Nation und Frieden nur im Munde führt, um sein eigenes Schäfchen ins trockene zu bringen. Was hinter einer solchen Lesart verschwindet, zumindest umfunktioniert, „entpersönlicht" wird, ist die Tragödie. Denn es liegt doch 123
wohl ein Zweck dahinter, wenn Schiller dem „verbrecherischen" Wallenstein seiner Geschichte des dreißigjährigen Krieges für die Theatertrilogie — vielfältig gebrochene — positive Absichten unterstellt, bei deren Verwirklichung er unter den konkreten Geschichtsbedingungen zum Verbrecher wird. Diese Handlungsmotive des Bühnen-Wallenstein eliminierend, verliert auch die Max-Thekla-Tragödie ihre provokante Schärfe. Ihre Ideale müssen als bloße Schwärmerei erscheinen. Max wird zum lebensunpraktischen Phantasten, Thekla zur verträumten Herzogstochter. In Schillers Sinn ist das schwerlich. Ist es in unserem? Karl Kayser macht aus der Tragödie der Familien Wallenstein und Piccolomini (die einen tiefen Bezug zur gesellschaftlichen Tragik der Entwicklung in Deutschland nach dem Bauernkrieg hat) ein Spiel der Mächtigen. Diesen Titel hatte Giorgio Strehler seiner Adaption von Shakespeares Tragödien über die Kriege der weißen und der roten Rose in England gegeben, den Streit der Herrscher mit der Not, der List und den Kämpfen der plebejischen Schichten konfrontierend. Was sich hier als ein Assoziationsfeld für die Betrachtung gegenwärtiger gesellschaftlicher Vorgänge aus der Sicht der unterdrückten Klassen und Schichten in den kapitalistischen Staaten anbietet, ist mit Schillers Trilogie (die andere nationale Geschichte verarbeitet und deshalb den realen Vorgängen durch „Idealisierung" eine humanistische Perspektive abzugewinnen versucht) auf analoge Weise schwer möglich. Aus einem Stück,'das humanistische Menschen- und Gesellschaftsideale über individuelle Tragik im Publikum zu befestigen suchte, wird eine Art Lehrstück über die Fortschrittsphraseologie der Herrschenden und die Sinnlosigkeit schwärmerischen Rebellierens ihrer jugendlichen Nachfolgegeneration, darin Tangenten zum Tag, zur gegenwärtigen imperialistischen Praxis sehend. Es ist — platte Analogien zum Friedenskampf oder zur nationalen Frage, wie sie in den fünfziger Jahren gesucht wurden, zu Recht überwindend — ein Miserebild; allerdings kein sarkastisch-satirisches, sondern ein ausmalend-historisierendes.
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III Der Regisseur Karl Kayser verwirklicht seine Fassung mit großer Konsequenz. Am stärksten tritt dabei der Aktionsreichtum und die Farbigkeit der Massenszenen hervor. Nachdem die Melodie des Reiterliedes kurz aufgeklungen ist, der Buttler-Darsteller ein Stück des Prologs gesprochen hat, quillt „das Lager", sein Lied auf den Lippen, in unübersehbarer Zahl bedrohlich aus dem Hintergrund nach vorn. An der Spitze eine brutalisierte Gruppe, die eine offenbar geschändete Frau vor sich her treibt. In Portalhöhe stürzt sie nieder, mit mühsam erhobenem Kopf singt auch sie das Lied: verfremdet durch den Gestus leidvoller Erschöpfung. (Diese emotionelle musikalische Kritik des Geschehens durchzieht die gesamte Aufführung : Die Geschändete des Anfangs tritt später wiederholt als Sängerin (Friederike Raschke-Retzlaff) zwischen die Szenen, interpretiert Liedtexte Schillers über den Krieg — kampflustige und besinnliche, stets damit das Bühnengeschehen kontrapunktierend.) Die Plastizität des Eingangsbilds kehrt immer wieder, in großen Panoramen: beim Lagertanz, beim Empfang des Kapuziners (Siegfried Worch), dem mit einem geschwungenen Feuerkessel und einem zum Wurf hochgestemmten Faß Angst gemacht wird; aber auch in kleinen Passagen: dem Spott mit dem Rekruten, Liebeleien usw. Unübersehbar ist die wirkungsvolle malerische Drastik, weniger ausgeprägt die Realistik. Daran haben auch die schönen, vielfarbig und meist in Leder gehaltenen Soldatenkostüme ihren Anteil, denen man die vielen Jahre des Feldlebens nicht ansieht. Wie überhaupt die Ausstattung (Bühnenbild Bernhard Schröter, Kostüme Eleonore Kleiber) große Funktionstüchtigkeit und Gediegenheit aufweist, aber zu wenig konkret von der Härte und Brutalität der Zeit erzählt. Auch die rostroten, von Brandlöchern zerfressenen Stoffbahnen, mit denen Vor- und Hauptbühne ausgehängt sind, bleiben zu dekorativ. Höhepunkt der großen Aktionsszenen mit Massenbeteiligung war für mich das Schlußbild: Die- stumme, mit militärischer Sturheit in Wallensteins Zimmer eindringende 125
Soldateska erledigt mit ihren Lanzen den Mord wie ein Handwerk. Dieser Bilderfülle gegenüber sind die Protagonistenszenen zwar durch strenge Arrangements bestimmt, aber doch meist ganz auf das Wort und die Haltungen der Darsteller gestellt. Hier überträgt der Regisseur den Hauptteil der szenischen Wirkung den Schauspielern.
IV Was in einem so großen Ensemble bei aller Geschlossenheit an unterschiedlicher Leistungsintensität deutlich wird, ist hier nur in wenigen Beispielen und kurz zu benennen. Manfred Zetzsche war der Wallenstein der Konzeption — immer wieder (ob im Purpur und mit Marschallstab oder im „Grundkostüm", das wie ein modischer Anorak wirkt) zu kleineren und größeren Posen neigend (inszenatorischer Clou: Wallenstein sitzt auf einer hölzernen Pferdeattrappe einem Maler zum Porträt). Aber Zetzsche überzieht das nie. Das verhalf dieser Lesart zu einiger Überzeugungskraft: ein Gauner unter Gaunern, sie nur an Klugheit, Geschick, weltmännischer Haltung — Taktik überragend. Die Widersprüchlichkeit der Figur blitzte mit ihren Ängsten auf — nach der Begegnung mit Wrangel vor allem. In den Schlußszenen lagen die überzeugendsten schauspielerischen Momente. Octavio war als im Hintergrund wirkende Figur betont, unterstützt auch durch das Kostüm, das in seiner Schlichtheit von den farbigen Gewandungen der anderen Generale abstach. Ich sah — kurzfristig für den erkrankten Hans-Joachim Hegewald eingesprungen — Walter Nikiaus in dieser Rolle. Bewegungsmäßig noch gehemmt, entwickelte er seine Aktion vor allem über den Dialog (in der Sprechkultur könnten sich hier einige Leipziger Schauspieler eine Scheibe abschneiden): intensive, auf den Partner bezogene Argumentation bestimmt das Handeln dieses Mannes. Ansätze und Grenzen liegen beim Max des jungen Knut Degner- nahe beieinander. Daß Kayser einen Schauspielschüler mit dieser Rolle besetzte, beweist Mut. Er zahlt sich 126
aus, wo frische Ausstrahlung, die Unbedenklichkeit des „jugendlichen Helden" gefordert ist. Zur Figuration erstarrt die Darstellung, wo die Kritik an der Figur gespielt werden soll. Hier fehlt dem Darsteller offenbar Erfahrung, aber wohl auch Material im Stück. Ähnlich geht es Astrid Bless als Thekla, nur daß hier bereits jeder Ansatz zu ideeller menschlicher Regung durch herrschaftliche „Erziehung" überdeckt ist, so daß sie kaum Konfliktpartner, nur Spielball ist. Marylu Poolman gibt der Gräfin Terzky das Profil einer kalten Strippenzieherin — überzeugungskräftig durch darstellerische Intensität, vielleicht am konsequentesten die Konzeption vom Spiel der Mächtigen in darstellerisches Profil umsetzend, aber auch am auffälligsten Möglichkeiten widerspruchsvollerer Figureninterpretation vergebend. Zwei „kleinere" Männerrollen möchte ich zu den schönsten darstellerischen Leistungen dieser Inszenierung rechnen. Da ist zuerst Günter Grabberts Buttler. Aus der Zurückhaltung und Verletzlichkeit des aufgestiegenen sozialen Außenseiters baut er den Charakter dieser Rolle, ihre einzelnen Handlungsaufgaben auf. Er setzt dazu weniger seine Körperlichkeit, daraus entwickelte standardisierte Gesten ein, sondern handelt mit beunruhigender Ruhe und offenbart dabei die hin und wieder verschenkten Möglichkeiten dieses — vielleicht in den verschiedenen Medien zu viel als Spiel- und Sprechtyp ausgenutzten — Menschendarstellers. Beeindruckend schließlich der Wrangel Friedhelm Eberles. Wie er in seiner kurzen Szene — vielsagend jene kleine bestimmte Geste der Trunkverweigerung gegenüber dem ihm sich schulterklopfend anbiedernden Wallenstein — den bewußten, klugen Verhandlungspartrier entwickelt, das geplante „Freundschaftstreffen" zum harten politischen Dialog macht und damit Wallenstein in die Enge treibt, ist von beklemmender Überzeugungskraft.
Klassiker am Stadttheater Goethe: Egmont (Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau; 1973 — Regie Anne Eicke)/Schiller: Die Räuber (Kleist-Theater Frankfurt/Oder; 1974 — Regie Peter Lange)/Shakespeare: Maß für Maß (Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen; 1974 — Regie Heinz-Uwe Haus)/Shakespeare: Othello (Theater der Altmark Stendal; 1974 - Regie Claus Martin Winter) 02
Wenn einer eine Reise tut schaut er zuerst nach den (Fahrplänen. Ich blätterte in den Spielplänen mittlerer und kleinerer Theater — auf der Suche nach Inszenierungen internationaler und vor allem nationaler Klassiker. Das Ergebnis war ernüchternd: Klassische Lustspiele, ja, damit konnte man aufwarten. Bei Shakespeare dehnte sich das Spektrum — ein erfreulicher Fortschritt — bis hin zu den „Problemstücken": Tragödien, Historien, Romanzen, Maß für Maß. Aber bei der deutschen Klassik war in dieser Richtung kein Angebot, das befriedigen konnte — es sei denn, man wollte nach der Minna-, Nathan- oder U//iZ».r/-Welle vor einiger Zeit nun auf einer Räuber- und Egmont-'Woge mitreiten. Ja, was denn: Da klagt man über Traditionalismus im angestammten Theaterpublikum — und spart einen Großteil der nationalen dramatischen Tradition vor allem aus? Da spricht man von der Vielfalt kultureller Interessen und bedient jenes nach großen theatralischen Gegenständen so spärlich? Da hat man fünfzig Prozent junge Menschen in den Sälen, also einen hohen Bildungs- und Erlebnishunger zu befriedigen, und tut sich schwer mit Klassikeraufführungen? Nun reizte, durch Fragen provoziert, die Reise doch. Die Auswahl war, da es das Lustspiel diesmal nicht sein sollte, gering genug als daß man die Eindrücke von vier Aufführungen sowie anschließenden kleinen „Ensemblebefragungen" nur als zufällig bezeichnen möchte. Was sich mir an Überlegungen anbot, ging weit über das Spezialproblem „ErbeRezeption" hinaus. Darum: Nicht Rezensionen gilts zu schreiben, sondern Haltungen zu resümieren, die sich in Inszenierungen zeigten — in Bautzen 128
{Maß für Maß) und Zittau (Egmont), in Stendal {Othello) und Frankfurt/Oder (Die Räuber). Vorsicht ist angebracht, da das „Alter" der Produktionen, die Aufgabenstellung der Stücke, die Zusammensetzung des Publikums und die Umstände der Aufführungen sehr unterschiedlich waren. Dennoch zeichnen sich Symptome ab. Ein erfreuliches am Deutsch-Sorbischen Volkstheater, wo Gastregisseur Heinz-Uwe Haus (Deutsches Theater Berlin) eine anspruchsvolle Inszenierung von Shakespeares Maß für Maß herausgebracht hat — und mit diesem Anspruch alle aus „Erfahrungen mit dem Publikum" abgeleiteten skeptischen Prognosen über die Chancen d i e s e s Shakespeare-Stücks über den Haufen warf. Das Publikum interessiert der tiefgründige Streit über Probleme der Moral, der historisch exakte Gesellschaftsaufriß, die Doppelrolle- des sich als Mönch verkleidenden Herzogs und Spielkommentators (Dietrich Zimmermann). Ja, die ernsthafte Problemtiefe, die renaissancehafte Kompaktheit der Ausstattung (Rolf Händler als Gast), die — zweifellos unterschiedlich bewältigte — Bedeutungsfülle der Figuren, all das, was der Tragödie mehr Raum gibt als der Komödie, die „Leichtigkeit" von Shakespeares Spieltext unterbewertet (die Wahl der alten, erfrischend direkten aber nur begrenzt poetischen Eschenburg-Übersetzung unterstützt das), findet Interesse und Resonanz. Tiefgründige Beschäftigung des Regisseurs mit dem Stück und einer adäquaten Spielweise tragen wichtige Früchte. Dabei schafft die Musik (Klaus Lenz als Gast) in historischen Zitaten und gegenwartsnahen Tonformulierungen (vom Band singt Uschi Brüning) eine Brücke vom Gestern ins Heute. Verteidigt wird das Stück, gerungen um darstellerischen Realismus. Dem Bautzener Bemühen nahe steht die Egmont-lnszcnierung in Zittau, auch wenn Regisseur Anne Eicke die Möglichkeiten des Hauses „unnaiver" einkalkuliert hat. Schön das Bekenntnis zum Helden Egmont nicht als einer vorgegebenen, sondern sich selbst entdeckenden Größe. Die Volksszenen treten zurück hinter dem Persönlichkeitsdrama, den großen geistigen Disputen: Margarete von Parma (Gisela Findeisen) und Machiavell (Lothar Schön9
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brodt), Oranien (Werner Gaertner) und andere erhalten hohes Gewicht durch prägnante darstellerische Leistungen. Komparserie gibt es nicht. So entsteht ein zusätzlicher Reiz: Die einleitende Preisschießszene, ein politisches Vierergespräch, bekommt den Anstrich eines Kegelabends. Am Anfang bleibt allerdings etwas Peinlichkeit. Da sind Überlegungen nicht bis zur Konsequenz durchdacht und durchgespielt. Das trifft auch auf die Anlage des Vansen (Carl Mau) zu — eine zwielichtige Gestalt zweifellos. Aber das von den Bürgern abstechende grobe Geusen-Kostüm, der bedeutungsschwere Abgang mit einem Rucksack in die Illegalität vertragen sich schwer mit den Handlungen eines „ultralinken'' Provokateurs, der die Bürger aufeinanderhetzt und von Ferne sein Werk betrachtet. Kühn angepackt und bewegend — mit einem Schuß heutiger Unbedingtheit — umgesetzt ist die große Liebesszene Egmonts (ich sah die „hauseigene" Besetzung: Thomas Thieme, der gerade das überzeugend erfaßt) mit Klärchen (Elisabeth Zwieg). Im Mummenschanz kommt der Graf herein, im Taumel selbstvergessener Ausgelassenheit suchen und finden sie sich. Schade, daß diese und viele andere überzeugende Details gegen Schluß ausbleiben — weil der Mut fehlt, sich zur dichterischen Vision, die für mich bereits in Klärchens Marktplatzagitation beginnt, zu bekennen. Bis auf Egmonts Träum bleibt alles so „natürlich", daß ich mich zum Schluß vom Protagonisten direkt, per Publikumsadresse, aufgefordert fühlte,- zu sterben — wie er mir ein Vorbild gab. Die Inszenierung lief „durchschnittlicher" als sie es verdiente. Problematischer erschien mir das Stendaler Bemühen um eine attraktive, Erkenntnisse literatur- und theaterwissenschaftlicher Forschung nutzende O/fo/Zö-Inszenierung. Ich habe an anderer Stelle 63 auf Probleme verwiesen, die entstehen, wenn man intuitiv errechnete Zuschauererwartungen auf einen aktionsreichen Theaterabend mit dem halb angeeigneten Robert Weimann verknüpft, Geschehnisdichte, Narrenspiel, Kommentatorerireiz und moderne („geborgte", nicht, wie ia Bautzen, bewußt geschaffene) Musikkommentare auf Kosten der geistigen Stücksubstanz in den Vordergrund,rückt. Trotzdem: Hinter dieser Arbeit stecken Ernst 130
und gute Absicht, eigene (leider aufs Ganze hin zu wenig überdachte) Entdeckungen — Talentbeweise des Regisseurs Claus Martin Winter. Aber die Short-Fassung des Stücks beschädigt seinen Gehalt, unterfordert das, Publikum, reduziert die Möglichkeit realistischer Menschendarstellung. Sicher kann Maß für Maß in Bautzen (seine Wirkung auf Ensemble und Publikum) nicht einfach als „Gegenbeweis" dienen. Trotzdem lohnte sich nachzudenken, ob höherer Anspruch, der sich von dem der Klassiker ableitet und Spieler wie Zuschauer fordert und fördert, nicht die dem sozialistischen Theater gemäße Art des Umgangs mit den großen Werken der Weltliteratur ist. Experimente sind notwendig. Abzulehnen ist Scharlatanerie. Die Frankfurter R¿»¿«r-Inszenierung hat vieles davon. Regisseur Peter Lange hat sich aus den Aufführungskonzeptionen der letzten Jahre manches angeeignet, etwa das Konflikt" und Rollenbild der halleschen Schönemann-Inszenierung 64 — und übergießt all das mit einer gesteigerten Kopie von Erscheinungsbildern der Karge/Langhoffschen Volksbühnenproduktion (ohne daß das Programmheft mit einem Wort auf dieses Modell verweist). Bibiana LangeColla liefert dazu „weiße" Bühnenbilder und die Grenzen des historisch und fabelmäßig Vorstellbaren überschreitende dekorativ-bunte Kostüme für die Bande. Es dominieren eindeutig die spektakulären Arrangements und Geschehnisdetails; da wird der Brief an Karl mit Punkt und Komma als Studentenulk vorgelesen, Karl mitsamt dem Bett aus der Szene getragen, minutenlang vom toten Roller Abschied genommen usw. Deftige Akzente oder ausmalende Vorgangsschilderungen, so meint der Regisseur wohl, seien bereits Realismus. Dagegen gesetzt sind die Monologe als leise, stereotype Entäußerungen. In diesem Eklektizismus gehen alle Ansätze der Fabelerzählung, der Rollenanlage, der Sinnerhellung letztlich verloren; die Erfindungskraft des Regisseurs verplempert sich im Zitieren, im Ausschmücken von Zitaten und in nebensächlichen eigenen Einfällen; die Darsteller werden zu Regiepuppen statt zu dramatischen Charakteren. Bedauerlich, da Peter Heilmann (Karl), Burkhard Plettau (Franz), Jürgen Hilbrecht (Spiegelberg) und 9«
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andere spürbare Voraussetzungen nicht wirklich unter Beweis stellen können. — Bedenklich bleibt, daß eine solche Aufführung, die ein Warenhausangebot von theatralischen Auffälligkeiten anbietet, zum Konsum statt zum geistvollen Vergnügen einlädt, nicht ohne Wirkung ist. Bereitschaft der Ensembles war überall anzutreffen, sich den Klassikern zu stellen. Aber es gibt große Sorgen und Unsicherheiten. Sie beginnen mit der Werkwahl. Ein Stadttheater früher — das waren vor fünfundzwanzig Jahren (und später) mindestens zehn bis fünfzehn Schauspielpremieren pro Spielzeit. Heute hat man in der Regel sechs bis acht Positionen — von denen teilweise noch die Inszenierungen für die Kinder abgehen. Mehr ließe sicher der Auslastungsgrad der Vorstellungen, kaum die Werkstattkapazität zu. Das Interesse für Gegenwartsstücke ist gewachsen — beim Publikum und bei den Darstellern. So gibt es in einigen Theatern die Klassikerposition, im besten Fall zwei (einmal heiter, einmal ernst). Da ist kaum noch zu wählen — und schnell schleicht sich ein Schema ein: ein Jahr Shakespeare, ein Jahr deutsche Klassik, ein Jahr die restliche Weltdramatik. Man schließt sich Trends an, Stücken, die anderswo „gehen". Perspektivische Pläne gibt es kaum. Und wo sie existieren, sind sie oft nicht leicht durchzusetzen. Sicher ist fraglich, ob in Frankfurt/Oder ausgerechnet der Clavigo auf das notwendige Publikumsinteresse trifft, aber ist der Grillparzer-Traum der Zittauer nur ein Hobby? Ja, das Publikum, das ist immer wieder der ausgesprochene oder unausgesprochene Stoßseufzer, wenn man fragt, weshalb so wenig große klassische Werke im Spielplan sind und weshalb die Auswahl so begrenzt ist. Noch immer lebt ein aus „Erfahrungen" hergeleitetes Publikumsbild, es erwarte im Bereich des Erbes Traditionalismus (bekannte Titel, gewohnte Spielweisen). Die Praxis beweist das Gegenteil: Bildungstheater geht nirgends. Hinter den Seufzern über das Publikum steckt? mehr: das Bewußtsein, daß sich die Bevölkerungsansprüche an das Theater schneller entwickelt haben alsdie doch erheblich gewachsene künstlerische Kraft der Stadttheater132
ensembles. Beim Zeitstück fällt das manchmal nicht so'auf wie beim Klassiker. Gerade in dieser Hinsicht hatte ich bei meinen Besuchen den Eindruck, daß die Leitungen, auch die Dramaturgien, da zum Teil skeptischer, „vorsichtiger" sind als die Ensembles. In den mittleren und kleineren Theatern haben sich Gruppen junger Schauspieler zusammengefunden (ein weiteres Problem für Klassikerinszenierungen: der Mangel an leistungskräftigen Darstellern über fünfundvierzig). Sie wollen gutes, erlebnisstarkes sozialistisches Theater spielen, spüren: man muß etwas wagen, wenn man etwas gewinnen will — z. B. die Freude der Besucher am künstlerischen Erlebnis anspruchsvoller klassischer Werke. Wie packen wir den Klassiker, das ist die Frage, die sich an diesem Punkt erhebt. Dabei spürt man sehr schnell, was einem fehlt: z . B . Z e i t für Vorarbeit, Regisseure, die nicht von einer Inszenierung (und Rolle) zur anderen eilen, das eigene Handwerkszeug (der Sprache vor allern). Man versucht sich zu orientieren an Berliner Inszenierungen und stürzt in tausend neue Probleme. Die Schwierigkeiten mit den Klassikern erwachsen also zum großen Teil aus unbewältigten Leitungsaufgaben. Da muß schon Zeit geschaffen werden für die gründliche Beschäftigung mit dem ganzen Komplex der dramatischen Weltliteratur: Lesen (auch was in der Schule nicht dran war), Auswählen, Finden der Inszenierungsidee. Da muß handwerkliches Training möglich sein (viel würde auf der Probe „erfahren", wenn sich unsere jungen Darsteller in ein, zwei anspruchsvollen klassischen Rollen pro Spielzeit beweisen könnten). Da muß die Auseinandersetzung mit ArbeitsergebAissen im DDR-Theater, mit ihren ideologisch-ästhetischen Aspekten vor allem, geführt werden. Denn der Weg zum Klassiker ist oft noch wie ein Gang durch eine hohle Gasse. Wer kommt hindurch? Wie kommt er hindurch? Die Bereitschaft zur lebendigen, zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem Erbe ist ein Schatz, den wir hüten müssen. Aber die Unsicherheiten, die es gleichzeitig gibt, sind eine große Gefahr, auf attraktiv-vereinfachende 133
„Neuerungen" auszuweichen, die den Realismus preisgeben, der Hauptorientierung für die Erbe-Interpretation ist und bleibt. Wir müssen durch diese hohle Gasse hindurch. Die Auseinandersetzung um das Erbe bedarf — von den Leitungen aus — eines prinzipiellen, höheren Niveaus. Wo die Voraussetzungen dafür nicht im notwendigen Umfang gegeben sind, Sollte Hilfe organisiert werden. Das Bautzener Experiment mit einem Gastregisseur, der zugleich pädagogisch-methodische Zielstellungen verfolgt, scheint mir nachahmenswert, um die Stadttheater stärker zu Schulen der realistischen Schauspielkunst zu machen. Von dort werden die zukünftigen Künstler auch der haupt- und großstädtischen Bühnen kommen. Der Fragen sind noch mehr als sich auf den ersten Blick anbieten. Darauf kam die Sprache, als ich besonders nach den Gründen für die Vernachlässigung des breiten Spektrums der nationalen Klassik zu sprechen kam. Man liebt Shakespeare und mißtraut Goethe und vor allem Schiller. In Bautzen wurden die „Empfindsamkeit der deutschen Klassiker", „Schillers Sprache" als unzeitgemäß empfunden (man hatte mit Lessings Emi/ia Galotti schlechte Erfahrungen gemacht). In Zittau konstatierte man das große Interesse des Publikums an einer poesiereichen, märchenhaften Fabel' wie der von Shakespeares Wintermärchen und setzte die relativ kontemplative Aufnahme der Eg/»o«/-Inszenierung (obwohl das Stück in einem „Publikumsquiz" als Sieger hervorgegangen war) dagegen. Regisseur Winter in Stendal faßte das Problem in dem Bekenntnis zusammen: Shakespeare ist naiver auffaßbar als die deutsche Klassik; heutige Akzente sind mit dem Dichter besser zu vereinbaren als bei Goethe oder Schiller; man möchte sich gar nicht von ihnen distanzieren — und kriegt doch ganz schnell eine kritische Sicht. Das große — utopische oder antizipatorische — Menschenund Gesellschaftsideal, das die deutsche Klassik sozusagen außerhalb der realen Fabelprozesse ansiedeln mußte, bereitet also Sorgen. Man kann sie nicht vom Tisch wischen. Aber sollte man nicht ausprobieren, ob in ihren Dramen nicht auch etwas von dieser märchenhaften Poesie lebt, die im Theater 134
h e u t z u t a g e interessiert? D a muß man sich allerdings der Phantasie des D i c h t e r s anvertrauen, nicht die U t o p i e n in die Realität herabziehen. Interessiert's j u n g e L e u t e , so f r a g e n die Intendanten, D r a m a t u r g e n , R e g i s s e u r e , Schauspieler immer wieder, w e n n eine K l a s s i k e r i n s z e n i e r u n g angesetzt ist. D i e F r a g e ist berechtigt, w e n n die Zittauer z. B . darauf verwiesen, daß ihr P u b l i k u m f a s t zur H ä l f t e aus B ü r g e r n bis achtzehn und d a n n meist aus über f ü n f z i g j ä h r i g e n besteht, w ä h r e n d die p r o d u k t i o n s b e s t i m m e n d e n Schichten einen relativ kleinen Teil im Theatersaal a u s m a c h e n . D i e s e s „ G e f ä l l e " , das viele Stadttheater kennen, macht K l a s s i k e r i n s z e n i e r u n g e n vielleicht b e s o n d e r s schwierig. F ü r w e n , wie soll m a n inszenieren? Realistisch, erlebniskräftig, geistig a n s p r u c h s v o l l — d a s ist richtig. A b e r e s bleibt die F r a g e nach den A u f n a h m e f ä h i g k e i t e n u n d -fertigkeiten junger Z u s c h a u e r . I m m e r mehr Theater und auch P ä d a g o g e n halten, a n s p r u c h s v o l l e klassische W e r k e generell a b achter K l a s s e f ü r geeignet. Ihr B e m ü h e n u m künstlerische E r z i e h u n g ist aller E h r e n wert. A b e r kann es sein B e w e n d e n h a b e n mit der „ D e l e g i e r u n g " der Schülcr zu den Vorstellung e n ? Z u m a l angesichts der erfreulichen T a t s a c h e , daß nicht mehr nur G r u p p e n künstlerisch b e s o n d e r s interessierter K i n der u n d J u g e n d l i c h e r , s o n d e r n ganze K l a s s e n auf Theater abonniert sind. D a werden außerordentlich differenzierte E r f a h r u n g e n und E r w a r t u n g e n eingebracht, die nicht jedes Stück, auch in ausgezeichneter Interpretation, „ a u t o m a t i s c h " stör u n g s f r e i zu erfüllen v e r m a g . Z u klären sind F r a g e n der P ä d a g o g i k u n d der J u g e n d s o z i o l o g i e : G e h t Othello f ü r Dreizehn- bis V i e r z e h n j ä h r i g e ? Wie m ü s s e n Schüler vorbereitet w e r d e n (und zwar k o n k r e t f ü r jedes Stück, ja jede Inszenierung) — v o r allem auf u n g e w o h n t e historische, nationale, e m o t i o n a l e E r l e b n i s s e (zumal im Pubertätsalter). U n d der L ö s u n g b e d ü r f e n kulturpolitische und organisatorische P r o b l e m e : stärkere T e i l n a h m e der Lehrerkollektive (ja v o n E l t e r n u n d Mitgliedern der Patenbrigaden) an S c h ü l e r v o r s t e l l u n g e n ; „ M i s c h u n g " v o n E r w a c h s e n e n - u n d K i n d e r p u b l i k u m ü b e r h a u p t — g e r a d e bei Klassikerinszenierungen.
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Shakespeare: Hamlet (Städtische Theater Leipzig; 1971 — Regie Karl Kayser) 6 5
Mit den Worten „Oh, schmölze doch dies allzufeste Fleisch", nicht mit der Wachszene, beginnt die Aufführung, nachdem sich die Schauspieler, die dann die Gestalten der Hofwelt verkörpern werden, zu einem lebenden Bild — Gelage — formiert haben, durch das hindurch der Dänenprinz zur Rampe läuft. Hamlets Klage.über die dänischen Zustände wird begleitet von einer Bacchanal-Pantomime, zu der sich das Tableau im Hintergrund an besonders prägnanten Textstellen entwickelt: Genau auf die zornigen Worte über „das ganze Treiben dieser Welt" produziert sich Gertrud als das lüsterne Weib, das sich an der brutalen Vitalität des Claudius bedenkenlos berauscht. Dieser Auftakt bereits verweist auf eine interessante Intention des Regisseurs Karl Kayser. Dem dichterischen Text als eine wesentliche Ausdrucksform der klassischen Werke in seiner langjährigen Praxis besonders eng verbunden, hatte er stets auch der szenischen Erscheinung, in letzter Zeit (z. B. in der Inszenierung der beiden Faust-Teile von 1965) dem Schauwert einer Aufführung große1 Bedeutung beigemessen und sich' (etwa in der Hornburg-Inszenierung von 1969) vor Textveränderungen — einem entscheidenden Strich über die abschließende Traumvision - nicht gescheut. Mit dem Hamlet scheint mir jedoch eine auffällig neue Stufe der eigenständigen Auseinandersetzung mit klassischen Texten beschritten zu sein, die nicht zuletzt Versuche anderer Regisseure unserer Republik verarbeitet. Einen neuen Stückbeginn sahen wir bereits bei den Käubern in der Berliner Volksbühne und in Karl-MarxStadt.6®* Der Einsatz die Theaterrealität betonender Mittel ist nicht nur von Besson kräftig ausprobiert worden; hier jetzt findet die Anfangspantomime (auch durch die Mitarbeit des Pantomimen Gerd Glänze) mannigfache Entsprechung: in einer mit L'mbauarbeiten verbundenen burlesk-gruseligen Zwischenaktpantomime vor der Totengräberszene etwa; in verschiedenen das Geschehen verdoppelnden oder die Ge- • schichte ergänzenden „ Schattenspielen" hinter der transparenten kastenförmigen „marmornen" Bühnendekoration Falk 136
von Wangelins (z. B. erleben wir auf diese Weise den Tod Ophelias, bis ins Detail den späteren Bericht darüber vorwegnehmend); in der umfänglichen Schauspielerpantomime der „Mausefalle", die vielfältig maskierte und geschminkte „Typen" gestenreich agieren läßt, ein „Zitat" fast von theatralischen Mitteln, die an anderen Bühnen die Spielweise mancher Stücke prinzipiell bestimmen. Und schließlich wird eine akzentuierte Kritik der Fortinbras-Figur unterstützt, indem die Schlußworte des Norwegerkönigs — wie in Wolfgang Heinz' Berliner Inszenierung67 — an Horatio übergeben werden. Die Freizügigkeiten gegenüber dem Text, der auffällige Einsatz von Schauelementen schaffen jedoch bei allen Ähnlichkeiten mit anderen Versuchen das unverwechselbare Gesicht einer Kayser-Inszenierung. Sie verbindet einen hohen geistig-philosophischen Anspruch mit sinnenkräftiger äußerer Erscheinungsweise; die szenischen Arrangements wirken zum Teil nach Gesetzen der bildenden Kunst geformt. Zugrunde liegt eine bedeutsame politische — keineswegs nur auf Hamlet bezogene — Konzeption: Die Konfrontation zwischen einer zutiefst menschenunwürdigen, doch ernsthaft-gefährlichen Reaktion und einer humanistischen Alternative, die jedoch den Gedanken einer Neueinrichtung der Welt mit der revolutionären Tat noch nicht zu vereinen mag,| aber diesen Auftrag und mit ihm die kritische Sympathie für Hamlet ins Publikum trägt. Dabei wird der Spielort „Theater" nicht verleugnet: Ein kleines Podest im Hintergrund und eine rote Bank auf der Szene sind die einzigen ständig vorhandenen und genutzten Dekorationselemente (hier ist mancher Anklang an Kaysers Faust-Bühne), während die Innenräume durch variabel herabgelassene Gobelins gebildet werden. Würde, Schönheit, Phantasiefülle helfen einen beeindruckenden Theaterabend formen, der vom Leipziger Publikum offenbar außerordentlich geschätzt wird. Der herzlich-überzeugende Beifall einer Repertoirevorstellung bewies das. Hauptursache des Erfolgs scheinen mir jedoch weniger die „sensationellen" Veränderungen und Ergänzungen zum Stück (auf deren Problematiken ich noch zu sprechen komme) als jene Entdeckungen, die Kayser in der Geschichte selbst machte. 137
Solche Gewinne sehe ich in einer Reihe aufschlußreichet Figurenkonzeptionen und -konstellationen. So die konsequente Polarisierung zwischen Hof und humanistischer Gegenwelt. In die Front der Herren und Vasallen (in kostbaren Renaissancekostümen mit Spitzenkrause, Perlen- und Federbesatz) bleibt auch Ophelia — als tragische, am Übel unbeteiligte, aber sich nicht von ihm distanzierende Figur — eingeschlossen. Astrid Bless spielt sie mit elegischer Eleganz, ohne Wahnsinnswildheit, wobei einige Situationen — z. B. das Valentinslied, auf dem Boden liegend gesungen — eher auffällig als aussageintensiv wirken. Der humanistischen Alternative ist neben Hamlet und den Volksfiguren (Wachen, Totengräber) Horatio ganz deutlich zugeordnet. Schöne Möglichkeiten sind gefunden, um in den wenigen Textpassagen und im stummen Spiel den Freund zum Verbündeten zu machen. Hier wird, in der Gestaltung durch Gert Gütschow, der Stichwortgeber zur lebendigen dramatischen Figur; gestützt auf ganz „einfache" schauspielerische Mittel — sei es das wache Hinhören auf Hamlet, die immer wieder produzierte Haltung des Einverständnisses, der Ermutigung oder auch die klare, saubere Sprache. Allerdings scheint mir diese schöne Entdeckung an der Figur überfordert, wenn Horatio sozusagen zum Vollstrecker der Hamletschen Erkenntnis wird. Dafür ist der Gestalt von Shakespeare zu wenig an eigener Aktivität gegeben. Und wenn am Ende Fortinbras' „Recht an dieses Reich" als Usurpatorforderung gespielt ist und Horatio den Schlußtext von dem, der „wär' er hinaufgelangt, unfehlbar sich höchst königlich bewährt" hätte, als eine Zurückweisung dieses Anspruchs nutzen möchte, wozu der Norweger schweigt und still verharrt, will sich für mich keine rechte Logik des Vorgangs einstellen. Diese klaren Frontmarkierungen werden durch ein zweites Bemühen unterstützt. Die Höflingsfiguren sind sehr ernst genommen: Wolf Goette zeigt keinen alterstrotteligen Polonius, sondern einen nicht besonders intelligenten, aber geschickten Opportunisten, vor dem man sich hüten möchte. Auch Rosenkranz und Güldenstern — Siegfried Worch und Roland Holz — sind alles andere als Hanswurste. Am einprägsamsten gelingt Georg Solga die Osrick-Studie. Nicht auf 138
einen aufgeblasenen Neureich trifft Hamlet hier, sondern auf einen selbstbewußten Politiker, der u. a. darum kämpft, die Mütze nach seinem Willen zu tragen — und sich durchsetzt, Hamlet damit seiner letzten „närrischen Rechte" beraubt, der nun in einem verbitterten Lauf im Karree die neuerliche Erkenntnis, vogelfrei zu sein, verarbeiten muß. Demgegenüber blieb Eberhard Strauß als Laertesdurchschnittlich, der dümmliche Sohn aus gutem Hause. Allerdings hatte ich auch den Eindruck, als wenn die Szenen Laertes — Claudius im vierten Akt in den Proben etwas zu kurz gekommen seien, von beiden Partnern hier ein bißchen vom Blatt gespielt wurde, wie überhaupt die Meuterei des Laertes und ihr Zerfall zu selbstverständlich-beiläufig gezeigt ist. Und schließlich werden die inneren Widersprüche der Hofwelt fabelbestimmendes Moment, indem vor allem der Konflikt der Königin deutlich herausgespielt ist. Christa Gottschalk spielt den Prozeß der Ernüchterung dieser Gertrud, die als ein lebenshungriges und mitschuldig gewordenes Weib sozusagen „naiv" in die Handlung eintritt und Schritt für Schritt das Verbrechen, das auch in ihrem Namen begangen wird, begreift. Sie beginnt zu erkennen, wie sehr Claudius' Liebe, der Angelpunkt ihrer engen Wünsche, egoistischer Herrschsucht untergeordnet ist. Wenn Claudius, bei der Bespitzelung Hamlets mit Hilfe von Ophelia und Polonius seine Frau demonstrativ wegschickt, beobachtet man den ersten Gestus des Erstaunens bei Gertrud. Nach der Szene mit Hamlet, die der Prinz zu einem großen Ringen um und mit der Mutter macht, erscheint sie tief verzweifelt,'aufgelöst, gealtert fast vor dem König, von dem sie wenig später — im Gespräch mit Laertes — erneut aus den politischen Geschäften ausgeschlossen wird. Jetzt reagiert sie bereits weit kritischer, distanzierter, so daß Claudius durch eine beiläufige Umarmung zumindest die Frau wieder an sich zu binden versucht. Der Trunk des Giftbechers wird — als habe sie Claudius' Spiel bereits durchschaut — zu einem bewußten Affront gegen den König. Bekenntnis zu Hamlet, Selbstmord! In diesem interessanten Durchforschen vieler Figurenbiographien liegt eine der schönsten Leistungen der Inszenierung. So entstehen echte dramatische Handlungen, die klare 139
Fabeldarlegungen liefern. Etwa in der ersten Hofszene: wenn Claudius mit großem Anspruch die Staatsgeschäfte regelt, den Fall Hamlet bewußt an die letzte Stelle rückend (auffällig nicht zuletzt deshalb, weil der Prinz immer wieder in den Gesichtskreis des K ö n i g s tritt — und „übersehen" wird); wenn die Entscheidung über die Rückkehr nach Wittenberg zu einem großen K a m p f wird, mit scharf gegeneinandergesetzten Reden geführt und indem der K ö n i g zufällig-bewußt den Prinzen zwischen sich und die Königin zu bringen weiß, so daß dessen abruptes, die königlichen „Wünsche" zurückweisendes Abdrehen v o m Diskussionspartner ihn der Mutter und ihren Bitten nahezu hilflos ausliefert. Solch intensiver dramatischer Grundton bestimmt jedoch nicht durchgängig die Inszenierung. Öfter tritt die markant in die Szene gestellte Sentenz an die Stelle von fabelbestimmenden Handlungen. Besonders fällt das bei Günter Grabbert als Claudius auf, der seiner wirkungskräftigen persönlichen Ausstrahlung manchmal mehr vertraut, als daß er sie durch szenisches Handeln organisiert, bei dem angelegte bedeutsame Aktionsmomente neben recht allgemeinen Haltungen eines seine Jovialität langsam, aber nie ganz verlierenden Tyrannen stehen. Überhaupt gewann ich den Eindruck, als wenn in dieser Inszenierung zwei Momente im Widerspruch lägen. Auf der einen Seite war eine klare Grundkonzeption im eingangs markierten Sinne ablesbar. Andererseits wurden zusätzliche Bedeutungsakzente gesetzt, die sich neben, ja vor die Inszenierungsidee stellten, sie — ebenso wie einige zu allgemeine Handlungsvorgänge — teilweise sogar paralysierten. Ein besonders deutlicher Ausdruck solcher Erschwernisse, die sich die Inszenierung selbst schuf, war die Behandlung der Geistererscheinung. Während Gerd Glänze als „ G e s p e n s t " pantomimisch über die Bühne gleitet, wird Erich Gerberding (der dann auch — die Frage nach dem tieferen Sinn provozierend — den ersten Schauspieler verkörpert) als Sprecher im Straßenanzug ans Bühnenportal gestellt, um den Text des Geists zu interpretieren. (Übrigens, wie auch später als Schauspieler: sprachlich verwaschen, gaumig!) Wer nicht ratlos bleibt, wie ich, ob dieser auffälligen Besonderheit, wer die Absicht der 140
Regie erfaßt, daß hiermit eine „gesellschaftliche Auftraggeberschaft" zum Ausdruck gebracht werden soll, wird sich neue Fragen stellen: Ist es der Geist mit seiner Racheforderung, der so etwas wie einen gesellschaftlichen Auftrag formuliert, oder nicht Hamlet selbst mit seiner erschrocken erkannten Aufgabe, die Welt (neu) einzurichten? An einer solchen Stelle erscheint mir der Zugang zu den Vorgängen und ihrer Bedeutung zerstört, das konzeptionelle Grundanliegen eines Einfalls willen vergessen. Das betrifft meines Erachtens auch solche Punkte, wo eine szenische Attraktion mehr Konzentration auf Probleme ihrer Logik als auf den Sinn der Szene (ja, des Textes) lenkt — was zu befördern ja eigentlich ihre Aufgabe wäre. Die durch Dänemark ziehenden Krieger des Fortinbras marschieren (teils real, teils auf dem „Schattenrißhintergrund") pantomimisch auf den Zuschauerraum zu; Hamlet und seine Begleiter laufen — gleichfalls pantomimisch — in einer Vertikale von rechts hinten nach links vorn. Für einen sachlich beobachtenden Zeitgenossen ergeben sich Fragen zum Realitätsgehalt des technischen Vorgangs, etwa: W o treffen sich diese beiden Gruppen? Laufen sie aneinander vorbei? Weshalb geschieht keines von beidem? Wenn Kunstwirklichkeit und Realität auf solche Weise divergieren, bleibt zu wenig Möglichkeit, den Gehalt der Szene zu erfassen. Im Gedächtnis bleibt durch die Ausstellung eines stupiden militärischen Zeremoniells die Position des Fortinbras (das ist wichtig für die Akzentgebung des Leipziger Stückschlusses) ; kaum nachvollziehbar wird die Bedeutung dieser Begegnung für Hamlet. Hier allerdings — und damit kommen wir wieder auf einen der Aktivposten der Inszenierung — leistet ein Schauspieler Wesentliches, um in seiner Figurengestalt über die Probleme der Aufführung hinweg den zentralen Konflikt des Stücks immer aufs neue und eindrucksstark über die Rampe zu bringen: Friedhelm Eberle als Hamlet. Sein Hauptanliegen ist es nicht allein, die ideeliche Nähe dieses sensiblen und mutigen, problembeladenen Hamlet für uns zu zeigen wie Jürgen Hentsch in der Karl-Marx-Städter Aufführung von 1964 (obwohl uns das hohe Verantwortungsbewußtsein und die ständige Agilität des Eberleschen Hamlet heutig berühren). Und er zielt nicht darauf, dessen Zaudern als eine gesellschaftlich 141
bedingte „Schuld" gewissermaßen warnend vorzuführen wie Horst Drinda in der Inszenierung des Deutschen Theaters (gleichfalls 1964). Er spielt die tiefe Widersprüchlichkeit der V o r g ä n g e , in die sich Hamlet gestellt sieht oder die er zu organisieren versucht (und ist deshalb in den Ensembleszenen sicherer als in den Monologen). Vor allem die Umschwünge zwischen großer Warmherzigkeit, wachem Scharfsinn, harter Konsequenz einerseits (die ich noch nie in so einfacher, fast alltäglicher Deutlichkeit gesehen habe), dem ganz bewußt und glänzend eingesetzten Wahnsinnsspiel andererseits sowie echtem Außersichsein, wenn Ereignisse oder Emotionen ihn überwältigen — das sind die Punkte, an denen sich das schauspielerische Handeln Eberles entzündet. Die konkreten Szenenverläufe werden so außerordentlich verständlich, aber nie demonstriert. Damit hilft er die Sympathie für diese Figur, ihre Größe, ihre Vorbildhaftigkeit im Bewahren, Bereithalten und Erproben humanistischer Werte und Ideale organisieren und zugleich die Einsicht in seine historischen Grenzen wecken. Schade, daß diese souveräne, nichts mystifizierende oder unnötig verkomplizierende Rollengestaltung durch eine den Vers bewußt zerstörende (besondere Sinngebung vermuten, aber nicht erkennbar werden lassende) Sprechweise wiederum in dem vorhin genannten Sinne von der Konzeption ablenken würde — wenn das durch Eberles überzeugende Gesamtgestaltung nicht als eine bloß peinliche Marotte erschiene. So bietet die Leipziger H
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