Die Schauspieltheater der DDR und das Erbe, (1970–1974): Positionen, Debatten, Kritiken [Reprint 2021 ed.] 9783112471883, 9783112471876


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German Pages 264 Year 1977

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Die Schauspieltheater der DDR und das Erbe, (1970–1974): Positionen, Debatten, Kritiken [Reprint 2021 ed.]
 9783112471883, 9783112471876

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Die Schauspieltheater der DDR und das Erbe (1970-1974)

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Die Schauspieltheater der DDR und das Erbe (1970-1974) Positionen - Debatten - Kritiken

eingeleitet und herausgegeben von Manfred Nössig

Akademie-Verlag • Berlin

1976

Mit Beiträgen von: Hendrik Arnst Gisela Begrich/Werner Freese Christoph Funke Michael Hamburger Gert Jurgons Martin Linzer Manfred Nössig Liane Pfelling Klaus Pfützner Ursula Püschel Anselm Schlösset Manfred Starke

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag, Berlin, 1976 Lizenznummer: 202 • 100/246/76 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4621 Bestellnummer: 752 877 7(2150/38) • LSV 8403 Printed in G D R E V P 8,50

Inhalt

Einleitung: Ererben und Erwerben (Manfred Nössig)

7

Dispute und Rezensionen Zwei Debatten

49

Etwas über Maßstäbe (Manfred Nössig, Michael Hamburger, Hendrik Arnst, Ursula Püschel, Klaus Pfützner, Christoph Funke)

49

Viermal „Hamlet" und viele Fragen offen (Liane Pfelling, Martin Linzer, Gert Jurgons, Gisela Begrich/ Werner Freese, Anselm Schlösser, Michael Hamburger, Manfred Nössig)

72

Kritiken und Aufsätze (Manfred Nössig)

99

Goethe: Faust I — Halle 99 Schiller: Die Räuber - Volksbühne Berlin 109 Goethe: Vrfaust — Annaberg, Eisenach, Greifswald 115 Schiller: Wallenstein-Trilogie — Leipzig 122 Klassiker am Stadttheater (Goethe: Egmont — Görlitz/Zittau, Schiller : Die Räuber— Frankfurt/Oder, Shakespeare : Maßfür Maß — Bautzen, Shakespeare: Othello — Stendal) 128 Shakespeare: Hamlet — Leipzig 136 Shakespeare : Hamlet — Weimar 142 Shakespeare: Othello — Stendal 144 Shakespeare: Othello — Weimar 147 Ibsen: John Gabriel borkmann — Dresden Ibsen: Die Wildente - Volksbühne Berlin Strindberg: Erik XIV. — Maxim Gorki Theater Berlin

5

. . .

150 153 158

Gorki: Nachtasyl — Halle . G o r k i : 'Barbaren — Maxim Gorki Theater Berlin Über den Umgang mit Brecht-Stücken {liehen des Galilei — Landesbühnen Sachsen, Der gute Mensch von Se^uan — Karl-Marx-Stadt, Der Kaukasische Kreidekreis — Wittenberg) Brecht: Der gute Mensch von Se^uan — Volksbühne Berlin . . . . Brecht: Herr Puntila und sein Knecht Matti — Dresden, Gera . . . Brecht: Turandot oder Der Kongreß der Weißiväscber — Berliner Ensemble Brecht: Die Mutter — Berliner Ensemble

162 167

173 182 184 190 196

Anhang Abkürzungen Anmerkungen Werke des Erbes im Repertoire — Eine Statistik (Manfred Nössig) Chronik und Bibliographie zur Erbe-Debatte 1970-1974 . . . . (Manfred Starke) Personen- und Werkregister

201 202 211 235 256

Einleitung

Ererben und Erwerben I „Was du ererbt von deinen Vätern hast, / Erwirb es, um es zu besitzen." 1 meint Faust im Angesicht des Urväter-Hausrats in seiner Studierstube. Damit beschreibt er eines der allgemeinsten, grundlegenden Probleme des Menschengeschlechts: Wie sind die überkommenen Erfahrungen, Kenntnisse, Leistungen der Generationen vor uns aufzuheben und zu nutzen, damit sie der sich ständig verändernden gesellschaftlichen Wirklichkeit und den von ihr gestellten Aufgaben entsprechen? Man kann diese Frage von ihrer umfassenden theoretischen Bedeutung her zu beantworten versuchen. Für die einzelnen Wirklichkeits- und Lebensbereiche, besonders für das Kunst-, speziell für das Theaterschaffen bieten sich dann allerdings bei der praktischen Auslegung und Anwendung vielfältige Probleme, auch Versteckwinkel. Das ist vor allem der Fall, wenn — wie in den letzten Jahren — neue Überlegungen für den Umgang mit dem dramatischen Erbe auf dem Theater gefordert sind und angeboten werden. Hier wird versucht, diesen Prozeß induktiv zu verfolgen, d. h. die reale Kunstpraxis der Erbe-Rezeption im Schauspieltheater der DDR am Beginn der siebziger Jahre zu belegen. Die Darstellung von Repertoirestrukturen und Diskussionsstandpunkten, die Beschreibung von Inszenierungsergebnissen und auffälligen Entwicklungstendenzen sind gewissermaßen die Grundlage, von der aus Standpunkte bezogen, Urteile angeboten werden. Die angestrebte Darstellungsmethode geht von der Prämisse aus, daß der Marxismus das souveränste weltanschaulichmethodische Konzept für den Umgang mit dem in Jahrtausenden entstandenen Fundus menschlicher Schöpferkraft 7

vorgelegt hat. Er liefert damit auch die entscheidende Alternative zum spätbürgerlichen Akademismus, Schlendrian und Modernismus auf dem Gebiet der Bewältigung des literarischen Erbes — den gegenwärtigen Hauptformen bourgeoiser „Lösungsversuche" . dieses wichtigen Problemkomplexes. Demgegenüber plädiert der Marxismus für „eine genaue Kenntnis der durch die gesamte Entwicklung der Menschheit geschaffenen Kultur" 2 und versteht die sozialistische Kultur als die „Entwicklung der besten Vorbilder, Traditionen und Ergebnisse der bestehenden Kultur vom Standpunkt der marxistischen Weltanschauung und der Lebensund Kampfbedingungen des Proletariats" 3_. Die Betonung des Maßstabs der marxistischen Weltanschauung und der konkreten Lebens- und Kampfbedingungen der Arbeiterklasse durch Lenin ist dabei ebenso bedeutsam wie dessen Verteidigung des bleibenden Werts der in der Klassengesellschaft entstandenen kulturellen Leistungen. In dieser Dialektik von Aufbewahrung und aktuellem, durch die konkreten Kampfbedingungen bestimmtem Gebrauch liegt die marxistischleninistische Auffassung vom Ererben und Erwerben begründet. Es ist dies eine dynamische Methode, die nichts mit dem Erbrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu tun hat. Da gilt weder die Einschüchterung durch angemaßte Besitzrechte jener Klassen, denen die Schöpfer dieser Werke dereinst angehörten, noch der Zwang, mit den geistigen Werten auch die geistigen Bankrotte zu übernehmen. Die Aneignung des kulturellen und künstlerischen Erbes der Vergangenheit folgt deshalb auch keinem ästhetisierenden Regelbuch. Sie muß im Klassenkampf und beim Aufbau des Sozialismus und Kommunismus in jeder Phase, auf den gewonnenen Erfahrungen aufbauend, ständig neu erarbeitet werden. Nichts steht einem Sozialisten weniger an als Hochmut gegenüber vergangenen, aber auch gegenwärtigen Versuchen, sich an diese Dialektik entsprechend der politischen Gesamtstrategie, unter ganz konkreten Kampfbedingungen heranzuarbeiten. Ließe man dies unberücksichtigt, wäre es einfach, vielen sozialistischen Künstlern unverzeihliche Verstöße gegen marxistische Grundsätze nachzuweisen. Friedrich Wolf etwa, der 1926/28 in einer Zeit tief8

sten Arbeiterelends meinte, daß es „heute wichtigere Dinge gibt als den Konflikt der Königinnen Elisabeth und Maria Stuart, als Wallensteins Tod oder Iphigeniens Sehnsucht nach Griechenland" 4 ; oder Sergej Tretjakow, der 1931 angesichts der lebensentscheidenden Kämpfe gegen das Kulakentum und seine Ideologie in der Sowjetunion heftig „mit dem Zauber der Adelsnester, Herrenhöfe, philosophierenden Landedelleute und entzückenden Gutsfräulein" in den Werken Tolstois und Turgenjews polemisiert und befürchtet, daß „jene gottseligen Menschen aus den Erzählungen Dostojewskis, Leskows und Ostrowskis [. . .] den Geist unwissender Bäuerinnen" verwirren 3 ; auch den deutschen Theaterschaffenden, die in den fünfziger Jahren relativ einseitig politische Auslegungen der Vorgänge in klassischen Schauspielen vermittelten. Wolf und Tretjakow waren dabei übrigens nie traditionslos. Sie orientierten auf auch von der Arbeiterbewegung noch zu wenig beachtete andere, plebejische und frühsozialistische, künstlerische Überlieferungen. Ihre Eingrenzungen des Erbefonds verengten zeitweilig das kulturelle Kampffeld, aber sie führten erst dann zu grundlegenden theoretischen Irrtümern, wenn sie über die konkrete Situation, in der sie gemacht wurden, hinaus eine Verallgemeinerung erfuhren oder eine solche davon abgeleitet wurde. Die marxistisch-leninistische Grundauffassung vom humanistischen Kultur- und Kunsterbe als eine der unveräußerlichen Quellen und Bestandteile der sozialistischen Kunst und Kultur beweist ihre Richtigkeit und Produktivität gerade im Prozeß der Vorbereitung und Durchführung der sozialistischen Revolution sowie beim Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung. Die Erfahrungen der Sowjetunion, die Einheits- und Volksfrontpolitik der III. Internationale, die Durchsetzung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz durch die im Gefolge des zweiten Weltkriegs entstandene sozialistische Staatengemeinschaft und die Errichtung der entwickelten sozialistischen Gesellschaftsordnung in diesen Ländern selbst haben die Grundthese von der Bedeutung des humanistischen Kulturerbes der Vergangenheit für die Periode des siegreichen Sozialismus nur erhärtet, dem humanistischen Erbe und seinem schöpferischen Erwerb eine steigende Bedeutung zukommen lassen. 9

Das stellt auch die in der D D R praktizierte Beziehung zur kulturellen Tradition unter Beweis. Die Entwicklung der Künste in unserem Land ist ohne die schöpferische Anwendung der marxistisch-leninistischen Erbe-Theorie nicht denkbar. Nach der Zerschlagung des Faschismus bildete das humanistische, vor allem das nationale und internationale klassische Kunsterbe eine außerordentlich wichtige, man kann sagen die entscheidende Grundlage für den Aufbau einer antifaschistischdemokratischen Kultur, aus der sich unsere sozialistische Nationalkultur entwickelte. Über die Erforschung und Aneignung der humanistischen Traditionen vollzog sich in der Folgezeit sehr wesentlich die Entdeckung und das Verständnis der politisch-sozialen Inhalte des Kunstschaffens. In der Periode nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse in der D D R , also in den sechziger Jahren, führte da? Ringen um die künstlerische Gestaltung der neuen Wirklichkeit und der sie gestaltenden Menschen zeitweilig und teilweise zu einer kontemplativeren Haltung gegenüber dem Erbe. E s wurde nicht selten nur oder doch zumindest vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Antizipation, der Vorausnahme jetzt sich praktisch realisierender Ideale betrachtet. Übertriebene Harmonievorstellungen, auf die Gegenwart bezogen, unterstützten diesen Trend und eine Praxis, die das bürgerliche Ideal mit dem sozialistischen linear gleichsetzte, dieses n u r als die Verwirklichung von jenem betrachtete. In den letzten Jahren, beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft unter den Bedingungen der sich verstärkt durchsetzenden Prinzipien der friedlichen Koexistenz und der wachsenden Schärfe der ideologischen Klassenauseinandersetzungen im internationalen Maßstab erhält das humanistische Kulturerbe neue wichtige Funktionen. Der VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 1971 hat durch seine schöpferischen kulturpolitischen Maximen entscheidenden Anteil daran, daß verstärkt ein neuer Verständigungsprozeß über Bedeutung und Funktion des Kunsterbes als eines Quells des sozialistischen Gegenwartsschaffens und als Gegenstand aktueller Rezeption einsetzte. Die bibliographische Dokumentation am Ende dieses Bandes vermittelt einen Eindruck von den vielfältigen wissenschaftlichen Aktivitäten auf diesem Gebiet und den dabei dis10

puderten neuen Anforderungen. Die gegenwärtige praktische und theoretische Arbeit mit dem Kulturerbe unter den neuen Lebens- und Kampfbedingungen des Proletariats und seiner Verbündeten sammelt Erfahrungen für die siebziger und achtziger Jahre. Dieser Prozeß vollzieht sich keineswegs national isoliert. Im Gegenteil: Die theoretischen Überlegungen und die praktischen Versuche auf diesem Gebiet, wie sie sich gegenwärtig in der D D R vollziehen, sind vielfältig angeregt und laufen parallel zu prinzipiell gleichorientierten Bestrebungen in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern sowie bei progressiven Künstlern in den imperialistischen und in den jungen Nationalstaaten. Von vielen Seiten aus also erfolgt das Heranarbeiten an die neuen Gesetzmäßigkeiten der Erbe-Aneignung und deren Variationsbreite. In einer solchen Situation kann der Versuch einer Bilanz und Analyse der Leistungen unserer Theater bei der Rezeption und Vermittlung des Erbes ein Teil des notwendigen Erfahrungsaustauschs sein.

II Die Aufgaben des Theaters und derjenigen, die es machen oder sich unmittelbar mit seiner Praxis beschäftigen, sind auf ihre Art schwieriger als die der allgemeinen Erbe-Theorie oder der speziellen Literaturwissenschaft. E s geht hier nicht in erster Linie um allgemeinste marxistische Grundsätze des Erbens und Erwerbens künstlerischer Werke der Vergangenheit, sondern um ganz konkrete dramatische Texte. Und der Schaubühne ist der gesamte „Apparat" der wissenschaftlichen Erläuterung verschlossen; ihre Sache ist die Unmittelbarkeit. Ästhetik, Literatur- und Theaterwissenschaft liefern wichtige, für das sozialistische Theaterschaffen unabdingbare Voraussetzungen, die auch auf ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstand noch viel zu wenig genutzt werden. Aber sie helfen dem Theaterpraktiker nur bedingt über die besonderen Klippen seines Metiers hinweg, beispielsweise in der Geschichte des Prinzen von Homburg eine humanistische Position in den politischen und geistigen Kämpfen der Befreiungskriege am Beginn des 19. Jahr11

hunderts darzustellen. Die Methode des theatralischen Historisierens ist nicht gleichzusetzen mit der Vermittlung für das Fabelverständnis wichtigen Geschichtswissens. Viele gute literaturwissenschaftliche Analysen dramatischer Werke, die dem Leser neue Einblicke und Assoziationen durch eine historisch-kritische Lektüre ermöglichen, verschließen sich einer theatralischen Umsetzung. Der Theaterabend ist, auch beim Erbestück, stets unmittelbare Gegenwart. Er wird vom aufgeschlossenen Zuschauer, der kein allgemeines Bildungserlebnis erwartet — auf welche Art „verfremdet" auch immer —, als ein Teil s e i n e r Lebenspraxis rezipiert. Ja, gerade die bewußte Deutung, parteiliche Sinngebung der dramatischen Vorlage durch die Inszenierung ist, um Langeweile oder falsche Assoziation auszuschließen, auf das historische Bewußtsein urld die ästhetische Bildung des Zuschauers verwiesen. Das Theater steht also wie alle darstellenden und interpretierenden Künste, insbesondere bei Werken des Erbes gewissermaßen zwischen der Kunstwissenschaft, die das Werk bereits weitgehend für uns aneignet, und dem Bildersaal, der das Original völlig unkommentiert vorstellt. Das verlangt von den Theaterkünstlern einen hohen Grad schöpferischer Kraft zur Verwirklichung einer marxistischen Haltung zum Erbe, das ihnen stets in Form eines konkreten Werkes, seiner Größe und seiner Widersprüche entgegentritt. Und da zugleich jede Inszenierung, letztlich jede einzelne Aufführung, ein relativ selbständiges Kunstwerk ist, realisiert sich in ihr auch in einem hohen Maß die Subjektivität des Regisseurs und der Darsteller. Ja, die unverwechselbare Sicht auf das alte Stück macht ihre Arbeit überhaupt erst zu einer künstlerischen; Handwerk, Technik ist nur, allerdings unerläßliche Voraussetzung. So erscheint oft eine größere Vorsicht als bei der Einschätzung wissenschaftlich-theoretischer Positionen geboten, wenn es darum geht, „Richtungen" voneinander abzugrenzen und aus ihnen weltanschauliche Positionen abzuleiten. Jede Kunst, und die des Theaters auch bei ihrem Bemühen um die Aufführungen von Werken des Erbes, braucht einen gewissen Experimentier- und Spielraum, um nicht nur die künstlerische Eigenart des Subjekts, sondern auch ihre weltanschauliche Qualität auszuprägen. Und da „die Bühne und der Saal, die 12

Schauspieler und die Zuschauer erst ein G a n z e s " 6 machen, ist das künstlerisch-theatralische Experiment in vielen Fällen auch nicht von der Probebühne her zu beurteilen. D a s bedeutet keine Nachsicht gegenüber abwegigen Konzeptionen und keinen Verzicht auf notwendige Fragen an jedes Kunstwerk. Aber es erfordert feinfühliges, differenziertes Herangehen, verbietet vorschnelles, vor allem ideologisches Abstempeln — ob nun mit einem Qualitäts- oder Makelzeichen. D a s Feld der Versuche bei der praktischen Aneignung des Erbes in unserem Theater ist so breit und offen, daß jedes Festschreiben von Schaden wäre. Weite und Vielfalt und ständige Entwicklung sozialistischer Positionen bei der Interpretation und Rezeption des dramatischen Erbes sind grundlegende Gesetzmäßigkeiten dieses schöpferischen Prozesses. Allgemeine Konzilianz und allgemeine Skepsis sind gleich schädlich. Entscheidend, so wollen die vorangestellten Bemerkungen betonen, ist die exakte Untersuchung und Einschätzung der konkreten künstlerischen Leistungen bei der Erbe-Rezeption. Deshalb wurden im Hauptteil dieses Bandes Rezensionen zusammengestellt, die einige dieser Inszenierungen aus den Jahren 1970 bis 1974 reflektieren. Allerdings, und dieser Hinweis ist wichtig, trägt dieses K o m p e n d i u m von journalistischen Beschreibungen und Einschätzungen kräftige Z ü g e des Subjektiven und Zufälligen. E s erscheint mir sinnvoll nutzbar nur unter Beachtung dieser Tatsache. Subjektivität ist gegeben, indem Urteile eines Kritikers zusammengestellt sind, die nicht den Anspruch erheben können, in jedem Fall die gesellschaftliche Einschätzung der jeweiligen Produktion, ja nicht einmal die Urteilsfindung der Kritiker zu repräsentieren. E s sind gerade die markantesten Aufführungen, die mehr oder weniger unterschiedliche, zum Teil sogar diametral entgegengesetzte Wertungen durch die Kritik erfahren haben. D a s verweist auf den Prozeß neuer Positionsbestimmungen bei der Herausarbeitung allgemeiner Wertungskriterien für die Erbe-Rezeption unter den Bedingungen der reifen sozialistischen Gesellschaft und des weltweiten ideologischen Klassenkampfes. D i e Kritik arbeitet sich an diese A u f g a b e ebenso heran w i e die Theaterpraxis. E s wäre deshalb eine verdienstvolle andere Arbeit, für einige umstrittene repräsentative 13

Inszenierungen einen Querschnitt von Presse- und Zuschauerurteilen zusammenzutragen und von diesem Material aus zu weiterreichenden Einschätzungen des Standards unserer ErbeRezeption — in Praxis, Kritik und Theorie — zu gelangen. Hier wurde versucht, die Subjektivität der Rezensionen für den Leser durchsichtiger zu machen, indem zwei Dispute im Zusammenhang mit Erbe-Inszenierungen und daraus abgeleiteten kulturpolitischen und theoretischen Problemstellungen an den Anfang der Texte gesetzt wurden. Sie ermöglichen, den Standpunkt des Autors mit anderen Haltungen zum Erbe zu konfrontieren als Lesemaßstab auch für das folgende. Zufälligkeit bei der Zusammenstellung der Texte schließlich ist aus zwei Gründen gegeben. Der erste ist objektiver Natur. Die rund 550 Erbe-Inszenierungen in den Spielzeiten 1970/71 bis 1973/74 konnten unmöglich von einem Menschen gesehen werden, nicht einmal die zehn oder fünfzehn wichtigsten pro Spielzeit — wobei es sicher schon schnell einen Streit darüber gäbe, welche das wären. Der zweite Grund ist subjektiver Art. Der Autor leitete in den Jahren, die hier zur Debatte stehen, die Zeitschrift Theater der Zeit. Die Auswahl der Inszenierungsbesprechungen war deshalb zuerst durch die Redaktionspraxis bestimmt, aicht von dem Ziel, einen möglichst umfassenden Überblick zu Erbe-Inszenierungen durch schriftlich festgehaltene Eindrücke zu geben. Es ist vielleicht der bedauerlichste Mangel dieser Zusammenstellung, daß auf diese Weise markante Inszenierungen nicht eingehend beschrieben und analysiert werden. Das betrifft z. B. O'Caseys Juno und der Pfau (Regie Adolf Dresen) 7 *, Shakespeares Leben und Tod König Riebard des Dritten (Regie Manfred Wekwerth) oder Tschechows Onkel Wanja (Regie Wolfgang Heinz) am Deutschen Theater, die Inszenierungen des Berliner Ensembles von Brechts Im Dickicht der Städte (Regie Ruth Berghaus) und Wedekinds Frühlingserwachen (Regie B. K. Tragelehn und Einar Schleef), Der goldene Elephant von Kopkow (Regie Fritz Marquardt) und Gozzis König Hirsch (Regie Benno Besson) an der Volksbühne Berlin, ebenso eine Reihe wichtiger Versuche der Republiktheatcr von 7 * Als Lesehilfe wurden die Ziffern, die auf weisen, durch einen Stern gekennzeichnet.

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Sachanmerkungen

hin-

Sophokles' Antigone in Karl-Marx-Stadt (Regie Piet Drescher) und Euripides' Medea in Gera (Regie Christian Bleihoeffer) über Shakespeares Wintermäreben in Görlitz/Zittau (Regie Anne Eicke) und Grabbes Napoleon oder Die hundert Tage in Meiningen (Regie Horst Rupprecht) bis zu Wolfs Cjankali in Neustrelitz (Regie Hasso von Lenski und Horst Rehberg) und Nerudas Murieta-Stück in Bautzen (Regie Heinz-Uwe Haus), Berlin (Regie Klaus Erforth und Alexander Stillmark) und Dresden (Regie Hannes Fischer). Die Einleitung wird versuchen, die durch diese Arbeiten gegebenen Anregungen mit zu verarbeiten.

III Wenn über die DDR-Theater und das Erbe gehandelt werden soll, muß man sich darüber verständigen, was als Erbe angesehen wird. Auch in diesem Punkt kann hier keine detaillierte Begründung der getroffenen Entscheidung gegeben werden. Wenn man jedoch vom Leninschen Erbe-Begriff ausgeht, die gesamte Entwicklung der Menschheit in die Erwägung zieht, verbietet sich von vornherein eine zeitliche, stilistische oder geschmackliche Eingrenzung — etwa auf die klassischen Perioden, bestimmte Gestaltungsweisen oder eine gewisse Problemintensität. Ebenso zweifelsfrei ist es von einer solchen Position aus, die sich auf die besten Vorbilder, Traditionen und Ergebnisse stützt, daß unter dem Erbe, das die Arbeiterklasse und die mit ihr verbundenen Volksschichten antreten, kein Sammelsurium künstlerischer Produktionen verstanden werden kann. Humanismus und gesellschaftlicher Fortschritt als Orientierungspunkte der ästhetischen Wirklichkeitsaneignung und Ideenvermittlung, jeweils gemessen an den historischen Voraussetzungen, sind unveräußerbare Voraussetzung. Das bedeutet aber nicht, widerspruchsreiche oder sich nicht sofort als „brauchbar" anbietende Kunstleistungen, etwa aus der Phase der spätbürgerlichen Dramatikentwicklung, als Erbe zu verwerfen. Was heute nicht erschließbar erscheint, kann schon morgen, wenn die sozialistische Gesellschaft und Kunstpraxis einen Zugang dazu ent15

deckt, von großem künstlerischen Reiz sein und wichtige Anregungen vermitteln. Offen für alle, auch verborgene oder partielle geistige und ästhetische Qualitäten in den dramatischen Werken der Vergangenheit, die von tragischen, ernsten, komischen und heiteren Konflikten zwischen Menschen in den Gesellschaftsprozessen von der Sklavenhalterordnung bis zur praktischen Gestaltung des Sozialismus berichten, bietet sich dem sozialistischen Theater ein breites Feld an Ererbens- und Erwerbenswertem. Die unterschiedliche Impulskraft, die dabei einzelnen literarischen Epochen, Strömungen, Autoren und Werken zukommt, die differenzierte Intensität gesellschafts- und persönlichkeitsbereichernder und -aktivierender Möglichkeiten (und hier gibt es in verschiedenen Phasen durchaus Bedeutungswandel), ist kein Koeffizient, der über Annahme oder Ausschluß aus dem Erbefonds entscheidet. Hier wird die Untersuchung der Relation im Repertoire und die Art der Interpretationen Aufschluß über den Reifegrad geben, wie das Theater die vielfältigen Möglichkeiten des dramatischen Erbes zur allseitigen politisch-ästhetischen Bereicherung der Gesellschaft nutzt. Von diesem Standpunkt aus wurden prinzipiell alle jene um die Verteidigung des Humanismus bemühten Autoren und Werke zum Erbe gezählt, die uns von der Antike her bis zur Mitte dieses Jahrhunderts überliefert wurden. Nicht berücksichtigt wurden, um eine Pervertierung und Inflationierung des Erbe-Begriffs zu vermeiden, jene Stücke, die trotz teilweise gesellschaftskritischer Akzente mehr oder weniger dem spätbürgerlichen Unterhaltungstheater zugerechnet werden müssen. Das betrifft die Lustspiele von Arnold und Bach, Schönthan, auch von Curt Goetz, die gelegentlich von DDR-Theatern gespielt wurden. Was den Endpunkt für eine solche Art der Bestimmung des Erbefonds anbelangt, war eine möglichst exakte Entscheidung notwendig. Sie wurde (vor allem für die statistischen Zwecke) dahingehend getroffen, daß die Autoren den Schwerpunkt ihres Schaffens spätestens in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts haben — in der Regel bis zum Ende des zweiten Weltkrieges, also dem Beginn einer neuen Phase des weltrevolutio16

nären Prozesses und der allgemeinen Krise des Imperialismus — und ihr Lebenswerk durch den Tod abgeschlossen ist. Das bedeutet, daß beispielsweise das dramatische Schaffen von Hans J. Rehfisch, Günther Weisenborn oder Jewgenij Schwarz, vor und nach 1945 von vergleichbarer Bedeutung, in den Erbefonds eingeschlossen wurde (auch wenn die DDR-Bühnen vor allem bei den beiden demokratischen Schriftstellern der BRD vorwiegend die Spätwerke spielten). Andererseits blieb Carl Zuckmayer, der gleichfalls in beiden Perioden Bühnenstücke schrieb, ausgeschlossen (selbst wenn er im Repertoire nur durch sein frühes Drama Der Hauptmann von Köpenick wirksam war). Diese Art Unpräzisheit scheint eher vertretbar als eine mechanistische Trennung des Lebenswerkes einzelner Autoren durch die Jahreszahlen 1945 oder 1950. Diese Weite des Erbefonds ist vor allem wichtig für die Analyse der Repertoirestruktur. Die im statistischen Teil vorgenommene Untergliederung Dramen der Antike Shakespeare, seine Zeitgenossen und Nachfolger Spanische, italienische und französische Klassik Deutsche Dramatik zwischen 1525 und 1848 Russische und andere slawische Klassiker Kritische Realisten des 19. und 20. Jahrhunderts Von Maxim Gorki bis Jewgenij Schwarz Das Erbe der sozialistischen deutschen Dramatik Weitere sozialistische, antifaschistische und bürgerlichdemokratische Autoren zwischen 1917 und 1945 soll in erster Linie den Überblick erleichtern. Sie erhebt keinen Anspruch auf exakte wissenschaftliche Kategorisierung. Sie folgt eher den sich in der Praxis des Theaters abzeichnenden Hauptsäulen eines modernen Spielplans im Erbe-Bereich. Vor allem die letzte Gruppe ist in sich sehr heterogen, erscheint aber, will man nicht zu einer Atomisierung gelangen, als eine legitime Möglichkeit, die weite Skala von Werken der jüngsten Vergangenheit zusammenzufassen. Die eingehendere Beschäftigung mit Rezeptionsproblemen im Kritiken-Teil dieses Bandes beschränkt sich dabei auf die auch zahlenmäßig das Repertoire am stärksten bestimmenden Teile: Die deutsche Klassik (pro Spielzeit 500-900 Auffüh2

Nössjg

17

tungen), Shakespeare (350—550), Kritischer Realismus (550— 800), Gorki (50-120) und Brecht (400-550). Andere Bereiche, die langfristig eine größere Repräsentanz in den Spielplänen besitzen — die Auseinandersetzung mit O'Casey (250—400) und Jewgenij Schwarz (100—175), dem klassischen spanischen, italienischen und französischen Lustspiel (500—750) — bleiben unberücksichtigt, weil die speziellen Aufgabenstellungen für diese „Abteilungen" des Erbes vom Autor an Hand von Aufführungen nicht genauer verfolgt wurden. Das trifft auch auf andere Teilbereiche zu: die Antike, die russische Klassik, die sowjetische Revolutionsdramatik sowie weitere Autoren des kritischen Realismus (Hauptmann, Sternheim, Tschechow, Wedekind), die allerdings auch weniger spielplanbestimmend sind. Die Auswahl der Rezensionen, sosehr sie durch subjektive Faktoren bedingt ist, sagt also durchaus etwas über den Stand, den Umfang, die unterschiedlichen Interessen und Erfahrungen unserer Theater beim Umgang mit den alten Stücken aus.

IV Die Erbe-Rezeption beginnt bei der Auswahl für das Repertoire. Der Anteil von Erbestücken in den Spielplänen allerdings ist keine Frage des Prozentsatzes. Das sowjetische Theater z. B. hat ständig eine beeindruckende Palette von Inszenierungeh klassischer Werke des eigenen bürgerlichen und sozialistischen Nationaltheaters und der internationalen Dramatik anzubieten. Sie stehen oft jahrzehntelang im Repertoire, bilden sozusagen einen „goldenen Fonds", werden aber wesentlich weniger angesetzt als die zahlreichen neuen Werke. Nicht nur an einigen Bühnen Moskaus oder Leningrads, sondern auch in anderen Städten machen sie kaum mehr als 10% des Monatsspielplans aus. Das Theater in Deutschland hat andere Traditionen. Sie wirken auch in der DDR weiter. Die Klassiker vor allem trugen hier seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Repertoire der ambitionierten Bühnen zu etwa 50%. Wir beobachten solche Re18

lationen noch zu Beginn der sechziger Jahre. Der Anteil des Erbes an den Schauspielaufführungen lag 1960/61 bei 51 und 1961/62 bei 46%. In den siebziger Jahren hat sich dieses Verhältnis deutlich verschoben. In den Spielzeiten 1970/71 bis 1973/74 sind 31 bis 36% der Aufführungen Werken des Erbes vorbehalten. Die Ursachen für diesen Rückgang liegen einmal in einer leichten Erhöhung des Anteils an zeitgenössischen Stücken — etwa 36% zu Beginn der siebziger Jahre gegenüber rund 33% am Anfang der sechziger Jahre —, vor allem aber im Ausbau jenes Sektors im Spielplan, der speziell für Kinder und Jugendliche der unteren Altersstufen gedacht ist. Widmete sich das Gesamt-Schauspielrepertoire der DDR in den Spielzeiten 1960/61 und 1961/62 mit 17 bis 20% dieser Aufgabe, so erhöhte sich dieser Anteil zwischen 1970/71 und 1973/74 auf 28 bis 31%. Diese Tendenz verweist zugleich darauf, daß auch bei der Auswahl und bei der Interpretation von Werken der Vergangenheit der Aspekt des Spielens vor einem zum Teil sehr jungen Publikum an Gewicht gewonnen hat. Unkomplizierte heitere Werke der Weltliteratur (Komödie der Irrungen, Der Diener zweier Herren, Die Gaunerstreiche des Scapin), Stücke, die Lehrstoff der oberen Klassen sind (Nathan der Weise, Egmont, JJrfaust), sowie Dramen mit jugendlichen Helden (Romeo und Julia, Die Räuber, Kabale und Liebe) gewinnen nicht zuletzt deshalb in den Spielplänen an Gewicht. Diese Veränderungen haben zur Folge, daß den durchschnittlich 340 Erbe-Inszenierungen, die am Beginn der sechziger Jahre mit 6000 bis 7000 Aufführungen pro Spielzeit im Repertoire waren, zehn Jahre später nur etwa 280 Einstudierungen mit 4000 bis 4500 Aufführungen gegenüberstehen. Die Anzahl der Inszenierungen ist um rund 17% zurückgegangen, die der Aufführungen um 33%. Die durchschnittlichen Aufführungszahlen der Einstudierungen von Erbestücken liegen also Anfang der siebziger Jahre deutlich niedriger als ein Jahrzehnt vorher. Einige Momente der gegenwärtigen Repertoiregestaltung scheinen sich gegenseitig zu bedingen: begrenzte Breite des Angebots (Zahl der Inszenierungen), eingeschränkte Publikumsresonanz (Zahl der Aufführungen) und — von diesen beiden Faktoren abgeleitet — relativ geringe Stimulierung des Experiments, sowohl was die Rezeptionsmöglichkeiten des 19

Theaters als was die Inspiration der Rezeptionsfähigkeit des Publikums, letztendlich der sozialistischen Gesellschaft betrifft. Franz Fühmann spricht, offensichtlich an diese Folgenkette denkend, von „Gleichgültigkeit", ja von „Unbehagen an der Klassik" 8 — eine Skepsis, die nicht unbegründet ist. Dennoch wäre es ein Kurzschluß, von prinzipiellem „Erbe-Überdruß" zu sprechen. Das könnte nur dazu führen, Aischylos, Shakespeare, Goethe, Gorki und Brecht „abzuschreiben" oder sie auf Teufelkomm-heraus zur Wirkung zu bringen. Es ist vielmehr eher so, daß die Ansprüche eines neu, vor allem jugendlich zusammengesetzten realen und viel weiter reichenden potentiellen Publikums an die Vorführungen überlieferter dramatischer Texte gewachsen sind. Der zunehmenden Zurückhaltung gegenüber einigen Standard-Erfolgsstücken und vor allem kontemplativen Inszenierungen steht ein steigendes Interesse für andere Werke mit bedeutsamen historisch-politischen Dimensionen, besonders aber für tieflotende und aufregend-zeitgenössische Interpretationen gegenüber. Die Theater versuchen — meines Erachtens noch zu unsicher, zu pragmatisch und zu spontan — auf diese Bedürfnisse zu reagieren. Das zeigt sich u. a. in Veränderungen der Repertoirestruktur. Es gibt seit langem eine große Zurückhaltung gegenüber der Antike. Sie ist am Beginn der siebziger Jahre nicht aufgegeben worden. Zehn Inszenierungen in vier Spielzeiten — das macht einen Anteil von noch nicht einmal zwei Prozent am genutzten Erbefonds aus. Auch das Bemühen zeitgenössischer sozialistischer Autoren um Neuübersetzungen und Adaptionen dieser alten Werke — damit im Zusammenhang stehende Probleme können hier nicht behandelt werden — ist von den Theatern kaum honoriert worden. Dabei beweisen gute Aufführungen der letzten Zeit, etwa die A.ntigone in Karl-Marx-Stadt und Medea in Gera, daß die Problemtiefe und strenge künstlerische Formgebung des antiken Dramas auf erhebliche Resonanz nicht zuletzt bei jungen Zuschauerschichten stößt. Offenbar scheuen viele Theater die erheblichen geistigen und künstlerischen Anstrengungen, die mit Inszenierungen solcher anspruchsvoller Werke verbunden sind. Grenzen der Leistungsfähigkeit von Regisseuren und Ensembles sind hier kaum zu kaschieren. Unter den antiken Klassikern spielt Aristophanes eine domi20

nierende Rolle. Seine Stücke und darauf aufbauende Adaptionen beanspruchen zwei Drittel der Aufführungen dieses Erbe-Bereichs. Das weist auf einen generellen Akzent unserer gegenwärtigen Spielpläne hin : auf das sich verstärkende Interesse an heiteren, besonders unterhaltsamen Stücken. In dieser Richtung auch verschieben sich die Proportionen innerhalb anderer Abteilungen des Erbefonds. So gewinnen zwischen 1970 und 1974 die alten spanischen, italienischen und französischen Komödien und Lustspiele an Interesse. Von Goldoni, Molière, auch Lope de Vega werden nicht mehr nur die gängigen Stücke gespielt. Gozzi (König Hirsch, Prinzessin Turandot) und de Rojas (Celestina) kommen neu ins Spiel. So stehen den knapp 500 Aufführungen aus diesem Erbe-Bereich in der Spielzeit 1969/70 über 700 am Ende des hier betrachteten Zeitraums gegenüber. Auch der wachsende Anteil der Stücke Shakespeares und seiner Zeitgenossen (von 400 auf 600 Aufführungen pro Spielzeit) ist vor allem der hohen Zahl an Komödienproduktionen zuzuschreiben. Lange vergessene Stücke (Der Kitter von der flammenden Mörserkeule, Bartholomäusmarkt ) bereichern das Repertoire. Das Fazit ist: Der kräftige und geistvolle volkstümliche Spaß verschafft sich auf unseren Bühnen über die alten Stücke mehr Rechte. Damit wird manche Disproportion vergangener Jahre korrigiert, werden die Bedürfnisse breiter Publikumsschichten nach theatralischer Unterhaltung stärker berücksichtigt, auch dem jugendlichen Zuschauer altersspezifische Zugänge zum Erbe eröffnet. Aber es ist auch nicht von der Hand zu weisen, daß auf diese Weise Publikumserwartungen zum Teil mechanisch aufgegriffen wurden und die Hoffnung Pate stand, daß man in den heiteren Genres mit künstlerisch nicht so ausgereiften Lösungen Erfolge erzielen könne. Auch Geschichten mit märchenhaften, parabolischen Dimensionen wferden häufiger gespielt. Shakespeares Wintermärchen und Cymbeline reizen die Interpreten und beschäftigen das Publikum; die Stücke von Jewgenij Schwarz werden zu Bestsellern — dramaturgische und szenische Phantasie erweisen sich als zeitgemäß. Doch im gleichen Maß, wie hier ein bestimmter Sektor des Erbes anwächst, in dem die weltanschaulich-politische Durchdringung der Konflikte gut und gern in den Hintergrund zu 21

treten vermag, gibt es auf anderen Gebieten Rücklauf und Stagnation. Vor allem die deutsche Klassik ist in den beiden letzten Spielzeiten auffällig in den Hintergrund getreten (500 statt früher 1000 Aufführungen in einer Saison). Die Schwierigkeit, große dichterische Ideale auf heutige Weise anziehend zu machen, sie über idealistische und utopische Entwürfe hinweg zu behaupten, führt zur Einschränkung wichtiger geistiger Anregungen im Erbe-Repertoire. Das wird auch durch einen anderen Umstand unterstützt. Die Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Erbe der sowjetischen und deutschen Dramenliteratur stagniert weiter. Eine Ausnahme bilden dort nur die Werke Brechts und in einem gewissen Grade die Gorkis. Bevorzugt werden neuerdings auch hier — zum Teil auf bisher nicht gespielte Stücke zurückgreifend — Lustspiel (Katajew), Satire (Majakowski), Groteske (Kopkow: Der goldene Elepbanf) und Parabolik (Bulgakow). Verschiebungen haben sich auch im Bereich des kritischen Realismus ergeben. Gesunken oder ganz erloschen ist das Interesse an jenen Autoren, die in den sechziger Jahren am meisten gespielt wurden: Gerhart Hauptmann, G . B . S h a w , Gabriela Zapolska. Gewachsen oder völlig neu erwacht sind die Sympathien für Ibsen (über die Nora hinaus), Sternheim, Strindberg, Wedekind. Diese Neuüberprüfung eines ganzen Literaturbereichs für uns geht noch zögernd vor sich, kündigt sich — auch bei Tschechow — erst in vereinzelten Inszenierungen an. Die genannten Autoren und ihre Stücke stellen interessante und lohnende Aufgaben nicht zuletzt deshalb, weil in vielen ihrer Geschichten die komplizierte Auseinandersetzung bürgerlicher Menschen mit dem heraufkommenden Imperialismus im Zentrum steht. Für die gegenwärtigen Klassenauseinandersetzungen mit dem Imperialismus in seiner Spätphase werden dabei Überlegungen über unser Verhältnis zu den unter diesem System lebenden, von ihm bewußt oder unbewußt beeinflußten Menschen angeregt und damit wichtige Fragen der marxistischen Strategie und Taktik in den gegenwärtigen revolutionären Weltprozessen ins Bewußtsein gehoben. Die neuen Akzente im Erbe-Repertoire deuten auf eine Erhöhung des Anteils an heiter-volkstümlichen Werken, 22

auf ein wachsendes Interesse an poetischen und phantasiereichen Gestaltungsweisen hin und lassen in Ansätzen mehr Aufmerksamkeit für dramatische Historien und widerspruchsreiche Menschenschicksale in revolutionären Umbruchszeiten und im Alltag der spätbürgerlichen Gesellschaft erkennen. Dieser Prozeß vollzieht sich, auch was die Nutzung der ganzen Breite des Erbefonds über bestimmte „Standardwerke" hinaus anbetrifft, in langsamen aber deutlichen Schritten. Besonders im Bereich der Antike, des klassischen und nachklassischen deutschen Erbes, der russischen Realisten, der internationalen bürgerlich-demokratischen, antifaschistischen und vor allem sozialistischen Dramatik der zwanziger und dreißiger Jahre sind Fortschritte noch am zaghaftesten, einseitigsten. Diese sich andeutenden Entwicklungen bei der Auswahl für den Spielplan bieten durchaus die Voraussetzung, an die Interessen des Volkes anknüpfend, das Theater als Stätte vergnüglicher Bereicherung sozialistischer Persönlichkeiten, ihres politischen und Geschichtsbewußtseins auszubauen. Aber auch mögliche Widersprüche zwischen mehr Spaß und/erhöhtem ästhetischen Anspruch einerseits und einer Vernachlässigung zupackender gesellschaftlicher Verbindlichkeit deuten sich an. Es scheint nicht zufällig, daß solche Momente sich auch in Struktur und Entwicklung des Musiktheater-Repertoires widerspiegeln: Der Anteil der Opernaufführungen — davon sind rund neun Zehntel Werken des bürgerlich-humanistischen Erbes gewidmet — sinkt (von rund 2 0 % des Gesamtrepertoires - 1970/71 - auf etwa 1 7 % - 1973/74), während gleichzeitig Operette und Musical ihre Position von ungefähr 1 8 % halten, die „seriöse" Schwester also innerhalb des Untersuchungszeitraums überholen. Der Blick auf die Totale der Repertoire-Struktur muß ergänzt werden durch die Darstellung jener Probleme, die sich bei der Arbeit mit dem Erbe für einzelne Theater oder Gruppen von Theatern ergeben. Es zeigt sich nämlich, daß ihr Anteil an der Bewältigung der Erbe-Problematik recht unterschiedlich ist. In der Spielzeit 1973/74 z. B. war er bei einigen Schauspielensembles außerordentlich gering: Prenzlau (1 von 13 Inszenierungen), Anklam (1 von 11), Freiberg 23

(1 von 9), Parchim (1 von 7), Annaberg (2 von 10), Bautzen (2 von 9), Quedlinburg (4 von 17). Bei all diesen Bühnen, mit Ausnahme von Bautzen, liegt auch die Aufführungszahl von Erbe-Werken unter 25% (Extreme: Prenzlau — 3%, Freiberg — 8%). Selbst wenn sich dieses Verhältnis über einen längeren Zeitraum betrachtet als etwas günstiger erweisen sollte, wird doch eines deutlich: Die alten Stücke haben heute an vielen kleineren Theatern eine geringe Chance. Sie ist in den letzten Jahren gesunken. Sie steht auch bereits an mittleren Theatern (Eisenach: 4 von 12 Inszenierungen — 10% der Aufführungen; Dessau: 3 von 10 Inszenierungen — 20% der Aufführungen; Cottbus: 5 von 17 Inszenierungen — 22% der Aufführungen) deutlich unter dem Durchschnitt. Diese Feststellungen sind völlig unpolemisch getroffen. Sie sind auch alles andere als eine zwangsläufige Tendenz. Unter den Theatern, bei denen das Erbe einen wesentlichen Anteil im Repertoire hat, sind auch Brandenburg (58% der Inszenierungen, 59% der Aufführungen), Altenburg (57% der Inszenierungen, 49% der Aufführungen), Plauen (54% der Inszenierungen, 44% der Aufführungen). Hier spielen zum Teil Traditionen, Erfahrungen des Theaters und seines Publikums mit dem Erbe eine Rolle, ebenso Gegebenheiten der technischen und personellen Voraussetzungen. Auch Entscheidungen der Theaterleitungen über das Profil ihrer künstlerischen Arbeit vermögen wesentlich über den Anteil von Erbestücken im Spielplan mitzubestimmen. Im sozialistischen Theater, das die Kunst der Vergangenheit und Gegenwart als einen einheitlichen Strom betrachtet, sind aus solchen Unterschieden keinerlei moralische Bewertungen abzuleiten. Trotzdem sind die auffälligen Differenzierungen zwischen verschiedenen Theatern nicht bedeutungslos. Die marxistische Auffassung von der widersprüchlichen Einheit vergangenheitsgeschichtlicher und zeitgenössischer Kunst erfordert doch, diese Totalität möglichst allseitig für die geistige und gefühlsmäßige Bereicherung der Staatsbürger zu nutzen. Und auch der Umstand, daß die Erbe-Aneignung ein wichtiger Teilbereich der internationalen ideologischen Klassenauseinandersetzung ist, zwingt dazu, die Ursachen dieser auffälligen Disproportionen zu beleuchten. 24

Wir beobachten: Die Aufnahme von Erbestücken in den Spielplan ist in der Regel desto schwieriger, je kleiner das Ensemble, je bescheidener seine technische und kadermäßige Ausrüstung. Die Gründe dafür bieten sich unschwer an. Viele der besten alten Werke haben zahlreiche Rollen und stellen erhebliche Anforderungen an die Ausstattung. Die Ensemblestärke und die Abstecherbühnen des Theaters in Prenzlau lassen eben keine Wallenstein-Kuiiühiungcn zu. S o l c h e Art Bescheidung ist völlig natürlich unter den Bedingungen eines weiterverzweigten, viele Kleinensembles einschließenden Theatersystems, wie es für die DDR charakteristisch ist. Es wäre jedoch zu überlegen, wie diese Chance einer vielgliedrigen sozialistischen Theaterlandschaft außerhalb des genannten Extrembeispiels besser zu nutzen ist. Beispielsweise durch Zusammenarbeit und Austausch zwischen den bestehenden Theatern, vor allem aber durch eine stärkere Aktivierung und kontinuierliche schöpferische Nutzung der Laienkunst. Das Meininger Theater hat in letzter Zeit bei solchen „Großunternehmen" wie den Inszenierungen von Grabbes Napoleon oder Die hundert Tage und Shakespeares Julius Cäsar Anfänge in dieser Richtung gemacht. Die Kulturarbeit der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre könnte — verbunden mit den materiellen Voraussetzungen unseres sozialistischen Berufstheaters und der örtlichen Großbetriebe — hier wichtige Anregungen geben. Doch es sind nicht nur objektive, sachliche Gründe und ungenutzte organisatorische Lösungen, die die Arbeitsmöglichkeiten unserer kleineren Theater mit dem Erbe begrenzen. Es gibt zugleich eine Reihe subjektiver Bedingungen, die das gegenwärtig begünstigen. Dazu gehören vor allem der Stand an künstlerischer und politischer Erfahrung und Qualifikation der leitenden Kader und der Künstler in vielen kleineren und auch mittleren Theatern sowie der auch von ihrer bisherigen Arbeit abhängende Reifegrad künstlerischer Konsumtionsfähigkeit bei breiten Bevölkerungsschichten in deren Spielgebieten. Das führt, gemeinsam mit den vorher genannten Widersprüchen, zu einer Art Selbstbescheidung der außerhalb der großen Städte und ohne die großen Apparate 25

arbeitenden Theaterleute. D a sie berechtigte Angst vor einer Trivialisierung der großen Werke der Weltdramatik und deren Folgen f ü r Künstler und Publikum haben, sehen sie im wesentlichen keine Chance f ü r das Erbe, wenn es umfassender erschlossen und vermittelt werden soll als über eine lustige Goldoni-Inszenierung, die handfeste Interpretation eines Shakespeare-Lustspiels oder die gutwillig-bemühte Einstudierung eines deutschen „Standard"-Klassikers wie Kabale und 'Liebe, Der zerbrochene Krug, oder Minna von Barnbelm. Die Arbeit der kleinen Theater ist aber so lange in wesentlichen Punkten unvollkommen, wie sie das E r b e nur bedingt als Bestandteil sozialistischer Kultur zu erfassen vermag. Sie verzichtet auf wesentliche Erlebnissphären der Entwicklung eines gesellschaftlich aktivierenden Verständnisses f ü r die enge Verbundenheit heutigen Handelns mit den historischen K ä m p f e n des Menschengeschlechts, die in anderen Weltteilen noch Gegenwart sind und auch unsere Lebenspraxis direkt u n d indirekt beeinflussen. Das ist ein ideologischweltanschauliches Problem. Zugleich erschwert eine solche E i n e n g u n g des Angebots, die Unterschiede zwischen Stadt und Land, Industrie-Zentren und kleinstädtisch-dörflichen Siedlungsgebieten abzubauen: etwa in den Möglichkeiten zur Befriedigung allseitiger kultureller Bedürfnisse, zu denen im Theater, dessen Spezifik durch kein Massenmedium auszugleichen oder gar zu ersetzen ist, das Vergnügen an der Begegnung mit den großen geistigen und ästhetischen Gütern der Vergangenheit gehört. Das ist ein soziologisches Problem. Die in dieser Hinsicht bestehenden Diskrepanzen werden gegenwärtig nicht nur ständig reproduziert, sondern zum Teil sogar erweitert reproduziert. Z u r Veränderung einer solchen Situation, die auf die Gestaltung des Theaters der entwickelten sozialistischen Gesellschaft hemmend einwirkt, gibt es von Seiten des Verbandes der Theaterschaffenden umfassende Pläne zur Verbesserung der ideologisch-ästhetischen Qualifizierungsarbeit unter den Bühnenkünstlern. Z u vage aber sind noch die Zielvorstellungen, wie die f ü r verantwortliche Erbe-Inszenierungen unabdingbare Entwicklung der Zuschaukunst erfolgen soll. Das Vertrauen auf das gewachsene historische Bewußtsein des DDR-Bürgers ist ohne ästhetische 26

A u f h e b u n g dieses Zustands eine bloße Illusion. Natürlich wird ein solcher Prozeß vor allem durch gute Aufführungen stimuliert. Aber zugleich ist dafür die Aktivierung der Kulturarbeit der Arbeiterklasse und ihre Verbindung mit der Theaterarbeit — letztlich die Realisierung des Theaterbeschlusses des FDGB von 1971 — unerläßlich. Auch hier geht es — u m aus dem Stadium der guten Absichten herauszukommen — wieder wesentlich um Organisation, um zeitgemäße Anwendung der vor fast fünfzig Jahren geschaffenen proletarischrevolutionären Traditionen. Natürlich trifft all das nicht nur auf die kleineren und mittleren Theater zu. Die Aufgaben sind für die Hauptstadt, die wichtigsten Bezirksstädte und ihre Theater die gleichen. Doch hier sind die Voraussetzungen zur Nutzung des Erbes für nachhaltige, die sozialistische Persönlichkeit bewegende und bereichernde Erlebnisse günstiger. Das betrifft die Erfahrungen der Ensembles und ihrer Mitglieder, ihre zahlenmäßige Stärke und künstlerische wie wissenschaftliche Potenz, die materiellen Ressourcen und — in der Regel — die Ausstattung der Bühnenräume, Zuschauersäle und Werkstätten, nicht zuletzt den meist auf großen Traditionen aufbauenden Entwicklungsstand der Zuschaukunst. Es wird auch unter Theaterleuten der DDR die Ansicht vertreten, daß gerade diese Traditionen problematisch seien. Sie sind hindurchgegangen durch eine lange Phase der Restriktion in der Zeit spätbürgerlichen Museums-, L'art pour l'art- und Unterhaltungstheaters und der faschistischen Unkultur hinter einet Talmiglanz-Fassade. Sie wurden auch beeinflußt durch reformistische Theorien und Praktiken, die weit in die mit der Arbeiterbewegung verbundene Volksbühnenbewegung reichten. Diese Vergangenheit gebe keine tragfähige Basis für die gegenwärtigen Aufgaben des sozialistischen Theaters. Ein völlig unkonventionelles, ja ein „armes" Theater (in Lagerhallen und Katakomben, auf Straßen und Plätzen) sei die Alternative für die „großen Apparate", die nicht zuletzt eine wirklich zeitgenössische Erbe-Rezeption verhinderten. Solche bewußten Gegenströmungen haben sicher — wenn sie auf klaren ideologischen Positionen aufbauen — Berechtigung dort, w o die aufwendigen Produktionsinstrumente in der 27

Hand der Bourgeoisie sind, wo die an den bürgerlichen Schauspielschulen ausgebildeten Darsteller, abhängig von den Gagenbudgets, im Bannkreis ihrer Ideologie, der von ihr goutierten traditionellen und modernistischen Kunstauffassungen stehen. Eine Analogie zum sozialistischen Theater jedoch ist ein Kurzschluß. Hier befinden sich die „Apparate" in den Händen und in der Verfügungsgewalt des Volkes. Die dreißigjährige Praxis eines antifaschistisch-demokratischen und sozialistischen Theaters hat unter Beweis gestellt, welche Potenz die großen Theater, die erfahrenen Spitzenensembles bei der Erbe-Rezeption besitzen. Nicht gegen sie, sondern mit ihnen müssen und können die alten Stücke zum lebendigen Besitz der Zeitgenossen gemacht werden. Das schließt nicht aus, daß aus Tradition und Gewöhnung auch Hemmnisse — nicht zuletzt bei der Aneignung des Erbes — erwachsen. Die großen „Apparate", die sicher versorgten Ensembles sind oft schwerer in Bewegung zu bringen als kleine, unaufwendig operierende Kollektive von Berufs- und Laienkünstlern. Das gilt insbesondere in Zeiten, in denen die gesellschaftliche Praxis gründliche und rasche Veränderungen fordert. Der gewohnte und nicht von heute auf morgen versagende Erfolg läßt leicht auf geistig-künstlerischen Konzeptionen verharren, die in der auslaufenden Entwicklungsphase erarbeitet wurden. Oder Wendungen werden — unter Verlust an politischer Verbindlichkeit — zu einseitig-artifiziell vorgenommen. Der Fortschritt bei der Bewältigung der Erbe-Problematik in der theatralischen Praxis wird von beidem abhängen: dem Ausbau der Tradition und dem Elan flexibler Ensembles, die an mittleren und kleineren Theatern wirksam werden können (dafür bietet die Geschichte des DDR-Theaters genügend Beispiele) oder die sich — eventuell auch nur zeitweilig — neu formieren. Weder das blinde Vertrauen in die erwiesene Leistungskraft der großen Theater noch die vage Hoffnung auf neue, unverbrauchte Ensembles — beides Formen des Spontaneitätsglaubens — sind sinnvoll. Aber bleiben wir bei den Realitäten. Die großen haupt- und bezirksstädtischen Theater richten, vom statistischen Anteil her gesehen, einen wesentlichen Teil ihrer Arbeit, ihrer Ideen auf die Erbe-Rezeption. So befinden sich unter jenen zehn 28

Schauspielensembles, die den höchsten Prozentsatz an ErbeAufführungen in ihren Spielplänen haben, drei Berliner Theater (Berliner Ensemble, Volksbühne und Maxim Gorki Theater) sowie die Bühnen in Leipzig, Dresden, Weimar und Karl-Marx-Stadt. Das Deutsche Theater Berlin und andere bedeutende Großstadttheater wie die in Halle und Magdeburg liegen auf guten „Mittelplätzen". Diese Namen deuten übrigens zugleich darauf hin, daß die angemessene Pflege der älteren Werke keine Zurückhaltung gegenüber dem Gegenwartsstück, der sozialistischen Dramatik unserer Tage vor allem, bedeuten muß. Viele der genannten Bühnen haben sich — kontinuierlich oder eine gewisse Zeit lang — für das Zeitstück sehr bewußt eingesetzt. Erbe-Rezeption und Pflege des sozialistischen Gegenwartsschaffens erweisen sich hier besonders deutlich als zwei Teile eines einheitlichen Prozesses. Die Berliner und andere Großstadttheater — vor allem KarlMarx-Stadt 9 *, Leipzig und das ihnen gleichzustellende Nationaltheater Weimar — nutzten am Beginn der siebziger Jahre zumindest von der Intensität der Bemühung her kontinuierlich ihre günstigen Voraussetzungen (dazu gehört auch ein relativ umfangreiches, sich über mehrere Spieljahre hin vervollständigendes -Repertoire), um gewichtige Beiträge zum zeitgenössischen Erwerb des Erbes zu leisten. Zur gleichen Zeit gab es zielstrebige und teilweise sehr eigenständige Arbeit auf diesem Gebiet vor allem in Dresden-Radebeul, Görlitz/Zittau, Meiningen, Neustrelitz, Plauen und Schwerin. Deutlich wird auf jeden Fall, daß die größten Leistungen und schöpferischen Probleme, wie sie sich in den ersten siebziger Jahren zeigten, von einem begrenzten Kreis der Theater, Ensembles und Regisseure eingebracht wurden. Das ist, entsprechend dem Aufbau unseres Theatersystems natürlich. Natürlich ist auch, daß die Wirkungen wichtiger Inszenierungen auf die Breite der Theaterlandschaft ausstrahlen. Allerdings machten sich in dem Erfahrungsaustausch zwischen der „Spitze" und der „Breite" in den letzten Jahren neue Akzente bemerkbar. Neben der erwähnten Selbstbescheidung, ja Resignation gegenüber dem Erbe an einigen kleineren Theatern gibt es andernorts auch eine große Ambitioniertheit, Experimente, die in den Großstädten Aufmerksamkeit erregen, nachzuvollziehen. Da29

bei werden Inszenierungen oder künstlerische Programme hin und wieder einfach kopiert. Es gibt eine Verwässerung des Modellprinzips. Dieses Prinzip hatte in den fünfziger und sechziger Jahren wesentliche Bedeutung für den Aufschwung unserer Theaterkunst in der ganzen Breite. Mit seiner Hilfe hatten sich unsere Theater — gestützt auf die Erfahrungen des Berliner Ensembles — an die Brecht-Interpretation herangearbeitet. Später wurden auf diesem Weg die neuen Errungenschaften solcher Berliner Inszenierungen wie der von Lessings Minna von Barnhelm (1960, Regie Wölfgang Langhoff) Schwarz' Drache (1965, Regie Benno Besson) oder Lessings Nathan der Weise (1966, Regie Friedo Solter) für die Republik fruchtbar gemacht. Sicher, auch hier gab es mehr und weniger gelungene Beispiele der Modellbenutzung ; die unterschiedliche Souveränität in der Handhabung und konkreten Umsetzung der Vorbilder führte zu Erfolgen und Mißerfolgen. Gegenwärtig droht in einigen Fällen die Gefahr, spektakuläre Produktionen großer Theater in ihren Erscheinungsbildern zu kopieren, ja die Kopien verschiedener Vorbilder zu vermischen oder überhaupt bestimmte auffällige Haltungen zum Erbe relativ bedenkenlos „anzuwenden". Besonders dort, wo die Erfahrungen der Regisseure ujnd Ensembles in politisch-weltanschaulicher, ästhetischer und handwerklicher Hinsicht nicht ausreichen, die Modelle zu verstehen, zu bedenken und umzusetzen, treten modische Attraktionen an die Stelle gesellschaftlicher und künstlerischer Relevanz. Aus der eigenständigen diskussionswürdigen Qualität der Inszenierungs- oder Methodenvorbilder wird hochtrabend einherschreitende Scharlatanerie. Aber nur vom Fundus der produktiven Anregungen aus sind jene Probleme zu artikulieren, die neu oder auf neue Weise am Beginn der siebziger Jahre in Erscheinung traten. Das geschah vielleicht besonders deutlich an den Produktionen einiger haupt- und großstädtischer Theater, ihrer namhaften Regisseure und Ensembles, aber nie losgelöst von der prinzipiell einheitlichen Theaterkultur der DDR und seiner 47 Schauspielensembles.

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V Es hat wohl kaum zuvor — von Einzelbeispielen abgesehen — so viele, nicht zuletzt in wesentlichen Punkten unterschiedliche Meinungen zu den Erbe-Inszenierungen in den DDR-Theatern gegeben wie seit 1970. Genauer gesagt: Den Auftakt zu diesem anhaltenden Disput gab die Einstudierung des Faust I am Deutschen Theater, die, besorgt von Adolf Dresen und Wolfgang Heinz, im Herbst 1968 Premiere hatte. Zuvor waren in Leipzig (1965, Regie Karl Kayser) und Weimar (1966/67, Regie Fritz Bennewitz) bereits die beiden Teile dieser großen dramatischen Dichtung auf die Bühne gekommen. Die unterschiedlichen Positionen sind bereits markiert, notiert und — durchaus noch von der aktuellen Kontroverse her — bewertet worden. 10 Der Disput, auch im großen öffentlichen Rahmen auf einem Kolloquium des Verbandes der Theaterschaffenden geführt, soll deshalb hier nicht näher beleuchtet werden. Zu erinnern allerdings lohnt sich an die Hauptstreitpunkte. Es ging darum, ob der Held — also Faust — bis zum Ende des ersten Stückteils so in seine ausweglosen Widersprüche verstrickt gezeigt werden dürfe, daß das Goethesche Ideal von dem um Selbstverwirklichung und gesellschaftliche Produktivität ringenden Menschen in den Hintergrund tritt; ob die spießige Kleinlichkeit der Welt, in der er wirkt, so prononciert hervorgekehrt werden soll und ob die Durchbrechung der historischen Konkretheit zum Zwecke der Vermittlung größerer Handhaben für aktuelle Assoziationen (etwa durch die Verwendung von Biedermeierkostümen in der OsterSpaziergang-Szene) legitim sei. Wir werden bei den folgenden divergierenden Praktiken auf dem Gebiet der theatralischen Erbe-Rezeption und bei den Meinungsdifferenzen über deren Tragfähigkeit für das sozialistische Theater eben jene Streitfragen immer wieder aufgeworfen finden: das Helden- (letztlich das Menschen)bild, die Gesellschaftsdarstellung und die Möglichkeiten von Gegenwartsassoziation bei der Repräsentierung der alten Stücke. Darum geht es — um vorerst markante Punkte der öffentlich oder intern geführten Debatten und die darin eingeschlossenen Produktionen zu benennen — 1970 bei den Versuchen, Brechts 31

Parabel vom Guten Menschen von Seyuan an der Berliner Volksbühne (Regie Benno Besson) und in Karl-Marx-Stadt (Regie Hartwig Albiro und Piet Drescher) auf verschiedene Weise produktiv vor ein Publikum zu bringen, das den Antagonismus der Klassengesellschaft nicht mehr direkt kennt und doch in einer Welt lebt, in der er noch kräftig wirksam ist. In der Spielzeit 1970/71 entzündete sich der Streit an drei profilierten Berliner Erbe-Inszenierungen, die die gesellschafdiche Determination menschlichen Handelns und Denkens unter antagonistischen Klassenverhältnissen besonders betonten: Schillers Die 'Räuber an der Volksbühne (Regie Manfred Karge und Matthias Langhoff), Lorcas Dona Kosita bleibt ledig oder Die Sprache der Blumen am Deutschen Theater (Regie Siegfried Höchst) und Brechts Im Dickicht der Städte im Berliner Ensemble (Regie Ruth Berghaus). Ihnen gegenüber wurden beispielsweise die Inszenierungen von Goethes Faust I am Landestheater Halle (Regie Horst Schönemann) und Gorkis Kleinbürger am Staatstheater Dresden (Regie Hans Dieter Mäde) als im einzelnen sehr unterschiedliche methodische Gegenvorschläge für eine zeitgenössische sozialistische Erbe-Rezeption empfunden. Ähnliche praktische Vorschlagsvarianten lieferten die nachfolgenden, teilweise durch die Berliner Produktion angeregten RäuberInterpretationen in Dresden (Regie Jens-Peter Dierichs), Magdeburg (Regie Konrad Zschiedrich) und vor allem KarlMarx-Stadt (Regie Hartwig Albiro). Mit diesen Versuchen, also etwa ab Herbst 1971, verlagerte sich auch, was neue Inszenierungen anbetraf, die Aufmerksamkeit stärker auf die Republiktheater. Hier wurde z. B. mit den Interpretationen von Shakespeares Sommernachtstraum in Halle (Regie Christoph Schroth) und Magdeburg (Regie Werner Freese) sowie Goethes Urfaust in einigen kleineren Theatern — auch die Hallesche Nachtasyl-Inszenierung (Regie Horst Schönemann) muß da mit eingeschlossen werden — das Ringen um neue Positionen als eine sehr breite Bewegung offenkundig. Die vorgelegten Lösungen waren in der Regel nicht so radikal wie in den zuerst genannten Inszenierungen, unterschieden sich aber auch deutlich von den Ende der sechziger Jahre erreichten Positionen, stellten diese in den besten Fällen produktiv in Frage. Einen neuen Höhepunkt erreichte der öffentliche Disput 32

mit den vier Hamlet-Interpretationen in Leipzig (1971 — Regie Karl Kayser), Weimar (1972 — Regie Fritz Bennewitz), Magdeburg (1973 — Regie Werner Freese) und Schwerin (1973 — Regie Gert Jurgons). Er ließ gleichzeitig die Meinungsunterschiede — auf der Bühne und in den Debatten — wieder härter aufeinandertreffen. In dieser Phase Stellte das Berliner Deutsche Theater 1972 vor allem mit seinen drei Inszenierungen von Shakespeares Leben und Tod des König Riebard des Dritten (Regie Manfred Wekwerth), Tschechows Onkel Wanja (Regie Wolfgang Heinz) und O'Caseys Juno und der Pfau (Regie Adolf Dresen) unter den Theaterleuten hochgeschätzte, aber weniger diskutierte und deshalb leider in der Breite relativ folgenlose Arbeiten vor, in denen der Zusammenhang mit bisher erarbeiteten Erbe-Positionen und das Bemühen um ihre Weiterentwicklung besonders deutlich wurden. Veranstaltungen des Verbandes der Theaterschaffenden zur Interpretation der Stücke O'Caseys auf den Bühnen der D D R (Ende 1972)11 und zum Stand der Brecht-Rezeption (Anfang 1973)12 bereicherten in dieser Zeit das Gespräch. Seit Beginn der Spielzeit 1973/74 — parallel zum erwähnten Hamlet-Disput und die Leipziger Inszenierung des Schillerschen Wallenstein (Regie Karl Kayser) zu wenig berücksichtigend — verlagerte sich das Schwergewicht des Interesses wieder stärker auf die Berliner Theater. Erneut waren es vor allem drei Inszenierungen, die durch ihre betonte Neusicht der alten Stücke das Pro und Contra auslösten: Ibsens Wildente an der Volksbühne (Regie Manfred Karge und Matthias Langhoff), Wedekinds Frühlingserwachen (Regie B. K. Tragelehn und Einar Schleef) und Brechts Die Mutter (Regie Ruth Berghaus) am Berliner Ensemble. Aber während sich in der Theaterpraxis die unterschiedlichen Antworten auf die bereits mit der Berliner Aufführung von 1968 aufgeworfenen Problemstellungen immer deutlicher ausprägen, tritt die Prinzipialität der Beurteilungskriterien — die bei der Fa»j-/-Diskussion von 1968/69 noch sehr apodiktisch gehandhabt wurden — gegenüber dem Verständnis für divergierende Positionen bei der sozialistischen Erbe-Aneignung auf der Bühne zurück. Hierin drückt sich die neue schöpferische Aufgabenstellung, die Kunst und Literatur durch den VIII. Par3

Nössig

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teitag der S E D von 1971 erfuhr, das Bewußtsein über die Kompliziertheit ihrer Bewältigung aus. Der Abbau normativer Vorstellungen über den sozialistischen Realismus, seine inhaltlichen und methodischen Möglichkeiten erweiterten auch das Feld der Versuche bei der Erbe-Interpretation und das Verständnis für unterschiedliche Wege. Eine solche Praxis und Politik entspricht der Reife des sozialistischen Gesellschaftssystems, das der s c h ö p f e r i s c h — k r i t i s c h e n Aneignung des Erbes wachsende Bedeutung zukommen läßt. Das Theaterschaffen der D D R kannte zu keiner Zeit einen „einfachen" Erbschaftsvorgang gegenüber den Werken der fernen und nahen Vergangenheit — etwa im Sinne eines sich weltanschaulich neutral dünkenden Bildungstheaters. Aber die Etappen, in denen sich dieser Erwerbensprozeß vollzog und vollzieht, sind von der Reife der gesellschaftlichen Verhältnisse und der sie gestaltenden und von ihr geprägten Menschen — Interpreten wie Zuschauer — abhängig. Sie lassen sich bei einem Rückblick auf die dreißigjährige Geschichte des D D R Theaters heutzutage relativ gut überschauen. Diese Entwicklungsabschnitte markierend, bin ich mir der Unscharfe einer hier nur umrißhaft zu liefernden Verallgemeinerung bewußt und berechne ein, daß sich keinesfalls jede der vergangenheitsgeschichtlichen Erbe-Inszenierungen in eine solche Etappe hineinpressen läßt. Es gab immer entscheidende Vorgriffe — und auch markante Rückfälle. In der Totale jedoch ist sichtbar, daß in den endvierziger Jahren bei der Aneignung des Erbes durch das Theater das Aufdecken des — oft sozial noch keineswegs präzise erschlossenen — humanistischen Ideals eine entscheidende Rolle spielte. In den fünfziger Jahren vor allem erfolgte die Entdeckung der sozialen Komponenten in den Stücken der Vergangenheit, entwickelte sich das Bemühen um — meist noch sehr direkt bezogene — Tangenten zu den realpolitischen Konflikten, in denen die sich unter komplizierten nationalen Bedingungen und in einer Periode des offenen, friedensgefährdenden welthistorischen Antagonismus etablierende neue, sozialistische Gesellschaft stand. Die sechziger Jahre waren insbesondere gekennzeichnet durch das tiefere Eindringen in die Widersprüchlichkeit der dramatischen Vorgänge und damit das Herausheben der Verantwortung des sich in Kon34

flikten bewährenden Individuums, wobei die dichterische humanistische Antizipation als Bestätigung der vollzogenen sozialen Revolution und zugleich als Verpflichtung für nacheiferndes Entsprechen in einer Phase des Sicherns und Ausbauens errungener Positionen wirksam wurde. ' Bereits diese Skizzierung wesentlicher Momente der theatralischen Erbe-Rezeption von 1945 bis zum Ende der sechziger Jahre offenbart, daß sich hier nicht verschiedene Gesichtspunkte oder gar Moden ablösten, sondern ein Prozeß der schrittweisen Vertiefung beim erkenntnisvermittelnden und vergnüglichen Erwerb des dramenliterarischen Erbes vonstatten ging. Die neuen Aufgaben der siebziger Jahre bauen auf diesem Fundament, können den „Standard" der sechziger Jahre nur negieren, indem sie ihn innerhalb einer von den Möglichkeiten und Aufgaben der Gegenwärt gespeisten und geforderten neuen Souveränität aufheben. Überheblichkeit gegenüber markanten Inszenierungen der fünfziger und sechziger Jahre ist unangebracht. Sie negiert die wichtigen Erfahrungen: humanistische Unabdingbarkeit, sozial-politische und weltanschauliche Funktion, realistisch-widersprüchliche Wahrhaftigkeit. Auch dann, wenn die verschiedenen Vorschläge, die im sozialistischen Rezeptionsbemühen praktisch und theoretisch erwogen wurden — etwa Wolfgang Langhoffs Egmont-Inszenietung von 1951 und Bertolt Brechts Egmont-Notate von 1953 —, unhistorisch, apodiktisch gegenübergestellt werden. Welches sind nun die Hauptgesichtspunkte, die spätestens seit 1970 einen besonderen Einfluß auf die Auswahl von Erbestücken und ihre szenische Realisierung haben? Vor allem, das zeigen die praktischen Beispiele, gibt es neben dem Interesse für das Heiter-Unbeschwerte, und als eine Art Gegenreaktion, großes Bemühen um die Vertiefung der weltanschaulich-politischen Dimension und Tragweite, die man mit den alten Geschichten, über die Konflikte ihrer Helden ins Publikum transportieren möchte. Dieser Anspruch ist nicht nur legitim, sondern ein objektives Bedürfnis. Er entspricht den weltweiten geistigen Auseinandersetzungen zwischen Sozialismus und Imperialismus, die das Leben der Menschen immer nachhaltiger bestimmen und die man in dem gesellschaftlichen Ereignis Theater befriedigen möchte. Viele Werke des Erbes 35

bieten mit ihren grundlegenden ideologischen Substanzen gerade dafür gute Voraussetzungen. Das bedeutet, daß den Widersprüchen, die in der dichterischen Darstellung der Wirklichkeit, der Menschen und ihrer praktischen und geistigen Aktivitäten deudich werden, wachsendes Interesse geschenkt wird. Neben der Suche nach dem Antizipatorischen richtet sich dabei der Blick stärker auch auf die Unterschiede zwischen Dichterideal und sozialistischer Weltanschauung, die man auf produktive Weise transparent zu machen sucht. Dem Bemühen um deutliche Herausarbeitung der weltanschaulichen Brisanz der Stücke und der historisch bedingten Widersprüchlichkeit ihres Geschehens tritt als zweites Merkmal gegenwärtiger Erbe-Interpretation das Ringen um kraftvolle theatralische Vermittlung dieses Anliegens zur Seite. Auch eine solche Tendenz liegt im Wesen der Sache selbst. J e deutlicher die geistigen Komponenten eines Stücks und die ihnen innewohnenden Widersprüche sinnlich hervorgekehrt werden sollen, desto stärker wird man auf die besonderen Mittel des Theaters verwiesen. Hinzu kommt, daß sich die Bühnenkunst im Ensemble der massenwirksamen Medien auf ihre Spezifik besinnen muß, wenn sie das i h r e an ästhetischer und damit gesellschaftlicher Wirkung erzielen will. Körperlichkeit, Artistik dominieren immer mehr über Rhetorik und malerisches Arrangement, Modellhaftigkeit über historische Detailfülle und -treue. Ich meine, daß solche Züge in der Inszenierungspraxis nicht zuletzt auch durch die veränderte Zusammensetzung des Publikums, in dem die Jugend — der Oberschulen und Hochschulen vor allem — einen sehr großen Anteil hat, begünstigt werden. Ganz zu schweigen davon, daß die sozialistische Gesellschaft als Ganzes sich jung, entdeckerfreudig, mit überlegenem historischen Sinn den alten Stoffen und Konflikten stellen möchte, Theatererlebnisse mit kräftigen Konturen schätzt. Diese Entwicklungsrichtung, in den letzten Jahren an den besten und vielen guten Leistungen unserer Theater unübersehbar abzulesen, bietet alle Voraussetzungen, das Theater nicht nur schlechthin „attraktiver" zu machen, sondern seinen politischen Gehalt zu verstärken. Diese Aufgabenstellung ist es wohl, die den Tenor vieler De36

hatten um Erbe-Inszenierungen am Beginn der siebziger Jahre prägt. An den beiden abgedrucktenBeispielen etwa wird deutlich, daß Verständnis für Vielfalt, Bemühen um sachliche Beschreibung, Fähigkeit zum Aufspüren notwendiger Diskussionspunkte oft mit stark verallgemeinernden terminologischen Schlußfolgerungen verbunden sind, die den interessierten, aber auch ungeduldigen Ton der Gespräche bestimmen. Das begrenzt nicht zuletzt ihr theoretisches Niveau. Man sollte jedoch auch für solche Schwierigkeiten Verständnis haben. Denn jene oben markierten Absichten und Ziele, die eine neue Phase des Erwerbens, der schöpferisch-kritischen Aneignung des dramatischen Erbes für uns bezwecken und bedeuten, setzen sich nicht gradlinig durch. Auf welchen Wegen wurde nach Lösungen gesucht? Welche Erfolge, welche Probleme, welche Aufgaben zeichneten sich ab ? Da die unterschiedlichen historischen Entstehungsphasen, die jeweiligen Autoren, die verschiedenen Stücktypen, letztlich jeder einzelne Text spezifische Aufgaben stellen, kann es darauf keine generelle Antwort geben. Es liegen unterschiedliche Ergebnisse vor. Die gesichertsten, meine ich, gibt es in jenem Sektor, der bereits von den dramatischen Vorlagen her Impulse aus alten Volkstheater-Traditionen zu schöpfen versucht. Die Inszenierungen von Gozzis König Hirsch an der Volksbühne Berlin (Regie Benno Besson), von Jonsons Rartholomäusmarkt und de Rojas Celestina am Deutschen Nationaltheater Weimar (Regie Fritz Bennewitz) liefern dafür anschauliche Beispiele. Auch hier gibt es nicht unbedeutende Unterschiede in den Handschriften, die durch die Stücke mitbestimmt sind. Besson setzt stärker Elemente einer auf demonstrative Schauspielerhaltungen und Schminktechnik gestützten Groteske ein. Bennewitz fordert den Schauspieler zur vitalen Verkörperung von Typen und Charakteren heraus. Die einfache Kunstwelt des Budentheaters und die Urbanität des Volksdarstellers sind hier und da mehr und weniger gefragt. Aber es kommt zu gleichen Ergebnissen: ein Blick auf die reale Widersprüchlichkeit des Lebens von der Position der Unterdrückten, gelenkt von den tieferen Einsichten des sozialistischen Zeitgenossen. Solcherart anspruchsvolles Vergnügen, 37

bei dem Wirklichkeitssinn und Gegenwartsbewußtsein bedient, kultiviert und befördert werden, haben auch andere, nicht zuletzt kleine Theater realisiert. Vor allem Versuche mit Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung und Komödie der Irrungen in Anklam, Eisleben und Meiningen bzw. Neustrelitz brachten dabei wichtige Erfolge für Ensemble und Publikum. Auf diesen Erfahrungen aufzubauen scheint wichtig, weil mit den neuen Angeboten natürlich noch nicht alter Schlendrian oder äußerlich aufgesetzte Bedeutsamkeit in diesen vielgefragten Genres ausgemerzt sind. Die Leistungen bei der Entwicklung vom Volkstheater hergeleiteter anspruchsvoller Interpretationen reichen aber über das Gebiet der heiteren Dramatik hinaus. Manfred Wekwerths Inszenierung des Shakespeareschen Richard III. steht in dieser für heute genutzten Tradition. Die Doppelung der Titelpartie — als Rollenfigur und Vice-Gestalt, als Spielmeister, der die Vorgänge durchschauen hilft — erreichte nicht nur eine neuartig interessante, sondern eine höchst geistvolle, politisch anregende Interpretation des Stücks. Horst Schönemann stützte sich mit seiner halleschen Faust I- Interpretation, bei dem Versuch, die Beziehungen Individuum — Gesellschaft von unserem sozialistischen Verständnis aus darzustellen, auf die plebejisch-volkstümlichen Quellen und Möglichkeiten des Stücks. Auch die mitreißende Interpretation des Neruda-Stücks G/anz und Tod des Joacquin Murieta durch Berliner Schauspielstudenten unter der Regie von Klaus Erforth und Alexander Stillmark 13 * hat den kämpferischpolitischen Ton eines Volksschauspiels aufgegriffen und vermittelt. All diesen Versuchen gelingt vor allem eine widerspruchsvolle Herausarbeitung der individuellen und gesellschaftlichen Komponenten der Konflikte. Sie vermeiden jede (mechanische) Überbeanspruchung oder (voluntaristische) Unterbelichtung des materiellen Determinismus. Gerade hier aber liegen, wie noch zu zeigen ist, wesentliche Probleme anderer Formen gegenwärtiger Erbe-Rezeption. Es scheint nicht zufällig, daß diese Arbeiten, die Geschichten von Prozessen des realen und ideologischen Klassenkampfes über Volkstheater-Erzählweisen vermitteln, ästhetisch und politisch zu den produktivsten Erbe-Inszenierungen der frühen siebziger Jahre zählen. 38

Nicht alle Werke des Erbes erschließen sich auf diesem Weg, offenbaren ihre weltanschaulich-politische Dimension über einen „plebejischen Gestus". Es ist kaum zufällig, daß die lebhaftesten Diskussionen der letzten Jahre um Interpretationsversuche von Hamlet, Die Räuber, Faust und spätbürgerliche und frühsozialistische Stücke mit großem gesellschaftsanalytischem Gehalt entbrannten. Das Bemühen um eine zeitgenössisch-sozialistische Darbietung solcher Art „Weltanschauungsdramen", Geschichten von Menschen in großen Zeitumbrüchen, ist wesentlich darauf gerichtet, von bloßer Beschaulichkeit, die erwiesenermaßen kaum noch interessiert, Abschied zu nehmen. Man steht damit durchaus in einer seit 1945 in der DDR zielstrebig entwickelten Tradition und kann sich bei solcher Absicht auf das gewachsene Geschichtsbewußtsein des sozialistischen Publikums und seine Bereitschaft zur Auseinandersetzung über gesellschaftliche Grundfragen stützen. Das Erbestück dient dazu, sich über den weltgeschichtlichen Antagonismus unserer Epoche zu verständigen; es wird zu einer Art Spiegel, in dem Haltungen in und zur Klassengesellschaft als Impulse für heutige Entscheidungen reflektiert oder assoziiert werden. Hier liegen übrigens die objektiven Wurzeln für das gegenwärtige Vergnügen an vielen überkommenen Werken des bürgerlichen und des proletarisch-revolutionären, sozialistischen Erbes. Das betrifft nicht nur die Rezipienten in einem sozialistischen Staat. Diese spannungsreiche Beziehung zum Heute bildet auch den Ausgangspunkt für eine wachsende Zahl gesellschaftlich brisanter und wirksamer Interpretationen vor allem durch die von unterschiedlich reifen demokratischen Positionen ausgehenden Kritiker der staatsmonopolistischen Gesellschaft im bürgerlichen Theater. Der weltweite Kampf zwischen Negation, skeptischer Preisgabe und Verteidigung der humanistischen Alternative zum imperialistischen System spielt sich auf künstlerischem Gebiet zu einem wesentlichen Teil über das Erbe ab. Es kann zur Aktivierung wie zur Manipulierung menschlichen Denkens und Fühlens eingesetzt werden. Das erhöht die Verpflichtung der sozialistischen Theater39

künstler, die Fabeln und die in ihnen gefaßten Ideen unverwechselbar von einer dialektisch-materialistischen Position, vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus zu erschließen und zu übermitteln. Angesichts einer Reihe unterschiedlich gelungener Versuche nonkonformistischer, allgemein-humanistischer und revolutionär-demokratischer Interpretationen des Erbes im bürgerlichen Theater (wobei dieser Rahmen teilweise schon gesprengt wird) liegt die Gefahr nahe, dort entwickelte „aktivistische" Les- und Spielarten zur Hervorkehrung bestimmter Stückgehalte, vor allem Hypertrophierungen von rebellischen und kritischen Akzenten, bereits für eine ausreichende, eine sozialistische Alternative zu halten. Die überlegene Position des sozialistischen Humanismus in der Auffassung der historischen Klassen- und Menschenkonflikte und zu deren Widerspiegelung mit zeitgenössischem Bewußtsein — auch unsere wesentlich andere Kampfposition in den antiimperialistischen Auseinandersetzungen — stellt und ermöglicht weitreichende Aufgaben. In ihnen ist vor allem das Geschichts- und Menschenbild der Arbeiterklasse integriert. Im gleichen Maß wie es die realen Klassenkämpfe, die sich in ihnen entwickelnden Positionen und Perspektiven stets konkret, frei von utopistischen Vereinfachungen und vulgärsoziologischen Determinationsvorstellungen einschätzt, hilft es auch, die in der künstlerischen Gestaltung erfaßte vergangene Wirklichkeit beziehungsreich zu erschließen. Welche Vorschläge nun machten die Theater in jenen Fällen, wo es — im direkten oder übertragenen Sinne — um Leben oder Tod geht? Es gibt eine Reihe Versuche, die sehr kontinuierlich auf den bewährten Traditionen unserer sozialistischen Erbe-Rezeption aufbauen. Sic stützen sich auf Stanislawski wie Brecht und den Austausch der Erfahrungen beider Methoden, der in den sechziger Jahren erfolgte, und versuchen, sie dem Stück und den konkreten historischen Aufgaben entsprechend ständig und undemonstrativ zu bereichern. Ich würde eine Inszenierung wie Wekwerths Richard III. nicht ausschließen, vor allem aber die Arbeit von Wolfgang Heinz an Tschechows Onkel Wanja, Adolf Dresen an O'Caseys Juno und der Pfau oder. Piet Drescher an Sophokles' Antigone dazu rechnen. 40

Natürlich wirken da verschiedene Methoden und Handschriften. Aber gemeinsam ist diesen Versuchen, daß sie die Intentionen des Autors und die künstlerische Struktur des Werkes nahtlos zu verknüpfen versuchen mit Grunderkenntnissen des historischen Materialismus und aktuellen Interessen der Gegenwart. Vor allem eint sie das Bemühen, die echten Ideale der dramatischen Figuren ernst zu nehmen und deren aktive Züge zu entdecken, zu behaupten und darstellerisch zur Geltung zu bringen. Mir scheint, daß es diese Art der Auseinandersetzung mit dem Erbe, gegenwärtig nicht einfach hat. Gegen diese Inszenierungen ist — auch von denen, die eine andere Art Theater zu spielen oder zu sehen schätzen — nie etwas Entscheidendes gesagt worden. Aber sie sind, viel gelobt, meist weniger im Gespräch als andere Arbeiten. Sie bieten oft nicht so viel auffallend Neues, erscheinen einfach als „gutes Theater". Aber auch das hat seine Schwierigkeiten. Die genannten Beispiele überzeugen durch die Kunst des Regisseurs, die Fähigkeiten der Darsteller zur lebendigintensiven Gestaltung von widerspruchsvollen Menschen und Situationen zu nutzen, zu fordern und zu fördern. Nicht in allen Fällen ist es auf diesem Wege der Erbe-Aneignung in den letzten Jahren aber gelungen, den Hauptpartner dieser Methode, den Schauspieler, auf den gemeinsamen Weg mitzunehmen. Da wurde aus dem guten Theater „richtiges" — oder besser: richtig gewolltes —, letztlich langweiliges. Nicht zuletzt die Verteidigung gegen ungerechtfertigte und berechtigte Einwände hat teilweise dazu geführt, daß sich bestimmte Seiten des realistischen Credos einer solchen Methode verabsolutierten: Der Kampf gegen die leichtfertige Preisgabe von Figuren führte zu unbegründeten Rechtfertigungen, nicht realisierbare darstellerische Vielfalt verflüchtigte sich in unsinnliche Rhetorik. Damit wurde das Herzstück dieser Methode — die Dialektik — preisgegeben. Dieser Realismus wird — zeitweilige Überstülpungen souverän überdauernd — unsere Arbeit mit dem Erbe beleben, wenn er sich von Vereinseitigungen und Trivialisierungen abgrenzt und wenn es gelingt, die Arbeit mit dem Schauspieler als Darsteller widerspruchsreicher, lebenspraller Menschen zu aktivieren. E s gibt weiterhin das Bestreben, Erreichtes und Gefordertes 41

zu verbinden, indem die Tangenten zur Gegenwart anders angelegt werden als bis zum Ende der sechziger Jahre. Das bedeutet, von relativ gradlinigen Antizipationsmustern wegzukommen, Nähe und Ferne, Recht und Unrecht der dramatischen Figuren, ihrer Taten und Gedanken genauer zu überprüfen — bis zur grundlegenden Neueinschätzung von Konfliktträgern und -partnern. Solche Entwicklungen sehe ich beispielsweise bei dem Regisseur Karl Kayser, in seinen Inszenierungen von Hamlet und Wallenstein. Erreicht wurde auf diese Weise eine dem historischen Bewußtsein der ¡Zuschauer, ihrer aktuellen Assoziationsfähigkeit genauer angepaßte Spielweise, die auch einen freieren Gebrauch theatralischer Mittel einschließt. Erhalten bleibt der eminent politische Charakter dieses Theaters, das sich neuen Einsichten erschließt, nicht etwa nur Formen oder gar Moden übernimmt. Die Gefahr eklektizistischer Symbiose alter Erfahrungen und neuer Angebote kann auf einem solchen Weg allerdings nicht ausgeschlossen werden. Das gewählte Beispiel zeitigt eine Bereicherung der Palette unserer gegenwärtigen ErbeRezeption, die, aufs konkrete Stück bezogen, Anregungen zu geben und Fragen zu provozieren vermag. Eine Reihe von Regisseuren und Ensembles gehen jedoch auf unterschiedliche Art rigoroser an die Bewältigung der neuen Aufgaben. Sie korrigieren bisherige Lesarten und Spieltraditionen gründlich, revidieren von der sozialistischen Literaturwissenschaft und Theaterpraxis erarbeitete Grundpositionen und Figurenkonzeptionen, verwischen oder verzichten auf konkrete historische Ansiedlung der Geschehnisse — oder versetzen sie in eine nahezu totale Determination. Es kommt zu radikalen Stückeinrichtungen und Regiefassungen. Das hat aber in der Regel nichts mit Bilderstürmerei zu tun. Einmal sind viele dieser Veränderungen gegenüber dem Original sehr feinfühlig und mit wissenschaftlicher Akribie vorgenommen. Zum anderen begegnen sich divergierende Absichten und Tendenzen in auffälligen Einzelheiten. Da gibt es in den Berliner Räubern die demonstrative Bloßstellung des Adelsrebellen Karl von Moor und im Leipziger Wallenstein die Entlarvung der hilf- und folgenlosen Schwärmerei des Generalleutnantssohns Max Piccolomini. Neben dem leerge42

räumten Disputierpodium des halleschen Nachtasyl steht die zeitneutrale Symbolbühne der Mutter; bedeutungsschwangere dekorative Assoziationen gibt es im Deutschen Theater bei Dona Kosita und Richard III. Und zahlreiche radikale Deutungsversuche sind vielfältig verbunden mit Momenten kräftigen Herausarbeitens plebejisch-volkstümlicher Züge bei einzelnen Figuren und in einigen Situationen. Das zeigt, daß es oft unterschätzte, von der gemeinsamen Aufgabe bestimmte Gemeinsamkeiten selbst bei sehr unterschiedlichen Regisseurpersönlichkeiten und Inszenierungskonzepten gibt — und daß die Details, vor allem die Mittel, nicht das Wesen ausmachen. Zentrale künstlerische und ideologische Probleme der radikalen Neuerungsansprüche treten uns in einigen wesentlichen Gestaltungsfragen entgegen, vor allem, wenn es um die Sicht auf die Figuren und die Darstellung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft geht. Umfangreich sind z. B. die Versuche, bei denen „Zuspitzungen" in der Anlage des Figurenprofils und der Darstellung von Gesellschaftszuständen dominieren. Auffällig ist die Belastung der Karl-Figur in der Volksbühnen-Inszenierung der Räuber (und der damit verbundene Determinismus des Adelssprosses) ebenso wie die ins Skurrile gesteigerte Weltfremdheit des Rosita-Vaters in der Lorca-Inszenierung des Deutschen Theaters (gestützt durch Sterilität der gesellschaftlichen Umwelt) oder die Akzentuierung von Hamlets real-politischem Versagen in Magdeburg und Schwerin. Unbestritten bleibt das Recht, ja die Pflicht des Theaters zu kräftig akzentuierten Figuren und Gesellschaftsprofilen. Aber es kommt viel darauf an, ob man nur bestimmte Seiten, Züge, Lesarten ins Extrem treibt oder damit zugleich die ganze Dialektik der Geschehnisse und Menschen, ihre historischen Dimensionen herausarbeitet. Trotzdem: Keine nachfolgende Arbeit täte gut daran, bisher oft unterbelichtete und jetzt zur Dominanz erhobene Seiten der in den Figuren wirkenden Widersprüche einfach zu ignorieren. Fast immer sind da zumindest bedenkenswerte Entdeckungen gemacht worden. Werden tradierte Idealfiguren einer zum Teil radikalen Kritik unterzogen, ist das, wo das Stück Material dazu liefert (das oft erst mit dem historisch-materialistischen Blick auf die Vor43

gänge freigelegt wird), an s i c h noch kein Grund zur Unzufriedenheit. E s sollte unbestritten sein, daß auch über den grundsätzlich kritisierten Helden schöpferische Emotionen, Gedanken und Aktivitäten beim Betrachter freigesetzt werden können. E s gibt ganze Stücke, ja dramatische Genres, die von diesem Effekt leben. Was aus den Erfahrungen bei der Auseinandersetzung mit dem Erbe am Beginn der siebziger Jahre zu denken gibt, ist vielmehr die sich offenbar verbreitende Furcht vor der Idealvermittlung über dramatische Helden und das anwachsende, manchmal fast manisch erscheinende Interesse für den kritikwürdigen oder gebrochenen Helden, überhaupt für ein Theater, dessen Hauptfunktion die kritische Durchleuchtung der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist. Die Dialektik von Abbild und Ideal in der künstlerischen Aneignung und Gestaltung der Wirklichkeit ist eine gesetzmäßige Erscheinung. Sie ist auch dann keineswegs für die Vergangenheit aufgehoben, wenn das Ideal der bürgerlichen Klasse vielfältig und notwendig in der Utopie erscheint, also im nackten Geschehnisvorgang eines Stücks folgenlos bleibt, Tragödien formieren hilft. Oder wenn es sich deutlicher, prinzipieller als wir das in der Vergangenheit betonten, von der sozialistischen Weltanschauung und ihrer Haltung zum Menschen, zur Gesellschaft, zum Humanismus unterscheidet. Die Reduzierung des Widerspruchs, in dem historische Gestalten — auch Heldenfiguren — denken und handeln, auf die Negation widerspricht den realen geschichtlichen Prozessen in der Gesellschaft und im menschlichen Denken und Dichten. Daraus künstlerisch ein dominierendes Prinzip abzuleiten bedeutet zugleich, das Bewußtsein des sozialistischen Zeitgenossen über die Geschichte, ihre Kämpfe und Perspektiven in eine falsche Richtung zu lenken — letztendlich den historischen Sinn seiner aktiven Potenzen zu entkleiden. Wenn solche Wirkungen bei Erbe-Inszenierungen eintreten, ist das zumindest in dieser Konsequenz oft ungewollt. Die konzeptionellen Gedanken der Regisseure reflektieren meist viel deutlicher Absichten zu wirklicher Widerspruchsgestaltung, als auf der Bühne sichtbar und dem Rezipienten bewußt wird. Die Theaterkünstler unterschätzen offenbar zum Teil selbst die großen Wirkungen des sinnlichen Wesens ihrer Kunst. Es fällt 44

ihnen deshalb manchmal gar nicht auf, daß sich die eingesetzten theatralischen Mittel verselbständigen, damit den angestrebten politischen Zweck verfehlen, ja gegenteilige Assoziationen und Wirkungen hervorrufen können. Und schließlich bleibt nicht selten der Blick getrübt für die Gefährdung des schauspielerischen Realismus durch eine einseitige, undialektische, trotz praller gestischer Erscheinung wenig lebendigen Reichtum zeigende Funktionalisierung oder Denunzierung von dramatischen Gestalten. Einige Inszenierungen von Werken der kritischen Realisten des 19. und 20. Jahrhunderts offenbaren da besonders deutlich ihre Probleme. Viele Stücke von Ibsen, Strindberg, Schnitzler, Wedekind, Tschechow — und auch Gorki —, die vor allem seit 1968 im westeuropäischen Theater eine größere Rolle spielen, wurden bei uns kaum oder gar nicht gezeigt. In der Saison 1973/74 kamen allerdings allein in Berlin drei Neuinszenierungen aus diesem Literaturbereich heraus: Wedekinds Fräilingserwachen, Ibsens Wildente und Strindbergs Erik XIV. Parallel dazu läuft ein Interesse am frühen Brecht, auf den das Berliner Ensemble mit seinen Inszenierungen Im Dickicht der Städte (1971) und "Leben Eduards des Zweiten (1974) aufmerksam machte. Auch hier sind die Wege des Herangehens sehr verschiedenartig. Eine Tendenz jedoch dominiert: die Betonung der Verkrüppelung der Menschen in einer inhumanen Welt, die Entlarvung des vom Gesellschaftssystem geprägten und es stabilisierenden menschlichen Verhaltens. Einer oft bis zum beklemmend-grotesken determiniertenWelt stehen kraftlos-egozentrische, kämpf- und lebensuntüchtige Subjekte gegenüber. Der Marxismus hat jedoch weder mit übersteigertem Determinismus noch mit aktivistischem Subjektivismus philosophisch etwas zu tun. Für Theatermacher in den kapitalistischen Ländern, die sich gegen den Imperialismus engagieren möchten, mag es eine wichtige taktische Leistung sein, Abscheu vor jener jüngeren Vergangenheit zu erwecken, in der die Keime ihrer gesellschaftlichen Gegenwart liegen. Um diese Stücke als Teil der sozialistischen Kultur zu erwerben, scheinen mir solche Ziele zu eng gesteckt. Nicht nur, weil der sozialistische Zuschauer dabei relativ wenig Neues erfährt, Zustandsdarstellungen sich vor die Prozesse der Fabel drängen, sondern auch, 45

weil gerade das besonders komplizierte, widerspruchsvolle Ringen um eine humanistische Lösung des auf die Individuen zutretenden gesellschaftlichen Antagonismus Erfahrungen übermittelt, die dem sozialistischen Staatsbürger zum Beispiel Dimension und Chance der Bündnisnotwendigkeit in den gegenwärtigen weltgeschichtlichen Klassenkämpfen bewußter machen helfen. Da sind humanistische Potenzen, Ansätze, Möglichkeiten nicht als eine Art psychologische Vernebelung zu unterschlagen, sondern gerade ins Licht zu rücken. Natürlich im Sinne der realen Kompliziertheit, so daß nicht Schönfärberei und Wunschdenken auf andere Weise den Zugang zu vertiefter Einsicht in Lebenspraxis und gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit verstellen. Hier wird noch viel zu tun sein, um das Ausprobieren von Extremen in einer neuen lebendigen, künstlerisch überzeugenden dialektischen Meisterung weiterzuführen. Bisher sind mehr jene Mittel des Darstellers aktiviert worden, die die Negativität von menschlichem Verhalten auf der Bühne sinnlich werden lassen. Das geht — was Menschendarstellung und Markierung des gesellschaftlichen Umfelds betrifft — bis zum fast schon inflationistischen Gebrauch von Zeichen und Symbolen. Sie werden zum Teil durch wiederholte Strapazierung bereits wieder stereotyp: Abfallplätze und Schindanger als Spielräume einer verrotteten Gesellschaft, überdeckt mit der Glanzfolie einer Wohlstandsfassade. Zu fragen wäre, ob nicht überhaupt dieser Zug zu mechanistischer Kunstweltschöpfung (die ich von künstlerischer Abstraktion, Stil, unterscheiden möchte) die gesellschaftliche Überzeugungskraft und Orientierungsfähigkeit sozialistischer Werkinterpretation erheblich einschränkt. Die für eine große Experimentierphase bei der Erbe-Rezeption wie zu Beginn der siebziger Jahre charakteristischen weiten Pendelschläge, die dabei erkennbaren unterschiedlichen Wege zur Herausarbeitung spezifisch sozialistischer Komponenten in der Übermittlung der dramatischen Vorgänge und des Verhaltens der Figuren, die nicht zu übersehenden Gegensätzlichkeiten in den methodischen Ausgangspunkten, lassen es oft so erscheinen, als ob im wesentlichen nur zwei divergierende Konzeptionen bei der Erbe-Bewältigung existierten. Eine solche Herausstellung von zwei Linien in der Erbe-Rezeption am Beginn der siebziger Jahre hat in der theaterprakti46

sehen, journalistischen und auch wissenschaftlichen Polemik eine Rolle gespielt. Ansätze zu einer solchen Sicht auf die ablaufenden Prozesse habe ich 1971/72 selbst gegeben, z. B. mit dem Versuch, die bereits genannten drei Berliner Erbe-Inszenierungen der Spielzeit 1970/71, die durch ihre unterschiedlich prononcierte künstlerische Polemik mit überlieferten Darstellungsweisen im sozialistischen Theater auffielen, auf ein gemeinsames ästhetisch-weltanschauliches Credo hin zu befragen. 1 ' 1 In der Debatte um Heiner Müllers Macbeth-Adaption richtete vor allem Wolfgang Harich einen scharfen Angriff gegen alle Formen der Neudeutung und Umstülpung klassischer Texte und stellte dem die absolute Ehrfurcht gegenüber dem Original als einzig akzeptable sozialistische Haltung gegenüber. 15 Und bei dem Versuch, eine Art Bilanz über den Stand der Ham/¿/-Rezeption in der ersten Hälfte der siebziger Jahre zu ziehen, setzte Liane Pfelling Beobachtungen bei Inszenierungen des Shakespeare-Stücks mit anderen auffälligen Tendenzen bei der Aneignung klassischer und kritisch-realistischer Werke des bürgerlichen Erbes in Beziehung, stellte die These über zwei „konzeptionell unterschiedliche Grundpositionen" 16 in den Verhaltensweisen von Regisseuren und Ensembles der DDR zu den Erbestücken auf und schrieb: „Gemeint sind erstens die Bemühungen, die historisch-konkret bedingten Widersprüche und Schönheiten der alten Werke mit ihrem übergreifenden Humanismusgehalt zu verschmelzen und so ,das in unsere Zeit Hinweisende' bloßzulegen. Und zweitens die Versuche, Zeitnähe und Publikumswirksamkeit der alten Dichtungen dadurch zu erzielen, daß das Kritikwürdige der in ihnep dargestellten Gesellschaftszustände, die historische Begrenztheit der ihnen immanenten Ideen und Figurenhaltungen prononciert hervorgekehrt wird." 1 7 Sicher- steckt in all diesen Beobachtungen über „Traditionalisten" und „Neuerer", auch in den daran gebundenen weltanschaulichen Fragen ein realer Kern. Trotzdem ist die „ZweiStrömungs-These" verwirrend und fehlerhaft. Sie übersieht, unterschiedliche Erscheinungen auf zwei Grundhaltungen reduzierend, das breite Spektrum, in dem all diese Versuche wirksam werden. Dieser Aufsatz versuchte deshalb, einige wesentliche Punkte der vielfältigen Praxis und der damit ver47

bundenen Problematiken darzustellen — beim kontinuierlichen Weiterführen bewährter Traditionen, beim Kampf gegen die Gefahr der Konvention, beim Anbieten kühner neuer Vorschläge usw. Eine Reduzierung dieser Absichten und Praktiken auf zwei Tendenzen widerspricht den realen Vorgängen. Es werden ideologische Unterschiede, ja Gegensätze aufgebaut, wo die Lösung der vom lebendigen Theater aufgeworfenen ideologisch-weltanschaulichen Fragen notwendig ist. Verloren geht auf diese Weise die Gemeinsamkeit in den Bemühungen der Theaterschaffenden, von marxistischer Position aus auf dem vom VIII. Parteitag der S E D vorgezeichneten Weg auch bei der Interpretation der dramatischen Werke des Erbes hohe künstlerische Qualität zu erreichen, die unverwechselbar den Interessen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und den Bedürfnissen ihrer Gestalter verpflichtet ist. Vorschläge, wie das Erbe vom gegenwärtigen sozialistischen Theater produktiv und attraktiv erworben werden soll, gibt es sicher heute mehr als vor zehn oder vor zwanzig Jahren. Dabei entstehen allerdings in geringerem Maß als in vorangegangenen/ Etappen unserer Gesellschafts- und Theaterentwicklung abgerundete, typprägende, „modellwürdige" Inszenierungen. Typisch ist vielmehr ein breites handschriftliches und methodologisches Spektrum, in dessem Rahmen unterschiedliche Seiten der Werke in vielen Fällen betont experimentell herausgestellt werden. Weite und Vielfalt als eine Gesetzmäßigkeit sozialistischer Kunst vorausgesetzt, erwächst daraus eine wichtige Aufgabe für heute und morgen: die enge und engere Verbindung aller Vorschläge mit dem weltanschaulichen Konzept der Arbeiterklasse und ihrer Partei, das die Grundlage auch für die Gestaltung des kulturellen Lebens unserer Republik darstellt. Dies ist die Voraussetzung, um die größte Errungenschaft des DDR-Theaters, die sich nicht zuletzt in seiner Erbe-Pflege als eine Leistung von Weltruf manifestiert, zu erhalten und auszubauen: seinen Charakter als p o l i t i s c h e s T h e a t e r in den Klassenauseinandersetzungen der Gegenwart. Das ist, auch wenn es um Aischylos und Calderon, Shakespeare, Goethe und Ostrowski, Ibsen und Strindberg, Gorki, Brecht und Wolf geht, die entscheidende Quelle wahrhaft künstlerischer Qualität und Attraktivität.

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Dispute und Rezensionen Zwei Debatten

MANFRED NÖSSIG

Der VIII. Parteitag der SED hat die wachsende Führungsfunktion der Arbeiterklasse und ihrer wissenschaftlichen Weltanschauung auf a l l e n Gebieten des Lebens beim Aufbau der entwickelten sozialistischen Gesellschaft überzeugend begründet und nachdrücklich betont. Wenn wir die objektiven Forderungen der Arbeiterklasse, ihre Ideale und nicht zuletzt ihr Geschichtsbild zum entscheidenden Kriterium auch für die Einschätzung theatralischer Kunstleistungen machen wollen und müssen, wird ein noch bewußteres Herangehen an die Beurteilung von Kunstwerken notwendig. In jeder Hinsicht. Beispielsweise im Abbau der Überheblichkeit gegenüber in der Problemtiefe begrenzter Heiterkeit ebenso wie in der Auseinandersetzung mit Tendenzen, ideologische und ästhetische Flachheit mit dem Hinweis auf die Bedürfnisse der hart an der Bewältigung der ökonomischen Aufgaben arbeitenden Werktätigen verteidigen zu wollen. Doch ich glaube, daß diese und andere wichtige Aufgaben nicht lösbar sind ohne Auseinandersetzung und prinzipielle Verständigung über einige Vorgaben, die die hauptstädtischen Bühnen in der vergangenen Spielzeit insbesondere bei Werken der weiteren und der jüngeren Vergangenheit vorgestellt haben. Berlin ist ein Zentrum von internationaler Bedeutsamkeit und nationaler Ausstrahlungskraft. Bestimmte Probleme, unter uns ungeklärt, auch exportiert, potenzieren sich, wenn wir sie nicht klären an den Maßstäben der Arbeiterklasse. Drei Inszenierungen vor allem haben Für und Wider ausgelöst. — und zum Teil mit Kritikerpreisen der Berliner Zeitung* im wesentlichen eine, wie ich meine, vorschnell-einseitige öffentliche Sanktionierung erfahren: Die Dona R — weniger in das Stück hineinprojiziert als herausgelesen haben. So stellen sie nicht eine widerspruchsvoll-einheitliche konkrete gesellschaftliche Welt auf die Bühne, wie sie Schiller gerade in der Verknüpfung von Familien- und Räubertragödie zeigt, sondern schaffen deutlich zwei stilisierte Ebenen: die kalte, äußerlich wohlgestaltete („beige-weiße") Welt des Schlosses im Hintergrund und — davor — die lebensvolle, wilde („bunte") Sphäre des Studenten- und Räuberlebens. Karl führt zum Schluß die beiden Ebenen zusammen. Optisch sichtbar wird also nicht der Antagonismus einer Welt, der sich vertieft und tragisch aufbricht, sondern die Übereinstimrpung einer „zweifachen Welt". Es entsteht Entlarvung ohne Perspektive. Ja, der Enthusiasmus, die Leidenschaft der jungen anarchistischen Rebellen (die sich so groß gegen das künstliche Zeremoniell 110

im Schlosse abheben) emanzipieren sich auf diese Weise letztlich zu einer Art Maßstab, weil hier der einzige Alternativv e r s u c h geboten wird. Aber aus Schillers Bemerkung, „Räuber sind die Helden des Stücks", hat man nicht nur die „Vordergrundfunktion" und szenische Attraktion der Geschehnisse in den böhmischen Wäldern abgeleitet, sondern auch das Recht, Karl als Zentralfigur auf eine, fast die „mieseste" Variante der Räuberideologie zu reduzieren. Nun ist die Zielstellung, Karl nicht als widerspruchsfreien Helden, der den revolutionären Geist Schillers unmittelbar personifiziert, zu zeigen, seine Don Quichote-Rolle, die ihm Schiller im Vorwort seiner ersten Ausgabe zuschreibt, mitzuliefern, ein gar nicht mehr so junges Ergebnis unserer marxistischen Schiller-Interpretation, die beispielsweise im Berliner Maxim Gorki Theater (vor allem in der Zweitinszenierung von 1960) sowie in Halle (1968) Ausdruck fand. Das Arbeitskollektiv der Volksbühne hat solche historischen Erfahrungen unserer eigenen sozialistischen Theatertradition offenbar zu wenig geprüft oder zu schnell verworfen. Sie gesteht Karl kein Ideal, keine produktive Alternative gegenüber dem Fäulnisprozeß der Feudalordnung zu. Seine Sätze gegen das tintenklecksende Säkulum — beileibe noch kein Programm, aber ein großer Protest — spricht Wyzniewski, im propren Herrenanzug aufs Bett gestreckt, wie ein ironisiertes Zitat seiner selbst, das ihm nichts mehr bedeutet. Die Tatsache, daß Karl sein Lotterleben (also seinen i n d i v i d u a l i s t i s c h e n Ausbruch aus dem Adelskodex) aufgeben will, väterliche Verzeihung erbittet, soll der Regie die Berechtigung dafür geben. Aber der Versuch zur Disziplinierung ist doch nicht gleichbedeutend mit der Aufgabe humanistischer Sehnsucht — im Gegenteil. In der Berliner Inszenierung jedoch verläuft von der Figurenhaltung am Anfang bis zum Schlußprospekt, der-den Zuschauer mit Schillers einmal notierter (aber doch wohl nicht nur aus Zeitmangel unausgeführter) Absicht bekanntmacht, in einer Stückfortsetzung den reuevoll mit dem Weltengang sich abgefundenen Karl Moor zu zeigen, e i n e (von Ernst Schumacher am konsequentesten beobachtete) Linie: Der adlige Schwärmer, dem auf Grund von Privatintrigen seines Bruders die Heimkehr an den väter-

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liehen Herd verwehrt wird, ergreift — von Skrupeln und Schrecken geplagt — den Strohhalm des Anarchismus, befreit sich davon durch das theatralische Opfer seiner Geliebten, um ins Privatleben zurückkehren zu können. Eine solche „Lesart" ermöglicht zweifellos eine Widerlegung des Anarchismus — ein Aspekt, den eine heutige Inszenierung nicht unterschlagen darf. Diskreditiert jedoch wird auf diese Art das Ideal und seine Veränderung im Verlauf der Ereignisse: Karls Traum von der Republik, dessen reales Scheitern an der Praxis, den Widersprüchen in der Bande, in der sich der Pragmatismus der Marodeure durchsetzt, und dessen (moralische) Neuorientierung — Bekenntnis zur „Tugend", zur Utopie vom „König, der für die Rechte der Menschheit streitet". Das ist keine „moralisierende Romantik", ebensowenig wie Schweizers Gericht über Spiegelberg „aus rückständiger Ehrpusseligkeit" (Ernst Schumacher) resultiert, sondern das Aufbrechen und Austragen eines grundlegenden Antagonismus unter den Rebellen zwischen humanistischer und antihumanistischer Gesellschaftsalternative. Die Inszenierung breitet in der Drastik der Räuberszenen vielfältige, widersprüchliche Haltungen aus, sie schafft durch Werner Tietzes „an sich" herrliche Leistung als Spiegelberg die Möglichkeit zu einer ernst zu nehmenden Kontrastfigur — und verschenkt sie durch die verträumte Konzeptionslosigkeit Karls. So werden zwar große Gegensätzlichkeiten ausgestellt, aber die im Stück gestalteten realen, konkret-historischen gesellschaftlichen Widersprüche nicht erfaßt, die humanistische Moral, das Ideal (auch durch die Eliminierung der Moser-Figur und durch Texttausche in den Räuberszenen) zugunsten der puren Aktionen über Bord geworfen. Nur so bietet sich ja überhaupt die einfache — frappierende, aber unhistorische, falsche — Analogie zu heutigem Revoluzzertum an. Vom Menschenbild Schillers wird die in der Karl-Figur und anderen, hier jedoch durch Biederkeit (Bodo Krämers Schweizer) und bewußte künstlerische Blässe (Karl Thieles Kosinsky) unterbelichteten Räuber-Gestalten angelegte schöpferische Möglichkeit unterschlagen, also gerade das, was es mit dem sozialistischen Bild vom Menschen verbindet. Die noch so attraktive bloße Kritik an einem angeblichen „späten Revo112

luzzer", der Versuch, „heutige Protagonisten gesellschaftlicher Revolten in ihrer fast pathologischen An- und Hinfälligkeit bloßzustellen und sie der Aura von Volkstribunen zu entkleiden", wie ihn Ernst Schumacher in der eingangs erwähnten Rezension meines Erachtens richtig an der Inszenierung beobachtet (und verteidigt), vermögen uns Schillers Geist und Werk in seiner echten historischen und gegenwärtigen Bedeutung nicht zu erschließen. Das ergibt höchstens eine Art Lehrstück für die Söhne wohlhabender Familien in den „Linksbewegungen" der westeuropäischen Gegenwart (oder sich für sie Begeisternde). Dabei wäre es falsch, eine Reihe von Entdeckungen der Inszenierungen über ihrer Problematik zu vergessen. Von der lebendigen Vielfalt der Räuberbande (die wirkungsvolle Möglichkeiten zur Gestaltung gesellschaftlicher Widersprüche gäbe) war schon die Rede; der Abschied der Bande vom toten Roller (Dieter Montag) ist als besonders gelungen beeindruckende Szene hervorzuheben: Wie die vom Kampf Erschöpften auf ganz individuelle Weise, in der echte Erschütterung wie bloße Räuberromantik noch bewußter ausdrückbar wären, dem Leichnam die letzte Ehre erweisen. (Damit ist diese Situation weitgehend konkret im Vergleich beispielsweise zur Ausstellung des vom Galgen geretteten Roller, bei der sich neben leeres Pathos überwindende Realistik — die Sprachlosigkeit der Bande, die sich in verlegenen Hilfereichungen und dem stockend beginnenden Bericht vom Geschehen schrittweise auflöst — eine neue mißdeutbare, die unhistorische Darstellung der Fabel unterstützende Symbolpathetik stellt: Roller mit dem fahlen, blutgestriemten, von einem Schurz nur verhüllten Leib als Figuration des Schmerzensmannes Christus?) Unter den Anregungen zu nennen wäre auch die herb-unsentimentale Anlage der Amalia Heide Kipps — bei der sich zum Schluß dann allerdings doch wieder untaugliche Adelsromantik vordrängt. Doch der Verzicht auf das Ideal, die moralische Alternative, die damit verbundene unhistorische Verallgemeinerung/Aktualisierung zu allumfassender „Spätzeitkritik" erlaubt nicht, Entdeckungen im realistischen Detail zur Grundlage einer realistischen Aufführung zu machen. Das verhindert auch die 8

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Deutung der Franz-Figur: Günter Junghans vermittelt vor allem eine Häßlichkeitspathologie (statt die historisch-konkrete Darstellung des Mißbrauchs eines widersprüchlichen Trivialmaterialismus im Dienste feudaler, antihumanistischer Interessen), und die Regie geht dabei bis zu einer — zielgerichtet eingesetzten — geschmacklos-peinlichen psychoanalytischen „Begründung" für die schurkische Verbitterung jenes Franz, der in einer pantomimischen T e x t - „ E r g ä n z u n g " schon im Kindesalter beim Spiel mit den Puppen als der Benachteiligte gezeigt wird. Aber all das, was da an Unbefriedigung entsteht, ist nicht primär eine Frage der verwendeten theatralischen Mittel, sondern die ihres Gebrauchs, der nicht konsequent auf die Herausarbeitung der Widersprüche u n d des Ideals, die historisch-konkrete Darstellung der K o n f l i k t e gerichtet ist. D i e großenteils zwiespältig reagierende westdeutsche Presse legt das — in letzter Zeit auffällig um Ratschläge für einen „neuen" sozialistischen Realismus im D D R - T h e a t e r bemüht — auf ihre Weise aus, wenn dort bedauert wird, daß die sogenannten modernen Mittel nicht durch einen „Modernismus der Überzeug u n g " 5 5 ergänzt wird. Auch diese Reaktion zeigt, daß die R ä a ^ - I n s z e n i e r u n g ein Experiment im Rahmen unseres sozialistischen Theaters ist, das es verantwortlich zu diskutieren gilt. Reicht die Problematik der Aufführung doch bis zu speziellen Problemen unserer sozialistisch-realistischen Schauspielkunst. D i e Gegensätze zwischen dem Realismus en detail und dem unhistorischen Herangehen ans Ganze wirken sich auf die Darstellungsprinzipien aus. D e n n nicht nur ich beobachte in dieser Hinsicht eine hinter dem Aktionsreichtum der B ü h n e zurückbleibende bedenkliche Verarmung der schauspielerischen Charakterisierungskunst: Auffällig und „ g r o ß " spielt Franz (Hermann ersetzend) seinem Vater den fingierten Bericht von Karls T o d vor, knüpft er die Gardinenkordel zwischen zwei gegenüberliegende Türklinken, um sich von den hereinstürmenden Räubern erdrosseln zu l a s s e n ; aber seine M o n o l o g e liefert er — meist ins enge Treppengehäuse zurückgezogen als pure Textpassagen, in denen Materialismustheorien und Herrenstandpunkt hinter allgemeiner Fiesheit unter114

gehen. Und Karl hat — indem er mehr reagiert als agiert — zwar den Schreck deutlich herausgestellt zu spielen, als man ihm die Idee von der Räuberbande mitteilt, und eine einfache, abrupte Haltungsveränderung zum „Ich will Euer Hauptmann sein", nicht aber die hier sich vollziehende Auseinandersetzung; die Ringe an seiner Hand erläutert er dem Pater in schwärmerischer Pose, fast eingelernt und nicht in der Überzeugung seines Rechts (die d i e s e r Karl allerdings gar nicht hat). Charaktergestaltung wird durch Figurenbeurteilung ersetzt; die Widersprüche auch in der einzelnen Figur, aus der sich ja ihre realistische Charakterologie aufbaut, sind eliminiert — vielleicht mit Ausnahme des Spiegelberg, der eben dadurch zum interessantesten Aspekt des Abends wird. Kein Wunder, so scheint mir, daß viel szenische Attraktion, aber kein durchgehender Konflikt über die Rampe kommt, keine große, einheitliche Handlung, sondern eine Folge (gelungener und nicht gelungener) Nummern in der Erinnerung bleibt: vom vielbeschriebenen — wirkungsvoll „gebauten" — Skandierchor um Schillers Stückmotto („Was Medizin nicht heilt, heilt Eisen, was Eisen nicht heilt, heilt Blut!") als „Vorspiel des Ensembles" bis zu den provokativ in den Etagen des niedergebrannten Schlosses hockenden Räubern zum Schluß, die sich dann in alle Winde verlaufen. Viel Leidenschaft war eingesetzt — beim Engagement fürs Stück und auf der Bühne. Aber da sie Schillers Leidenschaft des Protests gegen seine Zeit von des Dichters leidenschaftlichem Bekenntnis zum humanistischen Ideal in d e r g e s t a l t e t e n W i r k l i c h k e i t trennt, wird das Stück zwar nicht seiner Wirksamkeit, aber der maximalen Rezeptionsmöglichkeit für unsere Zeit beraubt. Das sozialistische Theater aber braucht beides! Goethe: Urfaust (Stadttheater Eisenach;

Annaberg;

1971 — Regie

1971

— Regie

Rainer

Nitzke/Landestheater

Fritz Westphal/Theater Greifswald; 1 9 7 1 —

Regie J ö r g Liljeberg) 5 6

Wenn diese Zeilen erscheinen, wird kaum noch eine der drei Inszenierungen auf den Spielplänen stehen. Sie sind rasch abgespielt, die Produktionen unserer kleinen Theater. 8*

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Aber Probleme, die sie bieten, werden nicht so schnell „abgesetzt". Übrigens kennen zwei der Ensembles bereits meine Meinung im Detail, mitgeteilt auf Arbeitsgesprächen der Bezirksorganisationen des Theaterverbandes. Und hier ist schon das erste Problem. In Annaberg waren vier Kollegen aus KarlMarx-Stadt erschienen; die anderen Theater fehlten, auch das Freiberger, das den Urfaust in der vergangenen Saison' spielte. In Greifswald unterhielten sich zwei Universitätsprofessoren und ein Mitarbeiter der Theaterverbandszentrale nach der Vorstellung mit dem Ensemble, nachdem die Kollegen aus Rostock und Stralsund in letzter Minute ihre Teilnahme an einem lange geplanten Kolloquium abgesagt hatten. Kein Interesse am konkreten fachlichen Meinungsstreit, Scheu, Zeitmangel? Ich vermag keinen Grund anzuerkennen. Was im Bezirk Neustrelitz seit Jahren praktiziert wird, kann andernorts nicht unmöglich sein — wenn vor allem auch die Leitungen es für nützlich halten. Und daß die Annaberger — obwohl in Aussicht gestellt — nicht an kritisierten Punkten der Inszenierung weiterarbeiteten, deutet die Gefahr an, daß hie und da Meinungsstreit als eine Art „Zeitvertreib" angesehen wird. Und dabei ist doch gerade an den kleineren Theatern jener Teufelskreis; der von den schwierigen Arbeitsbedingungen gezogen wird, nur dann zu durchbrechen, wenn alle Möglichkeiten der Qualifizierung genutzt und alle dabei gewonnenen Erkenntnisse praktisch verwertet werden. Und da ist, ehe wir zur „Kunst selber" kommen, gleich noch ein Problem. Nur in Greifswald hat man sich (kann man sich?) auf das eigene Ensemble verlassen. In Annaberg und Eisenach inszenierten Gastregisseure. Zwar handelt es sich einmal um einen „Vorgriff" auf ein Engagement in der Spielzeit 1972/73, zum anderen um sozialistische Hilfe innerhalb des Bezirks — lobenswerte Absichten, aber mehr durch die Not als durch bewußte, auf Qualifizierung bedachte Planung diktiert und deshalb in der Regel mit ungenügender Vorbereitung bezahlt. Und schließlich wurden wesentliche Rollen der „jungen Fächer" ebenfalls von Gästen übernommen (in Annaberg der Mephistopheles, in Eisenach Faust und Margarethe) — während Marthe Schwerdtlein hier wie dort doppelt besetzt ist. So 116

signalisiert diese Rundreise erneut unsere großen Aufgaben: bei der qualitativ und quantitativ den Anforderungen entsprechenden Ausbildung des Nachwuchses, beim planvollen Einsatz junger Künstler (auch an kleineren Theatern) — und bei der Spielplanung. Denn zu wenig noch, dünkt mich, nutzen wir v o r h a n d e n e Potenzen — z. B. in den reifen Frauenfächern. Die „unbequemen Damen" 57 * gibt es keinesfalls nur in Berlin; und sie mit „halben" Rollen abzuspeisen scheint mir nur eine „halbe" Lösung. Unter diesen Bedingungen den Urfaust? Alle drei Theater spielen das Stück erklärtermaßen, weil sie den Faust-Stoff für wichtig, den sozialistischen Zeitgenossen berührend (und wohl auch — mit einem Blick auf den Lehrplan der Schulen — für „gewinnbringend") hielten, aber Goethes „End"-Fassung personell und auch technisch (Abstecher!) nicht realisieren können. Auch hier eine Notlösung, Ersatz-Faust? Das Ergebnis widerspricht einer solchen These. Man spürt überall das Ringen um die Eigenständigkeit dieses Stücks und alle drei Programmhefte zitieren Brecht: Über die Möglichkeit und den Reiz, ein Fragment aufzuführen. Aber eben da beginnen die Schwierigkeiten. Sparsam ist man zwar beim Aufgreifen des Brechtschen Vorschlags, die „Lücken sollten vorsichtig ausgefüllt werden" 58 . Der Greifswalder Versuch, durch einen stummen Handschlag den im Urfaust nicht vorgesehenen Pakt zwischen Faust und Mephistopheles einzufügen (was aber — für die hier gewählte Konzeption — völlig unerheblich ist), erscheint als der „kühnste" Schritt in diese Richtung. Begieriger hat man nach jenem Satz gegriffen, daß es der Urfaust leichter mache als das fertige Werk, „sich die Frische, den Entdeckersinn, die Lust am Neuen des erstaunlichen Textes anzueignen" 59 . Doch da sind Mut und Sinn oft schwer unter einen Hut zu bringen. Am behutsamsten und am produktivsten scheint mir da Fritz Westphal für die Eisenacher Inszenierung ans Werk gegangen zu sein. Sicher zeigt sich das mehr im konzeptionellen Ansatz und im Detail als in einer geschlossenen Einheitlichkeit der Inszenierung, die vor allem bis zur frühen Pause (nach Auerbachs Keller) keinen rechten Zugang zum Stück ermöglicht, aber dann die im Urfaust zentrale Gretchen-Tragödie — 117

ohne Unterbrechung gespielt — zum Anliegen des Abends macht. Doch Frank Trunz als Faust zeigt da in erster Linie einen ehrlich-leidenschaftlichen Liebhaber; den Wissenschaftler, der schon in der Studierstube so wenig herauskam und doch wichtig ist, um soziale Ungleichheiten in der Faust — Margarethe-Beziehung als e i n e n wesentlichen Konfliktpunkt zu erfassen, läßt er nur einmal — im Religionsgespräch — aufblitzen. Und Heiderose Seifert spielt vor allem die reine Scheu der Margarethe (steif vorgestreckte Arme bei der ersten Umarmung Fausts; die Einladung des Geliebten in ihre Kammer dem bereits Abgehenden mehr in einem Zwang als in echter Bereitschaft angetragen), so daß die Figur letztendlich zu klein bleibt. Am überzeugendsten ist in dieser Vereinfachung Hans Günter Schmidt als Mephistopheles, auf äußerliche Gags verzichtend, das Vergnügen an der Rolle aus einer drastischen Naivität seiner Haltungen und Repliken entwickelnd. Diese Kauzigkeit kommt beim Publikum am besten — und keineswegs flach — an; die Figur erinnert bei aller Historizität an heutige Störenfriede. Allerdings: Auch dieser Teufel ist ein recht „bescheidener", ihm gegenüber hat es Faust relativ leicht, der Überlegene zu sein (z. B. Ohrfeigen anzubieten); erst spät kommt da mehr Gefährlichkeit — und nie ganz große — ins Spiel. Dieser „unkomplizierte" Figurenaufbau der Inszenierung macht die Geschichte etwas harmlos. Wichtiges für die konzentrierte Vorführung der GretchenTragödie leisten die Bühnenbilder Klaus Webers. Wenn eine Tür, an verschiedene Stellen vor oder hinter das Spielgerüst gesetzt, auf einfache Weise immer neue Räume schaffen hilft (oder Gretchens Zimmer aus verschiedenen Blickrichtungen bespielen läßt), erhalten die Darsteller wesentliche Hilfe für ihre Aktionen, deren klare logische Vorführung. (Während man in Annaberg — Unüberlegtheit mit Stilisierung „begründend", das realistische Detail unterschätzend — mitunter durch die „Wände" ging, die man kurz vorher im Spiel geschaffen hatte.) Diese Räume unterstützen an den gelungensten Stellen der Inszenierung Schönheit und Realistik des Einzelvorgangs: Z.B., wenn Valentin betrunken vor Gretchens Tür erscheint und bramarbasiert, von Faust in ein Degengefecht verwickelt wird (was im Urfaust nicht steht, aber in 118

der Inszenierung auch anders als in Faust I verläuft), dabei in seinem Rausch stürzt, Faust den Weg durch die Tür — zu Gretchen — freigebend. Hier, dünkt mich, sind das „Ausfüllen" des Fragments und der Entdeckersinn für das Frische, auch Ungebärdige des Urfaust glücklich vereint. Die größte Unsicherheit in diesem Punkt weist Rainer Nitzkes Annaberger Inszenierung aus. Dabei gibt es auch hier ohne Zweifel ein achtbares Ringen um die Rollen; etwa bei Heinz Dieter Busch, der den Faust spielt (dazu jedoch von der Regie einige offenbar nur recht äußerliche Anhaltspunkte bekommeil hat: ein Spiel mit dem Globus in der Studierstube, das an Galilei erinnert; einen Strick, den er sich zu knüpfen hat und der die im Urfaust nicht vorhandene Viole ersetzen soll), oder bei Hannelore Fiedler-Staude, die für ihre Margarethe einige überzeugende Züge des Naiven, Sauberen, auch einer wachsenden Selbstbewußtheit — eine Mischung von Wachheit und Wahnsinn im Kerker z. B. — zu erarbeiten wußte. Diesem bemühten Einsatz, der echte menschlichc Beziehungen zwischen Faust und Margarethe — nicht jedoch den historisch konkreten Konflikt zwischen ihnen — aufbauen hilft, steht allerdings der Mephistopheles von Hcino Wolters gegenüber. Die Situation überspielend oder verkehrend, macht er sich effekthascherisch — rülpsend, popelnd, spuckend — auf der Bühne breit: ein Gast, der das Ensemble eher desorientiert als seine Maßstäbe formen hilft. Die Unsicherheit der Regie zeigt sich im Gewährenlassen einer solchen selbstgefälligen Art des Theaterspiels und — bei dem Versuch, tiefgründig zu sein — in der Komplizierung, ja Mystifizierung von Vorgängen, die den Zugang zu den realen Inhalten des Werks erschweren und verbauen. Da lümmelt sich Mephistopheles während der ersten Studierzimmerszene als Beobachter im Hintergrund auf der Szene (was meint dieses Symbol?); da wird aus dem Erdgeist eine schöne, der Uta ähnliche Frauengestalt (weshalb die Klage über das „schröckliche Gesicht"?); da werden Zwinger, Dom und Valentin-Szene aneinander und durcheinander montiert, schleift Valentin seine Schwester in den Dom, wo Faust und Margarethe links, Mephistopheles und Valentin rechts um den Bösen Geist versammelt sind, dessen Priesterornat auf einen 119

nur äußeren statt auf den inneren Konflikt Margarethes verweist, wie das gesamte Arrangement eher eine mephistophelische Verschwörung als die tiefen gesellschaftlichen Widersprüche in den Menschen nahelegt. Diese Aufbereitung des Stücks, der jetzt öfter zu beobachtende Versuch, zusätzliche, nur dem Regisseur bekannte Bedeutsamkeiten auszustellen, machte mir die bei einem solchen klassischen Werk doch kaum zu erwartende kontemplativ-abwartende Haltung des Annaberger Publikums zur Aufführung verständlich. Da hat es der Greifswalder Regisseur Jörg Liljeberg besser. Wesentliche Teile des Publikums in dieser Universitätsstadt interessiert eine experimentelle Inszenierung (und die Meinungen gehen dafür und dawider). Zugleich ist die gewählte „Lesart" auf der Bühne immer deutlich zu erkennen. Bei der seltsamen Parallelität von szenischen Erfindungen in Annaberg und Greifswald (hier wie dort die „Schatten"-Funktion Mephistopheles' am Anfang, die schöne Frauenerscheinung als Erdgeist, der Böse Geist der Kleriker) werden hier doch wenigstens die damit verbundenen Absichten erkennbar: Wenn beispielsweise die Erdgeist-Uta neben ein flirrendes Atom-Symbol gestellt und die Textstelle „[. . .] und würcke der Gottheit l e b e n d i g e s Kleid" deutlich herausgehoben ist, begreift man, daß dieser „Partner" Fausts (das „schröckliche Gesicht" ist gestrichen) hier als Prinzip der schöpferischen Naturkräfte aufgefaßt ist. Überhaupt setzt die Inszenierung deutliche Akzente zur Betonung der historischen Umstände: wenn am Anfang — zu ins Grelle sich verzerrenden Bachschen Tönen — Projektionen, Wissenschaft und Folter figurierend, gegenübergestellt weiden oder Textpassagen wie Fausts Hinweis, daß zur Erkenntnis strebende Männer von „je gekreuzigt und verbrannt" wurden, durch Schreien herausgehoben sind. Aber wie schon hier mehr Direktheit als echte inszenatorische Phantasie für ein beabsichtigtes Wirkungsziel eingesetzt sind, so war ein gleiches auch bei der Rollenanlage und Schauspielerführung zu beobachten. Achim Wolfs Mephistopheles gerät streckenweise zum Faxenmacher, weil der Kampf mit und um Faust und Margarethe — bei aller Grobschlächtigkeit der Goetheschen Urgestalt — doch zu äußerlich aufgefaßt, zu 120

demonstrativ vorgeführt wird. Und in der Bewertung Fausts und Margarethes stehen Mut zur Konsequenz und Einseitigkeit eng beieinander. Die Greifswalder sehen, die GretchenTragödie ernsthaft auf ihre Unterschiede zu Faust I befragend, Margarethe als am weitesten in die Zukunft projizierte Figur, den eigentlichen Konfliktpartner des Mephistopheles (und schaffen auf der Szene vielfältige Beziehungen zwischen diesen beiden Figuren, die Margarethes Aversion und aktive Gegenwehr offenkundig machen). Christine Schuster folgt dieser Konzeption und kommt zu schönen darstellerischen Leistungen, gipfelnd in der Kerkerszene, in der Leiden ihre Gefühle bedrängen, nicht Irresein ihren Geist verwirrt — eine Figur, die bis zur letzten Minute ihr Schicksal bewußt durchlebt. Aber wenn Margarethe, um ihre „Natürlichkeit" zu „zeigen", sich vor der ersten Begegnung hinter der Mater dolorosa versteckt, Fausts Wegrichtung „berechnet", um ihm direkt in die Arme laufen zu können, also demonstriert wird, daß sie angesprochen sein will — dann schert man sich kaum noch um Stück, historische Konkretheit des Charakters, Wahrheit der Handlung. Dasselbe passiert im Gartenhäuschen — warum wohl verlegt man diese Szene vor eine alte Scheune? —, wenn Faust liegend, sichtbar vom Beischlaf ermattet, mit Margarethes Religionsfragen konfrontiert wird. (Und die große geistige Auseinandersetzung Faust — Mephistopheles in Nacht. Offen Feld ist zu einer Bankettszene geworden — mit Marthe als Aufwärterin! —, wo sich der schlemmende Faust von Mahl und Trank losreißen muß.) Wenn Margarethe so, bei allen guten Absichten, letztlich jenseits der realen gesellschaftlichen Widersprüche angesiedelt wird, hat dies — und die streckenweise plakativ sinnliche Inszenierungsweise, die ich nochmals nicht mit Phantasiereichtum zu verwechseln bitte — Auswirkungen auch für den Faust. Er ist sozusagen weniger wert als Margarethe. Liljeberg hat die Titelrolle mit Jürgen Hilbrecht besetzt, der bisher meist in komischen Rollen ausprobiert wurde. Der Regisseur wollte also offenbar von vornherein die Figur nicht zu heldisch erscheinen lassen. Nun hat der Schauspieler Schwierigkeiten mit dem „Fach" und mit der konzeptionellen Orientierung, stellt immer wieder recht bieder den wirklichkeitsfremden Wissen121

schaftler, seine abgeklärte, ja kalte Sachlichkeit — allerdings auch seine humanistische Anständigkeit! — in den Vordergrund; menschlicher Reichtum, Liebe kommen da kaum zum Z u g . So bleibt von der tiefen Widersprüchlichkeit der Gretchen-Tragödie (der Verweigerung von Glück für zwei Menschen, die die Schranken ihrer Zeit durchbrechen wollen) letztlich ein tödlicher Liebeskonflikt zwischen einem Bürger und einer Plebejerin übrig. D i e Schwierigkeiten bei der souveränen Durchdringung der Dialektik klassischer Fabeln und damit bei der widerspruchsvollen Figurengestaltung am Beispiel dreier Urfaust-ln&ze.merungen, die so verschiedene „ E x t r e m e " brachten, also eines von uns allen zu bewältigenden Problems eingedenk, meine ich d o c h : Die Greifswalder Inszenierung, am geschlossensten, am perfektesten, gerät mit der Rigorosität ihrer Sicht auf Margarethe und Faust zugleich am deutlichsten in K o n f l i k t mit dem, was dieses Stück des klassischen E r b e s für uns an antizipatorischen Möglichkeiten (und nicht nur an eventuellen soziologischen Analogien) bereit hält.

Schiller: Wallenslein-Tu\ogic (Städtische Theater L e i p z i g ; 1974 — R e g i e Karl Kayser)™

I Bedeutsame Inszenierungen der großen Dramen unserer deutschen Klassiker sind rar. D i e letzten ]Vallenstein-Auiiuhtur\gen in der D D R z. B . gab es Mitte der sechziger J a h r e . 0 1 * Karl Kaysers neuerliche Auseinandersetzung mit Schillers Trilogie (nach Weimar 1953, Leipzig 1957) ist schon unter diesem Aspekt mit Nachdruck zu begrüßen. D i e Einrichtung für einen — knapp vierstündigen — Abend ist angesichts heutiger Rezeptionsmöglichkeit und -praxis fast eine Selbstverständlichkeit. ( E s sei denn, es gelänge eine Sensation, von der man die Fortsetzung sehen m u ß . ) Kürzungen, die mehr als die Hälfte des T e x t s betreffen, sind also notwendig. Mir erschien das geschaffene Theaterkompendium geglückt. Auch 122

die Reduktion des Wallensteinschen Sternenglaubens (Seni gibt es in Leipzig nicht) auf umfassendere, Astrologie einschließende fatalistisch-„dämonisierende" Züge bedeutete meines Erachtens keine grundsätzliche Beschädigung des Stücks. II Problemreicher als die Straffung ist die Fassung, die Karl Kayser — natürlich auch durch Striche — seiner Konzeption zugrunde legt (oder durch die diese geprägt wird). Ein Hauptmoment ist die Verschmelzung des Lagers mit den Individualgeschichten. Das Vorspiel und der erste Akt der Piccolomini sind eng verzahnt: Questenberg trifft mit den Offizieren im Lager zusammen; nach ihrem Abgang ist der Soldateska wieder das Feld überlassen, erfolgt der Auftritt des Kapuziners; dann erleben wir vor der Lagerszenerie — unter einem aufgerollten „Baldachin" — die Questenberg — Octavio — Max-Szenen; es folgen weitere Kapuziner-Situationen. Dann wird zwar das Lager abgeräumt, aber die kriegerische Aushängung der Bühne läßt es quasi als Rahmen des Geschehens zwischen den Protagonisten präsent bleiben. Zweimal noch wird es (ausgesparte Szenen des Vorspiels) mit der Haupthandlung konfrontiert, bis es schließlich — bei Wallensteins Ermordung — waffenstarrend und brutal das Geschehen abschließt. Dieser interessante Vorschlag zur szenischen Realisierung des Schillerschen Hinweises, daß das Lager Wallensteins Verbrechen erkläre, ist jedoch nur eine Seite der Bearbeitung, ein Moment in Kaysers Generalkonzeption. Diese relativiert vor allem Schillers theatralisches Credo durch die Berufung auf die Historie und den Historiker Schiller: Die Wallenstein-Figur wird durch Unterbewertung oder Betonung entsprechender Textpassagen als ein miserabler Hausmachtpolitiker aufgefaßt, der die Worte Nation und Frieden nur im Munde führt, um sein eigenes Schäfchen ins trockene zu bringen. Was hinter einer solchen Lesart verschwindet, zumindest umfunktioniert, „entpersönlicht" wird, ist die Tragödie. Denn es liegt doch 123

wohl ein Zweck dahinter, wenn Schiller dem „verbrecherischen" Wallenstein seiner Geschichte des dreißigjährigen Krieges für die Theatertrilogie — vielfältig gebrochene — positive Absichten unterstellt, bei deren Verwirklichung er unter den konkreten Geschichtsbedingungen zum Verbrecher wird. Diese Handlungsmotive des Bühnen-Wallenstein eliminierend, verliert auch die Max-Thekla-Tragödie ihre provokante Schärfe. Ihre Ideale müssen als bloße Schwärmerei erscheinen. Max wird zum lebensunpraktischen Phantasten, Thekla zur verträumten Herzogstochter. In Schillers Sinn ist das schwerlich. Ist es in unserem? Karl Kayser macht aus der Tragödie der Familien Wallenstein und Piccolomini (die einen tiefen Bezug zur gesellschaftlichen Tragik der Entwicklung in Deutschland nach dem Bauernkrieg hat) ein Spiel der Mächtigen. Diesen Titel hatte Giorgio Strehler seiner Adaption von Shakespeares Tragödien über die Kriege der weißen und der roten Rose in England gegeben, den Streit der Herrscher mit der Not, der List und den Kämpfen der plebejischen Schichten konfrontierend. Was sich hier als ein Assoziationsfeld für die Betrachtung gegenwärtiger gesellschaftlicher Vorgänge aus der Sicht der unterdrückten Klassen und Schichten in den kapitalistischen Staaten anbietet, ist mit Schillers Trilogie (die andere nationale Geschichte verarbeitet und deshalb den realen Vorgängen durch „Idealisierung" eine humanistische Perspektive abzugewinnen versucht) auf analoge Weise schwer möglich. Aus einem Stück, das humanistische Menschen- und Gesellschaftsideale über individuelle Tragik im Publikum zu befestigen suchte, wird eine Art Lehrstück über die Fortschrittsphraseologie der Herrschenden und die Sinnlosigkeit schwärmerischen Rebellierens ihrer jugendlichen Nachfolgegeneration, darin Tangenten zum Tag, zur gegenwärtigen imperialistischen Praxis sehend. Es ist — platte Analogien zum Friedenskampf oder zur nationalen Frage, wie sie in den fünfziger Jahren gesucht wurden, zu Recht überwindend — ein Miserebild; allerdings kein sarkastisch-satirisches, sondern ein ausmalend-historisierendes.

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III Der Regisseur Karl Kayser verwirklicht seine Fassung mit großer Konsequenz. Am stärksten tritt dabei der Aktionsreichtum und die Farbigkeit der Massenszenen hervor. Nachdem die Melodie des Reiterliedes kurz aufgeklungen ist, der Buttler-Darsteller ein Stück des Prologs gesprochen hat, quillt „das Lager", sein Lied auf den Lippen, in unübersehbarer Zahl bedrohlich aus dem Hintergrund nach vorn. An der Spitze eine brutalisierte Gruppe, die eine offenbar geschändete Frau vor sich hei treibt. In Portalhöhe stürzt sie nieder, mit mühsam erhobenem Kopf singt auch sie das Lied: verfremdet durch den Gestus leidvoller Erschöpfung. (Diese emotionelle musikalische Kritik des Geschehens durchzieht die gesamte Aufführung : Die Geschändete des Anfangs tritt später wiederholt als Sängerin (Friederike Raschke-Retzlaff) zwischen die Szenen, interpretiertLiedtexte Schillers über den Krieg — kampflustige und besinnliche, stets damit das Bühnengeschehen kontrapunktierend.) Die Plastizität des Eingangsbilds kehrt immer wieder, in großen Panoramen: beim Lagertanz, beim Empfang des Kapuziners (Siegfried Worch), dem mit einem geschwungenen Feuerkessel und einem zum Wurf hochgestemmten Faß Angst gemacht wird; aber auch in kleinen Passagen: dem Spott mit dem Rekruten, Liebeleien usw. Unübersehbar ist die wirkungsvolle malerische Drastik, weniger ausgeprägt die Realistik. Daran haben auch die schönen, vielfarbig und meist in Leder gehaltenen Soldatenkostüme ihren Anteil, denen man die vielen Jahre des Feldlebens nicht ansieht. Wie überhaupt die Ausstattung (Bühnenbild Bernhard Schröter, Kostüme Eleonore Kleiber) große Funktionstüchtigkeit und Gediegenheit aufweist, aber zu wenig konkret von der Harte und Brutalität der Zeit erzählt. Auch die rostroten, von Brandlöchern zerfressenen Stoffbahnen, mit denen Vor- und Hauptbühne ausgehängt sind, bleiben zu dekorativ. Höhepunkt der großen Aktionsszenen mit Massenbeteiligung war für mich das Schlußbild: Die stumme, mit militärischer Sturheit in Wallensteins Zimmer eindringende 125

Soldateska erledigt mit ihren Lanzen den Mord wie ein Handwerk. Dieser Bilderfülle gegenüber sind die Protagonistenszenen zwar durch strenge Arrangements bestimmt, aber doch meist ganz auf das Wort und die Haltungen der Darsteller gestellt. Hier überträgt der Regisseur den Hauptteil der szenischen Wirkung den Schauspielern.

IV Was in einem so großen Ensemble bei aller Geschlossenheit an unterschiedlicher Leistungsintensität deutlich wird, ist hier nur in wenigen Beispielen und kurz zu benennen. Manfred Zetzsche war der Wallenstein der Konzeption — immer wieder (ob im Purpur und mit Marschallstab oder im „Grundkostüm", das wie ein modischer Anorak wirkt) zu kleineren und größeren Posen neigend (inszenatorischer Clou: Wallenstein sitzt auf einer hölzernen Pferdeattrappe einem Maler zum Porträt). Aber Zetzsche überzieht das nie. Das verhalf dieser Lesart zu einiger Überzeugungskraft: ein Gauner unter Gaunern, sie nur an Klugheit, Geschick, weltmännischer Haltung — Taktik überragend. Die Widersprüchlichkeit der Figur blitzte mit ihren Ängsten auf — nach der Begegnung mit Wrangel vor allem. In den Schlußszenen lagen die überzeugendsten schauspielerischen Momente. Octavio war als im Hintergrund wirkende Figur betont, unterstützt auch durch das Kostüm, das in seiner Schlichtheit von den farbigen Gewandungen der anderen Generale abstach. Ich sah — kurzfristig für den erkrankten Hans-Joachim Hegewald eingesprungen — Walter Nikiaus in dieser Rolle. Bewegungsmäßig noch gehemmt, entwickelte er seine Aktion vor allem über den Dialog (in der Sprechkultur könnten sich hier einige Leipziger Schauspieler eine Scheibe abschneiden): intensive, auf den Partner bezogene Argumentation bestimmt das Handeln dieses Mannes. Ansätze und Grenzen liegen beim Max des jungen Knut Degner nahe beieinander. Daß Kayser einen Schauspielschüler mit dieser Rolle besetzte, beweist Mut. E r zahlt sich 126

aus, wo frische Ausstrahlung, die Unbedenklichkeit des „jugendlichen Helden" gefordert ist. Zur Figuration erstarrt die Darstellung, wo die Kritik an der Figur gespielt werden soll. Hier fehlt dem Darsteller offenbar Erfahrung, aber wohl auch Material im Stück. Ähnlich geht es Astrid Bless als Thekla, nur daß hier bereits jeder Ansatz zu ideeller menschlicher Regung durch herrschaftliche „Erziehung" überdeckt ist, so daß sie kaum Konfliktpartner, nur Spielball ist. Marylu Poolman gibt der Gräfin Terzky das Profil einer kalten Strippenzieherin — überzeugungskräftig durch darstellerische Intensität, vielleicht am konsequentesten die Konzeption vom Spiel der Mächtigen in darstellerisches Profil umsetzend, aber auch am auffälligsten Möglichkeiten widerspruchsvollerer Figureninterpretation vergebend. Zwei „kleinere" Männerrollen möchte ich zu den schönsten darstellerischen Leistungen dieser Inszenierung rechnen. Da ist zuerst Günter Grabberts Buttler. Aus der Zurückhaltung und Verletzlichkeit des aufgestiegenen sozialen Außenseiters baut er den Charakter dieser Rolle, ihre einzelnen Handlungsaufgaben auf. Er setzt dazu weniger seine Körperlichkeit, daraus entwickelte standardisierte Gesten ein, sondern handelt mit beunruhigender Ruhe und offenbart dabei die hin und wieder verschenkten Möglichkeiten dieses — vielleicht in den verschiedenen Medien zu viel als Spiel- und Sprechtyp ausgenutzten — Menschendarstellers. Beeindruckend schließlich der Wrangel Friedhelm Eberles. Wie er in seiner kurzen Szene — vielsagend jene kleine bestimmte Geste der Trunkverweigerung gegenüber dem ihm sich schulterklopfend anbiedernden Wallenstein — den bewußten, klugen Verhandlungspartner entwickelt, das geplante „Freundschaftstreffen" zum harten politischen Dialog macht und damit Wallenstein in die Enge treibt, ist von beklemmender Überzeugungskraft.

Klassiker am Stadttheater Goethe-: Egmont (Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau; 1973 — Regie Anne Eicke)/Schiller: Die Räuber (Kleist-Theater Frankfurt/Oder; 1974 — Regie Peter Lange)/Shakespeare: Maß für Maß (Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen; 1974 — Regie Heinz-Uwe Haus)/Shakespeare: Othello (Theater der Altmark Stendal; 1974 - Regie Claus Martin W i n t e r t

Wenn einer eine Reise tut schaut er zuerst nach den (Fahrplänen. Ich blätterte in den Spielplänen mittlerer und kleinerer Theater — auf der Suche nach Inszenierungen internationaler und vor allem nationaler Klassiker. Das Ergebnis war ernüchternd: Klassische Lustspiele, ja, damit konnte man aufwarten. Bei Shakespeare dehnte sich das Spektrum — ein erfreulicher Fortschritt — bis hin zu den „Problemstücken": Tragödien, Historien, Romanzen, Maß für Maß. Aber bei der deutschen Klassik war in dieser Richtung kein Angebot, das befriedigen konnte — es sei denn, man wollte nach der Minna-, Nathan- oder Urfausi-WcWc vor einiger Zeit nun auf einer Räuber- und Egmoni-Woge mitreiten. Ja, was denn: Da klagt man über Traditionalismus im angestammten Theaterpublikum — und spart einen Großteil der nationalen dramatischen Tradition vor allem aus? Da spricht 'man von der Vielfalt kultureller Interessen und bedient jenes nach großen theatralischen Gegenständen so spärlich? Da hat man fünfzig Prozent junge Menschen in den Sälen, also einen hohen Bildungs- und Erlebnishunger zu befriedigen, und tut sich schwer mit Klassikeraufführungen? Nun reizte, durch Fragen provoziert, die Reise doch. Die Auswahl war, da es das Lustspiel diesmal nicht seih sollte, gering genug als daß man die Eindrücke von vier Aufführungen sowie anschließenden kleinen „Ensemblebefragungen" nur als zufällig bezeichnen möchte. Was sich mir an Überlegungen anbot, ging weit über das Spezialproblem „ErbeRezeption" hinaus. Darum: Nicht Rezensionen gilts zu schreiben, sondern Haltungen zu resümieren, die sich in Inszenierungen zeigten — in Bautzen 128

(Maß für Maß) und Zittau (Egmont), in Stendal (Othello) und Frankfurt/Oder (Die Räuber). Vorsicht ist angebracht, da das „Alter" der Produktionen, die Aufgabenstellung der Stücke, die Zusammensetzung des Publikums und die Umstände der Aufführungen sehr unterschiedlich waren. Dennoch zeichnen sich Symptome ab. Ein erfreuliches am Deutsch-Sorbischen Volkstheater, wo Gastregisseur Heinz-Uwe Haus (Deutsches Theater Berlin) eine anspruchsvolle Inszenierung von Shakespeares Maß für Maß herausgebracht hat — und mit diesem Anspruch alle aus „Erfahrungen mit dem Publikum" abgeleiteten skeptischen Prognosen über die Chancen d i e s e s Shakespeare-Stücks über den Haufen warf. Das Publikum interessiert der tiefgründige Streit über Probleme der Moral, der historisch exakte Gesellschaftsaufriß, die Doppelrolle des sich als Mönch verkleidenden Herzogs und Spielkommentators (Dietrich Zimmermann). Ja, die ernsthafte Problemtiefe, die renaissancehafte Kompaktheit der Ausstattung (Rolf Händler als Gast), die — zweifellos unterschiedlich bewältigte — Bedeutungsfülle der Figuren, all das, was der Tragödie mehr Raum gibt als der Komödie, die „Leichtigkeit" von Shakespeares Spieltext unterbewertet (die Wahl der alten, erfrischend direkten aber nur begrenzt poetischen Eschenburg-Übersetzung unterstützt das), findet Interesse und Resonanz. Tiefgründige Beschäftigung des Regisseurs mit dem Stück und einer adäquaten Spielweise tragen wichtige Früchte. Dabei schafft die Musik (Klaus Lenz als Gast) in historischen Zitaten und gegenwartsnahen Tonformulierungen (vom Band singt Uschi Brüning) eine Brücke vom Gestern ins Heute. Verteidigt wird das Stück, gerungen um darstellerischen Realismus. Dem Bautzener Bemühen nahe steht die Egmont-lnszcnierung in Zittau, auch wenn Regisseur Anne Eicke die Möglichkeiten des Hauses „unnaiver" einkalkuliert hat. Schön das Bekenntnis zum Helden Egmont nicht als einer vorgegebenen, sondern sich selbst entdeckenden Größe. Die Volksszenen treten zurück hinter dem Persönlichkeitsdrama, den großen geistigen Disputen: Margarete von Parma (Gisela Findeisen) und Machiavell (Lothar Schön9

Nössig

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brodt), Oranien (Werner Gaertner) und andere erhalten hohes Gewicht durch prägnante darstellerische Leistungen. Komparserie gibt es nicht. So entsteht ein zusätzlicher Reiz: Die einleitende Preisschießszene, ein politisches Vierergespräch, bekommt den Anstrich eines Kegelabends. Am Anfang bleibt allerdings etwas Peinlichkeit. Da sind Überlegungen nicht bis zur Konsequenz durchdacht und durchgespielt. Das trifft auch auf die Anlage des Vansen (Carl Mau) zu — eine zwielichtige Gestalt zweifellos. Aber das von den Bürgern abstechende grobe Geusen-Kostüm, der bedeutungsschwere Abgang mit einem Rucksack in die Illegalität vertragen sich schwer mit den Handlungen eines „ultralinken" Provokateurs, der die Bürger aufeinanderhetzt und von Ferne sein Werk betrachtet. Kühn angepackt und bewegend — mit einem Schuß heutiger Unbedingtheit — umgesetzt ist die große Liebesszene Egmonts (ich sah die „hauseigene" Besetzung: Thomas Thieme, der gerade das überzeugend erfaßt) mit Klärchen (Elisabeth Zwieg). Im Mummenschanz kommt der Graf herein, im Taumel selbstvergessener Ausgelassenheit suchen und finden sie sich. Schade, daß diese und viele andere überzeugende Details gegen Schluß ausbleiben — weil der Mut fehlt, sich zur dichterischen Vision, die für mich bereits in Klärchens Marktplatzagitation beginnt, zu bekennen. Bis auf Egmonts Traum bleibt alles so „natürlich", daß ich mich zum Schluß vom Protagonisten direkt, per Publikumsadresse, aufgefordert fühlte, zu sterben — wie er mir ein Vorbild gab. Die Inszenierung lief „durchschnittlicher" als sie es verdiente. Problematischer erschien mir das Stendaler Bemühen um eine attraktive, Erkenntnisse literatur- und theaterwissehschaftlicher Forschung nutzende 0//)«//o-Inszcnicrung. Ich habe an anderer Stelle 63 auf Probleme verwiesen, die entstehen, wenn man intuitiv errechnete Zuschauererwartungen auf einen aktionsreichen Theaterabend mit dem halb angeeigneten Robert Weimann verknüpft, Geschehnisdichte, Narrenspiel, Kommentatorenreiz und moderne („geborgte", nicht, wie in Bautzen, bewußt geschaffene) Musikkommentare auf Kosten der geistigen Stücksubstanz in den Vordergrund rückt. Trotzdem: Hinter dieser Arbeit stecken Ernst 130

und gute Absicht, eigene (leider aufs Ganze hin zu wenig überdachte) Entdeckungen — Talentbeweise des Regisseurs Claus Martin Winter. Aber die Short-Fassung des Stücks beschädigt seinen Gehalt, unterfordert das Publikum, reduziert die Möglichkeit realistischer Menschendarstellung. Sicher kann Maß für Maß in Bautzen (seine Wirkung auf Ensemble und Publikum) nicht einfach als „Gegenbeweis" dienen. Trotzdem lohnte sich nachzudenken, ob höherer Anspruch, der sich von dem der Klassiker ableitet und Spieler wie Zuschauer fordert und fördert, nicht die dem sozialistischen Theater gemäße Art des Umgangs mit den großen Werken der Weltliteratur ist. Experimente sind notwendig. Abzulehnen ist Scharlatanerie. Die Frankfurter R¿a¿e/'-Inszenierung hat vieles davon. Regisseur Peter Lange hat sich aus den Aufführungskonzeptionen der letzten Jahre manches angeeignet, etwa das Konflikt- und Rollenbild der halleschen Schönemann-Inszenierung 6 4 — und übergießt all das mit einer gesteigerten Kopie von Erscheinungsbildern der Karge/Langhoffschei> Volksbühnenproduktion (ohne daß das Programmheft mit einem Wort auf dieses Modell verweist). Bibiana LangeColla liefert dazu „weiße" Bühnenbilder und die Grenzen des historisch und fabelmäßig Vorstellbaren überschreitende dekorativ-bunte Kostüme für die Bande. Es dominieren eindeutig die spektakulären Arrangements und Geschehnisdetails; da wird der Brief an Karl mit Punkt und Komma als Studentenulk vorgelesen, Karl mitsamt dem Bett aus der Szene getragen, minutenlang vom toten Roller Abschied genommen usw. Deftige Akzente oder ausmalende Vorgangsschilderungen, so meint der Regisseur wohl, seien bereits Realismus. Dagegen gesetzt sind die Monologe als leise, stereotype Entäußerungen. In diesem Eklektizismus gehen alle Ansätze der Fabelerzählung, der Rollenanlage, der Sinnerhellung letztlich verloren; die Erfindungskraft des Regisseurs verplempert sich im Zitieren, im Ausschmücken von Zitaten und in nebensächlichen eigenen Einfällen; die Darsteller werden zu Regiepuppen statt zu dramatischen Charakteren. Bedauerlich, da Peter Heilmann (Karl), Burkhard Plettau (Franz), Jürgen Hilbrecht (Spiegelberg) und 9*

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andere spürbare Voraussetzungen nicht wirklich unter Beweis stellen können. — Bedenklich bleibt, daß eine solche Aufführung, die ein Warenhausangebot von theatralischen Auffälligkeiten anbietet, zum Konsum statt zum geistvollen Vergnügen einlädt, nicht ohne Wirkung ist. Bereitschaft der Ensembles war überall anzutreffen, sich den Klassikern zu stellen. Aber es gibt große Sorgen und Unsicherheiten. Sie beginnen mit der Werkwahl. Ein Stadttheater früher — das waren vor fünfundzwanzig Jahren (und später) mindestens zehn bis fünfzehn Schauspielpremieren pro Spielzeit. Heute hat man in der Regel sechs bis acht Positionen — von denen teilweise noch die Inszenierungen für die Kinder abgehen. Mehr ließe sicher der Auslastungsgrad der Vorstellungen, kaum die Werkstattkapazität zu. Das Interesse für Gegenwartsstücke ist gewachsen — beim Publikum und bei den Darstellern. So gibt es in einigen Theatern die Klassikerposition, im besten Fall zwei (einmal heiter, einmal ernst). Da ist kaum noch zu wählen — und schnell schleicht sich ein Schema ein: ein Jahr Shakespeare, ein Jahr deutsche Klassik, ein Jahr die restliche Weltdramatik. Man schließt sich Trends an, Stücken, die anderswo „gehen". Perspektivische Pläne gibt es kaum. Und wo sie existieren, sind sie oft nicht leicht durchzusetzen. Sicher ist fraglich, ob in Frankfurt/Oder ausgerechnet der Clavigo auf das notwendige Publikumsinteresse trifft, aber ist der Grillparzer-Traum der Zittauer nur ein Hobby? Ja, das Publikum, das ist immer wieder der ausgesprochene oder unausgesprochene Stoßseufzer, wenn man fragt, weshalb so wenig große klassische Werke im Spielplan sind und weshalb die Auswahl so begrenzt ist. Noch immer lebt ein aus „Erfahrungen" hergeleitetes Publikumsbild, es erwarte im Bereich des Erbes Traditionalismus (bekannte Titel, gewohnte Spielweisen). Die Praxis beweist das Gegenteil: Bildungstheater geht nirgends. Hinter den Seufzern über das Publikum steckt mehr: das Bewußtsein, daß sich die Bevölkerungsansprüche an das Theater schneller entwickelt haben alsdiedoch erheblich gewachsene künstlerische Kraft der Stadttheater132

ensembles. Beim Zeitstück fällt das manchmal nicht so auf wie beim Klassiker. Gerade in dieser Hinsicht hatte ich bei meinen Besuchen den E i n d r u c k , daß die Leitungen, auch die Dramaturgien, da zum Teil skeptischer, „vorsichtiger" sind als die E n s e m bles. In den mittleren und kleineren Theatern haben sich Gruppen junger Schauspieler zusammengefunden (ein weiteres Problem für Klassikerinszenierungen: der Mangel an leistungskräftigen Darstellern über fünfundvierzig). Sie wollen gutes, erlebnisstarkes sozialistisches Theater spielen, spüren: man muß etwas wagen, wenn man etwas gewinnen will — z. B . die Freude der Besucher am künstlerischen Erlebnis anspruchsvoller klassischer Werke. Wie packen wir den Klassiker, das ist die Frage, die sich an diesem Punkt erhebt. D a b e i spürt man sehr schnell, was einem fehlt: z . B . Z e i t für Vorarbeit, Regisseure, die nicht von einer Inszenierung (und Rolle) zur anderen eilen, das eigene Handwerkszeug (der Sprache vor allem). Man versucht sich zu orientieren an Berliner Inszenierungen und stürzt in tausend neue Probleme. D i e Schwierigkeiten mit den Klassikern erwachsen also zum großen Teil aus unbewältigten Leitungsaufgaben. D a muß schon Zeit geschaffen werden für die gründliche Beschäftigung mit dem ganzen K o m p l e x der dramatischen Weltliteratur: Lesen (auch was in der Schule nicht dran war), Auswählen, Finden der Inszenierungsidee. D a m u ß handwerkliches Training möglich sein (viel würde auf der Probe „erfahren", wenn sich unsere jungen Darsteller in ein, zwei anspruchsvollen klassischen Rollen pro Spielzeit beweisen könnten). D a muß die Auseinandersetzung mit Arbeitsergebnissen im D D R - T h e a t e r , mit ihren ideologisch-ästhetischen Aspekten vor allem, geführt werden. D e n n der W e g zum Klassiker ist oft noch wie ein Gang durch eine hohle Gasse. W e r kommt hindurch? W i e k o m m t er hindurch? D i e Bereitschaft zur lebendigen, zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem E r b e ist ein Schatz, den wir hüten müssen. Aber die Unsicherheiten, die es gleichzeitig gibt, sind eine große Gefahr, auf attraktiv-vereinfachende 133

„Neuerungen" auszuweichen, die den Realismus preisgeben, der Hauptorientierung für die Erbe-Interpretation ist und bleibt. Wir müssen durch diese hohle Gasse hindurch. Die Auseinandersetzung um das Erbe bedarf — von den Leitungen aus — eines prinzipiellen, höheren Niveaus. Wo die Voraussetzungen dafür nicht im notwendigen Umfang gegeben sind, sollte Hilfe organisiert werden. Das Bautzener Experiment mit einem Gastregisseur, der zugleich pädagogisch-methodische Zielstellungen verfolgt, scheint mir nachahmenswert, um die Stadttheater stärker zu Schulen der realistischen Schauspielkunst zu machen. Von dort werden die zukünftigen Künstler auch der haupt- und großstädtischen Bühnen kommen. Der Fragen sind noch mehr als sich auf den ersten Blick anbieten. Darauf kam die Sprache, als ich besonders nach den Gründen für die Vernachlässigung des breiten Spektrums der nationalen Klassik zu sprechen kam. Man liebt Shakespeare und mißtraut Goethe und vor allem Schiller. In Bautzen wurden die „Empfindsamkeit der deutschen Klassiker", „Schillers Sprache" als unzeitgemäß empfunden (man hatte mit Lessings Umilia Galatti schlechte Erfahrungen gemacht). In Zittau konstatierte man das große Interesse des Publikums an einer poesiereichen, märchenhaften Fabel wie der von Shakespeares Wintermärchen und setzte die relativ kontemplative Aufnahme der EgOTO»/-Inszenierung (obwohl das Stück in einem „Publikumsquiz" als Sieger hervorgegangen war) dagegen. Regisseur Winter in Stendal faßte das Problem in dem Bekenntnis zusammen: Shakespeare ist naiver auffaßbar als die deutsche Klassik; heutige Akzente sind mit dem Dichter besser zu vereinbaren als bei Goethe, oder Schiller; m^ti möchte sich gar nicht von ihnen distanzieren — und kriegt doch ganz schnell eine kritische Sicht. Das große — utopische oder antizipatorische — Menschenund Gesellschaftsideal, das die deutsche Klassik sozusagen außerhalb der realen Fabelprozesse ansiedeln mußte, bereitet also Sorgen. Man kann sie nicht vom Tisch wischen. Aber sollte man nicht ausprobieren, ob in ihren Dramen nicht auch etwas von dieser märchenhaften Poesie lebt, die im Theater 134

heutzutage interessiert? Da muß man sich allerdings der Phantasie des Dichters anvertrauen, nicht die Utopien in die Realität herabziehen. Interessiert's junge Leute, so fragen die Intendanten, Dramaturgen, Regisseure, Schauspieler immer wieder, wenn eine Klassikerinszenierung angesetzt ist. Die Frage ist berechtigt, wenn die Zittauer z. B. darauf verwiesen, daß ihr Publikum fast zur Hälfte aus Bürgern bis achtzehn und dann meist aus über fünfzigjährigen besteht, während die produktionsbestirnmenden Schichten einen relativ kleinen Teil im Theatersaal ausmachen. Dieses „Gefälle", das viele Stadttheater kennen, macht Klassikerinszenierungen vielleicht besonders schwierig. Für wen, wie soll man inszenieren? Realistisch, erlebniskräftig, geistig anspruchsvoll — das ist richtig. Aber es bleibt die Frage nach den Aufnahmefähigkeiten und -fertigkeiten junger Zuschauer. Immer mehr Theater und auch Pädagogen halten anspruchsvolle klassische Werke generell ab achter Klasse für geeignet. Ihr Bemühen um künstlerische Erziehung ist aller Ehren wert. Aber kann es sein Bewenden haben mit der „Delegierung" der Schüler zu den Vorstellungen? Zumal angesichts der erfreulichen Tatsache, daß nicht mehr nur Gruppen künstlerisch besonders interessierter Kinder und Jugendlicher, sondern ganze Klassen auf Theater abonniert sind. Da werden außerordentlich differenzierte Erfahrungen und Erwartungen eingebracht, die nicht jedes Stück, auch in ausgezeichneter Interpretation, „automatisch" störungsfrei zu erfüllen vermag. Zu klären sind Fragen der Pädagogik und der Jugendsoziologie: Geht Othello für Dreizehn- bis Vierzehnjährige? Wie müssen Schüler vorbereitet werden (und zwar konkret für jedes Stück, ja jede Inszenierung) — vor allem auf ungewohnte historische, nationale, emotionale Erlebnisse (zumal im Pubertätsalter). Und der Lösung bedürfen kulturpolitische und organisatorische Probleme: stärkere Teilnahme der Lehrerkollektive (ja von Eltern und Mitgliedern der Patenbrigaden) an Schülervorstellungen; „Mischung" von Erwachsenen- und Kinderpublikum überhaupt — gerade bei Klassikerinszenierungen. 135

Shakespeare:

Hamlet

(Städtische Theater Leipzig; 1971 — Regie Karl Kayser) 65 M i t d e n W o r t e n „ O h , s c h m ö l z e d o c h dies a l l z u f e s t e F l e i s c h " , nicht m i t d e r W a c h s z e n e , b e g i n n t die A u f f ü h r u n g , n a c h d e m sich die S c h a u s p i e l e r , die d a n n die G e s t a l t e n d e r H o f w e l t v e r körpern werden, zu einem lebenden Bild — G e l a g e — formiert haben, durch das hindurch der D ä n e n p r i n z zur R a m p e läuft. H a m l e t s K l a g e ü b e r die d ä n i s c h e n Z u s t ä n d e w i r d b e g l e i t e t v o n einer B a c c h a n a l - P a n t o m i m e , z u d e r sich d a s T a b l e a u i m H i n t e r g r u n d an b e s o n d e r s p r ä g n a n t e n T e x t s t e l l e n e n t w i c k e l t : G e n a u auf die z o r n i g e n W o r t e ü b e r „ d a s g a n z e T r e i b e n d i e s e r W e l t " p r o d u z i e r t sich G e r t r u d als d a s l ü s t e r n e W e i b , d a s sich an der brutalen Vitalität des Claudius bedenkenlos berauscht. D i e s e r A u f t a k t b e r e i t s v e r w e i s t a u f eine i n t e r e s s a n t e Intent i o n d e s R e g i s s e u r s K a r l K a y s e r . D e m d i c h t e r i s c h e n T e x t als e i n e w e s e n t l i c h e A u s d r u c k s f o r m d e r k l a s s i s c h e n W e r k e in seiner l a n g j ä h r i g e n P r a x i s b e s o n d e r s e n g v e r b u n d e n , hatte er stets a u c h d e r s z e n i s c h e n E r s c h e i n u n g , in letzter Z e i t (z. B . in der I n s z e n i e r u n g d e r b e i d e n Faust-Teile v o n 1965) d e m S c h a u w e r t einer A u f f ü h r u n g g r o ß e B e d e u t u n g b e i g e m e s s e n u n d sich ( e t w a in d e r Homburg-Inszenierung v o n 1969) vor Textv e r ä n d e r u n g e n — e i n e m e n t s c h e i d e n d e n S t r i c h ü b e r die abs c h l i e ß e n d e T r a u m v i s i o n — n i c h t g e s c h e u t . M i t d e m Hamlet scheint m i r j e d o c h eine a u f f ä l l i g n e u e S t u f e d e r e i g e n s t ä n d i g e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t k l a s s i s c h e n T e x t e n b e s c h r i t t e n z u sein, die nicht zuletzt V e r s u c h e a n d e r e r R e g i s s e u r e u n s e r e r R e p u blik v e r a r b e i t e t . E i n e n n e u e n S t ü c k b e g i n n s a h e n wir b e r e i t s bei d e n Käubern in der B e r l i n e r V o l k s b ü h n e u n d in K a r l - M a r x S t a d t . 6 6 * D e r E i n s a t z die T h e a t e r r e a l i t ä t b e t o n e n d e r Mittel ist nicht n u r v o n B e s s o n k r ä f t i g a u s p r o b i e r t w o r d e n ; hier jetzt f i n d e t d i e A n f a n g s p a n t o m i m e ( a u c h d u r c h die M i t a r b e i t d e s P a n t o m i m e n G e r d G l ä n z e ) m a n n i g f a c h e E n t s p r e c h u n g : in einer m i t U m b a u a r b e i t e n v e r b u n d e n e n b u r l e s k - g r u s e l i g e n Z w i s c h e n a k t p a n t o m i m e v o r d e r T o t e n g r ä b e r s z e n e e t w a ; in v e r s c h i e d e n e n d a s G e s c h e h e n v e r d o p p e l n d e n o d e r die G e s c h i c h t e e r g ä n z e n d e n „ S c h a t t e n s p i e l e n " hinter d e r t r a n s p a r e n ten k a s t e n f ö r m i g e n „ m a r m o r n e n " B ü h n e n d e k o r a t i o n F a l k

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von Wangelins (z. B. erleben wir auf diese Weise den Tod Ophelias, bis ins Detail den späteren Bericht darüber vorwegnehmend) ; in der umfänglichen Schauspielerpantomime der „Mausefalle", die vielfältig maskierte und geschminkte „Typen" gestenreich agieren läßt, ein „Zitat" fast von theatralischen Mitteln, die an anderen Bühnen die Spielweise mancher Stücke prinzipiell bestimmen. Und schließlich wird eine akzentuierte Kritik der Fortinbras-Figur unterstützt, indem die Schlußworte des Norwegerkönigs — wie in Wolfgang Heinz' Berliner Inszenierung 67 — an Horatio übergeben werden. Die Freizügigkeiten gegenüber dem Text, der auffällige Einsatz von Schauelementen schaffen jedoch bei allen Ähnlichkeiten mit anderen Versuchen das unverwechselbare Gesicht einer Kayser-Inszenierung. Sie verbindet einen hohen geistig-philosophischen Anspruch mit sinnenkräftiger äußerer Erscheinungsweise; die szenischen Arrangements wirken zum Teil nach Gesetzen der bildenden Kunst geformt. Zugrunde liegt eine bedeutsame politische — keineswegs nur auf Hamlet bezogene — Konzeption: Die Konfrontation zwischen einer zutiefst menschenunwürdigen, doch ernsthaft-gefährlichen Reaktion und einer humanistischen Alternative, die jedoch den Gedanken einer Neueinrichtung der Welt mit der revolutionären Tat noch nicht zu vereinen mag, aber diesen Auftrag und mit ihm die kritische Sympathie für Hamlet ins Publikum trägt. Dabei wird der Spielort „Theater" nicht verleugnet: Ein kleines Podest im Hintergrund und eine rote Bank auf der Szene sind die einzigen ständig vorhandenen und genutzten Dekorationselemente (hier ist mancher Anklang an Kaysers Faust-Bühne), während die Innenräume durch variabel herabgelassene Gobelins gebildet werden. Würde, Schönheit, Phantasiefülle helfen einen beeindruckenden Theaterabend formen, der vom Leipziger Publikum offenbar außerordentlich geschätzt wird. Der herzlich-überzeugende Beifall einer Repertoirevorstellung bewies das. Hauptursache des Erfolgs scheinen mir jedoch weniger die „sensationellen" Veränderungen und Ergänzungen zum Stück (auf deren Problematiken ich noch zu sprechen komme) als jene Entdeckungen, die Kayser in der Geschichte selbst machte. 137

Solchc Gewinne sehe ich in einer Reihe aufschlußreicher Figurenkonzeptionen und -konstellationen. So die konsequente Polarisierung zwischen Hof und humanistischer Gegenwelt. In die Front der Herren und Vasallen (in kostbaren Renaissancekostümen mit Spitzenkrause, Perlen- und Federbesatz) bleibt auch Ophelia — als tragische, am Übel unbeteiligte, aber sich nicht von ihm distanzierende Figur — eingeschlossen. Astrid Bless spielt sie mit elegischer Eleganz, ohne Wahnsinnswildheit, wobei einige Situationen — z. B . das Valentinslied, auf dem Boden liegend gesungen — eher auffällig als a^issageintensiv wirken. Der humanistischen Alternative ist neben Hamlet und den Volksfiguren (Wachen, T o tengräber) Horatio ganz deutlich zugeordnet. Schöne M ö g lichkeiten sind gefunden, um in den wenigen Textpassagen und im stummen Spiel den Freund zum Verbündeten zu machen. Hier wird, in der Gestaltung durch Gert Gütschow, der Stichwortgeber zur lebendigen dramatischen F i g u r ; gestützt auf ganz „einfache" schauspielerische Mittel — sei es das wache Hinhören auf Hamlet, die immer wieder produzierte Haltung des Einverständnisses, der E r m u t i g u n g oder auch die klare, saubere Sprache. Allerdings scheint mir diese schöne Entdeckung an der Figur überfordert, wenn Horatio sozusagen zum Vollstrecker der Hamletschen Erkenntnis wird. Dafür ist der Gestalt von Shakespeare zu wenig an eigener Aktivität gegeben. Und wenn am E n d e Fortinbras' „Recht an dieses Reich" als Usurpatorforderung gespielt ist und Horatio den Schlußtext von dem, der „wär' er hinaufgelangt, unfehlbar sich höchst königlich bewährt" hätte, als eine Zurückweisung dieses Anspruchs nutzen möchte, wozu der Norweger schweigt und still verharrt, will sich für mich keine rechte L o g i k des V o r g a n g s einstellen. Diese klaren Frontmarkierungen werden durch ein zweites Bemühen unterstützt. Die Höflingsfiguren sind sehr ernst gen o m m e n : Wolf Goette zeigt keinen alterstrotteligen Polonius, sondern einen nicht besonders intelligenten, aber geschickten Opportunisten, vor dem man sich" hüten möchte. Auch Rosenkranz und Güldenstem — Siegfried Worch und Roland Holz — sind alles andere als Hanswurste. A m einprägsamsten gelingt G e o r g Solga die Osrick-Studie. Nicht auf 138

einen aufgeblasenen Neureich trifft Hamlet hier, sondern auf einen selbstbewußten Politiker, der u. a. darum kämpft, die Mütze nach seinem Willen zu tragen — und sich durchsetzt, Hamlet damit seiner letzten „närrischen Rechte" beraubt, der nun in einem verbitterten Lauf im Karree die neuerliche Erkenntnis, vogelfrei zu sein, verarbeiten muß. Demgegenüber blieb Eberhard Strauß als Laertes durchschnittlich, der dümmliche Sohn aus gutem Hause. Allerdings hatte ich auch den Eindruck, als wenn die Szenen Laertes — Claudius im vierten A k t in den Proben etwas zu kurz gekommen seien, von beiden Partnern hier ein bißchen v o m Blatt gespielt wurde, wie überhaupt die Meuterei des Laertes und ihr Zerfall zu selbstverständlich-beiläufig gezeigt ist. Und schließlich werden die inneren Widersprüche der Hofwelt fabelbestimmendes Moment, indem vor allem der K o n flikt der K ö n i g i n deutlich herausgespielt ist. Christa Gottschalk spielt den Prozeß der Ernüchterung dieser Gertrud, die als ein lebenshungriges und mitschuldig gewordenes Weib sozusagen „ n a i v " in die Handlung eintritt und Schritt für Schritt das Verbrechen, das auch in ihrem Namen begangen wird, begreift. Sie beginnt zu erkennen, wie sehr Claudius' Liebe, der Angelpunkt ihrer engen Wünsche, egoistischer Herrschsucht untergeordnet ist. Wenn Claudius bei der Bespitzelung Hamlets mit Hilfe von Ophelia und Polonius seine Frau demonstrativ wegschickt, beobachtet man den ersten Gestus des Erstaunens bei Gertrud. Nach der Szene mit Hamlet, die der Prinz zu einem großen Ringen um und mit der Mutter macht, erscheint sie tief verzweifelt, aufgelöst, gealtert fast vor dem K ö n i g , von dem sie wenig später — im Gespräch mit Laertes — erneut aus den politischen Geschäften ausgeschlossen wird. Jetzt reagiert sie bereits weit kritischer, distanzierter, so daß Claudius durch eine beiläufige U m a r m u n g zumindest die Frau wieder an sich zu binden versucht. Der Trunk des Giftbechers wird — als habe sie Claudius' Spiel bereits durchschaut — zu einem bewußten Affront gegen den K ö n i g . Bekenntnis zu Hamlet, Selbstmord! In diesem interessanten Durchforschen vieler Figurenbiographien liegt eine der schönsten Leistungen der Inszenierung. So entstehen echte dramatische Handlungen, die klare 139

Fabeldarlegungen liefern. Etwa in der ersten Hofszene: wenn Claudius mit großem Anspruch die Staatsgeschäfte regelt, den Fall Hamlet bewußt an die letzte Stelle rückend (auffällig nicht zuletzt deshalb, weil der Prinz immer wieder in den Gesichtskreis des Königs tritt — und „übersehen" wird); wenn die Entscheidung über die Rückkehr nach Wittenberg zu einem großen Kampf wird, mit scharf gegeneinandergesetzten Reden geführt und indem der König zufällig-bewußt den Prinzen zwischen sich und die Königin zu bringen weiß, so daß dessen abruptes, die königlichen „Wünsche" zurückweisendes Abdrehen vom Diskussionspartner ihn der Mutter und ihren Bitten nahezu hilflos ausliefert. Solch intensiver dramatischer Grundton bestimmt jedoch nicht durchgängig die Inszenierung. Öfter tritt die markant in die Szene gestellte Sentenz an die Stelle von fabelbestimmenden Handlungen. Besonders fällt das bei Günter Grabbert als Claudius auf, der seiner wirkungskräftigen persönlichen Ausstrahlung manchmal mehr vertraut, als daß er sie durch szenisches Handeln organisiert, bei dem angelegte bedeutsame Aktionsmomente neben recht allgemeinen Haltungen eines seine Jovialität langsam, aber nie ganz verlierenden Tyrannen stehen. Überhaupt gewann ich den Eindruck, als wenn in dieser Inszenierung zwei Momente im Widerspruch lägen. Auf der einen Seite war eine klare Grundkonzeption im eingangs markierten Sinne ablesbar. Andererseits wurden zusätzliche Bedeutungsakzente gesetzt, die sich neben, ja vor die Inszenierungsidee stellten, sie — ebenso wie einige zu allgemeine Handlungsvorgänge — teilweise sogar paralysierten. Ein besonders deutlicher Ausdruck solcher Erschwernisse, die sich die Inszenierung selbst schuf, war die Behandlung der Geistererscheinung. Während Gerd Glänze als „Gespenst" pantomimisch über die Bühne gleitet, wird Erich Gerberding (der dann auch — die Frage nach dem tieferen Sinn provozierend — den ersten Schauspieler verkörpert) als Sprecher im Straßenanzug ans Bühnenportal gestellt, um den Text des Geists zu interpretieren. (Übrigens, wie auch später als Schauspieler: sprachlich verwaschen, gaumig!) Wer nicht ratlos bleibt, wie ich, ob dieser auffälligen Besonderheit, wer die Absicht der 140

Regie erfaßt, daß hiermit eine „gesellschaftliche Auftraggeberschaft" zum Ausdruck gebracht werden soll, wird sich neue Fragen stellen: Ist es der Geist mit seiner Racheförderung, der so etwas wie einen gesellschaftlichen Auftrag formuliert, oder nicht Hamlet selbst mit seiner erschrocken erkannten Aufgabe, die Welt (neu) einzurichten? An einer solchen Stelle erscheint mir der Zugang zu den Vorgängen und ihrer Bedeutung zerstört, das konzeptionelle Grundanliegen eines Einfalls willen vergessen. Das betrifft meines Erachtens auch solche Punkte, wo eine szenische Attraktion mehr Konzentration auf Probleme ihrer Logik als auf den Sinn der Szene (ja, des Textes) lenkt — was zu befördern ja eigentlich ihre Aufgabe wäre. Die durch Dänemark ziehenden Krieger des Fortinbras marschieren (teils real, teils auf dem „Schattenrißhintergrund") pantomimisch auf den Zuschauerraum zu; Hamlet und seine Begleiter laufen — gleichfalls pantomimisch — in einer Vertikale von rechts hinten nach links vorn. Für einen sachlich beobachtenden Zeitgenossen ergeben sich Fragen zum Realitätsgehalt des technischen Vorgangs, etwa: Wo treffen sich diese beiden Gruppen? Laufen sie aneinander vorbei? Weshalb geschieht keines von beidem? Wenn Kunstwirklichkeit und Realität auf solche Weise divergieren, bleibt zu wenig Möglichkeit, den Gehalt der Szene zu erfassen. Im Gedächtnis bleibt durch die Ausstellung eines stupiden militärischen Zeremoniells die Position des Fortinbras (das ist wichtig für die Akzentgebung des Leipziger Stückschlusses) ; kaum nachvollziehbar wird die Bedeutung dieser Begegnung für Hamlet. Hier allerdings — und damit kommen wir wieder auf einen der Aktivposten der Inszenierung — leistet ein Schauspieler Wesentliches, um in seiner Figurengestalt über die Probleme der Aufführung hinweg den zentralen Konflikt des Stücks immer aufs neue und eindrucksstark über die Rampe zu bringen : Friedhelm Eberle als Hamlet. Sein Hauptanliegen ist es nicht allein, die ideeliche Nähe dieses sensiblen und mutigen, problembeladenen Hamlet für uns zu zeigen wie Jürgen Hentsch in der Karl-Marx-Städter Aufführung von 1964 (obwohl uns das hohe Verantwortungsbewußtsein und die ständige Agilität des Eberleschen Hamlet heutig berühren). Und er zielt nicht darauf, dessen Zaudern als eine gesellschaftlich 141

bedingte „ S c h u l d " gewissermaßen warnend vorzuführen wie Horst Drinda in der Inszenierung des Deutschen Theaters (gleichfalls 1964). E r spielt die tiefe - Widersprüchlichkeit der V o r g ä n g e , in die sich Hamlet gestellt sieht oder die er zu organisieren versucht (und ist deshalb in den Ensembleszenen sicherer als in den Monologen). Vor allem die U m s c h w ü n g e zwischen großer Warmherzigkeit, wachem Scharfsinn, harter Konsequenz einerseits (die ich noch nie in so einfacher, fast alltäglicher Deutlichkeit gesehen habe), dem ganz bewußt und glänzend eingesetzten Wahnsinnsspiel andererseits sowie echtem Außersichsein, wenn Ereignisse oder Emotionen ihn überwältigen — das sind die Punkte, an denen sich das schauspielerische Handeln Eberles entzündet. D i e konkreten Szenenverläufe werden so außerordentlich verständlich, aber nie demonstriert. Damit hilft er die Sympathie für diese Figur, ihre Größe, ihre Vorbildhaftigkeit im Bewahren, Bereithalten und Erproben humanistischer Werte und Ideale organisieren und zugleich die Einsicht in seine historischen Grenzen wecken. Schade, daß diese souveräne, nichts mystifizierende oder unnötig verkomplizierende Rollengcstaltung durch eine den Vers bewußt zerstörende (besondere Sinngebung vermuten, aber nicht erkennbar werden lassende) Sprechweise wiederum in dem vorhin genannten Sinne von der Konzeption ablenken würde — wenn das durch Eberles überzeugende Gesamtgestaltung nicht als eine bloß peinliche Marotte erschiene. So bietet die Leipziger Hamlet-Inszenierung Karl Kaysers, nehmt alles nur in allem, viele Anregungen und Probleme, Stoff f ü r Diskussionen um eine sozialistische ShakespeareInterpretation und um unsere Erbc-Rezeption, ihr — notwendiges — Suchen nach parteilich-zeitgenössischer Realisierung der „spezifisch theatralischen" Möglichkeiten jener großen Werke. Shakespeare: Hamlet (Deutsches Nationaltheater Weimar; 1972 — Regie Fritz Bennewitz) 68

Nach zwölf Jahren hat Fritz Bennewitz — nach mutigen und orientierenden Entdeckungsfahrten mit weniger gespielten Werken Shakespeares und seiner Zeitgenossen 6 9 * — den Hamlet 142

zum zweitenmal am Weimarer Nationaltheater inszeniert. Es schien ein Zwang zu sein zur neuerlichen Auseinandersetzung mit diesem „Standardstück". Der Premierenabend konnte das nicht bestätigen. Eher ist von einem Ensembleexperiment zu sprechen, das auch jüngeren Darstellern die Chance zu großen Aufgaben und die Möglichkeit, daran zu wachsen, geben sollte. Das betrifft vor allem Detlef Heintze als Hamlet. Ich sah ihn zuletzt — mit viel, wenn auch künstlerisch noch nicht ausgeprägter jugendlicher Ausdruckskraft — als Romeo in Erfurt und als Holger (Franziska Lesser von Armin Müller) in Weimar. Er bringt diese Möglichkeiten auch in die Rolle des Dänenprinzen ein. Da gibt es interessante Momente und auch Leistungen, etwa bei der geistig-sprachlichen Durchdringung des Monologs „Oh, schmölze doch [. . .]". Insgesamt jedoch schafft Heintze den Bogen der Rolle noch nicht, fällt vor allem nach der Rückkehr aus England in leichtfertig-jungenhafte Haltungen; das reicht in der Fechtszene bis zu unbegreiflicher Naivität. Sicher ist der Versuch, dieser Figur die stereotypen Züge eines „Berufsphilosophen" zu nehmen, ihn zuvörderst als normalen jungen Mann mit schwierigem Auftrag zu zeigen, produktiv (wenn auch so neu nicht). Aber wenn die Gestalt auf diese Weise zu „privat" gerät, kommen Fabel und Kon-' flikte des Stücks ins Wanken. Man hat da zum Teil auch dramaturgisch durch kräftige Striche nachgeholfen (wenn Claudius Laertes' Zorn äuf Hamlet lenkt, hatte ich den Eindruck einer Comics-Kurzfassung des Vorgangs). Auch die erste Fortinbras-Szene fehlt — und damit (neben anderem) für Hamlet jener Punkt, wo er neue Einsichten in die welthistorische Dimension und die Problematik seines Auftrags gewinnt. Diesen Reifepunkt aussparend, drängten sich mir dann im fünften Akt angesichts der nonchalanten Jugendlichkeit des Protagonisten, die bei Hans Radioffs Laertes eine Art „beschränkter" Entsprechung findet und in einer szenisch eindrucksstarken, von echten Ansprüchen getragenen Prügelszenc zwischen beiden in Ophelias Grab kulminiert, Assoziationen eines Generations- (statt eines Gesellschafts-) Konflikts auf. Auf der Strecke blieb für mich das schriftlich formulierte Anliegen der Inszenierung: die Bereitschaft zur Tat ins Zentrum zu rücken. Es kann wohl auch über die sich wenig 143

festigende Persönlichkeit eines — zugespitzt — Halbstarken mit humanistischen Idealen höchstens verbal, in der Akzentuierung der entsprechenden Textstelle, nicht aber in Form einer bewegend-produktiven Idealvermittlung zum Tragen kommen. Hinter dieser Problematik trat eine Reihe von Schönheiten der Inszenierung nur zögernd hervor, zumal manche Szene recht hausbacken dargeboten wurde und auch Franz Havemanns Bühnenraum — ein dreitüriger grauer Leinwandhänger vor einer durch graue Gardinen leicht variierbaren StufenSzene — mehr die Vorlieben des Künstlers (für „Türen" oder „Brücken") als die aus den Fugen geratene Welt zeigte. Manfred Heines Claudius, Gudrun Volkmars Ophelia (mit auffallendem Mut zum Außerordentlichen), auch Linde Sommers Gertrud, Victor Drägers Polonius und Wolf-Dietrich Voigts Horatio (den man auf der Bühne förmlich über seine Stichwortgeberfunktion „hinwegdenken" sah) boten manches Interessante, ohne der Inszenierung im ganzen aufhelfen zu können. Diese hatte für mich — neben den gutgebauten Intimsituationen im Hause Polonius — ihren Höhepunkt in der Totengräberszene mit ihrer tiefgründigen Durchleuchtung des Texts, vor allem durch Dietrich Mechow als l. Totengräber. Hier hat Bennewitz den schönen Lösungen, die er zur Aufdeckung von Witz und Weisheit in altenglischen Volkszenen und Volksfiguren bisher gefunden hat, eine neue hinzugefügt.

Shakespeare: Othello (Theater der Altmark Stendal; 1974 — Regie Claus Martin Winter)™

Weniger „weltliterarische Tragödie" als „Volkstheater" spricht aus dieser Inszenierung Claus Martin Winters. Robert Weimann wirkt auf die Shakespeare-Rezeption auch an kleinen Theatern. Und das im zu beschreibenden Fall — prinzipiell — frisch und produktiv, auch wenn man dabei sichtbare ideologisch-ästhetische Einseitigkeiten nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Dieser Othello stützt sich auf die Neuübersetzung von E. S. 144

Lauterbach, die von Benita Gleisberg zu Ende geführt wurde. Sie hat eine kräftige, aktionenfordernde Sprache, hebt die übliche Einschmelzung zu einem „allgemeinen" tragischen Gestus auf, macht aus den publikumsbezogenen und clownesken Passagen mehr als Wortspiele: auffällige szenische Momente. Allerdings hat man sich in Stendal auf diese Momente zu sehr konzentriert, für die Zweieinviertelstunden-Aufführung vor allem in den großen Monologen und Weltanschauungsdialogen überkräftig mit dem Rotstift gearbeitet. So dominiert die aktionskräftige Darstellung der puren story über den geistigen, menschheitlichen Gehalt der Dichtung. Eine solche „Vereinfachung" (die beispielsweise den ideologischen Untergrund für Jagos Handeln kaum erkennbar macht) mag sich auf Erfahrungen in der Rezeptionspraxis des Publikums stützen; deren Entwicklung betreibt sie zu wenig. Beeindruckt haben mich Bühnenbild- und auch Kostümgestaltung (Hans Kind, Edith Mai-Probst), die mit den einem Theater dieser Kategorie möglichen Mitteln die Fabel erzählen helfen, phantasie- und geschmackvoll Handlungsorte und Figurenbeziehungen „beschreiben": zwischen dem verengten Bühnenportal ein quadratisches Spielpodest, auf ihm drei Reihen schlanker weißer Säulen; verschiedenfarbige und immer wieder neu angeordnete Gardinen schaffen die Spielräume. Da dieses Prinzip nicht mechanisch gehandhabt wird — Othellos zyprischer Landsitz ist „wirklich" eine grüne Landschaft mit Bäumen —, bereitet es hohes ästhetisches Vergnügen (eine Einschränkung: die unverständliche Symbole assoziierenden „Rhomben"-Gardinen im ersten Zypern-Bild). Die schönste inszenatorische Entdeckung — neben den vielfältigen Variationen auch im Deftigen meist gediegener „clownesker" Situationen — ist die Gestaltung der Beziehung Rodrigo — Jago. Rodrigos „Liebes"-Bedürfnis nach Desdemona hat ihn Jago zur Schockierung von Vater Brabantio mieten lassen (schön die gespielte „Rufarie" Jagos). Jago keltert aus diesem Auftrag seinen eigenen Racheplan. Der Helfershelfer wird zum spiritus rector. Entscheidend dafür die Szene „Tut Geld in Euren Beutel". Auch sie erhält zuerst komische Züge, wenn Rodrigo den Jago — mit dem Degen auf dessen Brust — bedroht, bis Jagos Redekünste ihn Überlegenheit gewinnen 10 ' Nössig

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lassen: Der Auftraggeber wird zum Spielball und am E n d e von J a g o planvoll und bewußt geopfert. D a s ist ganz klar gespielt — bis auf die clownesk-theatralische T ö t u n g des verletzten Rodrigo, die diesen wichtigen V o r g a n g plötzlich klein macht. Als J a g o s wichtigste „ A l i b i s " tot sind, wird der Mord an seiner Frau Emilia zur Spontanhandlung des in die E n g e Getriebenen. Klaus-Jürgen Gehnkc gelingt auf der Grundlage dieser durchdachten Handlungsaufgabe die überzeugendste Leistung. E r zeigt J a g o s fast sportlichen Spaß am Intrigieren und die Anstrengungen, die dafür notwendig sind, die geistige Arbeit vor allem, mit der er sie, immer eilfertig, bewältigt. Z u wenig erkennbar wird, durch die Unterspielung der ideologischen Ursachen von J a g o s Handeln, der Widerspruch zwischen Fähigkeit und Pervertierung als g e s e l l s c h a f t l i c h e s Phänomen. Max Grashof als Othello ist mit dieser A u f g a b e bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten gefordert. E r markiert „Haltungen" — den selbstsicheren General und den schwärmerischverspielten Liebhaber (seine jugendlich-kleine Stimme bereitet ihm hier wie da Schwierigkeiten). Z u m W e s e n der Figur, ihrem inneren Widerspruch vermag er noch nicht vorzudringen. Z u m Schluß veranlaßt ihn die Regie — in A u s l e g u n g der Textpassage „daß ich als Mord begehe, was ich geglaubt als Opfer zu vollziehen" — eine „Mohren-Pantomime" zu zeig e n : E r kommt in Desdemonas Zimmer, steckt eine Fackel an eine Säule und bindet einen Strick um eine andere; setzt sich auf den Boden und spricht Teile des M o n o l o g s unter rhythmischem Trommeln seiner Hände; fesselt D e s d e m o n a an einen Pfeiler, setzt sich wieder, um zu trommeln und erwürgt sie, festgebunden an der Säule. Hier gehen die schönsten Bemühungen der Regie um ein „Aktionsdrama" — wegen eines Einfalls, eines E f f e k t s ? — in die Brüche: Nicht der beleidigte Mensch in seiner Verzweiflung, sondern ein „Primitiver" vollbringt, in ritualer Handlung, die grausame Tat. Sigrid Herforth als Desdemona zeigt das Standesbewußtsein und die Reife dieser Frau (eine auffällige Größe in ihrem Bekenntnis zu Othello vor dem Senat, was allerdings die Partner auf der Bühne nicht aufnehmen), später ihre nie unterwürfig liebende Sprachlosigkeit. Trotzdem bleibt die Figur zu klein. N o c h auffälliger ist das bei Emilia (Edeltraut Weißbach), die im zen146

tralen Konflikt relativ blaß bleibt, hervorsticht aber durch ihre ad spectatores-Rede über die Männer. Interessant ist noch eines: Ich beobachtete, daß die Darsteller dort, wo sie über den puren Vorgang hinaus die Widersprüchlichkeit der Figuren und ihrer Beziehungen zum Ausdruck bringen konnten, plötzlich Leistungen zeigten, die man ansonsten vermißte: Die Jago-Gestaltung war ein Beispiel, ein anderes die Othello — Desdemona-Szene nach der Taschentuchintrige — das Ringen zweier Menschen um- und gegeneinander. Nicht nur Aktion verdeutlichend, sondern Charaktere offenbarend, wird auch „stützlose" Sprache zu künstlerischem Dialog. Man darf, so zeigt diese Inszenierung, Weimanns Hinweis auf den plebejischen Charakter von Shakespeares Theater nicht isoliert sehen von dessen geistigem Gehalt. Die dialektische Brechung von Weltliteratur und Volkstheatergestus zu erfassen — hier sollten die Chancen weiterer Arbeit gesucht werden, auch in Stendal. Shakespeare: Othello (Deutsches Nationaltheater W e i m a r ; 1974 — Regie Fritz Bennewitz) 7 1

Das Beeindruckendste dieser neuen Shakespeare-Inszenierung Fritz Bennewitz' ist die Attraktivität des Erscheinungsbilds im tristen Behelfstheaterkino.72* Eine interessante Leistung nicht zuletzt des Ausstatters Franz Havemann. Er stellt ein Lichtbandportal (mit dem Stückzitat „Verdammt sei meine Seele/ Lieb ich dich nicht! Und wenn ich dich nicht liebe /dann kehrt das Chaos wieder ein.") frei auf das die ganze Saalbreite einnehmende Spielpodium; anfangs zum Zuschauerraum hin abgeschlossen durch einen leichten Vorhang mit einem simultanen Pastellbild (a Ii Schwimmer) — im Mittelpunkt ein hingetupftes Liebespaar. Wenn diese Gardine, nachdem ein neugierig machender Wind sie gebläht hat, auffährt, fällt der Blick auf ein niedriges „Marmor"-Podest, begrenzt und beleuchtet von vier Scheinwerfertürmen. Nach hinten ist die Szene durch eine Leinwand (auf die zeitweilig ein Othello — 10»

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Desdemona-Bild projiziert wird), nach oben hin von der sichtbaren Beleuchterbrücke und „goldenen" Hängesymbolen abgeschlossen. Ein Globus (Senat), eine Bank und ein Bett sind die einzigen „Dekorationen" (abgesehen von der Effektenkiste, die Jago auf Zypern mit sich herumschleppt). Das andere müssen Schauspieler, Beleuchter und Tonmeister leisten. Das Bühnenprovisorium als Chance der Schauspielkunst — wie wird es genutzt? Der Gesamteindruck ist der besonderer szenischer Einmaligkeit; sichtbar das Bemühen der Regie, von einer mehr philosophisch als theatralisch grundierten Shakespeare-Rezeption (wie bei Richard II.) Abschied zu nehmen. Da gibt es ein „Aufbrechen" des Texts, wenn z. B. Teile der Schlußszene als eine Art gestelltes Bild gleich am Anfang „zitiert" werden, um vom vorweggenommenen blutigen Ende her das Augenmerk auf die „Ursachen" der Tragödie zu lenken (Text nach dieser Introduktion: „Urteilt nun selbst!"). Da sind vor allem bis zur Pause viele plastische Arrangements gefunden, ebenso attraktiv wie künstlich ausgestellt — etwa die fast pantomimische „Inbesitznahme" der Desdemona durch Othello. Da wird durch melodramatische Musikeinspielungen und Toneffekte (z. B. echohafte Textwiederholungen) Bedeutungsunterstreichung und Spannungswirkung erstrebt. Das ist alles interessant-experimentell, erinnert mich, was die Auseinandersetzung eines Regisseurs mit seiner eigenen Tradition betrifft, an Karl Kaysers Hamlet-Versuch von 1972. Welche Impulse ermöglicht diese Inszenierung beim Zuschauer, welche menschendarstellerischen Fähigkeiten setzt sie bei den Schauspielern frei? Die Zuschauerresonanz in der Repertoirevorstellung, die ich sah, war gut. Die würdevoll-gediegene Attraktivität hatte offensichtlich Eindruck gemacht. Aber war die Geschichte, waren die Ursachen der tragischen Vorgänge einsichtig geworden? Ich kann nur vom eigenen Eindruck sprechen. Und da blieb mir doch das Bedeutungsschwangere des so kunstvoll organisierten Geschehens zu allgemein. Das konzeptionelle Kernzitat vom „Chaos" hatte für meine Begriffe mehr Stimmung entstehen lassen, als daß es half, die Geschichte des Außenseiters Othello als einen sozialen Vorgang zu erzählen — als schlüssigen Gegenbeweis zu der im Programmheft zitierten These Armin-Gerd Kuck148

hoffs: „Das Entsetzlichste wird fast nie in unseren Inszenierungen sichtbar: daß nämlich Othello keineswegs einem gleichwertigen Partner unterliegt, sondern der Gemeinheit der Welt, die Jago nur die Mittel bietet [. . .]." 7 3 Eine wesentliche Ursache für diese meine Unzufriedenheit sehe ich in einer Art klassizistischer Schauspielerführung: Um die philosophisch-weltanschauliche Komponente des Stücks und ihre Verarbeitung durch die zeitgenössischen Interpreten sinnlich erlebbar zu machen, sind vor allem äußerliche theatralische Mittel und die Schwesternkünste aktiviert worden. Vernachlässigt erscheinen der simple Vorgang, die real-widerspruchsvollen Figurenbeziehungen, soweit sie über demonstrative Arrangements und Szenenabläufe hinausreichen (die leicht vertrottelten Senatoren und ihre Nöte, die planvolle Abschlachtung Rodrigos usw.). Und wenn es um so eine „Lappalie" geht, daß man sich z. B. im Senat an dem riesigen Globus über die Situation von Zypern unterhält — und dabei ständig auf Mittelasien deutet. So fühlte ich mich zu wenig in die Geschichte einbezogen: durch die in Grandezza wie Wüten letztlich statuarische Gediegenheit des Othello von Manfred Heine — so „schön" das auch alles war; durch die zwischen blinder Liebe und ängstlichem Unverstandensein agierende Desdemona Sylvia Kuziemskis; durch den gradlinig-treuherzigen Offizierstyp Cassio, wie ihn Hansgerd Sonnenburg vorstellte; oder durch die beschränkte Landsknechtskreatur Rodrigo in der Interpretation Hans Radioffs (betont auch durch eine aktuelle Assoziation weckende Kostümierung: Jago und Rodrigo mit netzbespanntem „Tomy-Helm"). Gegen diese innere „Abgeklärtheit" der von Leidenschaften getriebenen Figuren stach Klaus-Martin Boestels Jago für mein Gefühl positiv ab. Hier lebte viel von ursprünglich-realistischer Spiellust, ohne daß der Einsatz des Darstellers für die lebensnahe Widersprüchlichkeit dieser „miesen" Figur im Gesamtbild der Inszenierung ihre soziale Komponente über die durch äußere Reize verdeckten realen Vorgänge durchsetzen konnte. Etwas von dieser gesunden Naivität, die meines Erachtens für Shakespeare unerläßlich ist, wurde auch in Gudrun Volkmars Emilia sichtbar. Um nicht mißverstanden zu werden: Es war ein Abend mit 149

großen Eindrücken. Über die Produktivität einer so mit aller Konsequenz betriebenen ästhetischen Aufgipfelung (und wie ich meine Verschlüsselung) von menschlich und sozial bedeutsamen Vorgängen — auch im Interesse der Schauspielkunst, die mir früher in „urbaneren" Formen in Weimar besser gefallen hat, mehr zu Weite und Vielfalt sozialistischer Theaterkunst beizutragen schien — wäre zu diskutieren. Ibsen: John Gabriel

Borkmann

(Staatstheater Dresden; 1972 — Regie Klaus-Dieter Kiest) 7 4

Die Bühne von Gerhard Schade ist (bis auf das allerdings ebenso kräftig stilisierte Außen-Schlußbild) ein grellweißer Kasten, nur von einer Tür und einem schlanken, hohen Fenster unterbrochen. Kahl sind diese Wände. Und in den Räumen steht nur das Mobiliar, auf dem gesessen, mit dem gespielt wird: ein Tischchen und zwei Stühle im Zimmer von Gunhild Borkmann, ein hölzerner Armsessel und vier Stühle bei John Gabriel. Auch die Herrschaftskostüme sind eher gediegen als charakteristisch, z. B. abgeschabt. (Dagegen ist bei den Niederen — dem Stubenmädchen, Wilhelm Foldal und seiner Tochter Frida — schon vom Gewand her soziale Position und ökonomische Lage kräftig betont.) Und schließlich spart Regisseur Klaus-Dieter Kirst mit „atmosphärischen Nuancen", wenn er beispielsweise zu Beginn im Gespräch zwischen Gunhild Borkmann und Ella Rentheim auf die verschiedenen Phasen des Mantelablegens (die allerdings etwas über die Figuren und ihre Beziehungen zueinander aussagen können) verzichtet. All das zielt auf die Hervorkehrung der gedanklichen, weltanschaulichen Aspekte dieses späten und bei uns zumindest seit den fünfziger Jahren nicht gespielten Ibsen-Stücks. Mit der Geschichte des John Gabriel Borkmann — hochangesehener Bankdirektor einst, als solcher in einem Sendungsbewußtsein zur Erschließung der Reichtümer des Landes mit dem ihm anvertrauten Geld spekulierend, darob von einem Vertrauten angezeigt, zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt und seit nunmehr acht Jahren vor der Welt und der Familie in sein ein150

sames Zimmer geflüchtet — sollen Probleme der gesellschaftlichen Verantwortung des Menschen auch für den sozialistischen Zuschauer aufgeworfen werden. Theoretisch liegt das nahe. Drei Menschen kämpfen um den jungen Erhairt Borkmann. Der Vater, der an seinem letzten Lebenstag aus seiner Isolierung heraustreten will, um neu anzufangen mit alten Zielen — „Wohlstand schaffen" durch eitel-egoistisches Machtstreben — und sich dabei mit seinem Sohn verbünden möchte. Die Mutter, die in Erhart nichts anderes sieht als den Rächer ihrer gescheiterten Lebensperspektive. Tante Gunhild, die sich als todkranke Frau die kindliche Liebe und Gegenwart des jahrelang von ihr Erzogenen zu sichern sucht. Erhart weist all diese Angebote von sich, verläßt die Familie mit der Frau, die er jetzt liebt, um ein eigenes Leben zu führen. Tatsächlich jedoch berührt diese Abrechnung mit falschen Lebensidealen (so sehr beispielsweise Borkmanns Idee von der Menschheitsbeglückung durch Entwicklung der Produktivkräfte „an sich" oder besser „für sich" Parallelen zu gegenwärtigen spätbürgerlich inhumanen Theorien und Praktiken bietet) nur sehr mittelbar den Nerv des heutigen Zuschauers, ebenso spurenhaft wie der jugendliche Ausbruchsversuch aus dieser Welt, zumal er so symbolhaft-unbestimmt ist. So hält man sich zuerst an die handwerkliche Schönheit des Stücks, empfindet von hier aus Genuß am Theater als Vorführerin vergangener Geschichten. Vor allem dort, wo auf der „Disputierbühne" die Vorgänge in und zwischen den Menschen szenisch sichtbar werden, etwa durch klare erzählende Arrangements. So erhält Borkmanns Hoffnung, daß man ihn wieder ans Steuer der Wirtschaft bitten werde, Plastizität, wenn er auf ein Klopfen hin eilig den hölzernen Armsessel in die Bühnenmitte zieht, darin erwartungsstolz und mit dem Gesicht zur Tür genußvoll sein „Herein" ruft, oder wenn er (von Foldal mit der Wahrheit konfrontiert und erneut allein) noch einmal und noch größer Anlauf nimmt, seine Illusionen aufzubauen, dazu die vier Stühle rechts und links neben den Sessel rückt — bis Ella Rentheim eintritt, vor der er wie zufällig sein „Spielzeug" wegräumt, dabei zugleich die Möglichkeit schaffend, viel Raum zwischen sich und seine Besucherin und ehemalige, schmählich verratene Geliebte zu legen. 151

Doch allzu viele Möglichkeiten bieten sich nicht, die Geschichte auf diese Weise zu erzählen. Das meiste bleibt den Schauspielern, ihrem Gestaltungsvermögen. Und da zeigt sich, was Ibsen für Anforderungen stellt. Gerecht wurde ihnen vor allem Katja Kühl als Gunhild Borkmann: verbittert im Zorn ob ihrer gescheiterten Existenz und um nichts als ihre „Rehabilitation" ringend — darin ist sie stark, leidenschaftlich, Möglichkeiten ihrer Größe andeutend, einer Wassa Shelesnowa vergleichbar; darüber hinaus erscheint sie schwach, zerbrochen schon, klein, nur noch zur Pose fähig. Traute Richter als Ella Rentheim zeigt die Würde dieser Figur, die sich in einer Welt des moralischen Verfalls zu humanistischem Verzicht durchringt; aber sie kämpft mit Ibsens Sprache, in Bernhard Schulzes Neuübersetzung vor allem auf Sinnklarheit zielend, der sie „klassisches" Profil geben möchte und dabei allzu leicht — phonetisch und gedanklich — unpräzise wird. Achim Schmidtchen zeichnet, um psychologische Stimmigkeit bemüht, Alter, Gebrochenheit und Illusionen des Borkmann nicht immer ohne zu chargieren. Sicher wäre es einfacher, die Figur als Fossil zu zeigen. Der Inszenierung geht es aber darum, in der Rolle nicht nur das historisch absolut Überholte, sondern auch die weiterwirkenden spätbürgerlichen Praktiken einer „Zivilisation" ohne Humanisierung im gesellschaftlichen und privaten Bereich erkennbar zu machen. Schmidtchen möchte die Figur glaubhaft, echt machen und distanziert sich von ihr, läßt sie Worte wie „Arbeit" oder „Aufbau eines neuen Lebens" gewissermaßen in Anführungsstrichen sprechen. Aber eine „ganze" Figur entsteht auf diese Weise nicht. Und Marita Böhme als die reife und reiche Geliebte Erharts vermochte über die äußere Attraktivität hinaus nur wenig von dem komplizierten Wesen der Fanny Wilton zu erfassen. Interessant dagegen Günter Kurze als Erhart. Seine Distanz gegenüber den Borkmanns, seinen Ausbruch aus der Familie gestaltete er mit Zügen großer, überspielter Unsicherheit. Er ließ so nur eine kritisch^ Sympathie gegenüber der Figur zu, ohne sie aufzugeben. Besonders überzeugend gelangen oft nur in kleinen, aber präzis gespielten Studien die „Bediensteten": Helga Werner als Stubenmädchen, Vera Irrgang als Frida und Peter Holzel als Wilhelm Foldal. Sie schufen komische, ernste 152

und tragische Kontraste zur Herrschaftsgeschichte, ließen ihre Historizität ebenso hervortreten, wie sie dafür sorgten, die Alternative (auch echte Tragik) jenseits der Borkmanns, ihrer Verwandten und Bekannten, die sich höchstens noch zu einem Humanismus des Verzichts oder allgemeiner Liebes- und Lebenssehnsucht aufschwingen können, zu suchen. In dieser betonten Konfrontation sah ich die aufschlußreichste Neuentdeckung für uns. Ob sie ein Ausgangspunkt ist, dieses Stück, das Spätwerk Ibsens überhaupt, auf unseren Bühnen heimisch zu machen (oder ob dazu ganz andere, radikale Konzeptionen zu finden sind), wird hoffentlich zukünftig auch andernorts ausprobiert werden.

Ibsen: Die Wildente (Volksbühne Berlin; 1973 — Regie Manfred Karge/Matthias L a n g h o f f ) 7 5

Dekoratives Der erste Akt: Im Hause des Bergwerkbesitzers und Großkaufmanns Werle. An der Rampe ein roter Teppich, darauf im weiten Abstand — frontal zum Publikum — zwei hochlehnige Stühle. Der Mittelgrund mit schwarzem Bodenbelag ist kaum vom Bühnenlicht erfaßt. Im Hintergrund ein Wintergarten mit Pflanzenwald und Vogelgezwitscher — überscharf abgebildet in seiner kalten Protzigkeit. So sieht Ausstatter Pieter Hein den ersten Schauplatz, den die Regisseure Manfred Karge und Matthias Langhoff als eine Art Vorspann für „Ein Familiendrama aus dem Leben eines Fotografen" 76, des Hjalmar Ekdal, ansehen. Der zweite bis fünfte Akt zeigt Hjalmar Ekdals Fotografenatelier : gutbürgerlicher Wohnraum und — eine Wellblecharkade betont ein verengtes, kastenförmiges „abgetrenntes" Gelaß — recht „modern" ausgestattete Arbeitsstätte (mit blitzenden Lampen und abschließendem Landschaftsprospekt). Das Dachzimmer ist angedeutet durch eine in der vorderen Mitte nach unten führende Stiege, über die alle Personen — mit dem Kopf zuerst — auftreten (wobei sie in der Regel vorher von Frau 153

Gina und Tochter Hedwig durch eine Art Lichtschacht beobachtet werden). Dominierend die zweiflüglige Schiebetür hinter dem aufrollbaren Landschaftsprospekt; sie führt zu jenem Raum, in dem die Hasen (für Ex-Leutnant Ekdals Illusionsjagden) und die Wildente leben. Räume sind geschaffen, die im ersten Fall eine fast symbolisch-bedeutsame, im zweiten Falle eine sehr natürliche „Bespielung" zu fordern scheinen.

Fotografisches Das Konzept der Regie füllt die beiden Raumkompositionen — auf unterschiedliche Art — einheitlich aus. Diese Einheitlichkeit liegt im Demonstrativen. Im ersten Akt dienen die auseinandergerückten Stühle dazu, Dialoge zu distanzieren — etwa den zwischen Werle Vater und Werle Sohn (der sich von der sachlichen Brutalität des väterlichen Geschäfts zurückgezogen hatte, jetzt als Teilhaber für den heiratsbereiten Alten gewonnen werden soll, aber sich von seiner humanistischen Illusion nicht trennen will). Der Wintergarten wird zu einem großen Tableau für Arrangements der Sinnenleere, in denen sich Werles Kammerherrengäste, auch seine Haushälterin und Ehefrau in spe, die Sörby, diskreditieren. Ihre Gespräche — über Mikroport in technische Kälte, Unpersönlichkeit transponiert —, ihr Lachen, ihr Blindekuhspiel erscheinen als bittere Farcen. Ihnen ausgesetzt ist Hjalmar. Von Gregers Werle eingeladen, ist er nicht nur für dessen Vater (der an den kriminellen Vergehen des alten Ekdal und damit an der Schwierigkeit Hjalmars, im bürgerlichen Leben Fuß zu fassen, seinen Anteil hatte) ein Eindringling im Wintergartentableau. Er, dessen Stimme als einzige „natürlich" aus der Entfernung ans Ohr der Zuschauer dringt, wird zum allgemeinen Spielball des Spotts. Und wenn sich die „Außenseiter" Gregers und Hjalmar unterhalten, dringt plötzlich die Gesellschaft beängstigend aus dem hellen Hintergrundkäfig über die schwarze lichtdiffuse „Mittelzone" zu ihnen auf die Vorbühne vor. „Fotografisches" also schon — stark symbolisierend noch — im ersten Akt: Posen, Tableaus, (filmische) Bedeutungsbewe154

gung. Das setzt sich fort, dominiert endgültig in Hjalmars Atelier. Sicher tun die Regisseure gut daran, im Text die tausend Kleinigkeiten, auf denen der Konflikt auch aufgebaut ist, zu entdecken, in den Beziehungen der Familie Ekdal a u c h das Triviale aufzuspüren. Aber ist all das, was Ibsen da notiert, so zentral, um aus der Betulichkeit von Frau und Tochter für Hjalmar eine Filzpantoffelpantomime zu machen, demonstrativ einen Hauspascha aufzubauen, der die Tochter mit kräftigem Griff in den Nacken züchtigt und anschließend streichelt? Hjalmars eitelselbstgefälliges Wesen, sein Bramarbasieren, die schuldbewußten Reaktionen Ginas finden ihre Hypertrophierung in immer neuen Fotografierposen: Hjalmars krampfhaft gen Himmel gerungene Hände, seine weit von sich gestreckten Arme, mit denen er den Zweifel an Ginas Vorleben quittiert, während sie sich demütigend über ihn posiert. Höhepunkt dieser Demonstrationen: Die vierzehnjährige Hedwig hat sich erschossen, nachdem klar wurde, daß sie die Tochter Werles ist, der ihre geschwängerte Mutter mit dem ahnungslosen Hjalmar verheiratete, dem er die Fotografenausrüstung sozusagen als Aussteuer schenkte; daß der von ihr bewunderte Hjalmar sie nun als ein Paria betrachtet. In großer Klagegebärde steht der Fotograf am Totenlager — bis er sich des Geschäfts besinnt, die Leiche für eine fotografische Aufnahme drapiert. Die Ausbeutung des Fotografenmilieus für die Spielweise liefert so etwas wie eine Röntgenaufnahme der von Ibsen geschilderten Gesellschaft. Schauspielerisches Röntgenaufnahmen haben ihren Reiz. Sie enthüllen Verborgenes. Sie sprechen den sachlichen Sinn von Menschen in einer hochtechnisierten Umwelt an. Aber sie haben einen Nachteil. Sie liefern nur Umrisse, nicht die Totale. Das ist für die Kunst ein Handicap — wenn diese nicht bewußt ihr Ziel etwa in einer Groteske sieht. Ibsens Wildente ist von der Bitterkeit eines Moralisten getragen, nicht von der Schärfe des Satirikers. Wenn das Stück nun über weite Strecken wie ein Sternheim gespielt wird, leiden seine Figuren, die Menschen des Stücks. 155

Alle Gestalten fügen sich nahtlos in ein rigoros entlarvendes Bild ein: Wilfried Ortmann (Werle) ist eine gefährliche Mumie. Hans Teuscher (Gregers Werle) trägt auf seiner schiefen Schulter von A n f a n g an den hilflos-eifernden Idealismus eines unpraktischen Weltverbesserers über die Bühne. Angelica D o m r ö s e zeigt die Würde und Gehässigkeit einer E m p o r g e kommenen (Frau Sörby). Rolf L u d w i g führt die Leutnantsruine des alten Ekdal genußreich raunzend vor. Aber alles ausgezirkelte, widerspruchsfreie Figuren. E s wird bewußt kein psychologisches Vertiefen in den Rollen, sondern die harte Kontur ihrer gesellschaftlichen Negativität angestrebt. D a s gilt auch für Hjalmar und Gina Ekdal. Manfred K a r g e f ü g t Z u g um Z u g spießiger Beschränktheit und Selbstgefälligkeit, posierender Ekstase entlarvend aneinander. E s entstand ein kurioses Monstrum. Susanne Düllmann — im Detail differenzierter im Einsatz ihrer Mittel — kehrt das den Gatten umflatternde Hausmuttchen hervor, das seine natürliche Resolutheit immer wieder unterdrückt, weil das schlechte Gewissen über die eigene Vergangenheit und die Sehnsucht nach dem eigenen Herd ständig quälen. (Hier scheint mir eine Frage zur Grundanlage dieser Rolle zulässig:'Steckt in ihr — dem verkauften Dienstmädchen — nicht mehr an Perspektive, als die Inszenierung zugibt?) Wenn ich so Zweifel anmelde gegenüber den darstellerischen Qualitäten der Inszenierung, so scheint es notwendig, auf zwei Leistungen zu verweisen, die auf ein Mehr an Möglichkeiten auch bei einer solchen Spielweise hindeuten. D a s ist Günter J u n g h a n s als Ekdal-Untermieter Doktor Relling, der sein Prinzip — mit der Lebenslüge lebt es sich besser — nuancenreich und mit ursprünglich-komödiantischer Spielfreude postuliert (so daß die Gefahr besteht, daß er in dieser nur-skurrilen Welt fast noch als die vernünftigste Alternative erscheint, obwohl er die schlimmste zeitgenössische Praxis des Imperialismus vorausnimmt). Auf andere Weise schafft die Schauspielschülerin Simone Frost als Hedwig ein bedeutsames szenisches Erlebnis. D i e Regie hat sie konsequent als den einzigen Gegenpol zur Welt der Werles und Ekdals gefaßt, und die junge Darstellerin nutzt die Chance zu einer auf großer Einfachheit aufgebauten tief anrührenden Darstellung. M ö g e ihr das lange erhalten bleiben. 156

Experimentelles Die Volksbühnen-Inszenierung beweist Mut und Konsequenz. Sie versucht an dem wohl bittersten Stück Ibsens eine uns angemessene Darstellungsweise zu erproben, was ich für nötig halte, und findet sie in einer absoluten Distanz zu dieser Welt und ihren Menschen (mit einer Ausnahme). Die Publikumsreaktionen und -urteile, die ich hörte, waren sehr unterschiedlich. Sie reichten von Langeweile ob dieser unserer Wirklichkeit so fernen Geschichte bis zur Zustimmung zu der eigenwilligen ästhetischen Organisierung des Geschehens. Das Experiment war nicht umsonst; man kann auch in Zukunft nicht einfach an ihm vorbeigehen. Trotzdem habe ich Zweifel an seiner möglichen Orientierungsfunktion. Ist das Überspielen der historischen Gebundenheit der Figuren „vom sozialistischen Standpunkt aus" fruchtbar für die Rezeption des kritischen Realismus, Ibsens im besonderen? Es ist relativ leicht, aus „antiquierten" Textpassagen zuvörderst die Kleinlichkeit dieser Welt herauszuholen. Was da verlorengeht, sind die realen, komplizierten Widersprüche auch und gerade dieser Menschen. Und wenn man ihre Welt so weit entrückt, daß deren Vertreter uns als Fossile entgegentreten, bleibt als Wirkung: Abschreckung vor der Vergangenheit. Ibsens Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Lebenslüge (sie ist übrigens ebenso wie das Wildenten-Motiv in der Inszenierung zurückgedrängt) findet dann keine „Brücke" mehr zu unserem Kampf gegen bürgerliche Rudimente in den Lebensgewohnheiten der sozialistischen Gesellschaft, die heute sowenig hanebüchen einfach und vordergründig wirken wie 1884 die systembestimmte Antihumanität. In die Karikatur getrieben, bleiben die in einer konkreten gesellschaftlichen Realität verkrüppelten Menschen — vor allem die Kleinbürger verschiedenster Färbung — auf der Strecke, gegen sie richtet sich der Stoß. Demgegenüber bleibt — trotz des Vorspiels — die Entlarvung der gesellschaftlichen Ursachen allgemein. Das läßt mir diesen markanten Versuch einer Ibsen-Rezeption über die Groteske zu einfach, damit problematisch erscheinen. Die rigorose Vereinfachung ist wohl 157

doch nicht der bestimmende Weg sozialistisch-realistischer Erbe-Aneignung, die auf werkgetreue Totalität, tiefe Widersprüchlichkeit und zum weltanschaulichen Kern vordringende Gesellschaftsanalyse zielt.

Strindberg: Erik

XIV.

(Maxim Gorki Theater Berlin; 1 9 7 4 — Regie Hans Dieter Mäde) 7 7

Das Volk nannte ihn „Bauernkönig", der Adel (auch spätere bürgerliche Geschichtsschreiber) bezeichnete ihn als verrückt. Ihn, Erik XIV., König von Schweden seit 1560, Sohn Gustav Wasas, der die dänische Fremdherrschaft abgeschüttelt hatte. Ihn, der für seine vom Hochadel befehdete nationalstaatliche Politik beim Volk Unterstützung suchte, in wilder Ehe mit der Soldatentochter Karin Mansdotter lebte, die ihm zwei Kinder gebar und die er 1567 heiratete, der einen Mann aus dem Volk, Göran Persson, zum politischen Vertrauten wählte. Nach anfänglichen Erfolgen, die die Macht des Hochadels einschränkten, Bürgern und Bauern neue Rechte gaben, führt eine Adelsverschwörung 1568 zu seinem Sturz. Strindberg erzählt diese geschichtliche Episode mit einem unübersehbaren Bekenntnis zu jenem widerspruchsreichen (und aussichtslosen) frühen Demokratie-Experiment. Mich überraschte, wie das im Stück vermittelte Programm des Göran Persson, seine politischen Aktionen, besonders im zweiten und dritten Bild, Assoziationen zu gegenwärtigen Problemen der Bündnispolitik und des Machtgebrauchs im antiimperialistischen Kampf wachrief, wie Ähnliches sich einstellte beim Erlebnis der wohlmeinenden politischen Naivität Eriks. Da gibt es keine direkten Vergleiche zur Gegenwart. Aber es ist viel an historischer Erfahrung im künstlerischen Sinnbild eingefangen, was sich in aktuelle Überlegungen einfügt, sie bereichert. Ich halte Stückwahl und Inszenierung außerordentlich anregend für unseren Disput darüber, wo denn das Theater der entwickelten sozialistischen Gesellschaft bei der Aneignung des Erbes anknüpfen könne. Dieser Theaterabend bietet mit jenem historischen Schauspiel, undemonstrativ und 158

packend zugleich, geschichtliche „Lehren" an, die auf gedankliche und emotionelle Bewegungen des sozialistischen Zeitgenossen treffen, der an den antiimperialistischen Kämpfen und Kämpfern leidenschaftlich Anteil nimmt, sie als einen wichtigen Teil der gegenwärtigen weltweiten Klassenauseinandersetzung versteht. Strindberg ist bei uns in den letzten fünfundzwanzig Jahren kaum gespielt worden, obwohl sozialistische Realisten wie Gorki oder Andersen Nexö (auch die gegenwärtige marxistische Literaturwissenschaft) stark und widerspruchsvoll von ihm beeindruckt sind. Es gab vor reichlich zehn Jahren Karl XII. in Rostock, gegenwärtig läuft Fräulein Julie auf der Magdeburger Podiumsbühne. Sicher ist Strindberg ein schwieriger Autor, der mit unseren Realismuserfahrungen der fünfziger und sechziger Jahre kaum zu bewältigen war. Und ob man heute auf sein Humanismusideal und seine zwischen Trotz und Resignation schwankende, aus sensibler Wirklichkeitsbeziehung erwachsende, mit der Hochschätzung des Volks verbundene tiefgreifende Kritik der spätbürgerlichen Gesellschaft stärker zurückgreifen kann, hängt wohl vom Standpunkt ab. So wie man Wedekind nicht einfach deshalb spielen sollte, weil er bisher vernachlässigt, dem bürgerlichen Theater überlassen wurde, so wenig nützt uns eine StrindbergRenaissance an sich. Sie bliebe ein billiger folgenloser Nachholebedarf, eine formalisierende Gegenstands- und FormenBereicherung", wenn nicht jener Punkt gefunden wird, von dem aus produktive Bereicherungen für sozialistische Persönlichkeiten möglich sind. Natürlich könnte man auch in Erik XIV. nur den puren „Vorgang" spielen: Ein schwächlicher König, der vage Sympathien zum Volk hat, und ein von ihm zum Prokurator eingesetzter Plebejer von machiavellistischem Zuschnitt, der Mord und Intrige nicht scheut, bewirken letztendlich nichts. Eine solche „Entlarvung der Vergangenheit", die hie und da — auf Kosten des Realismus und der humanistischen Funktion der Kunst, wie ich meine — im Schwange ist, liefern Regisseur Hans Dieter Mäde und das Ensemble des Maxim Gorki Theaters nicht. Sie behaupten die Ansprüche und Differenzierungen der Figuren, zielen auf die Darstellung sich bewegen159

der Widersprüche und machen so die außergewöhnliche Geschichte lebenswahr, so daß sich der Zuschauer ihr nicht — in eine absolute Überlegenheit katapultiert, die kein Nachdenken, keine Selbstprüfung erfordert — gegenübergestellt sieht, sondern sich mit ihr und ihren geistigen Gehalten befaßt. Das Stück ist a u c h von seiner perspektivischen Schlußpointe her erschlossen, wo der adlige Mitverschwörer Herzog Carl (Jürgen Kluckert), selbst geprellt, angesichts bevorstehender Restauration resümiert: „Nein, mein Kind, die Kämpfe des Lebens gehen nie zu Ende!" Allerdings: Über eines kommt die Regie auch auf diesem Wege nicht hinweg — daß Strindbergs Stück nicht vom Standpunkt des historischen Materialismus her konzipiert ist. Die gesellschaftlichen Ursachen des Scheiterns eines frühen „ Volksfront"-Experiments treten kaum hervor; das alles wird wesentlich in Eriks Charakter versammelt. So ist nach dem Teilsieg über die Fraktion des Hochadels (die von Persson klug geplante en bloc-Verhaftung, als man dem geächteten Herzog Johan huldigt) die Gegenintrige des Adels weniger sichtbar als die Begrenztheit Eriks, der das Redemanuskript für seine Anklagerede vergißt, seine Gegner (die sich Karins und der Kinder bemächtigt haben) rehabilitiert, ja entschädigt und so Persson das Heft des Handelns aus der Hand schlägt. Man muß auf die Reife des Zuschauers setzen, der, an Elemente einer materialistischen Deutung der Vorgänge (die Entschädigungszahlung des Königs und deren Verwendung zum Kampf gegen den König z. B.) anknüpfend, dem Weltbild des Dichters sein eigenes gegenüberstellt. Allerdings sollte man ihm, der heutzutage die Überschreitung eines gewissen Zeitfonds im Theater, der bei zwei bis zweieinhalb Stunden liegt, nur in außergewöhnlichen Fällen liebt, gerade das durch kluge Striche im zweiten Teil des Theaterabends leichter machen. Ich schätze diese Inszenierung nicht nur wegen ihrer schönen Prinzipialität des Ansatzpunkts. Sie hat auch viele beeindruckende Momente und Passagen. Das Bühnenbild von Dieter Berge zeigt am Portal eine vielgliedrige, das „Zitat" eines Baumstammes, einer Wurzel einschließende Holzverkleidung, die an Bauernhäuser erinnert. In sehr konkret gebauten (nicht rasch genug verwandelbaren) Räumen — Schloßterrasse, Pers160

sons Wohnung, Brücke — dominiert gleichfalls dieses Material, ergänzt im Schloßsaal durch eine dunkelrote Reliefwand mit Tiermotiven bzw. durch einen großen weißen, zu „schönen" Vorhang. Ein bespielbarer Steg in zwei bis drei Meter Höhe bekommt in den einzelnen Bildern unterschiedliche Funktionen, gliedert die Räume auch in der dritten Dimension, gibt ihnen Unverwechselbarkeit — schade nur, daß ich mich streckenweise an Berges Szenenbild zu Seine Kinder78 erinnert fühlte. Schöne realistische Details gelingen Karin Gregorek als Karin besonders im ersten Bild — die Beobachtung des Königs durch den Spiegel im Nähkorb, der gezügelte Widerstand gegen jene „Probe", in der Erik die einer Fürstentochter zugedachte Krone an ihr testet. Später gibt es, in der Kinderszene und in der Auseinandersetzung mit Eriks machtbesessener Stiefmutter Katarina (Gisela Rimpler), weitere darstellerisch erregende und szenisch brisante Punkte, die Spanne zwischen der klugen, liebenden Frau und ihrem objektiv und subjektiv begrenzten politischen Vermögen erhellend. Zu oft jedoch führt die Dulderrolle dieser Figur einfach zu Unscheinbarkeit. Neben erfüllten Erwartungen — Otfried Knorr als Eriks politisch-ideologischer Gegenspieler Svante Sture (wenn dieser Darsteller doch die Gefahr des Typs durch kultivierte Sprechtechnik überwinden könnte), Christoph Engel als putschender Erik-Halbbruder Johan, Erich Mirek als plebejisch „naiver" Soldat und Karin-Vater — entdeckte ich neue darstellerische Chancen: bei Dieter Wien als Nils Gyllenstjerna, der fast widerwillig, aber überzeugt und doch rückversichernd mit der von Göran entwickelten „Volksmonarchie" sympathisiert (lineare Figurenanlagen überwindend); bei Renate Reinecke, die als Bauernmädchen Agda — Campanella-YLtiahtungeri fortsetzend79* — den bitteren Erfahrungen dieser Figur nachspürt, dem Partner Göran ergreifend ihre Vergangenheitsgeschichte erzählt (vordergründige Sex-Wirkungen aufhebend) ; oder bei Helmut Müller-Lankow, Görans militärischem Erfüllungsgehilfen Peter Welamson, eine in ihrer aufrechten Primitivität präzise erfaßte (nicht nur emotional erhitzte) Figur. Als eine der schönsten Leistungen — auch hier Erwartungs11

Nössig

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Schemen aufbrechend, Filmprägungen vergangener Jahre überwindend — empfand ich Alfred Müllers Göran Persson: Mann aus dem Volk, von einem großen Ernst bei der ihm übertragenen Mission (ein Denker, nicht nur ein Durchreißer). Überzeugend, wie er über den Fähnrich und Karin-Bewerber Max (Reinhard Michalke) ein Mordurteil fällt. Da ist nicht nur die Abwehr der Gefährdung seiner Strategie, die Karin als mögliche „Volkskönigin" einschließt, sondern zugleich der schwere Entschluß sichtbar, einen privaten Wunsch, der im politischen Kampffeld so etwas wie eine ultralinke Position werden.könnte, tödlichzu beantworten. Erik wird von Albert Hetterle gespielt. Er bekennt sich zu der widerspruchsvollen Figur (ihrer sozial und historisch bestimmten Größe auch), indem er sie turbulent macht, zwischen „Bauernkönig" und Verrücktheit (schwer, gerade diesen im Text politisch interpretierten „Zustand" darstellerisch zu fassen) ansiedelt. Urbanität, Natürlichkeit (der Hand- und Schulterschlag für den Goldschmied) und Infantilität, auffahrender Egoismus (das Wüten gegen die nutzlos gewordene Krone) — das alles ist da. Aber die Figur wird eher farbig als widersprüchlich. Da mag Strindberg seinen Anteil haben; aber auch der Darsteller, der mehr mit dem Material der Rolle spielt, als sie selbst packt. Nun habe ich mich zu einer Produktion bekannt, die in ihrem künstlerischen Gesamteindruck nicht wenige Fragen offenläßt (auch die pittoreske Volksszene im letzten Bild, da Erik statt des ausbleibenden Adels Bürger und Bauern zur Hochzeit lädt). Weshalb? Ich sehe im Ziel der Inszenierung — Widerspruchsbewegung „nach vorn" und mit Beziehung zur Gegenwart, Ringen um darstellerischen Realismus — ein Versprechen auf dringend Notwendiges in unserer Theaterkunst, das allerdings noch nach erlebnistotaler Einlösung verlähgt. Gorki: Nacbtasjl (Landestheater Halle; 1971 — Regie Horst Schönemann) 8 0

Ein Mensch steht auf der Bühne, viel Haar und Bart, einen langen zottigen Pelz über dem nackten, muskulösen Oberkörper; und während er über den Menschen philosophiert, 162

skizzieren seine Finger blitzschnell mit Kreide die Umrisse eines menschlichen Körpers auf denBoden, dann füllt er diese — die Arme weit in den Raum gestreckt — mit dem eigenen Leib aus, erhebt sich wieder, schreibt in großer Geste sechs Buchstaben auf ein Brett: MENSCH und hält es hoch über seinen Kopf, für alle und weithin sichtbar — Martin Trettau als Satin im vierten Akt. Er markiert damit zugleich jenes Anliegen, das das hallesche Schauspielerkollektiv und sein Leiter Horst Schönemann mit der Inszenierung des siebzig Jahre alten Gorki-Stücks verfolgen. Es geht um das größte Thema humanistischer Kunst: den Menschen und sein sinnerfülltes Leben. Man hat es schon im Fqyer gesagt bekommen: durch Plakate mit Gorki-Zitaten. Man erfährt es beim Betreten des Theatersaals, wenn man über der offenen Bühne ein Fototransparent mit vielen schönen Gesichtern unbekannter Zeitgenossen erblickt. Und man hört's, wenn als „Prolog" eine Gorkische Lobpreisung des Menschen rezitiert wird. Um der Klarheit dieses Zieles willen bricht Schönemann — wie wiederholt bei Inszenierungen klassischer Stücke — die dramatische Vorlage auf. Das ist schon bisher immer interessant, aber auch nie ganz gewaltlos gewesen; beim Nachtasyl erscheint dieses Prinzip fast überfordert. Das „Milieu" des Elendsquartiers ist verbannt, weniger in den Kostümen, die historische Ortung und soziale Hierarchie erfassen, wohl aber im Bühnenraum (Ausstattung Jürgen Heidenreich): Das vorhanglos ablaufende Spiel vollzieht sich bei hellem Licht, das Theatergegebenheiten und -maschinerie deutlich zeigt, und auf einem leicht ansteigenden „Lattenrost", wo sich die Schauspieler aus Baukastenelementen die karge Bühne „selbst" bauen; in der Mitte ein zentrales Podest, auf dem oder um das herum sich die als besonders wichtig empfundenen Situationen abspielen werden. Das Ganze ein Feld für geistige Dispute. Da gewinnen viele Texte eine neue Dimension, weil sie nicht zeitgebunden wirken, direkt als Aufforderung an uns gerichtet sind. Trotzdem bleibt die Frage, ob die Entscheidung für das „Milieustück" o d e r das „philosophische Stück" (wie das in Tageszeitungskritiken formuliert und — letzten Endes — von 1 der Inszenierung gehandhabt wurde) für Gorkis Stück gün11»

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stig, ja richtig ist. Denn der Gewinn an „Aktualität" und „Brisanz", erzielt durch die Hervorkehrung des philosophischen Aspekts der Vorgänge auf Kosten der konkreten Wirklichkeitsform, in der sich jener so und nicht anders äußert, bedeutet auch einen Verlust: Z. B. erschwert er, die Leistungen der Figuren historisch konkreter und damit noch größer erscheinen zu lassen. Aber auch andere Probleme schafft diese Art der Konzentration auf die geistigen Dispute. Schönemann räumt mit dem Nachtasyl-Mobiliar auch seine Benutzer soweit als möglich von der Bühne. Nur am Ende des zweiten Akts, vor der Pause, werden die „Pritschen" im Hintergrund belegt, so als wenn's Abend würde und die Asylbewohner nach Hause gekommen wären. Sonst sind stets nur die Personen auf der weiten Szene, die Text haben (und werden die so entstehenden „Abschnitte" im Disput über den Menschen durch Gongschläge betont). Da ist dann die Geschichte dieser Nachtasylbewohner weniger erkennbar als ihre einzelnen Teile (die allerdings fast ausnahmslos von großer theatralischer Wirksamkeit sind). Aber wenn sich die Inszenierung durch ihre „Milieufeindschaft" und ihren Disputcharakter gegen eine Reihe von Möglichkeiten und Schönheiten des Stücks verschließt, so macht sie die Szene nicht zum bloßen Demonstrationsobjekt. Den Hauptgrund sehe ich darin, daß es ihr zweites Hauptziel war, widerspruchsreiche Figuren zu entwickeln, in denen — mit Ausnahme von Kostylew, Wassilissa, Medwedjew und dem Baron — ihre menschlichen Potenzen deutlich sichtbar werden. E s spricht für die schauspielerzieherische Arbeit am Landestheater Halle (die ja vor allem Selbsterziehung ist), daß die Gestalten auf der Bühne in den besten Repräsentationen viel reicher sind, als es in den kleinen konzeptionellen Biographien erscheint, die im Programmheft abgedruckt sind. Schade deshalb, daß in diesem Rahmen nicht alle Figuren danach befragt werden können, inwieweit ihre Darsteller dieses schöne Gestaltungsprinzip bereits bewältigen. Als ein Beispiel nur Horst Lampe, der in der Bubnow-Rolle ein ergreifendes Menschenschicksal gewissermaßen am Rande erlebbar macht, dabei ein zweifelhaftes Charakterisierungsmittel für die äußerliche Heruntergekommenheit dieser gesellschaft164

liehen Außenseiter, das sonst fleißig strapaziert wird — eine kratzig-versoffene Stimmgebung —, nicht anwendet und beweist, daß klangvolle Stimmen nicht „charakterlos" sind. Und als ein anderes Peter Schroth, der sich als Baron sehr auf äußerliche körperliche und sprachliche Extravaganzen stützt und damit meines Erachtens aus der Inszenierung herausfiel. (Wie's wohl überhaupt eine Tendenz gibt, die Schauspieler ein bißchen zu schnell nach ihrem besonderen „Gestus" einzusetzen: neben den diabolischen Spaßmachern den artistischen Pantomimiker — Reinhard Straube in einer exellenten „Nummer" als Aljoschka — und die „eigentlichen" Charakterspieler.) Und da wären wir z. B. bei Kurt Böwe. Wie eine alte, gutmütig-listige Fledermaus kommt er als Luka auf die Bühne. Betont nimmt er jene Momente, in denen auf seinen fehlenden Paß angespielt wird. Auch bei seiner geduckten Reaktion auf die Drohung des Asylwirts Kostylew assoziiert man einen Illegalen, der dann — in einem großen Gang — ebenso vor der Polizei flieht, wie er sich vor kommenden Fragen verdrückt; und auch das wieder — in diesem einen Gang zusammengefaßt — mit einem Zug Feigheit und einer Spur schalkhaften Wissens, daß er hier seine Wirkungen hinterlassen hat. Denn während seines Aufenthalts im Kellerasyl spendete er zwar mit großen, zärtlichen Gesten jedem seinen zweifelhaften Trost; aber er tat's sehr individuell, dem einen eine Scheinlösung, dem anderen eine echte Alternative (mit dem Hinweis auf Arbeit und ein fast politisch gemeintes Sibirien) unterbreitend. Seine Erscheinung ist so auffallend, so bedenkenswert, daß der große Streit um Luka im vierten Akt echt verständlich wird. Mit Böwes Leistung in dieser Rolle wird nicht nur ein Prozeß zur dialektischen Erfassung dieser Figur, ihres Herauslösens aus einer einfachen Gut-oder-BöseAlternative fortgesetzt, sondern eine dramatische Gestalt, die bisher stets eine Art Symbolfigur war, zum lebendigen Menschen erhoben, der in seiner Widersprüchlichkeit dem Urteil eines souveränen Publikums überantwortet wird. Nicht auf gleiche Weise „rund" tritt uns Satin in der Gestalt Martin Trettaus entgegen — obwohl man spürt, daß ihm die ganze Liebe des Regisseurs gehört; vielleicht gerade 165

deshalb. Während dieser Satin anfangs Vitalität und Verkommenheit, aber schon da als eine Art „Sondergestalt", vereint, wird er an den philosophischen Höhepunkten des Stücks mit jener vierschrötigen Ungebärdigkeit, die zu seinem Hauptwesen erhoben ist (und ein wenig an Hippy und APO erinnert) - z. B. mit der eingangs beschriebenen großen emphatischen Aktion —, immer mehr zu einem Menschentumprediger denn zu einem real-widersprüchlichen Menschen. Innerhalb dieses „Bedeutungscharakters" der Figur vermag sich für mich ein individueller schauspielerischer Gestus nur schwer zu entfalten. Indem hingegen gerade die unverwechselbare Besonderheit eines Menschenschicksals herausgearbeitet und mit großer Leidenschaft (nicht nur Emphase) auf der Bühne ausgebreitet wird, gewinnt Roman Silbersteins Waskja Pepel unerwartete Größe und Schönheit. Wie dieser Schauspieler, dessen Eckigkeit leicht äußerlich wirkt, das hier durch Luka bewirkte und sich in der Liebe zu Natascha bewähren wollende Erwachen eines Asozialen in neuer, freier Geschmeidigkeit auch des Körperlichen erfaßt, gehört zu den bleibenden Eindrücken der Aufführung. Im Wirbel der Leidenschaften, die sich aus eitlem Ganovenstolz entwickeln, im selbstbewußten „leisen" Ringen um Natascha, das dem verschlossenen Mann heitere Souveränität verleiht, in der schützenden Sorgfalt für die geschlagene Frau und im grenzenlosen, aber nicht privaten Zorn auf ihre Peiniger offenbart sich eine menschliche Kraft und Potenz, die auf mich tiefer wirkte (und deren tragisches Scheitern mich mehr packte) als die schön ausgedachte Herausstellung Satinscher Menschenprognose. So bereicherte Schönemanns Nachtasyl-Inszenierung auf sehr produktive Weise—indem sie bei allen Problemen Gorkis Menschenideal zutiefst verbunden ist - neben schönen schauspielerischen Entdeckungen zugleich den Fonds von diskussionswürdigen Arbeiten zur Erschließung des dramatischen Erbes für das Theater unserer sozialistischen Gegenwart.

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Gorki: Rarbaren (Maxim Gorki Theater Berlin; 1972 — Regie Hans Dieter Mäde) 8 1

Um es vorwegzunehmen: Ich verließ die Premiere unbefriedigt. Erkennbar war parteiliches Bemühen der Regie und der Darsteller (auch der Versuch, neue Einsatzmöglichkeiten für die Schauspieler zu finden), aber ein künstlerisches Erlebnis kam nicht zustande — weder über eine bewegende Inszenierungsidee noch über packende schauspielerische Leistungen, noch über besondere zeitgenössische Assoziationen. Diese Flächigkeit des szenischen Geschehens macht es schwer, eine „normale" Kritik, vor allem Beschreibungen zu liefern. Trotzdem zuerst:

Eindrücke von einer Inszenierung Regisseur Hans Dieter Mäde erzählt die Geschichte von cjet Ankunft der beiden Eisenbahnbau-Ingenieure Tscherkun und Zyganow in der mittelalterlich-patriarchalischen Barbarei der Kleinstadt Werchopolje; er zeigt, wie dieses Eindringen von Menschen eines technischen Zeitalters Furcht und Hoffnung weckt, Hoffnung auf ein neues Leben vor allem bei den besonders Erniedrigten und bei den Frauen, Hoffnungen, die scheitern, da sich die Ankömmlinge letztlich nur als neue, mit den Lebensgesetzen des Kapitalismus verbundene Barbaren enthüllen. Der Selbstmord der Nadeshda Monachowa, der jungen Frau des Steuereintreibers, die in Tscherkun den von ihr romantisch erträumten Helden sieht, von ihm brüskiert und enttäuscht wird, sowie der Auszug des Studenten Lukin und der Bürgermeisterstochter Katja, die als einzige wirklich ein neues Leben wollen, beschließen das Stück. Viel Wert ist darauf gelegt, daß die beiden Ingenieure, von Klaus Manchen und Dieter Wien gespielt, in den Anfangsbildern frisch, sympathisch, hoffnungsvoll wirken (und diesen Eindruck bereits in Zweifel ziehen lassen: wenn Tscherkun bei der Einstellung des Dorfburschen Gogin — 167

Eckhart Strehle — hinter der Ablehnung von Unterwürfigkeit den kapitalistischen „Arbeitgeber" herauskehrt), dann aber Schritt für Schritt durch ihr Verhalten in den dramaturgisch zentralen Liebeskonflikten ihre Beziehungslosigkeit zu menschlichen Lebensidealen offenbaren. Doch diese wichtige konzeptionelle Linie findet kaum erregenden Ausdruck. Wenn man z. B. im ersten Akt ein interessantes Detail beobachtet (Tscherkun lehnt das Angebot Gogins, sein Arbeitsgerät zu tragen, ab), bleibt unklar, weshalb er es tut: Weil er keinen Diener will? Weil er dem Einfältigen das kostbare Gepäck nicht anvertrauen möchte? Weil beides zutrifft? E s wird — wie oft in dieser Inszenierung — nur die Tatsache, nicht der Vorgang gezeigt. Und in der Endphase sieht man die beiden zwar von ihrem hohen Roß heruntergefallen, doch Zyganows Zynismus und Tscherkuns moralfreier Wissensfanatismus sind einerseits so charmant und andererseits so verständnisvoll gespielt, daß man an den Vorgängen in Werchopolje nur recht alltäglich interessiert, keinesfalls aber über sie aufgeregt, empört ist. Dieses Prinzip der Gestaltung „gemischter", „entschuldigter" Charaktere bestimmt die Inszenierung beinahe durchgängig. Der Bürgermeister Redosubow (Helmut Müller-Lankow), der Holzkaufmann Pritykin (Jürgen Kluckert), der Kleinbürger Golowastikow (Günter Wolf), der lumpenproletarische Mann Dunkas (Jochen Thomas) sind halt keine guten Menschen, aber ihre Beschränktheit behält immer etwas Liebenswertes oder VerständnisvollKomisches, als habe man sich gefürchtet, sie zu attackieren und damit die Schuld des gesellschaftlichen Systems zu verkleinern. Kleinlich, uninteressant werden aber dabei nur die Menschen und damit die Konflikte und der Theaterabend. Momente möglicher Wirkung sind sichtbar, wenn Walter Jupe als Steueraufseher Monachow seine schauspielerische Persönlichkeit und aussagekräftiges gestisches Spiel (wie er etwa im zweiten Akt aufsteht und sich die Hände abwischt, nachdem er getrunken hat) in diese beschauliche Figurengestaltung einbringt. Am deutlichsten ist das Bemühen um Behauptung positiver Persönlichkeitswerte bei den Frauen — ganz im Sinne Gorkis. 168

Aber wenn dadurch die Leidenschaften verlorengehen, Jenny Gröllmanns Anna nur weinerlich, Monika Lennartz' Wessjolkina blaß und Jutta Hoffmanns Lydija bloß unnahbar geraten, bleiben auch hier die wirklichen Widersprüche der Figuren und damit die Figuren selbst profillos. Und Monika Hetterle in der zentralen Rolle der Nadeshda, an deren Ansprüchen sich Tscherkuns Veränderungswille zu bewähren hat, nimmt zwar die Romantik und Feinnervigkeit der Rolle ernst, aber fast nur darin offenbart sie die Lebenssehnsüchte dieser Frau, die auf diese Weise beschränkt, uninteressant bleibt, weil Nadeshdas Vitalität als die vielleicht schöpferischste Potenz unterschlagen ist. Aufgewertet erscheint vor allem die Figur des Doktor Makarow, der mit seiner schwächlichen Ichbezogenheit die Liebe Nadeshdas nicht zu erringen vermag und daran zerbricht. Albert Hetterle spielt mit psychologischer Feinfühligkeit Züge einer tiefen Tragik heraus, aber dies wiederum so einseitig verständnisvoll, daß die Untauglichkeit solcher Lebenshaltung, die Gorki kräftig herausstellt, schwer erkennbar wird. (Wie klar und schön waren hingegen in Wolfgang Heinz' Onkel ii^a/z/a-Inszenierung82* bei verschiedenen Figuren das Ausbruchstreben aus einer unmenschlichen Welt u n d die Kritikwürdigkeit bloß erhabener Gesten, nur individuell gerichteter Wünsche herausgearbeitet — als zeitgenössische Anwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, die auch Gorkis "Barbaren durchzieht.) Die meines Erachtens verschenkten Möglichkeiten, die polemisch-kämpferischen Züge in Gorkis Humanismus zu erschließen, zeigten sich auch noch in anderem. Dem Bemühen beispielsweise, bei der Orientierungsfigur des Studenten Lukin auch Grenzen aufzuzeigen; aber wenn ihn Uwe Kockisch im dritten Akt abgehackt sprechen läßt, wirkt der fröhliche Bursche plötzlich überheblich, unsympathisch. Nichts gegen die Widersprüche auch in dieser Figur. Aber wenn sie denen der nicht zu neuen Ufern Findenden ähneln, relativiert sich das Bild dieser Figur. Und dann sind da zwei dramatische Gestalten, die' aus dem generellen Blickwinkel herausfallen. Otfried Knorr als Kreispolizeichef gibt eine satirische Studie, die plötzlich eine Randfigur als 169

den übelsten Barbaren heraustreten läßt. Und Manja Behrens spielt mit feinen Nuancen die adlige Hausbesitzerin Bogajewskaja, versucht ständig feinsinnig-überlegen zu vermitteln — wirkte so auf mich als der gesündeste Mensch in Werchopolje, da auch Eva Weißenborn als Katja zuweilen rebellische mit ekstatischen Haltungen verwechselte. Ist es also eine Frage der schauspielerischen Möglichkeiten, daß diese Inszenierung ein so mittlerer Erfolg wurde, daß Gorkis tiefe psychologische Widersprüche aufdeckende Kunst der dramatischen Menschengestaltung mit Mädes in gleiche Richtung zielendem Streben nicht in Übereinstimmung kam? Einiges scheint dafür zu sprechen, etwa:

Das bemühen um schwierige Stücke Denn wenn wir auf der einen Seite in Teilen unserer Theaterlandschaft die Tendenz beobachten, die Ansprüche unseres Publikums auf Heiterkeit mit flacher Lustigkeit zu verwechseln, so bildet sich andernorts zugleich das Bemühen heraus, dem Theater durch komplizierte, keineswegs a priori breitenwirksame dramatische Texte anspruchsvolle Aufgaben zu stellen. Während der Berliner Festtage wurde von den Barbaren über O'Caseys Juno und der Pfau bis zu Hacks' Omphale eine solche Linie (und die ganz unterschiedliche Art und Souveränität ihrer Bewältigung) sichtbar. Was Gorkis Stück betrifft — Teil einer Trilogie über die Positionen der Intelligenz im Zeitalter der proletarischen Revolution, geschrieben am Vorabend und mit den Erfahrungen der ersten russischen Revolution (1904/05) —, so wird es mit dieser Inszenierung zum ersten Mal von einem Theater der D D R vorgestellt. Auch von den anderen Trilogie-Teilen — Sommergäste und Kinder der Sonne — gibt es bisher nur eine namhafte Produktion bei uns: Wolfgang Heinz' Jöw/wrga'jti-Inszenierung von 1959. Und in der wissenschaftlichen Literatur unserer Republik, die ich kenne, wird zwar viel über die positiven Helden v o m Typus eines Nil, der Arbeiter aus den Feinden, der Rachel geschrieben, wenig aber über die Konflikte und Physiognomie jener in 170

diesen Stücken im Zentrum stehenden Menschen, die in dem weltgeschichtlichen Antagonismus unseres Jahrhunderts auf der gegnerischen Seite stehen oder einen Ausweg suchen und versagen. Unter diesen Umständen ist Mädes Barbaren-Inszenierung mehr als einfache Fortsetzung der Gorki-Rezeption in unserer Republik. Sie zwingt auch die Darsteller, bisher weniger beachtete und erprobte Aspekte im Werk Gorkis, seine widerspruchsreiche Figurenpsychologie z. B., neu zu verarbeiten. Gerade an diesem Punkt treten aber auch grundlegende konzeptionelle Probleme auf. Es geht um:

Traditionen und Positionen Denn so ganz voraussetzungslos ist eine Barbaren-lnszeme.rung bei uns nun auch wieder nicht. Da gibt es Towstonogows Einstudierung dieses Stücks am Leningrader Gorki-Theater, 1965 auch in der DDR gezeigt. Seine Auffassung dieses Stücks als Tragikomödie hat bereits damals Diskussionen ausgelöst, vor allem die satirische Kritik auch an der tragisch konzipierten Figur der Nadeshda Monachowa. Mäde verhält sich offenbar kritisch gegenüber Towstonogows Konzeption — ohne die hohe künstlerische Qualität dieser Aufführung auch nur annähernd zu erreichen und damit einen Gegenbeweis antreten zu können. Da gibt es aber auch die Ergebnisse in unserer Rupublik, die vor allem im Zusammenhang mit der Gorki-Ehrung 1968 zu neuen Positionen bei der Bewältigung der Gorkischen Gesellschaftskritik vorstießen. Schönemanns Kleinbürger-Inszenierung (Halle) und Heinz' F«'We-Einstudierung (Deutsches Theater) waren dabei am konsequentesten in der Herausarbeitung entlarvender Züge bei den Bourgeois- und Kleinbürgerfiguren. Mittel der distanzierenden Komik, ja der Satire wurden eingesetzt. Auch hier scheinen mir - von Mäde nicht weiter verfolgt - Möglichkeiten zur Darstellung der Gorkischen Menschenauffassung gefunden zu sein, die ja die Liebe zum Menschen mit dem Haß gegenüber den Feinden der Menschlichkeit in jeder Spielart verbindet. 171

Und schließlich hat Mäde eine eigene, sich grundsätzlich an Gorki orientierende, aber auch durch Interpretationsversuche seines dramatischen Werks mitgeprägte Tradition. Seine Dresdner Kleinbürger-lnszemetung (1971) 83 ist beredtes Beispiel dafür. Sie ist bemüht, heitere Distanz nicht allein durch den scharfen kritischen Blick auf die offen inhumanen oder versagenden Figuren zu realisieren, sondern ebenso durch feinfühliges Herausarbeiten der inneren Widersprüche jener Gestalten. Dabei wurde in dieser Inszenierung, da das Stück starke Polaritäten und differenzierte Zwischenpositionen liefert, durch die breite Skala menschlicher Entscheidungen stets auch die persönliche Verantwortung der dramatischen Charaktere für ihr Handeln klar offensichtlich. Bei den Barbaren nun, so will es mir scheinen, hat Mäde seine Ablehnung eines besserwisserischen Überlegenseins gegenüber den historischen Gestalten weiter verstärkt. Und das bei einem Stück, das wohl zu Gorkis bittersten gehört und die Hauptwidersprüche nicht zwischen antagonistischen Haltungen zum Leben zeigt (Lukin und Katja sind gewissermaßen nur ein hoffnungsvoller Lichtblick in einer Welt des Verfalls), sondern unter den Barbaren selbst. Die Absicht, die Tragik möglichst vieler Figuren sichtbar zu machen, diese individuell so stark als möglich zu entlasten, die Gesellschaftsordnung, nicht den einzelnen Menschen anzuprangern, hat besonders in diesem Fall ihre Tücken. Dem Stück wird seine Schärfe, den Figuren viel von ihrer Eigenverantwortung genommen. So entsteht ein „mittleres" Gesellschaftsbild, das langweilig erscheint, weil es relativ wenig Urteile, Standpunkte, Lebensentscheidungen des Zuschauers über die dramatischen Gestalten herausbilden hilft. In der Tagespresse hat diese Inszenierungsweise sowohl prinzipielle Zustimmung wie kräftige Ablehnung erfahren. Rainer Kerndl lobt im Neuen Deutschland, daß Mäde „in den Gestalten die menschlich produktiven Aspekte und Möglichkeiten, und mögen es nur verschüttete und Reste sein", sucht 84 . Ernst Schumacher kritisiert in der Berliner Zeitung, daß der Regisseur „zu wenig den Zorn Gorkis benutzt, diese Gestalten kräftig aufzuspießen und alle Kuriositäten und Monstrositäten bloßzustellen" 85 . Der letzte Weg kann sicher 172

theatralisch sehr wirkungsvoll sein (er berührt sich auch mit M o m e n t e n in Towstonogows Inszenierung); grundsätzlich scheint er mir jedoch Gorkis Kampf um den Menschen zu wenig zu berücksichtigen. Und Kerndls Auffassung wiederum forderte nicht nur eine Garde erstklassiger Darsteller, die ganze Menschen in ihrer totalen Widersprüchlichkeit zu erfassen vermögen, sondern berücksichtigt meines Erachtens auch die Dialektik von Gorkis Menschenliebe und Feindeshaß zu wenig. Das dünkt mich auch das Dilemma der Inszenierung des Maxim Gorki Theaters, die Ursache für die sowenig erregende Flächigkeit in der Menschengestaltung. Mäde, dem es in seiner Theaterarbeit stets um die Dialektik im Leben der Gesellschaft und der Menschen geht, der die Widersprüche in der Fabel und in den Figuren als Motor parteilicher Interpretation betrachtet, scheint mir in dieser Arbeit dabei einem Irrtum zu unterliegen. Der Art vor allem, daß er die Widersprüche in den dramatischen Gestalten stets nur als solche zwischen Gut und Schlecht, Produktiv und Parasitär usw. sieht. Gibt es aber nicht auch Widersprüche innerhalb einer produktiven Lebenshaltung, ebenso wie es Widersprüche innerhalb des Unschöpferischen gibt, und sind diese in ihrem Wesen nicht sehr unterschieden, also auch ästhetisch unterschiedlich in die Erscheinung zu setzen? Gerade dies scheint mir in Mädes Inszenierung zu wenig berücksichtigt. Über den Umgang mit Brecht-Stücken Leben des Galilei (Landesbühnen Sachsen; 1971 — Regie Wolfgang Heiderich)/Der gute Mensch von Seaman (Städtische Theater Karl-Marx-Stadt; 1970 — Regie Hartwig Albiro/Piet Drescher)/ Der kaukasische Kreidekreis (Elbe-Elster-Theater Wittenberg; 1971 - Regie Eugen Schaub)«6

Auf meinem Reiseweg zu drei Brecht-Inszenierungen der vergangenen Spielzeit erreichte mich die Nachricht vom Tod der Weigel. Wenig später las ich den Beschluß unserer Regierung, der die Wahrung und Pflege des verpflichtenden Erbes dieser beiden großen sozialistischen Theaterleute zur 173

Aufgabe der gesamten sozialistischen Nation erklärte. Diese — auch juristische — Entscheidung schafft natürlich keine grundsätzlich neue Situation, was das vor allem seit Mitte der fünfziger Jahre eroberte Verhältnis des DDR-Theaters zu den Werken und zur Arbeitsmethode Brechts betrifft. Und doch ist mit dem Verlust der Weigel als der persönlichen Hüterin des Brecht-Erbes die Verantwortung auf breitere Schultern gelegt. Die Reiseergebnisse sind nicht zuletzt unter diesem verantwortlichen gesellschaftlichen Auftrag zu sehen. Die Auswahl der zu besuchenden Vorstellungen war nicht sonderlich groß. Von 47 Schauspieltheatern (bzw. -ensembles) in der Republik hatten zu Spielzeitbeginn nur 8 eine Brecht-Inszenierung angekündigt, von denen 7 realisiert wurden. Das scheint mir eine bedenkliche Zurückhaltung. So erfreulich das sprunghafte Ansteigen des Interesses für O'Casey in der vergangenen Saison war: Wird da vielleicht in der Hinwendung zu des Iren prallen Figuren eine bewußte Zurückhaltung gegenüber den aufklärerischen Geschichten Brechts erkennbar? Eine solche Entscheidung würde die sozialistische Menschenbildauffassung auf eine Vorliebe für sozial bedeutsame drastische Figurendarstellung reduzieren. Die Verantwortung der Nation gegenüber dem Erbe Brechts aber ist total: Sie umfaßt seine Stücke wie seine Methode. Doch während die Methode als ein o f f e n e s System politisch-ästhetischer Anschauungen auf die neuen Bedingungen unserer sozialistischen Wirklichkeit und die aus ihr erwachsenden Kunstansprüche relativ leicht anwendbar e r s c h e i n t , e r w e i s t s i c h die Rezeption seiner Stücke einigermaßen schwierig. Stofflich an die Konflikte und Widersprüche in der antagonistischen Klassengesellschaft gebunden, diese Welt von marxistisch-leninistischer Position aus durchschaubar machend, treffen sie heute bei uns auf ein Publikum, das nicht nur in einer neuen Gesellschaftsordnung lebt (der klassischen Weltdramatik geht es da nicht anders), sondern das auch von Kindesbeinen an der marxistischleninistischen Analyse der kapitalistisch-imperialistischen Gesellschaftsordnung im Alltag begegnet und zugleich mit neuen Erscheinungsformen und Wirkungsweisen der 174

Gesetzmäßigkeiten des modernen staatsmonopolistischen Kapitalismus konfrontiert wird. Wo gibt es da Neues, Aufregendes zu erfahren, wie man das vom Theater verlangt? Also, wo liegt das nicht nur in der literaturwissenschaftlichen Analyse, sondern in der unmittelbaren abendlichen Konfrontation mit dem Stück sich eröffnende fortwirkende Kunstwürdige dieser Werke? Darum bemühen wir uns (manchmal das Neue, Aufregende mehr in der Art des Vorzeigens als des tiefgründigen Befragens der Geschichten und Figuren suchend), müssen wir uns verstärkt bemühen. Einige interessante Beobachtungen zu dieser Problematik gestatteten drei Inszenierungen — die ich übrigens alle in normalen Repertoirevorstellungen sah: Leben des Galilei an den Landesbühnen Sachsen (Regie Wolfgang Heiderich, Bühnenbild Eberhard Söhnel, Kostüme Eva Christ); Der gute Mensch von Se^uan an den Städtischen Theatern Karl-MarxStadt (Regie Hartwig Albiro und Piet Drescher als Gast, Bühnenbild und Kostüme Ralf Winkler); Der kaukasische Kreidekreis am Elbe-Elster-Theater Wittenberg (Regie Eugen Schaub als Gast, Ausstattung — unter Verwendung von Kostümen der Städtischen Theater Leipzig — Jörg Riemke). Auffällig war, daß in allen drei Inszenierungen die Geschichte außerordentlich real erzählt wurde, am symptomatischsten beim Parabelstück vom Guten Menseben von Se^uan in KarlMarx-Stadt. Man begegnet hier — das ist keineswegs abwertend gemeint — vielfältigen Genresituationen: im Tabakladen, unterm Parkbaum, beim Hochzeitsfest; das stilistisch allerdings etwas eklektische Bühnenbild unterstützt dabei an einigen Stellen, etwa wenn auf dem Platz vor Shen Tes Tabakladen neben der ärmlichen Bretterbude der altehrwürdige, mit Chinoiserien gezierte Eingang zum Teppichladen und das mit der Modernität der zwanziger Jahre protzende Schaufenster des Barbiers Shu Fu zu sehen sind. Dieses Beispiel zeigt auch, daß jenes Bemühen, die Parabelereignisse mit sehr viel direkten Wirklichkeitsdetails anzureichern, keineswegs eine Aufgabe des sozialen Gestus bedeutet. Weil Regie und Darsteller auf die Poesie des Dichters bauen und ihren weltanschaulichen Inhalt durch bewußte, 175

aber keineswegs vordergründig-demonstrative Arrangements künstlerisch betonen, geraten die Genresituationen nie als naturalistische Ab'ziehbildchen, sondern erhalten Größe, Bedeutsamkeit. Der epische Charakter der Fabel wird nicht zerstört, nicht in allgemeine „Dramatik" aufgelöst; und auch die Verfremdung wird angewendet. Aber, und das halte ich für eine wichtige Entdeckung, indem man sich der dialektischen Spannung von Vertraut und Merkwürdig bedient. Die Situationen, das menschliche Verhalten darin, sind erst einmal ganz normal (nicht — was oft als Verfremdung praktiziert wird — von vornherein ungewöhnlich, so daß sie vom Zuschauer gar nicht abgenommen werden), wie sie sich aber entwickeln, wie sich in ihnen soziale Gesetzmäßigkeiten durchsetzen, das schafft Auffälligkeit, Distanz zur Alltagserscheinung. Dieser wichtige Umstand, daß Verfremden auf Vertrautem aufbaut, wird bisher bei Brecht-Inszenierungen zu wenig berücksichtigt. Der Karl-Marx-Städter Se^uan knüpft hier an eine in der Commune-Einstudierung des Berliner Ensembles87 gemachte methodische Entdeckung an und bestätigt ihre Brauchbarkeit für die Brecht-Interpretation im Theater der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Die Parabelproblematik ist beim Kreidekreis eine andere, beim Galilei stellt sie sich in dieser Form überhaupt nicht. Dennoch fällt in den Inszenierungen in Wittenberg und in Dresden-Radebeul ein ähnliches Bemühen um „naive" Vorführung der Geschichte auf. Allerdings geht es hier wie da nicht ohne Probleme ab. Die Wittenberger Kreidekreis-Inszenietung ist Ausdruck einer großen Anstrengung dieses kleinen Ensembles, das sich bereits in der Vergangenheit tatkräftig für Brecht eingesetzt hat. Die 65 Rollen des Spiels werden von 31 Darstellern verkörpert. Das Schauspielkollektiv vereinigt 22 Kollegen, und so sehen wir in der Aufführung nicht nur Studiomitglieder, sondern auch zwei Darsteller des Musiktheater-Ensembles (einer davon, Erhard Holland-Moritz, macht als Sänger Tscheidse leider mit Belcanto-Willen und Taktstock-Bindung den „Erzähl"-Part langweilig, nutzlos), den Chefdramaturgen und den Intendanten auf der Bühne. Unter diesen Sonderbedingungen entsteht eine bemerkenswerte Aufführung. Die 176

Geschichte wird im Prinzip sehr direkt und sehr lustig erzählt — ohne daß man diesem Arbeitsprinzip ganz vertraut, des öfteren etwas „spezifisch Brechtsches" dazuzugeben versucht. In dem Abschnitt Das hohe Kind wird im Dekorativen wie in der szenischen Choreografie eine Minikopie der Berliner Inszenierung von 1954 versucht. (Regisseur Eugen Schaub geht also — in der Mittelanwendung — über seine bekannte Erfurter Inszenierung von 1956 hinaus, kommt damit aber meines Erachtens der Brechtschen M e t h o d e und ihrer Anwendung in der Gegenwart kaum näher.) Der ritualisierte Kirchgang der Gouverneursfamilie — die Trippelschritte der Herren, posiert gefaltete Hände in starrer Vorhalte kontrastieren mit dem normalen Gehen der Diener — und die umfängliche pantomimische Agilität der Fraktion des Kazbeki erscheinen zumal in halbsouveräner schauspielerischer Umsetzung zu bloßer Marionettenhaftigkeit zugespitzt. Anstelle eines eigenwilligen künstlerischen Bildes setzt sich soziale Typologie durch, unterstützt durch eine kaum verständliche Klassifizierung der Figuren mittels Schminkmasken: weiß für die Herrschenden (aber auch für Aniko und Jussup), rot für die „Mittelschichten" (einschließlich Grusches Bruder, aber auch für einen der Großbauern in der Richter-Geschichte) und normale Bühnenschminke für die Volksgestalten. Dieser Zug zum betont Artifiziellen wird nun aber zugleich — im Sinne der handfesten Übermittlung derGeschichte—durch überdosiert deftige, soziale oder charakterologische Momente demonstrativ vorweisende Arrangements ergänzt: Natella Abaschwili setzt sich bei der hektischen Zusammenstellung ihrer Garderobe auf den Rücken einer Magd; der Marsch der beiden Panzerreiter in die nördlichen Gebirge stellt vor allem den Gegensatz zwischen dem wippenden Schritt des dienstbeflissenen Gefreiten und dem Geschlurfe seines überdrüssigen Untergebenen aus. Nimmt man die einfach-natürlichen Erzählformen in der Grusche — SimonGeschichte hinzu, so ergibt sich ein Stilgemisch, das sich über die löbliche Absicht lagert, den Zugang zur Fabel erschwert und dadurch kaum etwas mit Verfremdung zu tun hat. An den Landesbühnen Sachsen ist man da rigoroser. Die Galilei-Sz&ncn werden als Stationen im Leben eines legendären Helden gespielt. Die Zwischentitel sind fast nur Zierat; 12

Nössig

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die Karnevalszene ist — diesem Konzept entsprechend — nahezu folgerichtig (neben anderem) gestrichen; die „mörderische Selbstanalyse" erscheint eher als eine thematische Variation denn als aus den Vorgängen resultierende Erkenntnis des Helden. Das Stück, sagte man mir in Radebeul, wird von den Zuschauern als Klassiker akzeptiert. Da liegt viel Positives in solcher Feststellung (und auch in den Bemühungen des Theaters, dies — offenbar sehr bewußt — zu erreichen). Aber es ist in dieser Art des Klassisch-Machens auch etwas enthalten, was unserer Erbe-Rezeption, bei allem notwendigen Bekenntnis zum Helden, zum Ideal, nicht gut anstünde und erreichte Position preisgibt: nämlich die Gestaltung der gesellschaftlichen und induviduellen Widersprüche im Fabelverlauf. Die Gefahr liegt nahe, die Ideale als relativ leicht zu realisierende vorzuführen, die die Auseinandersetzung des Zuschauers mit ihrer praktischen Behauptung und Durchsetzung — bezogen nicht zuletzt auf unsere Gegenwart — auf Kosten bloßer Kontemplation (oder Geschichts- bzw. Geschichtenvermittlung) in den Hintergrund drängen. Den Galilei an den Landesbühnen spielt Waldemar Walther, die erste ganz große Aufgabe für diesen Schauspieler in letzter Zeit und an diesem Haus. Ein Wagnis, das gelingt, was die allgemeine Wirkungskraft des Darstellers betrifft. Er spielt den Helden ohne jegliche Pose, ohne Allüre, mit einer bäuerischen Hemdsärmeligkeit — und soweit durchaus im Sinne Brechts (wenn auch kaum die Poesie der Figur ausfüllend). All seine Tätigkeiten, seine Arbeit verrichtet er mit großer Freude, mit Spaß: das Lehren des Knaben wie das Hantieren am Fernrohr (alles andere wird nebenbei erledigt). Später dann, bei der Wiederaufnahme der astronomischen Forschung, liefert er, im Kreise der Mitstreiter seine Arme auf ihre Schultern gelegt, so etwas wie ein Symbol für ein Forscherkollektiv. Lachen und Schreien kann dieser Mann, Gefühle in sich hineinziehen oder aus sich herausholen — aber seine kleinen und großen Schwächen (die Sorge ums leibliche Wohl und der blinde Glaube an die Vernunft) unterspielt er. Er täuscht sich nicht selbst über die Welt, sondern wird von ihr enttäuscht: Das Gespräch mit dem Mönch—mitten im Packen der Reisekisten geführt — ist vor allem 178

bitter, auch wenn ihn die Argumente zum'Schluß neu erregen. Aus dieser Bitternis steigert sich seine Haltung zu der eines bewußten Illegalen (vor seiner Dingfestmachung durch die Inquisition und im letzten Bild). In dieser Gestaltung bleiben die Widersprüche der Figur weitgehend unterbelichtet, ist die Dialektik zwischen dem Land, das keine Helden hat, und dem, das leider welche nötig hat, zu stark auf das Recht des Galilei einerseits und die Menschenunwürdigkeit der Umwelt andererseits reduziert. (Es ist auffällig, daß diesem weitgehend gerechtfertigten Galilei eine zusätzlich belastete Welt gegenübergestellt wird: Im Collegium Romanum werden die Protokollmönche von „geselligen Mädchen" gefoppt — die Unmoral der herrschenden Kreise ist gezeigt; der Kurator muß eine vordergründig-falsche Jovialität, mit entsprechenden Gesichtsverzerrungen, zur Schau stellen — eine bewußte Schlechtigkeit der Gegner Galileis erscheint ins Bild gesetzt.) Die Aktivität der Figur der Grusche ist in Wittenberg das hervorstechendste Merkmal und in der Gestaltung durch Johanna Lesch das schönste schauspielerische Ergebnis des Abends. Auch Dieter Freydank als Simon kehrt die Lauterkeit der Figur — unter bewußtem Verzicht auf mögliche Tumbheit — hervor. Doch da muß ein allgegenwärtiges warmherziges Lächeln bei dem künstlerisch noch recht gehemmt wirkenden Schauspieler oft genug allein dafür stehen. Johanna Lesch erschließt sich dagegen mit der Grusche-Rolle ein relativ weites Feld der Gestaltungsmöglichkeiten. Sie zeigt Begabung für eine epische Spielweise, die immer auf Menschendarstellung gerichtet ist. Sie zeigt viel Freundlichkeit — und fast nie allgemein. Sehr schön der pantomimische Marsch in die nördlichen Gebirge, mit viel Mut und Hoffnung, dann der Kampf um den Krug Milch, das alltagsgewohnte Feilschen in ungewohnter Lage zeigend, den unabänderlichen Verzicht, trotzdem dann den langen Blick auf das Kind und schließlich die festen schnellen Schritte auf die Bauernkate zurück. Beim Versuch, Michel loszuwerden, spielt sie den großen Abschied von dem Kind ohne Pathetik: Ein müder Gang, ein großer Blick ermöglichen eine schöne Emotionalität, und gerade weil sie nicht zur „Nummer" ausgenutzt wird, überlagert der bittere Entschluß nicht die Heiterkeit der Erzählweise des Stücks (die sich dann auch 12*

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im Dialog zwischen der Bäuerin und ihrem Mann fortsetzt — und in der Angst der möglichen dritten Mutter wie der Entschlossenheit der Grusche gegenüber dem Panzerreiter einen tiefen Ernst im Moment der wirklichen Gefahr erhält). Johanna Lesch findet auch schöne, wenig genutzte dezente Verfremdungsmittel: wenn sie das Grusche-Lied („Simon Chachava, ich werde auf dich warten . . .") zwischen zwei Lächeln und Verbeugungen singt — die Handlung auf poetische Weise „anhaltend", nicht zerbrechend. (Die Gesangstechnik wirkt jedoch noch zu angestrengt, um das Kunstvolle natürlich umzusetzen.) Diese schöne Widersprüchlichkeit der Figur, die die Anfechtungen wie die Leistungen Grusches erlebbar und beurteilbar macht, bestimmt die Inszenierung jedoch nicht durchgehend. Jussup beispielsweise wird — als clowneske Figur — nur kritisch gezeigt, als einer, der sich auf Kosten anderer in Sicherheit bringt. Seine Schlauheit (mit der er dem Kriegsdienst entging) und seine Armut (die ihn auf die „billige" List brachte) werden nicht als mögliche Hoffnungen mitgespielt. Doch mit einer Kleinbürgerpersiflage — wie sie Schaubs Bemühen um „Brechtsche Artistik" zur Folge hat — scheint mir heute der Spaß und der Sinn dieser Episode nicht mehr erschließbar. Schaub selbst spielte den Azdak. Von der Konzeption her mit einem interessanten Akzent. Vor Beginn und am Ende der Verhandlung über das Kind macht er je eine Textstelle zu Ecksätzen: „Aber ich werde niemand den Gefallen tun, menschliche Größe zu zeigen" und „Ich mach keinem den Helden". Dazwischen zeigt er den Mut und die List, die er aufbringt, um das Kind der Mütterlichen zuzusprechen. Ohne die Schäbigkeit dieser Figur, ihre Widersprüchlichkeit in den Hintergrund zu rücken, wird Größe sichtbar, auch ohne daß beispielsweise Ernst Büschs vitale Persönlichkeit dahintersteht (im Gegenteil: die Versuche des Darstellers, Busch zu kopieren, lassen kaum Platz für notwendige eigene schauspielerische Entdeckungen). Die Karl-Marx-Städter Je^aw-Inszenierung ist in einer sehr wesentlichen Einzelleistung — Gabriele Heinz als Shen Te/Shui Ta — an anderer Stelle näher beschrieben. 88 Aber dieser Theaterabend erschöpft sich nicht darin. 89 * Konsequent verzichtet wird auf Figurenparabolik (die sich heutzutage manchmal 180

breitmacht, obwohl sie nichts mit schauspielerischer Gestaltung einer Parabel-Geschichte zu tun hat), herausgearbeitet wird die reale Widersprüchlichkeit der Menschen. Keine Figur ist einfach preisgegeben, vordergründig denunziert (wo solche Wirkungen entstehen — beim Polizisten —, treten Grenzen bei der schauspielerischen Umsetzung eines Grundanliegens in Erscheinung). Auf die Volksfiguren — auf Shen Te und Wang vor allem, aber z. B. auch auf den um Zigaretten bettelnden Arbeitslosen: scheu seine Bitte, behutsam das Einwickeln von zwei Stäbchen in ein Tuch — wird viel Sympathie versammelt, bei den „Zwischenschichten" das Wollen und Können gezeigt (z. B. durch die deutliche Konfrontation der raschen, teilnahmsvollen Hilfe der Armen für den verwundeten Wang und der abweisenden, von Skrupeln getragenen Kälte beim Ablehnen der Aufforderung, als Zeugen auszusagen, auch durch das Aufeinandertreffen von persönlichkeitszerstörender Unterwürfigkeit und echter Sorge um die schwangere Shen Te bei der Witwe Shin). Die „kleinen" Ausbeuter werden durch den Gang der Dinge, nicht durch hypertrophierten Gestus beurteilbar, das Kleinbürgertum ist also nicht das Hauptangriffsziel der Inszenierung. Ja, diesen Figuren wird durchaus Charme, Alltagsfreundlichkeit (Mi Tzü) und sogar Herz (Friseur) zugestanden. Nicht die Menschen werden beschuldigt, verurteilt, sondern ihre aus einem Gesellschaftssystem resultierenden und auf seine Konservierung bedachten Handlungen. Im Durchforschen der menschlichen Züge der Figuren liegen für mich die vorwärtsweisenden Momente der Inszenierung. Sic ermöglichen ein deutliches Engagement der Zuschauer (kein bloßes Staunen über Artistik, kein billiges Überlegensein, sondern ein Dabeisein). Ein wenig beziehungslos, ja, langweilig, wirken dann allerdings die Anklage- und Analysepassagen des Texts, wo man meines Erachtens der poetischen Formulierung mehr vertrauen muß, wenn nicht sogar Striche nützlich sind. Drei interessante; Inszenierungen, die auf unterschiedlichem Weg Brechts Stücke dem sozialistischen Zuschauer der siebziger Jahre nahebringen möchten. Dabei vereinigt die Se^uanInszenierung vieles, was auch in den anderen Arbeiten angestrebt wird und was mir die Hauptrichtung der weiteren Be181

mühungen zu markieren scheint: die einfache menschliche Idee des Stücks in einer unkomplizierten Fabeldarstellung, die die dichterische Poesie nutzt, aber sie nicht artifiziell auflöst, herauszustellen und vor allem bei jeder Figur hinter dem sozialen Gestus ihre unverwechselbare Individualität, ihre reale Widersprüchlichkeit aufzudecken. Gerade Brechts Gestalten — und nicht nur die Protagonisten — bieten mehr, als wir heute oft noch erschließen — und auch nutzen für die Entwicklung unserer Schauspielkunst, die der Verwendung des realistischen Details und der künstlerischen Sensibilität auf der Grundlage ihrer sozialistischen Verbindlichkeit so dringend bedarf. So zeigt sich die Frage, wie wir Brecht spielen sollen, gar nicht als „ Spezialproblem", sondern als eine Forderung, die an die Umsetzung der sozialistischen Menschenbildkonzeption auf unserem Theater überhaupt gestellt ist.

Brecht: Der gute Mensch von Se^uan (Volksbühne Berlin; Neuinszenierung 1971 — Regie Benno Besson) 9 0

Anderthalb Jahre nach der Se^uan-Premiere an der Volksbühne hat Benno Besson dieses Werk einer Neuinszenierung unterzogen. Die Praxis, ein Stück, das man zum Grundrepertoire des Hauses zählt, durch ständigen Vergleich mit neuen Wirklichkeitsansprüchen frisch zu halten, ist begrüßenswert. Und in diesem Falle nicht zuletzt interessant, da die Inszenierung von Anfang 1970 widersprüchliche Aufnahme gefunden hatte. Die damalige Charakterisierung in Theater der Zeit91- — das so prononcierte Herausstellen einer „Kunstwelt" begrüßend — widersprach nicht nur meiner Meinung, daß eine artifizielle „Überparabolisierung" und gleichzeitige Transponierung der SezuanVerhältnisse in eine modern-bürgerliche Plaste-Wohlstandswelt das menschliche Antlitz der Figuren wie letztlich die klassenmäßige Konfliktentwicklung in den Hintergrund der eigenwilligen ästhetischen Erscheinung treten ließ. Die Neuinszenierung nun verdient, gerade von der damaligen Diskussion aus betrachtet, diesen Namen zu Recht; sie ist nicht nur eine Wiederaufnahme in neuer Besetzung. Der wichtigste Gewinn 182

des „Sezuan 71" erscheint mir ein größeres Vertrauen in die Naivität dieser so bewußt gebauten Geschichte, die den überlegenen Spaß des sozialistischen Zeitgenossen an der Darstellung einer klassengesellschaftlichen Vergangenheit (und territorial ferngerückten Gegenwart) mehr organisiert als die wenn auch hochstilisierte Demonstration grundlegender klassengesellschaftlicher Gesetzlichkeiten. Hier liegen offenbar wesentliche Rezeptionspunkte für solche imperialismusanalytischen Werke wie die Brechts. Da sind die Götter. Aus den Nyloncapes tragenden Glatzköpfen, den „überirdischen" Popanzen imperialistischer Ideologie von 1970, sind durchschaubare „Volks"-Götter geworden mit rosigen Gesichtern und weißen Leinengewändern. Wilfried Ortmann, Klaus Mertens, Wolfgang Greese ermöglichen mit komödiantischen Charakterisierungsmitteln, unterschiedliche natürliche Temperamente betonend, den (menschlichen) Zugang und die (historische) Distanz zu diesem Figurenkollektiv. Dem dient auch die neue Regie-Idee, ihnen durch Auftritte und Abgänge im Zuschauerraum statt Demonstrationsfunktion eine heiter-entlarvende „Kommentar"-Rolle zu geben. Und da ist der Wasserverkäufer Wang, den jetzt Rolf Ludwig spielt. Vor reichlicher Jahresfrist mußte diese Figur in der Anfangsszene durch angestrengte Laufleistungen die Unmöglichkeit, für die Erlauchten ein Quartier zu finden, ausführlicherklärend vorspielen. Jetzt ist dieser Vorgang — durch die schauspielerische Persönlichkeit und Akkuratesse Ludwigs nur angedeutet — in jene Sphäre der Leichtigkeit erhoben, die der Mündigkeit des Zuschauers nicht vorgreift und sie deshalb vergnüglich beansprucht. Diese schönen Züge der Neuinszenierung setzen sich fort. In einer gewachsenen Souveränität Ursula Karusseits als Shen Te/Shui Ta (eine Zurücknahme ihrer genüßlich ausgestellten Gewerbegewohnheiten durch einen naiven Blick auf Figur und Fabel wie die Wiederaufnahme des Lieds vom Rauch helfen ihr dabei). Auch Wilfried Glatzeder, der die Rolle des Fliegers Sun übernommen hat, erscheint — z. B. durch Verzicht auf soziale Demonstrationen wie die Antreiberpantomime in der Tabakfabrik — wirklichkeitsnah beurteilbarer, als das die ausgeklügeltere Konzeption Anfang 1970 angeboten hatte. Natürlich fällt 183

es Glatzeder nicht leicht, gegenüber der die damalige Anlage bereichernde (und auch sprengende) Individualisierungskraft Ludwigs anzukommen. Das Wort zum Publikum ist ihm manchmal noch wichtiger als das zum Partner. Hier wird manches reifen müssen. Doch trotz dieser — und vielfältiger anderer — schöner Entwicklungen wird man den Eindruck nicht los, daß die Neuinszenierung Diskussionsmeinungen nach der Premiere von 1970 mehr für den Rahmen als für den Kern genutzt hat, daß die neuen Gruppenakzente (Götter) und die neuen Besetzungen (Wang) noch zu wenig auf das Ganze ausstrahlten. Die globaldemonstrierende Behandlung solcher Figuren wie Mi Tzü (wiederum Marianne Wünscher), Shü Fu (weiterhin Hans Teuscher), Polizist (jetzt Günter Junghans) bleibt prinzipiell erhalten, die Witwe Shin (Ruth Glöss alterniert mit Susanne Düllmann) ist auch naclj den interessanten Karl-Marx-Städter Erfahrungen 92 weiterhin zuerst von der negativen Seite her angegangen. Die von soziologischer Demonstration freie, leichte, heitere Erkundung des Menschenbilds in einer an sich bereits bedeutungsgeschwängerten Figurenskala, wie sie uns jetzt streckenweise deutlicher entgegentritt, scheint mir deshalb auch in der Neuinszenierung noch weiter ausschöpfbar.

Brecht: Herr Vuntila und sein Knecht

Matti

(Staatstheater Dresden; 1972 — Regie Klaus-Dieter Kirst)/(Bühnen der Stadt G e r a ; 1 9 7 2 - K u r t Reginbogin) 5 »

1 Unsere Theaterpraktiker und -theoretiker führen Brecht immer öfter im Mund. Seine Stücke werden in letzter Zeit weniger aufgeführt. Selbst für das Brecht-Jahr 1973 gab es nicht mehr als zwölf Ankündigungen von Neuinszenierungen; bis Ende 1972 war noch keine davon realisiert, bis Mitte Februar wird neben Turandot im Berliner Ensemble Punttla in Erfurt und Senftenberg versprochen. Das ist alles. Das ist wenig. Noch nachdenklicher macht in jüngster Zeit die Auswahl aus dem großen Stückangebot, das vor allem in der zweiten Hälfte 184

der fünfziger und in den sechziger Jahren recht umfassend genutzt wurde. Seit 1945 gab es in der DDR 309 Inszenierungen von 21 Brecht-Stücken (ohne Bearbeitungen und Opern näch Brecht-Texten). Seit der Spielzeit 1970/71 wurden lediglich 9 Stücke 20mal inszeniert. Gänzlich fehlt in den siebziger Jahren bisher die Auseinandersetzung mit Stücken wie Die Mutter oder Die Tage der Commune, die durch ihre Gestaltung des Kampfes der Arbeiterklasse und ihren internationalistischen Aspekt eine wichtige Stütze für unsere Spielpläne sein könnten, um wesentliches zur Realisierung des Kernstücks unserer Kunstkonzeption, wie sie der VIII. Parteitag herausarbeitete, zu leisten. Und spärlich ist der Einsatz für jenen „klassischen" Fonds der epochemachenden Emigrationsstücke wie Mutter Courage oder Leben dei Galilei. Das Hauptinteresse der Theater richtet sich augenfällig auf Puntila und — schon mit deutlichem Abstand — auf den Kreidekreis. Von den 9 Brecht-Inszenierungen der Spielzeit 1971/72 galten 5 dem Puntila, 2 dem Kreidekreis. Aus den Plänen für diese Spielzeit ist ersichtlich, daß die genannten Werke wiederum 6 der 11 Inszenierungsvorhaben außerhalb Berlins ausmachen. Bleiben wir noch einen Moment beim Statistischen. Von den Nachkriegsinszenierungen galten bisher 60 den Gewehren der Frau Carrar, 50 dem Puntila, während folgende Stücke Produktionszahlen zwischen 21 und 29 aufweisen: Dreigroschenoper, Mutter Courage, Kreidekreis, Furcht und ILlend, Mutter. Vergleicht man diese Angaben mit den gegenwärtigen Tendenzen, so zeigt sich: Es gibt nicht nur eine ungenügende Beachtung der neuen Aspekte, die die entwickelte sozialistische Gesellschaft bei der Auswahl aus dem Gesamtwerk Brechts nahelegt (künstlerische Gestaltung der Mission und führenden Rolle der Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Partei; Interesse für „klassische" Bewältigung von Epochenproblemen), sondern sogar ein Zurückgehen hinter bereits erreichte Positionen einer umfassenden Auseinandersetzung mit Brecht. Wenn der Puntila z. B. bei •der Brecht-Pflege und bei der Propagierung seines Werks schon immer einen wichtigen Platz einnahm, so dünkt mich, daß diese absolute Bevorzugung in letzter Zeit Einseitigkeit signalisiert. Im Sinne einer vielfältigen' und auf unsere gesellschaftliche und künstlerische Hauptaufgabe gerichteten Auswahl von 185

Brecht-Stücken für den Spielplan erscheint mir auch die Repertoirepolitik des Berliner Ensembles gegenüber dem BrechtWerk überprüfenswert. Sollte die szenische Entdeckung bekannter und wichtiger Werke entsprechend den neuen gesellschaftlichen Bedingungen (die mit Galilei und den Gewehren der Frau Carrar höchstens versucht wurde) nicht stärker berücksichtigt werden sie die „Ergänzung" des Gesamtrepertoires durch bisher nicht gespielte Stücke (Dickicht, Turandof)} II Die Bevorzugung des Tuntila hat natürlich auch ganz reale Gründe. Spielplanmacher und Regisseure interessiert in der Regel ein im Stück aufgegriffenes aktuelles Epochenproblem: die Versuche des Imperialismus, die Existenz von Klassen und Klassenkampf zu verschleiern (und Brechts politische und poetische Widerlegung dieser Zweckpropaganda). Unter dem Einfluß des veränderten Kräfteverhältnisses in der Welt ist diese Tendenz gewachsen, wurden die Methoden verfeinert: Erzwungene soziale Zugeständnisse, demokratische Gebärden und nicht zuletzt sozialdemokratische Ideologien und politische Konzeptionen werden ins Feld geführt. Der neue Verschleierungsgrad macht es gerade in der gegenwärtigen Periode der politischen Entspannung und wachsenden ideologischen Diversion auch für den Theaterzuschauer eines sozialistischen Staats interessant, hinter die Kulissen zu schauen. Ein weiterer Grund, zum Vuntila zu greifen, ist zweifellos der Volksstückcharakter; das Bedürfnis nach Heiterkeit, ja Deftigkeit, auch nach fremdem nationalem Kolorit läßt sich damit gut und verantwortlich erfüllen. Und ein drittes Argument ist sicher, daß sich dieses Stück relativ leicht besetzt, oder besser, daß man hier auch ohne ideale Besetzung Erfolg erzielen kann. Wichtige Gründe, einleuchtende Gründe. Vielleicht bieten sie sich sogar zu deutlich an, um mehr als das übliche Maß an geistiger Anstrengung und künstlerischer Phantasie zu investieren (die meines Erachtens bei der Brecht-Rezeption dringend notwendig wären). Das Volksstück wird allzu schnell als sicheres Erfolgsstück gesehen. So scheint es mir jedenfalls nach dem Besuch der Inszenierungen in Dresden und Gera. 186

III

Die Dresdner Inszenierung von Klaus-Dieter Kirst und die Geraer von Kurt Reginbogin halten sich streng an den Stücktext und beziehen sich ausgiebig auf das Brechtsche Inszenierungsmodell. Wo man abweicht oder ergänzt, geschieht das im Hinblick auf die besondere Darstellerpersönlichkeit oder auf Grund einzelner Regie-Einfälle. Objektive Kriterien — veränderte gesellschaftliche Bedingungen gegenüber den vierziger Jahren, neue Bewußtseinsvoraussetzungen des Publikums und damit Rezeptionsmöglichkeiten und -notwendigkeiten — waren für mich an den szenischen Vorgängen und ihrer Organisierung nicht ablesbar. Für den heutigen Betrachter ergibt sich so eine Konfrontation mit dem Imperialismus der Jahrhundertmitte (notfalls noch einem solchen Straußscher Prägung). Das Lachen ist von wissender Überlegenheit gegenüber der Vergangenheit — in Gera deutlicher als in Dresden. Das ist nicht wenig. Ist es das Maximum? Jedenfalls erscheint mir fragwürdig, ob Einsichten in gegenwärtige Methoden der Verschleierung des Klassenantagonismus ermöglicht werden — wie es die Inszenatoren erhofften: Der Versuch, dem Puntila in Hinblick auf den modernen Imperialismus neue Dimensionen abzugewinnen, wäre noch zu leisten. Doch schon um eine allgemeine antikapitalistische Enthüllung vergnüglich und eine menschenbildbestimmende Orientierung fruchtbar zu machen, bedarf es erheblicher gedanklicher und szenisch-darstellerischer Souveränität. Auch in dieser Hinsicht bleiben die beiden Inszenierungen vieles schuldig. Die erfreulichste Entdeckung machte ich in Gera, und zwar bei der Gestaltung der Volksfiguren. Da ist Otti Planerers Laina, direkt couragiert beim Vortrag der Strophen des Puntila-Liedes vor der halbhohen Gardine, unbekümmertpraktisch, immer arbeitend auf der Szene (während die Regie für Christine Reinhardt als Fina offenbar keinen Zugang zur Rolle fand — und ihr wohl deshalb nicht nur Mattis Sympathie absprach, sondern sie auch in der Verlobungsszene einschlafen ließ). Und da sind vor allem die Frauen von Kurgela — Johanna 187

Möschke,' Waltraud Steinke, Sybille Hahn, Ditha Cullmann. Herrscht am dörflichen „Vtrlobungsmorgen" noch . viel Spieldrastik vor, so gewinnt der sonntägliche Besuch auf Puntilas Hof einen schönen Reiz, indem hier der Gestus des Spaßes, den man sich machen möchte, sichtbar wird. Puntilas Rausschmiß wird so nicht zu einer „niederschmetternden Enttäuschung" wie in Dresden — die vier wußten schon, was sie von dem Herrn zu halten hatten —, sondern eine neue Lehre: Selbst das kleinste Vergnügen wird ihnen verdorben. Erlebnisstark sind die. Finnischen Erzählungen aus der Anstrengung des Marschs und der Selbstbewußtheit dieser Frauen entwickelt. Ganz der Poesie des Texts und der Situation vertrauend, fordern sie die Zuschauer — erfolgreich — auf, sich mit ihren Sorgen und ihrem unbezwinglichen Optimismus als auch heute nützlicher Eigenschaft zu solidarisieren. In Dresden kommen solche Genüsse nicht auf. Wenn Laina (Regine Jeske) und Fina (Dorit Gäbler) die Liedstrophen vor einem großen Zwischenaktprospekt singen, deuten sie immer wieder augenzwinkernd auf das dort abgebildete Unikum Puntila und die ihn ironisch umrahmenden Zitate (z.B.: Alle können mit dem Puntila einig werden). Das nimmt Entdeckungen für den Zuschauer voraus, läßt ihn mehr kontemplativ als aktiv am Geschehen teilnehmen. Dies gilt auch für die Darstellung der Frauen von Kurgela: Katja Kühl, Use Rainer, Anne-Kathrein Kretzschmar, Gisa Stoll. Nicht nur, weil man die Pause zwischen den Besuch auf dem Puntila-Hof und die Finnischen Erzählungen legt, die Erfahrung und ihre Bewältigung trennt, sondern auch durch recht formelhafte schauspielerische Gestaltung. Daß man sich in Dresden offenbar weitgehend auf die Erfahrungen der Darsteller verließ, bewies auch Rolf Donaths Leistung als Matti, bei dem sich die sozialen „Hemmungen" der Rolle ins Darstellerische übertrugen, und Jochen Kretzschmers Gestaltung des roten Surkkala, die sich kaum über eine statuarische Proletarierpose erhob. Da war mir das Bemühen beim Geraer Matti (Peter Radestock) und Surkkala (Hans-Dieter Leinhos), darstellerische Unsicherheiten zu überwinden, lieber, auch wenn nur streckenweise Erfolge erzielt wurden und ein weiteres Mal Grenzen unserer Schauspie 1188

kunst und unserer Regiekunst bei der Entwicklung der Darsteller deutlich auffielen. Noch stärker sichtbar ist das bei der Interpretation der kritikwürdigen Figuren. Der Hang, sie als eine Art Fossile zu zeigen, führte zu argen Schematisierungen, so daß uns die Gestalten kaum noch etwas angehen. (Eine Ausnahme in Gera: Beim Anfangsdisput in der Verlobungsszene auf Puntila zwischen Probst, Richter und Advokat, gespielt von Herbert Sturm, Johannes A. Bauerfeld, Hans Holdsch, schafft der Überzeugungsernst der Figuren und die kritische Distanz der Darsteller eine relativ reiche Situation — die aber von einer stumm-grimassierenden Saufszene des Puntila rasch erschlagen wird). So erscheint der Attaché in Dresden von Friedrich-Wilhelm Junge und in Gera von Gerhard Reich zu einem Operettenbuffo heruntergespielt; und die Eva ist in Dresden, in Marita Böhmes Interpretation, auf allgemeine äußere Attraktivität und Sinnlichkeit gestellt. Margret Allner in Gera versucht da mehr von dem besonderen Typ dieser Figur zu erfassen, findet aber meist nur stereotype Haltungen (wenn sie, herrisch, den Fuß auf Puntilas Schnapskoffer, später auf Mattis Autoreifen stellt) und „Anbiederungsposen". Schließlich bleibt in beiden Fällen die wundervolle PuntilaFigur — aus unterschiedlichem Grund — unter zu erwartendem Niveau. In Dresden muß Joachim Zschocke gegen persönliche Voraussetzungen und berufliche Erfahrungen anspielen. Im Detail schafft der erfahrene Künstler überzeugende realistische Momente. Das berühmte „Knopfabreißen" ist das Ende eines großen Vorgangs — der Kampf des Trunkenen mit seinem Mantel. Aber die gedrungene Gestalt, die begrenzten „artistischen" Möglichkeiten erschweren es, Puntilas „Größe" zu erfassen. Es entsteht eine wurzelige Raimund-Figur. In Gera hingegen ist offenbar gar nicht erst versucht worden, HansDieter Schlegel, geübt in äußerlicher Drastik, zu realistischer Darstellung zu führen. Gestische und mimische Exzentrik bis zur Grimasse herrschen vor. Weder Vitalität noch Gefährlichkeit der Figur und ihrer Theorien von der „Klassenbrüderschaft" kommen zum Tragen. Das macht beim Publikum, das diesen Darsteller und diese Spielweise gewohnt scheint, zwar Furore. Aber wenn der größte Lacher dann kommt, wenn 189

Puntila in der Verlobungsszene seine Tochter bei der StiefelAuszieh-Probe mit einem primitiven „Ziiiieh" anfeuert, so dünkt mich der Erkenntnisgehalt solchen Vergnügens doch sehr gering. Dabei versteht dieses Publikum mehr als man ihm zutraut, wie die Reaktion auf Puntilas „Ich bin beinahe ein Kommunist" beweist. Bei diesem prägnanten Satz kann man Schlegel übrigens auch mal verstehen, was sonst nicht nur phonetisch schwer ist, sondern vor allem — durch „komödiantisch"-verschleifende Textbehandlung, die über die Fabelpunkte hinweggeht — vom Sinn her. Auch auf der Szene wird also noch einiges geschehen müssen, damit der Zuschauer ein nützliches Vergnügen an Brecht erwarten darf.

Brecht: Turandot oder Der Kongreß der

Weißwäscher

(Berliner Ensemble; 1 9 7 3 — Regie Peter Kupke/Wolfgang Pintzka) 0 ^

Im zweiten Bild wird er hereingeführt, der Bauer A Sha Sen, der seine Baumwolle in der Stadt verkaufen wollte, um vom Erlös zu studieren. Im vorletzten Bild verläßt er die Fabel. Er hat nicht studiert, aber gelernt. Über diese Figur, die die Inszenierung von Peter Kupke und Wolfgang Pintzka stets in Beobachterhaltung zeigt (meist die Vorgänge von vorn, von der Seite verfolgend, kommentierend), wird am Berliner Ensemble die Fabel von Brechts letztem Stück erzählt. Das ermöglicht, die Turandot nicht n u r als ein Stück gegen den Mißbrauch des Intellekts in der bürgerlichen Gesellschaft (als das es bereits Anfang der dreißiger Jahre von Brecht in Erwägung gezogen wurde) aufzufassen, sondern auch als Gesellschaftsparabel für das Zeitalter der Fäulnis des Imperialismus und der sozialen Revolution (wie sie Brecht in den fünfziger Jahren schrieb), einbeziehend die Frage nach der Führungskraft zur Lösung der Gesellschaftsprobleme unseres Jahrhunderts. (In der satirischen Abrechnung mit den beiden Philosophen Ki Leh und Munka Du, die sich so viel auf ihre unabhängige, kritische Meinung einbilden, Führungsansprüche suggerieren, schimmern kräftig praktische Erfahrungen auch 190

mit „linken" Intellektuellen vom Schlage Adorno, Marcuse oder Ernst Fischer hindurch.) Das Herausstellen solcher „Beobachtungsfigur" überzeugte mich vor allem, weil Martin Flörchinger als Sen, auf von ihm mitgeformten Traditionen des Berliner Ensembles aufbauend, eine der schönsten — sicher nicht auffälligsten — Leistungen in diese DDR-Erstaufführung einbrachte. Er zeigt die Vorsicht und Klugheit, die List und den schüchternen Mut, die Unabdingbarkeit des Wissenwollens, vor allem aber den Entwicklungsprozeß dieser Figur: Ein „einfacher" Mensch, der aus seiner Lebenspraxis und indem er die Praktiken der Herrschenden durchschaut die reale Gesellschaftsveränderung, das geistige Durchdringen der Wirklichkeitsprobleme (also eine dem Volk dienende Anwendung der Wissenschaft) als seinen persönlichen Auftrag ableitet. Was beobachtet und verarbeitet dieser Sen? Der Kaiser von China ist in Nöten. Seine zweite Morgenpfeife ist gestrichen, weil das von seinem Bruder verwaltete Baumwollmonopol nichts mehr einbringt. Eine Rekordernte hat den Preis ins Bodenlose fallen lassen. Man beschließt, die Baumwolle in den kaiserlichen Lagerhäusern zu verstecken. Der Preis steigt, das Monopol wird rentabel, die Morgenpfeife kann wieder gewährt werden. Aber vor dem Palast demonstrieren nun der Bund der Kleidermacher und der Bund der Kleiderlosen. Sie fragen: W o ist die Baumwolle? Sie werden anfällig für die Ideen des Kai Ho, der in den nördlichen Provinzen mit der Enteignung der Grundbesitzer begonnen hat. Da besinnt man sich der Intellektuellen, der Tuis (Abkürzung für Tellekt-Uell-Ins). Auf einem TuiKongreß soll die Frage nach der Baumwolle für die Massen „beantwortet", der Kaiser und sein Staat weißgewaschen werden. Als Preis winkt die Kaisertochter Turandot, die intellektuelle Attitüden sinnlich machen. Der Kongreß scheitert, weil die Lügen zu plump sind und beim krampfhaften Suchen nach der besten Weißwäsche sogar die Wahrheit herausschlüpft. Während die Köpfe der Disputanten auf der Stadtmauer aufgesteckt werden und Kai Ho auf die Hauptstadt vorrückt, rettet der Straßenräuber Gogher Gogh den Kaiser, indem er die Frage nach der Baumwolle einfach 191

verbietet und die kaiserlichen Lagerhäuser in Brand stecken läßt. Die Tuis werden als angeblich Schuldige an der Not des Volks verfolgt. Sie verstecken die Schätze der alten und neuen Kultur bei den Schmieden und Wäscherinnen, dort wo die Ideen des Kai Ho und eines bewaffneten Aufstands Platz greifen. Die Hochzeit zwischen Turandot und Gogher Gogh und der Plan der Hofpartei, sich des Straßenräubers wieder zu entledigen, scheitern, weil die Truppen des Kai Ho die Hauptstadt stürmen. Der beobachtende Sen, Zeuge der Tui-Ausbildung zur „Widerlegung" der Lehren des Kai Ho (wobei er dessen Programm kennenlernt), des Kongresses (wo er die Wahrheit über die Baumwolle erfährt), des Terrors der Gogh-Banden (die ihn zusammenschlagen), der Kulturrettung pnd Kampfvorbereitung der Arbeiter, gewinnt Einsicht in politische, soziale, ökonomische und geistige Grundwidersprüche unserer Epoche. Kompliziert und vielfältig wie die Wirklichkeit ist das Parabelmaterial Brechts. Schwer für eine Inszenierung, das alles (und richtig) assoziierbar zu machen. Auch im Berliner Ensemble ist das in zweijähriger Arbeit nicht recht gelungen. Ein Beispiel: Die Widersprüche zwischen den Kleidermachern und den Kleiderlosen werden zelebriert (in einer Zeitlupenschlägerei zwischen ihren Vertretern im Kaiserpalast). Das gibt nur schwer einen Sinn. Auch wenn später ein Trupp Kleiderloser in den Kongreßsaal eindringt, zu einem Loblied auf Kai Ho einen APO-ähnlichen Demonstrationstanz unter schwarzer Flagge ausführt, bleibt manches ungenau. Sind sie Ultralinke, Anarchisten? Man konzentriert sich (neben der Sen-Figur) auf die Differenzierung der Tuis. Die Inszenierung zielt nicht auf einfache Verurteilung oder simple Bemitleidigung (bei der Verfolgung im zweiten Teil), sondern fragt auch nach möglichen Perspektiven. Damit trifft man reale gesellschaftspolitische Probleme unserer Zeit. Nicht zuletzt aus dieser politischen Verantwortlichkeit keltert die Inszenierung wesentliche Schönheiten. Die Differenzierung der Tuis erfolgt u. a. über die Kostüme. Gediegen, mit kunstvollen Applikationen versehen, sind die weißen Gewänder der Tui-Oberschicht (Politiker und Aka192

demiker) und schneeweiß ihre hohen Hüte; einfach, ein wenig zerschlissen, die schmutzig-weißen „Berufsuniformen" der mittelständischen Tuis und etwas „angeschwärzt" ihre Hüte (schön das Detail, in diesem Rahmen den König der Ausredner mit dem höchsten Honorarsatz durch ein bescheidenes, aber reines Weiß auffallen zu lassen); zerfetzt, speckig, die das Weiß kaum noch ahnen lassenden Kleider der lumpenproletarischen Tuis und fast schwarz ihre Hüte. Auch im Spiel werden Unterschiede betont: gezierte Posen, wendiganschmeichelnde Werbegesten, plumpe Anbiederung. Zu fragen ist, ob diese kostümlich-choreographische Staffelung, nicht nur auf dem Kongreß, wo einige der Mittelstands-Tuis das System in Frage zu stellen beginnen, stärker für die sozialen Aspekte der Fabel zu nutzen gewesen wäre. Jetzt bleibt Wang, der Schreiber der Tui-Schule, der einzige der verfolgten kleineren Tuis, der mehr als Angst oder beschränkte Kunstliebe zeigt, wenn er in die Vorstadt geht. Der betonte Beobachterstandpunkt des Bauern Sen und die Hervorhebung der unterschiedlichen Tui-Haltungen „verführt" die Inszenierung fast durchgängig zur Demonstration. Das fällt nicht so auf, gefällt sogar, solange Spaß und Witz kräftig am Werke sind. Das schafft Kontemplation, Langeweile, wenn im zweiten Teil die sehr ernsthaften Vorgänge mit besinnlicher Nachdenklichkeit vorgeführt werden. Für dieses Nachlassen des Vergnügens an der Inszenierung möchte ich übrigens nicht so ohne weiteres die eigenwillige Stückstruktur verantwortlich machen. Wer will heute nachweisen, ob Brecht auf den Proben die Fabel, die Figuren, den Text verändert oder eine geeignete Spielweise gesucht hätte, um die Vorgänge aus einer stilisierten grauen Alltäglichkeit, wie wir sie jetzt sehen, herauszuführen? Fragen zum „aufklärerischen" Grundzug der Inszenierung ergeben sich für mich auch aus dem Gelungenen. Die politischen Tuis (am Hof) und die akademischen Tuis (auf dem Kongreß) sind von der Regie außerordentlich stark als Demonstrationsobjekte benutzt worden. Über sie und die Fürstenfamilie bekommen die Szenen bis zur Pause ihren Rhythmus. Gut so. Trotzdem: Häufige Begrüßungsgebärden, typisierte Einlenkungs- und Beschönigungs- bzw. Unter13

Nössig

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würfigkeitshaltungen des Ministerpräsidenten (Willi Schwabe) und des Hoftui (Victor Deiß) geben den Vorgängen zuviel Puppenhaftes. Verstärkt wird dieser Eindruck durch mechanistische Ausführung an sich aussagekräftiger Aktionen: wenn der Kaiser über den dienernd am Boden kriechenden Hoftui hinwegschreitet oder wenn dieser der Putzfrau die Ohren zuhält, als man im internen Kreis über das Geheimnis der Baumwolle spricht. Auch die Hofwelt ist recht vordergründiger Kritik preisgegeben. Olga Strub entlarvt die Primitivität der Turandot mittels geziert-exaltierter Stellungen und Bewegungen. Sie setzt dafür ihre körperlichen Vorzüge ein: z. B. in einem „Wackeltanz" zu der in den Palast dringenden Musik der Bünde — Bedeutsamkeit, Sinn entstand für mich kaum. Diesem — wie ich meine, manierierten — Stil ordnet sich Curt Bois durch Ausbrechen ein. Er nutzt seine darstellerische Erfahrung, um die Kaiser-Figur mit komödiantischer Lust vorzuspielen — umwerfend in vielen Details, zu recht heftig akklamiert: aber immer ein bißchen zum PrivatTrottligen hin. Der sich so formende Stil der Hofbilder läßt mir diese Welt zu einfältig-ungefährlich geraten, erfaßt das Wesen der gezeigten Vorgänge nur unvollkommen. Wie bei Curt Bois wird der demonstrative Zug der Inszenierung (der übrigens das von Brecht empfohlene Tempo nicht durchgängig gestattet) auch von den drei Darstellern der führenden akademischen Tuis — Ekkehard Schall als Hi Wei, Stefan Lisewski als Ki Leh, Dieter Knaup als Munka Du — durch schauspielerische Individualität bereichert. Sie helfen wesentlich, den Kongreß zum künstlerischen Höhepunkt des Abends zu machen. Stefan Lisewski nutzt einen Dozentengestus, eine Mischung von blasierter Arroganz und „wissenschaftlicher" Umständlichkeit, und weiß ihn klug außerhalb einfacher Persiflage zu halten. Gerade das bringt den Redesalm Ki Lehs mit umwerfender, entlarvender Komik zur Wirkung. Dieter Knaup zeigt mit gleicher unspekulativer Genauigkeit die körperliche Erschöpfung des Schönlings Munka Du (eine wundervolle Studie: sein Abschied von zu Hause), der Turandots Körper schon auf Vorschuß genießen mußte und sich a u c h deshalb um Kopf und Kragen redet. Ekkehard Schall bevorzugt stärker artistische Mittel — 194

sprachliche (Tonschwankungen, Lauthemmungen, Stottern) und gestische: Gegen Ende seiner Rede, wenn sich Hi Wei gedanklich verheddert, verschlingt sich der Schauspieler in das Rednergerüst, schleppt es wie ein fesselndes Argument hinter sich her. Das gibt der Figur konkrete Eigenwilligkeit und den Zuschauern Spaß. Für mich war trotzdem zu viel Künstlichkeit im Spiel. Gefallen hat mir das Bühnenbild Karl von Appens. Es besticht durch Bescheidenheit. Auf jede Chinoiserie verzichtend, sind spielgünstige, „leichte" Räume entstanden. Ein origineller Vorschlag: Die Stadtmauer, davor riesige Stangen, „gekrönt" von den Häuptern der Geköpften, die fast lautsynchron „reden" können. Am besten war die Funktionstüchtigkeit dieses Bühnenbilds beim Kongreß genutzt: Der Saal und die kaiserliche Garderobe sind auf dem vorderen und hinteren Sektor der Drehbühne aufgebaut. Die Verwandlung geschieht durch eine 180-Grad-Drehung. Dazwischen bleibt, begrenzt von den rohen Rückseiten der Dekorationswände, ein Korridor für die Foyerszenen frei. In diesem Raum gelang der Regie ein wohlausgewogenes Verhältnis zwischen Ausführlichkeit und Tempo. (Es erschien mir durch die Überarbeitung nach der Premiere sogar noch souveräner bewältigt — während Straffungen in den Szenen des zweiten Teils Qualität und Rhythmus der Inszenierung nicht verbesserten.) Hervorzuheben wäre noch eine Reihe schöner Details: wenn die Kaiserpolizei dem „Ehrengast" Sen am Eingang zum Kongreßsaal seinen Stock (als mögliche Waffe) abnimmt; wenn Hi Wei bei der Kongreßeröffnung Aufmerksamkeit und Beifall organisiert; wenn der Kaiser — in der Klemme — in eine Tür eingeklemmt wird, (Bois könnte da neben dem Komödiantischen den Sinn noch stärker spielen); wenn Gogher Goghs Banden nach der Machtergreifung Plündergut mit sich schleppen . . . Hinzuweisen wäre auf manches weniger geglückte Arrangement: Zu verschwommen ist der Vorgang gezeigt, wie Turandot dem Sen seine beschlagnahmte Baumwolle bezahlt (und ihn dadurch als Renommiergast des Kaisers entdeckt); verschämt, fast unsichtbar, geschieht das Vorzeigen der Gewehre in der Vorstadt . . . Wichtig scheint mir, daß manches realismusträchtige Detail — das Bemühen darum 13»

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war stärker als in letzter Zeit in diesem Haus — zu einseitig demonstrativ ausfiel, nicht sinnlich, poetisch genug war. Und daß dieses Bemühen zuwenig noch^das Wesen der gesamten Aufführung ausmachte. Brecht: Die Mutter (Berliner Ensemble; 1974 — Regie Ruth Berghaus) 95

Brechts Mutter ist drei Jahre nach dem Tod der Weigel, klassische Interpretin der Titelrolle, in einer von Ruth Berghaus besorgten Neuinszenierung wieder auf der Bühne des Berliner Ensembles zu sehen — sichtbarer Ausdruck einer nützlichen Arbeitsdevise: „Lernprozesse [. . .] können abgekürzt werden durch Produktion." 96 Das Stück ist von großer Aktualität in der gesamten Epoche der proletarischeil Klassenkämpfe gegen den Imperialismus — auch in jenem Teil der Welt, in dem der Sozialismus unwiderruflich gesiegt hat. Seine politisch-künstlerische Qualität, besonders die revolutionäre Dialektik und die assoziationsreiche Lebendigkeit des theatralisch vorgeführten Lebens der Revolutionärin Pelagea Wlassowa aus Twer hat mich im Oktober 1974 ebenso gepackt wie reichlich zwanzig Jahre vorher. Ja, die Eindrücke waren tiefer noch. Das hat sicher mit größerer eigener Erfahrung und Einsicht — in die Klassenkämpfe unserer Zeit und in das Werk Brechts — zu tun, aber auch mit der besonderen Anteilnahme an den jüngsten Kämpfen des revolutionären Proletariats und seiner Verbündeten: von der chilenischen Tragödie bis zum Erstarken der Einheitsfront in Frankreich, vom konsequenten Auftreten der DKP bis zur portugiesischen Hoffnung. Ich betone diesen Vorgang einer neuen Bereicherung durch Brechts Stück, weil er natürlich nicht ohne die Inszenierung, ihre parteiliche, operative Absicht zu denken ist — obwohl sich mir gerade dazu viele Fragen aufdrängen. Auf der Basis gleicher Absichten und Ansichten („Wir machen uns keine Illusionen über die Schwierigkeiten, den Standard wieder zu erreichen." 97 ) scheint mir ein Meinungsstreit nützlich. 196

Da ist zuerst der von Andreas Reinhardt geschaffene Raum, in dem sich die Geschichte abspielt. Der Bühnenboden ist bedeckt mit Eisen-, Wellblech- und Zinkschrott unterschiedlichster Art und Dimensionen. Links und rechts bildet er kleine podestartige Erhöhungen, die für die Arrangements benutzt werden. Abgeschlossen ist dieses — neutrale oder abstrakte, wie man will — Spielfeld durch den weißen Rundhorizont, der beim Bericht vom 1. Mai 1905 durch einen roten ersetzt wird, der dann bis zum Schluß bleibt. Dieser „Schrottplatz" (der z. B. Gelegenheit bietet, in der Szene Die Sumpfkopeke Arbeiter durch aufklappbare Eisenplatten aus der Unterbühne heraufsteigen oder sich hinter dem Gitter des linken Podestes drängen zu lassen) — ist er nur „materiell und technisch weniger aufwendig" 98 als gebaute Dekorationen? Auch Brechts Berliner Inszenierung von 1932 und die New Yorker Produktion von 1935 kamen mit dekorativen Andeutungen aus, vertrauten auf die Phantasie des Zuschauers, offerierten ihm aber keine auffällig-andere „Kunst"-Wirklichkeit. Jetzt entstehen leicht recht mechanische Symbolwirkungen, auch wenn in den Szenen mit dem zuerst nur kleinbürgerlichzarentreuen Lehrer ständig eine durchsichtige Folie über die Metallwüste gelegt wird. In der Gutsküche aber hängt plötzlich ein „lebensechtes" halbes Schwein, von dem sich fast supernaturalistisch ein Stück absäbeln läßt. Die Kostüme wiederum gehen stärker auf erprobte Traditionen zurück: Russische Eigenart zitierend, aber nicht imitierend, helfen sie den sozialen Gestus der Figuren aufzubauen und haben zum Teil erzählende Funktion (die Behandlung der Schuhe in der Szene Der Lehrer überrascht die Mutter bei politischer Agitation). Doch dann sind wieder die Gesichter der Arbeiter mit großen Ölflecken beschminkt — ein „Symbol" des Proletseins? Insgesamt erscheint mir die gesucht wirkende optische Auffälligkeit, der eklektische Einsatz von Ausstattung wenig geeignet, eine „künstlerisch überzeugende Lösung" 99 zu schaffen, die den Realismus des Stücks konsequent bedient. Das Szenographische findet im Inszenatorischen und Darstellerischen vielfältige, ja grundsätzliche Entsprechung. Schon der durch das Metallgerümpel uneben gemachte Bühnenboden fordert und unterstützt absonderlich stilisierte („balancie197

rende") Gänge und Gesten. Sie setzen sich fort in demonstrativen Arrangements (die sich über die ganze Bühnenbreite formierende Reihe sitzender Arbeiter bei der Vertrauensleuteversammlung ; die hektischen, gleichfalls die gesamte Bühne ausschreitenden Gänge von Pelagea und Pawel im Gefängnis) und sprachlichen „Auffälligkeiten" (der „Gebetssermon" beim illegalen. Gespräch im Gefängnis; der penetrante „Singsang" bei den Dialogen in der Gutsküche). Der Bericht vom 1. Mai wird von einem „Denkmal" gesprochen: Die Gruppe hält das spätere Opfer, Smilgin, halbhoch in ihren Armen. Glich die Brechtsche Lösung einer Heartfieldschen Fotomontage (die sich schön in Bewegung auflöst), so wird man jetzt an eine ausdrucksstarke Cremersche Plastik erinnert (die aber nur unharmonisch wieder in den Vorgang mündet). Es entsteht so etwas wie eine choreographische Regie, die oft mehr auf das optisch Sinnfällige als auf das gedanklich und emotional Zwingende aus ist; Naivität, Dialektik der Figuren und Vorgänge sind zugunsten ästhetisch überspitzter Impressionen vernachlässigt. Dem Requisit (dem Essentopf, der roten Fahne), dem realistischen Detail wird relativ geringe Bedeutung beigemessen, oder es erscheint hypertrophiert: etwa, wenn die Schreiben lernenden Arbeiter ihre Ungeschicklichkeit in nahezu kreatürlicher Übertreibung vorführen. Das hat Auswirkungen auf die darstellerischen Leistungen. Für das umfangreiche Ensemble mag hier Felicitas Ritschs Mutter als Beispiel dienen. Bei ihr prägte sich mir letztlich nur ein Charakteristikum durch ständige Wiederholung bleibend ein: der in die Arme gestützte Kopf. Man gewinnt den Eindruck, als ob hier ein Moment der Weigel konserviert und verabsolutiert wird (wenn die Wlassowa bei der Nachricht vom Tod ihres Sohnes stumm im Schattenriß erscheint, ist diese „Zitat"-Form bis zur äußeren Ähnlichkeit getrieben). Was auf diese Weise nur begrenzt organisiert werden kann, ist das Leben der Figur, das tiefergehende Interesse für sie (und andere Rollen). Es mag sein, daß diese zum Stereotypen hinneigende Darstellungsweise etwas vom gegenwärtigen „Standard" dieses Ensembles zum Ausdruck bringt: zu schnelles Zufriedensein mit „Vorbild-Zitaten" und wenig schöpferisches Einfügen in das „Gerüst" der Regie-Choreographie. Eine sol198

che Hypothese unterstützt die überzeugende Leistung von Jürgen Holtz als Lehrer, der die kritische Haltung zu diesem kleinbürgerlichen Intellektuellen mit beißender Schärfe spielt und zugleich die Potenzen, die Leistungen, die Chancen und die Grenzen dieses Menschen und damit die Gesamtkontur der Figur kräftig — bedenkenswert und vergnüglich — zum Ausdruck bringt. Hier setzt sich die Persönlichkeit des Schauspielers durch. Ähnliches ist bei Hans-Peter Minetti als Anton Rybin zu beobachten und — für eine kleine Situation — bei Victor Deiß: wenn er spielt, wie der Gutsmetzger sein „proletarisches Herz" entdeckt. Insgesamt aber wird bei der Suche nach neuen, zeitgenössischen Ausdrucksmöglichkeiten streckenweise noch der Seitenpfad des Manierismus beschritten. Die Leistung eines so erfahrenen Schauspielers wie Ekkehard Schall scheint mir das zu beweisen. Ihm ist in der neu geschaffenen Rolle des Kommunisten aufgetragen, die Songs (die im Original verschiedenen handelnden Figuren zugeteilt sind) zu interpretieren. Das ist schon dramaturgisch ein kräftiger Eingriff in die Struktur des Stückes. Er wird verstärkt durch Schalls Interpretation: Im dunklen Abendanzug mit Schlips und in der Haltung eines Oratoriensängers in die Loge tretend, stellt er sich wie ein Dozent neben das Geschehen, was eine akademische Formalisierung schuf. So wenigstens war mein Eindruck. Von dieser eigenwilligen Auslegung her ist man geneigt, das so deutlich Andersartige gegenüber Brechts Konzeption aus den fünfziger Jahren prinzipieller zu sehen: als einen Versuch, mit diesem Stück möglichst auffällig heutige Weltzustände — in der Sicht der Interpreten! — zu reflektieren. Ich sehe das bestätigt durch den bedeutsamen Strich über die beiden letzten Szenen: Vaterländische Kupfersammelstelle (13) und Straße (14). Das Stück endet jetzt mit der folgenlosen Agitation der Mutter, die von den Arbeitern am Beginn des ersten Weltkriegs nicht mehr gehört wird und eine große Warnung formuliert. Brecht schrieb zur New Yorker Aufführung (1935): „Niemals beispielsweise hätten politisch geschulte Arbeiter dem Theater zugestimmt, als es behauptete [. . .], daß man die große (wenn auch nur sieben Minuten lange) Antikriegspropaganda-Szene des dritten Aktes unbedingt streichen müsse. Sie hätten sofort 199

gesagt: aber dann folgt auf eine Szene, in der gezeigt wird, wie 1914 das Proletariat in überwiegender Mehrheit die Losungen der Bolschewiki ablehnt (12), unmittelbar, wie ein Geschenk des Himmels, das den untätig Wartenden zufällt (14), der Umschwung von 1917! Man m u ß doch zeigen, daß zur Herbeiführung solcher Umschwünge revolutionäre Arbeit nötig ist, und man muß zeigen, wie sie gemacht werden soll. So argumentierend, hätten sie auch die ästhetische Konstruktion des dritten Aktes gerettet, die durch die unglückselige Streichung der Hauptszene ruiniert wurde." 1 0 0 Im Berliner Ensemble streicht man nun den halben dritten Akt — und damit nicht nur die „Herbeiführung solcher Umschwünge" und das halbe Leben der Revolutionärin Pelagea Wlassowa, sondern zugleich das reale historische Ergebnis ihres Kampfs. Fürchtete man, den sozialistischen Zuschauer durch Wiederholung geschichtlicher Tatsachen zu langweilen? Wollte man provozieren? Sollte der herbe, niederdrückende Schluß anspielen auf die gegenwärtigen komplizierten Kämpfe, ja Niederlagen des revolutionären Proletariats in einigen Teilen der Welt? Vollziehen sich solche Prozesse aber nicht zugleich unter den übergreifenden Bedingungen des dominierenden und wachsenden Einflusses der sozialistischen Staatengemeinschaft auf die Weltpolitik? Das sind Fragen, die sich mir aufdrängten — und die ich mir vom Theater produktiver behandelt wünschte.

Abkürzungen

BZ Jahrbuch-

Lenin Material

MEW Mitteilungen

ND SuF

TdZ WB Zeitenwende

Berliner Zeitung. Berlin 1945ff. Shakespeare-Jahrbuch. Hg. im Auftrag der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft von Anselm Schlösser und ArminGerd Kuckhoff. Bd. 107/1971-111/1975. Weimar 1 9 7 1 1975. W. I. Lenin: Werke. Bd. 1 - 4 0 . Berlin 1959-1968. Material zum Theater. Beiträge zur Theorie und Praxis des sozialistischen Theaters. Hg. v. Verband der Theaterschaffenden der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1970 ff. Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 1 - 3 9 u. Ergänzungsbd. I—II. Berlin 1969-1971. Mitteilungen der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin (bzw. Mitteilungen der Akademie der Künste der DDR). Berlin 1963ff. Neues Deutschland. Berlin 1946ff. Sinn und Form. Beiträge zur Literatur. Hg. v. d. Deutschen Akademie der Künste zu Berlin (bzw. v. d. Akademie der Künste der DDR). Berlin 1949ff. Theater der Zeit. Berlin 1946ff. Weimarer Beiträge. Zeitschrift f. Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie. Berlin-Weimar 1955 ff. Theater in der Zeitenwende. Zur Geschichte des Dramas und des Schauspieltheaters in der Deutschen Demokratischen Republik 1945-1968. Hg. v. Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. 2 Bde. Berlin 1972.

Anmerkungen

Umleitung: Ererben und Erwerben 1 Johann Wolfgang Goethe : Faust. Der Tragödie erster Teil. In : J . W . Goethe: Werke. Berliner Ausgabe. Bd. 8. Berlin-Weimar 1965, S. 171. 2 W.I.Lenin: Die Aufgaben der Jugendverbände, in: Lenin, Bd. 31, S. 276. 3 W. I. Lenin: Erster Entwurf einer Resolution über proletarische Kultur. In: W. I.Lenin über Kultur und Kunst. Berlin 1960, S. 373. 4 Friedrich Wolf: Kunst ist Waffe. In: Gesammelte Werke in sechzehn Bänden. Bd. 15. Berlin-Weimar 1967, S. 88. 5 Sergej Tretjakow : Feld-Herren. Einleitung zur deutschen Ausgabe. Zit. nach: Sergej Tretjakow. Lyrik — Dramatik — Prosa. Leipzig 1972, S. 108-109 (Reclams Universal-Bibliothek. Bd. 70). 6 Johann Wolfgang Goethe: Regeln für Schauspieler. In: J. W. Goethe: Werke. Berliner Ausgabe. Bd. 17. Berlin-Weimar 1970, S. 103. 7 Die Leistungen und Probleme der umfänglichen O'Casey-Pflege durch das DDR-Theater am Beginn der siebziger Jahre sind u. a. von der Kritikerin Ingeborg Pietzsch kontinuierlich verfolgt, beschrieben und analysiert worden. Zur Inszenierung von Juno und der Pfau am Deutschen Theater vergleiche ihr Rezension : Das ist 'nen prima Ding, 'nen priiiima Ding. In: TdZ 28 (1973) 1, S. 2 ^ 5 . - Weitere Informationen liefern u. a. ihre Aufsätze: Versuche mit O'Casey und der Versuch ihrer Ausdeutung. In: TdZ 26 (1971) 8, S. 26-29, 53 und: Noch einmal O'Casey und eine Menge Fragen. In: TdZ 27 (1972) 7, S. 36-38 sowie der Vortrag: Über Probleme der O'Casey-Rezeption in der DDR. In: Material, Nr. 30, S. 4-17. 8 Aus der Arbeit der Akademie. In: Mitteilungen 10 (1972) 1, S. 3. 9 Da die Arbeit des Karl-Marx-Städter Theaters im Rezensionsteil nur sehr wenig berücksichtigt ist, soll hier das Kompendium wichtiger Erbe-Inszenierungen zumindest genannt sein. Von Oberspielleiter Hartwig Albiro und Regisseur Piet Drescher wurden, unterstützt von Intendant Gerhard Meyer, u. a. folgende Stücke vorgestellt: Sophokles' Antigone (1972), Goldonis Lügenmaul ( 1973), Schillers Räuber (1971), Gorkis Wassa Sbelesnowa (1971), Brechts Der gute Mensch von Se^uan (1970),

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O'Caseys Rote Rosen für mich (1974), Lorcas Bernarda Albas Haus( 1974), Schwarz' Das gewöhnliche Wunder (1973). Von der Struktur des Repertoires her fällt die Gewichtigkeit der alten Stücke auf und — gegenüber den allgemeinen Relationen im Gesamt-Erbe-Repertoire der DDR-Theater — der hohe Anteil klassischer sozialistischer Werke. 10 Zeitenwende, Bd. 2, S. 336-346. 11 Zur Interpretation der Stücke O'Caseys auf den Bühnen der D D R . In: Material, Nr. 30. 12 Die schöpferische Aneignung der Arbeitsmethode Brechts. In: Ebenda, Nr. 26. 13 Die Inszenierungen dieses Stücks in Bautzen, Dresden und Rostock wurden von mir nicht gesehen. Die Berichte zumindest über die beiden zuerst genannten Produktionen sagen aus, daß hier auf andere Weise ähnliche Ergebnisse erzielt wurden wie in Berlin. 14 Manfred Nössig: Etwas über Maßstäbe. In: T d Z 27 (1972) 1, S. 6 - 7 . — Vgl. auch S. 49—52 dieses Bandes. 15 Wolf gang Harich: Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß. In: SuF 25 (1973) 1, S. 189-221. 16 Liane Pfelling: Viermal „Hamlet" und viele Fragen offen. In: T d Z 29 (1974) 4, S. 24. 17 Ebenda. Dispute und Rezensionen 1 Etwas über Maßstäbe war ein Artikel in T d Z 27 (1972) 1, S. 6 - 7 , überschrieben. Ihm lag ein Diskussionsbeitrag der 2. Vorstandssitzung des Verbandes der Theaterschaffenden der DDR vom 20. September 1971 zugrunde, der für den Druck überarbeitet wurde. Bezug genommen ist auf drei Berliner Erbe-Inszenierungen der Spielzeit 1970/71: Dona Rosita bleibt ledig oder Die Sprache der Blumen von Frederico Garcia Lorca (Deutsches Theater, Regie Siegfried Höchst), Im Dickicht der Städte von Bertolt Brecht (Berliner Ensemble, Regie Ruth Berghaus), Die Räuber von Friedrich Schiller (Volksbühne, Regie Manfred Karge/Matthias Langhoff). Der Beitrag löste eine Diskussion aus, die sich auch in Theater der Zeit widerspiegelte. Es erschienen die Zuschriften von Michael Hamburger (Dramaturg am Deutschen Theater Berlin) und Hendrik Arnst (damals Mitglied des Landestheaters Eisenach) unter dem Titel: Meinungen. In: T d Z 27(1972) 4, S. 34; der Aufsatz von Ursula Püschel (damals wissenschaftliche Mitarbeiterin am Staatstheater Dresden) unter der Überschrift: Notwendiger Meinungsstreit. In: T d Z 27 (1972) 5, S. 9—12; sowie die Beiträge von Klaus Pfützner (damals wissenschaftlicher Sekretär des Verbandes der Theaterschaffenden der DDR) und Christoph Funke (Kritiker der Tageszeitung Der Morgen) unter dem Ti-

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tel: Im Streit der Meinungen. In: TdZ 27 (1972) 6, S. 39-40. Dort sind auch die Abschlußbemerkungen des Diskussionsanregers abgedruckt worden. (Der Artikel von Ursula Püschel folgt der Textfassung in: Hans Dieter Mäde und Ursula Püschel über ihre praktischen und theoretischen Theatererfahrungen in Berlin, Karl-Marx-Stadt und Dresden beim Entwickeln und Erproben einer Dramaturgie des Positiven. Berlin 1973, S. 173-183.) Die „Maßstäbe"-Diskussion steht im Zusammenhang mit der Auswertung des XIII. Parteitages der SED 1971. Sie spiegelt die Schwierigkeiten eines neuen Anfangs in der Bewältigung der Realismus-Problematik und der damit verbundenen Notwendigkeit, Prinzipialität und Toleranz in der Kunstdiskussion zu meistern. Die Kritikerpreise der Berliner Zeitung werden seit 1967 jährlich — anläßlich der Berliner Festtage — für besondere Leistungen auf dem Gebiet des Theaters in der jeweils vorangegangenen Spielzeit verliehen. 1971 erhielten auf dem Gebiet des Schauspiels u. a. die Volksbühne den Preis für die beste Ensembleleistung für die Inszenierung von Friedrich Schillers Die Räuber und Horst Sagert den Preis für das beste Bühnenbild für die Ausstattung von Doña Kosita bleibt ledig im Deutschen Theater. - Vgl. BZ.v. 21. 8. 1971. Eine eingehendere Beschreibung der Inszenierung gab Ingeborg Pietzsch in: TdZ 26 (1971) 1, S. 49-50. Manfred Nössig: Leidenschaft wofür? In: TdZ 26 (1971) 6, S. 20-23. — Vgl. auch S. 109—115 dieses Bandes. Eine eingehendere Beschreibung der Inszenierung gab Ingrid Seyfarth in: TdZ 26 (1971) 5, S. 48-49. Bericht des Zentralkomitees an den VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. In: Protokoll des VIII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Bd. 1. Berlin 1971, S. 95. Anmerkung von Michael Hamburger: Die Diskussionsrede ist eine von zweien, die nachträglich in den Mitteilungen des Theaterverbandes 2/71 abgedruckt wurde, in Theater der Zeit Heft 12/71 läßt Nössig über seinen Vortrag referieren, daß er „auf großes Verständnis stieß", in Heft 1/72 druckt er den Beitrag vollständig ab, und in Heft 10/71 hatte er in seiner Spielzeitrückschau die gleichen Ansichten schon einmal vertreten. Das Zitat geht auf die Redefassung des angesprochenen Beitrags zurück. Für den Druck wurde diese Passage neu formuliert. Erich Honecker: Zu aktuellen Fragen bei der Verwirklichung der Beschlüsse unseres VIII. Parteitages. Berlin 1971, S. 44. Manfred Nössig: Etwas über Maßstäbe. In: TdZ 27 (1972) 1, S. 7. Vgl. auch S. 52 dieses Bandes. Erich Honecker: Fragen von Wissenschaft und Politik in der sozialistischen Gesellschaft. In: Erich Honecker: Unter dem Banner des 204

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Internationalismus. Ausgewählte Reden und Aufsätze. Berlin 1972, S. 280. W.I.Lenin: Der Zusammenbruch der II. Internationale. In: Lenin, Bd. 21, S. 211. Dieter Klein: Bürgerliche Zukunftsforschung in der Systemauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kommunismus. In: Forum 24 (1970) 21, S. 12. W. I.Lenin: Parteiorganisation und Parteiliteratur. In: Lenin, Bd. 10, S. 31. Hamlet. Inszeniert von Hans Dieter Mäde an den Städtischen Theatern Karl-Marx-Stadt (1964). - Vgl. dazu die Debatte in: TdZ 19 (1964) 8, S. 17-22; 12, S. 9 - 1 1 ; 13, S. 12-14, 18, S. 8-10 sowie die Darstellung in: Zeitenwende, Bd. 1, S. 332—336. Faust I. Inszeniert von Adolf Dresen und Wolfgang Heinz am Deutschen Theater Berlin (1968). — Vgl. dazu die Debatten auf einem Kolloquium des Verbandes der Theaterschaffenden der DDR, abgedr. in: Schriften des Verbandes der Theaterschaffenden der DDR 1/1969 (Beilage zu TdZ 24 (1969/2) sowie die Darstellung in: Zeitenwende, Bd. 1, S. 343-346. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10. 8. 1964. — Zit. nach: Faust-Gespräche mit Prof. Dr. Gerhard Scholz. Berlin 1967, S. 132. Aus der Arbeit der Akademie. In: Mitteilungen 10 (1972) 1, S. 3. Gemeint ist der Karl-Darsteller in der R¿»¿er-Inszenierung der Staatstheater Dresden (1971, Regie Jens-Peter Dierichs). Aus der Arbeit der Akademie. In: Mitteilungen 10 (1972), S. 5. Frederico Garcia Lorca: Doña Rosita bleibt ledig oder Die Sprache der Blumen. In: Die dramatischen Dichtungen. Wiesbaden 1954, S. 381. Ebenda, S. 366. Ebenda, S. 374. Ebenda, S. 335. Ebenda, S. 379. Gestaltung und Gestalten. Programme der Staatstheater Dresden. Spielzeit 1971/72, H. 1. Frederico Garcia Lorca: Plauderei über Theater. In: Die dramatischen Dichtungen. Wiesbaden 1954, S. 11. — Dieser Essay wurde im Februar 1935 geschrieben, ein halbes Jahr vor Abschluß der Arbeit zu Doña Rosita. Jurij Ljubimow im Dialog der Regisseure und Schauspieler auf dem Brecht-Dialog 1968. In: Brecht-Dialog 1968. Politik auf dem Theater. Berlin 1968, S. 154. Manfred Nössig: Spielzeit der Konsolidierung. In: TdZ 26 (1971) 10, S.6. Die Ha/»/itf-Diskussion in Theater der Zeit fand im Frühjahr/Sommer 205

1974 statt. Sie wurde ausgelöst durch den Artikel Viermal „Hamlet" und viele Fragen offen von Liane Pfelling (Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED) in: TdZ 29 (1974) 4, S. 24—29. Er befaßte sich mit Inszenierungen an den Städtischen Bühnen Leipzig (1971, Regie Karl Kayser —vgl. auch S. 136—142 dieses Bandes), am Deutschen Nationaltheater Weimar (1972, Regie Fritz Bennewitz — vgl. auch S. 142—144 dieses Bandes) in einer für die Aufführungen im Jenaer Haus überarbeiteten Fassung, an den Städtischen Bühnen Magdeburg (1973, Regie Werner Freese) und am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin (1973, Regie Gert Jurgons). An der Diskussion beteiligten sich: Martin Linzer (Redakteur der Zeitschrift Tbeater der Zeit) in : TdZ 29 (1974) 4, S. 29 ; Gert Jurgons (damals Oberspielleiter am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin) in: TdZ 29 (1974) 7, S. 2 9 - 3 0 unter der Überschrift Achtung, Mitleid und Kritik; Gisela Begrich und Werner Freese (damals Dramaturgin bzw. Regisseur an den Städtischen Bühnen Magdeburg) in: TdZ 29 (1974) 7, S. 30—31 unter dem Titel Humanismus für beute; Anselm Schlösser (Anglist an der Humbold-Universität Berlin) in : TdZ 29 (1974) 7, S. 3 1 32 unter der Überschrift Hamlet: Süßer Prin:j oder ausgemachter Schurke; sowie — ein Resümee der Debatte ziehend — Manfred Nössig in: TdZ 29 (1974) 7, S. 28 unter dem Titel Hamlet - 2. Akt. Der Beitrag von Michael Hamburger wurde für diese Debatte konzipiert, aber nicht an die Redaktion weitergeleitet ; er erscheint hier erstmalig im Druck. Das Thema wird noch einmal aufgegriffen von Armin-Gerd Kuckhoff: Shakespeare auf den Bühnen der D D R im Jahre 1973. In: Jahrbuch, 111/1975, S. 170-174. 31 Horst Schönemann: Rede auf dem iTi-Kongreß in Reykjavik 1972. Unveröffentlichtes Manuskript beim iTi-Zentrum DDR, Berlin. 32 Peter Hacks : Hamlet ohne Geheimnis. In : Kürbiskern 5 (1969) 4, S. 740. 33 Gottfried Fischborn: Gedanken zur Situation unserer Dramatik. Thesen. In: Deutscher Schriftstellerverband. Mitteilungen. Sonderheft 3 (Berlin 1973), S. 2. (Ders. : Thesen zur Situation. In: TdZ 28 (1973) 11, S. 14). 34 Wolfgang Heise: Bemerkungen zum Erbe. In: Material, Nr. 36, S. 18. 35 Bertold Brecht: Aperçu über Kritik. In: Schriften zum Theater. Bd. 2. Berlin-Weimar 1964, S. 252. 36 Adolf Dresen: Zur „Erberezeption". In: WB 20 (1974) 1, S. 118. 37 Ludwig Börne: „Hamlet" von Shakespeare. In: Börnes Werke in zwei Bänden. Bd. 1. Weimar 1959, S. 207. 38 Vgl. Brief Friedrich Engels' an Wilhelm Gräber v. 24. Mai 1839. In: MEW, Ergänzungsbd. II, S. 395. 39 Ludwig Börne: „Hamlet" von Shakespeare. In: Börnes Werke in zwei Bänden. Bd. 1. Weimar 1959, S. 214.

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40 Dieter Schiller: Die Klassiker des Marxismus-Leninismus über Probleme der Tradition und des kulturellen Erbes. In: WB 20 (1974) 1, S. 38. 41 Die Autoren des Beitrags beziehen sich hier auf die Inszenierung von Shakespeares Sommernacbtstraum an den Bühnen der Stadt Magdeburg (1971, Regie Werner Freese). — Eine Beschreibung und Rezension, die auch die Sommernacbtstraum-Vioduktion des Landestheaters Halle (1971, Regie Christoph Schroth) einbezieht, gibt Armin-Gerd Kuckhoff: Sommernachtstraum oder -Wirklichkeit? In : TdZ 27 (1972) 4, S. 10-14. 42 Ebenda, S. 10. 43 Patrick Crutwell: The Morality of „Hamlet" — „Sweet Prince" or „Arrant Knave"? In: Stratford-upon-Avön Studies 5. Ed. R. J. Brown and B. Harris. London 1963. 44 Johannes R. Bêcher: Poetische Konfession. In: Johannes R.Becher: Gesammelte Werke. Bd. 13. Berlin-Weimar 1972, S. 529. 45 Zur Theorie des sozialistischen Realismus. Hg. v. Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Berlin 1974. 46 Johannes R.Becher: Das poetische Prinzip. In: Johannes R.Becher: Gesammelte Werke. Bd. 14. Berlin-Weimar 1972, S. 496. 47 Peter Hacks: Hamlet ohne Geheimnis. In: Kürbiskern 5 (1969) 4, S. 741. 48 Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. In: MEW, Bd. 3, S. 26. 49 Erschienen in : TdZ 26 (1971) 1, S. 16-22 (unter dem Titel : Impulse für die Klassit-Rezeption). 50 Wolfgang Heinz: Zur Faust-Inszenierung. In: Die Entwicklung des geistig-kulturellen Lebens im gesellschaftlichen System des Sozialismus, S. 115 ( = Schriftenreihe des Staatsrates 7/1968). 51 Erschienen in: TdZ 26 (Î971), 6, S. 20-23 (unter dem Titel: Leidenschaft wofür?). 52 Der II. Kongreß des Verbandes der Theaterschaffenden der DDR fand vom 28. Februar bis 2. März 1971, die Premiere von Schillers Die Räuber an der Berliner Volksbühne am 10. Februar 1971 statt. 53 Ernst Schumacher: „Die Räuber" — ein Ereignis. In: BZ v. 9. 3. 1971 — Günther Bellmann : Loderndes Feuer der Rebellion. In s BZ am Abend v. 16. 2. 1971 — Helmut Ullrich: Des Stückes Helden: Räuber. In: Neue Zeit v. 14. 2.1971 — Wolfgang Gersch: Räuber aber sind die Helden. In: Tribüne v. 16. 2.1971 - C. U. Wiesner: Die Theater-Eule. In: Eulenspiegel 18 [26] (1971) 12, S. 6 - Erika Stephan in: Sonntag 25 (1971) 10, S. 10 - Günther Cwoydrak: Karl Marx und Karl Moor. In: Die Weltbühne 66 (1971) 9, S. 280-282 - Rainer Kerndl: Die Räuber und die Brüder Moor. In: ND v. 26. 2.1971 - Rolf-Dieter Eichler: Karl Moor — und seine Gefährten. In : Nationalzeitung v. 20. 2. 1971 —

207

Christoph Funke: Krudes Rührstück und idealischer Aufstand. In: Der Morgen v. 19. 2. 1971 — Werner Pfelling: Bühnenwirksam aber vieldeutig. In: Junge Welt v. 9. 3. 1971. 54 Manfred Karge und Matthias Langhoff inszenierten 1969 Aischylos' Sieben gegen Theben am Berliner Ensemble und Ostrowskis Wald an der Volksbühne Berlin. 55 Ivan Nagel: Verwirrte Jugend in Ostberlin. In: Süddeutsche Zeitung, München v. 12. 2. 1971. 56 Erschienen in: TdZ 27 (1972) 5, S. 3 3 - 3 4 (unter dem Titel: Über „Urfaust" und anderes). 57 Ilse Galfert: Bildnis einer unbequemen Dame. In: TdZ 26 (1971) 11, S. 23—26. — Dieser Artikel behandelt Arbeits- und Beschäftigungsprobleme der Berliner Schauspielerin Inge Keller und konstatiert u. a., daß diese Darstellerin reifer Frauenrollen vom Theater und von den Regisseuren kaum eingesetzt wird. 58 Bertolt Brecht: Ist die Aufführung des Fragments gerechtfertigt? In: Schriften zum Theater, Band VI. Berlin-Weimar 1964, S. 348. 59 Ebenda, S. 349. 60 Erschienen in: TdZ 29 (1974) 4, S. 2 1 - 2 4 (unter dem Titel: Wallenstein und das Lager). 61 1965 liefen die letzten WaUenstein-Auiiühiuagen in Weimar und Berlin (Inszenierung des Deutschen Theaters von 1959). 62 Erschienen in: TdZ 29 (1974) 6, S. 2 - 6 (unter dem Titel: Durch diese hohle Gasse . . .). 63 Vgl. S. 144-147 in diesem Band. 64 Die Räafer-Inszenierung von Horst Schönemann am Landestheater Halle hatte 1968 Premiere. — Vgl. Erika Stephan: Schillers produktive Orientierung. „Die Räuber" in Halle und Gera. In: TdZ 23 (1968) 23, S. 4 - 8 . 65 Erschienen in: TdZ 27 (1972) 4, S. 6 - 9 (unter dem Titel: Oh, schmölze doch dies allzufeste Fleisch). 66 Eine nähere Beschreibung der Karl-Marx-Städter Rä»icr-Inszenierung (1971, Regie Hartwig Albiro) gibt Rolf Rohmer: Perspektiven einer Revolte. In: TdZ 27 (1972) 2, S. 15-18. 67 Zur HtfWe/-Inszenierung des Deutschen Theaters Berlin von 1964 vgl. auch: Hamlet heute und hier. Ein Gespräch über fünf Inszenierungen. In: TdZ 19 (1964) 17, S. 4 - 7 . 68 Erschienen in - TdZ 27 (1972) 12, S. 63. - Vgl. auch die Meinung von Liane Pfelling zur Neufassung dieser Inszenierung S. 76—77 dieses Bandes. 69 Gemeint sind vor allem Fritz Bennewitz' Inszenierungen von Shakespeares Der Sturm (1966), Wie es Euch gefällt (1969) und Richard II. (1971) sowie Jonsons Bartholomäusmarkt (1972).

208

70 Erschienen in: T d Z 29 (1974) 4, S. 51-52. 71 Erschienen in: T d Z 29 (1974) 10, S. 48. 72 In den Spielzeiten 1973/74 und 1974/75 wurde eine grundlegende Rekonstruktion des Deutschen Nationaltheaters Weimar durchgeführt. Das Schauspielensemble spielte während dieser Zeit in dem ehemaligen Kino Stadt Weimar. 75 Armin-Gerd Kuckhoff: Das Drama William Shakespeares. I n : Schriften zur Theaterwissenschaft. Sfchriftenreihe der Theaterhochschule Leipzig. Bd. 3/1. Berlin 1964, S. 337. 74 Erschienen in: T d Z 28 (1973) 1, S. 5 4 - 5 6 . 75 Erschienen in: T d Z 29 (1974) 2, S. 2 2 - 2 5 (unter dem Titel: Ein IbsenExperiment). 76 Zitiert nach dem Programmheft der Volksbühneninszenierung. 77 Erschienen in: T d Z 29 (1974) 6, S. 1 4 - 1 6 (unter dem Titel: Erik und die Volksfront). 78 Rainer Kerndl: Seine Kinder; uraufgeführt 1963 am Berliner Maxim Gorki Theater (Regie Horst Schönemann; Bühnenbild Dieter Berge). 79 Dieser Hinweis bezieht sich auf die Inszenierung von Michail Schatrows Campanella und der Kommandeur (1973, Regie Hans Dieter Mäde) am Maxim Gorki Thiater Berlin. 80 Erschienen in: T d Z 27 (1972) 4, S. 4 8 - 4 9 . 81 Erschienen in: T d Z 28 (1973) 1, S. 12-15 (unter dem Titel: Ein GorkiVersuch, der Fragen stellt). 82 Zur Inszenierung von Tschechows Onkel Wanja am Deutschen Theater (1972, Regie Wolf gang Heinz) siehe die Beschreibung von Ingeborg Pietzsch: . . . als ob man mich mit einer Säge zerteilte . . . I n : T d Z 27 (1972) 9, S. 16-17. 83 Vgl. dazu die Beschreibung von Ingrid Seyfarth: Menschen in gesellschaftlichen Prozessen. In: T d Z 26 (1971) 8, S. 14-16. 84 Rainer Kerndl: Alles geht vom Menschen aus. In: N D v. 12. 10. 1972. 85 Ernst Schumacher: „Barbaren". In: BZ v. 12. 10. 1972. 86 Erschienen in: T d Z 26 (1971) 8, S. 1 8 - 2 0 u. 3 8 - 3 9 (unter dem Titel: Über den Umgang mit Brecht-Stücken). 87 Die Inszenierung von Brechts Die Tage der Commune am Berliner E n semble (Regie Manfred Wekwerth/Joachim Tenschert) erfolgte 1962. 88 Thomas Wieck: Gestalt und Wirkung. Brechts Shen Te in Berlin und Karl-Marx-Stadt. In: T d Z 26 (1971) 8, S. 2 1 - 2 2 u. 52. 89 Die folgenden Bemerkungen versuchen, die unterschiedliche Qualität der Karl-Marx-Städter Inszenierung gegenüber der Einstudierung des Guten Menseben von Schaan an der Berliner Volksbühne zu beschreiben. — Vgl. dazu auch die Rezension zu Bessons Neuinszenierung des Stücks (1971) S. 182-184 dieses Bandes. 90 Erschienen in: T d Z 26 (1971) 12, S. 45. 14

Nüssig

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91 Ingrid Seyfarth: Die Produktivität der Shen Te. In: TdZ 25 (1970) 7, S. 37-41. 92 Vgl. S. 180-181 dieses Bandes. 93 Erschienen in: TdZ 28 (1973)2, S. 33-34 (unter dem Titel: Kein Grund zur Zufriedenheit). 94 Erschienen in: TdZ 28(1973) 5, S. 4-6 (unter dem Titel: Die Beobachtungen des Bauern Sen). 95 Erschienen in: TdZ 30 (1975) 1, S. 18-20. 96 Ruth Berghaus: Wir sind nicht denkbar ohne die DDR. In: N D v. 10. 9. 1974. 97 Ebenda. 98 Ebenda. 99 Ebenda. 100 Bertolt Brecht: Anmerkungen zur „Mutter". Kritik der New Yorker Aufführung. In: Bertolt Brecht. Stücke. Bd. II. Berlin 1957, S. 151 bis 152.

Werke des Erbes im Repertoire

Eine Statistik (MANFRED NÖSSIG) Die nachstehenden Tabellen folgen mit ihrer Einteilung und Zuordnung, wie in der Einleitung vermerkt, vorwiegend theaterpraktischen Gesichtspunkten. Sie wurden zusammengestellt auf Grund der von der Akademie der Künste der DDR — Bereich Information und Dokumentation — gesammelten und publizierten Spielzeit-Statistiken 1 . Für die Saison 1973/74 stellten mir die Akademie der Künste und einige Theater entsprechende Daten vorab für die Auswertung zur Verfügung. In diesem Fall sind geringfügige Abweichungen von späteren Berechnungen einzukalkulieren. Die erste Ziffer in den Rubriken verweist jeweils auf die Anzahl der Neuinszenierungen, die zweite auf die Anzahl der aus voraufgegangenen Spielzeiten übernommenen Einstudierungen, die dritte Ziffer nennt die Zahl der Aufführungen (1 + 2/87 bedeutet: eine Neuinszenierung und zwei Übernahmen mit zusammen 87 Aufführungen). Die Angabe der Titel folgt generell der benutzten Quelle; sie läßt verschiedene Übersetzungen, Fassungen usw. unberücksichtigt. In zwei Fällen, in denen die jeweilige Spielfassung nicht immer exakt zu ermitteln war, wurden auch Bearbeitungen — von Molieres Don Juan durch Bertolt Brecht und von Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung durch Alfred Matusche — nicht gesondert aufgeführt, sondern mit den Inszenierungen des Originalwerks zusammengefaßt. Für vielfältige Hilfe und Unterstützung gilt Dank vor allem Frau Hanna Türcke, der für diese Statistiken zuständigen Mitarbeiterin der Akademie der Künste der DDR. 1 Dramatiker und Komponisten auf den Bühnen der Deutschen Demokratischen Republik. Spielzeit 1969/70 (bzw. 1970/71, bzw. 1971/72). (Hg. v.) Deutsche Akademie der Künste zu Berlin (bzw. Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik). (Berlin) 1970—1972. — Spielzeit 1972/73 nach dem Manuskript.

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