Das unerwünschte Erbe: Die Rezeption "entarteter" Kunst in Kunstkritik, Ausstellungen und Museen der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR 9783050062174, 9783050044507

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945 und der Distanzierung vom nationalsozialistischen Regime und seiner (K

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German Pages 490 [492] Year 2008

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Das unerwünschte Erbe: Die Rezeption "entarteter" Kunst in Kunstkritik, Ausstellungen und Museen der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR
 9783050062174, 9783050044507

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DAS U N E R W Ü N S C H T E E R B E D I E R E Z E P T I O N » E N T A R T E T E R « K U N S T IN K U N S T K R I T I K , AUSSTELLUNGEN UND MUSEEN DER SBZ UND FRÜHEN

DDR

SCHRIFTEN DER F O R S C H U N G S S T E L L E » E N T A R T E T E K U N S T « BAND II EINE

INITIATIVE

DER

FERDINAND-MÖLLER-STIFTUNG.

BERLIN

DAS UNERWÜNSCHTE E R B E D I E R E Z E P T I O N » E N T A R T E T E R « K U N S T IN K U N S T K R I T I K , AUSSTELLUNGEN UND MUSEEN DER SBZ UND FRÜHEN MAIKE

Akademie Verlag

STEINKAMP

DDR

INHALT

DANK

Einleitung Forschungsstand und Quellen

Zeitgenössische Kunst in öffentlichen Sammlungen vor dem Zweiten Weltkrieg Der Siegeszug des Expressionismus Museen moderner Kunst in der Weimarer Republik Die Nationalgalerie: Eine »vaterländische Galerie von Werken neuerer Künstler« Ludwig Justi und die neue Abteilung im Kronprinzenpalais Die Kulturpolitik des Nationalsozialismus und ihre Folgen Expressionismus - Ausdruck einer nationalen deutschen Kunst? »Die Säuberung des Kunsttempels«: Die Aktion »Entartete Kunst« Die Nationalgalerie im »Dritten Reich« Das Kronprinzenpalais und der »nordische« Expressionismus

VI . I n h a l t

Die Aktion »Entartete Kunst« an der Nationalgalerie

77

Fazit

81

Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der Moderne

85

»Entartete Kunst - eine Hitlerlüge«

89

»Befreite Kunst«: Erste Ausstellungen

96

Die »Allgemeine Deutsche Kunstausstellung« in Dresden 1 9 4 6

105

Die Renaissance des Expressionismus in den Museen der SBZ

115

Kultureller Neubeginn in Berlin und an der Nationalgalerie

128

Neuanfang an den (ehemals) Staatlichen Museen

134

»Entartete« Kunst aus dem (ehemaligen) Besitz der Nationalgalerie

140

Ludwig Justis Pläne für den Aufbau der Berliner Museen

149

»Wiedersehen mit Museumsgut«: Erste Ausstellungen

152

Ein neues Kronprinzenpalais: Der Aufbau einer Galerie des zo. Jahrhunderts

162

Fazit

171

Eine neue Kulturpolitik: Der Beginn der Formalismus-Debatte 1948/1949

175

»Die Tragödie des Expressionismus«

178

Die Expressionismusdebatte in der Sowjetunion 1 9 3 7 / 1 9 3 8

179

Die Neuauflage der Expressionismusdebatte in der SBZ

182

Museen und Ausstellungen als Mittel der Volksbildung

191

Die Museen im Zweijahresplan

199

Der »Hallenser Museumsstreit«

209

Der Böhmer-Nachlass und das Kulturhistorische Museum in Rostock

225

Die Teilung Berlins und ihre Auswirkungen auf die Nationalgalerie

230

Die Spaltung der Berliner Museen

233

Weiterführung der Pläne einer Galerie des 20. Jahrhunderts in Ostberlin

234

Die Wiedereröffnung der Nationalgalerie auf der Museumsinsel

246

Fazit

252

Kulturelle Entwicklungen nach der Gründung der DDR

255

»Formalismus - Feind der Kunst!«

257

Museen und Ausstellungen, »Bildungsstätten ersten Ranges«

264

»Kunst als Spiegel der Gesellschaft«: Die Auswirkungen auf die Museen

275

Die Formalismus-Debatte und ihre Auswirkungen auf die Berliner Kunstszene

290

Inhalt _ VII

Dem Staat verpflichtet: Die Staatlichen Museen nach der Gründung der D D R

295

Das Ende der Galerie des zo. Jahrhunderts

296

»Schule des Sehens«: Die Neueinrichtung der Nationalgalerie 1 9 5 0

301

Ein Raum für die moderne Kunst

307

Fazit

316

Die Integration des Expressionismus in die Kunstgeschichtsschreibung und Museen der DDR nach 1953

319

Die Konstruktion einer »sozialistischen Kunstgeschichte«

333

ANMERKUNGEN

343

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

411

ABBILDUNGSNACHWEIS

461

REGISTER

463

Dank

Die vorliegende Arbeit wurde im Februar 2007 in der Abteilung für Kunstgeschichte des Instituts für Kunstgeschichte und Archäologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Z u ihrer Entstehung haben eine Vielzahl von Menschen beigetragen, ohne deren tatkräftige Unterstützung, Diskussionsbereitschaft und reges Interesse an der von mir behandelten Thematik das Buch nicht in dieser Form hätte geschrieben werden können. Mein erster und ganz besonderer Dank gilt Barbara Schellewald, die mich während meiner gesamten Studiendauer und während meiner Promotion unterstützt und mich in meinen Vorhaben bestärkt hat. Nicht nur für ihren fachlichen Rat und die konstruktiven Gespräche sei ihr von ganzem Herzen gedankt, sondern vor allem auch für ihr stetiges Engagement und persönliches Interesse. Ohne ihren Zuspruch und ihr Vertrauen wäre die Arbeit sicher eine andere geworden. Des Weiteren gilt mein Dank Uwe Fleckner, der sich ohne Zögern auf mein Projekt eingelassen hat, es mit Rat und Tat begleitet und uneingeschränkt unterstützt hat. Die wissenschaftliche Einbindung am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg und an der von ihm geleiteten »Forschungsstelle Entartete Kunst«, die 2003 in Berlin gegründet wurde und seit 2004 sowohl am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin als auch am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg verortet ist, hat

Χ _ Dark

meinen Blick für die Kunstpolitik des Nationalsozialismus ebenso wie für die Rezeption der während des Nationalsozialismus als »entartet« diffamierten Kunst weiter geschärft und meine Kenntnisse vertief. Für die interessanten Gespräche zu dieser Thematik und die zahlreichen Hinweise danke ich Andreas Hüneke und Christoph Zuschlag, die durch ihre umfassenden Kenntnisse der NS-Kunstpolitik und der Aktion »Entartete Kunst« einige Unklarheiten aus dem Weg räumen konnten. Auch wenn im Mittelpunkt der Forschungsstelle »Entartete Kunst« die Untersuchung der Methoden der nationalsozialistischen Kunstpolitik steht, sind die Aufarbeitung der Vorgeschichte ebenso wie die Auswirkungen der Diffamierung und Beschlagnahmung moderner Kunst während des NS-Regimes nach 1 9 4 5 ein weiteres zentrales Anliegen der Forschungsstelle. Die Einsicht, dass eine solche zeit- und systemübergreifende Aufarbeitung notwendig ist, hat meine Herangehensweise und die Struktur der Publikation maßgeblich bestimmt. Ich freue mich sehr, dass mir von Seiten der Forschungsstelle »Entartete Kunst« die Möglichkeit gegeben wurde, meine Arbeit in ihrer Schriftenreihe zu veröffentlichen. Sie bietet ein ideales Forum, die im Rahmen meiner Dissertation vorgenommenen Recherchen und die daraus resultierenden Erkenntnisse einem breiteren Publikum vorzustellen. Vor allem Wolfgang Wittrock, als Vorstand der Ferdinand-Möller-Stiftung und engagiertem Förderer der Forschungsstelle »Entartete Kunst«, sowie Walter Feilchenfeldt, Trustee der International Music and Art Foundation, Vaduz, sei für die ideelle und

finanzielle

Unterstützung der Einrichtung als solcher, wie auch für die Förderung der Schriftenreihe gedankt. Meine Recherchen zur Rezeption »entarteter« Kunst in Kunstkritik, Museen und Ausstellungen nach 1 9 4 5 in der sowjetischen Besatzungszone und frühen D D R haben mich in zahlreiche Archive und Museen geführt. Die stets konstruktive und zuvorkommende Hilfe der dortigen Mitarbeiter w a r für meine Arbeit unerlässlich. Meinen ersten und ganz besonderen Dank möchte ich dabei an Jörn Grabowski und Petra Winter vom Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin richten, die mich während meiner zahlreichen Besuche auf der Museumsinsel betreut und mit wertvollen Tipps versorgt haben. Vor allem Petra Winter möchte ich für die anregenden Gespräche zur Lage der Berliner Museen nach 1 9 4 5 und ihre Hinweise auf interessante Quellen danken, die sich in den Tiefen des Zentralarchivs versteckten. Auch bei den anderen von mir in den Blick genommenen Museen erregte mein Thema Interesse und große Unterstützung. Für Gespräche, Anregungen und Einsicht in die Akten und Inventarbücher der Museen möchte ich mich bei Bernhard M a a z von der Alten Nationalgalerie in Berlin, Gilbert Lupfer und Norman Köhler von den Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden, Cornelia N o w a k vom Angermuseum in Erfurt, Katja Schneider von der Stiftung Moritzburg in Halle, Thomas Föhl von den Kunstsammlungen Weimar ebenso wie bei den Mitarbeitern der Kunstsamm-

Dank . XI

lungen in Chemnitz und dem Kulturhistorischen Museum der Stadt Rostock bedanken. Darüber hinaus gilt mein Dank Margret Mütsch, der Tochter von Gerhard Händler, die mir Zugang zu dessen privatem Nachlass gewährte, sowie der Berlinischen Galerie, welche die Akten des Kunsthändlers Ferdinand Möller und die Handakten von Adolf Jannasch verwahrt. Neben den Museen waren es vor allem die staatlichen und städtischen Archive die mir einen Einblick in die Kulturpolitik der Nachkriegszeit ermöglichten. Den Mitarbeitern im Bundesarchiv und im Landesarchiv Berlin ebenso wie in den Stadtarchiven in Erfurt, Rostock und Chemnitz, dem Geheimen Staatsarchiv Stiftung Preußischer Kulturbesitz und dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sei herzlich für ihre Unterstützung bei meinen Recherchen gedankt. Eine hilfreiche Einrichtung w a r darüber hinaus das DDR-Archiv am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg, das eine Vielzahl der von mir benötigten Publikationen und weitere Dokumentationen über das Ausstellungswesen und Künstler in der D D R verwahrt. Für Gespräche über das Wirken von Ludwig Justi an der Nationalgalerie in Ostberlin und sein Engagement für die moderne Kunst nach 1 9 4 5 danke ich VeraMaria Ruthenberg, Helga Weißgärber und Hermann Grohn, die als Zeitzeugen von ihren Erfahrungen zu berichten wussten. Ebenso gilt mein Dank Werner Heiland, Roland März und Paul Kaiser für ihre Gesprächsbereitschaft sowie den Mitgliedern der Richard-Schöne-Gesellschaft für Museumsgeschichte, insbesondere Kurt Winkler, für die anregenden Diskussionen zum Museumswesen der Weimarer Republik und zur Person Ludwig Justis. Dieter Vorsteher vom Deutschen Historischen Museum danke ich für sein Interesse an meinem Dissertationsprojekt und die zur Verfügung gestellten Freiräume während meines Volontariats. Dem Bildarchiv des Deutschen Historischen Museums, dem Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin und der Stiftung Moritzburg danke ich für die kostenlose Überlassung von Abbildungsmaterial für die Publikation und Michael Neumann für das zur Verfügung gestellte Quellenmaterial zum Bildhauer und Kunsthistoriker Kurt Reutti. Mein ganz besonderer Dank gilt meinen Freunden und Kollegen, die das M a nuskript des Textes ganz oder in Teilen Korrektur gelesen haben und auch sonst immer offen für Gespräche über inhaltliche oder strukturelle Aspekte der Arbeit waren. Der wohl größte Dank gebührt meinem Kollegen Matthias Krüger für seine sehr gründliche und kritische Lektüre, die konstruktiven Vorschläge und die nicht nur in diesem Fall anregenden Gespräche. Ähnliches gilt für Katja Fuchs ebenso wie für Anke Daemgen und Susen Krüger Saß, die mit ihren Korrekturen und Kommentaren dem Text an vielen Stellen einen letzten Schliff gaben. Felicitas Hentschke und M a j a Peers haben aus Sicht der Historikerinnen die Publikation einer kritischen Prüfung unterzogen und mir geholfen, meinen Blick für die historischen Begebenheiten und Begrifflichkeiten zu schärfen. Auch Silke Feldhoff sei gedankt.

XII _ D a n k

Für die hervorragende Betreuung, Redaktion und professionelle Abwicklung der Drucklegung möchte ich Sabine Cofalla und Katja Richter vom Berliner Akademie Verlag sowie Hellmudt Schulz von der Firma Werksatz danken. Die Gestaltung des vorliegenden Bandes übernahm Gitti Krogel, auch ihr sei herzlich gedankt. Der Wissenschaftsfonds der V G W O R T finanzierte den Druck der Dissertation großzügig. Für das Vertrauen in die Qualität des Buches sei dem Förderungsausschuss ausdrücklich gedankt. Für die immerwährende Unterstützung und Befürwortung meiner Studienwahl und ihr Vertrauen in mich und meine kunstgeschichtliche Leidenschaft möchte ich von ganzem Herzen meinen Eltern danken. Sie haben mich während meines gesamten Studiums und auch in den darauf folgenden Jahren immer in meiner Wahl bestärkt und unterstützt. Ebenfalls von ganzem Herzen möchte ich mich bei André van Linn für die zahlreichen Diskussionen, Problembewältigungen und konstruktiven Kommentare bedanken, ebenso wie für die unermüdliche Unterstützung während der gesamten Dauer meiner Dissertation. Ohne ihn wäre die Arbeit - nicht zuletzt durch die Sorge um mein leibliches Wohl - nicht zu bewerkstelligen gewesen. Berlin, Januar 2008

Maike Steinkamp

Einleitung

»[...] denn auch die Geschichte der öffentlichen Kunstsammlungen ist Geistesgeschichte und spiegelt Entwicklung und Wandel der Kunst, spiegelt die Frage nach Kunst und Staat, Kunst und Künstler, Kunst und Leben, Kunst und Gesellschaft.« (Paul Ortwin Rave, 1949)

Im Dezember 1 9 4 6 eröffnete Ludwig Justi, der Generaldirektor der (ehemals) Staatlichen Museen zu Berlin, im halbzerstörten Stadtschloss Unter den Linden die Ausstellung WIEDERSEHEN MIT MUSEUMSGUT. 1 Bei der Schau handelte es sich um die erste Präsentation der Berliner Sammlungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Gezeigt wurde nur wenig. Ein Großteil der Bestände w a r noch immer in Depots ausgelagert, befand sich unter der Kontrolle der Alliierten oder w a r in den Kriegswirren verschwunden. Das Auffälligste w a r jedoch, dass nahezu der komplette Bestand der modernen Kunst fehlte, der während der Weimarer Republik die neue Abteilung der Nationalgalerie im Kronprinzenpalais ausgezeichnet und sie zu einer der renommiertesten Sammlungen für Gegenwartskunst gemacht hatte. Die Kollektion, die vor allem Künstler des Expressionismus und andere avantgardistische Strömungen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts umfasst hatte, w a r 1 9 3 7 durch die nationalsozialistische Aktion »Entartete Kunst«

2-Einleitung

bis auf wenige Ausnahmen beschlagnahmt und danach verkauft oder zerstört worden. Die Verurteilung der modernen Kunst als »entartet« hatte bereits mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1 9 3 3 begonnen und sich bis 1 9 3 7 weiter gesteigert. Die davon betroffenen Künstler wurden mit Malverboten belegt und aus dem öffentlichen Kunstleben ausgeschlossen. Ferner gerieten Kritiker und Museumsbeamte, die sich für die Integration und Akzeptanz der modernen Kunst einsetzten, in Schwierigkeiten und wurden ihrer Anstellungen enthoben. Z u ihnen gehörte auch Ludwig Justi, der sich seit 1 9 1 0 für die Geschicke der Berliner Nationalgalerie und deren Öffnung zur Moderne verantwortlich gezeigt hatte. Fast zwölf Jahre lang blieb die moderne Kunst nicht nur in Berlin einem breiten Publikum verborgen. Erst mit dem Ende des Krieges im M a i 1 9 4 5 und der damit einhergehenden Distanzierung vom nationalsozialistischen Regime und seiner (Kunst-)Politik erfuhr die verfemte Kunst - insbesondere der Expressionismus eine Rehabilitierung. Dies w a r in allen Gegenden des nunmehr in vier Besatzungszonen aufgeteilten Deutschlands der Fall. In der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) stellten schon im Frühsommer 1 9 4 5 die vormals »entarteten« Künstler in kleinen Präsentationen aus, die meist auf private oder städtische Initiativen zurückgingen. In diesen ersten Ausstellungsprojekten und in der Kunstkritik erfuhren die ehemaligen Mitglieder der expressionistischen Künstlervereinigung BRÜCKE, die Künstler u m den BLAUEN REITER und M a l e r

wie Karl Hofer, Hans Grundig oder Heinrich Ehmsen, die sich in den zwanziger Jahren einer expressiven Formensprache bedient hatten, eine herausragende Würdigung. Aber auch die jüngere Künstlergeneration w a r vertreten. Zugleich banden die Sowjetische Militäradministration Deutschlands (SMAD), die in der Förderung der Kultur ein wirksames Mittel der Umerziehung sah, und die sich neu formierenden deutschen Behörden, zuvor diffamierte Künstler aktiv in den kulturellen Wiederaufbau des Landes ein. Das Anknüpfen an die kulturellen und künstlerischen Errungenschaften der Weimarer Republik, das sich in der genannten Integration der vormals »entarteten« Kunst in das öffentliche Leben äußerte, machte sich auch an den Museen bemerkbar. Ein Faktor w a r dabei sicher, dass einige der Direktoren, die 1 9 3 3 aus ihren Ämtern entlassen worden waren, mittlerweile wieder an ihren alten oder an neuen Wirkungsstätten tätig waren. Ihr Bemühen zielte oftmals darauf, mit den verbliebenen Museumsbeständen moderner Kunst, ersten kleinen Ankäufen und Ausstellungen den Anschluss an die Gegenwart wiederherzustellen, zumindest soweit es unter den gegebenen Umständen möglich war. In diesem Kontext ist auch die eingangs erwähnte Schau WIEDERSEHEN MIT MUSEUMSGUT einzuordnen. M i t ihr versuchte Ludwig Justi, der 1 9 4 6 - als politisch unbelastet eingestuft - die General-

Einleitung _ 3

direktion der (ehemals) Staatlichen Museen zu Berlin übernahm, die vorhandenen Bestände möglichst schnell der Öffentlichkeit wieder zugänglich zu machen. Dabei behielt er auch die moderne Kunst weiter im Auge. Über die Präsentation der Berliner Sammlungen hinaus, verfolgte Justi seit 1 9 4 6 zusammen mit dem Kunsthistoriker Adolf Jannasch den Plan einer Galerie des zo. Jahrhunderts nach dem Vorbild der zerstörten Sammlung im Kronprinzenpalais. Doch sein Engagement wurde auf eine harte Probe gestellt. Mit den zunehmenden Spannungen zwischen den Siegermächten 1 9 4 7 / 1 9 4 8 hatte sich sowohl in den westlichen Zonen als auch in der sowjetischen Besatzungszone das Verhältnis zur Kulturpolitik und den damit verfolgten Zielen verändert. Strebten die Verantwortlichen in der amerikanischen, englischen und französischen Zone und später in der Bundesrepublik eine engere Anbindung an die westliche Moderne und deren autonomes Kunstverständnis an, propagierten S M A D und SED in der sowjetischen Besatzungszone und später in der D D R immer deutlicher eine »wirklichkeitsnahe« und »volksverbundene« Kunst nach dem Vorbild des in der Sowjetunion praktizierten Sozialistischen Realismus. Die zeitgenössischen Künstler, die sich nach dem Krieg einer expressionistischen oder abstrakten Formensprache bedienten, wurden im Zuge dieser Veränderungen in der S B Z mit wachsendem Nachdruck als »formalistisch« abgelehnt. Doch nicht nur das aktuelle Kunstschaffen geriet in die Kritik. Auch die in den ersten beiden Nachkriegsjahren als Vorbild und Anknüpfungspunkt geehrten Künstler der Vorkriegszeit fielen immer häufiger unter das Verdikt des Formalismus. Ihr »künstlerisches Erbe« wurde zugunsten einer neu zu schaffenden Kunst im Sozialismus verworfen. 2 Dass in diesem Prozess wiederum der Expressionismus abgelehnt wurde, kann zum einen auf dessen relativ breite Akzeptanz während der Weimarer Republik zurückgeführt werden, zum anderen auf seine ambivalente Rezeptionsgeschichte, die jeweils eng mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Klima der Zeit zusammenhing. Seit seinem Entstehen am Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Expressionismus immer mehr oder weniger politisch rezipiert. Dies änderte sich auch nicht mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1 9 3 3 und deren Verfemung aller modernen Stilrichtungen als »entartet«. Ein Politikum blieb der Expressionismus auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in allen Zonen des geteilten Deutschlands, zunächst durch seine politisch motivierte Rehabilitierung, dann durch seine Ablehnung (SBZ/DDR) beziehungsweise Inanspruchnahme (Westzonen/Bundesrepublik) als kulturelles Erbe. Die sich verschärfende doktrinäre Kulturpolitik in der S B Z / D D R und die damit in Zusammenhang stehende Verurteilung des Expressionismus in der sogenannten Formalismus-Debatte, die 1 9 4 8 / 1 9 4 9 ihren ersten und 1 9 5 1 / 1 9 5 2 einen zweiten Höhepunkt erfuhr, machte sich spätestens ab 1 9 4 8 / 1 9 4 9 auch im Mu-

4 _ Einleitung

seums- und Ausstellungswesen bemerkbar. Immer häufiger versuchten S M A D und SED, durch politisch motivierte Ausstellungsprojekte oder Richtlinien für die M u seumsarbeit Einfluss auf die Auswahl und die Präsentation der Objekte und damit auf die Rezeption der Kunstwerke und das gewünschte (Kunst-)Geschichtsbild zu nehmen. Dadurch gerieten diejenigen Museen in der S B Z / D D R , die sich nach 1 9 4 5 wieder für die Kunst der Moderne geöffnet hatten, in die Kritik. Auch die Nationalgalerie sah sich erneut Restriktionen ausgesetzt. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, die Auswirkungen der Formalismus-Debatte auf die Ankaufs- und Ausstellungspolitik der Museen in der sowjetischen Besatzungszone und frühen D D R zu überprüfen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Institutionen, die sich nach 1 9 4 5 darum bemühten ihre Sammlungen für die Kunst der Moderne und Gegenwart zu öffnen. Gerade sie waren es, die im Zuge der sich ändernden Kulturpolitik als Mittel der Volksbildung für die Propagierung einer »neuen, fortschrittlichen Kunst und Kultur im Sozialismus« und für die Konstruktion eines sozialistisch geprägten (Kunst-)Geschichtsbildes vereinnahmt werden sollten. Es ist bisher versäumt worden, diese politische Inanspruchnahme der Museen nach 1 9 4 5 zur Untermauerung und Stabilisierung des (kultur-)politischen Kurses in der S B Z / D D R und die Rolle, die der modernen Kunst in diesem Prozess zukam, zu untersuchen. Dies soll in der vorliegenden Arbeit nachgeholt werden. Im Vordergrund der Analyse stehen dabei weniger die aktuelle Kunstproduktion und ihre Protagonisten, als vielmehr die Rezeption des künstlerischen Schaffens der ersten Jahrhunderthälfte, insbesondere die des Expressionismus. Dieser Fokus hängt zum einen mit der deutlichen Politisierung des Expressionismus zusammen, zum anderen mit der Tatsache, dass sich die Formalism us vorwürfe von Seiten der SED, S M A D und von einigen Kunstkritikern vor allem an ihm und seinem Einfluss auf das zeitgenössische Kunstschaffen manifestierten. Allerdings ist zu beachten, dass sich hinter dem Begriff des Expressionismus mehr als die heute oftmals übliche Beschränkung auf die Maler der BRÜCKE, des BLAUEN REITERS und die zeitlich parallel entstandenen Gruppierungen vor dem Ersten Weltkrieg verbirgt. Vielmehr wurde er nach 1 9 4 5 häufig für die verschiedensten künstlerischen Ausdrucksformen der ersten Jahrhunderthälfte benutzt, die sich einer expressiven Formensprache bedienten. Dementsprechend breit wird der Begriff des Expressionismus hier verwendet. Ein besonderes Augenmerk der Untersuchung liegt auf der Entwicklung der modernen Sammlung der Nationalgalerie in Ostberlin und den parallel laufenden Bemühungen um die Etablierung einer Galerie des 20. Jahrhunderts nach dem Vorbild der zerstörten Abteilung im Kronprinzenpalais. Keine andere Institution als die Nationalgalerie könnte sich mit ihrem anlässlich ihrer Gründung formulierten Anspruch als »vaterländische Galerie von Werken neuerer Künstler« besser eignen,

Einleitung

die kulturpolitische Vereinnahmung der Kunst zur Definition eines neuen Selbstverständnisses in der S B Z / D D R zu verdeutlichen. 3 Im Verlauf ihres nunmehr 130-jährigen Bestehens formten politische Strategien und Vorgaben ebenso wie ästhetische Ideale und Ressentiments nicht nur die Vorstellung davon, was in einer nationalen Galerie moderner Kunst zu sehen sein sollte, sondern auch wie es präsentiert werden sollte. 4 Nach 1 9 4 5 macht darüber hinaus ihre Stellung innerhalb der Viersektorenstadt Berlin die Nationalgalerie zu einem integralen Bestandteil für das Verständnis der politischen Rolle der künstlerischen Moderne im Nachkriegsdeutschland. Die Stadt befand sich an der Schnittstelle des Kalten Krieges, in der sich zwei politische Systeme, zwei Weltanschauungen und damit auch zwei Kunstauffassungen diametral gegenüberstanden. Gerade Berlin entfaltete sich trotz seiner unermesslichen Zerstörung und den unterschiedlichen Intentionen der Siegermächte zu einer Art »Transformationszentrum aller damaligen Tendenzen« und wurde zum Kulminationspunkt des gesamten politischen und kulturellen Aufbaus zwischen 1 9 4 5 und 1 9 5 0 . 5 Doch nicht nur in der Stadt, auch an der Nationalgalerie selbst offenbarte sich der Ost-West-Konflikt in der Verwaltungsstruktur und der Trennung der Sammlungen um 1 9 4 8 / 1 9 4 9 . Um die Bemühungen um den Wiederaufbau der von den Nationalsozialisten zerschlagenen Sammlungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu verstehen, ist eine Betrachtung der Entfaltung der Museen und deren Öffnung für die Moderne während der Weimarer Republik notwendig. Ebenso gilt es deren Stellung während des Nationalsozialismus und die Rezeption der expressionistischen Kunst in diesen beiden Zeitabschnitten einzubeziehen. Die eingehende Analyse der kulturellen, künstlerischen und kunsttheoretischen Vorstellungen in der Weimarer Republik und die daraus entstandene Vielfalt von Sammlungen zeitgenössischer Kunst ebenso wie deren Zerstörung durch die nationalsozialistische Kunstpolitik und der von ihr initiierten Aktion »Entartete Kunst« sind eine notwendige Voraussetzung für die sinnvolle Betrachtung der Neudefinition und Positionierung der öffentlichen Sammlungen in der Nachkriegszeit innerhalb ihres neuen (kultur-)politischen Kontextes. 6 Die der Publikation zugrunde liegende Struktur ist bewusst historisch gewählt, wobei sich die Aufteilung der Kapitel bei der Betrachtung der Nachkriegszeit an den Änderungen der von der S M A D und S E D verfolgten Kulturpolitik orientiert. 7 Diese beeinflusste maßgeblich die theoretischen Debatten über das künstlerische Erbe in der Presse, über das Verhältnis von Künstlern, Intellektuellen und Kunstvermittlern zur staatlichen Kulturpolitik und die Expressionismusrezeption in den jeweiligen Zeitabschnitten. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren wird untersucht, inwieweit öffentlich geförderte Ausstellungen und Kunstsammlungen mit ihrer Präsentation und Ankaufspolitik auf die sich ändernden Zeitumstände reagierten und das kulturelle und politische Umfeld reflektierten.

_5

6 _ Einleitung

Neben der Nationalgalerie in Ostberlin werden vor allem Institutionen in Chemnitz, Dresden, Erfurt, Halle und Weimar betrachtet, die sich bereits während der Weimarer Republik um die Integration der Moderne in ihre Sammlungen bemühten und dieses Engagement nach 1 9 4 5 fortführten. In die Analyse einbezogen werden darüber hinaus die zwischen 1 9 4 6 und 1 9 5 3 insgesamt drei M a l veranstalteten A L L G E M E I N E N D E U T S C H E N K U N S T A U S S T E L L U N G E N in D r e s d e n so-

wie weitere politisch motivierte (auch überzonale) temporäre Ausstellungen moderner Kunst. Um den Unterschied zu der in den westlichen Besatzungszonen und später in der Bundesrepublik verfolgten Kulturpolitik herauszustellen, die sich ganz bewusst als Abgrenzung zu den Maßnahmen in der S B Z / D D R verstand, ergänzen Erläuterungen zu den dortigen Entwicklungen die Untersuchung. Als einer der ersten Anlaufpunkte für die Museen fließen private Galerien und deren Engagement für die noch kurz zuvor verfemten Künstler mit in die Betrachtung ein, ebenso wie die während des »Dritten Reiches« für den Verkauf »entarteter« Kunst ins Ausland zuständigen Kunsthändler Bernhard A. Böhmer und Ferdinand Möller. In ihren Kunstbeständen befanden sich nach 1 9 4 5 zahlreiche Werke »entarteter« Kunst aus ehemaligem Museumsbesitz, die gemäß einer Verfügung der S M A D in der S B Z an die Vorbesitzer zurückgegeben werden sollten. Doch dies gestaltete sich nicht so einfach und beschwor Konflikte herauf. Sie bremsten die kulturellen Bestrebungen Ferdinand Möllers in der S B Z und veranlassten ihn 1 9 4 9 , mitsamt seinem Bestand moderner Kunst nach Köln umzusiedeln. Die Untersuchung konzentriert sich auf die S B Z / D D R und hier insbesondere auf die Jahre zwischen 1 9 4 5 und 1 9 5 3 . I n diesem Zeitraum steigerte sich die Polemik gegen den Expressionismus als »spätbürgerliche formalistische Kunst«, dessen künstlerische Tradition für den A u f b a u einer neuen Kunst im Sozialismus nicht geeignet schien. Allerdings spielte der Expressionismus als künstlerisches Erbe auch nach 1 9 5 3 immer wieder eine Rolle und erfuhr in der D D R erst Mitte der 1 9 8 0 e r seine endgültige Rehabilitierung. Ein Ausblick bietet Aufschluss über die Rezeption des Expressionismus und dessen Integration in die Sammlungen moderner Kunst in der D D R über das Jahr 1 9 5 3 hinaus und zeigt auf, inwieweit die N a tionalgalerie in Ostberlin und andere Institutionen in der D D R auf die Zielvorstellungen des Staates und dessen politisch-ideologische Z w ä n g e reagierten und in ihnen agierten. Die vorliegende Analyse versteht sich als ein erster Schritt zur Aufarbeitung der künstlerischen und kulturpolitischen Situation in der S B Z / D D R und ihre Auswirkungen auf die kulturellen Institutionen nach 1 9 4 5 . Die politische Inanspruchnahme beziehungsweise Verurteilung von Kunst zur Formulierung einer eigenen kulturellen Identität in der S B Z / D D R beschwört gleichzeitig die Frage nach dem Umgang mit dem künstlerischen Erbe der Weimarer Republik und dem zeitgenös-

Forschungsstand und Quellen _ 7

sischen Kunstschaffen in den westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik herauf. Eine Gegenüberstellung des kunstpolitischen und künstlerischen Diskurses in beiden deutschen Staaten sowie deren kulturellen und politischen Hintergründe und Auswirkungen auf die Museen konnte aufgrund der Komplexität in diesem Rahmen nur ansatzweise geleistet werden. Weiteres muss einem nächsten Schritt vorbehalten bleiben.

FORSCHUNGSSTAND UND QUELLEN

Eine Untersuchung über die Entwicklung der Museen und deren Engagement für die moderne Kunst in ihrem neuen politischen Umfeld ist für die Nachkriegszeit bisher weder für die S B Z / D D R noch für die Westzonen/Bundesrepublik vorgenommen worden. Anders sieht es für die Weimarer Republik aus. Für diese Jahre gibt es zahlreiche Einzelstudien über die Entfaltung der Museen, insbesondere in Bezug auf die Öffnung der Sammlungen für die Moderne. So erscheint auch die Geschichte der Nationalgalerie in Berlin auf den ersten Blick gut erschlossen. Z u r Entstehung und Entwicklung der modernen Abteilung vor dem Zweiten Weltkrieg und deren Zerstörung durch die nationalsozialistische Aktion »Entartete Kunst« liegen zahlreiche Publikationen und Aufsätze vor, vor allem die retrospektiven Berichte der ehemaligen Mitarbeiter Justis gewähren einen interessanten Einblick. 8 Die gute Kenntnis über die Kollektion der Nationalgalerie und deren Entwicklung vor dem Zweiten Weltkrieg sind nicht zuletzt der regen Publikationstätigkeit Ludwig Justis zu verdanken, dessen zahlreiche Denkschriften und Artikel in Zeitungen, Zeitschriften und Führern durch die Nationalgalerie und die Sammlung im Kronprinzenpalais dem Leser Einsicht in die Ziele seiner Museumsarbeit ermöglichen. 9 Eine gute Quelle sind darüber hinaus die 1 9 3 6 von Justi verfassten Memoiren, die im Jahr 2000 publiziert wurden. 1 0 Weitere zeitgenössische Quellen sind die Feuilletons der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, die eine wahre Flut von Kritiken und Stellungnahmen zum Kronprinzenpalais hervorbrachten, die sich zu einem anschaulichen Bild der Geschichte der modernen Sammlung fügen. 1 1 Die Vorbildfunktion der neuen Abteilung der Nationalgalerie innerhalb der Museumslandschaft der Weimarer Republik, ihr Sammlungskonzept und das weiterer Museen, die sich in den Dienst der zeitgenössischen Kunst stellten, hat Kurt Winkler in seinem 2 0 0 z erschienen Buch über die »Musealisierung des Expressionismus« und die Zeitschrift MUSEUM DER GEGENWART umfassend dargelegt. 1 2 Ein wirklicher Überblick über das Museumswesen in der Weimarer Republik existiert dagegen nur in Ansätzen. 1 3 Die Zerstörung der musealen Sammlungen zeitgenössischer Kunst und die Verfemung der Moderne durch die Nationalsozialisten sind dagegen gut dokumentiert. 1 4

8-Einleitung

Mit der kunsttheoretischen Rezeption des Expressionismus vor 1 9 4 5 haben sich bereits einige Autoren beschäftigt. 1 5 Einen ideologiekritischen Ansatz verfolgt die 1 9 9 0 erschienene Studie von Magdalena Bushart über die Verarbeitung des GotikTopos in der expressionistischen Kunstkritik. 1 6 Den ersten Ansatz einer systemübergreifenden Studie, die auch die politisch-ideologische Rezeption des Expressionismus nach 1 9 4 5 in beiden deutschen Staaten mit einbezieht, legte jüngst Christian Saehrendt vor. 1 7 Allerdings ist seine Untersuchung nicht mehr als ein Anfang, da durch die Kürze der Abhandlung nur ein oberflächlicher Blick auf die Situation nach 1 9 4 5 gewährt wird. Die ambivalente Interpretation des Expressionismus in der S B Z und D D R untersuchte in den letzten Jahren explizit nur Werner Schmidt. 18 Allerdings werden die Instrumentalisierung und Verwerfung des expressionistischen Erbes und die damit zusammenhängenden kunsttheoretischen Debatten in den meisten Arbeiten zur Entwicklung der Kunst in der D D R thematisiert. Die Rolle des Expressionismus im Z u g e der Wiederbelebung des Museumsund Ausstellungswesens in der S B Z und D D R und dessen kulturpolitische Funktion sind bisher nur unzureichend untersucht worden. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Neubeginn der Häuser in Chemnitz, Dresden, Erfurt, Halle, Weimar und an der Nationalgalerie Berlin nach 1 9 4 5 , ihrer Situation innerhalb der Museumslandschaft im Nachkriegsdeutschland und ihrem Einsatz für die moderne Kunst fand bisher so gut wie nicht statt. 19 Auch über die in diesem Zusammenhang aufschlussreiche Galerie des zo. Jahrhunderts im sowjetischen Sektor Berlins ist nahezu nichts bekannt. 2 0 Generell gibt es bisher wenige Ansätze, die sich mit den Entwicklungen und der kunsthistorischen Positionierung der Museen nach 1 9 4 5 beschäftigen. Grundlagenarbeit zum Museums- und Ausstellungswesen nach 1 9 4 5 , der Kunstkritik und zum künstlerischen Neuanfang in allen vier Besatzungszonen leistet die von Jutta Held angefertigte Dokumentation über Kunst und Kulturpolitik zwischen 1 9 4 5 und 1 9 4 9 . 2 1 Wichtige Hinweise liefert darüber hinaus die im Jahr 2000 von Martin Papenbrock und Gabriele Saure herausgegebene Dokumentation über die Präsenz vormals diffamierter Künstler in Ausstellungen der S B Z und D D R . 1 2 Allgemeine Erkenntnisse über die kulturellen, künstlerischen und kulturpolitischen Entwicklungen in der D D R v e r m i t t e l t die A u f s a t z s a m m l u n g KUNSTDOKUMENTATION S B Z / D D R .

1945-

1 9 9 0 . A U F S Ä T Z E B E R I C H T E M A T E R I A L I E N . 2 3 A u c h A r t i k e l d e r T a g e s p r e s s e , in

Kunstzeitschriften und Ausstellungskatalogen tragen zur weiteren Klärung der kulturellen und künstlerischen Umstände in der S B Z und D D R bei. Speziell für die Situation in Berlin gibt die Publikation ZONE 5. KUNST IN DER VIERSEKTORENSTADT 1 9 4 5 - 1 9 5 I Antworten. 2 4 Abgesehen von der fehlenden Auseinandersetzung mit dem Museums- und Ausstellungswesen wurde die Interdependenz zwischen den künstlerischen Entwick-

F o r s c h u n g s s t a n d und Q u e l l e n . 9

lungen in der S B Z und D D R , der staatlichen Kulturpolitik und die damit in Verbindung stehende Formalismus-Debatte in den neunziger Jahren vermehrt wissenschaftlich diskutiert. 1 5 Generell kommt in diesen Publikationen der theoretischen und künstlerischen Expressionismusrezeption der Nachkriegszeit ein besonderer Stellenwert zu, da diese nachhaltig auf die Ende 1 9 4 7 beginnende FormalismusDiskussion einwirkte. 26 Leider wird in den meisten Veröffentlichungen kein Bezug auf das Ausstellungswesen genommen. Einzig die Dissertation von Ulrike Niederhofer setzt sich sowohl mit der Kunstdebatte als auch in Ansätzen mit ihren teilweise restriktiven Auswirkungen in Museen und Ausstellungen auseinander. 17 Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt allerdings auf den Einflüssen des Expressionismus auf die zeitgenössische Kunst in der S B Z und D D R . Aufgrund dieser spärlichen Forschungslage stützt sich die vorliegende Arbeit bei der Frage nach der Neudefinition und Positionierung der Museen innerhalb ihres neuen politischen und gesellschaftlichen Umfeldes vor allem auf Primärquellen. Aufschluss über die Ausstellungs- und Ankaufspolitik der Museen und mögliche politische Einflussnahme geben vor allem die jeweiligen Haus- oder Stadtarchive, zeitgenössische Rezensionen, Ausstellungsführer und Bestandskataloge. Erkenntnisse über die Vorgänge an der Nationalgalerie und die Galerie des zo. Jahrhunderts ermöglichen die Archivalien im Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin und im Landesarchiv Berlin, das einen Teil der Akten zur Galerie des zo. Jahrhunderts verwaltet. Über die Anfänge der Galerie geben darüber hinaus die Handakten von Adolf Jannasch Aufschluss, die sich im Archiv der Berlinischen Galerie befinden. Rückschlüsse auf die kunst- und kulturpolitischen Ziele des SED-Regimes in Bezug auf die Ausrichtung und Funktion der Museen in der D D R ermöglichen die Akten des Ministeriums für Kultur, des Ministeriums für Volksbildung und diejenigen der Hauptabteilung Kultur des Zentral-Komitees der SED im Bundesarchiv Berlin. Eine aufschlussreiche Quelle für die Entwicklungen im Nachkriegsberlin und an den (ehemals) Staatlichen Museen sind die Erinnerungen des Bildhauers und Magistratmitarbeiters Kurt Reutti, die sich im Geheimen Staatsarchiv Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin befinden. Auch in Bezug auf die »entartete« Kunst stellen seine Aufzeichnungen eine bemerkenswerte Quelle dar, da sie Listen der von ihm sichergestellten oder zumindest registrierten Werke »entarteter« Kunst bei den Kunsthändlern Ferdinand Möller (Neuruppin) und Bernhard A. Böhmer (Güstrow) enthalten. 18 Weitere Details über Ferdinand Möller, der für die Kulturszene in der S B Z nach 1 9 4 5 äußerst interessant ist, befinden sich in der Berlinischen Galerie, die den Teilnachlass des Kunsthändlers verwaltet. 1 9 Während über Ludwig Justi und seine Amtszeit an der Nationalgalerie vor 1 9 4 5 relativ viel bekannt ist, ist seine Person für die Zeit nach 1 9 4 5 schwer fassbar.

10-Einleitung

Eine kritische Beleuchtung seiner zweiten Amtszeit und seines Einsatzes für die moderne Kunst nach dem Krieg ist bisher noch nicht vorgenommen worden. Anhaltspunkte über Justis Arbeit in dieser Zeit geben lediglich einige seiner Artikel - wie beispielsweise sein programmatischer Aufsatz zum AUFBAU DER BERLINER MUSEEN ( 1 9 4 7 ) - , die von ihm verfassten Ausstellungsführer der Jahre 1 9 4 6 bis 1 9 5 7 und zeitgenössische Beiträge in Tages- und Fachzeitschriften. 30 Darüber hinaus finden sich in den Akten des Zentralarchivs der Staatlichen Museen zu Berlin und in Justis Nachlass im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften nur wenige Hinweise zu seinen Vorstellungen über den Wiederaufbau der Staatlichen Museen, einer zeitgenössischen Galerie, seiner Einstellung gegenüber der eskalierenden Formalismus-Debatte und der Einbindung der Museen in den Volksbildungsprozess der D D R . Bereits in den ersten Nachkriegs jähren beschäftigen sich einige Kunstwissenschaftler, Kunstkritiker und Künstler mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der während dieser Zeit praktizierten Kulturpolitik. Nicht zuletzt dadurch gewinnt die Frage nach den Aufgaben und dem Aussehen einer von nationalsozialistischen Ideologien befreiten Kunst an Relevanz. Wegweisend sind hierbei die 1 9 4 9 erschienene Schrift von Paul Ortwin Rave KUNSTDIKTATUR IM DRITTEN REICH und die 1 9 4 7 publizierte Studie ENTARTETE KUNST von Adolf Behne. 3 1 Aktuelle Debatten wurden vor allem in der 1 9 4 7 von Karl H o f e r und Oskar Neriinger herausgegebenen Zeitschrift BILDENDE KUNST erörtert, die bis 1 9 4 9 einen umfassenden Überblick über alle Kunstrichtungen der Moderne bot, einschließlich der Abstraktion. 3 1 Auch in der Tagespresse, dort vor allem in der TÄGLICHEN RUNDSCHAU, dem Sprachorgan der S M A D , wurde ausgehend von dem Aufsatz von Alexander Dymschitz im November 1 9 4 8 und durch den Artikel von N . Orlow im Januar 1 9 5 1 das Formalismus-Realismus-Problem über Jahre breit diskutiert. 33 Aus dem vorhandenen Quellenmaterial, den Aktenbeständen, den Artikeln der Tagespresse und Kunstzeitschriften, den Ausstellungsführern und anderen zeitgenössischen Publikationen ergibt sich ein eindrückliches Bild der Situation der M u seen in der S B Z und D D R nach 1 9 4 5 und ihr Einsatz für die noch kurz zuvor diffamierte Moderne. Doch wird durch diese Materialien ebenso nachdrücklich belegt, auf welch harte Probe dieses Engagement durch die zunehmende Dogmatisierung im Kulturbereich der S B Z / D D R gestellt wurde.

Zeitgenössische Kunst in öffentlichen Sammlungen vor dem Zweiten Weltkrieg

Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, als sich engagierte Museumsdirektoren für den Einzug moderner Kunst in öffentliche Sammlungen einsetzten, entstanden die ersten Museen für Gegenwartskunst. Die Voraussetzungen für diese Entwicklung liegen im 1 9 . Jahrhundert und stehen im Zusammenhang mit der Bildung nationalstaatlicher Identität durch die Herrscherhäuser und dem neuen Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft. 3 4 Anders als Galerien kunsthistorischen Zuschnitts, deren Bildungsziele sich in der historischen Erfahrung des Besuchers realisieren sollten, wurde die Aufgabe dieses neuen Museumstypus vor allem darin gesehen, die Geschichtsträchtigkeit der Gegenwart zu untermauern. 35 Damit waren die Sammlungen zeitgenössischer Kunst von Beginn an all jenen ästhetischen und sozialen Umwälzungen ausgesetzt, die sich in der Kunst vollzogen: Dem endgültigen Rückzug von Hof und Kirche als Auftraggeber, dem Aufkommen bürgerlicher Kunstvereine, der zunehmenden Bedeutung von Privatsammlern sowie dem Untergang tradierter Bildsprachen und der akademischen Gattungsmalerei. Der mit den Museen verbundene Bildungs- und Vermittlungsanspruch trat bereits mit der Öffnung der fürstlichen Sammlungen in der Mitte des 1 8 . Jahrhunderts hervor. Doch erst im 1 9 . Jahrhundert folgten die Institutionen, ungeachtet ihres fürst-

1 2 - Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen Sammlungen «ot dem Zweiten Weltkrieg

liehen oder bürgerlichen Ursprungs, der grundsätzlichen Forderung einer historischen und wissenschaftlichen Aufklärung. Immer öfter beauftragte man Kunstwissenschaftler mit der Betreuung der Sammlungen, trennte einzelne Gattungen voneinander, strukturierte sie übersichtlich nach fachlichen und pädagogischen Kriterien und versuchte die institutionellen Zugangsbeschränkungen zu lockern. Ebenso wie andere kulturelle Organisationen des 1 9 . Jahrhunderts - wie beispielsweise die Konzerthalle oder die Universität - waren die Museen eng mit der Aneignung und Vermittlung von Bildung verknüpft. 3 *· Aber erst um die Jahrhundertwende rückte der »volksbildende« Charakter in den Vordergrund. Deutlich wird dies anhand der Bemühungen, die Museen an die sozialen Verhältnisse breiterer Bevölkerungsschichten anzupassen. 3 7 Mit der Abspaltung der künstlerischen Entwicklungen vom kulturellen Konsens geriet das Museum gegen Ende des 1 9 . Jahrhunderts in eine Identitàts- und Legitimationskrise. Konfrontiert mit den künstlerischen Innovationen und den lebensreformatorischen Utopien der Sezessionen und Avantgarden musste es seine Funktion neu definieren und seine institutionelle Form mit neuen, der zeitgenössischen Kunst gemäßen Inhalten füllen. 3 8 Während sich in diesem Prozess staatliche Museen oft als konservativ erwiesen und auf Veränderungen im künstlerischen Umfeld mit Verzögerung reagierten, öffneten private Kunstförderer ihre Sammlungen bereits früh den neuen Strömungen, wie dem französischen Impressionismus oder etwas später der expressionistischen Kunst. Einer der ersten deutschen Sammler, der seine Kollektion als private Institution in den Dienst der Öffentlichkeit stellte, w a r der aus einer Familie von Bankiers und Großindustriellen stammende Karl Ernst Osthaus. 1 9 0 2 initiierte er in seiner Heimatstadt Hagen das Folkwang Museum als »allgemeinnützige Bildungsstätte« und künstlerischen Mittelpunkt für den Industriebezirk Rhein-Ruhr. 3 3 Osthaus manifestierte mit seiner Gründung die Idee einer grundlegenden Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens durch die Integration der Kunst in die Volksbildung. Wie er 1 9 0 3 in einem Vortrag anlässlich der 1 2 . K o n f e r e n z der C E N T R A L S T E L L E FÜR

ARBEITER-WOHLFAHRTSEINRICHTUN-

GEN mit dem Thema MUSEEN ALS VOLKSBILDUNGSSTÄTTEN darlegte, verfolgte er aus der festen Überzeugung heraus, dass ohne die »Mitwirkung der Kunst, die wichtigsten Fragen des sozialen Lebens unlösbar« seien, das Ziel, »die Bildung allen zu bringen«. 4 0 Auch wenn sich das Interesse von Osthaus nicht allein auf die bildende Kunst beschränkte, umfasste das Herzstück seiner Sammlung bedeutende Stücke moderner französischer Malerei, Werke von Emil Nolde, Franz M a r c , Edward Munch, Christian Rohlfs, Wilhelm Lehmbruck und Moissei Kogan. Erich Heckel bezeichnete die Hagener Einrichtung gar als »das erste und vorläufig noch einzige moderne Museum«. 4 1

Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen S a m m l u n g e n vor dem Zweiten Weltkrieg . 1 3

1

Emil N o l d e .

ABENDMAHL,

1 9 0 9 , Öl auf L e i n w a n d , 86 χ

i o - cm.

Kopenhagen,

Starens M u s e u n i tor k u n s r

Dieser Umstand ist dadurch erklärbar, dass es sich für kommunale Einrichtungen weitaus schwieriger als für private Sammler erwies, zeitgenössische Arbeiten zu erwerben. Z w a r erlebte der Expressionismus durch die Sonderbundausstellung in Köln ( 1 9 1 2 ) , w o er neben Werken von van Gogh, Cézanne und Gauguin, dem Fauvismus und dem Kubismus ausgestellt war, einen Durchbruch, doch taten sich viele offizielle Stellen schwer, ihn als »ausstellungswürdig« zu akzeptieren. 42 Prägnantes Beispiel hierfür ist der 1 9 1 4 entbrannte »Museumsstreit« zwischen M a x Sauerlandt und Wilhelm von Bode, dem Generaldirektor

der

4

Königlich Preußischen Museen in Berlin. ' Sauerlandt hatte 1 9 1 3 als Direktor des Städtischen Museums für Kunst und Kunsthandwerk in Halle/Saale Emil Noldes ABENDMAHL (1909) für die Sammlung erworben (Abb. 1). Z w a r war es weder der erste Museumsankauf einer Arbeit von Nolde oder eines anderen expressionistischen Künstlers, doch kam ihm aufgrund der Bedeutung des Werkes ein programmatischer Charakter zu. 44 Der Ankauf Sauerlandts sorgte überregional für Auf-

1 4 - Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen S a m m l u n g e n vor dem Zweiten Weltkrieg

sehen. Im April 1 9 1 4 erschien in der Zeitschrift DER KUNSTFREUND unter dem Titel DER OBERBÜRGERMEISTER

VON H A L L E UND DIE SAMMELPOLITIK

DER

DEUTSCHEN STÄDTE ein Artikel von Bode, der sich darin gegen die Integration moderner Kunst ins Museum aussprach und davor warnte, auf eine »Modeerscheinung« zu reagieren. 45 Weiter schrieb er: »[...] um zu fühlen, dass die Kubisten, Expressionisten, Futuristen usw. etwas >Neues< im Gebiete der Kunst schaffen, braucht man wahrlich nicht sehr feinfühlig zu sein und nicht einmal zum >Volk< zu gehören. Wenn das Volk in solche Ausstellungen läuft, so tut es das doch nur, um sich zu amüsieren, um was >Neues< zu sehen oder um einmal recht ordentlich zu lachen.« 4 6 Sauerland reagierte auf die verbalen Angriffe des Berliner Generaldirektors in einem »Offenen Brief« in d e r FRANKFURTER ZEITUNG. Ihm sei als Leiter einer öffentlichen Kunstsammlung sehr wohl bewusst, dass er seine

Erwerbungen

ausschließlich nach dem »echten dauernden Kunstwert« tätigen solle. Doch mache er, so Sauerlandt, sein Urteil nicht »unbedingt von der sofortigen Zustimmung jedes einfachen Kunstfreundes< abhängig«. 4 7 Darüber hinaus seien die »jetzt als klassisch gefeierten Bilder von Feuerbach, Leibi, Marées u . a . « nach Bodes und Cassirers Urteil »unerschwinglich«. Zugleich dürften die »Modernsten« nach Bodes Auffassung von einer öffentlichen Kunstsammlung nicht gekauft werden, da sie dem »einfachen Kunstfreund« unverständlich und abschreckend seien. Doch was bliebe da noch? Die Lösung, so Sauerlandt ironisch, sei ebenso einfach wie überraschend: »Wir sollen >alte Bilder preiswert kaufen!« 4 8 Die Resonanz, die der »Offene Brief« von Sauerlandt erhielt, w a r groß und regte zu einem Diskurs zwischen den Museumskollegen an - trotzdem blieben die Ankäufe der neuesten Kunstrichtungen in kommunalen Einrichtungen weiterhin gering. 49 In Halle kaufte Sauerlandt noch bis 1 9 1 4 Arbeiten von M a r c , Hofer, Rohlfs und Curt Herrmann, bevor der 1 9 1 5 in den Krieg eingezogen wurde und 1 9 1 8 die Nachfolge von Justus Brinkmann am Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg antrat. Doch auch die Mitarbeiter an anderen Häusern waren nicht untätig geblieben. So hatte Ernst Gosebruch, seit 1 9 0 9 Leiter des Städtischen Kunstmuseums in Essen, schon früh Interesse für die zeitgenössische Kunst entwickelt. 50 Genauso verhielt es sich mit Richard Reiche, dem Direktor des Kunstvereins in Barmen, oder dem seit 1 9 0 9 an der Kunsthalle in Mannheim tätigen Fritz Wiehert, Gustav Pauli in Bremen oder Alfred Hagelstange am Wallraf-Richartz-Museum in Köln. 5 1 Doch dürfen diese vereinzelten Ankäufe nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den meisten Häusern weiterhin die Ergänzung der Sammlungsbestände der Kunst des

Der Siegeszug

19.Jahrhunderts im Vordergrund standen -

des Expressionismus

einschließlich die des deutschen

Impressionismus, dessen Integration in die deutschen Museen wenige Jahre zuvor ähnliche Kontroversen ausgelöst hatte wie nun die der expressionistischen Kunst. 5 2

DER SIEGESZUG DES EXPRESSIONISMUS

Der »Siegeszug des Expressionismus« und dessen Anerkennung bei einem breiteren Publikum hatte spätestens mit der SONDERBUNDAUSSTELLUNG in Köln ( 1 9 1 2 ) und dem ERSTEN

DEUTSCHEN

HERBSTSALON

in B e r l i n ( 1 9 1 3 ) b e g o n n e n . A u f

der Kölner Schau w a r erstmals ein Querschnitt nachimpressionistischer Kunst aus Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, der Schweiz, den Niederlanden, Ungarn und Skandinavien vorgestellt worden. Diese hatten die Organisatoren durch eine »retrospektive Abteilung« mit Werken der Franzosen Paul Gauguin und Paul Cézanne sowie des Niederländers Vincent van Gogh ergänzt, um so die Beziehung zwischen den zeitgenössischen Strömungen und der Kunst des 1 9 . Jahrhunderts aufzuzeigen. Unter den Vertretern der aktuellen Tendenzen fanden sich Mitglieder der Künstlervereinigung BRÜCKE, die M a l e r aus d e m U m f e l d des B L A U E N

REITERS

und die sogenannten Rheinischen Expressionisten. Der von Herwarth Waiden organisierte ERSTE DEUTSCHE HERBSTSALON w a r die zweite bedeutende Übersichtsschau neuer Kunst in dieser Zeit. Der Katalog listete insgesamt 90 Künstlerinnen und Künstler mit 366 Arbeiten auf, darunter erneut Maler aus dem Umkreis des BLAUEN REITERS, einige italienische Futuristen, Natalia Gontscharowa, Otto Gutfreund, Jacoba van Heemskerck, Lyonel Feininger, M a r c Chagall, Alexander Archipenko und schließlich die Franzosen, Fernand Léger, Robert Delaunay und Albert Gleizes. 53 Doch trotz der Aufmerksamkeit, die der Expressionismus um 1 9 1 z / 1 9 1 3 in diesen Ausstellungen erhielt, blieben Ankäufe von Seiten der Museen weitgehend aus. Doch was fällt überhaupt alles unter den Begriff Expressionismus? Wie Ludwig Justi 1 9 2 1 in seinem Führer NEUE KUNST für die neue Abteilung der Nationalgalerie im Kronprinzenpalais schrieb, »ist das Schlagwort Expressionismus für im einzelnen recht verschiedenartige Kunstformen der Gegenwart geläufig geworden; die Grenze wird von jeder Künstlergruppe, von jeder Vertriebstelle anders gezogen.« 54 Und damit trifft Justi genau den Punkt, der bis heute die Charakterisierung expressionistischer Kunst erschwert. Der Expressionismus existierte nie als eine bewusste Gruppierung von Künstlern mit einem gemeinsamen Programm odereiner gemeinsamen Formensprache. Von Beginn an vereinte er unterschiedliche künstlerische Ausdrucksformen des ersten Jahrhundertdrittels, der neben der bildenden Kunst auch Tendenzen des Theaters, des Films, der Musik, der Literatur und der

15

1 6 - Z e i l g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen S a m m l u n g e n vor dem Zweiten Weltkrieg

Architektur angehörten. Die Gemeinsamkeiten lagen in einem radikalen Bruch mit den bisherigen Anschauungen über die Funktion von Kunst und Kultur in der modernen Gesellschaft. Dies implizierte gleichzeitig eine Abwendung vom Impressionismus, den die Künstler nicht als Vorstufe sondern als Endpunkt einer Entwicklung ansahen, die mit der Renaissance eingesetzt hatte. 5 5 Die bildenden Künstler, Literaten und Intellektuellen rebellierten mit ihren Darbietungen gegen akademische Konventionen und erstarrte N o r m e n der wilhelminischen Gesellschaft. Sie richteten sich gegen das Schönheitspostulat der Kunst und gegen einen Naturalismus, der eine bloße N a c h a h m u n g der Wirklichkeit beinhaltete, ebenso wie gegen den auf den flüchtigen M o m e n t ausgerichteten Impressionismus. Stattdessen suchten die expressionistischen Künstler ihren Ausdruck in der Vereinfachung der Formen, der Reduzierung auf das Wesentliche, einem klaren Liniengerüst und im Gebrauch von unvermischten, großflächig eingesetzten Farben. Die Künstler sahen ihre A u f gabe nicht länger darin - wie Paul Klee es formulierte - , das Sichtbare wiederzugeben, sondern sichtbar zu machen. 5 6 Im Vertrauen auf die eigene Intuition, wollten die M a l e r die Gefühle und geistigen Inhalte - eine innere Welt - zum Vorschein bringen, denen sie einen größeren Wahrheitsgehalt als der äußeren, wissenschaftlich erklärbaren Welt zusprachen. In Dresden hatten sich 1 9 0 5 Fritz Bleyl, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff zur Künstlervereinigung BRÜCKE zusammengeschlossen. Hinzu kamen später C u n o Amiet, A x e l Gallen, Emil N o l d e , M a x Pechstein und Otto Mueller. Wie sie 1 9 0 6 in ihrem Manifest verlauteten, w a r es ihr Bestreben, sich von den gesellschaftlichen Konventionen zu befreien und eine »Brücke« zur Z u k u n f t zu bauen. 5 7 Auch in München hatte sich als Gegenorganisation zur Sezession

1909

die

NEUE

KÜNSTLERVEREINIGUNG

MÜNCHEN

gebildet,

der

unter anderem Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky, Gabriele Münter, Adolf Erbslöh, Alexander Kanoldt, Alfred Kubin, M a r i a n n e von Werefkin und schließlich Franz M a r c angehörten. 1 9 1 z lösten sich M a r c und Kandinsky von der NEUEN KÜNSTLERVEREINIGUNG und gaben im selben J a h r die erste Ausgabe des Almanachs der BLAUE REITER heraus. Z u ihrem Umfeld gehörten die bereits genannten Künstlerinnen und Künstler Münter, Werefkin, J a w l e n s k y und K u b i n aber auch August M a c k e , Heinrich C a m p e n d o n k , Paul Klee und J e a n Bloé Niestlé. Anders als bei den M a l e r n der BRÜCKE handelte es sich bei den Vertretern des BLAUEN REITERS um eine heterogene, lose Gruppierung ohne verbindliches ästhetisches Programm. Sie verband eine auf das »Geistige« ausgerichtete Grundhaltung, die sie immer mehr zur Abstraktion führte. 5 8 N a c h dem Ausschluss von 2 7 jungen Künstlern von der Sommerausstellung der BERLINER SECESSION von 1 9 1 0 entstand auf Initiative von Georg Tappert die NEUE SECESSION, der neben M a x Pechstein, Arthur Segal, M o r i z Melzer und H u g o Lederer alle BRÜCKE-Maler angehörten. 5 9

Der S i e g e s z u g des E x p r e s s i o n i s m u s _ 17

Als ein wichtiges Forum der avantgardistischen Künstler hatte sich zudem die 1 9 1 0 von Herwarth Waiden gegründete Kunst- und Literaturzeitschrift

DER STÜRM

und

seine 1 9 1 2 ins Leben gerufenen »Ausstellungen von der Zeitschrift der Sturm organisiert« (STURM-Galerie) entfaltet, in der fast alle wichtigen expressionistischen Lyriker, Maler und Grafiker, ebenso wie Futuristen, Kubisten und Konstruktivisten veröffentlichten oder ausstellten. 60 Der Begriff »Expressionismus« hatte sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht etabliert. Auch wurden die später mit ihm verbundenen Künstler noch nicht als »deutsch« rezipiert. In Deutschland wurde der Ausdruck Expressionismus erstmals im Vorwort des Katalogs zur 22. Ausstellung der

BERLINER

SECESSION

im April

1 9 I i benutzt, wo er jedoch auf französische Künstler aus dem Umkreis von Henri Matisse angewandt wurde. 6 1 Auch Herwarth Waiden führte die in seiner Eröffnungsausstellung im März 1 9 1 2 vertretenen französischen Maler als Expressionisten auf. 6 2 Wenig später wurde die Definition von Waiden erstmals auf deutsche und belgische Künstler übertragen. 63 Im gleichen Jahr lösten die Kuratoren der Kölner

SONDERBUNDAUSSTELLUNG

die Vokabel aus ihrem rein französischen

Kontext und stellten van Gogh und Cézanne als Begründer sowie Munch und Matisse als wichtigste lebende Vertreter des Expressionismus vor (Abb. 2). Sie würdigten den Einfluss der Fauves auf die

BRÜCKE

und den

BLAUEN

REITER

und

interpretierten die »neue Ausdruckskunst« als gesamteuropäische Erscheinung. 64 Magdalena Bushart meint bereits zu diesem Zeitpunkt eine Interpretation des Expressionismus als deutsches Phänomen auszumachen. Da den Organisatoren der Ausstellung und den vertretenen Künstlern im Jahr zuvor die Einbeziehung französischer Maler beziehungsweise die Orientierung an französischen Vorbildern angekreidet worden war, verwiesen die Kuratoren - um einen Vorwurf des »Franzosentums der neuen Richtung« abzuwehren - anlässlich der Eröffnung auf die »germanischen« Wurzeln der neuen Kunstrichtung. 65 Die Verwendung des Begriffs Expressionismus ausschließlich für deutsche Künstler, vor allem für die Maler der REITER,

BRÜCKE

und den Kreis um den

BLAUEN

entwickelte sich erst während und nach dem Ersten Weltkrieg. 66 Aller-

dings gab es schon vor dem Krieg Diskussionen, über die Frage, ob sich der Expressionismus als deutscher Sonderweg gegen die französische und italienische Bewegung abgrenzen lasse oder eine Parallelerscheinung zum Fauvismus, Kubismus und Futurismus darstelle. 67 Doch dominierte vor 1 9 1 4 bei Kritik und Publikum die Meinung, dass der Expressionismus als Teil einer internationalen Avantgarde zu verstehen sei. Auch viele der Künstler begriffen sich als Teil einer globalen Bewegung. 68 Als eigenständige deutsche Kunstform wurde der Expressionismus erstmals 1 9 1 4 in einer von Paul Fechter verfassten Monografie interpretiert. Der Kunstkri-

1 8 - Z e i t g e n ö s s i s c h e K u n s t in ö f f e n t l i c h e n S a m m l u n g e n v o r d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g

2

Unbekannter Fotograf. SONDERBUNDAUSSTELLUNG in Köln, 1 9 1 2 (Raum mit Gemälden von Edward Munch

und Skulpturen von Ernst Barlach)

tiker grenzte ihn inhaltlich und stilistisch gegen zeitlich parallel verlaufende Kunstrichtungen wie den Kubismus und Futurismus ab. Dabei wies Fechter auf die Bedeutung von Cézanne, van Gogh und Gauguin als vom Impressionismus zum Expressionismus überleitende Künstlerpersönlichkeiten hin, wobei er - wie viele andere Kunsttheoretiker und Künstler auch - den Expressionismus als Gegenbewegung zum Impressionismus begriff. Als »Vaterstadt des Expressionismus« führte Fechter Dresden an und nannte neben den Vertretern der BRÜCKE als weitere Protagonisten die Maler des BLAUEN REITERS sowie Beckmann und Kokoschka. 6 9 Als typisch »deutsch« legte der Autor das »Geistige« und den Rückgriff auf die Mystik des Mittelalters aus. Er schrieb: »In diesem Rückblicken und Zurückgreifen liegt ein tiefer Sinn. Denn der Wille, der innerhalb der eben umschriebenen Bestrebungen am Werke ist, ist im Grunde genommen gar nichts Neues, sondern derselbe Trieb wie der, der in der germanischen Welt von je wirksam gewesen ist. Es ist die alte gotische Seele, die trotz Renaissance und Naturalismus noch immer fortlebt, die im

Der Siegeszug des Expressionismus _ 19

deutschen Barock allerorts wieder durchbricht, (nur eben von der Transzendenz in die Welt gewandt), die manche noch im R o k o k o zu spüren glauben, und die unverwüstlich trotz alles [sie!] Rationalismus und Materialismus immer wieder ihr Haupt erhebt. Dem uralten metaphysischen Bedürfnis der Deutschen [...], hat auch der naturwissenschaftliche Aberglaube des 19. Jahrhunderts im Grunde nichts anhaben können: die ganze junge Bewegung der bildenden Kunst beweist das so gut, wie die neuen Versuche auf rein geistigem Gebiet. Die Gotik ist nicht umsonst wieder in M o d e gekommen [...]. Der Expressionismus in all seinen verschiedenen Erscheinungsformen ist im Grunde nur das Freiwerden der eigentlich seelisch-geistigen Energien von den Klammern eines einseitig primitiven wissenschaftlichen Intellektualismus, der, zu schwach bis zur wirklichen Vergeistigung und Abstraktion sich zu steigern, seine Opfer ins Literarische und Akademische verschleppte und die wirklich produktiven ausdruckstüchtigen Kräfte, weil sie begrifflich nicht Formulierbares und Vermitteltes gaben, lahmlegte.« 7 0 Für die von Fechter und anderen Kritikern seit 1 9 1 0 hergestellte Verbindung zwischen Expressionismus und Gotik, spielten die Schriften ABSTRAKTION UND EINFÜHLUNG

(1908) und

FORMPROBLEME

DER

GOTIK

( 1 9 I 1 ) Von

Wilhelm

Worringer eine Schlüsselrolle. 71 Worringer folgte darin einem hermeneutischen Interpretationsansatz und versuchte mit einer einfühlenden Forminterpretation das Wesen des Kunstwerks zu ergründen. Er knüpfte dabei an Alois Riegels Theorie des Kunstwollens an und an die psychologische Wendung der Geisteswissenschaften bei Theodor Lipps, Georg Simmel und Wilhelm Dilthey. Die Kulturgeschichte erschien Worringer als ein beständiger, in Zyklen verlaufender Streit zwischen den letztlich rassenpsychologisch festgelegten Grundtypen des »nordischen/gotischen« und des »romanischen/klassischen« Kunst- und Lebensprinzips. 7 1 Für die Ästhetik des Expressionismus waren Worringers Thesen deshalb interessant, da sie den Bruch mit dem abfällig als »Naturalismus« erachteten Impressionismus, den Rückgriff auf die sogenannte Kunst der Primitiven und die Wiederentdeckung vermeintlich antiklassischer Stile ideologisch legitimierten. Das lebensreformatorische Pathos des expressionistischen Aufbruchs um 1 9 1 0 schien in den Schriften Worringers seine wissenschaftliche Begründung zu finden. Überwog bis zum Kriegsbeginn im August 1 9 1 4 noch die internationale Einordnung expressionistischer Tendenzen, gewann spätestens mit dem Beginn der Kampfhandlungen die Idee vom Expressionismus als deutsches Kunstschaffen die Oberhand. 7 3 Wie viele andere, sah der Kritiker Adolf Behne im Expressionismus die neue nationale Kunst, die sich gegen die Strömungen zu verteidigen hatte, die international und damit unpatriotisch waren. In der Zeitschrift ZEIT-ECHO schrieb er:

2 0 - Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen Sammlungen vor dem Zweiten Weltkrieg

»Was sich unter den verwirrenden Schlagworten Expressionismus und Kubismus als scheinbar nach dem Auslande orientiert darstellt, ist deutsch in seinem innersten Wesen, wenn man auch gemeinhin das Gegenteil behauptet. International w a r seinem Wesen nach der Impressionismus. Sein wichtigstes Organ w a r ja die Netzhaut. Ihm gegenüber bringt der Expressionismus eine Stärkung des nationalen Elementes in der Kunst, da er aufgebaut ist auf dem Willen und der Phantasie. Ein Aufnahme-Apparat wie die Netzhaut ist unabhängig von Zeit und R a u m , eine Kunst, die wie der Expressionismus den Willen und die Phantasie in den Mittelpunkt stellt, ist notwendig dem Nationalen eng verknüpft! Heute, bei der allgemeinen, bedauerlichen Antipathie gegen die neue Kunst, mag das noch als gewagte Behauptung wirken, in einigen Jahren wird es allen sichtbar sein. Denn dieser Krieg ist das Ende des Impressionismus, der mit dem Krieg von 1 8 7 0 / 7 1 seine Laufbahn durch Europa begann.« 7 4 Nach Meinung von Magdalena Bushart wurde die moderne Kunst während und vor allem nach dem verlorenen Krieg Ausdruck nationaler Selbstfindung. Nachdem sich die internationale Kunstsprache des Impressionismus überlebt hatte, sei im Expressionismus und Kubismus der nationale »Zwiespalt romanischen und germanischen Wesens, der unter der ölglatten Oberfläche schlummerte« offen zu Tage getreten. 75 Die Kritiker werteten den Kubismus als typisch »romanische« Erfindung, der die Charaktereigenschaften aller französischen Kunst seit Poussin in sich vereine: Formklarheit, Gesetzmäßigkeit, Akademismus. Vom Expressionismus erhofften sie sich dagegen »eine neue Blüte germanischer Kunst«. 7 6 Ein solch nationaler Ansatz findet sich auch in der 1 9 1 7 posthum herausgegebenen EINFÜHRUNG IN DIE MODERNE KUNST von Fritz Burger oder in Eckart von Sydows DIE

DEUTSCHE

EXPRESSIONISTISCHE

KULTUR

UND

MALEREI,

die 1 9 2 0

er-

schien. 77 Zugleich gab es und zwar auch im Lager derjenigen, die den Expressionismus als deutsche Bewegung begriffen, Stimmen, die vor einem allzu engstirnigen Chauvinismus in der Kunst warnten und auf der Autonomie des künstlerischen Schaffens insistierten. 78 Der Erste Weltkrieg hatte nicht nur zu einer vermehrt national geprägten Rezeption der expressionistischen Bewegung geführt. Die Erfahrungen des Krieges bewirkten zugleich eine entscheidende Z ä s u r bei Künstlern und Intellektuellen. Bereits 1 9 1 3

hatte sich die Künstlergemeinschaft BRÜCKE aufgrund interner

Zwistigkeiten aufgelöst, und auch die Gruppe um den BLAUEN REITER fiel 1 9 1 4 , mit Kandinskys Rückkehr in die Sowjetunion und Marcs freiwilligem Gang an die Front, auseinander. Wie M a r c waren viele Künstler von der Kriegseuphorie im August 1 9 1 4 mitgerissen worden und freiwillig auf das Schlachtfeld gezogen. Sie erhofften sich durch den Krieg eine grundlegende Erneuerung des literarischen und

Der S i e g e s i u g des E x p r e s s i o n i s m u s _ 21

künstlerischen Lebens. 7 9 Aber statt der ersehnten Rennovation setzte bei vielen bereits nach wenigen M o n a t e n die Ernüchterung angesichts der Brutalität auf den Schlachtfeldern ein. J e weiter die K ä m p f e voranschritten, umso mehr Künstler zogen sich auf die Innerlichkeit der reinen künstlerischen Produktion zurück und wandten sich nahezu vollständig v o m Kriegsgeschehen ab. 8 0 Der politische Protest (wie vage er auch immer ausfiel) eines Franz Pfemfert oder C o n r a d Felixmüller bildete mehr die Ausnahme als die Regel. Erst nach dem Ende der Gefechte setzten sich viele der avantgardistischen Künstler mit den Erlebnissen an der Front und dem sozialen Elend der Nachkriegszeit auseinander. Ein Großteil der Künstler begrüßte die folgende Revolution 1 9 1 8 / 1 9 1 9 emphatisch. Die Kunst der Moderne, insbesondere der Expressionismus galt jetzt als politisch-revolutionärer Ausdruck der Zeit, als »Vorwegnahme der Revolution im Geistigen«. 8 1 Trotzdem g a b es Unterschiede: Während einige Künstler eine enge Verbindung zwischen den politischen Begebenheiten und der kommenden Kunstentwicklung sahen, suchten andere nach überzeitlichen, metaphysischen Werten, die angesichts vergänglicher, oft als Schock empfundener historischer Ereignisse Kontinuität garantieren sollten. Doch letztlich ging es darum, auf kulturellem Gebiet jene nationale Identität zurückzuerlangen, die auf dem militärischen und politischen Sektor durch die Kriegsniederlage und das Ende des Kaiserreiches abhanden gekommen war. 8 z In der Zeit der revolutionären Unruhen bildeten sich in ganz Deutschland Künstlergruppen, die sich radikal für eine neue Gesellschaftsordnung einsetzten. Sie hofften auf eine Integration der modernen Kunst in das Leben und die Gesellschaft. 8 3 So konstituierte sich beispielsweise in Berlin in Anlehnung an das Vorbild der deutschen Arbeiter- und Soldatenräte der ARBEITSRAT FÜR KUNST, der von Bruno Taut, Walter Gropius und Adolf Behne geführt wurde. Ihm schlossen sich neben Verlegern, Kritikern, Kunsthändlern, Sammlern und Kunsthistorikern auch die ehemaligen BRÜCKE-Künstler Heckel, Pechstein, Mueller und Schmidt-Rottluff an. 8 4 Etwa gleichzeitig wurde von M o r i z Melzer, M a x Pechstein, Heinrich Richter-Berlin und Georg Tappert die NOVEMBERGRUPPE gegründet, in der sich die »Revolutionäre des Geistes (Expressionisten, Kubisten, Futuristen)« versammelten. 8 5 In Dresden formierte sich die Künstlervereinigung

DRESDNER

SEZESSION GRUPPE 1 9 1 9 , zu dessen Mitgliedern C o n r a d Felixmüller, Otto D i x , Arthur Segal und Peter August Böckstiegel gehörten. Auch in anderen Städten bildeten sich nach dem Krieg mehr oder weniger politisch engagierte Künstlergruppen und -Vereinigungen sowie zahlreiche politisch und künstlerisch ambitionierte Zeitschriften und Zeitungen. 8 6 Vor dem Ersten Weltkrieg w a r es allein Franz Pfemfert gewesen, der in seiner 1 9 1 1 in Berlin gegründete Wochenzeitschrift DIE AKTION den Expressionismus als »Kunst der neuen Zeit« eng mit politischen und ethischen Anliegen verknüpft hatte. 87 N a c h dem Krieg hingegen wollten viele Künstler ein

2 2 . Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen S a m m l u n g e n «or dem Zweiten Weltkrieg

politisches Statement abgeben und mit ihrer Kunst ins Volk wirken. Stephanie Barron spricht von einer »zweiten Generation« von Expressionisten, die durch die einschneidenden Kriegserfahrungen mit den formalen, expressiven Mitteln und Farben der Vorkriegsgeneration neue, nicht selten soziale und politische Themen aufgriffen, deren agitatorische Wirkung eine große Rolle spielte. 88 In der aufrührerischen, erregten Formensprache des Expressionismus sahen Künstler wie Meidner, Pechstein oder Felixmüller den progressiven Ausdruck des gesellschaftlichen Umbruchs verwirklicht. 8 ' Mit der Stabilisierung der Weimarer Republik Ende 1 9 2 3 versiegte die revolutionäre Agitation der Künstler jedoch fast vollständig. Viele Mitglieder der Gruppen gaben ihre Hoffnung auf einen radikalen, durch die Kunst herbeigeführten Umbruch der Gesellschaft auf. An die Stelle des in seiner Kraft gebrochenen Expressionismus trat ein neuer, realistischer Stil - die Neue Sachlichkeit - die erstmals 1 9 2 5 in der von Gustav Hartlaub organisierten Ausstellung in der Mannheimer Kunsthalle an die Öffentlichkeit trat. 9 ° Die Verwendung expressiver Gestaltungsmittel in Zusammenhang mit einem sozialkritischen, politischen Ansatz fand allerdings in der sogenannten proletarisch-revolutionären Kunst der zwanziger und frühen dreißiger Jahre weiterhin ihren Niederschlag. So bildeten sich gegen Ende der zwanziger Jahre in Dresden und anderen Städten die ASSOZIATION

REVOLUTIONÄRER

BILDENDER

KÜNSTLER

(ASSO), deren

Mitglieder

eine neue Einheit von Kunst und Leben bezweckten und durch ihre Kunst die Menschen zum politisch aktiven Handeln bewegen wollten. 9 1 Während sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Ausruf der Weimarer Republik neue künstlerische, oftmals politische Gruppierungen zusammenschlossen, waren die Vertreter des (Vorkriegs-)Expressionismus und deren ästhetische Mittel salonfähig geworden. Es gab expressionistisches Theater, expressionistische Filme, Bilder und Plastiken der Expressionisten wurden vermehrt in musealen Sammlungen aufgenommen und die Künstler als Lehrende an die Akademien und Kunstgewerbeschulen berufen. 9 1 In Weimar hatte Walter Gropius 1 9 1 9 mit staatlicher Unterstützung das Bauhaus gegründet, in dem er eine Verknüpfung von freier und angewandter Kunst zu einer gemeinsamen, qualitätsbezogenen und zeitgemäßen Arbeit anstrebte, deren oberstes Ziel der Bau war, der alle Künste in sich vereinte. Unter den ersten (Lehr-)Meistern befanden sich Lyonel Feininger, Johannes Itten und Gerhard Mareks. Ihnen folgten bis 1 9 2 2 Georg Muche, Paul Klee, Oskar Schlemmer, Lothar Schreyer und Wassily Kandinsky. 9 3 M i t der breiteren Akzeptanz des Expressionismus mehrten sich bereits zu Beginn der zwanziger Jahre kritische Stimmen, die vor der Umwandlung des einst revolutionären Stils in leicht verdauliche Unterhaltungskost und vor einer allzu raschen Anpassung an den Kunstmarkt warnten. So verkündete Wilhelm Worringer in einem Vortrag über künstlerische Zeitfragen 1 9 2 0 die Krise und das vermeint-

Der Siegeszug des Eipressionismus . 2 3

liehe Ende des Expressionismus. Z w a r erkannte er ihn als eine zeitliche Notwendigkeit an, sein revolutionärer Aufschrei sei jedoch ohne adäquates Echo geblieben und nun, von seinen Idealen befreit, zu bloßem Kunstgewerbe verfallen. 94 Schon ein J a h r zuvor hatte der Kunsthistoriker die Frage aufgeworfen, ob der Expressionismus nicht in eine Sackgasse geraten sei. 95 Schließlich proklamierte er inspiriert durch Oswald Spenglers UNTERGANG DES ABENDLANDES - nicht nur den Tod des Expressionismus, sondern den der bildenden Kunst an sich. Auch Wilhelm Hausenstein veröffentlichte 1 9 2 0 seine Abrechnung mit der expressionistischen Bewegung, indem er die Abkehr vom »Geist« und die Rückkehr zur »Natur« - also von der Abstraktion zur Gegenständlichkeit - propagierte. 96 Ähnliches hörte man 1 9 2 0 von Gustav Hartlaub, der davon ausging, dass vor allem die breite Nachahmung des expressionistischen Stils durch Künstler minderen Talents die Strömung in eine akute Krise geführt habe, aus der es nur einen Ausweg durch eine neue Annäherung an die sachliche Wirklichkeit, an den Gegenstand, gebe. 97 Z w a r teilten nur wenige die Meinung, dass der Expressionismus sich überlebt habe, doch waren sich die Kritiker einig, dass es an der Zeit sei, die Kunstrichtung und ihre weltanschaulichen Ansichten einer gründlichen Revision zu unterziehen. 98 Allerdings bedeutete die Kontroverse um das vermeintliche Ende des Expressionismus nicht, dass auch die Diskussion um das Wesen der Strömung - Kunststil oder Lebenshaltung, internationale Bewegung oder deutscher Nationalstil - beendet war. Wie Winkler darlegt, beherrschten die konkurrierenden Haltungen die Diskussionen bis in die zweite Hälfte der zwanziger Jahre, obwohl die inhaltlichen Positionen bereits vor 1 9 1 4 formuliert worden waren. 9 9 Obwohl im Laufe der zwanziger Jahre neue Strömungen wie Dada, Surrealismus, die Neue Sachlichkeit oder die abstrakte Kunst auftraten und sich ihren Platz in der Kunstszene eroberten, blieb die Auseinandersetzung um den Expressionismus während der gesamten Weimarer Republik ein zentrales Thema der Geistes- und Kunstgeschichte. Dies mag damit zusammenhängen, dass der Expressionismus von führenden Museumsleuten und Kulturpolitikern der Weimarer Zeit als Symbol eines neuen, demokratischen Deutschlands verstanden wurde. 1 0 0 Die Künstler des Expressionismus, insbesondere die Vertreter der BRÜCKE und des BLAUEN REITERS, nahmen sowohl in der außen- als auch in der innenpolitischen Repräsentation des neuen deutschen demokratischen Staates einen zentralen Platz ein. So vertraten expressionistische Künstler Deutschland mehrfach auf den Biennalen in Venedig ( 1 9 2 2 , 1 9 2 8 und 1 9 3 2 ) oder auf anderen repräsentativen Ausstellungen deutscher Malerei und Plastik im Ausland. 1 0 1 Innenpolitisch zog der 1 9 1 9 in das neu geschaffene Amt des Reichskunstwartes berufene Edwin Redslob gezielt moderne Künstler zur »künstlerischen Formgebung des Reiches« heran. 1 0 1 Auf der anderen Seite ist zu konstatieren, dass der Expressionismus trotz der öffent-

2 4 _ Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlich en S a m m t u n g e n vor dem Zweiten Weltkrieg

liehen Förderung, die er erfuhr, im Bewusstsein der Bevölkerung bis dahin nicht angekommen war. 1 0 3 Als Vertreter und Kritiker des Expressionismus diesen bereits hinter sich ließen, hatte er das breite Publikum noch gar nicht erreicht. Dies ist bei der Untersuchung der Ankaufs- und Ausstellungspolitik der Museen sicher zu beachten und erklärt möglicherweise, dass in den zwanziger Jahren vor allem der Vorkriegsexpressionismus, der sich mittlerweile eine größere Öffentlichkeit verschafft hatte, Eingang in die Museen fand, wohingegen neuere Tendenzen, wie die abstrakte Kunst, Dada, der Konstruktivismus, die Neue Sachlichkeit, aber vor allem auch die politisch engagierten Arbeiten der zweiten Expressionisten-Generation nur vereinzelt für öffentliche Sammlungen angekauft wurden.

M U S E E N M O D E R N E R KUNST IN DER W E I M A R E R REPUBLIK

Auch wenn es bereits vor dem Fall des Kaiserreiches ambitionierte Museumsdirektoren gegeben hatte, die expressionistische Arbeiten für ihre Sammlungen ankauften, begann die eigentliche Integration der modernen und vor allem der expressionistischen Kunst in die Museen erst mit dem Beginn der Weimarer Republik. Z u diesem Zeitpunkt waren der Expressionismus und seine Protagonisten endgültig gesellschafts- und museumsfähig geworden: Expressionistische Künstler wurden als Lehrer an den Akademien und Kunstgewerbeschulen eingesetzt und ihre Bilder und Plastiken zogen vermehrt in die öffentlichen Kollektionen ein. 1 0 4 Vorreiter waren weiterhin die Institutionen, die sich schon im Kaiserreich für die moderne Kunst engagiert hatten, doch auch andere Museen zogen nach - am entschiedensten die Nationalgalerie in Berlin, die zuvor durch die »Vormundschaft des Kaisers« nahezu keine zeitgenössischen Kunstwerke hatte erwerben können. Im Frankfurter Stadel setzte Georg Swarzenski neue Akzente. In Mannheim öffneten Fritz Wiehert und sein Nachfolger Gustav Hartlaub die Sammlung weiter für die zeitgenössische Kunst. 1 0 5 Ebenso taten dies Alexander Dorner in Hannover und Gustav Pauli in Hamburg. 1 0 6 In Essen hatte sich das Städtische Kunstmuseum durch den Erwerb der Hagener Sammlung von Karl-Ernst Osthaus ( 1 9 2 2 ) und die kluge Akquisitions- und Ausstellungspolitik von Ernst Gosebruch zu einer der anerkanntesten Sammlungen moderner Kunst entwickelt. 1 0 7 Doch obgleich einige Museumsdirektoren ihre Kollektionen für die Gegenwartskunst öffneten, blieb die Herausstellung von dieser in einer separaten Abteilung, wie es bei der Nationalgalerie im Kronprinzenpalais der Fall sein sollte, eine Ausnahme. In den meisten Häusern wurde die zeitgenössische Kunst in die bestehenden Sammlungen kunsthandwerklicher, ethnographischer Exponate oder älterer bildender Kunst integriert. So kombinierte beispielsweise Gosebruch in Essen die Zeugnisse fremder Kulturen mit europäischen Kunst-

M u s e e n m o d e r n e r K u n s t ¡n der Weimarer R e p u b l i k . 2 5

werken aller Epochen, um so neue Bedeutungszusammenhänge herzustellen. Gosebruch präsentierte seine Bestände ebenso wie Max Sauerlandt in Halle und später in Hamburg nach systematisch-psychologischen Kriterien ohne strenge historische Ordnung, im Bestreben die kunstwissenschaftlichen Erkenntnisse mit den Zielen der Volksbildungsbewegung zu verknüpfen. Über die Betonung der Psychologie des Sehens sollte ein unmittelbarer, bildungsunabhängiger Zugriff auf die Kunst erreicht werden. 108 Dagegen verfolgte Alexander Dorner bei seiner Neueinrichtung des Provinzialmuseums in Hannover zwischen 192.3 und 1925 eine chronologische Hängung, deren Spannweite von der frühmittelalterlichen Kunst bis zur Moderne reichte, letztere vertreten durch expressionistische und abstrakte Tendenzen.109 Auch in Städten wie Erfurt, Weimar oder Halle setzten sich die Museumsleiter für die Förderung der zeitgenössischen Kunst ein. Im Angermuseum in Erfurt hatte Edwin Redslob 1 9 1 2 begonnen, das Haus für die Moderne zu öffnen. Seinem Nachfolger Walter Kaesbach, der kurz vor seinem Wechsel nach Erfurt maßgeblich an der ersten Einrichtung der modernen Abteilung der Nationalgalerie im Kronprinzenpalais beteiligt gewesen war, gelang es zwischen 1920 und 1925 die moderne Sammlung mit Werken von Nauen, Rohlfs, Nolde, Heckel, Mueller, SchmidtRottluff, Pechstein und anderen Künstlern zu erweitern. Den Schwerpunkt legte er dabei auf Aquarelle und Handzeichnungen. Möglich wurden diese Ankäufe durch die Unterstützung des Schuhfabrikanten Alfred Hess. Dieser griff der Galerie nicht nur als Geldgeber unter die Arme, sondern überließ dem Museum auch Werke aus seiner eigenen Sammlung als Leihgaben. 110 Zudem hatte er 1 9 2 2 die Ausmalung eines Erdgeschossraums des Museums durch Erich Heckel

finanziert

(Abb.}).111

Etwa zur gleichen Zeit, 1 9 2 3 , hatte Kaesbach Lyonel Feininger überzeugt, sich in Erfurt künstlerisch zu betätigen und ihm einen Arbeitsraum im Museum zur Verfügung gestellt. Auch Christian Rohlfs schuf auf Kaesbachs Anregung 1924 die Ansichten der Dom-Severi-Gruppe. 112 Zudem stellte Kaesbach in enger Zusammenarbeit mit dem angrenzenden städtischen Kunstverein viele der in der Sammlung vertretenen Künstler in temporären Ausstellungen vor. So waren in seiner Amtszeit Werke von Barlach, Crodel, Dix, Feininger, Klee, Kokoschka, Mareks, Moll, Nolde und Rohlfs zu sehen. Zudem sprachen namhafte Wissenschaftler, wie Richard Hamann, Adolph Goldschmidt, Wilhelm Pinder, Max Sauerlandt und Wilhelm Worringer in zahlreichen Veranstaltungen über alte und neue Kunst. Gleichermaßen trieb er die Neugestaltung der Gemäldegalerie und der Mittelalterhalle voran. 1 1 ' Nach Kaesbachs Berufung zum Direktor der Düsseldorfer Kunstakademie übernahm Herbert Kunze 1 9 2 5 die Leitung des Angermuseums, der die Sammlung im Sinne seiner Vorgänger weiterführte (Abb. 4). Im nahe gelegenen Weimar widmete sich Wilhelm Köhler seit 1 9 1 8 der Reorganisation und Neuordnung der Kunstsammlungen. Hatte Köhlers Vorgänger

2 6 _ Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen S a m m l u n g e n v o r dem Zweiten Weltkrieg

3

E r i c h H e c k e l . L E B E N S S T U F E N , hier: DAS LEBEN DES MANNES

(Südwand),

Seccomalerei, 1 9 1 2 - 1 9 x 4 , E r f u r t , A n g e r m u s e u m

Harry Graf Kessler diese bereits für den französischen und deutschen Impressionismus geöffnet, erweiterte Köhler die Weimarer Bestände um aktuelle Tendenzen, indem er sein Augenmerk besonders auf die Künstler des seit 1 9 1 9 in Weimar ansässigen Staatlichen Bauhauses richtete. In der von ihm eingerichteten Abteilung »Kunst der Lebenden«, die er im November 1 9 2 3 in acht Räumen des Weimarer Residenzschlosses eröffnete, waren neben vereinzelten Neuerwerbungen, einem großen Konvolut von Dauerleihgaben aus der Sammlung des Bauhaus-Schülers Paul Citroen mit Werken von Wassily Kandinsky, Jean Metzinger, Albert Gleizes und der italienischen Futuristen, vor allem Paul Klee und Lyonel Feininger mit etwa dreißig Arbeiten vertreten. 1 ' 4 Im August des gleichen Jahres fand in Weimar die große Bauhaus-Ausstellung statt, für die Köhler Räume im Landesmuseum zur Verfügung stellte. 1 ' 5 Diese nutzte Köhler seit seinem Amtsantritt 1 9 1 8 überdies für andere temporäre Projekte. So zeigte er 1 9 1 9 eine Ausstellung mit den Weimarer Künstlern Molzahn, Hermann und Röhl, Arbeiten von Feininger und eine Gemeinschaftsschau mit Vertretern des deutschen Expressionismus. Es folgten Präsen-

Museen moderner Kunst in der Weimarer Republik _ 2 7

4

U n b e k a n n t e r F o t o g r a f . A b t e i l u n g m o d e r n e r K u n s t im A n g e r m u s e u m in E r f u r t , um 1 9 3 0 , Erfurt, Archiv Angermuseum

tationen von Morgner, Röhl, Campendonk, Jawlensky und Dexel. Die von ihm veranstaltete Retrospektive der Arbeiten Theo van Doesburgs (192.3/192.4) und die Präsentation der Sammlung Wilhelm Kielmansegg im Jahr 1 9 2 4 , die Werke von Moholy-Nagy, Lissitzky, Mondrian und Doesburg enthielt, zeigen, dass Köhler schon früh für die abstrakt-geometrische Kunst eintrat. Ab Mitte der zwanziger Jahre verfehlten die Folgen der wirtschaftlichen Depression und die Angriffe konservativ-nationalistischer Kräfte auf das Bauhaus nicht ihre Wirkung auf die Ausstellungs- und Erwerbungspolitik der Weimarer Kunstsammlungen. Nur noch selten gelangen Köhler Ankäufe moderner Kunst. 1 1 6 Ingesamt passte sich Köhler seit dem Umzug des Bauhauses nach Dessau und den damit zusammenhängenden Streitigkeiten dem Geschmack des konservativen Weimarer Publikums a n . 1 1 7 In Halle hatte M a x Sauerlandt bereits vor dem Ersten Weltkrieg den Grundstein für eine moderne Abteilung am Städtischen Museum gelegt. Bei seinen Erwerbungen konzentrierte er sich auf wenige deutsche Künstler. Diese unterstützte er zusätzlich durch Publikationen sowie durch die Vermittlung von Aufträgen und Ankäufen. Auch nach seiner Berufung an das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe 1 9 1 9 setzte er sich weiterhin für den Ausbau der zeitgenössischen Sammlung in Halle e i n . " 8 So vermittelte Sauerlandt 1 9 1 4 den Kauf von 2.4 expressionistischen Gemälden aus dem Besitz von Ludwig und Rosy Fischer an das Hallenser M u s e u m . " 9 Nahezu zeitgleich erwarb er im Auftrag der Stadt Halle elf Gemälde

2 8 . Z e i l g e n ö s s i s c h e K u n s t in ö f f e n t l i c h e n S a m m l u n g e n v o r d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g

5

U n b e k a n n t e r F o t o g r a f . Abteilung moderner Kunst im M o r i t z b u r g m u s e u m in H a l l e , um 1 9 3 0

( R a u m mit G e m ä l d e n von Ernst L u d w i g Kirchner und E d w a r d M u n c h ) , Halle, Bildarchiv der Stiftung M o r i t z b u r g , K u n s t m u s e u m des Landes Sachsen-Anhalt

und Aquarelle von Nolde, Munch, Modersohn-Becker, Heckel, Kirchner und Schmidt-Rottluff, die er zusammen mit den Fischer-Bildern in die moderne Abteilung integrierte. Die Neueinrichtung der Sammlung wurde am 1 . Februar 1 9 2 5 eröffnet. 1 1 0 Erst mit der Berufung von Alois Schardt 1926 verlor Sauerlandt seinen unmittelbaren Einfluss auf die Sammlungspolitik des Museums. Schardt setzte neue Akzente: Einzug erhielten nun der BLAUE REITER und Bauhaus-Künstler - wobei Schardt vor allem Aquarelle von Klee, Kandinsky und Feininger ankaufte. Hinzu kamen einzelne Arbeiten von Kollwitz, Modersohn-Becker und Mareks sowie ganze Werkgruppen von Marc, Reichel und Lissitzky. Vorhandene Stücke, die ihm qualitativ minderwertig oder nicht ins Profil zu passen schienen, tauschte er gegen andere aus. Um dem Besucher einen möglichst umfassenden Einblick in das künstlerische Schaffen der Zeit zu ermöglichen, setzte Schardt zudem auf die Integration von Leihgaben (Abb. In Dresden hatte 1 9 1 0 der junge Kunsthistoriker Hans Posse die Nachfolge von Karl Woermann als Leiter der Staatlichen Gemäldegalerie angetreten. Neben der Neuordnung der Sammlung gehörte zu seinen Aufgaben auch der Aufbau einer Galerie der Moderne. Doch ähnlich wie Justi in Berlin hatte Posse mit der Einfluss-

Museen moderner Kunst in der Weimarer Republik _ 29

nähme einer A n k a u f s k o m m i s s i o n zu k ä m p f e n . Erst nach 1 9 1 8 f a n d er einen Weg, Restriktionen bei den Erwerbungen zu umgehen und trotz

finanzieller

Engpässe

eine moderne Abteilung aufzubauen. A u c h hier erhielten vor allem K o k o s c h k a , die BRÜCKE-Künstler, Feininger, Klee, Hofer, M u n c h , Chagall, Felixmüller, D i x , Otto G u s s m a n n , Otto Lange, Kanoldt, Beckmann, M a r c , M a c k e , C a m p e n d o n k , J a w l e n s k y , K a n d i n s k y und Schlemmer Eingang in die Galerie. In der Skulpturensammlung fanden Plastiken von Barlach, L e h m b r u c k , Hoetger, Haller, de Fiori und M a r e k s Platz. 1 2 2 Finanzielle Unterstützung k a m v o m 1 9 1 7 gegründeten VEREIN DER DRESDNER GALERIEFREUNDE, dem späteren Patronatsverein. Dieser hatte sich dazu verpflichtet, »Werke der jungen, noch umstrittenen Kunst der G e g e n w a r t rechtzeitig zu e r w e r b e n . « 1 2 3 Diese wurden der Galerie zunächst f ü r zehn J a h r e als Leihgabe zur Verfügung gestellt, erst dann sollten sie als Schenkung endgültig in den Besitz der Sammlung übergehen. Auf diese Weise k a m 1 9 2 8 etwa das provokante G e m ä l d e DER SCHÜTZENGRABEN ( 1 9 2 3 ) von Otto D i x an die Gemäldegalerie. 1 2 4 A u c h das Kupferstichkabinett k a u f t e seit 1 9 2 3 verstärkt Werke zeitgenössischer und eng mit Dresden verbundener Künstler an, vor allem von den Mitgliedern der BRÜCKE, D i x , G r o s z und Felixmüller. Neben den Dresdner Kunstsammlungen unterstützte der Patronatsverein gleichzeitig das Dresdner

Stadt-

museum. D o r t w a r kurz nach dem Ende des Krieges Paul Ferdinand Schmidt zum Direktor berufen w o r d e n , der zwischen 1 9 1 9 und 1 9 2 4 vor allem Arbeiten der DRESDNER GRUPPE 1 9 1 9 und anderer sozial engagierter Künstlern a n k a u f t e . 1 2 5 Doch Schmidts Vorhaben, »eine Sammlung Dresdner Kunst v o m 1 8 . Jahrhundert bis zur G e g e n w a r t in typischer Gestalt zu s c h a f f e n « , w u r d e von städtischer Seite schnell unterbunden - 1 9 2 4 versetzte man ihn in den vorläufigen R u h e s t a n d . 1 2 6 Sein N a c h f o l g e r Karl Großmann vereinigte Schmidts A n k ä u f e der »gegenwartsnahen, jungen K r ä f t e « nach Aussage von Fritz Löffler 1 9 2 4 in einem separaten R a u m und schloss seine Führungen mit der Besichtigung dieser von ihm so bezeichneten »Schreckenskammer« a b . 1 2 7 A b e r auch nach 1 9 2 5 propagierte man in Dresden die Kunst der M o d e r n e - zumindest in der Gemäldegalerie. Eines der wichtigsten Ereignisse w a r in diesem Z u s a m m e n h a n g die 1 9 2 6 von Posse organisierte INTERNATIONALE KUNSTAUSSTELLUNG, auf der neben Arbeiten von Liebermann, Corinth, M u n c h , van G o g h und Picasso vor allem G e m ä l d e der BRÜCKE, des BLAUEN REITERS und K o k o s c h k a s zu sehen w a r e n , von denen Posse einige Werke f ü r die Dresdner Sammlung e r w a r b . 1 2 8 Im nahen Chemnitz sammelte Friedrich Schreiber-Weigand fast ausschließlich Arbeiten der BRÜCKE-Künstler. Einen besonderen Schwerpunkt legte er auf das Schaffen des aus der R e g i o n stammenden K a r l Schmidt-Rottluff. 1 2 9 Insgesamt sah Schreiber-Weigand acht R ä u m e im Obergeschoss des Chemnitzer M u s e u m s f ü r die Gegenwartskunst vor. Diese w a r e n nach einem Entwurf von Schmidt-Rottluff

30

6

Z e i t g e n ö s s i s c h e K u n s t in ö f f e n t l i c h e n S a m m l u n g e n v o r d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g

Lászió Tôt h. Galerie K u n s t der G e g e n w a r t der Städtischen Kunstsammlungen Chemnitz, um 1 9 2 8

( R a u m mit Arbeiten v o n K a r l S c h m i d t - R o t t l u f f , R i c h a r d Schcibe, Wilhelm L e h m b r u c k und E d w a r d M u n c h )

farbig gestaltet. Je ein Raum beherbergte Kunstwerke von Barlach und Kirchner, zwei Räume waren Schmidt-Rottluff gewidmet. In den übrigen Sälen befanden sich, laut Schreiber-Weigand, »charakteristische Werke der gleichartig Schaffenden« (Abb.

Schreiber-Weigand arbeitete seit 1 9 1 1 als ehrenamtlicher Ausstellungs-

leiter des Τ860 gegründeten Chemnitzer Kunstvereins

KUNSTHÜTTE

und hatte im

April 1 9 2 0 zusätzlich die Direktion der neu geschaffenen Städtischen Kunstsammlungen übernommen. Wie viele seiner Kollegen kämpfte er mit Angriffen auf seine Sammlungspolitik

von Seiten konservativer Kräfte der kommunalen

Politik.

Augenscheinlich wurde dies nicht zuletzt im Zuge der Übernahme der Mannheimer Ausstellung

NEUE

SACHLICHKEIT

1 9 2 6 . Mit Rücksichtnahme auf die politischen

Verhältnisse bat Schreiber-Weigand Gustav Hartlaub um die Änderung einiger Passagen in seinem Katalogvorwort: »Da man in den Angriffen auf unsere Sammlungstätigkeit den Kampf auf das politische Gebiet geschoben und von Bolschewismus in der Kunst< gesprochen hatte, wäre es mir sehr lieb, wenn man im dritten Abschnitt einige Wendungen anders ausdrücken könnte. [...] Sie wissen ja selbst, wie sich jetzt alles auf

M u s e e n m o d e r n e r K u n s t in d e r W e i m a r e r

Republik.31

die politische W a f f e stützt und alles umbringen möchte, w a s ihm nicht in den K r a m paßt. Dazu gehört natürlich auch der Expressionismus, insbesondere hier meine A n k ä u f e von Bildern von Schmidt-Rottluff, Kirchner und Heckel.«

131

M i t solchen Problemen w a r die Universitätsstadt J e n a zunächst nicht konfrontiert. Seit der Berufung des Kunsthistorikers und Malers Walter Dexel

1916

zeigte der städtische Kunstverein ein innovatives Programm mit Arbeiten von C a m p e n d o n k , Crodel, D i x , Feininger, Grosz, Heckel, Hofer, Jawlensky, Kandinsky, Kirchner, Klee, Kollwitz, R o h l f s , Schlemmer, Schmidt-Rottluff, Lehmbruck und M a r e k s , wobei Dexels Interesse ab 1 9 1 9 vor allem den Künstlern des nahe gelegenen Bauhauses galt. Z u d e m stellte er in Gruppenausstellungen die STURM-Künstler ( 1 9 2 4 ) , die Konstruktivisten ( 1 9 2 3 ) und die M a l e r der NEUEN SACHLICHKEIT ( 1 9 2 6 ) vor und thematisierte in Querschnittsausstellungen die künstlerische Gestaltung des Lebensraumes durch Baukunst, Reklame und F o t o g r a f i e . " 2 Dem Schwerpunkt seiner temporären Präsentationen entsprechend verfolgte Dexel außerdem den A u f b a u einer kunstvereinseigenen Sammlung, die er bereits 1 9 1 4 , also noch vor seiner offiziellen Amtsübernahme, eröffnet hatte und bis Ende der zwanziger Jahre stetig erweiterte. 1 3 3 Das Ausstellungsprogramm des Kunstvereins wurde von zahlreichen Vorträgen und literarisch-musikalischen Veranstaltungen, wie Vorleseabenden expressionistischer Dichtungen oder Dada-Abenden, begleitet.' 3 4 Dieser spartenübergreifende Ansatz w a r auch in anderen Museen üblich. Das Interesse der Museumsdirektoren, die sich während der Weimarer Republik in den Dienst der Moderne stellten, beschränkte sich nicht d a r a u f , Werke zeitgenössischer Kunst anzukaufen oder Künstler, wie in Erfurt, Essen oder Hannover, mit der Gestaltung von Museumsräumen zu beauftragen. 1 3 5 Zusätzlich versuchten sie, in Form von Vorträgen, Konzerten, Theateraufführungen oder innovativen Ausstellungsprojekten die Verbreitung von und das Verständnis f ü r zeitgenössische Kunst und Kultur zu fördern. In den Museen selbst bemühten sie sich, anstelle einer starren Bildungsinhalte verkörpernden Anordnung nach Chronologie und Schulzusammenhängen variable Systeme der Sammlungsgliederung und -Präsentation zu etablieren, die unterschiedlichste Zugangsweisen zur Kunst ermöglichen sollten. 1 3 6 Der Einsatz der Museumsfachleute für die zeitgenössische M o d e r n e w a r nicht unproblematisch, da er bei den Kulturverwaltungen und der Bevölkerung oft auf Unverständnis stieß und kontroverse Diskussionen in der Presse hervorrief. Auch unter den einzelnen Museumsdirektoren stritt man über klare Richtlinien und Auswahlkriterien für A n k ä u f e zeitgenössischer Kunst. Immer wieder betonten sie die Notwendigkeit, Werke von »höchster Qualität« zu erwerben - präzise ästhetische Grundsätze oder klare stilistische Kriterien wurden jedoch nicht aufgestellt.

52.Zeitgenössische

K u n s t in ö f f e n t l i c h e n S a m m l u n g e n v o r d e m Z w e i t e n

Weltkrieg

Auffällig ist, dass vor allem Werke expressionistischer Künstler Einzug in die öffentlichen Sammlungen erhielten. Dabei handelte es sich vor allem um Arbeiten der ersten Expressionisten-Generation. Z u nennen sind hier die Maler der BRÜCKE und des BLAUEN REITERS, ebenso wie Munch, Corinth, Beckmann, Kokoschka und Feininger. Politisch engagierte und sozialkritische Kunst fand dagegen nur in geringem M a ß e Eingang in öffentliche Einrichtungen. Wie Vernon Lidtke schreibt, hielten es viele Museumsdirektoren nicht für ratsam, sich öffentlich an Parteipolitik zu beteiligen, und vertraten darüber hinaus die Ansicht, dass Kunst und Politik zwei verschiedenen Welten angehörten. Viele Kunsthistoriker äußerten starke Bedenken, politische Kunst zu erwerben oder auszustellen, selbst wenn diese, ihrer Meinung nach, von unzweifelhaftem ästhetischen Wert w a r und sie privat Kontakte zu Künstlern mit künstlerisch und politisch radikalen Ansichten pflegten. 1 3 7 Trotz der politischen Zurückhaltung der meisten Museumsdirektoren erwarben dennoch einige deutsche Institutionen eine nicht unerhebliche Z a h l von sozialkritischen Arbeiten, allerdings eher Grafiken als Gemälde oder Plastiken. So besaß das Dresdner Stadtmuseum eine bedeutende Sammlung mit Werken von Grosz und D i x . 1 3 8 In Mannheim erstand Gustav Hartlaub GROSSSTADT ( 1 9 1 6 / 1 9 1 7 ) von Grosz. Auch im Schlesischen Museum in Breslau wurden viele der sozialkritischen Grafiken von Grosz und D i x unter der Leitung von Heinz Braune ( 1 9 1 9 - 1 9 2 9 ) und seinem unmittelbaren Nachfolger Erich Wiese angekauft. Trotzdem fanden sozialkritische Strömungen, genauso wie Dada, die Neue Sachlichkeit, das Bauhaus - mit Ausnahme von Feininger und Klee - oder die konstruktivistischen, abstrakten Richtungen nicht die gleiche Akzeptanz wie der deutsche Expressionismus. Ausnahmen waren Gustav Hartlaub aus der Kunsthalle in Mannheim, der seit seiner 19Z5 veranstalteten Schau NEUE SACHLICHKEIT vermehrt Vertreter dieser Kunstrichtung erwarb und Alexander Dorner im Provinzialmuseum in Hannover, der sich in seiner Ankaufspolitik vor allem auf die konstruktivistischen und abstrakten Strömungen der zwanziger Jahre konzentrierte. Warum die Präferenz auf dem Expressionismus lag, ist heute umstritten. Lidtke sieht zum einen dessen Dominanz in der seit Anfang der zwanziger Jahre wachsenden Akzeptanz des Expressionismus in der deutschen Bevölkerung begründet, zum anderen darin, dass die Museumsleiter den Expressionismus im Gegensatz etwa zum Konstruktivismus als etwas ausdrücklich Deutsches ansahen. 1 3 9 Kurt Winkler erklärt dagegen die Vorliebe für die expressiven Strömungen in den deutschen Sammlungen der zwanziger und frühen dreißiger Jahren mit einer konservativen Grundhaltung, welche die kulturpolitische und intellektuelle Situation von 1 9 1 9 bis 1 9 3 3 prägte und die Elemente des expressionistischen Zeitgeistes der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre angesichts der Instabilität neu belebten. 1 4 0 Wahrscheinlich spielen alle Argumente bei der Frage nach dem verhältnismäßig hohen Anteil von Werken des Expressionismus in den

Die Nationalgalerie: Eine »vaterländische 6alerie von Werken neuerer Künstler« . 5 3

M u s e e n eine Rolle. Jedoch mögen die relativ breite A k z e p t a n z dieser Kunstrichtung, seine Etablierung auf dem K u n s t m a r k t und bei Sammlern und schließlich seine Reputation als genuin deutsche Kunst die ausschlaggebenden Faktoren für seine Integration in die Bestände der deutschen M u s e e n dargestellt haben.

DIE N A T I O N A L G A L E R I E : EINE » V A T E R L Ä N D I S C H E GALERIE V O N WERKEN NEUERER KÜNSTLER«

Die moderne Abteilung der Nationalgalerie in Berlin vollzog eine ähnliche Entw i c k l u n g wie die übrigen musealen Sammlungen moderner Kunst während der Weimarer Republik. Allerdings hatte die Einflussnahme Wilhelms II. auf die A n kaufspolitik zunächst die Integration neuerer Kunstrichtungen verhindert. Erst mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und der A b d a n k u n g Wilhelms II. sollten die Restriktionen, die durch den G e s c h m a c k des Kaisers und dessen A u f f a s s u n g v o n der Funktion und Gestaltung einer nationalen Gemäldegalerie

zeitgenössischer

K u n s t bestimmt gewesen w a r e n , allmählich verschwinden. D o c h wie w a r es überhaupt zur G r ü n d u n g der Nationalgalerie g e k o m m e n ? W i e bereits erwähnt, machten der erstandene Nationalismus und die bürgerliche Emanzipation das 19.Jahrhundert zu einer Z e i t der M u s e u m s g r ü n d u n g e n . Spätestens seit der M i t t e des Jahrhunderts gehörte die Errichtung repräsentativer Museumsbauten

in den großen Städten zu den etablierten öffentlichen

Bau-

a u f g a b e n - gleich, o b die Initiative v o n den Landesherren, den K o m m u n e n oder den bürgerlichen Kunstvereinen ausging. In kurzer Folge entstanden in M ü n c h e n die G l y p t o t h e k (1820) und die Pinakothek (1836), in Karlsruhe die Kunsthalle (1846), in Dresden die Gemäldegalerie ( 1 8 5 5 ) , in K ö l n das Walraff-RichartzM u s e u m ( 1 8 6 1 ) und in H a m b u r g die Kunsthalle (1869). A u c h in Berlin g a b es bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Pläne für einen M u s e u m s b a u , die 1 8 3 0 mit der E r ö f f n u n g des Alten M u s e u m s realisiert w u r d e n . 1 4 1 In ihm fand die königliche Sammlung antiker Skulpturen und Gemälde ihren Platz. Für die prähistorische und die ägyptische Kollektion, die Gipsabgüsse, das Kupferstichkabinett und die K u n s t k a m m e r baute m a n nach Plänen v o n Friedrich A u g u s t Stüler das N e u e M u s e u m , das 1 8 5 5 seine Pforten öffnete. E t w a zur gleichen Zeit w a r v o n Seiten der A k a d e m i e n , Künstler und anderer kunstinteressierter Kreise der Ruf nach einer nationalen deutschen Galerie laut g e w o r d e n , deren S c h w e r p u n k t auf der Kunst der G e g e n w a r t liegen sollte - eine Idee, die v o n Wilhelm I. aufgegriffen w u r d e . ' 4 2 Anders als die Sammlungen des Alten und N e u e n M u s e u m s basierten die Bestände der Nationalgalerie nicht auf der königlichen Sammlung. Vielmehr entwickelten sich die Idee und der G r u n d s t o c k der Nationalgalerie aus einer Sehen-

3 4 _ Z e i t g e n ö s s i s c h e K u n s t in öffentlichen S a m m l u n g e n vor dem Zweiten Weltkrieg

kung des Bankiers und Konsuls Joachim Heinrich Wagener an den preußischen König im J a h r 1 8 5 9 , die insgesamt 262. Werke der deutschen und europäischen M a lerei der ersten Hälfte des 1 9 . Jahrhunderts umfasste. Sie w a r von Wagener mit der Auflage verbunden worden, die Kollektion als Ganzes zu erhalten und sie in geeigneten Räumlichkeiten der Öffentlichkeit zu präsentieren. 1 4 3 Die Annahme der Schenkung durch den Kaiser erfolgte nach dem Tod Wageners im Jahr 1 8 6 1 . Mit ihr sollte, nach Worten Wilhelms I., »der Grund zu einer vaterländischen Galerie von Werken neuerer Künstler gelegt« werden. 1 4 4 Zusammen mit einigen Kunstwerken aus dem Besitz des preußischen Königshauses wurde die Wagenersche Sammlung bis zur Fertigstellung eines für die Werke bestimmten eigenständigen Gebäudes in der Königlichen Akademie der Künste ausgestellt. 145 Die Grundsteinlegung für ein eigenes Haus erfolgte 1 8 6 6 auf der Museumsinsel. Nach Plänen von Friedrich August Stüler entstand dort ein Museumsbau, der am Geburtstag Wilhelms I., dem z 2 . M ä r z 1 8 7 6 , offiziell eröffnet wurde. Sowohl die architektonische Struktur des Gebäudes in Form eines »antiken Ruhmestempel« als auch die Inschrift am Giebel »Der deutschen Kunst M D C C C L X X I « verdeutlichten, dass das Museum die Nation repräsentieren sollte. Die Nationalgalerie, wie auch die übrigen auf der Museumsinsel gelegenen Institutionen, dienten nicht nur der Bewahrung und Ausstellung von Kunstwerken, sondern waren gleichsam eine zentrale Institution der preußischen Kulturpolitik. 1 4 6 Für die Eröffnung w a r die Wagenersche Stiftung um vorbereitende Zeichenkartons von Peter Cornelius und um monumentale Schlachtenbilder ergänzt worden. 1 4 7 Auch eine Portraitgalerie historischer Persönlichkeiten sollte entstehen. Im Vordergrund stand weniger der künstlerische als vielmehr der repräsentative, staatspolitisch propagandistische Charakter der Nationalgalerie und ihrer Kunstwerke. M i t der Berufung von M a x Jordan zum neuen und ersten wissenschaftlichen Leiter der Sammlung trat im Juli 1 8 7 4 eine leichte Akzentverschiebung ein. 1 4 8 Der Kunsthistoriker erweiterte die bestehende Sammlung um Werke nichtakademischer, jüngerer Künstler, wie Carl Blechen, Arnold Böcklin, Anselm Feuerbach, Adolf Menzel, Wilhelm von Uhde, M a x Liebermann und der Bildhauer Johann Gottfried Schadow und Christian Daniel Rauch. Doch machte der Einfluss der Landeskunstkommission, mit der über jeden Ankauf verhandelt werden musste, einen uneingeschränkten, ausgewogenen A u f b a u der Sammlung unmöglich. 1 4 9 Insbesondere im repräsentativen ersten Geschoss dominierten Historienbilder mit den Darstellungen der letzten Kriege Preußens, was der Nationalgalerie weiterhin den Charakter einer »Ruhmeshalle preußisch-deutscher Geschichte« verlieh. 1 5 0 Bereits 1 8 9 5 ließ sich Jordan resigniert frühzeitig pensionieren. 1 5 1 Als sein Nachfolger wurde der 44jährige Hugo von Tschudi berufen. Seine Amtszeit steht für grundlegende Reformen in der Ausstellungskonzeption der N a -

Die N a t i o n a l g a l e r i e : Eine » v a t e r l ä n d i s c h e Galerie von W e r k e n neuerer K ü n s t l e r «

tionalgalerie zugunsten eines ästhetischen Qualitätsbegriffs und einer Öffnung gegenüber der internationalen Kunst der Moderne, insbesondere dem französischen Impressionismus. Tschudi hatte sich gleich nach seinem Amtsantritt im Februar 1 8 9 6 an die Neuordnung der Bestände gemacht: Minderwertiges wurde entfernt, qualitativ hochwertigen Arbeiten gebührender R a u m verschafft und die Kunstwerke grob nach geografischen und chronologischen Prinzipien beziehungsweise thematischen Zusammenhängen geordnet.' 5 2 Neben der Neugestaltung der Sammlung tätigte Tschudi gegen den Widerstand des Kaisers und die Ankaufspolitik der konservativen Landeskunstkommission erste Ankäufe der französischen Impressionisten, die er als grundlegend für das Verständnis der europäischen Malerei der zweiten Hälfte des 1 9 . Jahrhunderts erachtete. 1 5 3 Aber auch wichtige Vertreter der deutschen Kunst, wie Böcklin, Feuerbach, Schwind, Thoma, Leibi und Liebermann fanden Eingang in die Sammlung. Diese Akzentverschiebung brachte ihm immer häufiger die Ablehnung seiner Erwerbungswünsche durch die Landeskunstkommission ein. Die größten Schwierigkeiten schlugen ihm bei seinen Käufen der französischen Impressionisten entgegen, die er zumeist mit Geldern eines privaten Schenkungsfonds

finanzierte.154

Es wurde als Affront angesehen, dass Tschudi für den

»nationalen Tempel deutscher Kunst« Hauptwerke des französischen Impressionismus erwarb. 1 5 5 Nach Tschudis Überzeugung musste die Nationalgalerie zwar ihren Schwerpunkt auf die deutsche Kunst legen, doch sollte die Kunst anderer Länder nicht aus ihr verbannt werden. Vielmehr beabsichtigte er, durch die Präsenz der internationalen Strömungen die Eigenarten der deutschen Kunst herauszustellen.' 56 Ausgehend von dieser Deutung erweiterte Tschudi die Bestände neben seinen Ankäufen der Impressionisten durch belgische, französische, englische und italienische Kunstwerke. Tschudi sah in der Nationalgalerie einen »Musentempel« für eine gebildete bürgerliche Elite und löste sie aus dem vom Kaiser intendierten politischen Funktionszusammenhang. Er grenzte sich mit dieser Auffassung aber auch gegen die Ansätze von Alfred Lichtwark und Woldemar von Seidlitz ab, die das Museum als nationale, schichtenübergreifende Bildungsstätte mit ästhetischer Vorbildfunktion begriffen.' 5 7 So rief Tschudis 1 8 9 7 vorgenommene Umgestaltung zwiespältige Reaktionen hervor: Von manchen Seiten kam begeisterte Zustimmung, von anderen lautstarke Verdammung. Den Vorstellungen des Kaisers entsprach sie jedenfalls nicht. In einem offiziellen Erlass bestimmte er, den früheren Zustand der Nationalgalerie wieder herzustellen. Die ausländischen Kunstwerke sollten an einem weniger prominenten Platz im Museum präsentiert werden und alle Neuerwerbungen, auch die Schenkungen von Privatpersonen, mussten fortan von ihm persönlich genehmigt werden.' 5 8 Tschudi fügte sich, denn er hatte erkannt, dass der Erlass des Kaisers den Bestand der Galerie nicht grundsätzlich in Frage stellte und die Ver-

55

3 6 - Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen Sammlungen vor dem Zweiten Weltkrieg

änderungen innerhalb der Neuaufstellung relativ leicht auszuführen waren, ohne das ausländische Inventar selbst zu gefährden. 1 5 9 Trotz seiner Forderungen konnte der Kaiser nicht verhindern, dass sich die Nationalgalerie spätestens nach dem Ende der JAHRHUNDERTAUSSTELLUNG

1 9 0 6 und der anschließenden Neuordnung

mehr als zuvor als ein Museum der Moderne präsentierte, in dem sowohl die ästhetische Entwicklung der deutschen Kunst bis zur Gegenwart als auch die ausländische Moderne berücksichtigt wurde. 1 6 0 Ein Konflikt mit dem Kaiser w a r vorprogrammiert. Die Spannungen zwischen Wilhelm II. und Hugo von Tschudi hatten sich seit der JAHRHUNDERTAUSSTELLUNG immer weiter verschärft. Sie gipfelten 1 9 0 8 / 1 9 0 9 in der sogenannten TschudiAffäre, die ihn zum Rücktritt und Wechsel an die Bayerischen Zentralgemäldesammlungen in München bewegte. 1 6 1

LUDWIG J U S T I UND DIE N E U E A B T E I L U N G IM KRONPRINZENPALAIS

Tschudis Nachfolge trat noch im selben J a h r Ludwig Justi an, der sich schon durch seine kurze Tätigkeit als Direktor des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt einen Namen gemacht hatte. Ganz unbekannt waren Justi die Berliner Museen nicht. Zwischen 1 9 0 0 und 1 9 0 3 hatte er am Kupferstichkabinett und an der Gemäldegalerie als Volontär gearbeitet, bevor er 1 9 0 4 - nach einem kurzen Intermezzo an der Universität Halle - nach Frankfurt berufen wurde. Bereits 1 9 0 5 zog es ihn zurück nach Berlin, w o er eine Stelle als Erster Ständiger Sekretär an der Berliner Akademie der Künste antrat, bis er schließlich im Dezember 1 9 0 9 die Leitung der Nationalgalerie in Berlin übernahm. In der Forschung wird Justi vor allem mit dem A u f b a u der modernen Abteilung der Nationalgalerie im Kronprinzenpalais verbunden. Jedoch widmete er sich in seiner langen Amtszeit mit gleichem Engagement dem Ausbau der Sammlung des 1 9 . Jahrhunderts, der Modernisierung des Gebäudes auf der Museumsinsel und, während des Ersten Weltkrieges, der Gründung eines Reichskriegsmuseums. Anders als beispielsweise M a x Sauerlandt oder Alexander Dorner, die als Protagonisten eines konkreten geistigen Klimas erscheinen, war Justi nach Worten Winklers weit davon entfernt nur ein »Promoter des Expressionismus« zu sein. 1 6 1 Als erklärter Verächter allen Spezialistentums wandte er seine kunsthistorische Herangehensweise gleichermaßen auf Klee und Feininger wie auf Runge, Dürer oder Giorgione an. Sie basierte auf einer präzisen Interpretation und der Einbindung der Kunstobjekte in formale, historische und geistige Zusammenhänge. Bestimmend für Justis Ansatz war seine Verwurzelung in der Bildungstradition des deutschen Bürgertums. 1 6 3 Seinem Verständnis nach dienten Museen dem Ziel, die Geschichte des menschli-

Ludwig Justî und die neue Abteilung im Kronprinzenpalais _ 37

chen Geistes in der Kunst unmittelbar zur Anschauung zu bringen. Das galt sowohl für ältere als auch für neuere Kunst. Für Justi konnte jedes Werk und jede Epoche für denjenigen zur lebendigen Geistesgeschichte werden, der sich um das »Sehen« bemühte. Doch maß er vor allem der Gegenwartskunst die Kraft bei, den Zeitgeist zum Ausdruck zu bringen, was ihre Integration ins Museum zu einem zentralen Anliegen seiner Tätigkeit machte.

Anders als Hugo von Tschudi, der davon über-

zeugt war, dass die moderne Kunst durch die ungewohnten technischen Mittel nur von einer »kleinen Zahl von seinem Wert Überzeugter« erkannt werde, knüpfte Justi an die museumsreformatorischen Ansätze eines von Seidlitz und Lichtwark an. 1 6 5 Seit ihrer Eröffnung im J a h r 1 8 7 6 hatte die Nationalgalerie mit Platzmangel zu kämpfen, der durch die in der Zwischenzeit getätigten Ankäufe immer erdrückender geworden war. Wie viele zeitgenössische Museen war auch die Nationalgalerie für eine feste Sammlung gebaut worden, deren kontinuierliche Bestandserweiterung nicht vorgesehen war. 1 6 6 In einer Denkschrift mit dem Titel DIE ZUKUNFT DER NATIONAL-GALERIE ( 1 9 1 0 ) thematisierte Justi die Raumnot und warb zugleich für ein neues Konzept, das unter anderem die Reduzierung der Sammlung Wagener und die Ausgliederung bestimmter Abteilungen aus dem Stammhaus vorsah. 1 6 7 Er empfahl die Bildung einer eigenen Portraitsammlung, eine Alternative für die Aufstellung der Historienbilder und den Umbau des Erdgeschosses. Noch im gleichen Jahr erhielt Justi die Zustimmung des Kaisers zur Auslagerung einer Reihe großformatiger Schlachtenbilder, die fortan in der »Ruhmeshalle« des Zeughauses und im Marinemuseum in Wilhelmshaven ausgestellt werden sollten. Auch für die Umgestaltungspläne bekam Justi das Einverständnis Wilhelms II., woraufhin er in einem ersten Schritt veranlasste, die wilhelminische Prachtarchitektur des Innenraumes zugunsten einer neutraleren Gestaltung zurückzunehmen. 1 6 8 Bei der Neuordnung des Bestandes berücksichtigte Justi die durch die JAHRHUNDERTAUSSTELLUNG eingeleitete Neubewertung des 19.Jahrhunderts, die sich in der Hervorhebung der Romantiker, Böcklins, Leibis und Menzels niederschlug. Feuerbach, Böcklin, von Marées und Liebermann richtete er einen eigenen Saal ein. 1 6 9 Als vorerst letzte Neuerung folgte 1 9 1 3 die Einweihung einer nationalen Portraitgalerie in der unweit gelegenen Schinkelschen Bauakademie. 1 7 0 Mit den vorgenommenen Änderungen schuf Justi nicht nur neue Hängefläche und einen verbesserten Rundgang, sondern führte das Museum zugleich aus der Bedeutungskrise, in die es durch den kulturellen Wandlungsprozess im Zuge der Moderne geraten war. Neben Vorschlägen für die räumliche und konzeptuelle Neugestaltung, hatte sich Justi in seiner Denkschrift für die Öffnung der Nationalgalerie gegenüber der Gegenwartskunst stark gemacht. Er regte unter anderem die Möglichkeit einer Sammlung zeitgenössischer ausländischer Kunst an und forderte einen Neubau für ein Museum

3 8 - Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen Sammlungen vor dem Zweiten Weltkrieg

der Kunst des 20. Jahrhunderts. 1 7 1 Anders als Tschudi glaubte Justi, dass die Gegenwartskunst als Ausdrucksträger einer geschichtlichen und geistigen Einheit der Nation fungieren könne. Wie aus seinen Erinnerungen hervorgeht, zählte Justi es zu den Aufgaben einer modernen Galerie Werte und geistige Richtlinien zu etablieren. Das Museum sei eines der wichtigsten Gebiete des Geisteslebens, wodurch ihre Leitung etwas Schöpferisches bekomme: »Die lebendige Kunst, in erster Linie des eigenen Landes, richtig zu erkennen und darzustellen, ist eine hohe nationale Aufgabe, bedeutsamer als das Kaufen alter Kunstwerke, wenn diese auch dem Urteil der Jahrhunderte mehr standhalten mögen als die neuen.« 1 7 2 Durch die von ihm in den ersten Jahren seiner Amtszeit vorangetriebenen Maßnahmen hatte Justi es verstanden, sowohl die Repräsentationspflicht der Nationalgalerie zu erfüllen als auch den Akzent der Sammlung von einer preußisch-dynastischen Orientierung in Richtung eines allgemeinen Kulturpatriotismus zu verschieben. 1 7 3 Hatte Justi zu Beginn des Umbaus 1 9 1 1 noch geglaubt, dass »bis auf weiteres meine Leistung für die moderne Kunst darin bestehen müsse, Minderwertiges abzuwehren, das mir die Landes-Kunst-Kommission aufdrängen wollte«, erreichte er noch im gleichen J a h r durch ein Schreiben an den Ministerialdirektor im Kultusministerium die Auflösung derselben. 1 7 4 Sie hatte bisher unabhängig und oft genug gegen die Meinung des Direktors über Ankäufe entschieden. Von Justi gefordert und vom Kaiser gewährt wurde stattdessen eine siebenköpfige Ankaufskommission, in der die Künstler nur noch mit zwei Stimmen vertreten waren. 1 7 5 Allerdings blieb die 1 8 9 8 unter Tschudi erlassene Kabinettsorder unverändert bestehen

-

weiterhin bedurften alle Erwerbungen der Einwilligung des Kaisers. 1 7 6 Trotzdem konnte Justi mit Slevogts FRANCESCO D'ANDRADE ALS DON GIOVANNI ( 1 9 1 z ) und Kolbes TÄNZERIN ( 1 9 1 1 / 1 9 1 2 ) , die er beide 1 9 1 2 ankaufte, die Galerie vorsichtig für die Gegenwartskunst öffnen. Aber erst der Erste Weltkrieg brachte die lang erhofften Lockerungen. A u f grund des Krieges griff der Kaiser nicht mehr wie gewohnt in die Belange des Museums ein und ließ sich stattdessen von seinem Kultusminister vertreten. Dies erlaubte es, einige Ankäufe ohne kaiserliche Genehmigung zu tätigen. Unter dieser Konstellation gelang es Justi, der trotz Heeresdienst die Interessen der Nationalgalerie weiter im Auge behielt, im Frühjahr 1 9 1 8 einen Saal mit Arbeiten von Liebermann und einen mit Neuankäufen von Lovis Corinth, Curt Hermann, Leo von König, Hans Purrmann und anderen Künstlern einzurichten. Dennoch stellten diese Neuerwerbungen, wie Alfred Hentzen schrieb, »nur die Anfänge einer modernen Abteilung [dar], tastende Versuche, wie weit man gehen konnte, und in einzelnen Fällen wohl auch Kompromisslösungen. Unter dem alten Regime Werke der Expressionisten zu kaufen, wäre unmöglich gewesen.«

177

Ludwig Justi und die neue A b t e i l u n g im K r a n p r i n z e n p a l a i s

Die entscheidende Wende brachte die Novemberrevolution und die Abdankung des Kaisers Anfang November 1 9 1 8 , mit der auch dessen Vetorecht bei den Ankäufen für die Nationalgalerie erlosch. Bereits kurz nach der Bildung der neuen Regierung erschien Justi am zz. November 1 9 1 8 bei dem aus den Reihen der SPD gewählten Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, um ihm seine Vorstellungen über

DIE

NATIONALGALERIE

UND

DIE

MODERNE

KUNST

vorzu-

tragen. 178 Nach Worten Justis war es nicht möglich, die von Tschudi begonnene Sammlung französischer Impressionisten auszubauen. Stattdessen gelte es nun, sich um die Arbeiten derjenigen Künstler zu bemühen, die seitdem hervorgetreten seien. Diese »Führer der neuen Kunstabsicht« seien zwar nicht mehr ganz jung, Nolde sei schon über fünfzig, Rohlfs sogar fast siebzig, Macke und Marc im Krieg gefallen. Doch hätten sich jene älteren Maler erst in reiferen Jahren der neuen Formgebung zugewandt. Ihre Kunstauffassung selbst sei also noch recht jung und den herrschenden Anschauungen fremd. Es sei die Aufgabe einer öffentlichen Sammlung für die Kunst der Gegenwart diese zu zeigen, »solange sie aus Geist und Seele der lebendigen Gegenwart gestaltet [ist], nicht erst, wenn sie >museumsreif< geworden« sei. 179 Justis Engagement für die jüngeren Künstler, namentlich die Expressionisten, kam nicht plötzlich, sondern war nach Aussage von Eugen Blume das Ergebnis eines längeren Prozesses, der auf Justis eigener, aber auch auf der Uberzeugung von ihm hochgeschätzter Kunsthistoriker, Mitarbeiter und Sammler zurückging. 180 Bereits am 6. Dezember 1 9 1 8 ließ er die Sachverständigenkommission einberufen, der er den Erwerb von zwei Gemälden von Erich Heckel GEWITTER

ÜBER

DEM

MEER

-

( 1 9 1 7 ) - des Gemäldes

1 9 1 8 ) von Oskar Kokoschka und der Holzskulptur

DIE

FRÜHLING

( 1 9 1 8 ) und

FREUNDE

(1917/

VERLASSENEN

(1912/

DIE

1 9 1 3 ) von Ernst Barlach vorschlug (Abb. γ). Die Kunstwerke wurden angekauft, nachdem im Januar 1 9 1 9 die Genehmigung des Ministers erfolgt war. Doch führte die Diskussion über deren Erwerb zur Auflösung der Kommission. 181 Zeitgleich mit diesen Anschaffungen bemühte sich Justi um ein separates Gebäude für die moderne Kunst. Nach vielfältigen Verhandlungen fasste er dafür das ehemalige Kronprinzenpalais Unter den Linden ins Auge, dessen Nutzung er im Dezember 1 9 1 8 beantragte. Sie wurde ihm am 2. Juni 1 9 1 9 vom Finanzministerium zunächst für den Zeitraum von sechs Monaten zugebilligt. l8z Mit der Etablierung der separaten Abteilung zeitgenössischer Kunst im Kronprinzenpalais sollte Ludwig Justi einen neuen Museumstypus begründen - das Museum für Gegenwartskunst. 18 ' Anders als in den übrigen Museen der Weimarer Republik, die sich um die Integration zeitgenössischer Kunst bemühten, sollte das Kronprinzenpalais ausschließlich der Kunst der Moderne vorbehalten bleiben. Geplant war, im Gegensatz zur Präsentation im Stammhaus, im Kronprinzenpalais die noch lebenden Künstler sowie mehr oder minder umstrittene Tendenzen zu

-59

„ Z e i t g e n ö s s i s c h e K u n s t in ö f f e n t l i c h e n S a m m l u n g e n v o r d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g

E r i c h H e c k e l . F R Ü H L I N G , 1 9 1 8 , Öl/Tempera auf L e i n w a n d , 9 1 χ 9 2 , 5 cm, in, Staatliche M u s e e n , Nationalgalerie

zeigen, wobei beabsichtigt war, die Sammlung laufend zu aktualisieren. 1 8 4 Aus einem Exposé, das Justi bei den Verhandlungen um das Kronprinzenpalais Finanzminister Albert Südekum unterbreitet hatte, werden die konzeptionellen Vorstellungen Justis für die neue Abteilung im neuen Gebäude ersichtlich. Die Maler aus dem Umkreis des Vereins Berliner Künstler plante er im Erdgeschoss unterzubringen, die Impressionisten im Hauptgeschoss und im Obergeschoss die »jüngeren Richtungen«, vertreten durch die frisch erworbenen Arbeiten von Barlach, Heckel, Jaeckel, Kokoschka, Lehmbruck, Moll, Purrmann und Waske. Weitere Ankäufe der BRÜCKE, von Feininger, M a r c und Nauen waren vorgesehen. Justi schrieb diesbezüglich: »Die Werke dieser jüngeren Richtungen waren bis vor kurzem vom Ankauf für die Galerie ausgeschlossen. Sie werden, wie in den anderen deutschen Städten, den stärksten Anteil bei den Besuchern finden. Es ist heute nicht mehr denkbar, die Tore der Staatssammlung vor ihnen zu verschließen. Ankäufe sind nur in beschränkter Z a h l gedacht, dagegen Unterrichtung und Anregung des Publikums durch kleine und wechselnde Ausstellungen von Leihgaben; einige

Ludwig Justi und die neue A b t e i l u n g im K r o n p r i n z e n p a l a i s . 4 1

hervorragende Stücke sind bereits von Künstlern als Leihgabe zugesagt, für den Fall, daß das Palais zur Verfügung gestellt wird. Daß die Kunst der Gegenwart in dem alten Gebäude der National-Galerie nicht zur Geltung kommen kann, ist längst allgemein bekannt. [...] Die Teilung in drei Stockwerke [im Kronprinzenpalais] wird sehr günstig sein, da Gleiches zusammen erscheinen wird; ebenso sachgemäß wird der im rechten Winkel anstoßende gesonderte Trakt für die Sammlung der Zeichnungen und gegebenenfalls der Graphik wirken [...].« 1 8 5 Nach der Ubergabe des Gebäudes durch das Finanzministerium im Juni 1 9 1 9 eröffnete Justi zwei Monate später, am 4. August, die neue Abteilung im Kronprinzenpalais mit etwa 200 Gemälden und Plastiken. Einen Großteil der Bilder hatte er aus dem Stammhaus überführt, die übrigen setzten sich aus Neuankäufen und Leihgaben nachimpressionistischer Kunst zusammen. 186 Die Präsentation im Kronprinzenpalais begann im Erdgeschoss mit der Sammlung von Felix Koenig und Malern regionaler Künstlerkreise. Sie setzte sich im ersten Stock mit Werken von Liebermann fort, denen Plastiken von Kolbe, Gaul und Rodin beigeordnet waren. Die Franzosen Eduard Manet, Paul Cézanne, Edgar Degas, Auguste Renoir, Alfred Sisely, Camille Pissarro und die deutschen Maler M a x Slevogt und Lovis Corinth waren ebenfalls dort untergebracht. Das obere Stockwerk war - mit Ausnahme einer Werkgruppe von Hans Thoma im Südflügel - den jüngsten Kunstbewegungen vorbehalten. Der Rundgang begann mit Marcs ( 1 9 1 3 ) und Kokoschkas Gemälde

DIE FREUNDE,

TÜRM

DER B L A U E N

PFERDE

die beide 1 9 1 9 erstanden wor-

den waren. Außerdem waren im Eingangsraum im Obergeschoss Gemälde von Signac, Herrmann, van Gogh und Hodler zu sehen, die Justi als deren Vorläufer integriert hatte. Es folgte ein Saal mit vier Gemälden von Heckel, darunter als Leihgabe die

OSTENDER

MADONNA

( 1 9 1 5 ) , das Gemälde

RHEINBRÜCKE

IN

KÖLN

( 1 9 1 4 ) von Kirchner und zwei Landschaften von Munch (Abb. 8). Im nächsten Bereich hingen Werke von Pechstein, Rohlfs, Nauen und Schmidt-Rottluff, die Justi mit einem Stilleben von van Gogh kombinierte. Ein Raum war ausschließlich Nolde vorbehalten, ein weiterer den Künstlern Purrmann und Moll. In den darauf folgenden Sälen hingen Aquarelle und Zeichnungen von Lehmbruck, Schmidt-Rottluff, Nauen, Heckel, Barlach, Pechstein, Marc, Kerschbaumer, Meidner, Marc, Feininger und zwei Gemälde von Ensor. Weitere Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen von Barlach, Lehmbruck und Maillol ergänzten den Bestand. 187 Wie anhand dieser ersten Präsentation deutlich wird, versuchte Justi jeweils mehrere Werke einzelner Künstler in einem Raum oder auf einer Wand zu vereinigen. Oftmals griff er dabei auf Leihgaben zurück, da er die Meinung vertrat, dass gerade neuere Kunstwerke nur sparsam und mit Bedacht erworben werden sollten.

4 2 . Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen Sammlungen vor dem Zweiten Weltkrieg

8

E m s t L u d w i g K i r c h n e r , R H E I N B R Ü C K E IN KÖI.N, 1 9 1 4 , Öl auf L e i n w a n d ,

1 2 0 χ 9 1 cm, Berlin, Staatliche M u s e e n , Nationalgalerie

Generell w a r seine Haltung gegenüber den neuen Kunstströmungen von Distanz und Vorsicht geprägt. Wie er immer wieder betonte, hatte er bei seinen Ankäufen versucht, »nur die schöpferischen Meister zu berücksichtigen« und von diesen auch nur die qualitativ hochwertigsten Arbeiten. Er hielt nichts von Mitläufern, die sich eifrig an die »Meister« herandrängten. 1 8 8 Die von Justi verfolgte Leihgabenpraxis w a r zum einen dem geringen Ankaufsfonds der Nationalgalerie geschuldet, zum anderen der ihm wichtigen Freiheit für Änderungen innerhalb der Sammlung. l 8 s Durch den Rückgriff auf Leihgaben und die Integration der jeweiligen Neuerwerbungen war die neue Abteilung einem ständigen Wandel unterlegen. Nach und nach brachte Justi die Arbeiten von Thoma, Trübner und anderen Künstlern zurück ins Stammhaus und verschob die Präsentation im Kronprinzenpalais immer mehr in die Gegenwart. Justis Auffassung nach

Ludwig Justi und die neue Abteilung im Kronprinzenpalais _ 4 i

waren die Kunstwerke der Gegenwart dem Besucher durch eine wechselnde Zusammenstellung, Anordnung und Beleuchtung leichter nahe zu bringen, da sie auf diese Weise eine immer neue Wirkung entfalteten. Die Leihgaben erhielt Justi von den Künstlern selbst oder aus Privatbesitz. So stellten ihm beispielsweise die Berliner Sammler Bernhard Koehler und Graf Eduard von der Heydt einzelne Werke zur Verfügung. Von den Künstlern überließ ihm allein Emil Nolde zwischen 1 9 1 9 und 1 9 2 1 circa acht Gemälde und drei Zeichnungen. 1 ' 0 Das Tätigen von Ankäufen für die Sammlung erwies sich als weit komplizierter. Nach der Auflösung der alten Ankaufskommission wurde 1 9 1 9 ein neues Gremium berufen, dem M a x Slevogt, Erich Heckel, Georg Kolbe und August Gaul angehörten sowie Kunsthistoriker und Sammler. 1 ' 1 M i t deren Unterstützung erhielten zwischen 1 9 1 9 und 1 9 3 3 vor allem Vertreter der BRÜCKE und des BLAUEN REITERS sowie Feininger, Kokoschka, Rohlfs, Hofer und ab 1 9 2 3 Klee und Dix Einzug in die Sammlung. A b 1 9 2 7 kamen Beckmann sowie Plastiken von Archipenko, Barlach, Belling und Lehmbruck h i n z u . 1 ' 1 Neben den Gemälden und Skulpturen erwarb Justi eine Vielzahl von Aquarellen und Zeichnungen, da er der Überzeugung war, dass man die Zeichnungen kennen müsse, um das Wesens eines Künstlers zu verstehen. 1 ' 3 Zudem waren Papierarbeiten nicht so kostspielig und im Format anspruchsloser, so dass die Ankaufskommission - so die Spekulation Annegret Jandas - leichter zum Erwerb zu bewegen war. 1 9 4 Umfasste die Sammlung der Zeichnungen bei ihrer Eröffnung im Kronprinzenpalais im November 1 9 1 9 nur wenige zeitgenössische Arbeiten, konnte Justi sie bis 1 9 3 3 auf circa 800 Blätter ergänzen. 1 ' 5 Zusätzliche Förderung erhielt die Nationalgalerie durch den im Juni 1 9 2 9 gegründeten VEREIN

DER

FREUNDE

DER N A T I O N A L - G A L E R I E ,

wodurch

besonders teure und vor allem ausländische Kunstwerke erworben werden konnten, deren Kauf mit staatlichen Geldern unmöglich oder unerwünscht war. Der Verein schaffte Arbeiten von Munch, Dufy, Picasso, Braque, Gris und M o h o l y - N a g y an, die dann als Leihgaben in die Nationalgalerie kamen. 1 ' 6 Die Erwerbungspolitik des Vereins deckte sich mit dem Museumskonzept des Direktors. Fauvistische, kubistische und konstruktivistische Werke sollten die entscheidenden Tendenzen der europäischen Avantgarde illustrieren und insofern mehr zur Erläuterung der nationalen Entwicklungen denn als Beispiele einer eigenen künstlerischen Strömung präsentiert w e r d e n . 1 ' 7 Zusätzlich zur ständigen Präsentation im Kronprinzenpalais, versuchte Justi seit Ende 1 9 1 9 mit Sonderausstellungen lebender Künstler seinen Anspruch einer offensiven Unterstützung neuer künstlerischer Tendenzen zu untermauern. Im musealen Kontext waren temporäre Ausstellungen lebender Künstler in Berlin eine Neuheit. Im Gegensatz zu den Forderungen des 1 9 1 7 gegründeten Museumsbundes - dem

4 4 _ Z e i t g e n ö s s i s c h e K u n s t in ö f f e n t l i c h e n S a m m l u n g e n v o r d e m Z w e i t e n

9

Weltkrieg

Unbekannter Fotograf. A b t e i l u n g m o d e r n e r K u n s t der N a t i o n a l g a l e r i e im K r o n p r i n z e n p a l a i s , 1 9 3 0

( R a u m mit G e m ä l d e n v o n E r n s t L u d w i g K i r c h n e r u n d einer Plastik v o n Philipp H a r t h ) , Berlin, Z e n t r a l a r c h i v der Staatlichen M u s e e n S t i f t u n g Preußischer K u l t u r b e s i t z

Interessenverband der Museumsfachleute - thematische Schwerpunkte zu setzen, stellte Justi in seinen Präsentationen vor allem einzelne Künstlerpersönlichkeiten in den Mittelpunkt. N u r in Einzelfällen veranstaltete er Gruppenausstellungen, wobei es sich meist um ausländische Künstler handelte.' 98 Seine erste Schau im Winter 1 9 1 9 widmete Justi Christian Rohlfs zum 70. Geburtstag. Es folgten Präsentationen von Nolde ( 1 9 2 0 ) , van Gogh ( 1 9 2 1 / 1 9 2 2 ) , Kirchner, Macke, Pechstein und Heckel. Die Bilder Heckeis waren gleichzeitig mit einer großen Franz M a r c Retrospektive im März 1 9 2 2 zu sehen, für die das gesamte Obergeschoss geräumt worden war. In den darauf folgenden Jahren zeigte er Corinth, Klee ( 1 9 2 3 ) , Belling ( 1 9 2 4 ) und Dix ( 1 9 2 5 ) . 1 9 2 7 hatte Munch mit 2 5 0 Gemälden einen großen Auftritt. Ein Jahr später folgte van Gogh. Darüber hinaus stellte Justis Mitarbeiter Ludwig Thormaehlen im Frühjahr 1 9 2 8 zwei sich ergänzende Ausstellungen neuerer deutscher Kunst aus Berliner Privatbesitz zusammen, die mit jeweils 200 Arbeiten das Obergeschoss füllten. 1 9 9 Insgesamt veranstaltete Justi während seiner Amtszeit im Kronprinzenpalais mehr als 50 Wechselausstellungen. 200 Sie fanden stets in den Räumlichkeiten der ständigen Sammlung statt, wodurch diese einer kontinuierlichen Veränderung

Ludwig Justi und die neue Abteilung im K r o n p r i n z e n p a l a i s _ 4 5

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IH "«et

10

Unbekannter

F o t o g r a f . Abteilung m o d e r n e r K u n s t der N a t i o n a l g a l e r i e im Kronprin/.enpalais,

( R a u m mit Arbeiten v o n Lyonel Feininger und R u d o l f Belling), Berlin, Z e n t r a l a r c h i v der Staatlichen

19ÌZ

Museen

Stiftung Preußischer Kulturbesitz

und die Kunstwerke - indem neue Sehzusammenhänge geschaffen wurden - dem von Justi bezweckten Wirkungswandel ausgesetzt waren (Abb.

9-10).

Sowohl die Ankäufe als auch die Sonderausstellungen wurden von Justi in zahlreichen Büchern dokumentiert. Gaehtgens deutet Justis rege Publikationstätigkeit als den Versuch, sich selbst der Bedeutung und der Qualität der von ihm erworbenen Werke zu versichern und gleichzeitig dem Besucher einen Leitfaden zum Verständnis der zeitgenössischen Kunst an die Hand zu geben. 101 Der museumspädagogische Ansatz war sicher ausschlaggebend. Regelmäßig erschienen Führer durch die Sammlungen - jeweils in einer preiswerten, unbebilderten und einer teuren, reich illustrierten Ausgabe. Sie waren frei von komplizierten theoretischen Erörterungen und sollten vor allem dem Kunstlaien sprachlich das Seherlebnis näher bringen. Wie Justi schrieb, müsse der Besucher, um ein Kunstwerk zu verstehen, »es sehr genau betrachten, und die beste Anleitung zum Verstehen beruht nicht in geistvollen Ergüssen, sondern in sanftem Z w a n g zu ganz genauem Hinsehen.« 1 0 1 Zu diesem genauen »Sehen« wollte Justi den Betrachter anleiten, indem er in seinen Führern wenige Gemälde auswählte und diese eingehend besprach.

4 6 - Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen S a m m t u n g e n vor dem Zweiten Weltkrieg

Darüber hinaus verwiesen die Führer - im Konsens mit vielen zeitgenössischen Kunsthistorikern - auf übergreifende kunsthistorische Zusammenhänge, mit denen die Gegenwart aus der Vergangenheit erklärt werden sollte. 1 0 3 Bereits 1 9 2 1 publizierte Justi einen Führer zu den expressionistischen Kunstwerken, in dem er die Kunstentwicklung vom Impressionismus bis zum Expressionismus anhand einzelner Werke ausführlich darlegte. 204 Ein Jahrzehnt später, 1 9 3 1 , erschien die Publikation VON CORINTH BIS KLEE, eine Fortsetzung des Führers DEUTSCHE MALKUNST

IM

19. JAHRHUNDERT

und auf dem FÜHRER

NEUER

KUNST

von

1 9 2 1 aufbauend. 1 0 5 Eine weiteres Forum der Vermittlung - dieses M a l jedoch vor allem für ein Fachpublikum - w a r die Zeitschrift MUSEUM DER GEGENWART, die Justi 1 9 3 0 als Sprachrohr für die Belange der öffentlichen und privaten Sammlungen neuerer Kunst ins Leben rief und als deren Schriftleiter Justis Mitarbeiter Alfred Hentzen fungierte. Z u den weiteren Mitarbeitern zählten 43 Direktoren und Kustoden aus 36 Museen und drei Kunstvereinen aus Deutschland, den deutschsprachigen Nachbarländern und den USA. 1 0 6 Die Vermittlung

kultureller

Werte

und der Austausch

zwischen

den

Museumskollegen waren Justi äußerst wichtig. Über seine breite Publikationstätigkeit hinaus versuchte er durch Führungen und Vorträge eine Verbindung zwischen der modernen Sammlung und dem Publikum aufzubauen. 1 9 2 1 schrieb er in einem seiner Führer: »Die öffentliche Sammlung gegenwärtiger Kunst ist daher mehr als in anderen Ländern verpflichtet, durch Ankäufe, Leihgaben, Ausstellungen, über die vielen äußeren und inneren Schwierigkeiten hinweg, eine Vorstellung vom geistigen Ringen unserer Tage zu geben, durch Vorträge und Schriften den Z u g a n g zu neuer Form und neuem Gehalt zu erleichtern, für die vielen Besucher der Galerie, die zunächst dem Wandel der künstlerischen Haltung fern stehen, denen es aber mit dem Anteil an der geistigen Entwicklung ernst ist.« 1 0 7 Spätestens seit seinem Einsatz für die Expressionisten und der Eröffnung der Neuen Abteilung im Kronprinzenpalais w a r Justis Ankaufs- und Sammlungspolitik heftiger Kritik ausgesetzt. Diese kam vor allem von Seiten konservativer Künstler und Kritiker, namentlich M a x Liebermann, der seit 1 9 2 0 der Preußischen Akademie der Künste vorsaß, und dem Herausgeber der Zeitschrift KUNST UND KÜNSTLER,

Karl Scheffler. 1 0 8 Sowohl Liebermann

als auch Scheffler hatten Justis

Amtsantritt 1 9 0 9 zunächst begrüßt und seine ersten Umstrukturierungen gelobt. Aber bald führten Justis enge Verbindung zum Kaiserhaus und die Auflösung der Landeskunstkommission, in der Repräsentanten der Akademie die Interessen der Künstlerschaft vertreten hatten, zu ersten K o n f l i k t e n . 1 0 ' N a c h

dem

Ersten

Ludwig Jusli und die neue Abteilung im Kronprinzenpalais _ 4 7

Weltkrieg löste Justis Einsatz für die expressionistische Kunst einen Sturm der Kritik aus. Unter dem Titel BERLINER MUSEUMSKRIEG griff Scheffler 1 9 x 1 die Ankaufspolitik Justis an, in der er einen Beleg für dessen politischen Opportunismus s a h . 1 1 0 Sein taktischer Instinkt habe 1 9 1 4 ebenso sicher den Geschmack des Kaisers getroffen, wie zum aktuellen Zeitpunkt jenen der an der Revolution Beteiligten. Scheffler warf Justi vor, nicht fähig zu sein, das ihm von Tschudi anvertraute Erbe zu verwalten und zu mehren. Stattdessen setze er auf jene »Richtungskünstler«, die Schefflers Meinung nach bereits nach einem Jahrzehnt wieder entfernt werden müssten. 2 1 1 Justi reagierte auf die Polemik Schefflers mit dem Aufsatz HABEMUS PAPAM. Darin wehrte er sich gegen Schefflers Vorwurf, nach dem Fall der Monarchie mit fliegenden Fahnen in das Lager der Republik gewechselt zu sein. Seine Ankaufspraxis sei weder durch Drängen von außen entstanden, nicht durch die Presse, noch beeinflusst von Kunsthandel, Künstlern oder revolutionären Kunstfreunden. 2 1 1 Auch von anderer Seite lösten Justis Ankaufspolitik und sein Einsatz für die Moderne Kritik beziehungsweise zunächst vor allem Erstaunen aus. So urteilte Paul Westheim in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift DAS KUNSTBLATT, dass die »Eile[,] mit der Justi so plötzlich Rückendeckung sucht hinter dieser jungen Kunst, einigermaßen verdächtig sein muß«. 2 ' 3 Westheim sah darin einen »Akt kühl berechnender Kunstpolitik« und meinte, dass die Kunst keine »wirkliche Förderung erfahren kann bei einem M a n n , der so geschmeidig jeder äußeren politischen Konstellation seine künstlerische Uberzeugung anzupassen vermag, der, wie es gerade zweckmäßig erscheint, bald so und bald auch ganz anders kann.« 2 ' 4 In späteren Jahren ging Justis Ankaufspolitik Westheim nicht weit genug, da er bestimmte Richtungen, wie beispielsweise die Abstrakten nicht oder nicht ausreichend wahrzunehmen schien. 2 1 5 Die Kontroversen mit den konservativen und modern gesinnten Kreisen bestanden während der gesamten Weimarer Republik. Treffend schrieb Ernst Kállai 1930: »Justi könnte mit Recht sagen: >Wie mans auch macht, immer ist es falsch.< Der eine sieht ihn besinnungslos jeder neuen M o d e nachrennen, für den anderen ist er im Gegenteil viel zu vorsichtig und zaghaft. [...] Paradoxerweise ist tatsächlich dieses Museum die einzige lebendige berliner Kunststätte, von der aus ein Höhenblick über die heutige Gesamtlage der bildenden Kunst zu gewinnen ist. Gewiß läßt sich über die Verteilung der bewertenden Akzente streiten. Gewiß fehlt noch dies und jenes: die Malerei strengster Flächenspannung (Mondrian), konstruktiver Gegenständlichkeit (Lissitzky), dichterischer Farben- und Formenabstraktion (Kurt Schwitters, Otto Nebel), es fehlt

4 8 - Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen S a m m l u n g e n vor dem Zweiten Weltkrieg

die Plastik reinster Raumgestalt (Gabo), um nur einiges zu nennen. Es fehlt auch der Surrealismus, aber schließlich ist ein Museum keine Kunsthandlung, ein gewisses Abwarten ist auf jeden Fall nötig und g e s u n d . « 1 1 6 Tatsächlich gab Justi bei seinen Ankäufen nach dem Ersten Weltkrieg vor allem den Expressionisten und insbesondere den Malern der BRÜCKE den Vorzug. Als deren Vorläufer erhielten van Gogh und Munch Eingang in die Sammlung. Viele der Künstler, die sich nach dem Ersten Weltkrieg dem expressiven Kunstschaffen zugewandt hatten, fanden dagegen in seinen Augen keine Gnade. In seinem Buch VON CORINTH BIS KLEE schrieb Justi: »So tauchten denn falsche Propheten auf, bemalten riesige Leinwände mit oberflächlichen oder verlogenen Bildern großartiger Benennung aus dem Wortschatz des staatlichen Umsturzes oder der >kosmischen< Verschwommenheit. Diese Machwerke sind aus der Öffentlichkeit fast ganz verschwunden, in unsere Sammlung w a r keines von ihnen gekommen.« 2 1 7 Generell wurden selten Werke der sogenannten zweiten

Expressionisten-

Generation oder anderer künstlerischer Richtungen der zwanziger Jahre für einen Ankauf erwogen. Dies stellte auch Otto D i x fest: »Die moderne Abteilung des Kronprinzen-Palais ist die bedeutendste öffentliche Sammlung moderner Kunst in Deutschland. Es fehlen einige wichtige Namen der Jüngsten, die ich Ihnen aber nicht nennen will, da ich mich sonst selbst mitnennen müßte.« 2 1 8 Dass Dix und andere Veristen des »linken Flügels« nur vereinzelt im Kronprinzenpalais zu sehen waren, hing vermutlich mit dem krassen Realismus ihrer Bildsujets zusammen, der offenbar unvereinbar mit Justis Kunstbegriff war. Von Dix kaufte Justi für die neue Abteilung nur Portraits und einige grafische Arbeiten mit nahezu unpolitischen Themen - seine Kriegsdarstellungen, die Bilder von Dirnen, Kriegskrüppeln oder ähnlichen Sujets fanden nicht ihren Weg in die Sammlung. Ebenso waren von Grosz und Schlichter lediglich Grafiken unverfänglichen Inhalts vorhanden. 2 1 9 Auch die Abstrakten waren, wie Westheim richtig bemerkt hatte, nur vereinzelt im Kronprinzenpalais vertreten und wenn, so dienten sie, wie Blume zeigt, vor allem als Lehrbeispiel für die »Aufsaugung des Gegenstandes durch die Form« und die Spannweite des künstlerischen Schaffens. 2 2 0 Einen Beleg für Blumes These liefert Justis Verhalten gegenüber dem Ankauf von Kandinskys ZWEIERLEI ROT ( 1 9 1 6 ) . So gab Justi auf eine Frage von H u g o Simon, einem Mitglied der Ankaufskommission, zu, dass er bisher immer abgeneigt gewesen sei, so etwas in die Galerie aufzunehmen, anderseits müsste man der Gesamtheit der Sammlung zuliebe auch solche Bilder zeigen. 221

Ludwig

11

J usi i und die neue A b t e i l u n g

im K r o n p r i n z e n p a l a i s



Rudolf Belling, DREIKLANG, 1919/192.4, Bronze, 91 Χ 77 Χ ηη cm, Beri Staatliche Museen, Nationalgaie

Bei den Skulpturen engagierten sich Justi und seine Mitarbeiter von Anfang an stark für Lehmbruck, Kolbe und Barlach. Schon im Jahr der Eröffnung des Kronprinzenpalais erwarb Justi nicht weniger als vier Werke des damals jüngst verstorbenen Lehmbruck, darunter die

KNIENDE

(191 1).111

Überblickt man den Bestand an

moderner Plastik, den die Nationalgalerie bis 1 9 3 2 erwarb, fällt auf, dass tradierte Sujets wie Akte, Portraitbüsten oder Tierskulpturen dominierten. Einzig die beiden Arbeiten von Rudolf Belling

DREIKLANG

(1924) und

KÖPF

IN M E S S I N G

(1925)

sowie DAS ICH (1918) von Oswald Herzog gingen darüber hinaus (Abb. r i j / 1 1 Trotzdem bevorzugte Justi keine bestimmte Künstlergruppe. Vielmehr betrachtete er die Kunst aller Zeiten und Nationen als organischen Ausdruck eines »Geistigen«, der sich in Formprozessen niederschlug und durch Formwahrnehmung wieder zur Lebendigkeit erwachte. In Justis »Museum der Lebenden«, eine Bezeichnung, die er synonym zum »Gegenwartsmuseum« oder zum »Museum zeitgenössischer Kunst« verwandte, hatte der Leiter die »lebenswirkende« Aufgabe, dem Volk nicht die »Aktuellsten«, sondern die echten schöpferischen Kräfte und den geistigen Gehalt ihres Schaffens nahe zu bringen - und dies, wo es notwendig sei, auch durch Wort und Schrift/ 1 4 Der Sehprozess und das Erleben der Kunstwerke standen für Justi bei der Vermittlung von Kunst im Vordergrund, wobei die

50 . Z e i t g e n ö s s i s c h e

K u n s t in ö f f e n t l i c h e η S a m m l u n g e n v o r d e m Z w e i t e n

Weltkrieg

Anleitung des Betrachters zum »Sehen« durch Museumsführer oder Vorträge für ihn keinen Widerspruch darstellten. Vor allem im Expressionismus (wie auch in der Romantik) sah Justi den Ausdruck persönlichen Erlebens und die Wiedergabe der tiefsten Empfindungen des Künstlers. Dieses Empfinden w a r für ihn eine typisch deutsche Eigenschaft - anders als die Sinnlichkeit des Impressionismus, die für ihn eine französische war. Justis Auffassung nach, w a r die Kunst umso wertvoller, desto mehr sie nach dem eigenem Sein gestaltet war. Mit diesem »eigenen Sein« bezeichnete er in einem Artikel von 1 9 2 3 nicht nur die Zeit, »sondern auch die Volksgemeinschaft, die sich seit tausend Jahren im Geistigen gebildet und verfestigt hat. Vor dem Krieg glaubten manche an die guten Europäer. Es gab auch internationale Menschen, aber die waren seicht und äußerlich, wertvoll waren nur die Deutschen, die Europäer sein wollten [...], aber in Wahrheit Deutsche blieben. Denn schöpferisch kann der Mensch nur sein, wenn er in festen und ausgeprägten Gegebenheiten wurzelt. [...] Die besten unserer jüngeren Maler sind nicht nach Paris gegangen, schnitzen aus eigenem H o l z . « 1 2 5 Justi schätzte die französische Kunst durchaus, w a r jedoch bestrebt, die französischen Kunstentwicklungen gegenüber der nordischen, deutschen Kunsttradition abzugrenzen. Dies kann man auch an der national ausgerichteten Konzeption im Kronprinzenpalais erkennen, in der er der deutschen Kunst - wie es seiner Meinung nach der Aufgabe einer Nationalgalerie entsprach - einen primären Rang zuwies. Das Kronprinzenpalais repräsentierte in seiner selektiven Darstellung der modernen Kunst eine Ausstellungspraxis, die während der zwanziger Jahre in den meisten deutschen Kunstsammlungen praktiziert wurde. Doch w a r die moderne Abteilung der Nationalgalerie der zentrale Ort der Integration expressionistischer Kunst in den Kanon der »musealen Wertehierarchie«.

mmm DIE KULTURPOLITIK D E S N A T I O N A L S O Z I A L I S M U S U N D IHRE F O L G E N

In der Nationalgalerie in Berlin und in den übrigen Museen der Weimarer Republik hatte sich die zeitgenössische Kunst wie in keinem anderen Land zu dieser Zeit einen Platz erobert. Wie Ludwig Justi 1 9 3 1 schrieb, hatten sich »rund 50 Museen [...] ganz oder teilweise die Pflege der Gegenwartskunst zur Aufgabe« gemacht und eine rege Ausstellungstätigkeit entfaltet. 227 Auch im Ausland wurde dieser Umbruch in der deutschen Kunstszene wahrgenommen. So merkte Alfred H. Barr jr. an, der Direktor des Museum of Modern Art in N e w York:

Die Kulturpolitik des Nationalsozialismus und ihre Folgen.51

»However much modern German art is admired or misunderstood abroad, it is certainly supported publicly and privately in Germany with extraordinary generosity. Museum directors have the courage, foresight and knowledge to buy works by the most advanced artists long before public opinion forces them to do so. Some fifty German Museums [...] are the most positive factor both in supporting artists and in educating the public to an understanding of their w o r k . « 2 2 8 Im J a h r 1 9 3 2 , als Barr diese Worte schrieb, w a r diese großzügige Unterstützung und der Mut der Museumsdirektoren bereits auf eine harte Probe gestellt worden. Die Berufung des NSDAP-Mitglieds Wilhelm Frick zum Innen- und Volksbildungsminister von Thüringen im Januar 1 9 3 0 und der »Zwickauer Skandal« hatten ihnen einen ersten Vorgeschmack auf die nationalsozialistische Kulturpolitik gewährt, der wenige Jahre später eine systematische Kampagne gegen die moderne Kunst folgen sollte. 1 2 ' In Z w i c k a u hatte der Magistrat der Stadt dem seit 192.4 amtierenden Leiter des städtischen König Albert Museums Hildebrand Gurlitt am 1 6 . Juli 1 9 1 9 mitgeteilt, dass man ihn aufgrund fehlender Mittel nicht länger als hauptamtlichen Museumsdirektor beschäftigten könne. 2 ' 0 Die Stadtverwaltung kündigte ihm zum i . A p r i l 1 9 3 0 . Z w a r kann man die Kündigung Gurlitts, wie Winkler zeigen konnte, zunächst nicht auf die Hetzkampagnen des NSDAP-nahen Kampfbundes für Deutsche Kultur zurückführen, doch verstand es dessen Ortsgruppe, die Entlassung des Museumsdirektors propagandistisch für sich zu nutzen. 2 ' 1 Als kulturpolitische Einrichtung der N S D A P hatte sich der Kampfbund für Deutsche Kultur seit seiner offiziellen Gründung 192.9 unter der Leitung von Alfred Rosenberg zu einer einflussreichen

Gruppe im Kulturkampf der äußersten Rechten entwickelt. 2 ' 2 In

Vorträgen und Publikationen polemisierten die Mitglieder des Kampfbundes gegen die Vertreter der Avantgarde und ihre Förderer und traten für ein konservatives, völkisches Kunstverständnis ein. In Z w i c k a u ereiferte sich der NSDAP-Stadtverordnete und Kampfbundführer der heimischen Ortsgruppe Karl Zimmermann im Februar 1 9 3 0 über den »Kultus des Untermenschentums der Kollwitz, Zille, Barlach [...] Nolde, Schmidt-Rottluff«, über die »Stümper« Klee und Chagall und über den »ethischen Nihilismus« eines Dix, Hofer und G r o s z . 2 " Der Artikel in der ZWICKAUER

ZEITUNG

erregte auch

überregional

große

Aufmerksamkeit.

Besonders bei den für die Moderne engagierten Museumsleitern lösten die Vorgänge größte Besorgnis aus. Ludwig Justi nahm in der Zeitschrift MUSEUM DER GEGENWART zur Entlassung Gurlitts Stellung. Doch interpretierte er dessen Amtsenthebung weniger vor dem Hintergrund der aktuellen kulturpolitischen Situation, sondern bezog sie auf die Vorbehalte bestimmter Kreise gegenüber der modernen

52 _ Zeitgenössische Kunst in öffentlichen Sammlungen vor dem Zweiten Weltkrieg

Kunst. 2 3 4 Dass die Kontroverse weit mehr als eine lokale Auseinandersetzung war, ließ ein ausführlicher Artikel im VÖLKISCHEN BEOBACHTER vom 9. Oktober 1 9 3 0 befürchten. Unter d e m Titel DER

ZWICKAUER

SKANDAL,

EIN

BEISPIEL

FÜR VIELE attackierte der Beitrag die allgemeine Sammlungspolitik der Gegenwartsmuseen und griff dabei die Nationalgalerie in Berlin namentlich an. 2 3 5 In Thüringen hatte wenige Monate zuvor mit Wilhelm Frick erstmals ein Vertreter der N S D A P ein Regierungsamt übernommen. Er besetzte in der Koalitionsregierung das Amt des Innen- und Volksbildungsministers, in dessen Ressort auch die kulturellen Belange fielen.136 Thüringen wurde damit zum Experimentierfeld der ab 1 9 3 3 praktizierten NS-Kulturpolitik. Z u m 1 . April 1 9 3 0 berief Frick den Architekten Paul Schultze-Naumburg, einen der prominentesten Vertreter der völkischen Kulturpropaganda, zum Kunstberater und neuen Direktor der reorganisierten Weimarer Staatlichen Hochschulen für Baukunst, bildende Künste und Handwerk. In diesem Gebäudekomplex w a r das 1 9 x 9 von Walter Gropius gegründete Bauhaus untergebracht gewesen, das jedoch 1 9 2 4 auf politischen Druck nach Dessau umgezogen war. 1 3 7 Als Relikt aus dieser Zeit waren im Treppenhaus des von Henry van der Velde errichteten Werkstattgebäudes die von Oskar Schlemmer 1 9 2 3 geschaffenen Wandfresken und Relieffiguren zurückgeblieben. Diese ließ Schultze-Naumburg im Oktober 1 9 3 0 abschlagen beziehungsweise übertünchen. 238 Doch dabei blieb es nicht. Wenige Tage nach der demonstrativen Zerstörung der Schlemmer-Wandbilder ließ sich Wilhelm Frick zusammen mit Schultze-Naumburg durch das Weimarer Schlossmuseum führen. 2 3 9 Danach erhielt der amtierende Leiter des Museums Wilhelm Köhler von Frick die mündliche Anweisung, alle modernen Gemälde, Plastiken und Grafiken innerhalb von wenigen Stunden aus den Ausstellungsräumen zu entfernen. Frick ließ vermelden, dass er diese »sachliche Maßnahme« nach Rücksprache mit mehreren Kulturreferenten getroffen habe, jene Künste hätten »nichts gemeinsam mit nordisch-deutschem Wesen«, sondern beschränkten sich darauf, »das ostische oder sonstige minderrassige Untermenschentum darzustellen«. 240 Mindestens 70 Werke fielen diesem Urteil zum Opfer. 2 4 1 Die Aktion stieß während der Durchführung auf keinen nennenswerten Widerstand in der Bevölkerung. Auf die beunruhigten Anfragen von Seiten der betroffenen Künstler und anderer Museumsdirektoren reagierte Köhler mit einer dringlichen Bitte um Zurückhaltung und Vorsicht, da er plante, einen Großteil der modernen Sammlung dem Angermuseum in Erfurt zu übergeben. 2 4 2 Tatsächlich gingen nahezu alle Leihgaben aus Privatbesitz nach Erfurt. In Weimar waren fortan bis auf einige Bilder von Erich Heckel, die 1 9 3 1 in einer von Wilhelm Köhler übernommenen Ausstellung zu sehen waren - keine zeitgenössischen Künstler mehr präsent. Daraufhin kommentierte die völkische Autorin Bettina Feistel-Rohmeder in der DEUTSCHEN KUNSTKORRESPONDENZ i m M ä r z i 9 3 i : »Es wird ein großer

Die Kulturpolitik des Nationalsozialismus und ihre Folgen _53

Bildersturm durch deutsches Land gehen müssen! In Weimar hat er begonnen. Heil Frick.« 2 4 3 Als der Thüringer Landtag am i . April 1 9 3 1 den beiden nationalsozialistischen Ministern das Vertrauen entzog und der Landtag daraufhin im M a i 1 9 3 1 eine Missbilligung von Fricks Aktion im Schlossmuseum aussprach, wagte Köhler erneut den Versuch, neben Weimarer Künstlern auch überregionale moderne Kunst zu zeigen. Die Übernahme einer Heckel Ausstellung aus Erfurt ließ sich noch realisieren. Doch die aus der Präsentation des Schlossmuseums entfernten Arbeiten wurden nicht wieder in die ständige Ausstellung integriert. In anderen Museen w a r das neue politische Klima noch nicht in diesem Ausmaß zu spüren, auch wenn vereinzelte Interventionen gegen die moderne Kunst zu denken gaben. So entfernte beispielsweise Gustav Hartlaub in Mannheim das 1 9 3 0 von ihm erworbene Gemälde von Jankel Adler nach einer öffentlichen Kampagne, in der das Bild als anstößig und Ekel erregend bezeichnet worden war, aus der Schausammlung. Ebenso große Ressentiments zog das 1 9 2 8 erworbene Bild DIE PRISE ( 1 9 1 2 ) von M a r c Chagall auf sich. 244 Dessen ungeachtet konnten andere Museen ihre Bestände moderner Kunst weiter vergrößern. So vollendete beispielsweise Oskar Schlemmer im Folkwang Museum in Essen 1 9 3 1 seine Wandbilder für den Brunnenraum des Museums und das Moritzburgmuseum in Halle kaufte im gleichen J a h r die von Lyonel Feininger geschaffene »Halle-Serie« an, die elf Gemälde und 29 Zeichnungen umfasste. 2 4 5 Die drohenden Anzeichen der nationalsozialistischen Kulturpolitik Anfang der dreißiger Jahre konkretisierten sich mit der Machtübernahme

der

National-

sozialisten im Januar 1 9 3 3 . Von einer durchdachten, gut organisierten nationalsozialistischen Kulturpolitik kann zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht gesprochen werden. Hildegard Brenner charakterisiert die Monate zwischen der Machtübernahme im Januar und der Formulierung und Institutionalisierung der nationalsozialistischen Kulturpolitik im Herbst 1 9 3 3 treffend als »Interregnum«, in dem sich gegenläufige Interessen überlagerten. 246 Vor allem in der Provinz blieb wegen des Fehlens eines institutionellen Rahmens den lokalen Gruppen des Kampfbundes für Deutsche Kultur und anderen völkischen Verbänden zunächst das Feld überlassen, die häufig persönliche Machtansprüche und Revanchegelüste befriedigten. 247 O f t genug akzeptierten die Museen den vom Kampfbund oder den von lokalen Verbänden der N S D A P propagierten kulturpolitischen Kurs, strukturierten ihre Sammlungen neu und ordneten sie unter einem ideologischen Blickwinkel. 2 4 8 Vor allem in Bezug auf die moderne Kunst wurde eine ganze Reihe von Ausstellungen organisiert, in der sie als »krank und entartet« verunglimpft wurde. Gegen die Beamten, die sich dem nationalsozialistischen Dogma nicht unterordnen wollten, schufen sich die Machthaber mit dem am 7. April 1 9 3 3 in Kraft

54-Zeitgenössische

K u n s t in ö f f e n t l i c h e n S a m m l u n g e n v o r d e m Z w e i t e n

Weltkrieg

getretenen »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« die Möglichkeit, jüdische, sozialdemokratische und liberale Vertreter der Bürokratie zu entlassen. Noch im gleichen J a h r wurden Künstlerverbände gleichgeschaltet, unerwünschte Studenten und Lehrer aus den Akademien ausgeschlossen sowie mehr als 20 Museumsdirektoren und Kuratoren ihrer Ämter enthoben, die sich für die Moderne eingesetzt hatten. 1 4 S Als einer der ersten wurde am 2 1 . April 1 9 3 3 der Leiter der Städtischen Kunstsammlung in Chemnitz Friedrich Schreiber-Weigand vom nationalsozialistisch geführten Stadtrat vom Dienst beurlaubt und wenig später aus dem städtischen Dienst entlassen. Es folgten Ernst Gosebruch (Essen), Ludwig Justi (Berlin), Gustav Hartlaub (Mannheim), Walter Kaesbach (Weimar), Karl Koetschau (Düsseldorf), Gustav Pauli, M a x Sauerlandt (Hamburg), Erich Wiese (Breslau) und weitere. 2 5 0 Andere, wie Alois Schardt oder Alexander Dorner, blieben vorerst im Amt. Während

einige der Museumsdirektoren,

wie beispielsweise Justi

oder

Hartlaub, nach ihrer Entlassung keine Motivation mehr verspürten sich in die nach 1 9 3 3 einsetzenden Rangeleien um die kulturpolitische Ausrichtung des NS-Staates einzubringen, versuchten Kunsthistoriker wie Schardt oder Sauerlandt, die einer durchaus nationalistisch geprägten Interpretation der Kunstgeschichte und des Expressionismus anhingen, weiterhin Einfluss auf die aktuellen Entwicklungen zu nehmen. 1 5 1

EXPRESSIONISMUS - AUSDRUCK EINER NATIONALEN DEUTSCHEN KUNST?

Kunsthistoriker und Künstler hatten um 1 9 3 3 allen Grund zu glauben, dass dem Expressionismus im neuen Staat eine besondere Rolle zukommen könnte. Z u den völkisch-nationalen Tendenzen des Kampfbundes für Deutsche Kultur formierte sich eine kunstpolitische Opposition, die sich für eine Erhebung des Expressionismus zum nationalen, deutschen Stil einsetzte. 252 Besondere Bedeutung kam dabei der Kunst Noldes und Barlachs zu, die als »germanisch« und »nordisch« beurteilt wurde. 2 5 3 Der Kunstkritiker Paul Fechter sah die Expressionisten gar als Wegbereiter für den Nationalsozialismus. In der DEUTSCHEN RUNDSCHAU schrieb er im Februar 1 9 3 3 : »Man wird vor allem den bürgerlichen Kreisen der nationalsozialistischen Bewegung [...] zum Bewußtsein bringen müssen, wie sehr die expressionistische Bewegung Deutschlands, der Kreis der Brücke, genau wie in Italien der Futurismus für den Faschismus, dem neuen Nationalismus vorgearbeitet hat, indem er dem Leben, der Kunst wieder die Grundlage eines echten, unmittel-

Expressionismus - Ausdruck einer nationalen deutschen Kunst? _ 55

baren Gefühls gab und gegen den zerflatternden Relativismus der impressionistischen Zeit sich bekennend das aufrechte J a und Nein seiner Form und seiner Farbe stellte.« 2 5 4 Als Sprachrohr der innerparteilichen kunstpolitischen Opposition innerhalb der N S D A P fungierte zwischen Herbst 1 9 3 3 und Frühjahr 1 9 3 5 die Zeitschrift KUNST DER NATION. Ihre Initiatoren, die von dem Galeristen Ferdinand Möller unterstützt wurden, waren der Maler Otto Andreas Schreiber und der bisherige Leiter der WELTKUNST Fritz Eduard Hartmann. 2 5 5 Ihr Ziel w a r es, ein Forum zu schaffen, in dem die moderne Kunst unter den Bedingungen des Nationalsozialismus legitimiert wurde. Die Kunst sollte in den Dienst des neuen Regimes treten und sich auf diese Weise aus ihrer Isolation in den Museen befreien und im Volk selbst eine neue Heimstatt finden.2s6 Ein weiterer Versuch, den Expressionismus zum neuen »Nationalstil« zu erheben, w a r die Kundgebung des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB) am 29.Juni 1 9 3 3 im Auditorium der Berliner U n i v e r s i t ä t . U n t e r d e m Titel J U G E N D K Ä M P F T FÜR D E U T S C H E KUNST w a n d t e n

sich die Organisatoren gegen die Restauration des wilhelminischen Akademismus und jede Reglementierung der Kunst. Vor allem der stellvertretende Kreisführer Otto Andreas Schreiber sprach die aktuellen Probleme in der bildenden Kunst an. Er setzte sich vehement für die Kunst von Barlach, Heckel, Nolde und SchmidtRottluff ein und bezeichnete sie als Gründungsfiguren einer modernen Tradition, auf deren Grundlage die »neue deutsche Kunst« entwickelt werden müsse. 257 Im Vorfeld der Kundgebung des Studentenbundes hatten die Studierenden die Ausstell u n g D R E I S S I G D E U T S C H E K Ü N S T L E R v o r b e r e i t e t , in d e r W e r k e d e r B R Ü C K E ,

von Pankok, Macke, M a r c , Rohlfs, Lehmbruck, Barlach, den neusachlichen M a lern Schrimpf, Kanoldt, Lenk und von der Künstlergruppe DER NORDEN präsentiert wurden. 2 5 8 Die am 2 z . J u l i 1 9 3 3 in der Galerie Ferdinand Möller eröffnete Schau wurde bereits nach drei Tagen von dem inzwischen zum Reichsinnenminister avancierten Wilhelm Frick aufgrund der Teilnahme von Nolde und Barlach geschlossen. 259 Eine Woche später durfte Möller sie wieder eröffnen - allerdings erst, nachdem jeder Hinweis auf den Studentenbund getilgt worden war. 2 6 ° Einige der Museumsdirektoren, die sich während der Weimarer Republik in den Dienst der Moderne gestellt hatten, konnten sich mit der vom Studentenbund vorgegebenen Interpretation des Expressionismus als »nordische«, deutsche Kunst durchaus identifizieren. Weder Justi, Sauerlandt oder Schardt kann man eine national-konservative Gesinnung absprechen. Das heißt indes nicht, dass sie sich zwingend an den nationalsozialistischen Idealen orientierten, genauso wenig aber, dass sie diese gänzlich ablehnten. Ersichtlich wird dies beispielsweise an einem von Sauerlandt vorgetragenen Referat mit dem Titel DIE GEGENWÄRTIGE LÄGE UND

5 6 _ Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen S a m m l u n g e n vor dem Zweiten Wettkrieg

D I E A U F G A B E N DER M U S E E N IM N E U E N S T A A T a u f d e r T a g u n g des D e u t s c h e n

M u s e u m s b u n d e s im August 1 9 3 3 , in dem er den Expressionismus als »die erste F a n f a r e des steigenden Nationalismus in der jungen Kunst« bezeichnete. 1 6 1 Anders als in der Literatur oft behauptet, kann man diese Auslegung, wie Eugen Blume richtig anmerkt, nicht als Rettungsversuch des Expressionismus werten, sondern vielmehr als Statement eines überzeugten Anhängers einer konservativ-nationalen Politik, dessen Kunstverständnis zumindest ideologisch mit dem Nationalsozialismus vereinbar schien. 1 6 1 A u c h A l e x a n d e r Dorner in H a n n o v e r fühlte sich 1 9 3 3 mit seinem volksnahen, didaktischen Konzept des M u s e u m s in Übereinstimmung mit den Ideen der Nationalsozialisten. Indem er einzelne, f ü r die neuen M a c h t h a b e r »anstößige Bilder« aus der modernen Abteilung des M u s e u m s entfernte und den Expressionistenraum und das Abstrakte Kabinett mit neuen, oftmals prekären Beschriftungen versah, näherte er sich der »nordisch/germanischen«

Interpretation

des Expressionismus a n . 1 6 3 Die H o f f n u n g , den Expressionismus als nationale Kunst im Nationalsozialismus zu etablieren, basierte zum Großteil sicher auf der widersprüchlichen Haltung innerhalb der N S D A P . Die Befürworter des Expressionismus vertrauten darauf, dass sich die im K a m p f b u n d f ü r Deutsche Kultur versammelten konservativen K r ä f t e u m A l f r e d Rosenberg und Paul Schultze-Naumburg innerhalb der Partei nicht durchsetzen würden. Die Berufung v o n Joseph Goebbels zum Reichsminister f ü r V o l k s a u f k l ä r u n g und Propaganda am 1 3 . M ä r z 1 9 3 3 , der Gerüchten zufolge N o l d e bewunderte und mit den Expressionisten sympathisierte, konnte als Signal verstanden werden, dass die »Säuberungsaktionen« des K a m p f b u n d e s in der Provinz von der neuen Staatsführung keineswegs vorbehaltlos unterstützt w u r d e n . 1 6 4 M a n blickte nach Italien, w o Margherita Sarfatti, die Vertraute Mussolinis und eine der einflussreichsten Figuren der faschistischen Kulturpolitik, nicht nur f ü r die Futuristen eintrat, sondern sich auch begeistert über die deutschen äußerte.

165

BRÜCKE-Künstler

N o c h zu Beginn des Jahres 1 9 3 4 f a n d im H a m b u r g e r Kunstverein und

danach in Berlin in den R ä u m e n der ehemaligen Galerie Flechtheim die Ausstellung I T A L I E N I S C H E F U T U R I S T I S C H E F L U G M A L E R E I (AEROPITTURA) statt. Z u ihren

Schirmherren gehörten Reichsluftfahrtminister H e r m a n n Göring sowie der italienische Futurist und Faschist Filippo T o m m a s o Marinetti. Es macht den Anschein, dass über den U m w e g des italienischen Faschismus und die dortige Wertschätzung des Futurismus der Versuch unternommen wurde, der gemäßigten M o d e r n e eine Rechtfertigung im nationalsozialistischen Deutschland zu v e r s c h a f f e n . 1 6 6 Die Entscheidung gegen den Expressionismus als eine K u n s t f o r m , die mit den nationalsozialistischen Idealen vereinbar war, fiel mit Hitlers Kulturrede auf dem 6. Parteitag in N ü r n b e r g im September 1 9 3 4 . D o r t zog Hitler die programmatische Konsequenz der parteiinternen M a c h t k ä m p f e zwischen Rosenberg und Goebbels.

»Die S ä u b e r u n g d e s K u n s t t e m p e l s « : Die Aktion »Entartete K u n s t « _ 5 7

In seiner Rede warnte er vor der Einmischung der bisherigen »Kunstverderber« in die nationalsozialistische Bewegung und bezeichnete »das ganze Kunst- und Kulturgestotter von Kubisten, Futuristen, Dadaisten usw.« als »weder rassisch begründet noch völkisch erträglich«. Zugleich warnte Hitler vor einer ausschließlich rückwärts gewandten Kunst, womit er sich explizit gegen die völkisch orientierte Einstellung von Rosenberg und seinem Kampfbund für Deutsche Kultur wandte. 2 0 7 Dennoch war die Entscheidung gefallen. Die Hoffnung der fortschrittlich gesinnten Kräfte innerhalb der NSDAP, den Expressionismus als »Staatskunst« zu etablieren, w a r endgültig zerstört worden.

» D I E S Ä U B E R U N G DES K U N S T T E M P E L S « : DIE AKTION » E N T A R T E T E K U N S T «

Trotz der Diskussionen um den Expressionismus als mögliche »Staatskunst« innerhalb des Nationalsozialismus waren bereits im April 1 9 3 3 in Mannheim und Karlsruhe sogenannte Schandausstellungen eröffnet worden. In ihnen waren moderne Gemälde und Grafiken zu sehen, denen ein »kulturbolschewistischer« Charakter unterstellt wurde. Die Präsentationen gingen meist auf lokale Initiativen des Kampfbundes für Deutsche Kultur zurück. Propagandaminister Joseph Goebbels lehnte das unkoordinierte und öffentliche Kritik erregende Vorgehen scharf ab was die Ausstellungen jedoch nicht verhinderte. 268 Als erste »Schandausstellung« eröffnete die Schau KULTURBOLSCHEWISTISCHE BILDER in Mannheim. In ihr wurden Gemälde, Plastiken und Grafiken von 55 Künstlern gezeigt, darunter Adler, Baumeister, Beckmann, Chagall, Davringhausen, Delaunay, Dix, Ensor, Grosz, Hofer, Kanoldt, Klee, M a r c , Munch, Nolde, Schlemmer und Schlichter. 26 ' Dominierten in Mannheim vor allem Arbeiten der von Hartlaub vermehrt angekauften Neuen Sachlichkeit, zeigten die Veranstalter in Karlsruhe unter dem Titel REGIERUNGSKUNST VON 1 9 1 8 - 1 9 3 3 vornehmlich impressionistische Gemälde sowie expressionistische Grafik. 2 7 0 Ähnliche Femeschauen folgten im gleichen Jahr in München, Nürnberg, Chemnitz, und Stuttgart. 2 7 1 Die in den Ausstellungen präsentierten Bilder wurden dem Publikum pauschal als »bolschewistische« Degenerationserscheinungen der Weimarer Republik vorgeführt und sollten letztlich den Sieg der neuen Machthaber als »revolutionären Neubeginn« feiern. Oftmals w a r der Eintritt Jugendlichen unter 1 8 Jahren untersagt, wodurch eine Aura des Verbotenen geschaffen und die Sensationslust des Publikums geschürt wurde. Ein weiteres Charakteristikum w a r das antithetische Ausstellungsprinzip, bei dem Beispiele der geächteten Kunst Werken der als vorbildlich deklarierten Kunst gegenübergestellt wurden. 2 7 2 Entsprechend der am Ort verfügbaren Bestände moderner Kunst differierten die Ausstellungen inhaltlich, waren jedoch programmatisch und methodisch ähnlich kon-

5 8 _ Z e i t g e n ö s s i s c h e K u n s t in ö f f e n t l i c h e n S a m m l u n g e n vor d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g

zipiert. Nach dem Abbau der »Schandausstellungen« verschwanden die Kunstwerke meist in den Depots oder wechselten durch Verkaufs- und Tauschaktionen den Besitzer/ 73 Auch in Dresden fasste die Stadtverordnetenversammlung auf Antrag der NSDAP-Fraktion am 2 6 . J u n i 1 9 3 3 den Beschluss, der Bevölkerung die seit 1 9 1 9 angekauften Kunstwerke als »Spiegelbilder des Verfalls« zu präsentieren. 274 Bereits im Vorfeld, zwischen M ä r z und M a i 1 9 3 3 , waren umfangreiche Bestände in der Staatlichen Skulpturensammlung und der modernen Abteilung der Gemäldegalerie auf Betreiben des Malers und Leiters der Gau-Fachgruppe Bildende Künste in Sachsen, Walter Gasch, beschlagnahmt worden. Insgesamt entfernten Gasch und seine Mitstreiter z8 Bilder aus der Gemäldegalerie und 27 Skulpturen aus der Sammlung der Plastiken/ 7 5 Im Dresdner Stadtmuseum w a r eine solche Aktion nicht mehr nötig, dort waren die unerwünschten zeitgenössischen Künstler schon seit 1 9 2 4 in der so bezeichneten Schreckenskammer zusammengefasst. 1 7 6 Walter Gasch und der seit 1 9 3 3 amtierende Rektor der Dresdner Kunstakademie, Richard Müller, übernahmen auch die Koordination des Ausstellungsprojekts, das am 2 3 . September 1 9 3 3 unter dem Titel ENTARTETE KUNST im Lichthof des neuen Rathauses eröffnete/ 7 7 Unter dem gleichen Titel sollte vier Jahre später, 1 9 3 7 , auch die Münchner Ausstellung ihre Pforten öffnen. In Dresden waren 207 Kunstwerke ausgestellt, darunter 42 Ölgemälde, zehn Plastiken, 43 Aquarelle und 1 1 2 Grafiken, die nahezu alle aus der »Schreckenskammer« des Stadtmuseums stammten. Hingegen waren nur wenige der aus der Gemäldegalerie entfernten Kunstwerke ausgewählt worden. Vermutlich wollten die Veranstalter den Schwerpunkt auf die Dresdner Kunstszene legen, die in der Gemäldegalerie nicht sonderlich gut vertreten war. Bis auf wenige Ausnahmen - wie Campendonk, Feininger, Kandinsky, Nolde und Klee - gehörten sämtliche der rund 40 Künstler entweder der Künstlergruppe

BRÜCKE, der

DRESDNER

SEZESSION

GRUPPE

1919

und der A S S O

an

oder waren Schüler der Dresdner Kunstakademie/ 7 8 N a c h ihrem Ende wanderte die Dresdner Femeschau in insgesamt zwölf deutsche Städte und wurde im Juli 1 9 3 7 als Ganzes in die Münchner Ausstellung ENTARTETE KUNST integriert/ 7 9 In Erfurt hatte Kunze bereits 1 9 3 3 im Anbetracht der neuen kulturpolitischen Situation Leihgaben an Privatpersonen und Künstler zurückgegeben. Auch die Familie Hess nahm die Kunstwerke, die sie 1 9 2 7 dem Angermuseum leihweise zur Verfügung gestellt hatte, 1 9 3 3 mit ins englische Exil. Durch einen Aufruf des thüringischen Gauleiters Kieser verunsichert, der auf einer Versammlung des Kampfbundes für Deutsche Kultur erklärte, dass man die Bilder von Schmidt-Rottluff, Heckel, Klee, Feininger, Kokoschka, Nolde und anderen selbst in den Kellerräume bringe falls es die Museumsleitung nicht tue, hielt Herbert Kunze die moderne Abteilung ab M ä r z 1 9 3 3 nur noch für Interessenten zugänglich/ 8 0 Einzig ein paar

»Die Säuberung des Kunsttempels«: Die Aktion »Entartete Kunst« _ 5 9

Werke von »zahmeren Ausläufern« wie Feininger oder Nolde blieben in der Schausammlung. 1 8 1 Auch in den Präsentationen des angegliederten Kunstvereins fehlten fortan die Expressionisten und eine für 1 9 3 2 geplante Beckmann-Ausstellung wagte Kunze trotz der bereits gelieferten Bilder nicht mehr zu zeigen. 282 Doch anders als manch seiner Kollegen verblieb Kunze zunächst im Amt. Noch im Januar 1 9 3 5 besuchte Klaus Graf von Baudessin das Erfurter Museum und gelangte zu der Auffassung, dass die Sammlung den Eindruck einer planvollen, verantwortlichen Arbeit mache und die Abteilung des 20. Jahrhunderts nicht nur einwandfrei, sondern vorbildlich sei. Z u sehen waren unter anderem ein »unproblematisches Blumenstück« von Nolde, ein Mädchenbildnis von Heckel (Leihgabe) sowie einige Aquarelle von Nolde, Heckel und Schmidt-Rottluff. 2 8 3 Auch das von Heckel ausgemalte Gewölbe war weiterhin zugänglich. Erst nach Kunzes Beurlaubung im Dezember 1 9 3 7 ließ die daraufhin als kommissarische Direktorin eingesetzte M a g dalena Rudolph den R a u m verschließen und eine mittelalterliche Holzskulptur davor stellen. 284 Kunzes bis 1 9 3 7 tolerierte liberale Haltung in Bezug auf die Moderne w a r letztlich auch für die Erfurter Kommunalpolitiker nicht mehr tragbar. Wie der Oberbürgermeister in einem Brief an Kunze schrieb, habe dieser sich durch seine Förderung der »entarteten Kunst« so schwer belastet, dass es einem Nationalsozialisten nicht zugemutet werden könne, mit ihm über Angelegenheiten der Kunst zu verhandeln. l 8 s In Halle hatte man schon vorher der neuen kulturpolitischen Situation Rechnung getragen. Dort richtete Hermann Schiebel, der Nachfolger von Alois Schardt, 1 9 3 5 eine »Schreckenskammer« ein. Als ständige Präsentation konzipiert, umfasste sie nahezu den gesamten Hallenser Bestand an moderner Kunst. Sie w a r in einem separaten Bereich des Museums untergebracht und nur mit einer besonderen Genehmigung und »gegen Zahlung einer Sondergebühr« zugänglich. Die »Schreckenskammer« wurde am 27. Juli 1 9 3 7 gänzlich für die Öffentlichkeit geschlossen. 286 Eine Woche zuvor, am 1 9 . J u l i 1 9 3 7 , w a r in München die groß angelegte Ausstellung ENTARTETE KUNST eröffnet worden, in der sich eine beträchtliche Anzahl der diffamierten Kunstwerke aus deutschem Museumsbesitz befanden. Was sich in den »Schand- und Schreckensausstellungen« der Vorjahre im Hinblick auf die politische Zielsetzung, ideologische Stoßrichtung und propagandistische Inszenierung angekündigt hatte, fand nun in München seinen Höhepunkt. 2 8 7 Insgesamt zeigte die ENTARTETE KUNST, die in der Gipsabgusssammlung des Archäologischen Instituts in den Hofgartenarkaden untergebracht war, 650 Werke der Avantgarde aus 3 2 M u seen. Das Spektrum der 1 2 0 vertretenen Künstler erstreckte sich dabei vom deutschen Impressionismus über Expressionismus, Bauhaus, Dada, die Abstrakten, den Konstruktivismus und die Neue Sachlichkeit. Dabei richtete sich die Denunzia-

6 0 _ Z e i t g e n ö s s i s c h e K u n s t in ö f f e n t l i c h e n S a m m l u n g e n v o r d e m Z w e i t e n W e t t k r i e g

12

U n b e k a n n t e r F o t o g r a l . Ausstellung ENTARTETE KUNST in M ü n c h e n , 1 9 3 7

( R a u m mit Arbeiten v o n Lovis Corinth, Wilhelm Lehmbruck und Franz M a r c ) , Berlin, Zentralarchiv der Staatlichen Museen Stiftung Preußischer Kulturbesitz

tion v o r allem gegen den E x p r e s s i o n i s m u s - speziell gegen die B R Ü C K E - K ü n s t l e r (Abb. iz).

D i e O r g a n i s a t o r e n , A d o l f Ziegler, der M a l e r und K u n s t s c h r i f t s t e l l e r

W o l f g a n g W i l l r i c h , dessen P a m p h l e t D I E S Ä U B E R U N G DES K U N S T T E M P E L S

im

F r ü h j a h r 1 9 3 7 erschienen w a r , und der H a m b u r g e r Z e i c h e n l e h r e r u n d J o u r n a l i s t Walter H a n s e n hatten die K u n s t w e r k e n a c h t h e m a t i s c h e n G e s i c h t s p u n k t e n

ge-

h ä n g t . Z i t a t e u n d S c h l a g w o r t e v o n K r i t i k e r n , M u s e u m s d i r e k t o r e n und verurteilenden Ä u ß e r u n g e n Hitlers u n d einzelner Parteimitglieder der N S D A P k o m m e n t i e r t e n die H ä n g u n g . Z u d e m hatten sie unter den Bildern B e s c h r i f t u n g e n a n g e b r a c h t , a u f denen die P r o v e n i e n z u n d der A n k a u f s p r e i s der G e m ä l d e und B i l d w e r k e v e r m e r k t w a r e n . 2 8 8 D i e S c h a u w a r ein riesiger P o p u l a r i t ä t s e r f o l g . Bis z u m 3 0 . N o v e m b e r 1 9 3 7 sahen sie über z w e i M i l l i o n e n M e n s c h e n , g e m ä ß Z e i t u n g s b e r i c h t e n f ü n f M a l so viele w i e die GROSSE D E U T S C H E K U N S T A U S S T E L L U N G , die zeitgleich im gegenüberliegenden H a u s der D e u t s c h e n K u n s t s t a t t f a n d . 2 8 9 N a c h der Schließung der ENTA R T E T E N KUNST in M ü n c h e n tourte die S c h a u bis 1 9 4 1 als W a n d e r a u s s t e l l u n g d u r c h verschiedene deutsche Städte - als erste Station k a m sie im F e b r u a r 1 9 3 8 n a c h Berlin.290

»Die S ä u b e r u n g des Kunsttempels«: Die Aktion »Entartete K u n s t « . 6 1

Für die Bestückung der Ausstellung ENTARTETE KUNST in München hatte eine kurz zuvor eingesetzte Kommission »entartete« Kunstwerke in den Museen beschlagnahmt. Die Aktion w a r durch ein Dekret von Joseph Goebbels vom 30. Juni 1 9 3 7 legitimiert worden. Darin hieß es: »Auf Grund einer ausdrücklichen Vollmacht des Führers ermächtige ich hiermit den Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste, Herrn Prof. Ziegler, München, die im deutschen Reichs-, Länder- und Kommunalbesitz befindlichen Werke deutscher Verfallskunst seit 1 9 1 0 auf dem Gebiete der Malerei und der Bildhauerei zum Z w e c k e einer Ausstellung auszuwählen und sicherzustellen. Ich bitte, Herrn Prof. Ziegler bei der Besichtigung und Auswahl der Werke weitgehende Unterstützung zuteil werden zu lassen.« 2 9 1 Ziegler stand eine Kommission zur Seite, deren Mitglieder sich in den letzten Jahren als »Kritiker der Moderne« sowohl innerhalb der Partei als auch in der Öffentlichkeit hervorgetan hatten. 292 In weniger als zehn Tagen konfiszierte die Gruppe Kunstwerke aus 3 1 Museen in 23 Städten, die auf der Stelle nach München gebracht w u r d e n . 2 " Noch während der Laufzeit der ENTARTETEN KUNST hatte Goebbels eine zweite, wesentlich umfangreichere Beschlagnahmungswelle an den deutschen Museen in Gang gesetzt, die nun alle Werke einschloss, die mit der nationalsozialistischen Kulturpolitik unvereinbar schienen, auch Beiträge ausländischer Künstler. Auslöser war ein »Führerauftrag«, den Joseph Goebbels am 27. Juli 1 9 3 7 veröffentlichen ließ. Darin hieß es: »Hiermit beauftrage ich den Akademie-Professor Adolf Ziegler, aus allen im Reichs-, Länder- und Kommunalbesitz befindlichen Museen, Galerien und Sammlungen die noch vorhandenen Produkte der Verfallszeit zu beschlagnahmen.« 1 9 4 Für diese zweite Beschlagnahmungsaktion wurden insgesamt 1 0 1 Museen in 74 Städten aufgesucht. 2 9 5 Zudem wurden unliebsame Künstler konsequenter als bisher mit einem Malverbot belegt, von den Akademien ausgeschlossen und in die äußere oder innere Emigration getrieben. 296 Von den Museen waren vor allem die Institutionen betroffen, die sich während der Weimarer Republik ausdrücklich zur Moderne bekannt hatten. 297 Hatte man am Angermuseum in Erfurt für die Ausstellung ENTARTETE KUNST im Juli nur schriftlich das Gemälde RUSSE II ( 1 9 1 4 ) von Nolde angefordert, beschlagnahmte die Kommission am 27. August 1 9 3 7 im Zuge der zweiten Konfiszierungswelle nahezu den gesamten Bestand der modernen Abteilung. 298 In Jena hatte der Kunstverein nach dem Weggang von Walter Dexel 1 9 2 8 seine Selbstständigkeit immer mehr aufgegeben und sich 1 9 3 4 dem Stadtmuseum angegliedert. Dessen Direktorin Johanna Stirnemann hatte mit Ausstellungen von Künstlern und Künstlerinnen

62.Zeitgenössische

K u n s t in ö f f e n t l i c h e n S a m m l u n g e n v o r d e m Z w e i t e n

Weltkrieg

wie Paula Modersohn-Becker ( 1 9 3 0 ) , Arbeiten der GRUPPE JUNGER MALER DES BAUHAUS DESSAU (:193ο) oder Gabriele Münter ( 1 9 3 4 ) wenigstens in Ansätzen versucht, an das frühere Programm des Kunstvereins a n z u k n ü p f e n . z " Doch die Kommission suchte auch Jena auf. Den Eintragungen im Inventarband zufolge fielen der Beschlagnahmung 228 Holzschnitte, Radierungen und Lithografien Kirchners, 1 5 Gemälde, elf Aquarelle und Zeichnungen und 5 1 Grafiken von anderen Künstlern zum Opfer. 3 0 0 In Weimar w a r nach den Aktivitäten Fricks und Schultze-Naumburgs bereits seit 1 9 3 0 keine moderne Kunst mehr in den öffentlichen Sammlungen zu sehen. Köhler w a r 1 9 3 2 einem Ruf an die Harvard University in Cambridge gefolgt. Als sein Stellvertreter übernahm Walter Scheidig die Leitung des Museums und schaffte es bis 1 9 3 5 nur einige Druckgrafiken zu kaufen. 3 0 1 Diese, wie der übrige verbliebene Bestand moderner Kunst, wurde nahezu komplett konfisziert. 302 In Dresden musste Posse am 2. September 1 9 3 3 die in den zwanziger Jahren erworbenen Kunstwerke der Avantgarde den nationalsozialistischen Machthabern melden und der Schandausstellung ENTARTETE KUNST in Dresden zur Verfügung stellen. Alle von der Stadt angekauften Werke, die sich als Leihgaben in der Galerie befanden, ebenso wie Bilder von Feininger, Kirchner, Felixmüller, Klee und Otto Lange wurden den Besitzern ausgehändigt. Ebenso ging der SCHÜTZENGRABEN von Dix zurück an den Patronatsverein. Z u r gleichen Zeit rechtfertigte Posse in einer Verteidigungsschrift die Ankäufe des Vereins für die Gemäldegalerie: »Was an moderner Kunst in den Besitz der Galerie gelangt ist, ist an Z a h l und A u f w a n d staatlicher Mittel so gering, dass man die Dresdner Galerie gewiß nicht, wie es von unverantwortlicher Seite böswillig geschehen ist, als eine Blütestätte modernistischer Verirrung und Propaganda bezeichnen darf, namentlich, wenn man an die umfassende Betätigung in dieser Hinsicht an den meisten deutschen Kunststädten, selbst in kleinen Städten denkt. Meine Ziele sind für den, der guten Willens w a r oder ist, immer klar gewesen. Sie haben sich immer in erster Linie auf die Reorganisation des alten Dresdner Erbes und auf die Schaffung einer Galerie des X I X . Jahrhunderts erstreckt, während die Beschäftigung mit der modernsten Kunst, wie die Ankaufstätigkeit bezeugt, sich stets auf das Notwendigste einer lokalen Kunstpflege beschränkte.« 3 0 3 Die Negierung seines Engagements für die moderne Kunst w a r möglicherweise der Grund, warum Posse bis 1 9 3 8 im Amt blieb und danach von Hitler zum Sonderbeauftragten für das »Führermuseum« in Linz berufen wurde. Bevor er ging w a r Anfang Juli 1 9 3 7 die Beschlagnahmekommission auch an die Dresdner Gemäldegalerie gekommen, ohne jedoch Bilder für München anzufordern. N u r aus

»Die S ä u b e r u n g des Kunsttempels«: Die Aktion »Entartete Kunst« _ 6 3

dem Kupferstichkabinett schickte man sechs Zeichnungen und 45 Grafiken dorthin. Bei der zweiten Aktion, am 1 4 . August, sah das schon anders aus. Wie in den übrigen Museen konfiszierte das Gremium an den Kunstsammlungen nahezu den gesamten Bestand moderner Kunst. Das Stadtmuseum hatte bereits 1 9 3 3 durch die Vorläuferausstellung ENTARTETE KUNST in Dresden zahlreiche Werke verloren, doch büßte es im August 1 9 3 7 weitere 3 9 0 Kunstwerke ein. 304 In Chemnitz übernahm nach der Beurlaubung von Friedrich

Schreiber-

Weigand im April 1 9 3 3 der seit 1 9 3 0 der N S D A P angehörende Kunsthistoriker Wilhelm Rüdiger die Leitung des Museums. Dieser hatte gleich nach Ablauf der von ihm organisierten »Schandausstellung« im Juni 1 9 3 3 alle dort ausgestellten Kunstwerke ins Depot verbannt und einen Teil im darauf folgenden Jahr durch Verkaufs- und Tauschaktionen abgestoßen. 305 Die im Magazin verbliebenen »entarteten« Bestände wurden mit der zweiten Beschlagnahmungswelle am 1 9 . August 1 9 3 7 von der Kommission eingezogen. 306 In Halle w a r Alois Schardt nach einem kurzen Intermezzo an der Nationalgalerie in Berlin wieder an die Moritzburg zurückgekehrt. Dort zog er sich nahezu vollständig aus den Museumsdiensten zurück und überließ Hermann Schiebel die Führung, der 1 9 3 5 aufgrund von Schardts häufiger Abwesenheit die kommissarische Direktion übernahm. 3 0 7 Schiebel, der zugleich Direktor der Kunsthandwerkschule Burg Giebichenstein war, hatte zuvor die Einrichtung der »Schreckenskammer« veranlasst. Direkt aus dieser heraus beschlagnahmte die Kommission am 8. Juli 1 9 3 7 62 Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen. Im Zuge der zweiten Aktion am 2 1 . August 1 9 3 7 verlor das Museum weitere 27 Gemälde, 7 1 Aquarelle und Zeichnungen. 3 0 8 Verglichen mit anderen Museen ähnlichen Ranges waren die Verluste an der Moritzburg relativ gering. Allein im Folkwang Museum in Essen zogen die Prüfer 1 . 2 7 3 Arbeiten ein. 309 Andreas Hüneke schätzt die Anzahl der im Zuge der Aktion »Entartete Kunst« in den Museen beschlagnahmten Werke auf insgesamt 1 9 . 5 0 0 , darunter 2.500 Gemälde, 300 Plastiken, zehn Textilarbeiten und drei Mosaike, ferner 2 . 1 0 0 Aquarelle und Pastelle und 1 . 5 0 0 Zeichnungen. 3 1 0 Die im Z u g e der zweiten Beschlagnahmungswelle konfiszierten Kunstwerke kamen zur Verwahrung zunächst in ein Berliner Depot in der Köpenicker Straße. Dort bestimmte Franz Hofmann, Mitglied der Beschlagnahmekommission, nach einer Besichtigung des Lagers am 1 3 . Januar 1 9 3 8 , dass die Rückgabe an die Museen in keinem Fall zu erwägen sei, um so Komplikationen zu vermeiden. Rückwirkend wurde das Gesetz über die »Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst« ausgearbeitet, das die entschädigungslose Enteignung der im Vorjahr konfiszierten Werke verfügte. Es wurde am 3 1 . M a i 1 9 3 8 von Hitler und Goebbels unterzeichnet und am 2. Juni 1 9 3 8 im Reichsgesetzblatt veröffentlicht. 3 " Damit w a r die Grundlage für eine wirtschaftliche Verwertung des entwendeten Kunstgutes gegeben. Auf

6 4 - Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen Sammlungen vor dem Zweiten Weltkrieg

Veranlassung von Rolf Hetsch, Mitarbeiter im Sonderreferat »Entartete Kunst« innerhalb der Reichskammer der bildenden Künste, wurde daraufhin aus den Beständen des Depots in der Köpenicker Straße alles »verwertbare Material« nach Schloss Niederschönhausen verbracht. Alle übrigen Kunstwerke im Depot wurden vermutlich am 20. M ä r z 1 9 3 9 im Hof der Hauptfeuerwache verbrannt. 3 1 1 Auf Anweisung von Goebbels w a r im M a i 1 9 3 8 eine »Kommission zur Verwertung der beschlagnahmten Werke entarteter Kunst« gebildet worden. 3 ' 3 Als Vermittler für den Verkauf beauftragte die Kommission ab Herbst 1 9 3 8 jedoch hauptsächlich vier Kunsthändler und den Maler Emanuel Fohn, die aufgrund ihrer internationalen Erfahrungen mit dem Handel moderner Kunst vom Propagandaministerium autorisiert wurden. 3 ' 4 Es waren der aus Güstrow stammende Bernhard A. Böhmer, Hildebrand Gurlitt aus Hamburg, Karl Buchholz und Ferdinand Möller aus Berlin. Ihnen wurde gestattet, eine Auswahl aus den beschlagnahmten Beständen zu treffen und diese in Kommission zu nehmen, um sie gegen Devisen zu veräußern oder gegen ältere Kunst zu tauschen. 3 ' 5 Die Kunsthändler hatten die Auflage bekommen, die Werke ausschließlich ins Ausland abzugeben und die Herkunftsangaben unkenntlich zu machen oder zu entfernen. Der Handel mit inländischen Interessenten war ausdrücklich untersagt. 3 ' 6 Wie später ersichtlich wurde, ist diese Regel nicht immer befolgt worden. So verkaufte beispielsweise Ferdinand Möller während des Krieges auch an Interessenten im Inland oder behielt Werke zurück. 3 ' 7 Zusätzlich zu den Verkäufen der genannten Kunsthändler fand am 30. Juni 1 9 3 9 eine internationale Auktion in der Galerie Fischer in Luzern statt, auf der 1 2 5 Arbeiten »entarteter« Künstler versteigert wurden und ins Ausland abwanderten. 3 ' 8 Die 1 9 3 7 vorgenommenen Beschlagnahmungen und weitere Verkäufe während des Krieges löschten die Abteilungen moderner Kunst an den deutschen Museen fast gänzlich aus. Allein in privaten Galerien bestand vereinzelt noch die Möglichkeit, einige moderne Künstler im Original zu sehen. 3 ' 9

DIE N A T I O N A L G A L E R I E IM » D R I T T E N R E I C H «

Insbesondere in Berlin hatte sich Anfang der dreißiger Jahre das Kreuzfeuer der widerstreitenden Meinungen verschärft. Die Nationalgalerie bot dafür einige Anlässe. Einer w a r die von Ludwig Thormaehlen auf Bitten norwegischer Künstler für Oslo und andere skandinavische Städte als Privatauftrag konzipierte Ausstellung NEUE

DEUTSCHE

KUNST

(NYERE TYSK

KUNST),

die i m J a n u a r 1 9 3 2 als erste

Station in Oslo eröffnete. 3 2 0 In der Schau waren ausgewählte Beispiele deutscher Malerei und Bildhauerei des ersten Jahrhundertdrittels zu sehen. Gezeigt wurden 1 8 0 Arbeiten von 78 Künstlern, darunter die Maler der BRÜCKE und des BLAUEN

Die Nationalgalerie im »Drillen Reich« _65

REITERS, Barlach, Beckmann, Belling, Dix, Feininger, Hofer, Klee, Kokoschka, Lehmbruck, Rohlfs, Radziwill, Hoerle, Baumeister und Nay. 3 1 1 Liebermann, als Protagonist des Impressionismus, war nicht vertreten. 3 1 1 Die Ausstellung wurde in der ausländischen Presse lobend besprochen. Anders in Deutschland: Dort protestierten die Künstlerverbände gegen die Künstlerauswahl und unterstellten Justi und Thormaehlen vorauseilende Anpassung an die nationalsozialistische Propaganda. 3 1 ' Im gleichen Jahr begann Justi im Kronprinzenpalais mit der Umgestaltung der modernen Abteilung. Schon in den vorangegangenen Jahren hatte er die Bestände mehr und mehr in die Gegenwart verschoben. Bei der nun anstehenden Modifikation 193Z/1933 nahm er eine grundsätzliche Neuordnung vor. Justi brachte die Werke der französischen Impressionisten und jene von Liebermann zurück ins Stammhaus auf die Museumsinsel. Damit trennte er die deutsche Moderne von ihren französischen Wurzeln und begrenzte sie auf ihren »nordischen« Ursprung. 314 Diese Interpretation der Genese der modernen Kunst und die Tatsache, dass Liebermann mit dem Umzug auf die Museumsinsel gewissermaßen aus dem Kontext der zeitgenössischen Kunst ausgegrenzt und dem 19. Jahrhundert zugeordnet wurde, brachten Beobachter mit den sich anbahnenden politischen Umwälzungen in Verbindung. So warf der Kunstkritiker Adolf Behne Justi vor, sich mit der demonstrativen Geringschätzung der künstlerischen Lebensleistung Liebermanns und der Stilisierung des Expressionismus zu einer »nordischen« Kunstbewegung der nationalsozialistischen Propaganda anzudienen. 3 1 ' Die Vorwürfe von Behne und anderen Kritikern über die Neuordnung der Abteilung sowie gegen die von Thormaehlen organisierte Schau deutscher Kunst in Oslo wurden kurz vor der offiziellen Eröffnung der Neueinrichtung im Kronprinzenpalais in einem Diskussionsabend im Kunstclub am 4.Januar 1933 erörtert. 3 1 6 Zur Veranstaltung mit dem Titel NATIONALGALERIE,

KRONPRINZEN-PALAIS,

MAL SO, M A L A N D E R S h a t t e P a u l

Westheim geladen, als Hauptredner trat Adolf Behne auf. Dieser stellte bei Justi »einen auffälligen Gesinnungswandel« fest. Unverkennbar sei Justis »Tendenz, die Entwicklung der deutschen Kunst nach dem Wunschtraum eines nordischen Rassentums zu stilisieren.« Natürlich habe der Direktor der Nationalgalerie - so Behne das Recht und sogar die Pflicht, sich ein bestimmtes Bild von der Entwicklung der deutschen Kunst zu machen und diesem in seiner Galerietätigkeit Ausdruck zu verleihen. Das Befremdliche sei nur, dass dieses Bild sich ständig wandle und immer dann neu hervortrete, wenn sich die politische Gesamtlage ändere. 3 1 7 Er unterstellte Justi Antisemitismus - einen Vorwurf, den er mit dem Fehlen von Liebermann in Oslo und dessen Rückführung ins Stammhaus begründete. 318 Behne hielt es für verfehlt, van Gogh und Munch einseitig als Vorläufer eines »nordischen« Expressionismus zu deuten und den Impressionismus als rein französische Erscheinung zu interpretieren, um so eine Polarität beider Tendenzen zu konstruieren. Auch West-

66.Zeitgenössische

K u n s t in ö f f e n t l i c h e n S a m m l u n g e n v o r d e m Z w e i t e n

Weltkrieg

heim kritisierte Justi für seinen »Teutonismus« und die »germanische« Linie im A u f b a u der modernen Abteilung der Nationalgalerie. 3 2 9 Daraufhin ergriff Schardt für Justi Partei, indem er betonte, dass »ein deutscher Museumsdirektor nationale Gesichtspunkte haben d ü r f e . « 3 3 0 Die offizielle Eröffnung der neu strukturierten Sammlung fand am 1 5 . Februar 1 9 3 3 statt, kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Der Ausstellungsrundgang begann nun mit Werkreihen von Munch und van Gogh. Zusammen mit diesen waren im Erdgeschoss die Franzosen Braque, Gris, Maillol, Matisse, Picasso sowie 1 5 neu erhaltene Gemälde der italienischen Künstlergruppe NOVECENTO zu sehen, vertreten durch Carlo Carrà, Giorgio de Chirico, Amedeo Modigliani, Gino Severini und M a r i o Tozzi. Der Italiener-Saal wurde separat von Hermann Göring eröffnet, der auch die einführende Rede hielt. 3 3 1 Neben den Arbeiten im Parterre hatte Justi im mittleren Geschoss »einige der in letzter Zeit erworbenen Bilder von Kaus, Nay, Pfeiffer Watenphul, Radziwill, Scholz, Slevogt, Zerbe, Zitzewitz, Plastiken von Albiker, Ebbinghaus, Scheibe, Sintenis, außerdem die Modelle zum Totenmal für einen Kriegsfriedhof in Belgien von Käthe Kollwitz« untergebracht. 3 3 2 Das zweite Stockwerk erreichte der Besucher über eine kleine Nebentreppe im Ostflügel, von der er in einen schmalen R a u m mit der OSTENDER MADONNA und acht weiteren Bildern von Heckel gelangte. Darauf folgte ein Saal mit dem TÜRM DER BLAUEN PFERDE von M a r c und der KNIENDEN und Zeichnungen von Lehmbruck. Im Anschlusssaal hingen zehn Gemälde Noldes zusammen mit Arbeiten von Kirchner, Klee und Barlach, für den zusätzlich ein eigener R a u m eingerichtet worden war. Außerdem waren noch Belling, Dix, Feininger, Heckel, Hofer, Macke, Mataré, Pechstein, Rohlfs und SchmidtRottluff zu sehen. Weitere Neuerwerbungen von Achmann, Bartning, Kniep, Lenk, Nägele, Schrimpf, Garbe, Herzog, Karsch und Roeder hatte Justi mit in die neue Hängung integriert. Als Leihgaben positionierte er in einem Saal die vier Bilder der JAHRESZEITEN ( 1 9 x 8 ) von Joseph Pilartz. Der Rundgang endete mit dem erst kurz zuvor eingerichteten Saal für M a x Beckmann. 3 3 3 Wie die zeitgenössischen Kritiker glaubt auch Winkler, dass die Neupräsentation der Versuch w a r »den Expressionismus zum Inbegriff des Deutschen zu stilisieren.« 33 ' f Dieser Interpretationsansatz stützt sich nicht zuletzt auf einen von Justi verfassten Artikel mit dem Titel VOLKSTUM UND ÖFFENTLICHE KUNSTSAMMLUNG, in dem er schrieb: »Neben dem Impressionismus und zunächst aus ihm heraus erhebt sich der sog. Expressionismus, von Meistern germanischen Blutes geführt, van Gogh und Munch: Festigung und Steigerung der Form, zugleich Rückkehr zum inneren Gehalt [...].« 3 3 5 Auch die Eröffnung des Italiener-Saals kann als ein taktischer Schachzug Justis im Dienste der neuen Machthaber gewertet werden. Die in diesem R a u m vereinig-

Das K r o n p r i n z e n p a l a i s und der » n o r d i s c h e « E x p r e s s i o n i s m u s _ 6 7

ten Künstler repräsentierten den »neuen Stilwillen« des faschistischen Italiens, womit Justi die offizielle italienische Kulturpolitik als mögliches Vorbild für das »Dritte Reich« und seine noch herauszubildende Kunstpolitik vorstellte. 336 Inwiefern Justis Interpretation des Expressionismus als nationale, deutsche Kunst und seine Annäherung an die Argumentationsweise der Nationalsozialisten einer persönlichen Einstellung entsprach oder eher eine geschickte Anpassung an die politische Lage darstellten, kann trotz der vorhandenen Quellen meines Erachtens nicht eindeutig geklärt werden. Sicher ist, dass Justis Denken von Beginn an durch eine national-konservative Haltung geprägt war, die nicht im Widerspruch zu der von ihm verteidigten deutschen Moderne stand, genauso wenig wie seine Ableitung der Kunst aus Nationalcharakteren. Beides war kein Einzelfall - seine Haltung

teilte er mit der Mehrheit

Generation.

337

der deutschen

Kunsthistoriker

seiner

Doch letztlich maß er dem Künstlerischen gegen alle kulturpoliti-

schen Restriktionen immer Priorität bei.

M D A S

K R O N P R I N Z E N P A L A I S UND DER » N O R D I S C H E «

EXPRESSIONISMUS

Die Oslo-Ausstellung und die Neuordnung im Kronprinzenpalais schienen zu belegen, dass mit den fortschrittlich gesinnten Kräften innerhalb der N S D A P ein kulturelles Bündnis möglich war. Gleichzeitig avancierte die moderne Sammlung der Nationalgalerie jedoch zum Hauptangriffsziel der anti-modernen Kräfte um Alfred Rosenberg und seinem Kampfbund für Deutsche Kultur. In immer kürzeren Abständen erschienen

Schmähartikel

im

VÖLKISCHEN

BEOBACHTER,

der

DEUT-

SCHEN KULTUR-WACHT und anderen nationalsozialistischen Publikationsorganen, die das Kronprinzenpalais unter anderem als »Brutstätte des jüdischen Kulturbolschewismus« diffamierten. 3 3 8 Auch gegen die Neuordnung wurde polemisiert. So erschien am z o . M ä r z 1 9 3 3 ein Artikel in der NEUEN KREIS-ZEITUNG, der Justis Taktik zu durchschauen meinte. Dort hieß es: »Geheimrat Justi, der Direktor dieser Sammlung, die uns einen Überblick über die moderne deutsche Malerei geben soll, hat es mit Geschick verstanden, diese Umhängungen mit einer Ausstellung neu erworbener italienischer Bilder zu verkoppeln. - Die freundliche Einstellung zu Italien und die entsprechenden Gesten politischer Höflichkeit - die Sammlung wurde sogar von dem preußischen Ministerpräsident Göring eröffnet, - sollen uns aber nicht verführen, den Blick dem eigentlichen Inhalt dieser, seit Jahrzehnten gesammelten Bildungsstätte des deutschen Volkes abzulenken, um über dem sympathischen Festakt aus Anlaß der Eröffnung dieser kleinen Sonderschau etwa eine General-

6 8 . Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen Sammlungen vor dem Zweiten Weltkrieg

entlastung zu erteilen für die traurige kulturelle Mißwirtschaft, die seit der Revolution in so vielen unserer modernen Kunstsammlungen getrieben worden ist. Was uns in diesem Kronprinzen-Palais als junge deutsche Kunst vorgeführt wird, sind Juden, nichts als Juden, deutsche Juden und ausländische Juden! - in diesen Dokumenten einer langen Sammeltätigkeit zeigt sich aufs deutlichste, in wie verantwortungsloser Art sich die vom deutschen Volk angestellten und bezahlten Verwalter seines Kulturgutes dieser hohen Aufgabe entledigt haben! [...] Die neue Regierung täte gut, eine Kommission zu ernennen, die in dieser Hinsicht einmal alle unsere Bildergalerien einer gründlichen Durchsicht und Bereinigung unterzöge, mag die jüdische Presse noch so schreien. Und was wirklich wertvoll ist, soll dann ruhig erhalten bleiben - in der Oranienburger Straße!« 3 3 9 Der von Justi klug vorbereitete Schachzug mit der Ausstellung der Künstlergruppe NOVECENTO, die im faschistischen Italien offizielle Anerkennung fand, die Neuordnung im Kronprinzenpalais und damit die moderne deutsche Kunst zu stützen, war nicht aufgegangen. Trotzdem hegte Justi weiterhin die Hoffnung auf eine Wendung der nationalsozialistischen Kulturpolitik zugunsten der modernen Kunst. In einem Brief an Erich Wiese, den Leiter des Breslauer Kunstmuseums, schrieb er: »Die Stellung der Regierung zur neuen deutschen Kunst ist noch keineswegs geklärt. Sie wissen, daß man in Karlsruhe, Mannheim, Nürnberg, Chemnitz sogenannte >Schandausstellungen< gemacht hat (in Dresden wird etwas ähnliches geplant), in denen Bilder fast aller bedeutenden lebenden Maler verächtlich gemacht werden sollen. Sie wissen auch sicher, daß unsere Kollegen Swarzenski, Hartlaub, Sauerlandt, Baum, Cohen, Kaesbach, Wiehert, With, Frl. Fischel, Schreiber-Weigand, Grote, F. T. Schulz, Riezler beurlaubt oder entlassen sind, und daß man an den Akademien die Mehrzahl der modernen Künstler entließ wie: Hofer, Scharff, Klee, Moll, Mareks, Crodel, Schlemmer, Scheibe usw. An der Nationalgalerie hat man bisher weder personell noch sonst etwas geändert, nur die [Ankaufs-] Kommission ist aufgelöst, eine neue noch nicht ernannt. Das ist aber wohl nur vorläufig so. Ich habe von mir aus nichts weggehängt, das Kronprinzen-Palais ist unverändert - bis auf vorübergehende Umstellungen aus Anlaß der Norweger-Ausstellung.« 3 4 0 Der Standpunkt Justis und die divergierenden Meinungen über die moderne Abteilung der Nationalgalerie entsprachen der gespaltenen Diskussion um die Moderne in diesen Jahren. Während in der Provinz schon die ersten »Schandaus-

Das K r o n p r i n z e n p a l a i s und der » n o r d i s c h e « E x p r e s s i o n i s m u s . 6 9

Stellungen« liefen, schien man in Berlin den ersten Ansturm gegen die Vertreter der Moderne ohne große Restriktionen überstanden zu haben. Rave führt die Situation an der Nationalgalerie auf die Struktur der Berliner Kulturbürokratie zurück, die »an maßgeblicher Stelle noch bemüht [war], nicht alle Dämme zu überspülen und einreißen zu lassen«. 3 4 1 Auch auf der Demonstration des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes am 2 9 . J u n i 1 9 3 3 fanden die Veranstalter für die Sammlung des Kronprinzenpalais und Ludwig Justi anerkennende Worte. Justi und seine Mitarbeiter nahmen selbst an der Kundgebung teil. Doch nur zwei Tage später, am i . J u l i 1 9 3 3 , erschien ein Artikel in der DEUTSCHEN KULTUR-WACHT, in dem es hieß: »Vor kurzer Zeit empfing der Reichskanzler Adolf Hitler eine Abordnung von führenden Künstlern zu einer hochbedeutenden Unterredung. Er entschied dabei, dass das Kronprinzen-Palais im Sinne eines Programms gesäubert werde, die Bildwerke aber nicht vernichtet, sondern als Dokumente einer dunklen Zeit deutscher Geschichte besonders aufgehoben werden sollten.« 3 4 2 Am selben Tag wurde Justi vom Kultusminister mit sofortiger Wirkung beurlaubt und wenig später als Kustos an die Kunstbibliothek versetzt. 343

Nach

Meinung Hentzens war es zur Beurlaubung von Justi nur deshalb gekommen, weil die beiden Referenten im Kultusministerium Wolf Meinhard von Staa und HansWerner von Oppen davon überzeugt waren, dass es um der Sache willen notwendig war, Justi - auf den die Angriffe der Nationalsozialisten sich konzentrierten durch eine andere Persönlichkeit zu ersetzen, die für die neuen Machthaber weniger belastend wäre, aber die gleiche Kulturpolitik vertrete. Aus diesem Grund beauftragte das Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Alois Schardt mit der kommissarischen Leitung der Nationalgalerie. Schardt kannte die Berliner Sammlung. Anfang der zwanziger Jahre hatte er als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter unter Justi im Kronprinzenpalais gearbeitet, bevor er 1 9 2 3 die Leitung des von Emile Jaques Dalcroze gegründeten Bildungsinstituts in Hellerau übernahm und 1 9 2 6 die Nachfolge von Sauerlandt in Halle antrat. 344 Schardt w a r seit 1 9 3 3 Mitglied der N S D A P und gehörte dem Kampfbund für Deutsche Kultur an, dessen Ortsgruppe für Bildende Kunst er in Halle leitete. Er teilte Justis Begeisterung für die moderne Kunst. Trotzdem hielt er dessen »Einteilung und Beurteilung nach naturalistisch-historischen Grundsätzen« für veraltet. Seiner Meinung nach forderte »die neue Zeit [...] klare und eindeutige Bekenntnisse, hervorgehend aus charakterlich-weltanschaulichen Einsichten.« 345 Schardt erkannte in der Kunst drei durch die Jahrtausende nebeneinander verlaufende Richtungen: Er unterschied die klassizistische, naturalistische und die romantische

7 0 . Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öttentlichen S a m m l u n g e n vor dem Zweiten Weltkrieg

Linie, wobei er letzterer die »moderne Ausdruckskunst« zuordnete. In einer von ihm 1 9 3 3 abgeschlossenen, aber nie in Druck gegebenen Denkschrift mit dem Titel WESENSMERKMALE

DER

DEUTSCHEN

BILDENDEN

KUNST verknüpfte Schardt

seine Gedanken über die Kunstentwicklung mit spezifischen Überlegungen zur deutschen Kunst. 346 In seiner Untersuchung ging er von der Prämisse aus, dass ein Volk ein einheitliches Gefühlsleben besitze und postulierte einen fundamentalen Wesensunterschied zwischen »Romanen« und »Nordländern«. Die moderne Kunst, namentlich Nolde, Feininger, Marc, Barlach und Lehmbruck, waren für ihn - ähnlich wie für viele seiner Kollegen - Ausweis des »Gesundungswillen der nordischen Völker«. 347 Schardt betonte, »daß der echte Kunstvorgang sich jeder willkürlichen Einmischung entzieht«, forderte jedoch für das Museum eine Ordnung nach »völkischem Gesichtspunkte«, da »für den deutschen Menschen zur Einfühlung in die eigene Wesensart das arteigene Kunstwerk einen ungleich größeren Wert haben [wird] als ein fremdes oder überfremdetes Werk.« 348 Ausgehend von dieser Deutung der Kunstgeschichte plante Schardt eine grundsätzliche Neuordnung der Bestände der Nationalgalerie. Als erste Aufgabe nahm er sich das Kronprinzenpalais vor. Wie er sich die Umgestaltung vorstellte legte er am 10. Juli 1 9 3 3 in einem Vortrag in der Kunstbibliothek mit dem Titel WAS IST DEUTSCHE KUNST? dar. Schardt stellte darin die Moderne in einen weiten kunstgeschichtlichen Zusammenhang, um so insbesondere den Expressionismus als Ergebnis eines spezifisch »germanischen« Kunstschaffens aufzuzeigen, der sich vom Rationalismus des Romanischen absetzte.349 Diesem Ansatz folgend legte er im Kronprinzenpalais eine Art Entwicklungsgang der romantisch-expressiven Seite der Malerei an, der von den Romantikern über die Deutschrömer bis in die Moderne führte. Während die Arbeiten des Realismus und des »Idealismus« im Stammgebäude der Nationalgalerie verblieben, überführte er Beispiele der deutschen Romantik - aus der sich die Moderne seiner Meinung nach evolutionär ableitete - ins Kronprinzenpalais. Die Romantiker, vor allem Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich, brachte er im Erdgeschoss unter. Im ersten Stock standen dagegen Hans von Marées, Anselm Feuerbach und Hans Thoma im Mittelpunkt. Böcklin beließ er im Stammhaus, ebenso die figürlichen Darstellungen von Feuerbach. Das Obergeschoss des Kronprinzenpalais blieb weiterhin den Expressionisten vorbehalten, wobei er das Gewicht auf Rohlfs, Nolde, Marc, Macke, Feininger, Kokoschka, Hofer, Barlach und Lehmbruck legte (Abb. 13). Nicht berücksichtigt wurden Beckmann und Klee. Als »außerdeutsche« - aber »germanische« - Vorläufer stellte er van Gogh und Munch aus. 350 Da er kaum Ankäufe tätigen konnte, griff Schardt zur Verwirklichung seiner Vorstellungen auf Leihgaben zurück. 351 Da vom Ministerium gefordert worden war, die »Kunst der Lebenden in ihrer ganzen Breite zu zeigen«, demnach auch die Maler der Neuen Sachlichkeit wie

Das K r o n p r i n z e n p a t a i s und der » n o r d i s c h e « E x p r e s s i o n i s m u s . 71

15

Unbekannter Fotograf. A b t e i l u n g m o d e r n e r K u n s t der N a t i o n a l g a l e r i e im K r o n p r i n z e n p a l a i s ,

I9i3

( R a u m mit A r b e i t e n v o n F r a n z M a r c ) , Berlin, Z e n t r a l a r c h i v der Staatlichen M u s e e n S t i f t u n g Preußischer Kulturbesitz

R a d z i w i l l , S c h r i m p f , Lenk oder die junge K ü n s t l e r g r u p p e DER N O R D E N , die bei Schardts H ä n g u n g im K r o n p r i n z e n p a l a i s fehlten, ließ er den Prinzessinnenpalais r ä u m e n , um dort die besagten Künstler u n t e r z u b r i n g e n . 3 5 1 S o meinte Schardt sein K o n z e p t im K r o n p r i n z e n p a l a i s halten zu können, mit dem er nicht nur versuchte der M o d e r n e über das J a h r 1 9 3 3 hinaus einen Platz im M u s e u m zu sichern, sondern sie gleichzeitig im Hinblick auf eine z u k ü n f t i g e V o l k s g e m e i n s c h a f t zu instrumentalisieren. 3 5 3 Hinter seinem K o n z e p t verbargen sich, w i e Olaf Peters richtig a n m e r k t , zu Beginn der N S - D i k t a t u r w e n i g e r taktische E r w ä g u n g e n , als wirkliche G r u n d ü b e r z e u g u n g e n , in denen der E x p r e s s i o n i s m u s als A u s d r u c k einer völkischromantischen K u n s t als Teilbereich der M o d e r n e akzeptiert w u r d e . 3 5 4 Ende O k t o b e r 1 9 3 3 w a r die Neueinrichtung des K r o n p r i n z e n p a l a i s fertig gestellt. Die Mitarbeiter der N a t i o n a l g a l e r i e betrachteten die neue H ä n g u n g mit Skepsis. R a v e sah in ihr den Versuch das K r o n p r i n z e n p a l a i s zu einer sakralen Weihestätte zu erheben, die in der » A p o t h e o s e des E x p r e s s i o n i s m u s « gipfelte. Er hielt die lange Schließung des Hauses im Z u g e der N e u h ä n g u n g f ü r gefährlich, da sich der K a m p f um die m o d e r n e K u n s t inzwischen weiter verschärft hatte. 3 5 5 A u c h Kultusminister Bernhard R u s t überzeugte das K o n z e p t nicht, der, nachdem er die neue Einrichtung begutachtet hatte, die E r ö f f n u n g verweigerte. 3 5 6 Schardt musste d a r a u f h i n seinen Platz r ä u m e n . Er kehrte nach Halle zurück, w o Arbeitsbedingungen mittlerweile ebenfalls verschlechtert hatten.

sich

seine

72„Zeitgenössische

14

K u n s t in ö f f e n t l i c h e n S a m m l u n g e n v o r d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g

Ernst Barlach, R U H E N D E R

WANDERER,

1 9 1 0 , Bronze, 36 Χ 55,5 Χ

cm,

Berlin,

Staatliche M u s e e n , Nationalgalerie

Doch noch immer herrschte in Berlin eine tendenziell liberale Grundhaltung in Bezug auf die Moderne. Nach dem Weggang von Schardt berief Rust den Münchner Eberhard Hanfstaengl ins Amt. Hanfstaengl war zuvor Leiter der Städtischen Galerie im Lenbachhaus gewesen und galt, wie Hentzen schreibt, »mit Recht als hervorragender Kenner der deutschen Malerei des 1 9 . Jahrhunderts und w a r bisher von den Nationalsozialisten kaum angegriffen worden, wohl auch, weil in der Städtischen Galerie kaum Ärgernis erregende Werke zu sehen waren.« 3 5 7 Er galt als loyaler Nationalsozialist, stand jedoch der modernen Kunst durchaus aufgeschlossen gegenüber. 358 Als seine erste und wichtigste Aufgabe betrachtete Hanfstaengl somit auch die Wiedereröffnung des Kronprinzenpalais, das seiner Meinung nach ausschließlich der Kunst des 20. Jahrhunderts gehören sollte. Im Zuge seiner Neuordnung brachte er die Gemälde von Marées und Feuerbach ins Stammhaus zurück, ließ aber zunächst ein romantisches Kabinett mit Werken von Runge, Friedrich und Blechen im Kronprinzenpalais bestehen. 359 Nach nur drei Wochen schloss er die Reorganisation des Hauses ab. Nach erfolgreicher Abnahme eröffnete er es am 1 7 . Dezember 1 9 3 3 . 3 6 0 Hanfstaengl hatte bei der Umgestaltung auf den Erhalt der Sammlung als Ganzes geachtet. 361 Trotzdem fehlten bei der Präsentation Schlemmer, Baumeister

Das K r o n p r i n i e n p a l a i s und der » n o r d i s c h e « E x p r e s s i o n i s m u s - 7 3

15

Alexe] von Jawlensky.

BEGIF.RDF., um

1 9 1 5 , Öl auf

3 4 , 5 X 2.4 c m , B e r l i n , S t a a t l i c h e M u s e e n ,

und K a n d i n s k y . A u c h der B e c k m a n n - R a u m w a r aufgelöst w o r d e n und von Klee hing nur noch DER G O L D E N E F I S C H ( 1 9 2 6 ) . Bei S c h m i d t - R o t t l u f f , Kirchner und N o l d e hatte H a n f s t a e n g l auf figürliche Darstellungen verzichtet und ausschließlich L a n d s c h a f t e n und Stilleben a u f g e h ä n g t . Da es ihm v o r w i e g e n d um die deutsche K u n s t ging, n a h m er die Werke von ausländischen Künstlern wie Picasso oder B r a q u e einstweilen aus dem Blickfeld. D a g e g e n blieben M u n c h und van G o g h als V o r l ä u f e r des E x p r e s s i o n i s m u s an ihrem Platz - ebenso die Italiener. D a Corinth und Slevogt bisher noch nicht so stark a n g e g r i f f e n w o r d e n w a r e n , zeigte er alle in der S a m m l u n g vorhandenen Bilder. Indem H a n f s t a e n g l diejenigen Werke magazinierte, die bis dahin den deutlichsten W i d e r s p r u c h bei den nationalsozialistischen Kunstkritikern hervorgerufen hatten, oder sie im Falle von Leihgaben an die Besitzer z u r ü c k g a b , meinte er, A n g r i f f e n aus dem Weg gehen zu können. Auf welche G r a t w a n d e r u n g er sich damit begab, verdeutlicht ein Artikel von

Pappe,

Nationalgalerie

Robert

Scholz: «Dr. H a n f s t a e n g l hat ein sehr böses Erbe ü b e r n o m m e n . (...) Der Streit geht um die Prominenten der vergangenen K u n s t e p o c h e , um N o l d e , H o f e r , Feininger, Klee, K o k o s c h k a , D i x usw. Sie werden von den einen als Kunstbolschewisten,

7 4 - Z e i t g e n ö s s i s c h e K u n s t in ö f f e n t l i c h e n S a m m l u n g e n v o r d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g

16

O s k a r K o k o s c h k a , DIE J A G D , J 9 I 8, Öl auf Leinwand, 1 0 0 χ 1 5 0 , 5 cm, Berlin,

Staatliche M u s e e n , Nationalgalerie

als Repräsentanten des Verfalls bezeichnet, von den anderen wiederum als Wegweiser der Kunstentwicklung angesehen. In dieser völligen Unsicherheit des künstlerischen Werturteils hatte man die Eröffnung des KronprinzenPalais mit besonderer Spannung erwartet. Tatsächlich hat aber die jetzige provisorische F o r m eine Lösung und Klärung nicht gebracht. M a n hat versucht, einen goldenen Mittelweg zu gehen, der sicher weder die Freunde noch die Feinde der modernen Kunst befriedigen wird.« ' 6 2 Trotz der kritischen W o r t e w a r der Balanceakt scheinbar gelungen. Im G r o ß e n und Ganzen erhielt die Neuordnung im Kronprinzenpalais in der Presse ein durchaus positives E c h o . Neben den bürgerlichen Zeitungen befürwortete auch der V Ö L K I S C H E B E O B A C H T E R , dass einige unerwünschte Werke verschwunden waren und die Sammlung durch die Eingliederung neuer Bilder einen »günstigeren Eindruck« mache. Es sei eben nicht möglich, die Sünden der Vergangenheit mit einem Schlag gutzumachen. Es bliebe noch viel zu tun, aber Hanfstaengl sei auf dem besten Wege. 3 6 3 Sonderausstellungen mit der Beteiligung zeitgenössischer Künstler fanden seit 1 9 3 3 nur noch selten statt. Um den nationalsozialistischen Tendenzen aus dem Weg zu gehen, beschränkte sich Hanfstaengl auf ikonografische und historische Themen.

Das Kronprinzenpalais und der » n o r d i s c h e « E x p r e s s i o n i s m u s

17

So

M a x Pechstein, RUHENDK,

1 9 1 1 , ÖL a u f L e i n w a n d , - 5 χ ι ο ί

i n t e g r i e r t e e r in d i e A u s s t e l l u n g s r e i h e

DEUTSCHE

c m , Berlin, Staatliche M u s e e n ,

Nationalgalerie

KUNST

die

SF.IT

DÜRER,

vom Außenamt der Staatlichen Museen und dem Ministerium veranstaltet wurde, einzelne Werke von Barlach, Lehmbruck, Macke, Corinth und anderen modernen Künstlern. 56 " 1 Monografische Präsentationen kamen nur noch als Gedächtnisausstellungen vor. Darüber hinaus versuchte Hanfstaengl, durch einige wenige Ankäufe jüngerer Künstler, Leihgaben aus Privatbesitz und Tauschaktionen die moderne Abteilung weiter auszubauen beziehungsweise zu erhalten. ,i ' 5 Im Fall von Nolde tauschte er Τ 9 3 5 dessen Bild D I E F A M I L I E ( 1 9 3 I) g e g e n J U N G E P F E R D E ( 1 9 1 6 ) a u s , da ihm

Landschaften weniger provokant als Figurenbilder erschienen. Einen unverhofften Zuwachs erhielt die moderne Abteilung

1935

75

durch ein von

Finanzminister

Johannes Popitz von der Dresdner Bank erworbenes Konvolut mit je einer Arbeit von Barlach, Dix und Jawlensky, sieben von Kokoschka und zwei von Pechstein (Abb. Γ4-Γ7 / ). ΐ66 Ein Jahr später erhielt die Nationalgalerie 64 Bilder, Handzeichnungen und Grafiken »kulturbolschewistischer Tendenz«, die bei einer Aktion der Gestapo und des Reichsministeriums des Inneren im Auktionshaus M a x Perl in

7 6 - Z e i l g e n ö s s i s c h e K u n s t in ö f f e n t l i c h e n S a m m l u n g e n vor d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g

Berlin beschlagnahmt worden waren und von denen einige an der Nationalgalerie als »Zeitdokumente zur Aufbewahrung unter Sekretion« bleiben sollten. Hanfstaengl musste die Auswahl übernehmen. Er entschied sich für Hofers WEIBLICHER

steins

AKT AUF

BLAUEM

FISCHERFAMILIE

KISSEN

SITZENDER

(1927), zwei Bilder von Mueller, Pech-

(192z), drei Aquarelle von Dix, jeweils ein Aquarell von

Schlichter, Pechstein, Heckel und Adler, drei von Radziwill, sechs von Mueller und eine Mappe mit Zeichnungen. Die übrigen wurden am 20. Mai 1 9 3 6 im Heizungskeller des Kronprinzenpalais verbrannt. 367 Im Gegensatz zu anderen deutschen Museen, deren Bestand an moderner Kunst in »Schandausstellungen« verunglimpft oder bereits vor Mitte der dreißiger Jahre in die Depots verbannt worden war, blieb die moderne Abteilung im Kronprinzenpalais bis 1 9 3 6 weiter für die Öffentlichkeit zugänglich. 368 Im gleichen Jahr nahm Hanfstaengl weitere Veränderungen in der Ausstellungsgestaltung vor. Er schuf einen zweiten Raum mit Arbeiten von Barlach, einen Raum für Lehmbruck und einen mit Werken jüngerer Künstler (Abb. 18). Dort waren Belling, Dix, Heckel, Hofer, Kirchner, Macke, Marc, Mueller, Nolde, Pechstein, Rohlfs und SchmidtRottluff zu sehen. 36 ' Klee, Kokoschka und Feininger hängte Hanfstaengl zu den ausländischen Meistern. Die Neugestaltung wurde im SS-Blatt KORPS

unter dem Titel

KRONPRINZENPALAIS

DAS

SCHWARZE

SÄUBERUNGSBEDÜRFTIG!

heftig

angegriffen. Der anonyme Verfasser warf der Museumsleitung vor, dass die Präsentation »so ziemlich alles Verständnis für das kulturelle Wollen des neuen Reiches vermissen« lasse und sie »unter dem Deckmantel der Kunstwissenschaft gerade die Dinge weiterhin propagieren, deren völlige Ausmerzung uns geboten erscheint.« 370 Wenige Monate später, im August 1 9 3 6 , wurde das Erd- und Hauptgeschoss des Kronprinzenpalais ausgeräumt, da die Nationalgalerie dort in Zusammenarbeit mit den Staatlichen Museen aus Anlass der Olympischen Spiele die Ausstellung GROSSE DEUTSCHE

IN B I L D N I S S E N

IHRER ZEIT

präsentierte. Einige Werke der

Neuen Abteilung blieben im obersten Stockwerk weiterhin zugänglich - die Präsentation war jedoch auf die »wichtigsten« Arbeiten beschränkt. Gleich nach dem Ende der Spiele, bevor die alte Ordnung im Kronprinzenpalais wiederhergestellt werden konnte, ordnete Bernhard Rust am 30. Oktober 1 9 3 6 in Abwesenheit des Direktors an, das Obergeschoss »vorläufig« zu schließen. 371 Nach seiner Rückkehr von einem Kongress in Rom ließ Hanfstaengl zumindest die beiden unteren Geschosse des Kronprinzenpalais mit Werken von van Gogh, Munch, Kollwitz, Mareks, dem Kreis der Berliner Secession um Corinth und Slevogt und den Italiener-Raum wieder öffnen. 372 Die obere Etage blieb hingegen für die breite Öffentlichkeit geschlossen, war jedoch weiterhin Interessierten in unveränderter Form zugänglich. Diese Handhabung ließ sich acht Monate auf-

Die Aktion »Entartete K u n s t « a n der N a t i o n a l g a l e r i e _ 7 7

18

Unbekannter

F o t o g r a f . M o d e r n e A b t e i l u n g d e r N a t i o n a l g a l e r i e im K r o n p r i n z e n p a l a i s , r 9 3 6 - r 9 3 7 ( R a u m mir

Arbeiten von Ernst Barlach), Berlin, Zentralarchiv der Staatlichen M u s e e n Stiftung Preußischer

Kulturbesitz

rechterhalten, bevor a m 5. Juli 1 9 3 7 durch eine Verfügung von Rust die endgültige Schließung des gesamten K r o n p r i n z e n p a l a i s e r f o l g t e . , 7 3 Wenig später, a m 2.6. Juli w u r d e H a n f s t a e n g l beurlaubt, ebenso H e n t z e n . ' " 4 N a c h d e m der neue Ministerialdirektor K l a u s G r a f von Baudessin a m 4. A u g u s t 1 9 3 7 zunächst K u r t Eberlein zum kommissarischen D i r e k t o r ernannte, ü b e r n a h m w e n i g später Paul O r t w i n R a v e die kommissarische Leitung der N a t i o n a l g a l e r i e .

D I E A K T I O N » E N T A R T E T E K U N S T « AN D E R

NATIONALGALERIE

N u r zwei Tage nach der endgültigen Schließung des K r o n p r i n z e n p a l a i s k a m eine f ü n f k ö p f i g e K o m m i s s i o n nach Berlin, um aus der S a m m l u n g der N a t i o n a l g a l e r i e K u n s t w e r k e f ü r die ENTARTETE KUNST in M ü n c h e n a u s z u w ä h l e n . " 5 Bereits ein halbes J a h r zuvor, im N o v e m b e r 1 9 3 6 , hatte H a n f s t a e n g l einige Werke aus dem Bestand f ü r eine Antikomintern-Ausstellung in M ü n c h e n ausgeliehen, die dort als Beispiele »bolschewistischer K u n s t « v o r g e f ü h r t w u r d e n . Darunter befanden sich Aquarelle von G r o s z , Klee und die Alabasterfigur DAS ICH von O s w a l d H e r z o g . Sie w u r d e n nicht wieder an die N a t i o n a l g a l e r i e z u r ü c k g e g e b e n . " 6 Für die Berliner Ausstellung GEBT MIR VIER J Ä H R E Z E I T , in der in einem »Schaufenster« eine Gegenüberstellung von deutscher und »entarteter Kunst« gezeigt werden sollte,

78 _ Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen S a m m l u n g e n vor dem Zweiten Weltkrieg

kamen Wolfgang Willrich und Walter Hansen im April 1 9 3 7 in die Nationalgalerie, um dort das Material für die Präsentation zu sichten. 377 Aufgrund dieser »Vorwarnung« gaben Hanfstaengl und seine Mitarbeiter die Leihgaben moderner Kunst wahrscheinlich sofort nach der Schließung des Kronprinzenpalais an Privatsammler und Künstler zurück. 378 Als die Kommission am 7. Juli im Kronprinzenpalais eintraf, beschlagnahmte sie insgesamt 59 Gemälde, vier Plastiken und 5 z Zeichnungen. 375 Wenige Tage später, am 10. Juli, wurden die beanstandeten Kunstwerke nach München gebracht, wo die Organisatoren Ziegler, Schweitzer, Hansen und Willrich einen Großteil von ihnen in die Ausstellung

ENTARTETE

KUNST

integrierte (Abb. 19).

Noch während der Laufzeit der Femeschau kam vom 1 3 . bis 16. August 1 9 3 7 ein zweiter Beschlagnahmetrupp, um die verbliebenen Stücke moderner Kunst mitzunehmen. 380 In der Zwischenzeit war das Kronprinzenpalais geräumt und alle Werke ins Stammhaus auf die Museumsinsel verbracht worden. 381 Die Kommission, die im August die Nationalgalerie aufsuchte, stellte weitere 7z Gemälde, Z4 Plastiken sowie Z51 Aquarelle und Zeichnungen sicher. 381 Von diesen gingen einige nach München, als Austauschmaterial für die

ENTARTETE KUNST,

die Übri-

gen bewahrte man im Sammellager in der Köpenicker Straße in Berlin auf. 383 Zusätzlich beschlagnahmte das Gremium aus der Sammlung der Handzeichnungen und dem Kupferstichkabinett nach Angaben von Blume etwa 369 Blätter.384 Das waren weniger als 50 Prozent der Zeichnungen, die in Frage kamen - von den fast 40 Zeichnungen Corinths sonderte die Kommission lediglich fünf aus, von den 70 Heckeis nur z i und den 60 Mackes elf. Nach Angaben von Hentzen hatte zudem der Kustos der neuen Abteilung des Kupferstichkabinetts Willy Kurth zusammen mit dem Volontär Wolfgang Schöne am gleichen Abend, vor der Ablieferung der ausgewählten Blätter, einige wertvolle Zeichnungen gegen unwichtigere austauschen können. Dies war möglich, da im Kupferstichkabinett nur die Anzahl der beschlagnahmten Werke auf Listen festgehalten wurden und nicht, wie in der Nationalgalerie, alle Kunstwerke einzeln.385 Aber auch an der Nationalgalerie bewahrten die Mitarbeiter einige Gemälde vor dem Abtransport. So konnten BRÜCKE

IN

KÖLN

von Ernst Ludwig Kirchner, das

(1907) und das Bildnis Kokoschka, die

DER

KNIENDE

WIENER

BAUMEISTER

STILLEBEN ADOLF

MIT

LOOS

RHEINANANAS

(1909) von

( 1 9 1 I ) von Lehmbruck und weitere Arbeiten, vor der

Kommission versteckt werden. Des Weiteren überzeugten die Museumsmitarbeiter die Prüfer davon, dass es vorteilhaft wäre, das

TROJANISCHE

PFERD

(1924) von

Corinth gegen ein nicht als »entartet« eingestuftes Bild aus dem Früh werk des Künstlers einzutauschen. Der Tausch fand nie statt und das

TROJANISCHE

PFERD

blieb im Depot der Nationalgalerie. Zwei weitere, ursprünglich beschlagnahmte Gemälde Corinths

-

INNTAL-LANDSCHAFT

(1910) und

DIE FAMILIE

DES

MALERS

D i e A k t i o n » E n t a r t e t e K u n s t « an d e r N a t i o n a l g a l e r i e

19

Unbekannter Fotograf. Ausstellung E N T A R T E T E

KUNST

in M ü n c h e n ,

1 9 3 7 , Berlin,

der Staatlichen M u s e e n Stiftung Preußischer

_79

Zentralarchiv Kulturbesitz

F R I T Z RUPF ( 1 9 0 1 ) - k a m e n später an die N a t i o n a l g a l e r i e zurück, weil das Gremium sich über den G r a d der »Entartung« nicht einig war.' 1 1 6 Die 1 9 3 5 von der Dresdner Bank ü b e r n o m m e n e n G e m ä l d e w u r d e n von der K o m m i s s i o n nicht gefunden da sie nicht inventarisiert w a r e n . ' 8 7 A b e r auch die B e s c h l a g n a h m u n g s a k t i o n im A u g u s t sollte nicht die letzte an der N a t i o n a l g a l e r i e sein. A m 3. N o v e m b e r 1 9 3 7 k a m e n H o f f m a n n und Hetsch ein drittes M a l . N u n n a h m e n sie Bilder ausländischer Künstler mit, die man in Berlin, im Gegensatz zu den A u s w a h l v e r f a h r e n in anderen M u s e e n , zunächst ausgeklammert hatte.' 8 8 Dieses M a l fielen insgesamt 2 1 G e m ä l d e und Plastiken, darunter Arbeiten von M o d i g l i a n i , van G o g h und M u n c h der B e s c h l a g n a h m u n g zum Opfer. H o f f m a n n und Hetsch brachten sie zu den übrigen Werken »entarteter« Kunst in das D e p o t in der K ö p e n i c k e r Straße.' 8 9 Andererseits k a m e n im L a u f e des J a h r e s 1 9 3 8 aus staatlichen Dienststellen Werke der »Verfallskunst« zur A u f b e w a h r u n g in die N a t i o n a l g a l e r i e - so zum Beispiel aus dem Reichserziehungsministerium Z e i c h n u n g e n von Feininger, A q u a relle von M a t a r é , Pechstein, R o h l f s und die Skulptur DER SAMMLER ( 1 9 1 3 ) von

8 0 - Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen Sammlungen vor dem Zweiten Weltkrieg

Barlach. 3 9 0 Doch der Verlust w a r nicht abzugleichen. M i t dem von Goebbels verabschiedeten Gesetz vom 3 1 . M a i 1 9 3 8 w a r der Verkauf von »Erzeugnissen entarteter Kunst« aus öffentlichem Besitz rechtlich legitimiert w o r d e n . 3 ' 1 Allein aus dem entfernten Bestand der Nationalgalerie, der im Sammeldepot in der Köpenicker Straße lagerte, standen 45 Gemälde und acht Skulpturen auf der »vertraulichen Liste« der »international verwertbaren« Werke für den internationalen Kunsthandel. 3 9 2 A m 20. M ä r z 1 9 3 9 wurde das Depot geräumt und der als verwendbar angesehene Bestand nach Schloss Niederschönhausen verbracht. Darunter befanden sich aus dem Besitz der Nationalgalerie Arbeiten von Beckmann, Corinth, Dix, Feininger, Heckel, Hofer, Kandinsky, Kirchner, K o k o s c h k a , M a c k e ,

Nolde,

Pechstein, Rohlfs, Schmidt-Rottluff und Plastiken von Barlach und Lehmbruck. Davon wurden circa 20 Kunstwerke auf der Auktion der Galerie Fischer in Luzern am 30. Juni 1 9 3 9 zur Versteigerung angeboten. 393 Neben den in Luzern veräußerten Objekten wurden in den nachfolgenden Jahren insgesamt 2 3 7 Kunstwerke der Nationalgalerie, also knapp die Hälfte des beschlagnahmten Bestandes, verkauft oder getauscht. Göring hatte vorab bereits einige Gemälde aus den ehemaligen Berliner Beständen sichergestellt, um sie über den Kunsthändler Josef Angerer anbieten zu lassen. 394 Hetsch hatte Corinths ECCE HOMO ( 1 9 2 5 ) und Georg Schrimpfs MÄDCHEN AM FENSTER ( 1 9 2 5 ) direkt an das Baseler Kunstmuseum veräußern können und Fohn tauschte einige Werke aus der Nationalgalerie gegen Gemälde aus dem 1 9 . Jahrhundert. 3 9 5 Von den offiziell beauftragten Kunsthändlern hatte Hildebrand Gurlitt einige Bilder aus dem ehemaligen Bestand des Kronprinzenpalais zur weiteren Veräußerung übernommen. Aber den wohl größten Anteil am Handel mit Werken aus dem ehemaligen Bestand der Nationalgalerie hatten die Kunsthändler Ferdinand Möller und Bernhard A. Böhmer. Diese wurden von ihnen zum Teil als Kommissionsware übernommen. 3 9 6 Nach Worten Raves hatte Böhmer unter anderem alle Blätter aus dem Berliner Kupferstichkabinett in Kommission genommen. Unter der Hand sei vereinbart worden, dass keines der 630 Blätter moderner Druckgrafik veräußert würde, sondern diese in ihrer Gesamtheit zurückgestellt und aufbewahrt werden sollten. 397 Zudem waren an Böhmer Beckmanns STILLEBEN MIT GLASKUGEL UND KORNÄHREN ( 1 9 3 4 ) , das Portrait MAX SCHELER von D i x ( 1 9 2 6 ) , Muellers VIER

AKTE

IM WALD ( 1 9 1 9 ) und Rohlfs ZWEI FIGUREN ( 1 9 2 8 ) gegeben worden. Die Nationalgalerie war - zumindest was den Bestand moderner Kunst anging - nahezu ausgeblutet. Zudem wurde sie mit dem Beginn des Krieges am ι . September 1 9 3 9 , wie auch andere Berliner Museen, für den öffentlichen Besuch geschlossen, da man eine Gefährdung der Bestände befürchtete. N u r in einigen Sälen fanden hin und wieder kleinere Ausstellungen statt - jedoch keine mit zeitgenössischer Kunst. 3 9 8 So präsentierte Ludwig Justi 1 9 4 0 in den Räumen der National-

Fazit

galerie zusammen mit Paul Ortwin Rave anlässlich des 1 2 5 . Jahrestages des Sieges über die Armeen Napoleons die Ausstellung GROSSDEUTSCHLANDS FREIHEITSKAMPF. 1 8 1 3 BIS 1 8 1 5 , mit der eindeutig ein propagandistischer Z w e c k verfolgt wurde. 3 9 9 Warum sich Justi für das Projekt einspannen ließ, ist aus der Rückschau nicht mehr nachvollziehbar. Angesichts der zunehmenden Bombenangriffe auf Berlin, die dadurch verursachten Schäden an den Museumsgebäuden und der starken Gefährdung der Sammlungen wurde auch diese Ausstellungstätigkeit letztlich eingestellt. Nachdem die Mitarbeiter die meisten Kunstwerke der Nationalgalerie schon zu Beginn des Krieges in die Tiefenkeller der Reichsbank, die Flaktürme am Z o o und im Friedrichshain eingelagert hatten, wurden sie ab 1 9 4 4 in die Bergwerke Thüringens in Sicherheit gebracht. Die Evakuierung w a r nötig. In den letzten Kriegsmonaten wurden die Nationalgalerie und deren Nebengebäude durch alliierte Luftangriffe schwer beschädigt. Trotz der Auslagerungen fielen dadurch weitere 300 Kunstwerke den Angriffen zum Opfer. 400

FAZIT

Die Integration der Moderne in öffentliche Sammlungen während der Weimarer Republik und die aus der Volksbildungsbewegung erlangten Erkenntnisse hatten zu einer neuen Auffassung der Aufgaben der Museen geführt. Auch Ludwig Justi hatte die Förderung der zeitgenössischen Kunst zu seinem Hauptanliegen gemacht, wobei er die ursprüngliche Bestimmung der Nationalgalerie als nationale Galerie deutscher Kunst immer im Bewusstsein behielt - wenn auch nicht in der vom Kaiser ursprünglich beabsichtigten Form. Justi definierte ihre Vorbildfunktion über die künstlerische Qualität der Sammlung und nicht über ihre politisch-repräsentative Aussage. Seinem Verständnis nach sollten nur die »schöpferischen Meister« Eingang in die Galerie erhalten und zwar ausschließlich mit ihren gelungensten Arbeiten. Dieser M a x i m e maß er oberste Priorität bei, da seiner Meinung nach eine moderne Galerie dazu beitragen sollte, gesellschaftliche Werte aufzustellen und Wertzusammenhänge aufzuzeigen. Diese Werte waren für Justi nicht weltanschaulicher, sondern vielmehr künstlerischer Natur. Der Betrachter sollte durch den reinen Kunstgenuss, durch intensives Sehen und Erleben an die bildende Kunst herangeführt werden. Den Zugang zu den Arbeiten erleichterte Justi dem Besucher durch ausführliche Werkinterpretationen in den Ausstellungsführern und die Einbindung der Kunstwerke in einen formalen, geistigen und historischen Kontext. Mit diesem formalästhetischen Ansatz stand Justi den Zielen der Volksbildungsbewegung nahe, die sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts vermehrt um die Vermitt-

81

8 2 - Z e i t g e n ö s s i s c h e Kunst in öffentlichen S a m m l u n g e n vor dem Zweiten Weltkrieg

lung ästhetischer Werte für eine breite Bevölkerungsschicht mit Hilfe von inszenatorischen und museumsdidaktischen Mitteln bemühte. Die Museumsfachleute, Kritiker und Künstler der Weimarer Republik sprachen der zeitgenössischen Kunst die Kraft zu, direkt auf den Betrachter und damit auf das Leben einzuwirken. Aus diesem Grund sah es Justi als eine nationale Aufgabe an, die lebendige Kunst des eigenen Landes richtig zu erkennen, darzustellen und so dem Ausdruck der Zeit Rechnung zu tragen. Wie in vielen anderen Museen der Weimarer Republik erhielt vor allem der Expressionismus Einzug in die Sammlung der Nationalgalerie. Wie dargelegt wurde, kann dies sowohl mit dem vergleichsweise großen Bekanntheitsgrad des Expressionismus erklärt werden, wie auch mit seiner spätestens nach dem Ersten Weltkrieg einsetzenden Interpretation als deutsche Kunst. Zugleich schien er durch seine künstlerische Befreiung von formalen und inhaltlichen Vorgaben die Erlösung von den Zwängen des Kaiserreichs und dem in ihm herrschenden Kulturverständnis vorweggenommen zu haben, wodurch er zum Symbol des neuen demokratischen Deutschlands avancierte. Berücksichtigt wurde in den Museen vor allem die sogenannte erste Expressionistengeneration, Arbeiten der BRÜCKE, des BLAUEN REITERS sowie von Rohlfs, Lehmbruck, Kokoschka und Beckmann. Aber auch Feininger, Klee, Barlach, Kollwitz, Munch und van Gogh wurden bevorzugt erworben, letztere als Wegbereiter des Expressionismus. Die politisch engagierte und sozialkritische Kunst wurde dagegen nur vereinzelt mit einbezogen. Dieser Verzicht ist zum einen auf die Weigerung der Museumsfachleute zurückzuführen, eine eindeutig politische Haltung einzunehmen. Z u m anderen ist es dem Rückgriff auf vergleichsweise etablierte Künstler zuzuschreiben. Denn auch andere Strömungen der zwanziger Jahre, wie beispielsweise der Konstruktivismus, Dada, der Surrealismus oder die abstrakte Kunst, wurden relativ selten in öffentliche Sammlungen integriert. Diesem eher konservativen Profil entsprach insbesondere die Abteilung des Kronprinzenpalais, auch wenn Justi durchaus einzelne Künstler der zwanziger Jahre zur Vervollständigung des Bildes der Moderne mit in die Sammlung eingliederte. Gemäß dem Auftrag der Nationalgalerie wies Justi der deutschen Kunst und damit dem Expressionismus, den er aus einer deutschen Entwicklungstradition heraus interpretierte, einen primären Rang zu. Vorauseilenden Gehorsam oder taktischen Opportunismus, wie ihm kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1 9 3 3 von einigen Kritikern vorgeworfen wurde, w a r bei dieser nationalen Ausrichtung der Sammlung weniger im Spiel als vielmehr Justis eigene national-konservative Haltung, die er mit vielen seiner Zeitgenossen und Kollegen teilte. Eine politische und propagandistische Vereinnahmung der Kunst und des Museums lag ihm fern, auch wenn er das Ziel verfolgte, der modernen deutschen Kunst ihren Rang innerhalb der Kunstgeschichtsschreibung zuzuweisen. Justis Einstellung ver-

Faz¡t_ 83

hinderte nicht, dass er 1 9 3 3 wie viele seiner Kollegen sein Amt niederlegen musste. Die nachfolgenden Versuche Alois Schardts, Eberhard Hanfstaengls und der kunstpolitischen Opposition innerhalb der NSDAP, den Expressionismus als neue deutsche Kunst im Nationalsozialismus zu etablieren, scheiterten. Die moderne Kunst und insbesondere der Expressionismus wurden nahezu ausnahmslos als »entartet« verurteilt. Es sollte vor allem diese propagandistisch und politisch genutzte Diffamierung der modernen Kunst sein, die einer wiederum politisch motivierten Rehabilitierung dieser Kunstrichtungen nach 1 9 4 5 den Weg bereitete und das Profil vieler Sammlungen im Nachkriegsdeutschland prägen sollte.

Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der Moderne

M i t der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 8. M a i 1 9 4 5 stand die deutsche Bevölkerung ökonomisch, gesellschaftlich und kulturell vor einem Neuanfang. Auch wenn die viel zitierte »Stunde Null« durch zahlreiche Kontinuitäten, die alle Bereiche der deutschen Nachkriegsgesellschaft durchdrangen, objektiv nicht der Realität entsprach, beherrschten die Konsequenzen des Kriegsendes, die allgemeine Orientierungslosigkeit, der Zusammenbruch der lebensnotwendigen Versorgungseinrichtungen und die katastrophale Wohn- und Arbeitssituation zumindest den Wunsch nach einem unbelasteten Neubeginn. Bereits vor dem Ende des Krieges hatten die drei Großmächte USA, Sowjetunion und Großbritannien Pläne für die Zeit unmittelbar nach der Kapitulation Deutschlands erarbeitet. Die Siegermächte sahen dessen Okkupation durch alliierte Truppen und die Aufteilung des Landes sowie die Berlins in drei beziehungsweise, nach der Aufnahme Frankreichs in den Kreis der Sieger im Juli 1 9 4 5 , in vier Besatzungszonen vor. 401 Am 5. Juni 1 9 4 5 übernahm der Alliierte-Kontrollrat im Zuge der Juni-Deklaration die oberste Regierungsgewalt in Deutschland. 4 ° z Während in der Viersektorenstadt Berlin eine alliierte Kommandantur das öffentliche Leben regelte, behielten in den einzelnen Zonen die jeweiligen Besatzungsmächte die Entscheidungshoheit.

8 6 - N e u b e g i n n nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

Dieser Entschluss führte zu unterschiedlichen Entwicklungen in den einzelnen Gebieten. Z w a r hatten die Alliierten auf der Potsdamer Konferenz vom 1 7 . Juli bis 2. August 1 9 4 5 gemeinsame Beschlüsse zur Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Entkartellisierung auf »demokratischer Grundlage« gefasst, diese wurden jedoch von der sowjetischen und den westlichen Besatzungsmächten unterschiedlich ausgelegt und umgesetzt. 403 Von Beginn an leitete die Sowjetische Militäradministration

Deutschlands

(SMAD) tiefgreifende Veränderungen in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Struktur der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ein. 404 Die Reformen bewegten sich zwar alle im Rahmen der Richtlinien des »antifaschistisch-demokratischen« Bündnisses, wiesen aber bereits auf den angestrebten Weg einer Volksdemokratie hin - auch wenn dieser nicht öffentlich propagiert wurde. Wie Hermann Weber darlegt, wurde »jeder Anschein einer >kommunistischen< Entwicklung oder einer Übertragung des Sowjetsystems auf Osteuropa und erst recht auf das gemeinsam besetzte Deutschland vermieden oder zumindest vertuscht.« 405 Z u m einen wollte die S M A D sich möglichst alle Alternativen offen halten, zum anderen sich weiterhin darum bemühen »eine Deutschlandlösung im Einvernehmen mit den Siegermächten mindestens nicht zu verbauen«. 4 0 6 Im Laufe des Jahres 1 9 4 5 richtete die S M A D in der sowjetischen Besatzungszone zivile Dienststellen ein, die für den A u f b a u von Wirtschaft, Verwaltung, Politik und Kultur zuständig waren. Eine von ihnen w a r die Verwaltung für Propaganda und Zensur (ab 1 9 4 7 Abteilung für Information), die für die Administration aller politischen Vorgänge in der S B Z verantwortlich w a r und die sich neben Ideologie und Propaganda spätestens seit 1 9 4 6 auch mit Fragen der Kulturpolitik beschäftigte. 407 Die Leitung der gesamten Dienststelle übernahm im Oktober 1 9 4 5 Oberst Sergej Tjulpanow. M i t der Führung der ihm unterstellten Abteilung für Literatur, Musik und bildende Kunst wurde im November 1 9 4 5 der Literaturwissenschaftler M a j o r Alexander Dymschitz betraut. 408 In seinen Aufgabenbereich fielen unter anderem die Bestandsaufnahme der Kriegsschäden, das Ausstellungswesen sowie die Betriebsaufnahme in den Theatern, Museen und Bibliotheken. Parallel zum A u f b a u der Dienststellen der sowjetischen Besatzungsmacht erfolgte auf Initiative der S M A D in den Ländern und Provinzen der S B Z die Bildung von deutschen Verwaltungsorganen, die den sowjetischen Behörden nachgeordnet waren. 4 0 5 Von Anfang an achteten die sowjetischen Stellen darauf, vorzugsweise deutsche sozialistische und kommunistische Intellektuelle mit Leitungsfunktionen zu betrauen, da sie annahmen, dass diese sich für eine sozialistische Umgestaltung Deutschlands einsetzen würden. 4 1 0 Im April 1 9 4 5 - also noch vor dem Ende der Kampfhandlungen - waren aus M o s k a u Initiativgruppen deutscher Kommunisten unter der Leitung von Walter Ulbricht, Anton Ackermann und

N e u b e g i n n n a c h d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g : Die R e h a b i l i t i e r u n g d e r M o d e r n e _ 8 7

Gustav Sobottka nach Berlin, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern gekommen. Sie hatten den Auftrag, entscheidenden Einfluss auf den Neuaufbau der Zivilverwaltungen, der politischen Institutionen und des Kulturbereichs zu nehmen.4" Die Verantwortung für die Umsetzung der kulturpolitischen Vorgaben der S M A D wurde mit dem Befehl Nr. 1 7 am 2 7 . Juli 1 9 4 5 der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung übertragen, deren Leitung im September Paul Wandel übernahm. 4 1 2 In ihren Zuständigkeitsbereich fielen das Schulwesen, Hochschulen und Wissenschaft, Kunst und Literatur sowie die »kulturelle Aufklärung«. Den Vorsitz der Abteilung Kunst und Literatur übernahm Herbert Volkmann. Als seinen Vertreter setzte man den Kunsthistoriker Gerhard Strauss ein, der zudem als Referent für bildende Kunst, Museen und Denkmalpflege fungierte. 4 ' 3 Neben den politischen Verwaltungsorganen war im Juli 1 9 4 5 der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands gegründet worden. Er stand unter dem Motto der »Wiederentdeckung und Förderung der freiheitlichen humanistischen, wahrhaft nationalen Traditionen unseres Volkes« und sollte als zonenübergreifende Organisation zur Bündelung der kulturellen Kräfte dienen. 4 ' 4 Ihm traten Wissenschaftler, Politiker und Künstler bei. Die Präsidentschaft übernahm am 8. August der Schriftsteller Johannes B. Becher, Vizepräsidenten wurden der Maler Karl Hofer, der Schriftsteller Bernhard Kellermann und der Altphilologe Johannes Stroux. Als seine Aufgaben definierte der Kulturbund den Kampf gegen »Reaktion« und »Militarismus«, die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit, die produktive Aneignung der humanistischen nationalen Kultur, die Wiedergewinnung objektiver Werte sowie die Erziehung und Förderung der Jugend. Diesen Zielen näherte er sich mit Hilfe kultureller Veranstaltungen, zu denen Konzerte, Aufführungen, Dichterlesungen, Vorträge, Kulturfilme und eine Monatsschrift zählten. 4 ' 5 Trotz des zonenübergreifenden Anspruchs entfaltete der Kulturbund seine Aktivität hauptsächlich in der sowjetischen Besatzungszone und in Berlin. Ein Grund dafür war, dass er in den drei Westzonen von den jeweiligen Militärbehörden nur auf Ortsebene zugelassen wurde. 4 ' 6 Die Berufung auf die vom Kulturbund propagierten freiheitlichen und humanistischen Traditionen fand sich auch im Programm der K P D wieder, die am 1 1 . Juni 1 9 4 5 , nur einen Tag nach der offiziellen Zulassung politischer Parteien in der S B Z , gegründet wurde. 4 ' 7 Unter dem Vorsitz von Wilhelm Pieck forderte die K P D in ihrem Gründungsaufruf keine sozialistische Umgestaltung Deutschlands, sondern trat, entsprechend der aktuellen Besatzungspolitik der S M A D , für die »Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk« ein. 4 ' 8 Und auch die SED, die im April 1 9 4 6 durch den erzwungenen Zusam-

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menschluss von K P D und SPD entstanden war, verkündete anfangs einen »besonderen deutschen Weg« zum Sozialismus. 4 1 9 Dieser »besondere Weg zum Sozialismus« schlug sich auch in der Kunst- und Kulturpolitik der sowjetischen Besatzungszone nieder. So betonte Anton Ackermann, Mitglied des Parteivorstandes der K P D und späterer Zentralsekretär der SED, auf der Ersten Zentralen Kulturtagung der K P D im Februar 1 9 4 6 die wissenschaftliche und künstlerische Freiheit. Jedoch schränkte er diese im gleichen Atemzug wieder ein, wenn er auf das angestrebte Ziel einer realistischen, gegenwartsnahen Kunst verwies. Er sagte: »Die Erneuerung des deutschen Kultur- und Geisteslebens nach zwölfjähriger Nazibarbarei und Knechtschaft gebietet stärker denn je die restlose Verwirklichung einer der grundlegendsten humanistischen Forderungen, nämlich der Forderung nach Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und der künstlerischen Gestaltung [...]. Freiheit für Wissenschaft und Kunst bedeutet, daß dem Gelehrten und Künstler kein Amt, keine Partei und keine Presse dreinzureden hat, solange es um die wissenschaftlichen und künstlerischen Belange geht. [...] Wenn dann aber irgendein Pseudokünstler herkommt um Zoten über den Humanismus, die Freiheit und Demokratie oder über die Idee der Völkergemeinschaft zu reißen, dann soll er das >gesunde Volksempfinden< ebenso empfindlich spüren wie der Pseudowissenschaftler, der mit den anderen, aber nicht weniger verwerflichen Mitteln dasselbe versuchen sollte. [...] Wir sehen unsere Aufgabe heute keineswegs darin, Partei ausschließlich für die eine oder andere Kunstrichtung zu ergreifen. Unser Ideal sehen wir in einer Kunst, die ihrem Inhalt nach sozialistisch, ihrer Form nach realistisch ist. Wir wissen aber auch, daß diese Kunst erst in einer sozialistischen Gesellschaft zur Geltung kommen kann und selbst dann noch lange Zeit zu ihrer Entwicklung braucht. [...] In Deutschland ist gegenwärtig noch alles zu sehr im Um- und Aufbruch, auf der Suche nach neuen Wegen, um nun etwa ein Urteil zugunsten der einen oder anderen Richtung fällen zu können. [...] Die Freiheit der Kunst ist auch in diesem Sinne unabdingbare Notwendigkeit.« 4 1 0 M i t seinen Worten verwies Ackermann eindeutig auf die zukünftige Ausrichtung der Kulturpolitik, deren Ziel eine realistische Kunst mit sozialistischen Inhalten sein sollte. Die von ihm bekundete Toleranz gegenüber anderen künstlerischen Strömungen war der politischen und kulturellen Umbruchsituation geschuldet, die den Künstlern in gewisser Weise eine Orientierungsphase einräumte bis das Urteil zugunsten der realistischen Kunst fallen sollte.

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»ENTARTETE KUNST - EINE H I T L E R L Ü G E «

Trotz vereinzelter Verweise von Seiten der KPD/SED auf das angestrebte Ziel einer realistischen, gegenwartsnahen Kunst in den Jahren 1 9 4 5 / 1 9 4 6 stand die wiedergewonnene Freiheit der Kunst nach zwölfjährigem NS-Regime erst einmal im Zentrum der Aufmerksamkeit. Bereits kurz nach dem Ende des Krieges begann man sowohl in der sowjetischen als auch in den westlichen Besatzungszonen mit der Wiederbelebung des kulturellen Lebens. Im Vordergrund standen zunächst die Abkehr von der Kunst und Kultur des Nationalsozialismus und der Versuch an die Zeit vor 1 9 3 3 anzuknüpfen. Viele Maler, Bildhauer und Literaten, die bereits vor dem Krieg künstlerisch tätig gewesen und von den Nationalsozialisten als »entartet« diffamiert worden waren, kehrten aus der inneren oder äußeren Emigration ins öffentliche Leben zurück. In die sowjetische Besatzungszone kamen dabei vor allem Künstler mit kommunistischer Gesinnung oder mit sozialen, christlichen Idealen, für die sie schon in den zwanziger und dreißiger Jahren eingestanden hatten. 421 Es waren insbesondere die Künstler der Vorkriegszeit, die intensiv in den kulturellen Wiederaufbau eingebunden wurden. 4 2 2 Denn, wie der Maler Hans Grundig anmerkte, waren während des Nationalsozialismus keine wirklich schöpferischen Kräfte entwickelt worden, so dass »wir heute vor der ernsten Tatsache stehen, daß die Generation bildender Künstler von 1 9 1 8 ab bis 1 9 3 3 noch heute die fortschrittlichsten künstlerischen Kräfte darstellen, welche uns über die Grenzen Deutschlands hinweg repräsentieren.« 423 Die von den Nationalsozialisten als »entartet« bezeichnete Kunst wurde in zahlreichen Ausstellungen gezeigt, die Maler und Bildhauer als Lehrende an den Kunsthochschulen oder in führenden Positionen der neuen Kulturorganisationen eingesetzt. So übernahm Karl Hofer im August 1 9 4 5 die Leitung der neu gegründeten Hochschule für Bildende Künste in Berlin-Charlottenburg. Der Maler verstand es, gemeinsam mit seinem Stellvertreter Heinrich Ehmsen, Kollegen wie Karl Schmidt-Rottluff, M a x Taut, M a x Kaus, Oskar Neriinger, M a x Pechstein, Renée Sintenis, Georg Tappert und den Kunsthistoriker Adolf Behne (und nach dessen Tod im August 1 9 4 8 Will Grohmann) für die Lehre zu gewinnen. 4 2 4

Bevor

Grohmann nach Berlin ging, w a r er zunächst als Ministerialdirektor im Sächsischen Ministerium für Volksbildung tätig und übernahm im Dezember 1 9 4 5 vorübergehend die Leitung der im A u f b a u begriffenen Werkkunstschule in Dresden. 4 2 ' Diese wurde zusammen mit der Kunsthochschule, die seit April 1 9 4 6 kommissarisch von Hans Grundig geleitet wurde, am 1 7 . April 1 9 4 7 offiziell eröffnet. Ähnlich wie Hofer in Berlin versuchte Grundig, die vor dem Krieg in Dresden tätigen Künstler wie Lachnit, Rudolph, H o f f m a n n , Richter, Hegenbarth und Dix an die Hochschule zu holen. 426 Einzig die Berufung von Dix kam trotz dessen Zusage

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nicht zustande. 427 Ähnlich verlief es an der Akademie für Grafik und Buchkunst in Leipzig, w o die beiden bereits vor dem Krieg aktiven Maler M a x Schwimmer und Ernst Hassebrauck Professuren übernahmen. 418 Bedeutenden Zuwachs verzeichnete auch das Kunsthistorische Institut in Halle, w o Wilhelm Worringer eine Professur für Kunstgeschichte antrat. M i t der Berufung seiner Person und der des Malers Conrad Felixmüller w a r in Halle eine breit angelegte, bis auf die abstrakte Malerei alle Kunstrichtungen umfassende Lehrtätigkeit gewährleistet. Diese schien ebenso auf Burg Giebichenstein gesichert, w o man im Oktober 1 9 4 5 die künstlerische Ausbildung wieder aufnahm und Anschluss an die alte Tradition suchte, die dem Bauhaus und den Strömungen des Expressiven Realismus nahe stand. Maler wie Charles Crodel und Erwin Hahs, die schon vor ihrer Entlassung durch die Nationalsozialisten an der Burg tätig gewesen waren, wurden wieder eingestellt. 419 An das Erbe und die Ideen des Bauhauses versuchte man ab August 1 9 4 6 ebenso in Weimar anzuknüpfen und zwar mit einer neuen Kunsthochschule unter der Leitung des Architekten Hermann Henselmann. 4 3 0 Genauso dachte der Oberbürgermeister von Dessau über eine Wiederbelebung der berühmten Schule nach. Allerdings kam man dort trotz intensiver Bemühungen über die Pläne nie hinaus. 4 3 1 Und nicht nur an den alten Wirkungsstätten in Weimar und Dessau orientierte man sich an dem am Bauhaus entwickelten Lehrmodell. Auch die im April 1 9 4 6 im sowjetischen Sektor Berlins gegründete »Kunsthochschule des Nordens« in Weißensee sah sich in seiner Nachfolge. 4 3 1 Die Initiatoren beriefen sich auf die Bauhaus-Tradition und feierten die Schule gleichzeitig als »eine Anstalt des neuen Typs«, in der die Talente »aus der Masse der Arbeiter, Bauern und Angestellten« ausgebildet werden sollten. 433 Die Bauhaus-Idee schien mit dem Sozialismus vereinbar zu sein. Viele Künstler und Kunstwissenschaftler engagierten sich wie Karl Hofer im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Karl Schmidt-Rottluff leitete die Ortsgruppe des Kulturbundes in Chemnitz und auch M a x Pechstein, Otto Nagel, Heinrich Ehmsen, Oskar Neriinger, Gustav Seitz, Renée Sintenis, Adolf Behne, Herbert Sandberg und Will Grohmann waren aktive Mitglieder der Vereinigung. 4 3 4 Sie sahen sich in der Verpflichtung, die junge Generation »wieder denkend und sehend« zu machen, wie sich Schmidt-Rottluff 1 9 4 6 in der SÄCHSISCHEN ZEITUNG ausdrückte. Die Künstler hätten vor 1 9 3 3 Fehler begangen, die mit zur Entstehung des Nationalsozialismus beigetragen hätten. Insbesondere die fehlende Verbindung zum Volk und die gesellschaftliche Isolierung der Künstler hätten fatale Konsequenzen gehabt. Dies müsse nun anders werden. 4 3 5 Für die jüngeren Künstler, die auf der Suche nach einem neuen künstlerischen Ausdruck waren, rückte die von den Nationalsozialisten zwölf Jahre lang als »entartet« diffamierte Moderne in den Mittelpunkt der vielfältigen Diskussionen. Sollte man an die künstlerischen Traditionen vor 1 9 3 3 anknüpfen? Und wenn ja, an

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welche? Die Meinungen darüber gingen weit auseinander. Einige Künstler und Kritiker plädierten für eine intensive Beschäftigung mit den Ausdrucksformen der Vorkriegsavantgarde. Andere befürchteten, ein Aufgreifen dieser Elemente könne eine Restauration der reaktionären Kräfte bedeuten und sprachen sich für eine Neuausrichtung der Kunst aus. Wieder andere sahen in der vormals »entarteten« Kunst eine überholte Richtung, auch wenn sie ihre historische Bedeutung durchaus anerkannten. 4 ' 6 Wie Karl Hofer treffend auf einer Ausstellungseröffnung Anfang 1 9 4 6 bemerkte, standen die Künstler »nun einem Rattenkönig von sich widerstreitenden Meinungen und Forderungen gegenüber. Den einen ist das, was sie zu sehen bekamen zu modern, sie verstehen es nicht, den anderen ist es zu altmodisch, ein Teil meint, man müsse da wieder anknüpfen, w o die Kunst 1 9 3 3 aufgehört hatte, der andere Teil erwartet etwas ganz Neues, ohne im Geringsten sagen zu können, was das eigentlich sein könnte, manche wollen das Zeitgeschehen im Bild gestalten, andere wollen gerade dies nicht, sie finden, sie hätten genug an den wirklichen Ruinen, dem wirklichen Elend. Es gibt Kunstbegeisterte, die am und im Expressionismus hängen geblieben sind, nur auf dieser Basis meinen sie, käme die Kunst weiter, andere wollen davon nichts mehr sehen und hören.« 4 3 7 Diese künstlerische Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe existierte in allen Besatzungszonen. So überrascht es nicht, dass die Kunst der unmittelbaren Nachkriegszeit in den verschiedenen Zonen keine grundsätzlichen Unterschiede aufwies. 4 3 8 In der S B Z schien sich das kulturelle Leben ebenso frei wie in den anderen Zonen zu entwickeln. Hans Grundig schrieb im September 1 9 4 6 hinsichtlich der Situation im sowjetischen Sektor: »Denn hier ist alles im Neuwerden begriffen. [...] Ob Expressionismus, ob Naturalismus oder realistische Gestaltung. Es kocht. Allgemein ist die Beteiligung, und nicht zuletzt unsere Jugend ist daran interessiert, aus all dem Unverständlichen zur objektiven Wahrheit zu kommen.« 4 3 9 Anders als in der Sowjetunion, w o die Moderne und mit ihr die künstlerischindividuelle Vielfalt seit Beginn der dreißiger Jahre unter Stalin systematisch bekämpft wurde, standen den Künstlern der S B Z auf den ersten Blick alle Möglichkeiten offen. Von der abstrakten Kunst, vornehmlich von Willi Baumeister, Ernst Wilhelm N a y und Fritz Winter, bis hin zum Surrealismus oder anderer gegenständlich orientierter Malerei erlebte insbesondere der kritisch-expressive Realismus der zwanziger Jahre eine Renaissance. 4 4 0 Vor allem Dresden entwickelte sich zu einem wichtigen künstlerischen Zentrum, w o sich die verschiedenen Tendenzen von Spätimpressionismus, Expressionismus bis zur proletarisch-revolutionären Kunst und der »Dix-Schule« trafen. Weitere Knotenpunkte waren das vom Bauhaus-Gedan-

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ken beeinflusste Weimar, Halle mit seiner dem Bauhaus und dem Expressiven Realismus nahe stehenden Kunsthochschule Giebichenstein sowie dem dem Expressionismus verbundenen Moritzburgmuseum - und natürlich Berlin. 4 4 1 Wie die Auseinandersetzung der jüngeren Künstlergeneration mit dem künstlerischen Erbe, die Berufungen an die Kunsthochschulen und die Einbindung ehemals »entarteter« Künstler zeigen, waren in der S B Z die ersten beiden Nachkriegsjahre von einem relativ offenen Umgang mit der bildenden Kunst gekennzeichnet. Davon zeugen auch die zahlreichen Artikel der in der S B Z lizenzierten Kunstzeitschriften und in der Tagespresse, in denen die Kritik gegenüber realistischen, abstrakten, surrealistischen oder expressionistischen Tendenzen sowohl negativ als auch positiv ausfiel. 442 So legte die vom Kulturbund herausgegebene kulturpolitische Monatsschrift AUFBAU zumindest in den ersten Jahren Wert auf eine Rehabilitierung und Propagierung der sogenannten spätbürgerlichen Richtungen. Sie stellte Exilkunst und internationale künstlerische Entwicklungen vor, setzte sich mit theoretischen Fragen auseinander, ehrte bekannte Künstler und äußerte sich zu den verschiedensten Gattungen und Genres. 443 Ein weiteres wichtiges Forum für die Kunstdiskussion der Zeit w a r die seit 1 9 4 7 erscheinende Zeitschrift BILDENDE KUNST. Sie wurde von Karl Hofer und Oskar Neriinger herausgegeben und bot bis 1 9 4 9 einen umfassenden Uberblick über alle Kunstrichtungen der Moderne, einschließlich der Abstraktion. 4 4 4 Aktuelle Berichte wurden von diskursiven Beiträgen begleitet, die beispielsweise die Frage nach dem Verhältnis von »abstrakter Kunst und der sichtbaren Wirklichkeit« oder über Abstraktion und Surrealismus behandelten. 445 Ein ähnlich breites Themenspektrum deckte die zwischen 1 9 4 7 und 1 9 5 0 vierteljährlich herausgegebene ZEITSCHRIFT FÜR KUNST ab. Sie lieferte Artikel über Hofer, Beckmann, Crodel, M a r c , über Ausstellungen und Sammlungen sowie über allgemeine Fragen zur modernen Kunst. 4 4 6 Z w a r sind einigen Artikeln der genannten Zeitschriften die »Gesinnung« ihrer Autoren und deren Wunsch nach einem realistischen Kunstschaffen anzumerken, doch standen diese Beiträge neben Texten, in denen andere Verfasser für eine abstrakte, surrealistische oder expressionistische Kunstauffassung plädierten. Die kulturelle Meinungsfreiheit zeigte sich sogar in der TÄGLICHEN RUNDSCHAU, dem Presseorgan der S M A D . Dort schrieb beispielsweise Gert H . Theunissen rückblickend über das künstlerische Schaffen 1 9 4 6 : »Die alte Generation der Künstler, die schon lange Jahre vor 1 9 3 3 Ruf und Ansehen genossen, erfüllt sich in der Reihe ihrer Kräfte und lehrt die nachfolgenden Generationen hohe Geduld und Zähigkeit. Sie lehrt vor allem das Sehen und Schauen: M a x Beckmann, Schmidt-Rottluff, Pechstein und Hofer, Orlowski und X a v e r Fuhr. Die Generation um die großen Toten der letzten

» E n t a r t e t e Kunst - eine H i l l e r l ä g e «

Jahre wachsen und halten das Gestern mit dem Heute im schönen Gleichgewicht: Käthe Kollwitz, Ernst Barlach, Paul Klee und E. L. Kirchner bilden mächtige Inseln für viele, die sich aus dem wilden Schiffbruch ans feste Land retteten.« 447 Auch der Marburger Kunsthistoriker Richard Hamann, der seit 1 9 4 7 eine Gastprofessur an der Berliner Universität im sowjetischen Sektor der Stadt inne hatte, nahm in der TÄGLICHEN RUNDSCHAU zur aktuellen Kunstdebatte Stellung. In einem im Juni 1 9 4 7 erschienenen Artikel kritisierte er das bloße Anknüpfen der jungen Künstler an den Expressionismus und die gegenstandsferne Kunst der Vorkriegszeit. Allerdings sah Hamann hinter diesem Anknüpfen einen politischen Beweggrund, der aus einem Protest gegen den Nationalsozialismus und dessen Stigmatisierung der konstruktivistischen und expressionistischen Kunst als »entartet« resultiere. Seiner Meinung nach bliebe einem Künstler zum aktuellen Zeitpunkt nichts anderes übrig, als das, was schon vor dreißig Jahren hätte erledigt sein sollen, von neuem zu versuchen und die abstrakte Kunst neu zu rechtfertigen. 448 Dem widersprach Theunissen, der in einem Antwortartikel anmerkte, dass die abstrakte Malerei in Frankreich, namentlich die für die jüngeren deutschen Künstler maßgebliche Malerei von Braque, Matisse und Picasso überwunden sei und man dort längst zum Gegenstand zurückgekehrt sei. Die jungen Deutschen wären also nicht auf der Höhe der Zeit, wenn sie sich der Abstraktion zuwandten, sondern hingen vielmehr veralteten Theorien nach. M a n könne nicht einfach dort wieder anknüpfen, w o die Nazis 1 9 3 3 einen Einschnitt gemacht hätten. Für Theunissen w a r die abstrakte Kunst nur eine Zwischenlösung auf dem Weg zurück zur Gegenständlichkeit. Die deutschen Künstler würden sich nur lächerlich machen mit der »Wiederholung längst überwundener Unternehmungen«. 4 4 ' Nicht nur in den Zeitschriften und Zeitungen wurde das künstlerische Erbe, namentlich der Expressionismus und seine Bedeutung und Wirkungsmöglichkeit für die Gegenwart diskutiert. 450 In zahlreichen Veranstaltungen, Zusammenkünften und Vorträgen - oftmals vom Kulturbund initiiert - diskutierten Künstler und Kunsthistoriker über dessen Rolle und die Aufgaben einer neuen, »fortschrittlichen« Kunst. Eine Abgrenzung von der nationalsozialistischen Kulturpolitik stand dabei im Vordergrund. Bereits am 30. Juni 1 9 4 5 lud der Kunstkritiker Adolf Behne unter dem Titel ENTARTETE KUNST - EINE HITLERLÜGE zu einem Vortrag. Sein Anliegen war, das Verständnis für die moderne Kunst wieder zu erwecken und das Publikum für die lange Zeit unterdrückten Wahrnehmungs- und Darstellungsformen neu zu sensibilisieren. 451 Z w a r sprach er dem Expressionismus keine aktuelle Wirkungsmöglichkeit mehr zu, unterstrich jedoch dessen historische Relevanz für die Bildung einer neuen Generation von Künstlern. Er sei sich bewusst,

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»daß die neue Arbeit der Künstler jetzt nicht einfach den Expressionismus, der ja seine schönste Blüte vor dem ersten Weltkrieg gehabt hatte, fortsetzen könne; daß es aber die Pflicht sei für uns, die wir jene so vieles versprechende, so vieles auch leistende Zeit miterlebt hatten, das Andenken der Künstler wieder rein zu halten und ihr Werk unverzerrt zu zeigen, und daß auf jeden Fall die Kühnheit, Freiheit und Geistigkeit ihres Strebens, ihr Wille zum Vorstoß in neue ungeahnte Gebiete uns auch heute vorbildlich sein könne; daß im übrigen der Kunst, die sich nun hoffentlich wieder regen werde, völlige Freiheit notwendig wäre.«

4Si

Viele Kritiker und Künstler teilten die von Behne in seinem Vortrag formulierten Ansichten. Generell maß man dem Expressionismus in den ersten Nachkriegsjahren sowohl in der S B Z als auch in den westlichen Besatzungszonen eine besondere Bedeutung bei. Unter dem Begriff Expressionismus wurden dabei nahezu alle modernen Ausdrucksformen zusammengefasst, insbesondere die vormals »entartete« Kunst. Selten zog man den Expressionismus als aktuelle Ausdrucksmöglichkeit in Betracht, vielmehr lobten ihn Künstler und Kritiker als umwälzende, historische Kunstrichtung, deren künstlerische Hinterlassenschaft bewahrt werden müsse. Die aktuelle Kunstproduktion fassten sie dagegen meist unter dem Begriff der »abstrakten Kunst« zusammen. Der Expressionismus übernahm nach 1 9 4 5 eine Leitbildfunktion. Als »unbelastete« Kunst wurde er zum Symbol demokratischer, humaner Werte und der H o f f nung auf ein besseres Deutschland - mit nichts war Hitler so anschaulich überwunden als mit dem Rückgriff auf die von ihm als »entartet« verurteilte Kunst. Etwas anderes als die offizielle Rehabilitierung dieser Künstler wäre kaum denkbar gewesen, da eine Ausgrenzung der Vorkriegsavantgarde von den Intellektuellen als Fortsetzung nationalsozialistischer Kulturpolitik verstanden worden wäre. 4 5 3 Wie PeterKlaus Schuster herausgestellt hat, verkehrte sich auf die gleiche Weise, wie die Nationalsozialisten die deutsche Moderne insgesamt als »entartet« diffamierten, dieser Vorwurf nach dem Ende des Krieges zu einem Ehrentitel, zu einer ästhetischen Kategorie, die der Kunst der Moderne erneut eine verstörende Wirkungsmacht zusprach. 454 Anders als zu vermuten gewesen wäre, führte die während des Nationalsozialismus verbotene Kunst kaum zu einer Reflexion über die (kunst-)politischen Vorgänge der unmittelbaren Vergangenheit und die propagandistische Instrumentalisierung der Kunst. 4 5 5 Vielmehr wurde die Rehabilitierung der diffamierten M o derne zum Ausdruck der politischen Neuorientierung und für die Deklaration eines gesellschaftlichen Wertewandels genutzt. Trotz dieser Einbindung und positiven Bewertung des Expressionismus und anderer moderner Kunstformen gab es in der sowjetischen Besatzungszone bereits

»Entartete Kunst - eine Hitlerlüge« _ 9 5

in den ersten beiden Jahren von politischer Seite Äußerungen, die Rückschlüsse auf die (gewünschte) weitere künstlerische Entwicklung in der S B Z zuließen. So forderten Wilhelm Pieck und Anton Ackermann auf der schon erwähnten Kulturtagung der K P D 1 9 4 6 eine Kunst, die antifaschistisch und für das Volk verständlich sein solle. Die Kunst dürfe nicht nur einer kleinen kunstsinnigen Elite zugänglich sein, sondern müsse auch dem einfachen Menschen eine Aussage vermitteln, die sich inhaltlich mit der gesellschaftlichen Situation der Gegenwart auseinandersetze und zugleich in die Z u k u n f t weise. 4 5 6 Auch in publizistischen Äußerungen führender Offiziere der S M A D finden sich Ansätze, die mitunter explizit gegen eine Fortsetzung der expressionistischen Tradition gerichtet waren. So schrieb der Leiter der Kulturabteilung der S M A D , Alexander Dymschitz, bereits im August 1 9 4 5 : »Dem Expressionismus fehlte es an unzerstückelter Erfassung des Themas, an dessen tiefgreifender Analyse und klarer ideologischer Perspektive. Er bot nur zerfetzte Emotionen, Ausrufe einer kranken wunden Seele, manchmal nur mystische Beschwörungen. [...] Die Versuche der Galvanisierung des Expressionismus, die jetzt besonders in der Malerei zum Vorschein kommen, entsprechen nicht der realistischen Weltanschauung einer neuen Demokratie.« 4 5 7 Ähnlich äußerte sich Stefan Heymann, Kulturfunktionär der SED, Anfang 1 9 4 7 im GERAER KULTURSPIEGEL. Heymann kritisierte die fehlende Übereinstimmung von Inhalt und Form im Expressionismus. Z w a r erkannte er dessen historische Stellung durchaus an, billigte ihm jedoch keine aktuelle Bedeutung zu, da die neuen Verhältnisse der Gesellschaft seiner Meinung nach andere Erziehungsund Aufklärungsmethoden verlangten. 458 In den Äußerungen von Dymschitz und Heymann aus den Jahren 1 9 4 5 und 1 9 4 7 spiegeln sich bereits die Argumente wider, die von Seiten der S E D wenig später zu einer kategorischen Ablehnung des Expressionismus führen sollten. Kritisiert wurden die nicht vorhandene Übereinstimmung von Form und Inhalt bei gleichzeitiger Favorisierung der Form. Genauso wurde der Vorwurf laut, dass der Expressionismus nur von einer bestimmten Schicht verstanden und nur für eine bestimmte Schicht geschaffen worden sei, also einen Verstoß gegen das Prinzip der Volkstümlichkeit bedeute. 459 Öffentliche Stellungnahmen dieser Art waren in den ersten beiden Nachkriegsjahren jedoch aufgrund der bündnispolitischen Taktik eine Ausnahme und blieben ohne merkliche Konsequenzen auf die in der sowjetischen Besatzungszone betriebene Kunst- und Kulturpolitik.

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MAM » B E F R E I T E K U N S T « : E R S T E A U S S T E L L U N G E N

Zeitgleich mit der gesamten Aktivierung des kulturellen Lebens nahm man auch im Museums- und Ausstellungswesen wieder seine Arbeit auf. Die sowjetische Besatzungsmacht, die der Kultur eine besondere Bedeutung in der Umerziehung des deutschen Volkes beimaß, unterstützte die rasche Wiederaufnahme der kulturellen Arbeit durch verschiedene Befehle und Initiativen. 460 Da viele Museen und andere kulturelle Einrichtungen während des Krieges geschlossen und zerstört worden waren, machte sich die SMAD im Herbst 1945 zielgerichtet daran, Kulturinstitutionen, Bibliotheken und Museen wieder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sie von nazistischem und militaristischem Gedankengut zu säubern und die wertvollen Bestände zu sichern. Rechtlich gründeten sich diese Maßnahmen auf die Befehle Nr. 5 1 und Nr. 8 5 der SMAD zur Wiedereinrichtung und Tätigkeit der Kunstmuseen und zur Erfassung und Schutz der Museumswerte. 461 Bereits 1946 hatten etwa die Hälfte der in der sowjetischen Besatzungszone liegenden Museen ihre Tätigkeit wieder aufgenommen. 461 Diese schnelle Inbetriebnahme war jedoch nicht allen Häusern möglich. Viele Gebäude und Sammlungen waren während des Krieges beschädigt oder zerstört worden. Zudem waren die meisten Kunstwerke ausgelagert und mussten erst einmal an ihren ursprünglichen Platz zurückgebracht werden. Dies klärte die SMAD mit dem am 18. Juni 1946 herausgegebenen Befehl Nr. 1 7 7 , der eine detaillierte Regelung zur Rückführung der verlagerten Bestände an die entsprechenden Museen beinhaltete. Gleichzeitig legte er die Grundlage zur Übernahme von Sammlungen und kulturhistorisch wertvollen Ausstattungsgegenständen aus den durch die Bodenreform enteigneten Schlössern und Gutshäusern in die Obhut der jeweiligen Landesmuseen. 463 Mit der Durchführung wurde die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung beauftragt, die auf der Grundlage der SMAD-Befehle Richtlinien für die Rückführung von Kunstgegenständen und die Wiedereröffnung der Museen in der sowjetischen Besatzungszone erließ.464 Parallel zu den Anordnungen für die Wiederaufnahme der Museumsarbeit im September/Oktober 1945 und der Rückführung ausgelagerter Kunstgegenstände in die Museen begann andererseits die Überführung bedeutender Kulturschätze aus den großen Sammlungen auf dem Gebiet der SBZ in die Sowjetunion. 465 Bereits im Mai 1945 hatte die SMAD in Zusammenarbeit mit sowjetischen Fachwissenschaftlern mit der Verlagerung begonnen. Sie wurde bis zum Spätsommer 1946 fortgesetzt.466 Als Argument für die Überführung der Kunstwerke in die Sowjetunion wurde offiziell die starke Zerstörung der deutschen Museen und die dadurch zu befürchtende unzulängliche Unterbringung und fehlende restauratorische Betreuung der Objekte angeführt. 467 Anders handhabten es die amerikanischen und

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britischen Besatzungstruppen, die in München, Wiesbaden und Celle zentrale Sammelstellen für verstreute und verlagerte Kunstgüter einrichteten. Allerdings verfolgten die Amerikaner laut Lynn H. Nicholas anfangs ähnliche Pläne wie die Sowjetunion und beabsichtigten eine Überführung deutscher Kunstwerke in die USA. Doch wurde dieser Entschluss durch Proteste in der amerikanischen und deutschen Öffentlichkeit fallengelassen. 468 Über die sowjetischen Transporte wurde in der S B Z so gut wie nicht gesprochen. Auf Fragen von Kulturpolitikern und Direktoren der von der Verlagerung betroffenen Museen gaben die sowjetischen Offiziere zu verstehen, dass es sich von ihrer Seite nicht um Reparationsforderungen handle, sondern um eine Schutzmaßnahme im Interesse der Erhaltung und Pflege kultureller Werte von Weltgeltung. Die Werke sollten zurückgeführt werden, sobald sicher sei, dass die Deutschen in der Lage seien ihr kulturelles Erbe sinnvoll zu bewahren. 4 6 ' Kunstwerke des Expressionismus oder anderer avantgardistischer Strömungen der Vorkriegszeit waren nur wenige darunter, auch wenn einzelne Arbeiten in den Schränken oder Kellern der Museen von der Aktion »Entartete Kunst« und den Kriegswirren verschont geblieben waren. Die Anzahl der in den Sammlungen verbliebenen Kunstwerke w a r jedoch verschwindend gering, weshalb die Bestrebungen vielerorts dahin gingen, die entstandenen Lücken in den Beständen durch erste Ankäufe zu schließen. Engagiert traten dabei vor allem die Kunsthistoriker auf, die sich bereits während der Weimarer Republik für den A u f b a u von zeitgenössischen, öffentlichen Sammlungen eingesetzt hatten. Viele von ihnen waren 1 9 3 3 im Zuge des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« aus ihren Ämtern entlassen worden und wurden nun in einigen Fällen wieder an ihren alten Wirkungsstätten eingesetzt. 470 Der prominenteste Fall dürfte der von Ludwig Justi gewesen sein, der 1 9 4 6 die Generaldirektion der (ehemals) Staatlichen Museen in Berlin übernahm. Auch in Erfurt berief die Stadtverwaltung den 1 9 3 7 entlassenen Leiter des Angermuseums, Herbert Kunze, 1 9 4 5 erneut zum Direktor. Ebenso verhielt es sich an den Städtischen Kunstsammlungen in Chemnitz, w o Friedrich SchreiberWeigand im Juni 1 9 4 5 an seinen alten Arbeitsplatz zurückkehrte. 471 Ungeachtet der Bemühungen der Direktoren war die Anzahl der Erwerbungen sowohl an »alten Meistern« als auch an zeitgenössischer Kunst gering. Am häufigsten fanden grafische Arbeiten ihren Weg in die Sammlungen. Auch dem Wunsch, vormals »entartete« Künstler bei Neuankäufen zu bevorzugen, konnte nur begrenzt entsprochen werden. In Deutschland waren deren Werke - es sei denn, sie stammten aus Privatbesitz oder von den Künstlern selbst - nur schwer zu bekommen. Der internationale Kunsthandel fiel nahezu aus, und selbst die deutschen Galerien, die von den Besatzungsmächten eine Lizenz erhalten hatten, mussten ihre (Auslands-)Kontakte erst mühevoll wieder aufbauen. Zudem waren die Verkehrs- und Kommuni-

98 _ Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

kationssysteme sehr schlecht. So erstanden viele Museen in den ersten Jahren bevorzugt zeitgenössische Arbeiten der am Ort oder in der N ä h e ansässigen Künstler. 4 7 2 Trotz der schwierigen Bedingungen entwickelten sich einige Galerien in den ersten Nachkriegs jähren zu wichtigen Foren für den Vertrieb moderner Kunst. Die erste w a r die Berliner Galerie Gerd Rosen, die bereits seit August 1 9 4 5 ein breites Spektrum an abstrakter, surrealistischer und vom Expressionismus ausgehender Gegenwartskunst anbot. Vertreten waren unter anderem die jungen Berliner »Fantasten« Heinz Trökes, H a n s Thiemann, M a c Z i m m e r m a n n und Hans Uhlmann sowie Werner Heidt, H a n n a h H o c h , Alexander C a m a r o , K a r l Härtung, Ernst Wilhelm N a y und Bernhard Heiliger. Z u s a m m e n mit Werken der BRÜCKE-Maler sowie von Ernst Barlach, M a r c Chagall, Lyonel Feininger, Paul Klee, Oskar Kokoschka, Käthe Kollwitz und August M a c k e waren einige von ihnen auf der Eröffnungsausstellung der Galerie zu sehen. 473 Euphorisch lobte der Gründer und Herausgeber des TAGESSPIEGELS, Edwin Redslob, Rosens Engagement, vor allem der Kunst eine Stätte zu schaffen, die »durch die Tyrannei der letzten zwölf J a h r e verbannt« w o r d e n sei. Viele der Meister die auf der Eröffnungsausstellung zu sehen seien, wären während des Hitlerregimes zu Märtyrern geworden, hätten ihre Werkstatt und unersetzliche Zeugnisse ihrer Arbeit verloren. Ihre Werke seien es, auf die sich die neue Kunst berufen und an die die J u g e n d anknüpfen müsse. 4 7 4 Weitere Anlaufpunkte für zeitgenössische Kunst waren die in Berlin ansässige Galerie Schüler in Zehlendorf, die unter anderem Hegenbarth, Schmidt-Rottluff und Kaus vertrat, oder die Galerie Franz, die seit Oktober 1 9 4 6 Arbeiten von N a y , M a r e k s und Blumenthal verkaufte. Im gleichen M o n a t wie Franz öffnete auch Anja Bremer die Türen ihrer Kunsthandlung mit der Ausstellung MEISTER DES E X P R E S S I O N I S M U S , in d e r sie G r a f i k e n u n d A q u a r e l l e d e r B R Ü C K E , d e s

BLAUEN

REITERS sowie von Barlach, Beckmann, Feininger, Gilles, Hofer, Klee, K o k o s c h k a , Kollwitz, Lehmbruck, M a r e k s und R o h l f s zeigte. 475 Es waren aber nicht nur die Berliner Kunsthandlungen, die der modernen Kunst ein Forum boten: In Dresden veranstaltete die Kunstausstellung Kühl, die seit 1 9 2 5 Dresdner Kunst förderte, ab 1 9 4 6 wieder erste Ausstellungen - unter anderem mit N a y , Glöckner und SchmidtRottluff. 4 7 6 Zeitgenössisches

vertrieben

auch die Galerie

Gerstenberg

(Groß-

henning) in Chemnitz oder Engewald in Leipzig. In Halle sorgte die 1 9 4 7 eröffnete Galerie Henning mit ihren monatlichen Schauen zeitgenössischer und expressionistischer Künstler für Aufsehen. Der Verleger Eduard Henning widmete sich besonders den von den Nationalsozialisten diffamierten Künstlern und schenkte vor allem den Expressionisten große Aufmerksamkeit. M i t der Unterstützung von Gerhard Händler, den Henning 1 9 4 7 als künstlerischen Leiter einstellte, präsentierte er Einzel- und Gruppenausstellungen mit Hofer, Ehmsen, Pechstein, Schmidt-Rottluff, Crodel oder französischen Malern wie Braque, Picasso und Matisse. 4 7 7

»Beireite Kunst«: Erste A u s s t e l l u n g e n „ 9 9

Wie anhand der Galerieprogramme zu ersehen ist, standen auch dort - soweit verfügbar - die Expressionisten und andere Künstler der Vorkriegsavantgarde im Vordergrund. Hinzu kam die jüngere Generation, die jedoch regional variierte. Die abstrakte Malerei spielte in den Galerien und bei den Museumsankäufen eine geringe Rolle. Mannheim und Halle waren mit ihren Erwerbungen von Fritz Winter eine Ausnahme. Maler wie Meistermann und Nay, die später als führende Künstler der abstrakten Malerei in der Bundesrepublik hervortraten, waren in den west- und ostdeutschen Sammlungen vorwiegend mit gegenständlichen Arbeiten vertreten.478 Generell überwogen Landschaften, Stilleben oder Portraits. Künstler, die aktive politische Gegner des nationalsozialistischen Regimes gewesen waren oder ihre Arbeit vor 1933 als »Waffe« im politischen Kampf eingesetzt hatten, fanden fast ausschließlich in der SBZ Eingang in die Sammlungen. 479 Allerdings setzten sich, im Gegensatz zur Situation nach dem Ersten Weltkrieg, nur wenige Künstler direkt mit den Schrecken des Krieges, dem Nationalsozialismus, dem gesellschaftlichen Umbruch oder ihrer allgemeinen Lebenssituation auseinander. Sogar politisch engagierte Künstler wie Hermann Brüse, Hans Grundig und Horst Strempel griffen zeitgeschichtliche Themen nur vereinzelt in ihren Gemälden auf. 48 ° Diese Diskrepanz zwischen »Kunst und Wirklichkeit« bemängelte der Kunstkritiker Adolf Behne in seinem Katalogvorwort zur 1 . SCHAFFENDEN

KUNSTAUSSTELLUNG

DER KAMMER

DER

KUNST-

im Sommer 1945 in Berlin. 481 In dem hieß es:

» 1 0 Wochen erst ist es her, daß wir halb erblindet aus den Kellern hervorwankten - und stehen nun hier vor einer Bilderschau, deren Friedfertigkeit fast verwirrt. Ich sehe Blumennstilleben und köstliche Früchte, Akte und reizvolle Landschaften, sehe traditionell geschmackvolle Goldrahmen, das alles auf hellen, eleganten Wänden. [...] Steckt nicht ein bißchen Zynismus in dieser sauberen Gepflegtheit, die allzu schnell vergißt?« 481 Die von Behne angesprochene Tendenz lässt sich in vielen Präsentationen der ersten Nachkriegsjahre beobachten. Explizit politische oder soziale Themen wurden vermieden. Im Vordergrund stand die Demonstration der künstlerischen Freiheit. Die von Behne kritisierte Schau der Kammer der Kunstschaffenden fand von Juli bis September 1945 in Berlin als eine der ersten Gemeinschaftsausstellungen mit insgesamt 184 Werken von Beckmann, Ehmsen, Heckel, Hofer (der besonders gut vertreten war), Kirchner, Mareks, Mueller, Nay, Neriinger, Pechstein, Rohlfs, Scheibe, Schmidt-Rottluff, Sintenis und anderen statt (Abb. 10). Wie bei der genannten Ausstellung waren es in der sowjetischen Besatzungszone vor allem zentrale Kulturverwaltungen und -Organisationen, die neben den Museen von Anfang

1 0 0 - N e u b e g i n n nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

20 DER

U n b e k a n n t e r F o t o g r a f . Karl H o f e r bei der E r ö f f n u n g der i . KUNSTAUSSTELLUNG DER KAMMER KUNSTSCHAFFENDEN

AM 2 5 . J u l i I 9 4 5 , B E R L T N E R

ZEITUNG,

2.8. J u l i

I945

an als (Mit-)Organisatoren auftraten. Vor allem der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands hatte maßgeblichen Anteil am kulturellen Wiederaufbau der S B Z . Er veranstaltete Ausstellungen, Vorträge und Diskussionen, in denen vor allem versucht wurde, die künstlerischen Strömungen vor 1 9 3 3 ins Gedächtnis zu rufen und die junge Generation wieder an die Kunst heranzuführen. 4 8 ' Erste vom Kulturbund organisierte Präsentationen galten Käthe Kollwitz und Ernst Barlach, die in den Ausstellungsprojekten dieser Zeit besonders häufig vertreten waren. 4 8 4 Oftmals arbeitete der Kulturbund mit dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) beziehungsweise der Gewerkschaft Kunst und Schrifttum und kommunalen Kulturämtern oder Kreisverwaltungen zusammen. Insbesondere die Museen in Halle, Dresden, Freiberg, Leipzig und Chemnitz waren in vielen Fällen Mitträger der Präsentationen. 485 Obwohl alle Ausstellungen in der S B Z seit dem 22. Februar 1 9 4 6 einer Genehmigungspflicht unterlagen, gab es eine große Vielfalt zu sehen. 486 Die Präsentationen waren weitgehend durch regionale Gegebenheiten und Möglichkeiten bestimmt, da organisatorische und materielle Schwierigkeiten meist keine überregionalen Projekte erlaubten. Doch zeigte sich überall das Engagement, die während des Nationalsozialismus unterdrückten Kunstrichtungen neu zu beleben und an ihre Ideen anzuknüpfen. 4 8 7

»Befreite K u n s t « : Erste Ausstellungen

Das erste größere Projekt war die im Mai 1 9 4 6 eröffnete I.DEUTSCHE KUNSTAUSSTELLUNG, die im beschädigten Zeughaus Unter den Linden in Berlin stattfand. Sie zeigte fast 600 Plastiken und Bilder, die sich wie die KLAGE (1938— 1940) von Kollwitz oder Hofers FRAU IN RUINEN (1945) oft unmittelbar mit dem Zeitgeschehen auseinandersetzten. Des Weiteren waren Arbeiten der aus der Tradition der »proletarisch-revolutionären« Kunst stammenden Künstler Ehmsen, Grundig, Brüse, Lex-Nerlinger, Nagel, Neriinger, Strempel, Zeller aber auch Barlach, Blumenthal, Kolbe, Pechstein, Scheibe, Sintenis und Tappert zu sehen. 488 Die Ausstellung wurde von Carola Gärtner-Scholle, Mitarbeiterin des Referats Bildende Kunst in der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung, in der TÄGLICHEN RUNDSCHAU als Beginn und Bestandsaufnahme gewürdigt. Bei der Auswahl der Kunstwerke hätten die Organisatoren in einigen Fällen bewusst auf eine Schaffensperiode von vor etwa zwanzig Jahren zurückgegriffen. Dies sei vor allem dann der Fall gewesen, wenn markante Kunstwerke vorgelegen hätten, die geeignet schienen, der Jugend einen Zugang zu dieser Kunst zu verschaffen. Notwendigerweise müsse eine solche Präsentation, die am Beginn einer neuen deutschen Kunstperiode stehe, heterogene Kunstauffassungen, Inhalte und Stilarten nebeneinander stellen. 48 ' Dagegen kritisierte Seng in seiner Rezension, dass in den meisten Bildern fast immer ein Rückblick auf das überwundene Grauen und weniger auf das »wahrhaft Neue, das in unsere Zeit einfließt« gezeigt werde - ein Argument, das später öfter herangezogen werden sollte. 490 Eine der umfassendsten Ausstellungen vormals »entarteter« Kunst präsentierte der Kunsthändler Ferdinand Möller im August 1946 in Neuruppin. Unter dem Titel FREIE DEUTSCHE KUNST zeigte Möller in Kooperation mit dem städtischen Amt für Volksbildung Bilder aus seiner privaten Sammlung. Darunter befanden sich Lithografien und Holzschnitte von Barlach, das Gemälde GELMERODA ( 1 9 2 1 ) und einige Holzschnitte von Feininger, Lithografien von Kokoschka, einige Gemälde, Aquarelle und Grafiken der BRÜCKE-Künstler - unter anderem FRÜHLING IN FLANDERN ( 1 9 1 6 ) von Heckel - , sowie von Kaus, Kollwitz, Rohlfs und Hofer (Abb. 21).*91

Möller war noch während des Krieges von Berlin in sein Landhaus in

Zermützel gezogen, dort verwahrte er auch die verbliebenen Kunstwerke aus seiner Galerie und die von ihm in Kommission genommenen Werke aus der Aktion »Entartete Kunst«. 4 ' 1 Im TAGESSPIEGEL äußerte sich Gert H.Theunissen über die Schau: »Kaum eine der großen und kleinen Kunstausstellungen, die im Laufe des letzten Jahres in Berlin dem erwartungsvollen Besucher einen Einblick in die deutsche Kunst vor 1 9 3 3 gewähren wollten, kann man an Wert und Vielfalt mit der überraschenden Ausstellung vergleichen, die in diesen Wochen das

101

1 0 2 _ Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der Moderne

21

U n b e k a n n t e r F o t o g r a f . Ausstellung FREIE DEUTSCHE KUNST in N e u r u p p i n , A u g u s t 1 9 4 6 , Berlin, Berlinische

Galerie, Archiv Galerie Ferdinand M ö l l e r

Amt für Volksbildung in Neuruppin zeigt. [...] denn hier wird zum erstenmal [sie!] nach langen Jahren der Verbannung und nach einem Jahr hoffnungslosen und entmutigendem Kunstgeschwätz dem Laien die Möglichkeit gegeben, sich an den besten Künstlern, an den wirklichen Bahnbrechern zu orientieren. [...] Diese Neuruppiner Ausstellung will nicht verblüffen oder überreden, sondern überzeugen, und vor allem will sie endlich die richtige Perspektive aufzeigen, unter der die moderne Kunst in Deutschland gesehen werden muß. [...] Sie beantwortet die Frage, w o wir heute stehen und was heute nottut, mit dem unmißverständlichen Hinweis auf das, was bereits vorbildlich geleistet worden ist. Sie warne die Künstler vor peinlichem Epigonentum und den Betrachter davor, alles das als Kunst hinzunehmen, was sich nur modernistisch gebärdet. Nicht um eine mehr oder weniger zufällige Aufnahme des greifbaren Bestandes geht es hier, sondern um förderliche Erkenntnisse der Wege und Ziele.« 4 9 3 Schon allein aufgrund der Qualität der Bilder sprach Theunissen der Neuruppiner Ausstellung einen vorbildlichen Charakter zu. Die Schau zeige die Per-

»Befreite K u n s t « : Erste Ausstellungen

spektive auf, unter der die moderne Kunst in Deutschland betrachtet werden müsse, indem sie unmissverständlich auf die bereits vollbrachte Leistung hinweise. Theunissen sprach damit der Vorkriegsavantgarde und insbesondere dem Expressionismus - der die Schau dominierte - eine Orientierungsfunktion für das aktuelle Kunstschaffen zu, warnte jedoch gleichzeitig vor Nachahmertum. Eine etwas andere Ansicht über die Rolle der Kunst vor 1 9 3 3 vertrat Gertrud Rudloff-Hille vom Städtischen Museum in Z w i c k a u , die wenige Jahre später ganz im Sinne der offiziellen Kulturpolitik agieren und argumentieren sollte. Wie sie im Katalog der im Sommer 1 9 4 7 veranstalteten M a x Pechstein-Ausstellung schrieb, hielt sie ein Anknüpfen an die Entwicklungen vor 1 9 3 3 für unmöglich. Doch müsse dieser Versuch auch gar nicht unternommen werden, da die Schau am Beispiel eines »Meisters der inneren Emigration« zeige, wie die von 1 9 3 3 unberührt gebliebene, selbstverständlich weiter entfaltete bildende Kunst gerade nach 1 9 3 3 zu höchster Vollendung gekommen sei und zu einer aktuellen Ausdrucksweise geführt habe, die allen verständlich sei, die guten Willens und unverbildeten Geschmacks sei. 4 ' 4 Dennoch bezog sich auch Rudloff-Hille, unter dem berechtigten Einschluss des künstlerischen Schaffens während des Nationalsozialismus, mit der Präsentation der Arbeiten von Pechstein auf die Künstlergeneration der Vorkriegszeit. Die Berufung auf die nach 1 9 3 3 unterbrochene künstlerische Tradition, insbesondere auf die des Expressionismus, die in nahezu allen Ausstellungsprojekten der S B Z in dieser Zeit anklang, kam ebenso in den westlichen Zonen zum Ausdruck. Eine der ersten Präsentationen war im M ä r z 1 9 4 6 die überregionale Schau BEFREITE KUNST in Celle. 495 Kriterium für die dortige Auswahl w a r der mehr oder weniger aktive Widerstand der Künstler gegen den Nationalsozialismus. Gezeigt wurden unter anderem Barlach, Kollwitz, Kokoschka, Hofer und die BRÜCKEMaler mit Werken aus den dreißiger Jahren. Explizit als Bezugspunkt für die Gegenwart propagierten die Veranstalter die »klassische Moderne« dagegen in den Ausstellungen der Kölner Sammlung Haubrich, die nach ihrem Auftakt in Köln im Herbst 1 9 4 6 bis 1 9 5 5 in mehreren Städten der westlichen Besatzungszonen und im europäischen Ausland gezeigt wurde. 4 9 6 Andere Präsentationen fanden 1 9 4 6 in Augsburg, Konstanz, München, Wiesbaden und in Kampen auf Sylt statt, bei denen die Spannweite von expressiver, neusachlicher, fantastischer bis zur abstrakten Kunst reichte. 1 9 4 7 folgten größere Kunstausstellungen in Essen, Hannover und Düsseldorf sowie die Schauen VON NOLDE BIS KLEE (Köln), VON NOLDE BIS N A Y ( M a i n z ) , M O D E R N E D E U T S C H E K U N S T in T ü b i n g e n u n d E X T R E M E

MALE-

REI in Augsburg. 4 9 7 Ankäufe ehemals »entarteter« Künstler unternahm der neue Direktor Carl Georg Heise für die Hamburger Kunsthalle. Ähnlich agierten Walter Passarge in Mannheim und Leopold Reidemeister in Köln, der ergänzend zur Haubrich Sammlung aktuelle Arbeiten für sein Museum erwarb. 4 9 8

103

104 _ Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

Im Unterschied zur S B Z bildeten in den Westzonen die traditionellen Kunstinstitutionen - die Museen und Kunstvereine - die wichtigsten Organisationszentren für Ausstellungen moderner und zeitgenössischer Kunst. Blieben die Präsentationen damit in den westlichen Besatzungszonen von zufälligen Konstellationen abhängig, erhofften sich die Behörden in der sowjetischen Z o n e durch die Einbindung des Kulturbundes und der Gewerkschaften die Umsetzung eines kulturpolitischen Konzepts. 499 Die Ausstellung als Mittel der Volksbildung wurde in der S B Z von Anfang an hervorgehoben. So betonte Alfred Werner, Leiter der Abteilung Wissenschaft und Forschung der Zentralverwaltung für Volksbildung, in einer Radioansprache, dass Kunstausstellungen und Führungen über den neuen Willen und die »neue Gesinnung« der Künstler aufklären sollten: »Mehr als bisher wird man auch die gesellschaftliche Seite der Kunst betonen müssen. In den letzten Jahrzehnten w a r es selbstverständlich, daß das Publikum sich nach dem Willen und dem Geschmack des Künstlers richtete. Die N o t unserer Zeit verlangt gebieterisch, daß die Künstler die Notwendigkeiten und Bedürfnisse der breiten Masse unseres Volkes erkennen und sich in den Dienst der neuen Aufgaben stellen. Kunst ist nicht mehr, wie es noch vielfach behauptet wird, allein eine Frage der Form und der Gestaltung, sondern mehr denn je auch ein Problem des Inhalts. Eine Kunst nur um der Kunst willen wollen und können wir uns in Gegenwart und naher Z u k u n f t nicht mehr leisten. Die Kunst wird und soll dem Leben dienen.« 5 0 0 Diese Auffassung vertrat auch Hermann Henselmann in seinem Beitrag im AUFBAU vom April 1 9 4 6 . Allerdings hielt er diese »dem Leben dienende« Funktion der Kunst für problematisch, da die breite Masse des Volkes die unmittelbare Beziehung zur Kunst verloren habe, der kulturpolitische Ansatz von Ausstellungen also gar nicht bis zum Publikum vordringe. Henselmann stellte sich die Frage, ob es wirklich nur die letzten zwölf Jahre gewesen seien, die diese Entfremdung verschuldet hätten oder ob es nicht vielmehr die Künstler selbst gewesen waren, die durch ihre Streitigkeiten um Formprobleme, um »Verismus«, »magischen Realismus« oder Neo-Klassizismus zur Isolierung beigetragen hätten, während der Mensch nach Ordnung und Hilfe verlangte. 5 0 1 N a c h Auffassung von Henselmann müsse der Künstler »deutlicher als andere, klarer als andere die Zusammenhänge sehe[n], die Bewegungsgesetze des menschlichen Zusammenlebens erkenne[n] und dass er immer und unter allen Umständen sich zu den Realitäten der menschlichen

Die » A l l g e m e i n e deutsche Kunstausstellung« in Dresden 1946

Existenz, eben zur Wahrheit bekenne: zur Wahrhaftigkeit in der Darstellung des menschlichen Gefühlsbereichs und der gesellschaftlichen Situation und zur Wahrhaftigkeit in der Wahl seiner künstlerischen Mittel. [...] Und wenn diese Werke entstehen, dann werden die künftigen Kunstausstellungen eine besondere Aktualität erhalten, denn sie werden das gute Gewissen des Volkes sein. Der Spiegel, der der menschlichen Gesellschaft vorgehalten wird als Aufruf und Bekenntnis zugleich. « 50Z Die Zitate von Werner und Henselmann verdeutlichen, dass den Ausstellungen und der darin präsentierten Kunst die Kraft und die Aufgabe zugesprochen wurde, die Kluft zwischen Kunst und Volk zu schließen. Aus diesem Grund müsse man, wie Anton Ackermann auf der Ersten Zentralen Kulturtagung der K P D im Februar 1 9 4 6 betonte, all jene Zustände und Einrichtungen als kulturfremd und kulturfeindlich ablehnen und verurteilen, »die dazu führen, den breiten Volksschichten die Errungenschaften der Kultur fernzuhalten und diese als Vorrecht und Privileg nur für eine Klasse oder einige Schichten zu reservieren.« 5 0 3

M M D I E » A L L G E M E I N E DEUTSCHE KUNSTAUSSTELLUNG« IN DRESDEN

I946

Gerade wegen der kulturpolitischen Bedeutung, die Kunst und Kultur in der S B Z zugesprochen wurde, maß man der Rehabilitierung der vormals »entarteten« Kunst - wie anhand der zahlreichen Ausstellungsprojekte zu ermessen ist - in den ersten Nachkriegsjahren eine große Bedeutung bei. Das wohl größte und bekannteste Projekt dieser Zeit w a r die ALLGEMEINE DEUTSCHE KUNSTAUSSTELLUNG, die vom 25. August bis zum 29. Oktober 1 9 4 6 in Dresden stattfand. Als Veranstalter fungierten der Kulturbund, die Landesverwaltung Sachsen und der Rat der Stadt Dresden. Für die inhaltliche Konzeption hatte man den Bildhauer Herbert Volwahsen und den Kunsthistoriker Will Grohmann gewonnen. 5 0 4 Die in der Ausstellung präsentierten Kunstwerke waren vorab von einer Jury ausgewählt worden, der neben Volwahsen und Grohmann auch Grundig, Hofer, Lachnit, Pechstein, H o f f m a n n , Gerhard Strauss, der mittlerweile die Leitung der Abteilung bildende Kunst der Zentralverwaltung für Volksbildung übernommen hatte, und Alexander Dymschitz, als »sowjetische Betreuung«, angehörten. 505 M i t der Schau sollten nicht nur ästhetische Bedürfnisse gestillt werden. Wie durch einen Bericht von Wolfgang Balzer, dem Direktor der Dresdner Kunstsammlungen, deutlich wird, verfolgten die Veranstalter von Beginn an kulturpolitische Ziele:

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106 _ Heubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

»Es galt, das unsinnige Gerede von dem eisernen Vorhang und dem Z w a n g , der hinter ihm angeblich das geistige Schaffen an freier Entfaltung hindere, zu widerlegen. Und es galt, vor Augen zu führen, daß die Einheit Deutschlands, die von einer klugen und weitblickenden Politik angestrebt wird, auf kulturellem Gebiet existiert, heute bereits wieder ein nicht zu leugnendes Faktum ist.« 506 Die Demonstration der künstlerischen Vielfalt war ebenso wie die Präsentation der Vorkriegsavantgarde ein politischer Akt. Wie bei einem Großteil der anderen Projekte dieser Zeit versuchten die Organisatoren in Dresden, durch die Rehabilitierung der verfemten Moderne und durch Ausschluss der NS-Kunstproduktion eine direkte Traditionslinie zur bildenden Kunst der Weimarer Republik herzustellen. Treffend bemerkte Carl Linfert in einer Rezension: »So war die Ausstellung zunächst selbst eine Erinnerung: Sie rief uns wach vor allem jene wagemutige Phantasie der Expressionisten, Konstruktivisten, und wie sie alle hießen, die nicht aus leerem Mutwillen von der Natur abwichen, sondern mit dem Ziel, ihren Hintergründen tiefer auf die Spur zu kommen. [...] Natürlich soll nicht da weitergemacht werden, w o jene aufhörten, aber zumindest kann doch der weite Griff ihrer Phantasie als Modell dienen für die Spannweite, in der ein Bildwerk überhaupt sich bewegen kann.« 5 " 7 Es nahmen 250 Künstler der amerikanischen, französischen und sowjetischen Besatzungszone mit fast 600 Werken teil, wobei die Expressionisten, die Künstler des Bauhauses, der Neuen Sachlichkeit und die Mitglieder der 1 9 2 8 gegründeten Dresdner ASSO deutlich hervortraten. 508 Den BRÜCKE-Malern wurde eine besondere Wertschätzung zuteil, indem ihnen ein Sonderraum eingerichtet wurde. 5 " 9 Von ihnen und anderen Vorkriegsavantgardisten hatten die Kuratoren zahlreiche Bilder ausgewählt, die noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beziehungsweise aus den zwanziger und dreißiger Jahren stammten. Aber auch Werke aus den Kriegsjahren und von 1 9 4 5 / 1 9 4 6 waren zu sehen. 510 War das Wirken der BRÜCKE gut dokumentiert, fehlten die Vertreter des BLAUEN REITERS (bis auf Paul Klee) komplett, ebenso wie dadaistische oder konstruktivistische Tendenzen. Vergleichbar mit anderen Präsentationen der Zeit, spiegelten sich die Erfahrungen von Krieg und Nationalsozialismus oder dem Elend der Nachkriegszeit nur vereinzelt in den ausgestellten Bildern wider, obwohl es durchaus Werke gegeben hätte, die sich mit aktuellen Themen befassten. 5 1 1 Stattdessen griffen die Organisatoren bei der Dresdner Schau auf das monumentale Triptychon DER KRIEG ( 1 9 2 9 - 1 9 3 2 ) von Otto Dix zurück, dem man immer noch eine bestechende Zeitnähe attestierte (Abb.

22).

Die » A l l g e m e i n e deutsche Kunstausstellung·· in Dresden 1946 _ 107

22

Otto Dix. DER KRIEG, 1 9 2 9 - 1 9 3 2 , Öl auf Holz, Mittcltafcl 204 Χ 204 cm, rechte und linke Tafel 204 X 1 0 2 cm, Predella 60 χ 2 0 4 cm, Dresden, Staatliche K u n s t s a m m l u n g e n , Galerie N e u e Meister

Als Gegenstück zu dem von D i x aus den Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg geschaffenen G e m ä l d e , w u r d e H a n s G r u n d i g s

VISION

EINER

BRENNENDEN

S T A D T , die Mitteltafel seines 1 9 3 5 - 1 9 3 8 entstandenen Triptychons DAS TAUSENDJÄHRIGE Grundig

REICH aus

den

in Szene gesetzt. Beide w u r d e n durch R a d i e r u n g e n von Grafikzyklen

UNTERM

HAKENKREUZ

und

KRIEG

Lea

DROHT

(beide 1 9 3 6 ) ergänzt. D a s S c h a f f e n der Bildhauer w a r mit fast siebzig Arbeiten gut dokumentiert. Einen S c h w e r p u n k t

bildete Wilhelm

Lehmbruck

mit einer G r u p p e von

sechs

Bronzen. M i t je zwei Arbeiten w a r e n K o l l w i t z und Barlach vertreten. O b w o h l abstrakte K u n s t zu sehen war, ü b e r w o g e n gegenständliche Darstellungen, wie Bildnisse, L a n d s c h a f t e n , Interieurs, F i g u r e n k o m p o s i t i o n e n und Stilleben - doch einen Ausschluss bestimmter Tendenzen g a b es n i c h t . 5 ' 2 A u s einem Brief des Künstlers T h e o d o r Werner an Ferdinand M ö l l e r gehen weitere Details hervor: »Die Ausstellung - w i r w a r e n ¿ m a l da, ist friedensmäßig m o n s t r e n h a f t groß mit einem riesenhaften lokalen Ballast von Belanglosigkeiten. Was uns interessierte, also w a s G r o h m a n n mit erstaunlicher Energie z u s a m m e n g e b r a c h t hat

108 _ Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

ist: ι . uns vor allem und wieder Ihre Kollektion [die von Ferdinand Möller] und bes. E. L. Kirchner. Er hängt in einem guten, sehr großen Raum, so daß die Bilder nicht so intim, groß und bedeutend wirken wie in Neuruppin - aber das ist das événement der Ausstellung. Dazu kommt eine Reihe sehr schöner Lehmbruck-Plastik - stärker und echter als je, bes. in diesem Zusammenhang, ι Kokoschka aus der Sammlung Bienert - das Bild mit dem Hasen - ich mag es nicht, aber es ist sehr stark. 3 Hofer vom >guten< Hofer - das Triptychon [von Otto Dix] furchtbar - ein Alpdruck u. eigentlich keine Malerei, aber eine Tat oder vielmehr ein Dokument ohne Ausblick. Dazu Baumeister 3, nicht vom besten. Schlemmer, etwa 6 Gouachen - besser - nicht ohne etwas Gewaltsamkeit und Anregung von Meyer-Amden im wesentlichen Punkt: im Bezug aufs Mystische. 3 Hölzel-Kompositionsstudien. Einige sehr schöne Klees aus der Sammlung Bienert. Dazu die Jungen: Bauhausschule, stärkste Klee-Anregungen und Picassoeklektizismus. Die Rosen-Leute Thiemann, Trökes, Mammen, Heidt. Dazu Winter, Götz u. einige andere Grohmann-Neuentdeckungen. Leider von allen nur gerade eine Visitenkarte, so daß ein Urteil kaum möglich ist. Vielleicht mehr Spiel mit neuen Materialreizen und tastende Versuche in einer neuen Grammatik, als anpeilen klar erkannter neuer Ziele.« 5 1 3 Als Leihgeber fungierten - wie aus dem Brief von Werner und dem Ausstellungsheft hervorgehen - der Kunsthändler Ferdinand Möller sowie die Galerie Günther Franke aus München, die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung und Privatsammler wie Ida Bienert aus Dresden. Den größten Teil stellten die Künstler jedoch selbst zur Verfügung. 514 Möller hatte allein elf Bilder aus seinem Besitz nach Dresden gegeben - darunter Kunstwerke, die 1 9 3 7 im Zuge der Aktion »Entartete Kunst« aus den Museen beschlagnahmt worden waren. Um zwei der Gemälde,

FRÜHLING

IN

FLANDERN

von Heckel und

SICH

KÄMMENDER

AKT

( 1 9 1 3 ) von Kirchner, entbrannte noch während der Ausstellung ein Streit, da man herausgefunden hatte, dass sie aus dem ehemaligen Besitz des Moritzburgmuseums in Halle stammten (Abb. 23-24).

Erich Neuß, der kommissarische Direktor des

Hallenser Museums, hatte die Bilder entdeckt und seine Beobachtung der Ausstellungsleitung in Dresden mitgeteilt. 515 Bis zu diesem Zeitpunkt war noch nicht geklärt worden, wie mit dem von den Nationalsozialisten als »entartet« konfisziertem Kulturgut umzugehen war. Nun wurde von Seiten der SMAD der Beschluss herausgegeben, »alle auftauchenden Bilder, die mit der Begründung den Museen enteignet wurden, daß sie entartet seien, zurückerstattet werden.« 5 ' 6 Die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung ließ sich daraufhin von der SMAD ermächtigen,

Die » A l l g e m e i n e d e u t s c h e K u n s t a u s s t e l l u n g « in D r e s d e n 1946 _ 109

23

Erich H e c k e l . I BÜHLING IN FLANDERN, 1 9 1 6 , Ö l auf L e i n w a n d , 83 Χ 9 * c m , H a g e n , Karl Ernst O s t h a u s

»alle notwendigen M a s s n a h m e n zur Ermittlung und R ü c k f ü h r u n g von Kulturbesitz v o r z u n e h m e n , der aus ehemals öffentlicher H a n d oder aus Privatbesitz durch die Faschisten v o m 1 . J a n u a r 1 9 3 8 bis zur Kapitulation entfernt w o r d e n sind. Die deutsche V e r w a l t u n g f ü r Volksbildung ist befugt, ermitteltes Kunstgut dieser Art, vor allem solches aus der sogenannten A k t i o n

>Entartete

KunstSich kämmender Akt< und Heckel >Frühling in Flandern< vom Moritzburgmuseum in Halle als sein ehemaliger Besitz behauptet und nachgewiesen werden, der im Zusammenhang mit der Aktion >Entartete Kunst< durch die Faschisten dem Museum entfremdet worden ist. Aufgrund der Ermächtigung

der Sowjetischen Militäradministration

in

Deutschland vom 8 . 1 0 . 1 9 4 6 , mit der die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung angewiesen und bevollmächtigt wird, alle zur Rückführung des durch die Faschisten Museen und Privatsammlungen entfremdeten Kunstgutes, notwendigen Maßnahmen zu treffen, haben wir die Ausstellungsleiter in Dresden angewiesen, von einer Rücklieferung der beiden Bilder solange abzusehen, bis eine Klärung des Falles erreicht ist.« 5 1 9 Möller protestierte sofort vehement gegen die Beschlagnahmung. Daraufhin erhielt er ein Schreiben von Gerhard Strauss, der ihn darauf hinwies, dass durch die Maßnahmen der Sowjetischen Militäradministration keine Möglichkeit bestehe, die Werke wieder in seinen Besitz zu bringen. Er argumentierte, dass Möller die Gemälde - wie Möller selbst in einem vorherigen Brief angegeben hätte - für den Erhalt des Volkes gekauft habe und er sich somit einer Rückgabe nicht widersetzen solle. Zudem wies er Möller darauf hin, dass alle getätigten Vereinbarungen und Besitzänderungen der Nationalsozialisten rechtswidrig und somit hinfällig seien und nur die ursprünglichen Eigentümer der Kunstwerke, also die Museen, neuen Eigentumsverständigungen zustimmen könnten. Z u m Abschluss fügte Strauss hinzu, dass die Zentralverwaltung sich genötigt sehe, falls Möller sich den Weisungen widersetze, den Gesamtbestand der in seinem Besitz befindlichen Kunstwerke zu konfiszieren. 5 2 0 In seinem Antwortbrief weigerte sich Möller, die Bilder herauszugeben. Er verdeutlichte, dass der größte Teil seiner Sammlung nichts mit der Beschlagnahmungsaktion »Entartete Kunst« zu tun habe. Z u den beiden Moritzburg-Bildern auf der Kunstausstellung in Dresden äußerte er sich folgendermaßen: »Bis heute ist es mir nicht möglich gewesen, über den Verbleib der nach Dresden für die >Allgemeine Deutsche Kunstausstellung< geliehenen Bilder Nachricht zu erhalten. Wenn das Museum in Halle glaubt, einen Anspruch erheben zu können, dann wäre ein direkter Weg an mich zur Verständigung über diese Dinge wohl der geeignete g e w e s e n . « 5 1 1 Die von der Zentralverwaltung beschlagnahmten Bilder aus Dresden kamen vorerst nicht in den Besitz des Moritzburgmuseums. Nachdem die Dienststelle sie

III

1 1 2 - N e u b e g i n n nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

für eine gewisse Zeit einbehalten hatte, wurden sie - wie aus einem späteren Aktenvermerk Möllers hervorgeht - trotz der von Strauss formulierten Ansprüche stillschweigend an den Kunsthändler zurückgegeben. 522 D i e A L L G E M E I N E D E U T S C H E K U N S T A U S S T E L L U N G in D r e s d e n w u r d e v o n

fast allen Kritikern als resümierende Schau deutscher Vorkriegskunst gewürdigt. Positive und negative Rezensionen hielten sich in etwa die Waage. In den Besprechungen bezogen sich die Journalisten auf die Zeitbezogenheit der Bilder und ihre Bedeutung für die Gegenwartskunst. Die Befürworter lobten die Breite der dargestellten Richtungen und begeisterten sich an der immer noch gültigen Ausdruckskraft der BRÜCKE. 513 Die ablehnenden Stimmen beanstandeten dagegen das Ungleichgewicht von Altem und Neuem zugunsten des Alten und kritisierten, dass realistische und impressionistische Bilder zu kurz gekommen seien. 514 Die Rehabilitierung der »entarteten« Künstler hätte zu sehr im Mittelpunkt gestanden, obwohl viele dieser Bilder für die Gegenwart keine wesentliche Ausdruckskraft mehr besäßen. Wolfgang Balzer schrieb diesbezüglich in der ZEITSCHRIFT FÜR KUNST: »Der Gedanke, auf alle Fälle etwas anderes als die bekannte Münchner Repräsentation des deutschen Kunstschaffens zustande zu bringen, wurde dominierend und hat manchmal zu einer nicht ganz gerechtfertigten Ablehnung der wirklichkeitsnahen Interpretation geführt. Ja, zuletzt scheint sich so etwas wie eine unausgesprochene Parole: Ehrenrettung der sogenannten entarteten Kunst, durchgesetzt zu haben [...] Die Wirkung war daher eine doppelte. Der künstlerisch geschulte, mit der Tradition vor 33 innerlich verbundene Betrachter hatte gleich bei den ersten Schritten ein sehr lebhaftes Gefühl der Befreiung und Beglückung: endlich atmete er wieder in einer künstlerisch kondensierten Atmosphäre. Das unvorbereitete Publikum dagegen (und die meisten waren ja zwölf Jahre lang den Problemen der modernen Kunst ferngehalten worden) fühlte sich befremdet und kam sich sogar gefrozzelt vor.« 5 2 5 Und wirklich waren es vor allem die Besucher, die trotz starkem Interesse die Ausstellung zum größten Teil ablehnten und zwar hauptsächlich aufgrund der expressionistischen und abstrakten Kunst. 5 2 6 Die Veranstalter versuchten, der Abneigung und den Verständnisschwierigkeiten der Gäste durch Vorträge über moderne Kunst zu begegnen und die Problematik in der Presse zu diskutieren. 527 Dennoch ist zu bemerken, dass sich die Stimmung in der Presse bis zum Ende der Ausstellung wandelte und in Ansätzen auf die von der SMAD und SED anvisierte jedoch noch nicht offiziell propagierte Kulturpolitik der nächsten Jahre zielte. Auch Oberst Tjulpanow, Leiter der Abteilung Information und Politik der SMAD, nahm die negativen Reaktionen auf die Dresdner Ausstellung auf dem im Anschluss ver-

Die R e n a i s s a n c e des E x p r e s s i o n i s m u s in den M u s e e n der S B Z

anstalteten Kiinstlerkongress (26.-29. Oktober 1 9 4 6 ) zum Anlass, die sowjetischen Vorstellungen über die Funktion der Kunst in der Gesellschaft hervorzuheben. Ebenso folgerte der Staatssekretär für Kultur Herbert Gute aus der Ablehnung des Publikums, dass das Volk eine zeitnahe und volksverbundene Kunst wünsche. Die Reaktion der Besucher zeige, dass die Kunst das Jetzt und Hier widerspiegeln und sich für eine neue Gesellschaftsordnung einsetzen müsse. 528 Verhaltener äußerte sich Alexander Dymschitz, der auf der Dresdner Schau den Kontrast zwischen einer »echten realistischen Kunst mit feinen psychologischen Zügen gegenüber einer formalistischen Abstraktion, welche ideenarm und darum zukunftslos« sei, zu spüren meinte. 5 2 '

• • •

D I E R E N A I S S A N C E D E S E X P R E S S I O N I S M U S IN D E N M U S E E N D E R S B Z

Die Vorbehalte, die Tjulpanow, Dymschitz oder Ackermann bereits 1 9 4 5 / 1 9 4 6 gegenüber bestimmten Kunstrichtungen äußerten, zeigten zu diesem Zeitpunkt noch keinerlei Auswirkungen auf die Museen. Vielmehr ist zu bemerken, dass die Institutionen, ähnlich wie die Ausstellungsprojekte dieser Jahre, Wert auf eine Rehabilitierung der vormals diffamierten Künstler legten. Sie unternahmen den Versuch, die von den Nationalsozialisten geschlagenen Lücken in den Beständen zu schließen, um so den Anschluss an die Gegenwart wiederherzustellen. In Erscheinung traten dabei vor allem die Häuser, die während der Weimarer Republik ihre Sammlungen für die zeitgenössische Kunst geöffnet hatten. Eines der markantesten Beispiele ist zweifellos das Moritzburgmuseum in Halle, w o der Städtische Beirat bereits im Juli 1 9 4 5 beschloss, die moderne Kunst aus den ehemaligen Beständen des Museums zurückzuerwerben. 5 3 0 Für den Wiederaufbau der Sammlung wollte er einen befähigten, modern gesinnten Direktor einsetzen. 531 Nachdem Anfang 1 9 4 6 zunächst der Stadtarchivar Erich Neuß die kommissarische Leitung übernahm, gewann der Hallenser Stadtrat im November 1 9 4 7 den Kunsthistoriker Gerhard Händler für die Direktion des Hauses, der zuvor als künstlerischer Leiter für die in Halle ansässige Galerie Henning tätig gewesen war. An eine Rekonstruktion oder Weiterführung der von den Nationalsozialisten dezimierten modernen Sammlung w a r jedoch nicht zu denken. Generell konnten in den ersten beiden Nachkriegsjahren nur wenige Ankäufe getätigt werden. 5 3 2 Diese und der verbliebene Bestand des Hallenser Museums wurden bis zur offiziellen Eröffnung im Oktober 1 9 4 8 jedoch nicht in einer ständigen Ausstellung präsentiert. Z w a r w a r die Moritzburg weitgehend von Kriegsschäden verschont geblieben, so dass die Räumlichkeiten sofort wieder für kulturelle Zwecke genutzt werden konnten, doch dienten sie zunächst ausschließlich für Veranstaltungen. In den

113

1 1 4 _ Neilbeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der Moderne

wenigen Ausstellungen, die in den ersten beiden Nachkriegsjahren auf Initiative des Museums arrangiert wurden, stach nur die im April 1 9 4 7 organisierte Präsentation HANDZEICHNUNGEN

UND

GRAFIKEN

DEUTSCHER

MEISTER VON

i860

BIS

ZUR GEGENWART hervor. 533 Sie setzte sich aus Leihgaben des Leipziger Museums für bildende Künste zusammen und zeigte unter anderem Liebermann, Corinth, die Maler der BRÜCKE sowie Barlach, Beckmann, Herbig, Marc, Modersohn-Becker, Rohlfs, Kokoschka und Kollwitz. 534 Zudem hatte das Leipziger Museum das Kriegstriptychon von Dix zur Verfügung gestellt, das in einem separaten Raum präsentiert wurde. Auch nach Beendigung der Schau blieb es an der Moritzburg, da Neuß es erwerben wollte. Da auch Dresden daran interessiert war, blieb es vorerst nur als Leihgabe in Halle. In Dresden übernahm der Kunsthistoriker Wolfgang Balzer - der vor 1 9 3 3 das Dresdner Kunstgewerbemuseum geleitet hatte - im September 1946 die Direktion der Staatlichen Kunstsammlungen. 535 Zuvor waren die Geschicke der Sammlungen, nach dem Weggang des amtierenden Direktors Hermann Voss nach dem Ende des Krieges, von der Leiterin der Skulpturenabteilung Ragna Enking gelenkt worden. 536 Ihr und 1 7 weiteren Wissenschaftlern wurde jedoch zum 30. Juli 1946, kurz nach der Einrichtung der ersten provisorischen Präsentation der verbliebenen Bestände in Schloss Pillnitz, im Zuge der Entnazifizierungsmaßnahmen fristlos gekündigt. 537 Schloss Pillnitz war den Dresdner Kunstsammlungen offiziell zum 1 . April 1946 für die Einrichtung eines Zentralmuseums für das Bundesland Sachsen übergeben worden (Abb. 25,). 5,8 Zuvor hatten sowjetische Truppen das ausgelagerte Sammlungsgut der Dresdner Museen dorthin (und ins Albertinum) verbracht, von wo sowjetische Fachleute - die sogenannte Trophäenkommission - ausgewählte Kunstwerke in die Sowjetunion abtransportierten. 535 Mit den in Pillnitz verbliebenen Beständen der Gemäldegalerie, des Kupferstichkabinetts, der Skulpturen- und naturwissenschaftlichen Sammlungen sollte nun, laut einem Befehl der SMA Sachsen, bis zum i.Juli 1946 ein Zentralmuseum eingerichtet werden. 540 Die Nutzung der Gebäude in der Innenstadt war zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Sowohl der Zwinger als auch der Semperbau waren bei dem Luftangriff auf Dresden im Februar 1945 zerstört worden. Auch das Albertinum hatte Schäden davongetragen. Das neu zu schaffende Museum in Pillnitz sollte laut den Vorgaben der SMA in seiner »chronologischen und entwicklungsmäßigen Anordnung nach den Grundsätzen der historisch-materialistischen Geschichtsauffassung und der modernen Gesellschaftswissenschaft aufgebaut« werden. Die Kunstsammlungen sollten dabei weniger als Forschungsinstitute denn als Mittel der Volksbildung und Volkserziehung dienen. 541 Drei Monate nach dem Auszug der sowjetischen Militärs aus Schloss Pillnitz eröffnete Enking am 6. April 1946 die erste Ausstellung aus den Restbeständen der Gemäldegalerie und der Skulpturensammlung (Abb. 26). Das Kupferstich-

Die

25

Unbekannter

Fotograf.

R e n a i s s a n c e d e s E x p r e s s i o n i s m u s in d e n M u s e e n d e r S B Z _

M i t g l i e d e r d e r B r i g a d e d e s K o m i r e e s tiir K u n s t a n g e l e g e n h e i t e n m i t V e r t r e t e r n d e r

M u s e e n u n d der M i l i t ä r p u b l i z i s t i k auf d e m S c h l o s s p l a t z v o n Pillnitz, Juli

kabinett zeigte in gesonderten R ä u m e n

ZEICHENKUNST

1945, Dresden,

DES

sowjetisch

Hauptstaatsarch

2 0 . JAHRHUN-

DERTS . , 4 1 Wie die Räumlichkeiten aussahen, lässt sich leider nicht mehr rekonstruieren. Bekannt ist, dass Balzer gleich nach seinem Amtsantritt im September

1946

eine Umgestaltung der von Enking eingerichteten R ä u m e v o r n a h m , bei der er vier Säle f ü r die moderne Malerei von 1 9 0 0 bis zur G e g e n w a r t v o r s a h . Der in den S a m m l u n g e n erhaltene Bestand w a r gering. Wie aus einer Liste der Kriegsverluste zu ermitteln ist, zählten 1 9 4 5 zum M i n d e s t b e s t a n d moderner Kunst 5 2 5 Bilder, inklusive der G e m ä l d e der Impressionisten und Romantiker. 1 7 7 der dort a b g e listeten K u n s t w e r k e w u r d e n 1 9 4 5 / 1 9 4 6 in die S o w j e t u n i o n ü b e r f ü h r t . , 4 3 Z u den wenigen modernen G e m ä l d e n , welche die A k t i o n »Entartete Kunst« überstanden hatten, gehörten FRAUEN

AM

BILDNIS

MEER

DER

GRÄFIN

S. V O N

HAGEN

(T908) von

(1908) von Hofer, BAUMLANDSCHAFT

Beckmann,

(1928) von

Schmidt-

R o t t l u f f , zehn G e m ä l d e von Corinth und 1 9 von Slevogt. D a r ü b e r hinaus waren jeweils zwei Plastiken von Albiker, Sintenis und Barlach, eine von M i n n e und Scheibe, drei von de Fiori, M a r e k s und L e h m b r u c k sowie vier von G a u l und K o l b e aus dem Vorkriegsbestand erhalten geblieben. , 4 4 Generell ist zu bemerken, dass

1 1 6 - N e u b e g i n n nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

26

U n b e k a n n t e r F o t o g r a l . E r ö f f n u n g des Z e n t r a l m u s e u m s in Schloss Pillnitz, 6. Juli 1 9 4 6

(rechts Ministerialdirektor G u t e , in der Mitte R a g n a Enking), Dresden, Hauptstaatsarchiv

mehr Skulpturen als Gemälde oder Aquarelle von der Beschlagnahmeaktion 1 9 3 7 verschont geblieben waren. Dies hing vermutlich damit zusammen, dass die Bildhauer oftmals der traditionell-figurativen Gestaltung verhaftet geblieben waren und dadurch nicht so häufig als »entartet« deklariert wurden. 545 Schon am 16. April 1946 hatte der leitende Kustos der Gemäldegalerie unter Enking, Robert Oertel, in einem Brief an die Landesregierung Sachsen die systematische Anschaffung von Werken Marcs, Modersohn-Beckers, Rohlfs', Noldes, Beckmanns und Kokoschkas gefordert. 546 Oertel war es zudem gelungen, für die erste Neueinrichtung des Zentralmuseums drei Gemälde von Kokoschka als Leihgabe aus der Sammlung Ida Bienert zu erhalten (Abb. 2γ).547 Diese wurden auch in der Neuhängung von Balzer gezeigt. In dem von Balzer konzipierten Rundgang begann die moderne Abteilung mit einigen Arbeiten der Dresdner Schule vom Anfang des 20. Jahrhunderts und setzte sich im folgenden Saal mit Dresdner Malern der Vorkriegszeit fort. Ein weiterer Raum gab einen Überblick über den Expressionismus. Er setzte sich vor allem aus

Die R e n a i s s a n c e des E x p r e s s i o n i s m u s in den M u s e e n der S B Z

27

Oskar

Kokoschka,

STILLEBEN

MIT

PUTTO

UND

KANINCHEN,

1 9 1 3 - 1 9 1 4 , Ö l auf

117

Leinwand.

90 χ 1 2 0 cm. Zürich, Kunsrhaus

D r u c k g r a f i k e n und A q u a r e l l e n z u s a m m e n , da »die früher in der Galerie vorhandenen Originalgemälde dieses Stiles von den N a z i s beschlagnahmt w o r d e n « w a r e n . ^ Einem H ä n g e p l a n von 1 9 4 6 / 1 9 4 7 zufolge befanden sich dort das Aquarell PAPUA und eine Lithografie von

Nolde,

ERREGTER

FRAUENKOPF

von

Kokoschka,

W E C K G L Ä S E R von S c h m i d t - R o t t l u f f , drei Arbeiten von Barlach, M Ä D C H E N ZWISCHEN BÄUMEN

von M u e l l e r sowie R a d i e r u n g e n von Pechstein und Kretzsch-

mar. S 4 9 Im nächsten Bereich w a r die »abstrakte« M a l e r e i untergebracht, zu deren E r k l ä r u n g in einem Bericht zum Ausstellungsrundgang zu lesen w a r : »Das Interesse der hier gezeigten, z . T . a m »Bauhaus Weimar« tätig gewesenen Künstler gilt vornehmlich der f o r m a l e n , konstruktiven Seite der Kunst, ist also nicht auf die Wiedergabe der N a t u r gerichtet. Vergleichbar den Fingerübungen der Musikstudierenden trugen diese »konstruktivistischen· Experimente reiche Früchte auf dem Gebiet der G e b r a u c h s g r a p h i k , Plakat- und Bühnenmalerei, Buchkunst usw. Bekannteste Vertreter: der schon vor dem ersten Weltkrieg tätige K a n d i n s k y und die Deutschen Schlemmer, Klee und Feininger.«

1 1 8 - N e u b e g i n n nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der Moderne

28

L e o v o n K ö n i g , B I L D N I S KÄTHE ROI LWITZ, 1 9 4 1 , Ö l auf L e i n w a n d ,

88 X 69 cm, Dresden, Staatliche K u n s t s a m m l u n g e n , Galerie N e u e Meister

Der letzte Saal war den »lebenden Malern« vorbehalten. Dort hingen Arbeiten der unter anderem in Dresden tätigen Künstler Dix, Hegenbarth, Lachnit, Winkler, Wilhelm und Kokoschka. 5 5 1 Die moderne Plastik wurde in einem separaten Gang präsentiert, in dem STEHENDER

NEGER

( 1 9 1 2 ) von Kolbe und verschiedene

Portraitbüsten von Gaul zu sehen waren. 5 5 1 Die Präsentation wurde im Februar 1 9 4 7 ein weiteres M a l verändert. Im Pillnitzer Bergpalais sollten von nun an ausschließlich die Gemälde des 1 9 . Jahrhunderts und der Gegenwart gezeigt werden. Die Grafische Sammlung zog ins Albertinum. 5 5 ' Wie aus einem von Balzer verfassten Artikel anlässlich der Eröffnung hervorgeht, zeigte er im Bergpalais die Entwicklung von der Romantik bis zum Dresdner Vor- und Nachimpressionismus. Neu w a r ein Kabinett mit Arbeiten von Käthe Kollwitz, in dem einige ihrer Zeichnungen, ein von Leo von König gemaltes Bildnis der Künstlerin von 1 9 4 1 und einige »verwandte Schöpfungen« hingen (Abb. 28). Ein Saal »außerdeutscher Kunst« leitete zu den Arbeiten von Liebermann, Corinth und Slevogt über. Abschließend präsentierte Balzer in mehreren

Die R e n a i s s a n c e d e s E x p r e s s i o n i s m u s in den M u s e e n der S B Z

Räumen anhand von Beispielen Dresdner Künstlern die verschiedenen Tendenzen der letzten drei Jahrzehnte. Leider habe diese Abteilung, so Balzer, durch die nationalsozialistische Kunstpolitik besonders empfindliche Einbußen erfahren und könne daher erst allmählich wieder ein charaktervolles Gesicht zeigen. 554 Trotzdem erscheint Balzers Fokussierung auf die moderne Kunst sinnvoll, da es durch den Abtransport zahlreicher Werke der Dresdner Sammlungen nahezu unmöglich war, eine qualitätvolle Präsentation älterer Kunst zu zeigen, geschweige denn die finanziellen Mittel vorhanden waren, neue Arbeiten zu erwerben. Im April 1 9 4 7 zeigte sich die Gemäldegalerie dann in ihrer neuen Form. Z u r gleichen Zeit richtete Balzer in Radebeul eine Zweiggalerie ein, in der Wechselausstellungen, magazinierte Kunstwerke und neue Erwerbungen der Kunstsammlungen der Öffentlichkeit vorgeführt wurden. Temporäre Ausstellungen fanden seit 1 9 4 5 zudem im ehemaligen Kunstgewerbemuseum in der Güntzstraße in Dresden statt. Bereits im Dezember 1 9 4 5 hatte man dort einen Überblick über das grafische Schaffen von Käthe Kollwitz gezeigt. 555 Es folgten unter anderem

DRESDNER

GRAPHIK (März/Juni 1946) mit Arbeiten von Grundig, Hegenbarth, Kesting, Kretzschmar, Rudolph und anderen, die Künstlergruppe DAS UFER (April/Mai 1 9 4 7 ) und im September 1 9 4 7 eine große Präsentation von Gemälden, Aquarellen, Handzeichnungen und Lithografien von Otto Mueller. 5 5 6 Die Neuerwerbungen der Grafischen Sammlung, die seit 1 9 4 7 im Kunstgewerbemuseum untergebracht war, präsentierte Balzer in einer Sonderausstellung im November 1 9 4 7 . In einem Artikel der SÄCHSISCHEN ZEITUNG schrieb er dazu: »Wie bei allen Dresdner Museen, haben die enormen Verluste, die der Hitlerkrieg mit sich gebracht hat, den Rang und Charakter der Sammlung gründlich verändert. [...] Und da hochwertige alte Graphik heute weder häufig vorkommt noch billig zu haben ist, darf mit einer raschen Ergänzung der Lücken und einer planmäßigen Vermehrung dieser Abteilung kaum gerechnet werden. Die Aufgaben der Sammlung sind also anderer Art: lebendige Kunstpflege und, wie schon angedeutet, solide kunsterzieherische Bemühung. Damit stellt sie sich mitten in das Leben der Gegenwart hinein. [...] Nachdem in der Hitlerzeit die betont moderne Produktion jahrelang zurückgedrängt wurde, ist es selbstverständlich, daß ihr heute eine besonders intensive Pflege zuteil wird.«

557

Wie Balzer in seinem Artikel darlegte, konnten für die Grafische Abteilung bis zu diesem Zeitpunkt Z50 Druckgrafiken, Zeichnungen und Aquarelle erworben werden. 5 5 8 Auch wenn an die von Oertel geforderte »systematische Erwerbung« moderner Kunst nicht zu denken war, kamen also einige Arbeiten der ehemals ver-

119

1 2 0 - N e u b e g i n n nach dem Zweiten Wellkrieg: Die Rehabilitierung der Moderne

femten Künstler in die Dresdner Sammlungen. Schon 1 9 4 5 erstand das Kupferstichkabinett drei Aquarelle v o n Schmidt-Rottluff. A u s Mitteln der Kulturstiftung des Landes Sachsen folgten f ü r die Kunstsammlungen 1 9 4 6 eine Plastik v o n K a r l Albiker, drei Grafiken von Lea Grundig, ein Aquarell v o n Fritz Winter und das Gemälde BILDNIS LEA GRUNDIG ( 1 9 4 6 ) von H a n s Grundig, die alle v o n der ALLGEMEINEN

DEUTSCHEN

KUNSTAUSSTELLUNG

s t a m m t e n . 5 5 ' Im gleichen

J a h r k a u f t e Balzer weitere Arbeiten der BRÜCKE-Künstler sowie von D i x , K o l b e , K o k o s c h k a , v o n K ö n i g , Hofer, R o h l f s , Schwimmer und den in Dresden ansässigen M a l e r n Bernhard Kretzschmar, Paul Wilhelm, H e r m a n n Glöckner, Josef Hegenbarth, H a n s G r u n d i g und T h e o d o r Rosenhauer. 5 6 0 1 9 4 6 hatte M a s c h k a Mueller, die Ehefrau v o n Otto Mueller, den Kunstsammlungen zudem drei Werke ihres M a n n e s als Leihgabe zur Verfügung gestellt. 5 6 1 A u c h die Familie Bienert hatte, wie bereits erwähnt, nach dem Krieg einige Werke ihrer privaten Sammlung

der

Gemäldegalerie leihweise überlassen. N e b e n KATZE ( 1 9 1 0 ) und ENGLÄNDERIN ( 1 9 2 4 ) v o n K o k o s c h k a handelte es sich um LANDSCHAFT BEI SONNENUNTERGANG ( 1 9 2 3 / 1 9 2 4 ) , DIE KÜNSTLERIN ( 1 9 2 4 ) , DER HELDENTENOR ALS KONZERTSÄNGER ( 1 9 2 2 ) und STADTPERSPEKTIVE ( 1 9 2 8 ) v o n Klee, die Aquarelle SÜDSEEFRAU ( 1 9 1 4 ) , SÜDSEEINSULANER ( 1 9 1 4 ) und die Lithografie PAAR von N o l d e , GELMERODA i x ( 1 9 2 6 ) und FISCHERFLOTTE Ii. ( 1 9 2 9 ) von Feininger, DÜNN

GEBOGEN

( 1 9 3 0 ) von K a n d i n s k y und FRAU

MIT KIND

(1923)

von

Schlemmer. Diese wurden der Familie Bienert jedoch am 5. M ä r z 1 9 4 8 höchstwahrscheinlich im Z u g e ihres Umzugs nach M ü n c h e n zurückgegeben. 5 6 2 Wie groß der Verlust der Leihgaben aus der Sammlung Bienert war, führte Balzer in einem Brief an die Landesregierung an, um diese v o m A n k a u f von N a y s SCHLOSS AM MEER ( 1 9 3 9 ) zu überzeugen. 5 6 3 Darin hieß es: »Die abstrakte Malerei, durch bedeutende Proben in der Dresdner Sammlung zu repräsentieren ist umso mehr eine A u f g a b e , als die Leihgaben Bienert, die bisher die Kunstrichtung in der Galerie vertraten, v o m Besitzer zurückgezogen w o r d e n sind.« 5 6 4 Bewusst hatte Balzer bei seinen bisherigen Bemühungen um den W i e d e r a u f b a u der Dresdner Kunstsammlungen darauf geachtet, einen umfassenden Überblick über das (Dresdner) Kunstschaffen des ersten Jahrhundertdrittels und der G e g e n w a r t zu geben. Dies w a r ihm nicht zuletzt durch die Integration der hochwertigen Leihgaben aus der Sammlung Bienert gelungen. Wie Balzer selbst in einem Brief schrieb, gehörte es zu den wichtigsten A u f g a b e n seiner Tätigkeit, »die Lücke, die die f a m o s e Kunstpolitik der Nazis gerissen hat, nach und nach wieder auszufüllen«. 5 6 5 Ein ähnliches Vorgehen wie in Dresden lässt sich am Angermuseum in E r f u r t feststellen, w o Herbert Kunze 1 9 4 5 an seinen alten Arbeitsplatz zurückkehrte. M a g d a l e n a R u d o l p h hatte die Geschäfte des M u s e u m s w ä h r e n d der Kriegszeit kommissarisch geführt. Beide widmeten sich nach Kriegsende sofort dem Wieder-

Die Renaissance des Expressionismus in den Museen dei SBZ _ 1 2 1

aufbau des teilzerstörten Museums und der Rückführung der ausgelagerten Bestände. Das Anknüpfen an die Tradition und die Sammlungsschwerpunkte des Hauses - mittelalterliche und moderne Kunst - standen dabei im Vordergrund. Doch insbesondere der Kunst der Gegenwart sprach Kunze die Kraft zu, fördernd und befruchtend auf das Erfurter Kulturleben einzuwirken. 566 Kunzes Interesse an der zeitgenössischen Kunst äußerte sich bereits in seinem ersten Ausstellungsprojekt, das unter dem Titel 5 0 0 JÄHRE KULTUR IN ERFURT im November 1 9 4 5 eröffnete. Kunze schlug darin den Bogen bis zur Gegenwart. In einem R a u m zeigte er Kollwitz' Radierungen des Weberaufstandes ( 1 8 9 5 - 1 8 9 8 ) , weitere Lithografien der Künstlerin und Holzschnitte von Barlach. Ein zweiter Saal w a r der »Verfolgten Kunst« gewidmet. Er setzte sich komplett aus Leihgaben Erfurter Bürger zusammen. Leider geht aus dem erhaltenen Ausstellungsbericht nicht hervor, um welche Künstler es sich handelte. In den abschließenden Räumen zeigte Kunze die aktuelle Erfurter Kunstproduktion. 5 6 7 Trotz seiner Bemühungen w a r es Kunze nur unzureichend gelungen einen Einblick in das Kunstschaffen der ersten Jahrhunderthälfte zu vermitteln, zu groß waren die Verluste, die das Museum hatte hinnehmen müssen. Auf diese Problematik verwies auch ein Artikel in der THÜRINGISCHEN

VOLKSZEITUNG:

»Von der gegenwartsnahen Kunst läßt sich nur ein unvollständiges Bild entwerfen, denn allein über 600 wertvolle Gemälde, Plastiken usf. fielen dem nationalsozialistischen Reinemachen, dessen wirklichen Wert mit Recht als Finanzbeschaffungszweck zu bezeichnen ist, unter >entartet< zum Opfer, dennoch künden die ausgestellten Skizzen, Entwürfe, wie insbesondere die wenigen fertigten Werke, die gerettet werden konnten, davon, daß fruchtbar auch zu diesem Zeitpunkt geschaffen wurde. Heckel, Mareks, Knöpfer, Durand, Nolde, Lenk, Göhring, Saal, Sandrock dürfen für sich diesen Verdienst in Anspruch nehmen, zeitnah in ihrem Schaffen zu sein.« 5 6 8 Knapp ein Jahr später, im Dezember 1 9 4 6 , eröffnete Kunze die Gemäldegalerie in der ersten Etage des Angermuseums. Im Juni 1 9 4 7 folgte die Einweihung der Abteilung mittelalterlicher Kunst im Erdgeschoss. 5 6 ' Die Räume im ersten Obergeschoss zeigten eine Auswahl an Gemälden und Plastiken vom 1 8 . bis zum 20. Jahrhundert sowie einige Stücke aus den grafischen und kunsthandwerklichen Beständen. Innerhalb der Gemäldegalerie richtete Kunze einen separaten Raum mit zwölf Aquarellen von Karl Schmidt-Rottluff ein, die ihm vom Künstler leihweise zur Verfügung gestellt worden waren. Auch in anderen Fällen griff er bei der Präsentation der Kunst des 20. Jahrhunderts auf private Leihgaben zurück. Laut einer Rezension hingen in der ständigen Sammlung nur ein Gemälde von Lyonel Feininger

1 2 2 - N e u b e g i n n nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

und Franz Lenk aus dem Altbestand. 5 7 ° Neben diesen beiden Bildern waren von der nationalsozialistischen Beschlagnahme 1 9 3 7 nur fünf Plastiken von Gerhard Mareks, vier Porzellanfiguren von Ernst Barlach, einige Kleinplastiken von Renée Sintenis und Zeichnungen von Ludwig von H o f f m a n n verschont geblieben. 5 7 1 Über das Ausmaß der Beschlagnahmungen klärte ein Artikel der ABENDPOST vom M a i 1 9 4 7 den Leser auf: »Warum sieht man nicht mehr Emil Noldes dunkelglühendes Begonienstück oder seinen wuchtigen Russenkopf? Warum nicht Otto Müllers gobelinzarte> Landschaft mit Frauen< oder des greisen Christian Rohlfs zauberhafte Aquarelle? Wo ist Wilhelm Lehmbrucks innige Gruppe >Mutter und Kind< geblieben, w o Erich Heckeis liebenswerte Rhönlandschaft und Pechsteins dekoratives Stilleben? Warum werden Ernst Ludwig Kirchners kraftvolle Holzschnitte nicht gezeigt, warum nicht Charles Crodels heitere Aquarelle und Schmidt-Rottluffs vitale Malereien? So oder so ähnlich mag wohl schon mancher Besucher der Gemäldegalerie des Erfurter Angermuseums gefragt haben, ohne eine rechte Antwort zu finden. Die Zeit, da jene Künstler geächtet und ihre Werke als >entartet< aus den Ausstellungen und Sammlungen verbannt waren, ist jedoch vorüber, und Erfurts Galerie zeigt auch wieder Beispiele expressionistischer Kunst. Aber warum werden uns jene und noch manche andere Stücke vorenthalten, die einst die moderne Abteilung zierten und willkommene Gelegenheit boten, die künstlerischen Entwicklungstendenzen im ersten Drittel unseres Jahrhunderts in charakteristischer Ueberschau kennen zu lernen? [...] Rund 600 Nummern nämlich umfaßte das Verzeichnis der damals entführten Kunstwerke [...]. Einige wenige Stücke kamen nach geraumer Zeit als ungefährlich zurück, so die reizvollen kleinen Tierplastiken der Renée Sintenis und Zeichnungen Ludwig von Hofmanns. Die anderen aber? Sie wurden gegen Devisen verkauft. [...] Diese blamable Verfemung vom J a h r 1 9 3 7 erklärt die Lücken, die der Kunstfreund in der modernen Abteilung der Erfurter Galerie schmerzlich empfindet. Sie zu schließen, wird nicht leicht sein.«

572

Trotz der gegebenen Schwierigkeiten unternahm Kunze den Versuch, die in der ABENDPOST

beklagten Lücken mit Ankäufen oder Leihgaben zumindest in

Ansätzen zu schließen. Kunze selbst stellte dem Museum 1 9 4 6 eine Grafik von Rohlfs und Barlach sowie ein Aquarell von Schmidt-Rottluff aus seiner privaten Kollektion leihweise zur Verfügung. 5 7 3 Bei seinen Erwerbungen zwischen 1 9 4 5 und 1 9 4 7 gelang es ihm vor allem Grafiken von Feininger, Mareks, Kolbe, Scheibe, Hofer, Schmidt-Rottluff, Barlach, Kollwitz, Heckel, Baumeister und Felixmüller zu bekommen. Von Rohlfs erstand er ein Gemälde und fünf Aquarelle, darunter zwei

Die R e n a i s s a n c e d e s E x p r e s s i o n i s m u s in den M u s e e n d e r S B 2 . 1 2 3

29

C h r i s t i a n R o h l f s , DOM UND SHVKRI KIRCHI: HRFURT, I

der DOM UND S E V E R I - G R U P P E ( 1 9 2 4 ) sowie drei Aquarelle von Heckel, darun2.Ç)).574

ter B A D E N D E (Abb.

A n k ä u f e und Ausstellungen moderner K u n s t wie in Dresden und E r f u r t konnten die K u n s t s a m m l u n g e n in Weimar in diesen J a h r e n nicht verbuchen. Z w a r versuchte Walter Scheidig, der 1 9 4 0 offiziell die Direktion der Weimarer Museen übern o m m e n hatte und nach dem Krieg - als politisch unbelastet eingestuft - weiter im A m t blieb, die Weimarer Tradition in Bezug auf die M o d e r n e zu reaktivieren, jedoch nur mit mäßigem E r f o l g . Die zeitgenössische Abteilung der K u n s t s a m m lungen w a r ebenso wie in den anderen M u s e e n , nahezu vollständig zerstört w o r den. Von der Aktion »Entartete Kunst« verschont geblieben w a r einzig eine größere Anzahl Werkstattarbeiten des Weimarer Bauhauses, v o r allem aus der Weberei, der M e t a l l w e r k s t a t t sowie der Keramischen- und M ö b e l w e r k s t a t t . 5 die G r a f i k - M a p p e n

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G e n a u s o hatten

(1913/1914)

und

GEFES-

( 1 9 1 3 / 1 9 1 4 ) v o n O s k a r K o k o s c h k a die B e s c h l a g n a h m e

1937

ü b e r s t a n d e n . R ü c k k ä u f e oder A n k ä u f e von Arbeiten vormals »entarteter« Künstler wurden nach Γ945 k a u m getätigt. 5 " 7 Allerdings machte Scheidig in den ersten Nachkriegsjahren zumindest einige Versuche, Künstler der Vorkriegszeit t e m p o r ä r

124 _ Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

in Weimar zu präsentieren. Dies gelang ihm jedoch nur vereinzelt. So kam, wie Scheidig Paul Ortwin Rave in einem Brief vom 2.3. Oktober 1945 schilderte, eine von ihm im September 1945 geplante Kollwitz-Schau aufgrund mangelnder Kontakte nicht zustande. 578 Auch die Übernahme der Chemnitzer Schmidt-Rottluff Ausstellung wurde nicht in die Tat umgesetzt. 57 ' Realisieren konnte Scheidig neben der Präsentation von thüringischen Künstlern 1946 die Schau DAS KIND, in der unter anderem Grafiken von Munch, Rohlfs, Kollwitz, Mueller und den thüringischen Malern Otto Herbig, Walter Klemm und Albert Schäfer-Ast zu sehen waren. Im Jahr darauf zeigte er Oskar Moll, Otto Mueller und Franz Masereel. sSo Im gleichen Jahr regte der Kulturbund in Weimar an, eine Ausstellung expressionistischer Künstler in die Stadt zu holen, die von August bis September 1947 in Gera zu sehen gewesen war. 581 Die Schau war vom Kulturamt der Stadt Gera organisiert und von dem Bildhauer Wilhelm Wauer kuratiert worden. Sie zeigte 220 Arbeiten unter anderem von Chagall, Dix, Kokoschka, Marc, Feininger, Muche, Schreyer, Kandinsky, Klee, Kubin, Pechstein, Schmidt-Rottluff und Wauer selbst.' 82 In der Presseankündigung wurde die Schau als Chance gepriesen, der Bevölkerung einen wirklichen und gründlichen Überblick über die Ausdrucksformen des Expressionismus zu gewähren. Dies sei insofern sinnvoll, da der »Expressionismus und mit ihm die anderen >Ismen< [...] als Stilrichtung, obwohl der Höhepunkt ihrer Entwicklung bereits seit fünfundzwanzig Jahren überschritten ist, in unsere Tage hinein[ragen], ja sie erleben augenblicklich eine Art Renaissance.« 583 Im Zuge dieser Aktualisierung wiederhole sich der alte Streit des Für und Wider dieser Kunstrichtung. Doch müsse man den Expressionismus, auch wenn man ihn hauptsächlich als künstlerische Ausdrucksform der Vergangenheit interpretiere, zumindest einmal kennen lernen, da er immerhin die jüngste Vergangenheit der Kultur bilde, auf der und aus der die Kunst der eigenen Zeit sich entwickle. 584 Letztlich fand die Präsentation nicht den Weg nach Weimar. Dieser Umstand hing vermutlich nicht zuletzt mit den schwierigen Ausstellungsbedingungen in der Stadt zusammen, die schon andere Projekte verhindert hatten. Das Landesmuseum, in dem während der Amtszeit von Koehler die Malerei und Plastik von i 8 6 0 bis zur Gegenwart untergebracht gewesen war, hatte im Krieg schweren Schaden genommen. Zwar hatte das Schlossmuseum den Krieg nahezu unbeschadet überstanden, wurde jedoch bis zum Frühjahr 1948 zum Großteil für eine Industrieausstellung genutzt, wodurch die den Kunstsammlungen zur Verfügung stehende Präsentationsfläche sehr begrenzt war und Scheidig dort im Frühjahr 1946 nur einen Teil der grafischen Sammlung zeigen konnte. In Chemnitz hatte Friedrich Schreiber-Weigand im Juli 1945 im Zuge der Wiedergutmachung seinen alten Platz eingenommen.585 In seiner Funktion als Direktor der Kunstsammlungen versuchte er, an die von ihm vor dem Krieg begründete mo-

D i e R e n a i s s a n c e d e s E i p r e s s i o n i s m u s in d e n M u s e e n d e r S B Z _ 1 2 5

30

Unbekannter Fotograf.

K a r l S c h m i d t - R o t t l u f f hei s e i n e r A u s s t e l l u n g A Q U A R E L L E

AUS

DF.N J Ä H R E N

im S c h l o s s b e r g m u s e u m , C h e m n i t z , Städtische

1943-1946

Kunstsammlungen

derne Abteilung des M u s e u m s a n z u k n ü p f e n . Z u G u t e k a m ihm, dass Karl SchmidtR o t t l u f f , der die Kriegszeit in der N ä h e von Chemnitz verbracht hatte, auch nach der Kapitulation zunächst dort verblieb und sich im wiederauflebenden Kulturleben der Region engagierte. Im Sommer 1 9 4 5 übernahm der M a l e r die Leitung des Chemnitzer Regionalverbandes des Kulturbundes, zu dessen Vorstand auch Schreiber-Weigand gehörte. D a r ü b e r hinaus betätigte sich Schmidt-Rottluff bis zu seinem U m z u g nach Berlin Ende 1 9 4 6 in verschiedenen J u r y s , organisierte gemeinsam mit Schreiber-Weigand eine Ausstellung Chemnitzer Künstler, publizierte in der Tagespresse und w u r d e im Dezember 1 9 4 6 zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. Vor allem als moralische Instanz hatte er einen großen Einfluss auf das Kunstgeschehen. 5 "'' S c h m i d t - R o t t l u f f s Aquarellen aus den J a h r e n 1 9 4 3 - 1 9 4 6 w i d m e t e SchreiberWeigand

auch

die erste große

Einzelpräsentation

des

Chemnitzer

Museums

(Abb.}o).

Sie f a n d in den R ä u m e n des Schlossbergmuseums statt, da das G e b ä u d e

der Städtischen K u n s t s a m m l u n g e n schwer zerbombt w o r d e n w a r und vorerst nicht genutzt werden konnte. Bereits 1 9 4 5 hatte Schreiber-Weigand im

Schlossberg-

museum eine G e d ä c h t n i s s c h a u zu Ehren von K ä t h e K o l l w i t z veranstaltet und dort a b 1 9 4 6 einen Teil der ständigen S a m m l u n g - die sächsische Abteilung 58

Öffentlichkeit zugänglich g e m a c h t . "

der

126 _ Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

Die Schmidt-Rottluff-Schau rief ein großes Echo hervor. Dies war von SchreiberWeigand beabsichtigt gewesen. In einem Brief an den Münchner Kunsthistoriker Ludwig Grote schrieb er: »Glücklicherweise habe ich im Schlossberg-Museum einen Ersatz gefunden und kann wenigstens dort einige Bilder der Sammlung zur Schau stellen und wechselnde Ausstellungen veranstalten. Für diese plane ich nun für Ende Juni eine große Ausstellung der neusten Arbeiten von Schmidt-Rottluff und möchte diese erste Ausstellung so gestalten, daß sie auch eine weitreichende Wirkung ausüben kann.« 5 8 8 Die Ausstellung eröffnete am i . September 1 9 4 6 und zeigte insgesamt fünfzig Aquarelle. In dem für die Zeit aufwendig gestalteten Katalog meldete sich unter anderem Will Grohmann zu Wort, der Schmidt-Rottluff und den Vertretern anderer Tendenzen vom Anfang des 20. Jahrhunderts einen maßgeblichen Beitrag zur Umgestaltung des Weltbildes bescheinigte (Abb. 31).

Da erst jetzt die tragenden

politischen Ideen vom Beginn des Jahrhunderts zum Durchbruch kämen, erhoffte er sich, dass auch die Kunst - nach so viel analytischen Vorbereitungen - in den nächsten Jahren zu einer kraftvollen Synthese komme, an der hoffentlich SchmidtRottluff noch teilhaben werde. 589 Die Resonanz auf Ausstellung und Katalog war in Fachkreisen groß und positiv.

590

Das Interesse der Bevölkerung war dagegen, wie Schreiber-Weigand in einem

Brief anmerkte, lebendig aber geteilt: »Die Kunstanschauung der letzten 1 3 Jahre hat eben doch den Begriff >entartet< so eingehämmert, daß viele sich von ihm noch nicht befreien können und mit Vorurteilen auch die Kunst eines Schmidt-Rottluff betrachten.« 5 9 1 In einem Brief an Karl Kröner, den Mitorganisator der Schau, spricht Schreiber-Weigand von regen Debatten und mancher Kontra-Stellung, die er persönlich nicht verstehen könne. Doch lebe man »nicht mehr in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg und es ist ungemein viel verschüttet worden, was langsam erst wieder ans Tageslicht gebracht werden muß.« 5 9 1 Doch dies war gar nicht so einfach. Von der ehemals recht umfangreichen Chemnitzer Sammlung moderner Kunst waren nur wenige Werke von der nationalsozialistischen »Säuberungsaktion« verschont geblieben. 593 Von Karl SchmidtRottluff waren das Aquarell DER KARPFEN (1929) und einige Grafiken im Altbestand verblieben. s94 Weitere Werke waren die Plastiken DER TÄNZER von K o l b e , DER EINZUG (192.1) von Scheibe, GENEIGTER FRAUENKOPF ( 1 9 1 1 ) von

Lehmbruck und GRABLEGUNG ( 1 9 1 7 ) von Barlach. Neu erworben wurden bis 1 9 5 0 ein Gemälde von M a x Kaus, je eine Plastik von Kolbe und Scheibe, zwei Plastiken von Mareks und eine von Blumenthal. 595

Die Renaissance des Expressionismus in den Museen der SBZ

127

cM^eñ] ¿ihren

1943-Wó

Irin? mCnjemjjît7 idìLo/^bei^ìlu/eifìri /ommerl 31

T i t e l b l a t t d e s A u s s t e l l u n g s k a t a l o g s K A R L S C H M I D T - R O T T L U F F . A Q U A R E L L E AUS DEN J Ä H R E N

1943-1946.

Städtische Kunstsammlungen Chemnitz, Schlossbergmuseum, S o m m e r

Wie a n h a n d der a u f g e f ü h r t e n Beispiele ersichtlich w i r d , ist f ü r das M u s e u m s und Ausstellungswesen in der sowjetischen Besatzungszone generell zu konstatieren, dass dort, entsprechend der allgemeinen kulturpolitischen Situation, in den ersten beiden N a c h k r i e g s j a h r e n die Rehabilitierung der künstlerischen

Moderne

und ihrer Förderer im V o r d e r g r u n d stand. J e d o c h w u r d e n die Unterschiede und kunstideologischen

Differenzen die zwischen

den einzelnen

Sammlungen

und

M u s e u m s d i r e k t o r e n in der Weimarer R e p u b l i k geherrscht hatten, weitgehend eingebüßt. Die K u r a t o r e n w u r d e n zu kühnen Pionieren und Verfechtern der Gegenwartskunst stilisiert, ihre weltanschaulichen Implikationen, ihr ideologisches Bezugssystem, das von der »nationalen Idee« bis zum utopischen reichte, gingen dabei jedoch meist verloren.

Fortschrittsglauben

596

O b w o h l die genannten Beispiele in der Ausstellungspraxis der S B Z Toleranz und kulturpolitische Freiheit demonstrierten, w u r d e n schon zu diesem Z e i t p u n k t wie an T j u l p a n o w s Rede anlässlich des Künstlerkongresses 1 9 4 6 ersichtlich w u r d e Stimmen laut, die gegen den Stilpluralismus und die A n l e h n u n g an die Tradition des E x p r e s s i o n i s m u s vorgingen. Besonders deutlich sieht man dies a m Beispiel des be-

1946

1 2 8 - N e u b e g i n n nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

reits zitierten Referats von Anton Ackermann auf der Ersten Zentralen Kulturtagung der KPD 1946, in dem er im gleichen Atemzug mit der Betonung der unabdingbaren Notwendigkeit einer freiheitlichen Kunstentwicklung bestimmte Richtungen und deren Präsentation in den Museen verurteilte: »Aber es genügt, einmal gewisse Gemäldesammlungen zu besuchen, um die bedauerliche Feststellung treffen zu müssen, daß mitunter Ismen gewählt werden, die schon nach dem ersten Weltkrieg versucht worden sind und heute offensichtlich nichts besseres vorzubringen vermögen als damals. Solche Pseudokunst kann nicht erwarten, daß sie von unserem verarmten Volk eine besondere materielle Förderung erfährt.« 597 Auch wenn Ackermanns Drohung zu diesem Zeitpunkt noch keine Auswirkungen auf Museen und Ausstellungen der SBZ zeigte, war die Richtung der kommenden Kulturpolitik mit seinen Worten klar formuliert und sollte schon bald erste Folgen zeigen.

K U L T U R E L L E R N E U B E G I N N IN B E R L I N U N D A N D E R N A T I O N A L G A L E R I E

Eine kulturpolitische Einflussnahme der S M A D oder SED war an den Berliner Museen und insbesondere an der Nationalgalerie genauso wenig zu spüren wie an den übrigen Museen in der sowjetischen Besatzungszone. Im Vordergrund stand der Wunsch nach einer Wiederaufnahme des Kulturlebens. Ähnlich wie an anderen Orten des sowjetischen und der westlichen Sektoren regte sich in Berlin unmittelbar nach der Befreiung der Stadt durch die sowjetische Armee am z. M a i 1945 und der Kapitulation des NS-Regimes am 8. Mai 1945 das kulturelle Leben. Allerdings kam der Stadt und ihren Institutionen durch die Viermächteverwaltung der Alliierten und ihre herausragende Stellung innerhalb des kulturellen Lebens der Weimarer Republik eine besondere Rolle zu, da sie auch nach 1945 eine außerordentliche Künstlerdichte vorweisen konnte. Bis zur Ankunft der westlichen Alliierten im Juli und August 1945 schufen die S M A D unter dem Berliner Stadtkommandanten Generaloberst Bersarin in Zusammenarbeit mit der »Gruppe Ulbricht« vollendete Tatsachen." 8 M a n setzte einen Magistrat ein, besetzte die Ämter in Stadt- und Bezirksverwaltungen und ließ Parteien und Gewerkschaften zu. 599 Darüber hinaus wurden Zeitungen lizenziert, der Rundfunk wieder in Gang gebracht, die Bespielbarkeit von Theatern überprüft, Kinos mit Filmen versorgt, die Gründung des Kulturbundes vorangetrieben, Volkssportfeste organisiert und der Betrieb von Gaststätten und Vergnügungslokalen er-

Kultureller Neubeginn in Berlin und an der Nationalgalerie



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im Berliner Stadtschloss,

O k t o b e r 1 9 4 6 , Berlin, L a n d e s a r c h i v

l a u b t . 6 0 0 B a l d g a b es in B e r l i n m e h r M ö g l i c h k e i t e n z u r p o l i t i s c h e n u n d k ü n s t l e r i s c h e n A r t i k u l a t i o n als in i r g e n d e i n e m a n d e r e n O r t im besetzten D e u t s c h l a n d . 6 0 1 Die v o n der S M A D g e s c h a f f e n e n Strukturen w u r d e n von den Westmächten n a c h i h r e r A n k u n f t in B e r l i n z u n ä c h s t a k z e p t i e r t . T r o t z d e m z e i c h n e t e n sich s c h o n f r ü h u n t e r s c h i e d l i c h e E n t w i c k l u n g e n in den v i e r S e k t o r e n der S t a d t a b , w a s sich a u c h auf d e m G e b i e t der K u l t u r a b l e s e n lässt. D i e v i e r B e s a t z u n g s m ä c h t e v e r f o l g t e n u n t e r s c h i e d l i c h e Z i e l e in i h r e r K u l t u r p o l i t i k u n d b e t r i e b e n diese m i t e n t s p r e c h e n d u n t e r s c h i e d l i c h e n M e t h o d e n . A l l e r d i n g s m a ß e n ihr alle eine e r h e b l i c h e B e d e u t u n g i n n e r h a l b der » U m e r z i e h u n g « b e i . 6 0 1 E s w a r e n j e d o c h i n s b e s o n d e r e die s o w j e t i s c h e n K u l t u r o f f i z i e r e , die in d e n ersten N a c h k r i e g s w o c h e n die K u l t u r s z e n e B e r l i n s in G a n g b r a c h t e n u n d m a ß g e b l i c h b e s t i m m t e n . I h r e k u l t u r e l l e n A m b i t i o n e n z e i c h n e t e n sich d a b e i a n f a n g s d u r c h L i b e r a l i t ä t u n d P r a g m a t i s m u s u n d eine e n g e Z u s a m m e n a r b e i t mit der k o m m u n i s t i s c h g e p r ä g t e n d e u t s c h e n » I n t e l l i g e n z « a u s . Ü b e r die K o n t a k t a u f n a h m e und die Z u s a m m e n a r b e i t mit den ö r t l i c h e n K u l t u r s c h a f f e n d e n h i n a u s , n a h m e n v o r a l l e m die n a c h u n d n a c h g e g r ü n d e t e n

Kultur-

z e n t r e n der j e w e i l i g e n B e s a t z e r eine b e s o n d e r e S t e l l u n g i n n e r h a l b d e s g e i s t i g e n A u s tausche ein. So e r ö f f n e t e n 1 9 4 6 das US Information Center ( A m e r i k a h a u s ) ,

1947

130 _ Neilbeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

ii

F r i e d r i c h S e i d e n s t i i c k e r . Ausstellung LA SCULPTURE F R A N Ç A I S E DE RODIN À NOS JOURS im Berliner

Z e u g h a u s , 1 9 4 7 , Berlin, Bildarchiv der Staatlichen Museen Stiftung Preußischer Kulturbesitz,

das Haus der Kultur der Sowjetunion, 1 9 4 8 das britische Information Center und 1 9 5 0 das Centre Culturel Français (Maison de France), in denen unter anderem die kulturellen Errungenschaften der jeweiligen Staaten präsentiert wurden. 6 0 3 Aufsehen erregten vor allem die Ausstellungen der französischen Besatzungsmacht. Bereits im Oktober/November 1 9 4 6 zeigte sie im Berliner Schloss MODERNE FRANZÖSISCHE

MALEREI

VOM

ENDE

DES

19. JAHRHUNDERTS

BIS

ZUR

GEGEN-

WART. Z u sehen waren circa 1 3 0 Gemälde angefangen von den französischen Impressionisten bis zu Gauguin, Cézanne, Ernst, Dali, de Chirico, Braque, Gris und Picasso. Ein J a h r später folgte die französische Plastik mit Arbeiten von Rodin bis Brancusi und Zadkine (Abb. 3 2 - 3 3 J . 6 0 4 Neben den von den Besatzungsmächten initiierten Veranstaltungen fanden in nahezu allen Sektoren und Stadtteilen in Zusammenarbeit mit den Stadt- und Bezirksämtern oder der Hauptabteilung Kunst der Magistratsverwaltung

von

Groß-Berlin Ausstellungen statt. 605 Auch der Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands beteiligte sich maßgeblich daran, das kulturelle Leben in Berlin wieder in Gang zu bringen. Die Ausstellungsvielfalt und die Auswahl an anderen kulturellen Aktivitäten im Bereich des Theaters, des Kabaretts, der Musik, des Films und der Literatur waren in Berlin vor allem deshalb möglich, weil viele Künstler, die sich während des Krieges in andere Städte oder ins Ausland zurück-

Kultureller Neubeginn in Berlin und an der Nationalgalerie

34

131

T i t e l b l a t t der i l l u s t r i e r t e n R L V U E mit den M a l e r n Max P e c h s t e i n und Heinz Fuchs, Berlin, 11. Januar

gezogen hatten, wieder in die Stadt zurückkehrten. Von den bildenden Künstlern wohnten beispielsweise Karl Hofer, Karl Schmidt-Rottluff, M a x Pechstein, Theodor Werner, Alexander Camaro, Theo Balden, René Graetz und Herbert Sandberg in Berlin. 606 Vor allem Hofer und Pechstein erreichten eine hohe Popularität und Vorbildfunktion, und dies nicht nur als Maler, sondern gleichsam als Lehrer für die nächste Künstlergeneration (Abb. 34). Im Katalog zur Präsentation von Arbeiten Pechsteins im Admiralspalast an der Friedrichstraße hieß es 1946: »Pechstein ist zurückgekehrt. Noch vor kurzem heimatlos und verfolgt, arbeitet er wieder rastlos in unserem Berlin. Jetzt breitet er vor uns aus, was übrigblieb aus der großen Zerstörung des Krieges. Unbeugsam und unbeeinflußt von der Hitler-Kunst ging er seinen Weg. [...] Das vierzigjährige Werk eines führenden Meisters wird zum Spiegel der Kunstentwicklung der neuesten Zeit und zum Dokument unseres Weges in die Zukunft. Pechstein gehört wieder zu uns.«

194-

132 _ Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

Und dies betraf nicht nur Pechstein. Wie bereits dargestellt, w a r man sich unter den Besatzungsmächten und den deutschen Kunsttheoretikern einig, dass Werke der von den Nationalsozialisten verfemten und diskriminierten Künstler vorrangig gezeigt und wieder bekannt gemacht werden sollten. Allein 1 9 4 5 fanden in Berlin 1 7 öffentliche und sechs private Kunstausstellungen statt. Ein J a h r später waren es bereits 28 beziehungsweise 33. 6 0 8 Die erste größere Präsentation w a r die von Juli bis September 1 9 4 5 von der Kammer der Kunstschaffenden organisierte Gemeinschaftsausstellung, die Arbeiten der BRÜCKE sowie von Ehmsen, Hofer, Beckmann, Neriinger, N a y und anderen enthielt. In ähnlicher Besetzung zeigte die Zentralverwaltung für Volksbildung ein J a h r später von M a i bis Juni 1 9 4 6 , die Χ. DEUTSCHE KUNSTAUSSTELLUNG im Zeughaus unter den Linden. Neben den bereits genannten Künstlern waren Barlach, Kollwitz, Tappert, Hans und Lea Grundig, Sandberg, Sintenis, Lachnit und andere vertreten. Insgesamt handelte es sich um fast 600 Arbeiten von 1 9 4 Künstlern aus ganz Berlin und dem sowjetischen Sektor. 609 Sie w a r die bis dahin größte Ausstellung in Berlin und hatte sich zur Aufgabe gemacht einen Überblick über das gesamte gegenwärtige künstlerische Schaffen zu geben. Aber sie hatte noch eine andere Funktion. Dies geht zumindest aus einem Brief von Carola Gärtner-Scholle vom Referat Bildende Kunst der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung hervor. Darin hieß es: »Wir wollen in erster Linie zeigen durch diese Ausstellung, dass das Kunstleben in unserem Sektor auf Touren kommt, und dass wir keine kleinlichen Zensuren oder Tendenzbestimmungen treffen. So ist es natürlich, dass wir viele Künstler zu Gesicht bringen müssen (Altmeister der modernen Kunst! wenn man so etwas sagen kann), die A U C H nach dem Bombenfall eine rein ästhetische Ausrichtung zur Kunst zeigen. Es wird an uns liegen, sie durch beharrliche unaufdringliche Leitung zur Beschäftigung mit anderer uns näher liegender Thematik zu bringen.« 6 1 0 Auch wenn die Ausstellung offiziell die Vielfalt des künstlerischen Schaffens demonstrieren sollte, wird durch die von Gärtner-Scholle gewählten Worte bereits die gewünschte Ausrichtung in der Kunstpolitik der S B Z in Ansätzen deutlich. Allerdings stand sie mit der von ihr vertretenen Position zu diesem Zeitpunkt noch relativ allein. Gärtner-Scholle wirkte der bündnispolitischen Taktik entgegen und verhindere, so Neriinger in einer Reaktion auf ihre Äußerungen, die Durchsetzung verschiedener kunstpolitischer Angelegenheiten. 6 " Neben diesen größeren, vom Magistrat geförderten Projekten gab es viele kleinere Ausstellungen, in denen die ältere, von den Nationalsozialisten verfemte Künstlergeneration gezeigt wurde, gleichermaßen aber auch die jungen Talente eine

Kultureller N e u b e g i n n in Berlin u n d a n d e r Nationalgalerie

35

U n b e k a n n t e r F o t o g r a t . Z e r s t ö r t e s T r e p p e n h a u s d e r N a t i o n a l g a l e r i e in B e r l i n . Berlin, Z e n t r a l a r c h i v der Staatlichen .Museen Stiftung Preußischer

wie R o s e n , Franz, Bremer oder Schüler, die versuchten dem Berliner Publikum die Werke der M o d e r n e und der westlichen A v a n t g a r d e nahe zu b r i n g e n . ' " 1 Bis auf die Bücherei L o w i n s k y befanden sich alle Galerien - wie schon vor dem Krieg - in den westlichen Bezirken der Stadt, w o d u r c h die Z u g ä n g l i c h k e i t für Personen aus dem Ostsektor jedoch nicht einschränkt w u r d e . Abgesehen von den Aktivitäten im Bereich der bildenden Kunst startete ebenfalls das universitäre Leben bald nach Kriegsende. A m 20. J a n u a r 1 9 4 6 nahm die Lehrbetrieb

a u f . 6 " A u c h am Kunsthistorischen Institut begann man wieder zu arbeiten. Für die Lehre bemühte man sich A n f a n g 1 9 4 6 um den Kunsthistoriker E d w i n R e d s l o b , der letztlich jedoch keine L e h r b e f u g n i s erhielt.'" 4 Erst im S o m m e r 1 9 4 7 verzeichnete das Institut prominenten Z u w a c h s . Der iMarburger Kunsthistoriker R i c h a r d H a m a n n ü b e r n a h m eine Gastprofessur, die er bis 1 9 5 7 beibehalten sollte. 6 1 '' D a r ü b e r hinaus hielten auch einige Direktoren der Berliner M u s e e n „U lfi ab.

1945.

Kulturhesit/

Förderung erfuhren. H e r v o r stachen dabei die neu gegründeten privaten Galerien,

Berliner Universität Unter den Linden im sowjetischen Sektor den

133

Lehrveranstaltungen

154 _ Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

Die meisten Museen waren während der Luftangriffe auf Berlin in den Jahren 1 9 4 3 - 1 9 4 5 stark beschädigt worden (Abb. 35). Glücklicherweise hatten die Museumsangestellten einen Großteil der Kunstwerke ausgelagert. Dies stellte die zuständigen Berliner Direktoren und Mitarbeiter jedoch nun vor das Problem, die Kunstwerke dem Publikum schnell wieder zugänglich zu machen. 617 An eine baldige Wiedereröffnung der Museen war nicht zu denken. Im Vordergrund standen zunächst die Aufnahme der Bestände, die Feststellung der Kriegsschäden, die Organisation der notwendigsten Instand- und Reparaturarbeiten an den Gebäuden und die Rückführung der während des Krieges ausgelagerten Kunstwerke in die wiederhergestellten Museumsräume.

WMM N E U A N F A N G A N D E N ( E H E M A L S ) S T A A T L I C H E N M U S E E N

Für die Leitung der (ehemals) Staatlichen Museen zu Berlin und die Bewältigung der bevorstehenden Aufgaben gewann der Berliner Magistrat im Sommer 1946 Ludwig Justi. Justi gehörte 1945 zu den als politisch unbelastet eingestuften »Kulturund Kunstschaffenden«, die von den Vertretern der Sowjetischen Militäradministration in den ersten Nachkriegsmonaten aufgesucht wurden, um sie für den »antifaschistisch-demokratischen« Neuaufbau zu gewinnen. 618 Im Alter von 69 Jahren übernahm Justi am 2.4. August 1946 sein Amt. 619 Wie viel Energie er seiner neuen Aufgabe entgegen brachte, mag ein Ausspruch des Kunstkritikers Paul Fechter vermitteln, der in seinem Buch AN DER WENDE DER ZEIT (1949), Justis Einsatz für die moderne Kunst vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein ganzes Kapitel widmete. Uber sein Wirken nach 1945 schrieb er: »Bis er dann nach 1945 das nicht eben dankbare Amt eines Generaldirektors der Ehemaligen Staatlichen Sammlungen übernahm. Da erwachte in dem Siebzigjährigen die alte Energie und zäh und behutsam legte er den Grund wenigstens zu den Anfängen einer Sammlung, die einmal etwas wie ein Ersatz für das Verlorene werden kann. Man muß ihn dort in den verwunschenen Gängen und Räumen des Stülerbaus erlebt haben, seine trotz allem unbrechbare Energie, die lebendige Lust am Wiederaufbau, wenn man das Wesensbild des Menschen und Mannes ganz übersehen will.« 6zo Trotz Justis ungebrochenem Enthusiasmus und den konkreten Plänen für den Wiederaufbau der Berliner Museen standen seiner Berufung als Generaldirektor nicht alle positiv gegenüber, wobei es weniger um seine Kompetenz als um sein Alter ging/ 1 1 So schlug Gerhard Strauss von der Zentralverwaltung für Volksbil-

N e u a n f a n g an den ( e h e m a l s ) Staatlichen M ü s s e n _ 155

dung Justi nur für die Leitung der Nationalgalerie vor. Dazu hieß es in einem Besprechungsprotokoll vom 26. Oktober 1 9 4 5 : »Für Herrn Justi schlage ich auf dringenden Wunsch von Herrn Dr. Werner [Oberbürgermeister von Groß-Berlin] den Posten des Direktors der Nationalgalerie vor, den er bislang inne gehabt hat. Ausserdem kann er in gebührender Art und Weise gelegentlich von Ausstellungen bisher verbotener Kunst herausgestellt werden, sodass seiner berechtigten Hoffnung, seine Lebensarbeit dort fortsetzen zu können, w o ihn die N S D A P daran hinderte, in etwa Folge geleistet i s t . « 6 1 1 Statt auf die Einwände von Strauss zu hören, beließ man Paul Ortwin Rave im Amt, der die Geschicke der Nationalgalerie während der gesamten Kriegszeit kommissarisch gelenkt hatte. Das bedeutete jedoch nicht, dass Justi nach seinem Amtsantritt die Nationalgalerie und damit die Förderung der modernen Kunst aus den Augen verlor. Die Staatlichen Museen waren am 1 7 . M a i 1 9 4 5 der Abteilung für Volksbildung beim Magistrat der Stadt Berlin unterstellt worden. Die zuständigen Ämter befürworteten diese Regelung, da so der gesamte Komplex der Museen - der zum Großteil im sowjetischen Sektor Berlins lag - in einer Hand blieb. M i t diesem Schachzug sollte ein Anreiz für alle Besatzungsmächte geschaffen werden, »die von ihnen beschlagnahmten Museumswerte wieder auszuliefern«, was insbesondere für »die Spitzenwerke [gilt], die fast ausnahmslos im Westen Deutschlands liegen«. 623 Die Generaldirektion oblag zu diesem Zeitpunkt noch Otto Kümmel, dem 1 9 3 4 die Gesamtleitung der Häuser übertragen worden war. Er wurde im Juni 1 9 4 5 im Zuge der Entnazifizierung seines Postens enthoben. Bis zur Einstellung von Justi übernahm ab August 1 9 4 5 der langjährige Direktor der Antikensammlung, Carl Weickert, die kommissarische Leitung. 6 1 4 Z u seinem Hauptarbeitsgebiet gehörten zunächst die Aufnahme der Schäden und die Organisation der Rückführung der ausgelagerten Bestände. Diese waren zu Beginn des Jahres 1 9 4 5 zu einem großen Teil in die Bergwerke Grasleben, Kaiserroda und Schönbeck gefahren worden. Weitere Stücke befanden sich in Berlin in der Reichsbank und in den Flaktürmen am Z o o und am Friedrichshain. Mit dem Ende der Kampfhandlungen wurde das in Kaiserroda verwahrte Sammlungsgut der Berliner Museen von den amerikanischen Truppen nach Wiesbaden abtransportiert. 6 1 5 Folgt man den zeitgenössischen Aufzeichnungen von Friedrich Winkler, waren unter den dorthin überführten Bildern rund 4 0 0 »gute« Gemälde der Nationalgalerie - darunter der Kern der Sammlung mit Arbeiten von Friedrich, Böcklin, Leibi, Manet, den Romantikern und Werken des französischen Impressionismus. 6 1 6 Nach Schloss Celle, in den britischen Sektor,

136 _ Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

wurden die in Grasleben und Schönbeck deponierten Kunstwerke gebracht. 627 In der sowjetischen Besatzungszone lagerten aus den Beständen der Nationalgalerie nach Aussage von Winkler rund 700 Gemälde und 400 Skulpturen, alle zweiten Ranges sowie 5.000 Zeichnungen - vornehmlich aus dem 19. Jahrhundert - und der Menzel-Nachlass, der über 5.000 Blätter umfasste. 628 Die Gemälde, die im Flakturm Zoo verbliebenen waren, sowie der »Vorrat« an Handzeichnungen wurden im Sommer 1945 von sowjetischen Truppen zunächst nach Berlin Karlshorst und dann in die Sowjetunion überführt, genauso wie circa 100 Bilder aus dem Flakturm Friedrichshain. 629 Auch die Kunstwerke, die während des Krieges nicht ausgelagert worden waren und sich weiterhin in den Museumsgebäuden befanden, wurden von einer sowjetischen »Expertenkommission« begutachtet. 630 Wie in Dresden, zog die SMAD in Berlin für die geplante Überführung des Museumsgutes ein solches Gremium zur Unterstützung der örtlichen Militärbehörden hinzu. Dass man sich von deutscher Seite über den Abtransport der Werke in die Sowjetunion zu diesem Augenblick nicht bewusst war, verdeutlicht eine Aktennotiz des Leiters der Abteilung Museen und Sammlungen beim Magistrat Hermann Settegast vom Oktober i945: »Da die Museen Vorschläge für Wiedereröffnung oder Zwischenausstellung machen sollen, wäre es natürlich wichtig, die Frage zu klären, ob bei diesen Vorschlägen die von russischer Seite beschlagnahmten Dinge berücksichtigt werden können. Herr Tscherepanow gab darauf eine ausweichende Antwort und meinte, diese Frage müssen von Herrn Oberst Perdite geklärt werden. [...] Als erstes wäre demnach zu klären, ob Karlshorst bereit ist, die beschlagnahmten Dinge zu Ausstellungszwecken zur Verfügung zu stellen [...].« 6 3 1 Die in Karlshorst lagernden Kunstgegenstände sollten den Berliner Museen vorerst nicht zur Verfügung stehen. 632 Erst 1958 kehrten die später in die Sowjetunion überführten Bestände wieder an ihren ursprünglichen Platz auf der Museumsinsel zurück. Natürlich hatte die sowjetische »Trophäenkommission« nicht alle Kunstwerke aus den Berliner Museen sichergestellt. Zurück blieben aus der Sammlung der Nationalgalerie meist zweitrangige Gemälde und Skulpturen des 19. Jahrhunderts.633 Aber auch moderne Kunst war darunter. So fanden sich in den Abstellräumen im Sockeigeschoß der Nationalgalerie unter anderem Kirchners RHEINBRÜCKE IN KÖLN (Abb. 8), das 1 9 3 7 von dem damaligen Volontär Wolfgang Schöne vor der Beschlagnahmekommission versteckt worden war sowie die KNIENDE von Wilhelm Lehmbruck, die jedoch bei einem Luftangriff stark beschädigt worden war. Darüber hinaus hatten vor allem Grafiken das NS-Regime

N e u a n f a n g an d e n ( e h e m a l s ) S t a a t l i c h e n M ü s s e n _ 1 3 7

36

Erich H e c k e t , C A R O L A S T R A S S F .

IN

DRESDEN,

1 9 1 1 , 0 1 auf L e i n w a n d , 69 χ Hi c m . Sraatliche M u s e e n ,

überstanden, da im Kupferstichkabinett nur die Anzahl und nicht Name und Titel der zu beschlagnahmenden Werke registriert worden war, wodurch andere, minderwertigere Arbeiten abtransportiert wurden. Auch an der Nationalgalerie waren einige Gemälde von der Kommission nicht berücksichtigt worden. Den Krieg überdauerten neben dem bereits genannten Bild von Kirchner die Werke HAFEN (1908) von Raoul Dufy, S E L B S T B I L D N I S

( 1 9 1 1 ) von Heckel, RÜDERER

( 1 9 1 9 ) und C A R O L A S T R A S S E

IN

( 1 9 1 3 ) und SCHNEELANDSCHAFT

DRESDEN

( 1 9 1 7 ) von

Pechstein, PARK DILBORN ( 1 9 2 5 ) von Heinrich Nauen, DORFLANDSCHAFT von Rudolf Levy, SCHLEPPDAMPFERHAFEN

( 1 9 3 1 ) von M a x Kaus, IM

ZIRKUS

( 1 9 2 5 ) von Magnus Zeller sowie die Plastik LUDWIG VON HOFFMANN ( 1 9 3 1) von Karl Albiker, eine Mädchenbüste

von Hermann

DIETRICH

( 1 9 2 4 ) v o n E r n e s t o de F i o r i ,

( 1 9 3 1 ) und JACK

DEMPSEY

Blumenthal,

MARLENE GROSSER

W E I B L I C H E R TORSO ( 1 9 1 0 ) von L e h m b r u c k , S T E H E N D E ( 1 9 1 2 ) von Kirchner, STUTE

UND

FOHLEN

(1919)

und

GESCHWISTER

(1928)

von

HOCKENDE ( 1 9 2 5 - 1 9 2 8 ) von Edwin S c h a r f f u n d SELBSTBILDNIS

Emy MIT

Berlin.

Xationalgalerie

Roeder, MASKE

( 1 9 4 4 / 1 9 4 5 ) von Renée Sintenis (Abb. 3 6 - 3 7 Λ Darüber hinaus waren die 1 9 3 2

138 _ Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

37

E m s t L u d w i g K i r c h n e r . STEHENDE, 1 9 1 1 , Holzskulptur, 98 χ 23 χ i 8 cm,

Berlin, Staatliche Museen, Nationalgalerie

angekauften Arbeiten von Carrà, de Chirico, Sironi und Tozzi sowie einige neusachliche Gemälde nicht konfisziert worden. 634 Im Bestand verblieben (1930) von Franz Lenk, Franz Radziwill, Nussbaum, BEI

BELGISCHE

BILDNIS

MIT ZWEI

GROSSEN

LANDSCHAFT

GILBEAUX

(1928) und

UFFING

(Abb. 38).5

HAFEN

MIT

HÄUSERN

AMARYLLIS

(um 1930) von

DAMPFERN

(1928) von Felix

(um 1925) von Rudolf Schlichter,

LANDSCHAFT

(1933) von Georg Schrimpf

RUNDFUNKSENDER

Zusätzlich waren die Werke verschont geblieben, die der National-

galerie 1 9 3 5 von der Dresdner Bank zur Aufbewahrung übergeben worden waren. Da sie nicht im Inventar verzeichnet waren, hatte die Beschlagnahmekommission keine Kenntnis von ihrer Existenz gehabt. 6 ' 6 Bei den Bildern handelte es sich um BLUMENSTÜCK WILHELM

( 1 9 1 1 ) von Dix,

HIRSCH

(1909) und

BEGIERDE PARISER

(um 1925) von Jawlensky, PLATZ

IN

BERLIN

BILDNIS

(1926) von Ko-

koschka - die jedoch beide 1946 von den sowjetischen Besatzungstruppen nach Leningrad abtransportiert wurden LIEBHARTSTAL

(192.4) und

DIE

(1909/1910),

WIEN.

( 1 9 1 8 ) ebenfalls von Kokoschka,

SAND-

- DAME JAGD

MIT

FEDERHUT

Neuanfang an den (ehemals) Staatlichen Müssen .139

Franz Radziwill. HAFEN MIT ZWEI GROSSEN DA.MPFI-.RN, um 1950, ÖL auf Leinwand, - 6 Χ 99,5 cm, Berlin,

38

Staatliche Museen.

GRUBE

(1916)

RUHENDE sowie MIT

von Willy Jaeckel,

( 1 9 1 R) u n d

DAMENBILDNIS GEBRATENEM

STILLEBEN

MIT

( 192.4), B I L D N I S

GEFLÜGEL

RUHENDER WANDERER

DOI'PELBILDNIS

EINES

MANNES

von Carlo

(1917)

von

(1927),

Mense,

Pechstein

STILLEBEN

( 1 9 2 7 ) v o n G e r t H e i n W o l l h e i m u n d die Plastik

( 1 9 T 0 ) v o n B a r l a c h (Abb.

Trotz der zahlreichen

(1926)

BLUMENTOPF

Xationalgalerie

u n d f ü r die S a m m l u n g

i4-ij).h-~ folgenschweren

Beschlagnah-

m u n g e n v o n Γ 9 3 7 w a r e n a l s o n o c h e i n i g e A r b e i t e n m o d e r n e r K u n s t in d e n B e s t ä n d e n d e r N a t i o n a l g a l e r i e e r h a l t e n g e b l i e b e n . D a r ü b e r h i n a u s k o n n t e n in d e n e r s t e n N a c h k r i e g s j a h r e n einige, w e n n auch nur w e n i g e W e r k e zeitgenössischer

Künstler

neu e r w o r b e n w e r d e n . D i e s w a r v o n A n f a n g an ein v o r d r i n g l i c h e s A n l i e g e n

von

L u d w i g Justi - schon aus dem G r u n d , weil der E r w e r b von alter K u n s t für längere Z e i t allein aus

finanziellen

G r ü n d e n nicht möglich erschien.

140-Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der Moderne

» E N T A R T E T E « KUNST AUS D E M ( E H E M A L I G E N ) B E S I T Z DER N A T I O N A L G A L E R I E

Wie bereits beschrieben, hatte nur eine bescheidene Anzahl moderner Kunst die Beschlagnahmungen, die Verkäufe während des Krieges und die Auslagerungen überstanden. Um 1 9 4 6 zeichnete sich die Möglichkeit ab, Werke aus dem ehemaligen Bestand der modernen Sammlung des Kronprinzenpalais zurückzuerhalten. Der Bildhauer Kurt Reutti fand eine größere Anzahl von Kunstwerken der Nationalgalerie und anderen deutschen Museen bei den Kunsthändlern Bernhard A. Böhmer und Ferdinand Möller, die während des Zweiten Weltkrieges für den Verkauf »entarteter« Kunst an ausländische Interessenten zuständig gewesen waren. Reutti entdeckte die Kunstgegenstände im Zuge seiner Tätigkeit für die Zentralstelle zur Erfassung und Pflege von Kunstwerken. Diese w a r im August 1 9 4 5 auf seine Initiative und die von Hermann Settegast und Otto Winzer, dem Leiter des Amtes für Volksbildung beim Magistrat, in Berlin eingerichtet w o r d e n / 3 9 Die Dienststelle kümmerte sich um die Bergung von ungesichertem Kulturgut ohne Besitzer sowie um die Vorbereitung von Ausstellungen und die Künstlerfürsorge. 6 4 0 Leiter des Amtes wurde der Kunsthistoriker Adolf Jannasch. 6 4 1 Bis zur Einrichtung einer Abteilung Kunst im Sommer 1 9 4 6 übte die Zentralstelle damit eine ähnliche Funktion wie die Kammer der Kunstschaffenden aus, die im November 1 9 4 5 aufgelöst w u r d e / 4 2 Im Sommer 1 9 4 6 gliederte man die Zentralstelle in die Abteilung Kunst ein, in der Jannasch zur gleichen Zeit eine Stelle als Hauptreferent antrat und im November die Leitung des Referats Bildende Kunst übernahm. In dieser Funktion w a r er für die Hochschule der Bildenden Künste (HfBK), den organisatorischen A u f b a u der Akademie der Künste und die entsprechenden Kunstinstitute zuständig. Darüber hinaus fielen in seinen Arbeitsbereich die Koordination von Kunstausstellungen und der Ankauf von Werken zeitgenössischer Künstler für eine Galerie des 20. Jahrhunderts. 6 4 3 Letzteres führte ihn im Laufe des Jahres 1 9 4 6 zu einer engen Zusammenarbeit mit Ludwig Justi. Schon in seiner Funktion als Leiter der Zentralstelle zur Erfassung und Pflege von Kunstwerken setzte sich Jannasch sehr für die Förderung Berliner Künstler ein. Wie aus einem Bericht der Behörde vom Februar 1 9 4 6 hervorgeht, plante er beispielsweise die »für den Magistrat der Stadt Berlin zusammengetragenen Kunstgegenstände« um eine kleine Sammlung von Werken in der Stadt lebender Künstler zu erweitern, da er damit den »bedeutenden der besonders verdienten Berliner Künstlern in ihrem Existenzkampf helfen« wollte. 6 4 4 Ebenso gehörte es zu den Aufgaben der Zentralstelle »vorbildliche und repräsentative Kunstausstellungen« zu veranstalten. 645 Diese Idee setzte Jannasch spätestens in seiner Funktion als Hauptreferent beziehungsweise Leiter der Abteilung Bildende Kunst um, indem er sich unter anderem für die 1 9 4 6 und 1 9 4 7 veranstaltete Schau JUNGE GENERATION.

»Entartete« Kunst aus dem (ehemaligen) Besitz der Nationalgalerie _ 141

WERKE

DES

NACHWUCHSES,

DIE

DEZEMBER-AUSSTELLUNG

BERLINER

KÜNSTLER ( 1 9 4 7 ) sowie weitere kleinere Projekte verantwortlich zeigte. 64 ' Während Jannasch sich innerhalb der Zentralstelle vor allem für die Förderung der regionalen Künstler und um Ausstellungsprojekte kümmerte, kam Reutti die Aufgabe zu, herrenlosen Kunstbesitz zu bergen und vor der Zerstörung zu bewahren. Seine Tätigkeit schloss sowohl die Überwachung des Kunsthandels und der dortigen Versteigerungen ein als auch das Wiederaufspüren und die Rückführung von verlagertem Museumsgut und die Sicherstellung restitutionspflichtiger, während des Krieges aus dem Ausland geraubter Kunstgüter. 647 Auch die vormals »entartete« Kunst fiel in sein Ressort. M i t ihr kam er 1 9 4 6 intensiver in Kontakt als in Berlin einige Gemälde von Kirchner, M a r c und anderen Malern auftauchten, die aus der Aktion »Entartete Kunst« stammten. Wo genau er diese Arbeiten aufgestöbert hatte, geht aus Reuttis Bericht leider nicht hervor. Seinen Angaben zu Folge stammten sie ursprünglich aus Mitteldeutschland. 648 Schon zu diesem Zeitpunkt schien Reutti Kenntnis davon besessen zu haben, dass Böhmer und Möller noch in Besitz von Kommissionsware aus der Aktion »Entartete Kunst« waren. Er benachrichtigte die Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung und setzte sich für deren Rückführung an die jeweiligen Museen ein: »Durch Goebbels wurden seinerzeit ca. 40.000 >entartete< Kunstwerke aus den deutschen Museen entfernt. Durch Dr. Hetsch wurden sie zum Teil nach dem Ausland verkauft, zum Teil vernichtet, zum größten Teil aber für ein Butterbrot an den Kunsthandel abgegeben. Eine Rückführung an die Museen ist dringend erforderlich. Infolge der Ungesetzlichkeit der Goebbelschen Beschlagnahme wäre jetzt eine entschädigungslose Beschlagnahme zu vertreten, da die Kunsthändler aber seinerzeit in gutem Glauben und sogar mit einem gewissen Risiko gehandelt haben, müßte man ihnen wohl ihre Selbstkosten (die ja minimal wären) ersetzen. [...] Ein Sonderfall wäre Böhmer. Böhmer scheint ein ausgesprochener Schieber gewesen zu sein, durch dessen Hände nicht nur erhebliche Teile der »entarteten Kunstentartet< beschimpften Werke der Künstler, welche jetzt hoch geschätzt werden und auf den Ausstellungen Ehrenplätze bekommen, wurden von den Nazis auf Grund des von Prof. Rave ausgeführten >Gesetzes< [Einziehungsgesetzt von 1 9 3 8 ] den deutschen Museen gestohlen und im Ausland zur Devisengewinnung verhökert. Mündlich hat Prof. Rave angeführt, daß für Belassung der durch Erwerb der Sammlung Haubrich in das Kölner Museum gelangten Kunstwerke das Verdienst des Sammlers spreche, welcher diese Werke während der Nazi-Zeit gekauft habe. M i r scheint das Verdienst der Museumsdirektoren beachtlicher, welche dieselben Werke nicht heimlich, sondern öffentlich unter erheblichen Schwierigkeiten für Museen kauften, deshalb von Spießern angegriffen und von den Erzspießern, den Nazis, abgesetzt wurden. Das angeführte >Gesetz< widerspricht dem Recht, welches bis auf Hitler gegolten hat, seit es Eigentum gab, also spätestens seit der jüngeren Steinzeit. Es scheint mir geboten, bei der Kontrollkommission dringend zu beantragen, daß dies rechtswidrige Gesetz alsbald mit rückwirkender Kraft aufgehoben und die von den Nazis den deutschen Museen gestohlenen Werke ihnen zurückgegeben werden.« 6 7 0 Justi hatte mit seinen Einwänden keinen Erfolg. Die von ihm beanspruchten Bilder gelangten nicht wieder in das Eigentum der Nationalgalerie, sondern verblieben bei ihren neuen Besitzern in Köln. Dies war rechtlich korrekt. Anders als in der sowjetischen Besatzungszone, erkannten die Besatzungsbehörden im Westen die neuen Besitzverhältnisse an, die im Z u g e der Verkäufe »entarteter« Kunst entstanden waren. Deshalb schien die Entscheidung vom Juli 1 9 4 9 die Kunstwerke aus der Aktion »Entartete Kunst« die noch bei Möller lagerten jetzt doch sicherzustellen mehr Erfolg zu versprechen. Denn diese befanden sich (zumindest glaubte man das)

1 4 6 - N e u b e g i n n nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

noch auf dem Gebiet der SBZ. Dass das Ministerium für Volksbildung die Bilder 1949 doch noch einforderte, ist vermutlich auf Justi zurückzuführen, der anlässlich der Wiedereröffnung der Nationalgalerie einen Antrag auf Rückgabe gestellt hatte. 671 Kurt Reutti schrieb daraufhin Friedrich Schult, dem Nachlassverwalter von Barlach in Güstrow, dem Kulturhistorischen Museum in Rostock und Ferdinand Möller einen Brief, in dem er sie aufforderte, die im Zuge der Aktion »Entartete Kunst« beschlagnahmten Werke aus dem ehemaligen Besitz der Nationalgalerie an die Berliner Museen auszuhändigen. 671 Bereits eine Woche zuvor hatte Reutti, vermutlich in eigener Verantwortung, einen ersten Brief an Möller verfasst, in dem er seinen Besuch in Zermützel ankündigte. Z u den Kunstwerken aus dem ehemaligen Bestand der Nationalgalerie schrieb er: »Unter diesen bei Ihnen gelagerten Beständen befinden sich auch einige Werke der Berliner Museen und zwar Ölbilder, Graphik und Plastiken, die wir nunmehr, wie es in der Anordnung der SMA vorgesehen war, unseren Museen wieder zuführen wollen. Der Unterzeichnete wird sich erlauben, in nächster Zeit bei Ihnen vorzusprechen, um die den Berliner Museen gehörenden Kunstwerke abzuholen. Die Werke bleiben bis zur Klärung aller Fragen im Besitz der Deutschen Verwaltung für Volksbildung und werden den Berliner Museen als Leihgabe übergeben.« 673 Die von Reutti in seinem Brief geforderten Kunstwerke erhielt die Nationalgalerie nicht zurück. Nur Kirchners

ATELIERECKE,

das Möller dem Moritzburg-

museum statt einem der beiden auf der Dresdner Ausstellung 1946 sichergestellten Gemälde leihweise überlassen hatte, kam 1 9 5 3 aus Halle an die Nationalgalerie in Ostberlin zurück. An das Haus zurückgegeben wurden lediglich die Objekte aus dem Nachlass Böhmer aus Güstrow beziehungsweise Rostock, darunter das Relief DIE VERLASSENEN

Bellings

und eine Zeichnung von Barlach, der Frauentorso von Wissel,

K Ö P F IN M E S S I N G

und

DREIKLANG

und Feiningers

TELTOW

11. 6 7 4

Möller befand sich zum Zeitpunkt des Briefes höchstwahrscheinlich schon in Köln. Dies bestätigt ein Brief von Justi an das Hauptamt Wissenschaft und Forschung des Magistrats von Berlin, in dem er schrieb: Der »Kunsthändler Ferdinand Möller ist mit allen Werken der »Entarteten Kunst< aus deutschem Museumsbesitz, die er noch in der Hand hatte, nach Köln geflüchtet.« 675 Im gleichen Brief forderte Justi für die damit verlorenen Kunstwerke eine Entschädigung. Diese könnte, so Justi, darin bestehen, dass von den in Rostock sichergestellten Bildern und Plastiken aus dem Komplex Böhmer eine Auswahl getroffen und der Nationalgalerie als Ersatz zugeführt würde. Eine Liste der in Frage kommenden Bilder legte er gleich bei. 676 Justis Wunsch wurde nicht entsprochen. Die Gemälde blieben in Rostock.

» E n t a r t e t e « Kunst aus dem ( e h e m a l i g e n ) B e s i t z der N a t i o n a l g a l e r i e _ 1 4 7

41

Emil Nolde.

PAPUA-JÜNGI.INGE,

1 9 1 4 , Öl auf L e i n w a n d 7 0 Χ 1 0 3 , 5 cm, Berlin, Staatliche

Museen,

Nationalgalerie

Bereits zwei J a h r e zuvor, im September 1 9 4 7 , hatte Justi einen ersten Versuch gestartet und sein Interesse an den von Reutti geborgenen Objekten bekundet. Solange die Besitzverhältnisse unverändert und ungeklärt seien, wollte er sie als Leihgaben f ü r die N a t i o n a l g a l e r i e nutzen. 6 7 7 Soweit ersichtlich ist, w u r d e schon diesem Anliegen nicht entsprochen. J e d o c h übergab die Z e n t r a l v e r w a l t u n g der N a t i o n a l galerie im gleichen J a h r Büsten und G e m ä l d e aus dem Reichsministerium

des

Inneren, f ü r die man keine V e r w e n d u n g mehr hatte. Darunter b e f a n d sich auch Kirchners Bild BLICK INS TOBEL ( 1 9 1 9 / 1 9 Z 0 ) , das 1 9 3 7 im Kronprinzenpalais beschlagnahmt w o r d e n war. 6 7 8 Reutti w a r also nicht nur bei B ö h m e r und M ö l l e r fündig g e w o r d e n . Er hatte in der Berliner K u n s t h a n d l u n g K a m e n s k y eine große Anzahl an Aquarellen und G r a f i k e n von D i x und anderen Künstlern entdeckt, die dem Galeristen -

nach

A u s k u n f t von Reutti - von der Frau eines hohen Beamten im Propagandaministerium v e r k a u f t w o r d e n w a r e n . A u c h sie stammten vornehmlich aus den früheren Beständen der N a t i o n a l g a l e r i e sowie aus dem M u s e u m in Breslau und anderen Institutionen. In Schloss Friedrichsfelde f a n d er d a r ü b e r hinaus einen W E I B L I C H E N TORSO ( 1 9 1 0 ) von L e h m b r u c k . 6 7 9 Die R ü c k g a b e der a u f g e f u n d e n e n Werke an die

148 _ Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

42

Oskar S c h l e m m e r , WEISSER JÜNGLING, 1 9 3 0 , Öl auf Leinwand,

60 χ 45,5 cm, Berlin, Staatliche Museen, Nationalgalerie

betroffenen Museen erfolgte vorerst nicht. Nur die Nationalgalerie erhielt im Juli 1949 Werke aus ihren ehemaligen Beständen aus dem Böhmer-Nachlass zurück. 680 Gleichzeitig übergab Reutti Justi - in vertraulicher Behandlung - drei Gemälde und 80 Grafiken aus den Museen in Stettin, Breslau und Königsberg, die dort 1 9 3 7 im Zuge der Aktion »Entartete Kunst« beschlagnahmt worden waren. 681 Bei den Gemälden handelte es sich um

TESSINER

LANDSCHAFT

dem ehemaligen Besitz des Museums in Stettin, um

(1925) von Hofer, aus

PAPUA-JÜNGLINGE

(1914)

von Nolde, das sich vor der Aktion »Entartete Kunst« im Museum in Königsberg befunden hatte sowie um Schlemmers

WEISSER

JÜNGLING

(1930) aus dem ehe-

maligen Bestand des Kunstmuseums in Breslau (Abb. 41-42).682 wurden der Nationalgalerie ein

MÄDCHENBILD

Darüber hinaus

von Nay und ein

DAMENBILD-

NIS (1914) von Rösner übergeben sowie drei Zeichnungen von Kubin und die Lithografie

MUTTER

MIT KINDERN

für Bildende Künste), die Bronzen FELTE

von Kollwitz (aufgefunden in der Hochschule

KNABENKOPF

von Kolbe und

DER

VERZWEI-

(1934) von de Fiori (entdeckt in einem Schrottlager der tschechoslowa-

Ludwig Justis Pläne für den Aufbau der Berliner Museen _ 149

kischen

Militärkommission)

DES EHRENMALS

sowie

GROSSER

MÄDCHENAKT,

JÜNGLINGSKOPF

( 1 9 3 1 ) v o n Scheibe, GROSSER LIEGENDER PANTHER v o n G a u l

(aufgefunden im Keller der Reichskanzlei) und PORTRAITBÜSTE MAX LIEBERMANN ( 1 9 2 3 ) von Fritz Huf (ehemals Hamburger Kunsthalle, in Rostock aufgefunden). 683 Bis diese wenigen Objekte sowie der kleine Teil aus dem Böhmer-Nachlass aus dem ehemaligen Bestand der Nationalgalerie ans Haus zurückfanden, musste Justi mit den am Museum verbliebenen Objekten Vorlieb nehmen. Doch diese hatte er gleich bei seinem Amtsantritt mit in seine Pläne für den Wiederaufbau der Berliner Museen eingebunden.

H B

LUDWIG J U S T I S PLÄNE FÜR DEN AUFBAU DER BERLINER M U S E E N

Neben den Problemen mit der Rückführung der verlagerten Bestände und den zerstörten Museumsbauten musste auch der laufende Betrieb der Berliner Museen wieder aufgenommen werden. Schon im Oktober 1 9 4 5 hatte sich die Monatszeitschrift AUFBAU allgemein zur Instandsetzung öffentlicher Sammlungen geäußert und Vorschläge für deren Neustrukturierung eingebracht. Der Autor, Curt Scholl, unterschied dabei drei Museumstypen, denen er jeweils unterschiedliche Aufgaben beimaß. Während er vorschlug in den Lokalmuseen die örtlichen Kunstentwicklungen bis ins Kleinste darzustellen, übertrug er den Provinzial- und Landesmuseen die Verantwortung, »die Kulturentwicklung der Provinz oder des Landes zu erforschen und in ihren beweglichen, monumentalen Hinterlassenschaften sichtbar in geschlossenen Darstellungen vorzuführen.« Ein hauptstädtisches Zentralmuseum sollte dagegen, als »Vergleichs- und Übersichtsstätte über die Gesamtkultur« fungieren, in dem das »>Typische< der Kultur der einzelnen Territorien« visualisiert werden sollte. 684 Generell überantwortete Scholl den Museen eine große Verantwortung gegenüber der Jugend, da dieser in den vorangegangenen zwölf Jahren in der bildenden Kunst all das vorenthalten worden sei, was nicht in der Gunst der Diktatoren stand. Nach ihren »Säuberungen« 1 9 3 7 hätten die Galerien der Jugend nur ein unvollkommenes und damit falsches Bild von der Entfaltung der Malerei und Plastik vermitteln können. Einzelne Entwicklungslinien seien ihr vollkommen unbekannt geblieben. Dies müsse nun anders werden. Die Museen hätten die Aufgabe der Jugend »einen Einblick in das ganze reiche Kunstschaffen unseres Volkes und in das der anderen Kulturvölker« zu gewähren, nur so könnte sie die falschen Thesen in Rosenbergs »Mythusbuch« erkennen! 6 8 5 Scholl plädierte dafür, auf das feine und gesunde Gespür der Jugend zu achten, welches die Älteren nicht beeinflussen sollten. Die Jugend müsse sich selbst ihre Meinung bilden.

1 5 0 - N e u b e g i n n nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

Einen ähnlich freiheitlichen und gleichzeitig kunsterzieherischen Anspruch formulierte Ludwig Justi in seinem Konzept für den Wiederaufbau der Berliner Museen. Dieses brachte er erstmals auf seiner Berufungssitzung am 1 7 . August 1 9 4 6 vor dem Magistrat zur Sprache sowie auf einer Pressekundgebung im Haus des Kulturbundes im Oktober 1 9 4 6 . Seine dort geäußerten Gedanken publizierte er ein halbes Jahr später, im Januar 1 9 4 7 , in der ZEITSCHRIFT FÜR KUNST für eine breitere Leserschaft. 6 8 6 M i t der Fragestellung, welchen Nutzen die Berliner Museen angesichts der »ungeheuren Schwierigkeiten« beim Gesamtaufbau der Stadt für die Gesellschaft haben oder haben könnten, begann Justi seinen Beitrag zunächst mit einem allgemeinen Überblick über die Museen und deren Beziehung zu Kunst, Staat und Gesellschaft. Auf diese Weise, so erhoffte sich Justi, würden die Aufgaben der Museen in der Gegenwart umso klarer hervortreten. Ausgehend von den Gedanken der Volksbildungsbewegung zu Beginn des zo. Jahrhunderts, sah Justi es nach 1 9 4 5 als eine seiner vordringlichsten Aufgabe an, das erhaltene Sammlungsgut einer breiten Bevölkerungsschicht zugänglich zu machen und ihr das künstlerische Schaffen geistig nahe zu bringen. Die Museen sollten nicht nur vom Fachmann benutzt und von den Gebildeten besichtigt werden, vielmehr sollten sie die gesamte Bevölkerung Berlins, insbesondere die Werktätigen, sowohl »innerlich« als auch »äußerlich« für die Kunst begeistern. Dabei erachtete Justi es für falsch auf die Rückgabe der von den Alliierten beschlagnahmten Kunstgegenstände zu warten um alles wieder so aufzustellen wie vorher. Vielmehr begriff er die Situation als Chance um neue Grundsätze für die Gegenwart und Zukunft festzulegen und Maßnahmen für die Popularisierung der Museumsarbeit zu ergreifen. Die traditionellen Aufgaben öffentlicher Sammlungen sollten dabei keineswegs vernachlässigt werden. Der wissenschaftlichen Bearbeitung der Objekte und der Vermehrung des Kunstgutes - vor allem im Bereich der modernen Kunst - maß er eine ebenso große Bedeutung bei. 687 Bei der Vermittlung von Kunst kam es ihm darauf an, die Aufnahmefähigkeit des Publikums bei der Gestaltung der Räumlichkeiten zu berücksichtigen. Seiner Meinung nach durchwanderten die Besucher zu oft nur flüchtig die Säle, nur »hier und da auf etwas blickend«, bis sie völlig erschöpft seien und dadurch Abneigung, ja Widerwillen, gegenüber dem Museumswesen entwickelten. 688 Diesem Phänomen wollte Justi mit der Unterteilung der Bestände in eine Schau- und eine separate Studiensammlung entgegenwirken. Während in den einzelnen Studienbereichen der Forscher, Kenner und speziell Interessierte fündig werden sollte, plante er in einer zentralen Schausammlung alle Hauptwerke der Staatlichen Museen zu vereinigen. Justi schrieb dazu:

»Wer nun die Schausammlung besucht, brauchte nicht von einem zum anderen der Berliner Museumsbauten zu wandern, um je einen oder wenige Räume

L u d w i g J u s t i s Pläne für den A u f b a u der B e r l i n e r M u s e e n _ 151

zu besichtigen: was aus den verschiedenen Abteilungen gewählt ist, könnte in einem Gebäude zusammengestellt werden, etwa im Alten Museum, welches durch seine Lage und edle Bauform gleichsam das Haupt der Berliner Museen ist. Das wäre dann ein Museum, wie es sein sollte, nicht zu umfangreich und infolge der Verschiedenheit des Inhaltes nicht ermüdend oder gar

ab-

schreckend.« 6 8 ' Um den Anreiz eines wiederholten Museumsbesuches zu erhöhen, schlug Justi einen häufigen Wechsel in der Anordnung der Bestände vor. Leihausstellungen von Werken der Gegenwart und Vergangenheit sollten die Sammlungen dabei zusätzlich ergänzen. Darüber hinaus betrachtete er es für das Publikum als besonders fruchtbar Kunstwerken aus verschiedenen Epochen und Ländern, die einem anderen Z w e c k dienten und unterschiedlicher künstlerischer Form und Empfindung waren, zusammen auszustellen. Seiner Meinung nach steigere eine solche Auswahl des Verschiedenartigen die künstlerische Wirkung des Einzelnen und gewähre dem Betrachter gleichzeitig »die beste Möglichkeit zur Schulung im Sehen der Form, und nebenbei lernt er, gerade durch die Kontraste, auch Kunstgeschichte.« Allerdings schloss Justi auch die Akzentuierung einzelner Objekte nicht aus. Neben den durch die Hängung geschaffenen Seh- und Bedeutungszusammenhängen hielt er eine ausreichende Beschriftung nicht nur der einzelnen Kunstwerke sondern auch von ganzen Gruppen oder Räumen für sinnvoll. Diese sollten sowohl in der Ausstellung als ordnender und zusammenfassender »Schmuck« zu sehen sein, als auch, soweit realisierbar, in Form eines Verzeichnisses (Führers) publiziert werden. 6 9 0 Ergänzend plante er öffentliche Führungen und Vorträge. Z u r weiteren Popularisierung der musealen Objekte schlug Justi vor, Kunstwerke aller Art, auch wertvolle, für öffentliche, viel besuchte Räume, wie Kirchen, Theater und Versammlungsräume auszuleihen. Eine ähnliche Strategie verfolgte er mit der Idee, durch kleine Museen und Präsentationen in den Außenbezirken das Kunstgut für das breite Publikum schnell und bequem erreichbar zu machen. In zweimonatigen Sonderschauen, die an verschiedenen Orten Berlins aufgebaut werden sollten, wollte er insbesondere die moderne Kunst zeigen. 6 ' 1 Mit seinen in der ZEITSCHRIFT FÜR KUNST dargelegten Zielen erhoffte sich Justi der Bevölkerung die Kunst, die ihr durch die Einwirkungen des Krieges so lange vorenthalten worden war, wieder ein Stück näher zu bringen. Die Besucher sollten durch das Erlebnis der Betrachtung den künstlerischen Wert der Gegenstände erkennen und sie als Teil ihres »geistigen Daseins« begreifen. 6 ' 1 Die von Justi geäußerten Ambitionen für eine Popularisierung der Museumsarbeit und die Öffnung der Sammlungen für den ungeschulten Besucher wurden wenig später ähnlich auf der Ersten Museumsleitertagung im Oktober 1 9 4 7 in

1 5 2 _ Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der Moderne

Dresden diskutiert. In einigen Punkten standen Justis Auffassungen den auf der Konferenz artikulierten Plänen für eine Neuausrichtung der Museumsarbeit, bei der den Institutionen eine tragende Rolle innerhalb der Volksbildung zugesprochen wurde, gar nicht so fern. Sie deckten sich zum Teil mit den Ansichten über die Museen als Volksbildungsstätten, die zu Beginn des 2.0. Jahrhunderts formuliert worden waren. Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass Justis Vorstellungen den Forderungen der S E D und der Zentralverwaltung nicht so nahe kamen, wie es auf den ersten Blick den Anschein machte. Anders als der Versuch der Partei die »Museen als Mittel der Volksbildung« auch politisch zu instrumentalisieren, verfolgte Justi die Absicht, dem Besucher das Verständnis des Kunstwerkes und dessen geistigen Gehalt über das persönliche Empfinden zu erschließen. Dies war seiner Meinung nach nur über eine intensive Betrachtung der Objekte möglich. Er wollte die Besucher zum »Sehen erziehen« und sie so an ein individuelles, subjektives Bilderleben heranführen. In seinem 1 9 4 7 veröffentlichten Konzept griff Justi auf Vorstellungen über Ausstellungen, Publikationen und museumspädagogische Ansätze zurück, die er schon während seiner Amtszeit im Kaiserreich und in der Weimarer Republik vertreten hatte. An eine Umsetzung der darin formulierten Ziele insbesondere in Bezug auf ein Zentralmuseum in der Mitte Berlins w a r jedoch zunächst nicht zu denken. Justi konnte dem Berliner Publikum im Dezember 1 9 4 6 nur eine erste Ausstellung mit dem verbliebenen Bestand der (ehemals) staatlichen Sammlungen präsentieren, die er jedoch als Wiedereröffnung der Berliner Museen verstanden haben wollte.

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» W I E D E R S E H E N M I T M U S E U M S G U T « : ERSTE A U S S T E L L U N G E N

Die genannte Ausstellung fand ab dem 2 1 . D e z e m b e r 1 9 4 6 unter dem Titel WIEDERSEHEN MIT MUSEUMSGUT im Schlossmuseum statt. Justi zeigte darin einen Teil der verbliebenen Sammlungsbestände sowie Leihgaben, die er für den Erwerb vorsah. Insgesamt präsentierte er 98 Kunstwerke, wobei die vormals »entartete« Kunst einen verhältnismäßig breiten R a u m einnahm. Doch legte Justi es gemäß seiner konzeptionellen Pläne für die Berliner Sammlungen generell darauf an, verschiedene Kunstrichtungen und Gattungen gemeinsam in einer Schau darzubieten/ 9 3 Im Weißen Saal, in den darunter liegenden Räumen und im Treppenhaus des Schlosses führte Justi dem Besucher eine begrenzte Auswahl der vorhandenen Werke vor. Die geringe Anzahl der Objekte sollte den Anreiz und die Möglichkeit erhöhen, jede Arbeit genau und geruhsam zu betrachten. 6 ' 4 In der Betonung des einzelnen Gegenstandes und seiner Anordnung im R a u m , sollte das Werk seine vom Künstler intendierte Wirkung entfalten. Die Vermittlung kunstgeschichtlicher Z u -

»Wiedersehen mil Museumsgut«: Erste Ausstellungen _ 153

sammenhänge war sekundär. Trotzdem hatte Justi die verschiedenen Bereiche und Epochen der Kunst in einzelne Abschnitte unterteilt. Unterstützt wurde diese Inszenierung durch eine besondere Farbgebung der Wände, die Anpassung an die jeweiligen Lichtverhältnisse sowie die Eingliederung der Stücke in das vorhandene, vorgeprägte Milieu der Räumlichkeiten. Folgt man einem Bericht der ZEITSCHRIFT FÜR KUNST begann die Präsentation mit einer monumentalen ägyptischen Sphinxbüste und einem Kabinett ägyptischer Kleinplastiken. Von dort führte der Weg über die europäische Vorgeschichte, zu den sogenannten primitiven Kulturen Afrikas und der Südsee, den Zivilisationen des nahen und fernen Ostens, Babylon, Assur, dem Islam, China, Siam und Java bis hin zur deutschen Kunst des Mittelalters, der Renaissance, des Barocks und der Volkskunst. Der Rundgang endete schließlich mit dem 19. und 20.Jahrhundert und den »Entarteten«.695 Als plastischen Akzent in diesem letzten Raum platzierte Justi den Torso eines Gipsabgusses der KNIENDEN von Lehmbruck. Die Bruchstücke des Originals, die auf einer dahinter liegenden Bank vorgeführt wurden, dokumentierten den »kulturvernichtenden Wahnsinn des Krieges in dem es zugrunde ging« , 6 ' 6 An der gegenüberliegenden Seite reihten sich Arbeiten des 19. und frühen 20.Jahrhunderts. Zu sehen waren Zeichnungen von Horny, Feuerbach, Marées und Thoma sowie einige Gemälde von Liebermann, ein frühes Selbstbildnis von Slevogt und ein Portrait der Bildhauerin Margarethe Moll von Lovis Corinth. An den Wänden links und rechts der KNIENDEN erhielt der Besucher dagegen einen - wenn auch sehr begrenzten - Einblick in die »jüngst vergangene aber noch lebendige Welt der deutschen >ExpressionistenKronprinzen-Palais< einen Brennpunkt des künstlerischen Lebens darstellt [...]« 7 4 1 Justi und Jannasch betonten, dass eine solche Institution zum aktuellen Zeitpunkt die einzige Aufgabe sei, die museal lohnend und von allen Seiten, auch von den vier alliierten Mächten, als besonders vordringlich empfunden würde. Mit einem Museum der Gegenwart erfülle man nicht nur eine erzieherische Aufgabe, indem man der jungen Generation Anregungen und Vorbilder zeige, sondern ermögliche gleichzeitig eine engere Verbindung mit der lebendigen Kunst anderer europäischer Nationen. 7 4 1 Sonderausstellungen sollten weitere Impulse geben. Ebenso Führungen, durch welche die Bevölkerung enger mit der zeitgenössischen Kunst in Berührung kommen sollte. Neben dem erzieherischen Nutzen seien zudem - so Justi und Jannasch - die Ankaufsgelder für Werke älterer Kunst auf Jahre nicht vertretbar. Dagegen hätten viele zeitgenössische Maler ihre Werke geschlossen über den Krieg retten können, wodurch nun die einmalige Gelegenheit bestehe, »Dokumente aus der Zeit der Unterdrückung, aus den Konzentrationslagern und zu den Ereignissen der letzten Jahrzehnte sammeln zu können.« 743 Der Ankaufsetat sollte so bemessen werden, dass er kulturell vertretbar sei und gleichzeitig die Möglichkeit biete, etwa 5 0 - 1 0 0 Werke der neueren Kunst im Laufe des ersten Jahres zu erwerben, um so die Sammlung später als Museum sinnvoll weiterführen zu können. Die von der Leitung des Museums für den Ankauf vorgesehenen Kunstwerke sollten zur Bestätigung einer aus Fachleuten zusammengesetzten Ankaufskommission von sechs bis acht Personen vorgelegt werden. 7 4 4 Geplant war, die neu zu schaffende Galerie des 20. Jahrhunderts dem Hauptamt für Kunst und Freizeitgestaltung beim Magistrat zu unterstellen und vom Amt

Ein neues Kronprinzenpalais: Der Aufbau einer Galerie des 20. Jahrhunderls _ 167

Bildende Kunst verwalten zu lassen. Letzteres war für die Betreuung lebender Künstler zuständig, die durch die neue Institution eine besondere Förderung erfahren sollten. Der Leiter des Amtes für Bildende Kunst - also Adolf Jannasch selbst sollte gleichzeitig die Direktion des Museums der Gegenwart übernehmen. Außerdem sah das Konzept vor, Justi an der künstlerischen Leitung des Hauses zu beteiligen. Dadurch sollte die Möglichkeit geschaffen werden, in Kooperation mit den Museen älterer Kunst neue Anregungen und lebendige Verbindungen zu schaffen. 745 Wie aus einem Brief von Stadtrat Siegfried Nestriepke hervorgeht, hatten Justi und Jannasch in einer Besprechung im Februar 1947 darüber hinaus den Vorschlag eingebracht, parallel zu einem »Haus der lebenden Kunst« auch eine moderne Abteilung in der Nationalgalerie einzurichten. In dieser sollten besonders wertvolle und interessante Stücke aus den Erwerbungen des »Hauses lebender Kunst« präsentiert werden, die gegebenenfalls mit städtischen Mitteln für die Nationalgalerie übernommen werden könnten. 746 Dieser Aspekt wurde in der Begründung nicht explizit erwähnt, mag für Justi aber sicher mit ein Grund gewesen sein, sich so stark für die Galerie des 20. Jahrhunderts zu engagieren. Das von Justi und Jannasch vorgelegte Konzept für die Schaffung einer Galerie des 20. Jahrhunderts hatte Erfolg. Für die Jahre 1946/1947 wurde rückwirkend ein eigener Etattitel in Höhe von 80.000,- R M eingesetzt.747 Im Oktober 1947 verabschiedete der Magistrat von Groß-Berlin mit dem Beschluss Nr. 478 offiziell »die Bildung einer Ankaufskommission, bestehend aus einem Vorsitzenden und zwölf Mitgliedern, zur gutachterlichen Stellungnahme für den Ankauf von Kunstgegenständen.« 748 Inoffiziell war diese schon früher tätig geworden. 749 Seit April 1947 gehörten ihr, neben dem Leiter der Hauptabteilung (HA) Kunst Alfred Werner, Mitgliedern der Stadtverordnetenversammlung, Jannasch und Justi auch der Maler Karl Hofer an. 750 Im Juli des gleichen Jahres wurden auf Wunsch des Schutzverbandes Bildender Künstler zusätzlich Karl Schmidt-Rottluff und Gustav Seitz hinzu gewählt. 751 Im April 1947 trat die Ankaufskommission - noch ohne SchmidtRottluff und Seitz - zum ersten Mal zusammen. Wie aus dem Sitzungsprotokoll hervorgeht, erachtete es die Kommission als vordringlich, Werke »lebender Künstler und der jetzigen Generation« zu erwerben. Die Ergänzung der klassischen expressionistischen Malerei könnte einer späteren Zeit vorbehalten bleiben. 751 Ganz im Sinne dieser Zielsetzung beschloss das Gremium auf der genannten Sitzung den Ankauf von einigen Gemälden, die auf der vom Amt für Bildende Kunst ausgerichteten Schau JUNGE GENERATION zu sehen waren. Sie erstanden das Gemälde TIERLANDSCHAFT (1946) von Heinz Trökes, URWALD-SCENE (um 1946) von Alfred Schmielewski und die Skulptur LIEGENDE (1946) von Bernhard Heiliger (Abb. 48). Zudem schaute sich die Kommission in einigen Berliner Ateliers um, woraus unter anderem der Kauf einer Holzplastik (PAAR) von Luise Stomps, der

168 _ Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

48

H e i n z T r ö k e s . T I E R L A N D S C H A F T , 1 9 4 6 , Ö l auf L e i n w a n d , 44 χ 55 cm, Berlin, Staatliche M u s e e n ,

Nationalgalerie

Gemälde BERGWERKARBEITER ( 1 9 3 8 - 1 9 4 3 ) von Fritz Duda und STADTRAND VON BERLIN (um 1 9 3 0 ) von Werner Heidt resultierten. 753 Generell waren die Berliner Galerien wie Franz, Nierendorf oder Rosen und die Künstlerateliers, Privatsammlungen und Kunstausstellungen erste Anlaufpunkte für potenzielle Ankäufe. 7 5 4 Im August 1 9 4 7 schlug Jannasch Kranendieck aus der Abteilung für Volksbildung, eine weitere Vergrößerung der Ankaufskommission vor. Er bat HansJoachim Kürschner, den Leiter des H A Wissenschaft, hinzu, um so die Zusammenarbeit zwischen dem H A Kunst und dem Wissenschaftsamt zu vertiefen. Auf diese Weise könnte die Kommission - so Jannasch - Entscheidungen über Ankäufe aus beiden Etats treffen, also sowohl über Anschaffungen älterer moderner Kunst aus dem Fonds der Abteilung Museen und Sammlungen als auch über die Arbeiten lebender Künstler aus dem Etat des H A Kunst. 7 5 5 Mit dem Vorschlag einer engeren Zusammenarbeit zwischen der Museumsverwaltung und des H A Kunst und dem gleichzeitig intendierten Zusammenschluss von Fachkräften verfolgte Jannasch ein ganz konkretes Ziel. Wie er in seinem Brief ausführte, könnte eine Verschränkung der beiden Hauptämter so aussehen, dass bei der Gründung eines Museums der Gegenwart unter der Direktion von Justi, der Leiter des Amtes für Bildende Kunst -

Ein neues Kronprinzenpalais: Der Aufbau einer Galerie des 20. Jahrhunderts _ 169

also Jannasch selbst - als stellvertretender Direktor eingesetzt würde. Diese Konstellation hätte den Vorteil, dass die Ankäufe von zwei Persönlichkeiten planvoll unter Berücksichtigung sowohl der musealen Aspekte des HA Wissenschaft als auch der kunstpflegerischen Aufgaben des HA Kunst vorbereitet und der Kommission vorgelegt werden könnten. Natürlich dürfe jedes Mitglied des Gremiums weiterhin Anregungen und Vorschläge einbringen. 756 In der Magistratssitzung vom 23. November 1947 wurde die neue Zusammensetzung der Kommission bestätigt.757 Zudem bewilligte der Magistrat einen Ankaufsetat in Höhe von 50.000,- R M , der vom HA Wissenschaft und Forschung verwaltet wurde und nur unter Berücksichtigung des musealen Standpunktes zum Erwerb von Kunstwerken für die Berliner Museen zur Verfügung stand. 758 Diese Entwicklung bedeutete für die (ehemals) Staatlichen Museen und insbesondere für die Nationalgalerie, dass sie an diesem Etat partizipieren und Vorschläge für Ankäufe einreichen durften. 759 Eine zweite Summe in Höhe von 80.000,- R M wurde vom HA Kunst verwaltet und sollte für Ankäufe genutzt werden, die der Förderung Berliner Künstler diente sowie der Ausschmückung öffentlicher Gebäude, der Darstellung wichtiger Berliner Ereignisse und ähnlicher Projekte, die bei der Kunstpflege von Groß-Berlin eine Rolle spielten.760 Nur einen Monat später, am 22. Dezember 1947, stellte Jannasch einen Antrag zur Erhöhung dieses Budgets auf 2 0 0 . 0 0 0 , - R M . Diesem wurde am 16. Januar 1948 entsprochen. 761 Darüber hinaus bewilligte der Magistrat aus dem Finanzressort des Amtes Museen und Sammlungen 170.000,- R M für Neuankäufe der Museen. 761 Als Begründung für die Etaterhöhung gab Jannasch in einem Brief vom 23.Januar 1948 an die Kämmerei an, »dass zum Ausbau der geplanten Galerie des 2.0. Jahrhunderts gerade jetzt besonders günstige Gelegenheit in der Erwerbung bedeutender und wertvoller Gemälde und Skulpturen besteht, und dass es deshalb als unsere Pflicht erscheint, gerade auf dem Gebiet der Pflege der modernen Kunst für den Magistrat wichtige Ankäufe vorzunehmen.« 763 Wie aus den erhaltenen Sitzungsprotokollen und Briefen der Ankaufskommission hervorgeht, erwarb das Gremium 1947 für die Sammlung der Galerie des 20. Jahrhunderts unter anderem die Bronzeskulptur EVA (1947) von Gustav Seitz, Schmidt-Rottluffs HAUS UNTER BÄUMEN ( 1 9 1 0 ) , e i n e F R Ü H L I N G S L A N D S C H A F T

( 1 8 9 5 - 1 8 9 7 ) und CANNA INDICA (1937) von Rohlfs, Zeichnungen von Walter Neu und Fritz Koch, ein Gemälde von Franz Türcke, das Gemälde BILDNIS WILLY JAECKEL ( 1 9 3 1 ) von Ernst Fritsch, NACHMITTAG DER KINDER (1947) von Paul Strecker und KAHNFAHRT (1947) von Robert Huth (Abb. 49Λ 764 Anhand der genannten Erwerbungen wird ersichtlich, dass die Kommission den anfangs geäußerten Anspruch sich vor allem auf die jüngste Künstlergeneration zu konzentrieren nicht hatte einhalten können oder wollen. Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass die endgültigen Entscheidungen über die zu tätigenden Ankäufe hauptsächlich

170 _ N e u b e g i n n nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Rehabilitierung der M o d e r n e

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Karl Schmidt-Rottluff, HAUS UNTER B Ä U M E N , 1 9 1 0 , Ö l auf L e i n w a n d , 84 χ 7 7 cm,

Berlin, Staatliche M u s e e n , Nationalgalerie

von Justi und Jannasch getroffen wurden. Diese hatten sich von Anfang an gegen eine Schwerpunktsetzung auf das jüngste, lokale Kunstschaffen ausgesprochen. 765 Aus der von Justi und Jannasch beim Magistrat vorgelegten Begründung für die Galerie des 20. Jahrhunderts wird ersichtlich, dass von ihrer Seite von Anfang an die Etablierung einer überregional orientierten Kunstsammlung verfolgt wurde. Die in der Denkschrift formulierten Ansprüche erinnern dabei an die von Justi dargelegten Aufgaben des Kronprinzenpalais in den zwanziger Jahren. Ähnlich wie damals verfolgte er nach 1 9 4 5 die Absicht, den Akzent auf eine begrenzte Anzahl bedeutender Künstlerpersönlichkeiten zu legen. Obwohl die Institution mit städtischen Mitteln finanziert wurde, sollte sich die Sammlungsstruktur keineswegs auf die städtische beziehungsweise regionale Kunstlandschaft beschränken, sondern ähnlich wie das Kronprinzenpalais vor der Machtübernahme als eine wegweisende, nationale Kunstgalerie fungieren, in der die besten Werke der jeweiligen Epoche zu sehen sein sollten. Eine dahingehende Entwicklung der Sammlung w a r von Anfang an vorgesehen.

Fazit _ 171

mm

FAZIT

Die von Ludwig Justi und Adolf Jannasch verfolgten Pläne für den A u f b a u einer Galerie moderner Kunst, deckten sich mit den gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Zielen der ersten beiden Nachkriegsjahre in der S B Z . In nahezu allen Bereichen unternahm die deutsche Bevölkerung den Versuch, an die Errungenschaften der Weimarer Republik anzuknüpfen, um so einen bewussten Bruch mit der restriktiven NS-Kulturpolitik zu vollziehen. Diese Ambitionen wurden von der Sowjetischen Militäradministration im Sinne der von ihnen betriebenen Bündnispolitik bewusst gefördert. Dass in diesem Prozess insbesondere der Expressionismus eine herausragende Würdigung erfuhr, hing zunächst mit seiner bereits dargelegten Interpretation als deutsche Kunst und seiner nicht zuletzt daraus resultierenden Stellung während der Weimarer Republik zusammen. Es w a r jedoch vor allem seine Verurteilung als »entartet«, die seiner Rehabilitierung nach 1 9 4 5 den Weg bereitete und ihm erneut Aktualität verlieh. Der Expressionismus wurde zum Symbol der politischen Neuorientierung und für die Manifestation eines gesellschaftlichen Wertewandels genutzt. M i t dieser Gleichsetzung von künstlerischer und politischer Freiheit erhielt er damit erneut eine politische Konnotation. Die Protagonisten des Expressionismus wurden zu Vorbildern erhoben, an deren künstlerische Errungenschaften es anzuknüpfen galt. Es waren vor allem Namen wie Pechstein, Schmidt-Rottluff, Heckel, Mueller und die seit den zwanziger Jahren aktiven Maler Hofer, Ehmsen, Grundig, Nagel sowie die bereits verstorbenen Künstler Barlach und Kollwitz, die der Bevölkerung nach 1 9 4 5 in Ausstellungen, im Lehrbetrieb oder in den Kulturorganisationen begegneten. Das eindrücklichste und bekannteste Beispiel dieser Würdigung der vormals »entarteten« K u n s t w a r 1 9 4 6 die A L L G E M E I N E D E U T S C H E K U N S T A U S S T E L L U N G in D r e s d e n .

Allerdings machten sich bereits im Verlauf der Schau erste Anzeichen einer Veränderung der von Seiten der S M A D und S E D propagierten Kulturpolitik und der Rezeption des Expressionismus als kulturelles Erbe bemerkbar. Trotzdem standen die Rehabilitierung der »entarteten« Kunst und deren Förderer in dieser Zeit eindeutig im Vordergrund. Diese Tendenz wird durch die zahlreichen Ausstellungsprojekte und Aktivitäten einiger Museen der sowjetischen Besatzungszone belegt. Es stachen vor allem die Institutionen hervor, die ihre Sammlungen bereits während der Weimarer Republik für die zeitgenössische Kunst geöffnet hatten. Eindrücklich zeigt sich dies neben Berlin in Chemnitz, Dresden, Erfurt und Halle. Kontinuitäten in der Sammlungspolitik erwuchsen schon aus dem einfachen Grund, dass einige der 1 9 3 3 entlassenen Museumsfachleute wieder an ihren alten oder vergleichbaren Wirkungsstätten eingesetzt wurden. Die Direktoren griffen auf künstlerische Tendenzen zurück, die sie bereits in den zwanziger Jahre gefördert hatten, und ver-

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suchten, die 1 9 3 7 geschlagenen Lücken in den Beständen zumindest in Ansätzen wieder zu schließen, um so einen Anschluss an das zeitgenössische Kunstschaffen herzustellen. Dies erschien auch Justi der sinnvollste Anknüpfungspunkt. Der von ihm und Jannasch seit 1 9 4 6 verfolgte A u f b a u einer Galerie des 20. Jahrhunderts nach dem Vorbild der zerstörten Sammlung im Kronprinzenpalais ist dabei das wohl ambitionierteste Projekt dieser Zeit. Doch nicht nur in Bezug auf die Förderung der modernen Kunst blieb Justi seinen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik geprägten musealen Standpunkten treu. Dies wird in seinem Anfang 1 9 4 7 veröffentlichten Aufsatz über den AUFBAU DER BERLINER MUSEEN deutlich, in dem er deren Aufgaben für die Gegenwart skizzierte. Ausdrücklich sprach er sich darin für die Öffnung für ein breites Publikum aus, dem das künstlerische Schaffen »geistig« nahe gebracht werden sollte. Im Vordergrund stand für ihn dabei das intensive (subjektive) Seherlebnis, welches er durch eine ästhetische, spannungsgeladene Anordnung der Objekte zu erreichen suchte. Gerade nach 1 9 4 5 - nachdem zwölf Jahre lang ein staatlich reglementiertes, ideologisch motiviertes Kunstverständnis vorgeherrscht hatte - sah sich Justi in der Pflicht, dem Publikum die gesamte Breite des künstlerischen Schaffens zu zeigen, um die Leute wieder »sehend« zu machen. Das Ziel dieser ersten musealen oder städtischen Ausstellungen nach dem Krieg war nicht, das neueste Kunstgeschehen zu zeigen. Vielmehr waren die meisten Präsentationen als Rückschau einer vergangenen Zeit und Basis für die aktuelle Kunstproduktion gedacht. Treffend beschrieb dies Paul Trinks im AUFBAU: »Sie [die Ausstellungen] waren nicht Verkündigungen oder Illustrationen einer neuen künstlerischen Gesinnung oder bemerkenswerte Sezessionen von Künstlern, die das Bestehende und Gültige sprengten; denn ein Neues, wie es einst Impressionismus und Expressionismus waren, liegt in ausgeprägter Abrundung nicht vor. Es waren also nicht Bekenntnisse, sondern Referate. Sie waren viel mehr Kunstgeschichte als aktuelle Kunst.« 7 6 6 Diese Kunstgeschichte schien nötig, um der jungen Künstlergeneration die formalen und inhaltlichen Neuerungen der Avantgarde überhaupt erst wieder zu vermitteln und einen Anknüpfungspunkt für das aktuelle künstlerische Schaffen anzubieten. Dieses Ansinnen wurde sowohl von der sowjetischen Besatzungsmacht als auch von der KPD/SED getragen. Auch für sie schienen eine Rehabilitierung der während der NS-Herrschaft diskriminierten Künstler und eine freiheitliche Kulturpolitik an erster Stelle zu stehen. Doch obgleich sich die bildende Künste und ihre Kritiker ähnlich wie in den westlichen Besatzungszonen entwickelten und äußerten, verwiesen einige Anmerkungen von Seiten der S M A D und KPD/SED schon 1 9 4 5 /

Fazit _

1 9 4 6 auf den angestrebten Weg einer realistischen, gegenwartsnahen Kunst und die damit zusammenhängende Einschränkung der künstlerischen Freiheit. Solche Äußerungen hatten wie ersichtlich wurde, noch keine direkten Auswirkungen auf das kulturelle Umfeld, die künstlerische Entfaltung oder die Museums- und Ausstellungspolitik. Dies sollte sich mit der zunehmenden Ausrichtung der SED am politischen System der Sowjetunion, der Verschärfung des Ost-Westkonfliktes Ende 1 9 4 7 und der zunehmenden Ideologisierung und Vereinahmung der Kunst von Seiten der Politik ändern.

173

Eine neue Kulturpolitik: Der Beginn der F o r m a l i s m u s - D e b a t t e 1948/1949

Die offene und liberale Bündnispolitik, die S M A D und SED in den ersten beiden Nachkriegsjahren verfolgt hatten, fand mit den zunehmenden Spannungen zwischen den Siegermächten 1 9 4 7 / 1 9 4 8 ihr Ende. Schon im Laufe des Jahres 1 9 4 6 verschärften sich die politischen Gegensätze der Besatzer. Diese führten Anfang 1 9 4 7 auf englisch-amerikanischer Seite zur Bildung der Bi-Zone und spitzten sich im Truman-Doktrin vom Februar 1 9 4 7 und dem Marshall-Plan vom Juli 1 9 4 7 weiter zu. 767 Die dort formulierten Vorhaben stellten in den Augen der Sowjetunion einen eindeutigen Bruch mit dem Potsdamer Abkommen dar. Dies führte wiederum auf sowjetischer Seite zu einer Änderung der Deutschlandpolitik, bei der die S M A D massiv auf die Konsolidierung eines sozialistischen Staates hinarbeitete. Von den Plänen eines einheitlichen Deutschlands nahmen die Alliierten sowohl im Westen als auch im Osten immer mehr Abstand. Der entscheidende Schritt, der zur Teilung des Landes führen sollte, erfolgte jedoch erst auf der Sechs-Mächte-Konferenz in London im Frühjahr 1 9 4 8 auf der Abgeordnete der U S A , Großbritanniens, Frankreichs und der Beneluxländer über die staatliche Organisation der Westzonen berieten. Als Reaktion darauf verließen die sowjetischen Vertreter in Deutschland am 20. März 1948 den Alliierten-Kontrollrat sowie am 1 6 . Juni die Alliierten-Kommandantur in Berlin und läuteten damit das Ende der Vier-Mächte-Verwaltung ein. Die

1 7 6 _ Eine neue K u l t u r p o l i t i k : Der B e g i n n der F o r m a l i s m u s - D e b a t t e

1948/1949

im Juni 1948 separat in den West- und Ostzonen vollzogene Währungsunion zerriss Deutschland als Wirtschaftsgebiet und führte kurz darauf zur Berlin-Blockade der sowjetischen Besatzer (24. Juni 1 9 4 8 - 1 2 . M a i 1949). Die Ereignisse spitzten sich weiter zu. Der im Westen kurz zuvor gegründete parlamentarische Rat stimmte am 8. M a i 1 9 4 9 dem Grundgesetz für die zukünftige Bundesrepublik zu. Dies beeinflusste auch die S M A D bei ihren Gründungsgedanken eines eigenen sozialistischen Staates, der mit der Konstituierung der D D R am 9. Oktober 1 9 4 9 , wenige Monate nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, in die Tat umgesetzt wurde. Die Veränderungen in der Besatzungspolitik wirkten sich auch auf den Parteienapparat und die innenpolitische Situation in der S B Z aus. Bereits der II. Parteitag der SED im September 1 9 4 7 offenbarte eine demonstrative Hinwendung zur Sowjetunion, die eine scharfe Kritik am Marshall-Plan und der Bildung der Bi-Zone als Maßnahme zur Spaltung Deutschlands einschloss. 768 Die SED distanzierte sich im Laufe des Jahres 1948 von ihrem bis dahin angestrebten »besonderen deutschen Weg zum Sozialismus« und formierte sich nach dem Vorbild der KPdSU Stalins zu einer marxistisch-leninistischen

»Partei neuen Typus«. 7 6 9 Die formellen Grundlagen

für die Ausrichtung als kommunistische Partei nach sowjetischem Vorbild und für die Instrumentalisierung von Staatsapparat, Wirtschaft und gesellschaftlichen Organisationen zur Errichtung eines sozialistischen Staates legte die S E D mit den Beschlüssen des Parteivorstandes 1 9 4 8 fest. Ihren vorläufigen Abschluss fand die Umgestaltung auf der Parteikonferenz der S E D im Januar 1 9 4 9 . 7 7 0 Die enge Anbindung an die Politik der Sowjetunion und die schwelenden Konflikte zwischen den Ost- und Westalliierten spiegelten sich auch auf kulturpolitischer Ebene. Im Vordergrund stand in der S B Z fortan die »Erziehung des Menschen zum Sozialismus bei gleichzeitiger Bekämpfung des bürgerlichen

Den-

kens«. 7 7 1 Auch der Kulturbund forderte seit 1 9 4 7 eine eindeutige Stellungnahme zur Sowjetunion, was letztlich zu seinem Verbot am 1 . November 1 9 4 7 in den Westsektoren führte. 7 7 1 Im gleichen Jahr waren auf die Initiative des Kulturbundes Landeskonferenzen durchgeführt worden, auf denen die (ideologischen) Aufgaben der Künstler und die Ziele einer demokratischen Kulturpolitik diskutiert wurden. 7 7 3 Für die bildende Kunst hatte die engere Orientierung an der UdSSR zur Folge, dass die Kulturfunktionäre auf der Ersten Zentralen Kulturtagung der SED im M a i 1 9 4 8 nicht mehr von einem künstlerischen Pluralismus sprachen, sondern von einer besonderen Förderung der »realen, wirklichkeitsnahen und volksverbundenen Kunst« nach dem Vorbild der Sowjetunion. Kunst sollte nicht wie in der »bürgerlich-kapitalistischen« Gesellschaft das Vorrecht einzelner Klassen sein, sondern Besitz des gesamten Volkes. 7 7 4 Im Einklang dazu formulierte Anton Ackermann auf der genannten Sitzung die Grundlagen und Ziele einer »marxistischen« Kulturpolitik. Demzufolge forderten die marxistischen Kritiker die

Eine neue Kulturpolitik: D e r B e g i n n d e r F o r m a l i s m u s - D e b a t t e 1 9 4 8 / 1 9 4 9 _ 1 7 7

»Volkstümlichkeit der Musik [wie auch der bildenden Kunst] bei Fortführung des klassischen Erbes; großer Inhaltsreichtum, Wahrhaftigkeit und Realität und vor allem meisterliches Können. Marxismus in der Kunst ist Pflege der klassischen Schöpfung, Kampf gegen unbedingtes, gekünsteltes und falsches Neuerertum sowie - neben dem geistigen Inhalt - hohes fachliches Können. Und das ist das genaue Gegenteil dessen, was schlechthin als Kunstbolschewismus verschrien wird. Wenn nun die Gegner gegen diese Forderungen ein so lautes Geschrei erheben, so beweisen sie damit nur ihre Böswilligkeit und ihre Dekadenz. Nach marxistischer Auffassung besteht die Dekadenz in der Kunst gerade in einem schädlichen, falschen Neuerertum bei Verzicht auf das klassische Erbe und fehlendem fachlichen Können. Das aber bedeutet eine Pseudokunst, die wirklichkeits- und volksfremd sein muss.« 7 7 S Unter dem Begriff der »wirklichkeits- und volksfremden Pseudokunst« fasste Ackermann die nach dem Krieg wieder aufgegriffenen expressiven Tendenzen zusammen, einschließlich der Abstraktion. Sie wurden mit wachsendem Nachdruck als »formalistisch« abgelehnt. Z w a r hatten die politischen Funktionäre schon 1 9 4 6 klar gemacht, dass eine solche Kunst nicht den sozialistischen Anforderungen entsprach, doch richteten sie erst jetzt offiziell den Appell an die Künstler, die »revolutionären Veränderungen« im gesellschaftlichen Leben künstlerisch zu gestalten und sich dabei an der Methode des in der Sowjetunion praktizierten Sozialistischen Realismus und der realistischen Kunst des 1 9 . Jahrhunderts zu orientieren. Manifestiert hatten sich diese Forderungen bereits innerhalb des Zweijahresplanes 1 9 4 8 / 1 9 5 0 , der auf eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung abzielte und eine neue fortschrittliche Kultur einklagte. 776 Den Künstlern kam dabei die Aufgabe zu, so forderte Ulbricht auf der I.Parteikonferenz der S E D im Januar 1 9 4 9 , eine realistische Kunst zu entwickeln und nach höchster künstlerischer Leistung zu streben. 777 Bisher, so hatte Ulbricht bereits ein halbes J a h r zuvor bemerkt, stecke das Schaffen der Schriftsteller und Künstler noch zu sehr in der Vergangenheit und im Kleinbürgerlich-Individualistischen fest. Die übergroße Mehrheit der Künstler würde vom Formalismus beherrscht. Die Partei habe das Recht, »gegen expressionistische und andere falsche Auffassungen Stellung zu nehmen. Wir wollen nicht etwa, daß solche Künstler aus der Partei entfernt werden. Die Künstler können den verschiedenen Kunstrichtungen angehören, aber als Partei haben wir einen ganz bestimmten Standpunkt, den des sozialistischen Realismus [...].« 7 7 8

178 _ E ¡ n e neue Kulturpolitik: Der Beginn der Formalismus-Debatte 1946/1949

» D I E T R A G Ö D I E DES E X P R E S S I O N I S M U S «

M i t den von Seiten der S E D und S M A D formulierten Forderungen nach einer realistischen, gegenwartsbezogenen Kunst nahm die Umbruchphase der ersten Nachkriegsjahre ihr Ende. Schienen bis 1 9 4 7 noch alle Möglichkeiten für eine pluralistische Entwicklung in der bildenden Kunst offen zu sein, wurde der Druck auf die Künstler, sich dem in der Sowjetunion herausgebildeten Sozialistischen Realismus anzuschließen, zumindest im kunstkritischen Bereich immer stärker. Gefordert wurde eine größere Verantwortung der Kunst für das Zeitgeschehen und die Teilnahme an der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft, bei gleichzeitiger Distanzierung von den spätbürgerlichen Tendenzen, namentlich dem Expressionismus. 7 7 ' Die Ablehnung einer nicht-gegenständlichen oder expressiven Gestaltungsweise bedeutete zugleich eine Absage an die Entwicklungen in den westlichen Sektoren, in denen die abstrakte, surrealistische und expressionistische Kunst zum Ausdruck der »Freiheit der westlichen Lebensart« stilisiert wurde. 7 8 0 Während man in der S B Z anfangs die »Reste faschistischer und chauvinistischer Ideologie« zu bekämpfen versuchte, verlagerte sich die Auseinandersetzung immer mehr auf die »Abwehr neuer, in den imperialistischen Ländern im Rahmen des kalten Krieges konzipierter Kultur-Ideologien«. M a n kritisierte die vermeintliche Leugnung nationaler Traditionen des Westens zugunsten einer »kosmopolitischen Orientierung« sowie die »spätbürgerlichen« Vorstellungen vom elitären Charakter der Kultur und der Autonomie der Kunst. 7 8 1 Die bis dahin noch wichtige Rolle des Expressionismus, der für viele Künstler und Kunsttheoretiker in den ersten Nachkriegs jähren als Orientierungshilfe und Anknüpfungspunkt gedient und allgemein eine positive Würdigung und Rehabilitierung erfahren hatte, wurde immer häufiger abgelehnt. Dieses Verdikt gegen den Expressionismus und andere Strömungen des ersten Jahrhundertdrittels w a r genuiner Bestandteil des Konzeptes des Sozialistischen Realismus - man forderte den Bruch mit den nun so bezeichneten »reaktionären Tendenzen und Traditionen der Vergangenheit.« 7 8 1 Die um 1 9 4 8 / 1 9 4 9 beginnende Diskussion um den Expressionismus scheint fast eine Neuauflage der Ende der dreißiger Jahre in der Sowjetunion geführten Expressionismusdebatte zu sein, ohne die eine Auseinandersetzung mit dem Expressionismus in der S B Z und frühen D D R sowie das langjährige Rezeptionsverhalten innerhalb der S E D nicht nachzuvollziehen wäre. 7 8 3

Die Expressionismusdebatte in der Sowjetunion 1937/1938

D I E E X P R E S S I O N I S M U S D E B A T T E IN D E R S O W J E T U N I O N

I937/1938

In der Sowjetunion w a r in den Jahren 192.9 bis 1 9 3 3 / 1 9 3 4 eine zunehmende Integration der Kunst in den Ideologieprozess der Gesellschaft erfolgt, die einen Ausschluss von avantgardistischen Formen und deren Künstlern zur Folge hatte. 784 Erstmals fand eine Gleichsetzung von modernen Kunstformen und dem Begriff des Formalismus statt. In diesem Zusammenhang ist auch die 1 9 3 7 / 1 9 3 8 geführte Expressionismusdebatte zu sehen, die hauptsächlich in der Moskauer Exilzeitschrift DAS WORT ausgetragen wurde. 7 8 5 Die dort geführte Diskussion knüpfte an die Kontroverse über Realismus und Dekadenz auf dem 1 . Allunionskongress sowjetischer Schriftsteller in M o s k a u 1 9 3 4 an, auf dem M a x i m Gorki und Andrej Shdanow in ihren Reden die Grundsätze des Sozialistischen Realismus ausgeführt und einen entscheidenden Bruch mit dem »spätbürgerlichen Modernismus« gefordert hatten. 786 Übereinstimmend mit dem Wortlaut des Statuts des sowjetischen Schriftstellerverbandes umriss Shdanow auf dem Kongress die METHODE DES SOZIALISTISCHEN REALISMUS

für Literatur und Literaturkritik, wonach die »wahrheitsgetreue und

historisch konkrete künstlerische Darstellung mit der Aufgabe verbunden werden [müsse], die werktätigen Menschen im Geiste des Sozialismus ideologisch zu erziehen.« Unter einer »wahrheitsgetreuen Darstellung« verstand Shdanow dabei keine scholastische Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern die Darstellung derselben in ihrer »revolutionären Entwicklung«. 7 8 7 Generell handelte es sich bei dem Begriff des Sozialistischen Realismus nicht um einen in engen Grenzen definierten Terminus, sondern vielmehr um einen »Kampfbegriff«, der gegenüber der »dekadenten« Moderne ins Feld geführt werden konnte, um auf diese Weise unterschiedliche Ismen oder Darstellungstechniken abzuwehren. 7 8 8 Die auf dem Allunionskongress angestoßene Diskussion wurde erneut durch einige 1 9 3 6 in der PRAWDA veröffentlichte Artikel über Naturalismus und Formalismus aufgegriffen, ebenso wie durch die seit 1 9 3 0 erschienenen Aufsätze von Georg Lukács über russische und deutsche Romantikliteratur. 789 Doch es sollte vor allem der von Lukács 1 9 3 4 publizierte Beitrag »GROSSE UND VERFALL« DES EXPRESSIONISMUS

sein, der die nachfolgende Expressionismusdebatte

maß-

geblich bestimmte. 790 In diesem Text brachte Lukács seine marxistische Kritik an der künstlerischen Moderne erstmals ausführlich zur Sprache. Seiner Meinung nach zeigte der Expressionismus, wie die modernen Kunstströmungen insgesamt, alle wesentlichen Merkmale der Dekadenz: die Verarmung des Inhalts, die Überbetonung der Form, die Unfähigkeit den Zusammenhang der dinglichen Realität zu gestalten sowie die Verwechslung von Erscheinung und Wesen. Der Expressionismus habe als bürgerliche Opposition gegen den Imperialismus nie den Boden der

179

1 8 0 - E i n e neue Kulturpolitik: Der B e g i n n der Formalismus-Debatte 1948/1919

Bourgeoisie verlassen und deswegen dem Imperialismus, beziehungsweise dem Faschismus in die Arme gearbeitet. Er sei als Bewegung nur scheinrevolutionär und verhindere dadurch den Sieg der Arbeiterklasse. 7 9 1 Als problematisch erachtete Lukács darüber hinaus das Interesse der Nationalsozialisten am Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, die darin - mit einem gewissen Recht - ein brauchbares Erbe erblickt hätten. 7 9 2 Die von Lukács 1 9 3 4 aufgestellten Thesen wurden 1 9 3 7 / 1 9 3 8 im Rahmen der in der Zeitschrift DAS WORT geführten Expressionismusdebatte erneut aufgegriffen. 7 9 3 Diskutiert wurde, ob die Strömungen der »spätbürgerlichen« Kunst, namentlich des Expressionismus, als kulturelles Erbe f ü r eine sozialistische Kunst zulässig seien oder nicht. Dies implizierte gleichzeitig die Frage nach dem Aussehen und dem Inhalt einer neuen, zeitgemäßen Kunst. Die Debatte ging weit über formale und inhaltliche Fragen des als Kunsttendenz damals längst abgeschlossenen Expressionismus hinaus und betraf eher grundsätzliche Konzeptionen des Materialismus, des historischen Erbes und des Wirklichkeitsbegriffs. 7 9 4 Auch wenn sich die in DAS WORT veröffentlichten Aufsätze hauptsächlich auf den literarischen Expressionismus bezogen, wurden die Argumente in einigen Beiträgen auf die bildende Kunst übertragen. Auslöser der WORT-Debatte w a r der von Alfred Kurella unter dem Pseudonym Bernhard Ziegler veröffentlichte Aufsatz NUN IST DIES ERBE ZUENDE . . . . In diesem lehnte Kurella mit ähnlichen Argumenten wie vier Jahre zuvor Lukács den Expressionismus als Spiegelung des verfallenden Kapitalismus vehement ab und ging über Lukács noch hinaus, wenn er behauptete, dass der Geist des Expressionismus in den Faschismus geführt habe. 7 9 5 Die von Kurella gezogene Analogie von Expressionismus und Nationalsozialismus sah der an der Debatte beteiligte H e r w a r t h Waiden allein schon durch die Ausstellung ENTARTETE KUNST widerlegt, da die Demonstration der faschistischen Machthaber gegen die expressionistische Bewegung den antifaschistischen Kern des Expressionismus belegen würde. 7 9 6 Auch die Mehrheit der übrigen Beteiligten konnten die Ansichten von Lukács und Kurella nicht teilen. So verstanden Waiden, Berger, Wangenheim, Leonhard und Bloch den Expressionismus als linke, revolutionäre und avantgardistische Kunst, die mehr oder weniger erst zur

»Ermöglichung

des

neuen

Realismus« beigetragen habe. 7 9 7 Vor allem Bloch setzte sich in seinem Aufsatz DISKUSSIONEN

ÜBER

DEN

EXPRESSIONISMUS

intensiv

mit

dem

Aufsatz

von

Lukács aus dem J a h r 1 9 3 4 auseinander. 7 9 8 Auch wenn einige Punkte in Lukács Argumentation Blochs Zustimmung fanden, störte ihn an Lukács A u f f a s s u n g dessen einseitige Orientierung am klassischen Erbe und die daraus

resultierende

Schwarz-Weiß-Zeichnung der Avantgarde. 7 9 9 Lukács reagierte auf Blochs Darstellung mit dem Aufsatz ES GEHT UM DEN REALISMUS in dem er nicht direkt

Die E x p r e s s i o n i s m u s d e b a l t e

in d e r S o w j e t u n i o n 1 9 3 7 / 1 9 3 8 _ 1 8 1

zum Phänomen des Expressionismus Stellung bezog, sondern ihn im Vergleich zum Realismus analysierte. 8 0 0 Als Haupteinwand gegen den Expressionismus brachte Lukács dessen subjektive und damit limitierte Erfassung der Realität vor. Während der Realist die Wirklichkeit so erfasse, wie sie tatsächlich beschaffen sei, beschränke sich der Expressionist auf die Wiedergabe der unmittelbaren Erscheinung. 801 Diese Unmittelbarkeit verhindere, dass der Künstler weder nach dem Zusammenhang seiner Erlebnisse mit dem wirklichen Leben grabe, noch nach den verborgenen Ursachen und Mitteln suche, die diese Erlebnisse hervorbringen und sie mit der objektiven Wirklichkeit der Gesellschaft verbinden. 8 0 2 Der oberflächliche Ansatz der Expressionisten führe zu einer einseitigen und damit zu einer verfremdeten Wirklichkeitsdarstellung, während der Realismus tief in die Gesetzmäßigkeiten der objektiven Wirklichkeit eindringe und so die Vielfältigkeit und den Reichtum des Lebens viel komplexer darstellen könne. Deshalb, so Lukács, sei der Expressionismus niemals in der Lage eine echte Verbindung zum Volk herzustellen. Durch die beengte oberflächliche Erfassung der Wirklichkeit, die auf subjektive Willkür gestützt sei, spreche er nur einen Bruchteil der Massen an. Der Reichtum der Gestaltung des Realismus, sein Eindringen in die Grundzüge des menschlichen Wesens und in die gesellschaftlichen Zusammenhänge böten dagegen große Identifikationsmöglichkeiten für die Massen des Volkes. 8 0 3 Eine abschließende Wertung der Positionen nahm Bernhard Ziegler alias Alfred Kurella in seinem

s c h l u s s w o r t

zur Debatte vor. 8 ° 4 Er blieb darin seinem

Standpunkt treu, dass der Expressionismus ein Sonderweg sei, von dem die Kommunisten kein kulturelles Erbe zu übernehmen hätten. 8 o s Der Expressionismus sei »ein Teil und Ausdruck seiner >nach ihrer Auflösung schreienden ZeitEntarteten< betraf die gesamte >moderne< Kunst und warf die Vertreter der verschiedenen Ismen, darunter sogar einige Impressionisten wahllos in einen Topf: Käthe Kollwitz und Ernst Barlach ebenso wie die wenigen Avantgardisten die sich um eine sozialkritisch-dialektischen Realismus bemühten und dazu die Expressionisten nebst den nachexpressionistischen Formalisten jeder Art. So kam es, daß die abstrakten und surrealistischen Gegner des Realismus nach 1 9 4 5 zusammen mit den ihrer politischen Haltung wegen verboten gewesenen Realisten für >ideelle Opfer des Faschismus< galten und sich, unter Berufung darauf, daß sie zwölf Jahre >in den Katakomben waren< in den Vordergrund spielen konnten. « 8 4 1 Dies mache sich, so Lüdecke, eine kleine zumeist aus Nachahmern bestehende Gruppe aus »Modernisten« zu Nutze, die den Anspruch erhebe, die heutige deutsche Malerei zu repräsentieren. 843 Argumente gegen das von Dymschitz vertretene Realismuskonzept und dessen Verurteilung der modernen Kunst fand Herbert Sandberg, der Herausgeber des Υ L E N S PI E G E L S . 8 4 4

In

seinem

Artikel

in

der

TÄGLICHEN

RUNDSCHAU

am

7. Dezember 1 9 4 8 gab er zu, dass auch er und andere »sozialistische Zeichner und Maler« glaubten, dass der »absolute Subjektivismus als Ausgangspunkt des künstlerischen Schaffens einer Epoche angehört, an deren Überwindung wir alle gemeinsam arbeiten und kämpfen«. Jedoch entspräche der künstlerische Ausdruck dem Zustand der jeweiligen Zeit. So hätte das »verendete bürgerliche Zeitalter« sowohl ein Echo in den großen sozialen Meistern von Daumier bis Kollwitz als auch in der Formensprache vom Impressionismus bis zu Chagall gefunden. 8 4 5 Auch wenn man nun feststelle - so Sandberg - , dass diese modernen Formen, »diese Verzerrungen

Die N e u a u f l a g e der E x p r e s s i o n i s m u s d e b a t t e in d e r S B Z _ 189

und zuletzt abstrakten Spielereien nur als Zeichen der Ausweglosigkeit einer niedergehenden Epoche« anzusehen seien, die man folgerichtig als »entartet« ablehnen könne, müssten sich die Künstler doch klar darüber werden, was Formalismus überhaupt sei. Nach Sandberg bezeichnete der Begriff Formalismus »[nicht] die ungegenständliche Malerei, sondern äußerliche, rein willkürliche und unbeseelte Formulierungen. Ein gegenstandsloses Bild kann viel mehr Inhalt haben, als manch äußerlicher Abklatsch der Natur hat. [...] Den bürgerlichen Künstlern sollten wir nicht nur hochmütige Dekadenz vorwerfen und drittklassige Künstler, nur weil sie soziale Themen illustrieren, für bedeutsamer ansehen als Schmidt-Rottluff. Als Sozialisten müssen wir nüchtern (selbst in dem nicht Fortschrittlichen) die Qualität feststellen, sofern sie vorhanden ist. [...] Wir sind stolz, auf eine Tradition aufbauen zu können, die von G o y a bis Masereel die großen Bewegungen des letzten Jahrhunderts darstellte, gleichzeitig wollen wir aber auch nicht auf die Poesie eines Paul Klee und Franz M a r c verzichten, denn die Kunst darf nicht steril werden.« 8 4 6 Auch wenn Sandberg in seiner Argumentation der offiziellen Sichtweise in der Formalismus-Debatte folgte und ihr grundsätzlich zustimmte, plädierte er dennoch für eine kritische Auseinandersetzung mit dem »künstlerischen Erbe«. Ähnlich wie Sandberg forderte Horst Strempel in seinem Diskussionsbeitrag im Januar 1 9 4 9 einen differenzierten Umgang und eine klare Bestimmung der Begriffe »bürgerliche Dekadenz« und Formalismus. Er fragte: »Nun, was ist eigentlich »bürgerliche Dekadenz< in der bildenden Kunst? Wann und w o beginnt sie sich zu zeigen und zu äußern? Ist der Impressionismus schon dekadent, oder fängt erst die Dekadenz bei den Pointillisten an? Ist der Pointiiiismus noch gesund oder fängt der Verfall erst bei Cézanne an? Ist der Kubismus und sind Picasso erste realistische Versuche, dreidimensionale Stoffe auf die zweidimensionale Bildfläche zu kleben der Beginn eines (wenn auch bürgerlichen) Realismus oder schon »bürgerliche Dekadenz« und snobistischer Formalismus?« 8 4 7 Strempel plädierte für einen Realismus, der nicht nur das »genaue Abbild der Wirklichkeit« wiedergebe, sondern gleichermaßen der Gestaltung Rechnung trage, die mit anderen formalen Mitteln erreicht werden müsse, als mit einer rein optischen, verständlichen Wiedergabe eines Dinges oder eines Vorgangs. 848 Die Einwände von Sandberg und Strempel zeigten keine Wirkung. Ohne sie auch nur zu berücksichtigen, griffen zwei Artikel zum Abschluss der Diskussion

190 _ E l n e neue Kulturpolitik: Der Beginn der Formalismus-Debatte 1948/1949

noch einmal die offiziellen Kriterien und zentralen Punkte der Debatte auf. Alexander Dymschitz legte die Position seiner Formalismuskritik dar und Stefan Heymann, Leiter der Kulturabteilung des Parteivorstandes der SED, resümierte über DIE GEFAHR DES FORMALISMUS. 849 Heymann konstatierte, dass die »formalistischen Entartungen« des zeitgenössischen Kunstlebens, ihren Ursprung in der »l'art pour l'art«-Bewegung des vorangegangenen Jahrhunderts hätten. 850 Seiner Meinung nach äußerten sich dieser Subjektivismus und die formalistische Malerei am stärksten im Expressionismus - für fast alle expressionistischen Maler habe die Umwelt des Menschen keinen realen Gehalt gehabt. In ihren Bildern zeigten sich die tiefe Zerrissenheit und der Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft. Dies sei mit ein Grund gewesen, warum die Nationalsozialisten den Expressionismus ablehnten, obwohl er sich in vielen entscheidenden Punkten mit der Weltauffassung des Faschismus decke. 8 ' 1

Ähnlich wie Kurella

1938

interpretierte Heymann

den

Expressionismus als einen Wegbereiter des Nationalsozialismus, wodurch er als Anknüpfungspunkt für die Kunst nach 1 9 4 5 endgültig verworfen werden konnte. Heymann schrieb: »Gerade das Verhältnis der Nazis zum Expressionismus, dessen entscheidende Vertreter ideologisch aufs engste mit dem Faschismus verwandt waren, gibt wichtige Hinweise auf die geistige Entwicklung der deutschen Intellektuellen nach dem Zusammenbruch

des Faschismus. Der Expressionismus

hatte

geistig - in gewissem Sinne - dem Faschismus den Weg bereitet, und es ist nur ein ironischer Witz der Geschichte, daß die Nazis diese ihre Wegbereiter dann so schlecht behandelten.« 8 5 2 Das wichtigste Merkmal aller Formalisten sei ihr Losgelöst-Sein vom Leben des Volkes und der Gesellschaft. Ebenso wie Dymschitz verurteilte Heymann vor allem die Abstraktion der Wirklichkeit durch die Wiedergabe reiner Formen. Diese Malweise stehe in unwiderrufbarem Gegensatz zur realistischen Kunst, in der die Form dem Inhalt diene. Das entscheidende Kriterium für die Gestaltung eines Kunstwerkes sei die gesellschaftliche und innere Wahrheit, die durch die genaue Kenntnis der sozialen Verhältnisse und die Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen

zu erreichen

sei. 853

Eine solche

gesellschaftspolitische

Nutzung ließe sich mit der Formensprache des Expressionismus oder mit den in dessen Tradition stehenden Kunstrichtungen jedoch nicht vereinbaren.

Museen und Ausstellungen als Mittel der Volksbildung

• M

MUSEEN UND AUSSTELLUNGEN ALS MITTEL DER VOLKSBILDUNG

Waren Kunsthistoriker, Besatzungsmächte und Politiker in den ersten Nachkriegsahren vor allem darauf bedacht, den Menschen Kunst und Kultur generell wieder zugänglich zu machen wandelten sich im Zuge der kulturpolitischen Debatten auch die Vorstellungen darüber, was in Museen und Ausstellungen zu sehen und wie es präsentiert sein sollte. Ähnlich den Forderungen nach einer fortschrittlichen Kunst, die sich bewusst für den A u f b a u eines sozialistischen Staates einsetzte und für die breite Masse verständlich war, verfolgte die S E D auch in der Kunstvermittlung neue Zielvorstellungen, um die Kluft zwischen Kunst und Volk zu schließen. 854 Bereits 1 9 4 7 wurde durch einen Beschluss des Volksbildungsministeriums der Länder eine zentrale Museumskommission zur sachlichen und organisatorischen Unterstützung der Museumsarbeit gegründet. 855 Schon vom 29. September bis 2. Oktober 1 9 4 7 lud diese zu einer Museumsleitertagung nach Schloss Pillnitz bei Dresden ein, um über die Museen als Mittel der Volksbildung zu diskutieren. 856 An der Konferenz nahmen acht zentrale und 1 8 4 örtliche Museen teil. Auch westdeutsche Institutionen waren angeschrieben worden. Doch nur ein Vertreter der Pinakotheken in München w a r der Einladung gefolgt. 8 5 7 Ziel der Tagung war es, die Rolle der öffentlichen Sammlungen neu zu definieren. Denn die Museen, so beklagte ein Artikel im NEUEN DEUTSCHLAND, würden im Volk noch vielfach mit dem Begriff des Gestrigen und Übriggebliebenen verbunden, da in der Vergangenheit nicht mit »Ernst und Ausdauer der Versuch unternommen worden sei, die Inhalte unserer Museen dem Volke als für seine Bildung und Kultur unentbehrlich nachzuweisen.«

858

Eine festere Anbindung an die Bevölkerung unterstrich auch der von der S M A D entsandte Gontscharenko, der in seiner Schlussansprache eine engere Zusammenarbeit der Museen mit politischen und gewerkschaftlichen Organisationen bei der Erziehung der Volksmassen forderte. Sein Appell wurde mit der auf der Tagung verabschiedeten Resolution unterstützt. Darin betonten die anwesenden Direktoren, dass es zur vornehmsten Aufgabe des Museums gehöre, in steigendem M a ß e als Mittel der Volksbildung zu fungieren und ihre Arbeit mit allen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens zu verknüpften. Die »Erziehung zur echten Demokratie und Humanität« sei nur »durch die Darstellung einer wissenschaftlich umfassend begründeten Wahrheit« zu erreichen. 859 Die volksbildende Funktion, die den Museen als vermittelnde Instanz zu-gesprochen wurde, zeigte sich auch an einigen programmatischen Ausstellungen dieser Jahre. Eine der ersten w a r die im Oktober/November 1 9 4 7 in Berlin verans t a l t e t e S c h a u 1 5 0 J A H R E S O Z I A L E S T R Ö M U N G E N IN DER B I L D E N D E N

KUNST,

die vom Bundesvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), dem Schutzverband bildender Künstler und vom Berliner Magistrat konzipiert worden

191

192-Eine neue Kulturpolitik: Der Beginn der Formalismus-Debatte 1948/1949

SOZIALE

KUNST STRÖMUNGEN IN DER BILDENDEN

50

Titelblatt des Ausstellungskatalogs

IN D E R

BILDENDEN

KUNST,

Berlin

150

JÄHRE

SOZIALE

STRÖMUNGEN

1947

w a r ( A b b . j o J . Anlass w a r der 100.Jahrestag der Märzrevolution

1848.

Die

Präsentation verfolgte das Ziel, dem Besucher die künstlerische Kontinuität sozialer und gesellschaftskritischer Themen seit G o y a zu vergegenwärtigen. Gezeigt werden sollte, »daß Kunst und Aktualität einander nicht feindlich sind und daß bedeutende schöpferische Lösungen nicht aus formalistischer Inzucht, sondern aus der Auseinandersetzung mit den Realitäten des Lebens erwachsen.« 8 6 0 Z u sehen waren Grafiken von Beckmann, Schmidt-Rottluff, Schlichter, Jaeckel und Dix sowie Gemälde von Nagel und Scholz. Darüber hinaus waren Brüse, Neriinger, Heidt, Ehmsen, Hofer, Strempel, Hegenbarth, Sandberg und Lex-Nerlinger mit einigen Arbeiten vertreten. 861 Trotz der Thematisierung sozial- und gesellschaftskritischer Inhalte w a r die Ausstellung nicht als ein klares politisches Statement zur Propagierung einer angestrebten, realistischen Kunst im Sozialismus und somit für eine bestimmte Kunstrichtung zu verstehen. Vielmehr trat sie, so Adolf Behne im Katalogvorwort, für eine freie künstlerische Entfaltung ein. Denn nicht allein die Suche

Museen und Ausstellungen als Mittel der Volksbildung _ 193

nach der »idealen Form«, die für Behne ein zentraler Punkt des künstlerischen Ausdrucks war, bewirkte das von der Politik beklagte Auseinanderdriften von Kunst und Leben, sondern ebenso das Vorschreiben einer ideologischen Haltung. Man habe erlebt wie krass die Uniformierung der Kunst betrieben werden könne, wenn alle Gewaltmittel in einer Hand konzentriert seien.862 Auch wenn Behne mit diesen Worten in erster Linie auf die nationalsozialistische Kunstpolitik anspielte, ist die Analogie zur aktuellen Situation nicht zu überhören. Ausdrücklich betonte er am Ende seines Vorwortes nochmals, dass parallel zur Ausbildung gesellschaftlicher Motive die »interne Revolution des Expressionismus, Kubismus« stattgefunden habe. Die Kunst bestehe nicht nur aus sozialen Themen, immer hätten auch Formprobleme eine Rolle gespielt. Dies sei natürlich und gesund, da ohne eine beständige Auseinandersetzung mit der Form auch die soziale Kunst verarmen würde - beide Richtungen müssten einander ergänzen.863 Die Relevanz einer sich frei entwickelnden Kunst kam auf der zweiten Station der Ausstellung, die sechs Monate später in Dresden stattfand, nicht mehr zur Sprache. Das Vorwort von Behne fehlte in der Dresdner Broschüre. Stattdessen war der Katalog um mehrere programmatische Texte erweitert worden, ohne die Berliner Schau auch mit nur einem Wort zu erwähnen. Die politische Intention war klar, auch wenn in keinem der Texte ein ausdrücklicher Bezug zur aktuellen Kunstpolitik genommen wurde. 864 D i e P r ä s e n t a t i o n 1 5 0 J Ä H R E S O Z I A L E S T R Ö M U N G E N IN D E R

BILDENDEN

KUNST war nur die erste einer Reihe von ikonografischen Ausstellungen in den Folgejahren. So thematisierte die Berliner Schau MENSCH UND ARBEIT, die von Mai bis Juni 1949 in Berlin stattfand, das Verhältnis von Malerei, den arbeitenden Menschen und den Zielen des Zweijahresplanes (Abb. ji).S65

Die dort gezeigten

Gemälde und Plastiken waren aus einem vom FDGB und der Zeitschrift BILDENDE KUNST angekündigtem Wettbewerb hervorgegangen, der unter dem Thema UNSERE NEUE WIRKLICHKEIT stand. 866 In der Ausschreibung waren die Künstler dazu aufgefordert worden, sich mit der gesellschaftlichen Realität auseinanderzusetzen und sich von den Vorbildern der Vorkriegszeit und deren künstlerischer Formensprache zu lösen. Es hieß: »Als der Barbarenstaat [das »Dritte Reich«] zusammenbrach, wollten sie [die Künstler] und ihre Freunde die roh zerrissenen Fäden des historischen Ablaufs und des Kontakts mit dem Ausland wieder knüpfen. Dann sollte die fast vergessene Freiheit des Experimentierens ermutigt werden, und sei es um den Preis, daß Wirres und Eigenbrödlerisches dabei herauskäme. Das alles mag nötig gewesen sein, und es ist reichlich geschehen. Doch die Ergebnisse sind mager. Die Linien der geschichtlichen Entwicklung wurden nicht fortgesetzt, sondern nachgezeichnet, die Anregungen aus anderen Ländern - sie waren

_E¡ne neue Kulturpolitik: Der Beginn der Formalismus-Debatte 1948/1949

KUNSTAUSSTELLUNG 11. ΜΛΙ «ISM.JUNI I M VHAM1TA17CK' KUtTUMOMOJ »flM KULTURtüNil IL'» BtMOKMTIlCKtN («NltmunG OIUTiCHLANOS

Plakat der Ausstellung MENSCH UND A R B E I T , Berlin 1 9 4 9

meistens enttäuschend - nicht eigenwüchsig verarbeitet, sondern nachgeahmt. Epigonen des Expressionismus, des Surrealismus und des Konstruktivismus bevölkern die >modernen< Galerien, und selbst die Wirrnis und die Eigenbrödelei stammen meist aus zweiter Hand. Erreicht ist nichts, als daß das anfangs wache Publikumsinteresse von Monat zu Monat müder wird. Und schon beginnt die Jugend zu durchschauen, daß sie sich nicht dem Morgen, sondern dem Gestern und Vorgestern verschrieben hat. Sofern sie es durchschaut und sich nun desto gewitzter von dem Gerede der gestrigen Salon- und Atelierrebellen abwendet, ist nichts verloren. Drei ertraglose Ubergangsjahre sind kein Unglück. Inzwischen ist die neue Wirklichkeit herangereift und bietet sich Künstlern zur Bewältigung an.« 8 6 7 Die Künstler wurden aufgefordert, alte Muster hinter sich zu lassen und sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen - natürlich entsprechend den Vorgaben des Staates. Ein Anknüpfen an die Vorkriegstradition w a r nicht länger erwünscht. Vielmehr erhoffen sich die Initiatoren eine praktische Umsetzung der durch die Formalismus-Diskussion lancierten Vorstellungen. Theoretisch seien die Frage nach der künstlerischen Tradition und dem Verhältnis des

bildenden

Künstlers zu seiner Umwelt geklärt. Nun sei es an der Zeit diese umzusetzen. Die Maler und Bildhauer müssten sich als schöpferische K r a f t in einer werdenden

Museen und Ausstellungen als Mittel der Volksbildung

Gemeinschaft erkennen und ihr künstlerisches Potenzial entfalten. Das Kunstwerk habe nicht länger nur die Funktion der individuellen Selbstbefreiung, vielmehr sei es Träger einer sowohl vom Produzenten als auch vom Empfänger als wesentlich erachteten Mitteilung. Nicht zuletzt deshalb ergebe sich für den Künstler die Pflicht den Inhalt seines Werkes so zu formen, dass er vom Betrachter - der Absicht des Künstlers entsprechend - rezipiert werde. Da die Form dem Inhalt folge, sei es unmöglich Ausdrucksmittel einer früheren Epoche einfach zu übernehmen. Der neue Inhalt erfordere auch eine neue Form. 8 6 8 Beiträge für den Wettbewerb hatten unter anderem Josef Hegenbarth, Franz Xaver Fuhr, M a x Kaus und Horst Strempel eingereicht. 869 Doch waren die Organisatoren mit dem künstlerischen Ergebnis unzufrieden. Es wurde kein erster Preis verliehen, da »keine der eingesandten Arbeiten allen thematischen und künstlerischen Anforderungen« entsprach. 8 7 0 Ziel solch politisch-programmatischer Präsentationen w a r es, den Künstlern durch eindeutige inhaltliche Vorgaben ihren Kurs vorzugeben und »den Schwerpunkt ihres Schaffens in Z u k u n f t in diese Richtung zu verlegen.« 8 7 1 Die Ausstellungen wurden zu Propagandainstrumenten des vermeintlichen wirtschaftlichen und sozialistischen Fortschritts. 872 Unliebsame Projekte wurden durch ein verschärftes Genehmigungs- und Meldewesen unterbunden, das jedoch bei privaten Initiativen noch nicht wirklich griff. 8 7 3 Z u r gleichen Zeit wurden auch von der S M A D vermehrt Ausstellungen lanciert, die der deutschen Bevölkerung das sowjetische Kunstschaffen näher bringen sollten. Ein Forum bot das im Februar 1 9 4 7 in Berlin eröffnete Haus der Kultur der Sowjetunion. Ein ähnliches Ziel verfolgten die westlichen Besatzungsmächte, die in Ausstellungen der internationalen Moderne ein wirksames Mittel der Umerziehung sahen. Bereits 1 9 4 6 präsentierten die Franzosen aktuelle französische Kunst in verschiedenen westdeutschen Städten. 1 9 4 8 / 1 9 4 9 folgte die Wanderausstellung FRANZÖSISCHE ABSTRAKTE MALEREI, die in München, Stuttgart, Düsseldorf, Hannover, Hamburg und Frankfurt zu sehen war. 874 Die Amerikaner, namentlich Hilla Rebay, zeigten aus den Sammlungen des Museums of Non-Objective Painting (Guggenh e i m ) G E G E N D S T A N D S L O S E M A L E R E I IN A M E R I K A , d i e a b 1 9 4 8 d u r c h d i e w e s t -

lichen Besatzungszonen tourte. 8ys Über die bildende Kunst in Großbritannien informierte 1 9 4 9 die Schau Z E I T G E N Ö S S I S C H E B R I T I S C H E

MALEREI.

Neben den von den westlichen Besatzungsmächten organisierten Präsentationen erinnerten die Kuratoren in den Westzonen weiterhin an die deutsche Kunst der Vorkriegszeit. 876 In diesem Zusammenhang sind drei zwischen 1 9 4 7 - 1 9 4 9 veranstaltete Großprojekte hervorzuheben, die als Nachfolger der ALLGEMEINEN DEUTSCHEN KUNSTAUSSTELLUNG 1 9 4 6 in Dresden zu interpretieren sind. Wie

195

1 9 6 - E i n e neue Kulturpolitik: Der Beginn der Formalismus-Debatte 1948/1949

diese hatten sie sich zur Aufgabe gemacht, Kunst aus allen vier Besatzungszonen zu zeigen. D e n A n f a n g m a c h t e 1 9 4 7 D E U T S C H E KUNST DER G E G E N W A R T , die in

der französischen Besatzungszone in Baden-Baden stattfand. 8 7 7 Die Kritik stilisierte die Präsentation zum »Kampf um die kulturelle Einheit Deutschlands«, bemerkte aber gleichzeitig, dass es zwischen Ost und West keinen »großen gemeinsamen Z u g « mehr gebe. 878 An der Konzeption beteiligt w a r unter anderem Will Grohmann, der maßgeblich an der Organisation der Dresdner Schau von 1 9 4 6 beteiligt gewesen w a r und zu diesem Zeitpunkt immer noch in Dresden lebte. 879 Vertreten waren insgesamt 1 2 6 Künstler mit 289 Werken aus den Westzonen und der S B Z , wobei ein ausgewogenes Verhältnis zwischen abstrakter und bestand.

880

figurativer

Kunst

Auch wenn die Präsentation, nach Aussage der Zeitschrift BILDENDE

KUNST, ihren Schwerpunkt auf der jüngsten Gegenwart hatte, zeigte sie Arbeiten der BRÜCKE, des BLAUEN REITERS und von Barlach, Beckmann, Kolbe, Kollwitz, Lehmbruck, Mareks, Schlemmer, Baumeister, Nay, Hegenbarth, Gilles und den neusachlichen beziehungsweise veristischen Künstlern Schlichter, Schrimpf und Dix. Aus Berlin waren unter anderem Hofer, Neriinger, Kaus, Seitz, Moll und Ehmsen vertreten. 881 Kritikpunkt der BILDENDEN KUNST war, dass die sozialen Strömungen der jüngeren Berliner ausgesprochen schlecht weggekommen seien, obwohl gerade sie für einen großen Teil der deutschen Gegenwartskunst als repräsentativ und wegweisend gälten. 8 8 1 Dagegen nähmen die »Abstrakten« einen vergleichsweise breiten Raum ein. Doch trotz der vermeintlich breiten Präsenz abstrakter Kunst und dem Schwerpunkt auf dem jüngeren Kunstschaffen kann man anhand der Auswahl der Künstler ersehen, dass die Schau in Baden-Baden noch ganz im Zeichen der Wiederbegegnung und Rehabilitierung der »Entarteten« stand. Die Präsentationen der englischen und amerikanischen Zone fanden beide 1 9 4 9 statt. Während auf der Baden-Badener Schau noch verhältnismäßig viele Künstler der S B Z vertreten waren, hatte deren Anzahl auf der Ausstellung KUNSTSCHAFFEN IN MÜNCHEN, die vom Central Collecting Point organisiert worden war, merklich abgenommen. Unter den 1 2 2 Künstlern befanden sich nur noch zwei aus der sowjetischen Besatzungszone. In der Kölner Schau DEUTSCHE MALEREI UND PLASTIK DER GEGENWART, von der Kritik mit fast 500 Bildern und Skulpturen von 1 3 1 Künstlern als die »bisher größte Gesamtschau seit mehr als 1 5 Jahren« gelobt, war aus der S B Z sogar nur noch Josef Hegenbarth vertreten. 883 Auch hier fiel die Kritik aus der S B Z harsch aus. Der Autor der BILDENDEN KUNST, Gerhard Bergen, bescheinigte der Schau ein ähnliches Gesicht wie der Sonderbundausstellung von 1 9 1 2 , wodurch sie den Anschein des »Ewig-gestrigen« erhalte. Sie vermittle das Bild der Beschränkung auf einen ganz »bestimmten soziologischen Abschnitt, der jedoch nicht mehr beherrschend den Charakter unserer Zeit verkörpert und nicht als auch nur annähernd vollständiger Ausdruck der

Museen und Ausstellungen als Mittel der Volksbildung _ 197

Gegenwart angesehen werden kann.« 8 8 4 Der Besucher entdecke im Wesentlichen die alten Namen der expressionistischen Sturm- und Drangzeit, nur dass deren Vertreter nun am Rande des Greisenalters ständen. Den Höhepunkt ihrer Aussagefähigkeit hätten diese Künstler schon lange überschritten. 885 Dieses Verharren im »Ewig-gestrigen« wollten die Organisatoren der vom i o . S e p t e m b e r bis 3 0 . O k t o b e r 1 9 4 9 veranstalteten Z W E I T E N D E U T S C H E N KUNST-

AUSSTELLUNG in Dresden vermeiden. Dementsprechend wählten sie nur Kunstwerke aus, die nach 1 9 4 5 entstanden waren. Zudem waren die zuständigen Personen darum bemüht, zumindest in der Anzahl der Werke, ein Gleichgewicht zwischen den Künstlern aus der Ost- und den Westzonen herzustellen. Insgesamt zeigten sie 7 3 5 Werke von 3 1 9 Künstlern, von denen circa die Hälfte aus der S B Z kam. 8 8 6 Vertreten waren vor allem die Künstler des »Expressiven Realismus«, wie Crodel, Bunge, Knispel, Schwimmer, Herbig, Hegenbarth, Kretzschmar, Grundig, Glöckner und Rudolph aber auch Pankok, Hofer, Heartfield, Dix und Grosz. 8 8 7 Arbeiten des erst kurz zuvor aus dem französischen Exil zurückgekehrten M a x Lingner, die der Maler »dem deutschen Volk« übergeben hatte, wurden in einem großen Sonderraum präsentiert. 888 Es überwogen realistische Darstellungen von Landschaften, Stilleben, Portraits und Selbstbildnisse, die jedoch nach wie vor von expressionistischen, impressionistischen und surrealistischen Stilelementen geprägt waren. Ideologisch besetzte Themen waren eher selten. Wie 1 9 4 6 wurden die eingereichten Kunstwerke von einer Jury ausgewählt. 8 8 9 Darüber hinaus gab es eine künstlerische Leitung, der unter anderem die Maler Karl Kröner, der an vielen Ausstellungsprojekten dieser Jahre als Organisator beteiligt war, Gert Caden, Lea Grundig, Josef Hegenbarth, der Architekt M a r t Stam, der Kunsthistoriker Joachim Uhlitzsch und der Direktor der Staatlichen Kunstsammlungen in Dresden, Wolfgang Balzer angehörten. 890 Mit der Vorgabe nur Kunstwerke auszustellen, die nach 1 9 4 5 entstanden waren, sollte eine erneute Reminiszenz an den Expressionismus und die Abstraktion unterbunden werden. In einem kurzen Bericht zur Eröffnung konstatierte Fritz L ö f f let: »Im Gegensatz zur 1 . Deutschen Kunstausstellung 1 9 4 6 wird auf jede retrospektive Schau verzichtet und es werden diesmal fast ausschließlich Werke gezeigt, die nach 1 9 4 6 entstanden sind. Das heißt, daß die klassischen modernen Meister von der Brücke bis zum Blauen Reiter nicht mehr vertreten sind und daß dadurch zunächst eine scheinbare Armut eingetreten ist. Dagegen hat die Ausstellung den Vorteil, wirklich einen Querschnitt durch die augenblickliche Situation zu geben und den beliebten Fehler, die Gegenwart mit Leistungen der Vergangenheit aufzuputzen, zu vermeiden.« 8 9 1

198 _ Eine neue Kulturpolitik: Der Beginn der Formalismus-Debatte 1948/1949

Trotz vieler Defizite der Schau, die Löffler in einem zweiten Aufsatz unter anderem am Fehlen der Meister der BRÜCKE, der führenden Abstrakten wie Baumeister, den jungen Berlinern und den Bildhauern Mareks und Mataré festmachte, sprach er ihr den Verdienst zu, die »zonalen Grenzen« zu sprengen, die west-östlichen Gespräche zu erleichtern und die Horizonte zu erweitern. 8 9 1 Ein solches Lob verschleiert indes die Tatsache, dass viele Künstler aus den Westzonen die Teilnahme in Dresden abgelehnt hatten. So erwähnt Halbrehder, dass Heckel aufgrund des gegen ihn gerichteten Vorwurfs der »bürgerlichen Dekadenz« ein Mitwirken nicht in Betracht zog. 8 ' 3 Die scheinbare Offenheit und Breite der vertretenen Künstler und Richtungen war vom Ministerium

beabsichtigt.

Ziel der ZWEITEN

DEUTSCHEN

KUNST-

AUSSTELLUNG war es, Publikum und Künstlern einen Überblick über die zeitgenössische Kunstproduktion zu verschaffen. Sie sollte sich nicht - wie aus einem internen Bericht der Verwaltung für Volksbildung hervorgeht - richtungsweisend festlegen.

Dennoch

planten

die Veranstalter

kurzfristige

programmatische

Diskussionsausstellungen innerhalb der Gesamtschau, um so über den rein orientierenden Charakter hinauszugehen. 8 ' 4 Diese Vorgabe sollte vor allem mit der sogenannten Wandbildaktion erfüllt werden, die das Gesamtbild der Ausstellung und deren Rezeption in der Presse maßgeblich prägte. Zehn Kollektive und vier Einzelkünstler waren dazu aufgerufen worden, Arbeiten zur »lebendigen Gegenwart« und zum Zweijahresplan zu gestalten. 895 Trotz der Versuche der Präsentation ein fortschrittliches Gesicht zu verleihen, bemängelte die Presse den »Aufguß alter Inhalte und Gestaltungsmittel« und kam zu dem Schluss, dass die »Dresdner Ausstellung im wesentlichen noch ein Spiegel der bürgerlichen Kunstproduktion ist mit aller ihrer Problematik«. 8 ' 6 Dagegen kritisierten die Redakteure der westlichen Kunstzeitschriften in den Gemälden vor allem das schematische und reine Abbilden der Wirklichkeit. 8 ' 7 Wie Hans Grundig in einem Brief bemerkte, rief die »Schau die widersprechendsten Meinungen bis zur Weißglut« hervor. Allerdings habe man in Berlin einen viel weniger positiven Eindruck von der Ausstellung als anderswo und die kritischen Betrachtungen, die sich von dort bemerkbar machten, seien so negativ wie nur irgend möglich. 8 ' 8 Die Aussage Grundigs bestätigt sich in den Bemerkungen der Parteifunktionäre, die der Dresdner Schau nahezu ausschließlich einen »formalistischen Charakter« bescheinigten. 8 " So schrieb Stefan Heymann, Leiter der Abteilung Kultur und Erziehung beim Parteivorstand der SED, in einem vertraulichen Bericht: »Die Ausstellung ist, wie die Kunstkritiker unserer Presse bereits feststellten, eine Schau des Formalismus. Neue Ansätze sind fast überhaupt nicht vertre-

Die Museen im Zweijahresplan 199

ten, die gesamte Ausstellung ist ein schreiender Widerspruch zu der demokratischen Entwicklung in unserer Z o n e . Das schlimme dabei ist, daß dieser Widerspruch nicht nur in den Werken westdeutscher Künstler zum Ausdruck kommt, sondern auch in den Bildern und Plastiken der Künstler aus der sowjetischen Besatzungszone.« 9 0 0 Auch Rudolf Engel, Vizepräsident der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung, konstatierte nach der Eröffnung der Schau ein Zurückbleiben der Kunst hinter den übrigen gesellschaftlichen Entwicklungen. Die bildende Kunst habe das angestrebte Ziel noch nicht erreicht, die »hoffnungslose Kluft, die zwischen dem schaffenden Künstler und dem schaffenden Volk entstanden war, zu verkleinern oder sogar vielleicht zu schließen.« 9 0 1 Doch auch wenn der Bruch zwischen Kunst und Volk noch nicht gekittet werden konnte und somit weiterhin keine neue Kunst im Sinne des sozialistischen Aufbaus entstanden war, fällt bei der Betrachtung der ZWEITEN

DEUTSCHEN

KUNSTAUSSTELLUNG und den in den Jahren 1 9 4 7 - 1 9 4 9 veranstalteten Großausstellungen in den Westzonen auf, dass bereits eine Verschiebung in der Wahrnehmung und Akzeptanz des künstlerischen Erbes stattgefunden hatte. Während in den S B Z neben den in allen Zonen stark geförderten Künstlern wie Heckel, Feininger, Kirchner, Kollwitz und Lehmbruck, vornehmlich Künstler der Dresdner ASSO und des »Expressiven Realismus« ausstellten, wurden diese in den Westzonen nur vereinzelt gezeigt. Stattdessen bevorzugten die Kuratoren dort die Maler um den BLAUEN REITER, wie M a r c oder Jawlensky, die wiederum in der S B Z wesentlich seltener auftraten. Stützten sich die Kunsthistoriker in den Westzonen also vor allem auf die zum Abstrakten neigenden, dem Mythischen und Innerlichen verbundenen Tendenzen, die mit den internationalen, abstrahierenden Strömungen der Avantgarde bestens vereinbar schienen, bezogen sich die Theoretiker in der S B Z vor allem auf die Künstler des politischen »Expressiven Realismus« der zwanziger Jahre, auch wenn diese durch ihre expressive Formensprache immer öfter in die Kritik gerieten. M i t den zunehmenden politischen Spannungen klafften die Meinungen und Interpretationen über den Begriff »Moderne«, deren Vertreter und über eine zukunftsträchtige Kunst immer weiter auseinander.

DIE M U S E E N IM Z W E I J A H R E S P L A N

Nicht nur in den staatlich geförderten Ausstellungen kamen die kulturpolitischen Absichten der SED zum Ausdruck. Auch ihre Ansprüche an die Museen hatten sich geändert. Diese fanden im Zweijahresplan von 1 9 4 8 erstmals eine konkrete For-

200-Eine

52

neue K u l t u r p o l i t i k : Der Beginn der F o r m a t i s m u s - D e b a t t e

Lyonel Feininger, B E L E U C H T E T E

HÄUSERZEILE

I,

1948/1949

1 9 1 9 , Ö l auf Leinwand, 36 Χ 56,5 cm,

Dresden,

Staatliche Kunstsammlungen, Galerie N e u e Meister

mulierung. 902 Demzufolge plante man zunächst eine Überprüfung aller bestehenden Sammlungen in der S B Z , um dann den Ausbau der Museen zu aktiven Orten der allgemeinen Volkserziehung voranzutreiben - natürlich ohne deren wissenschaftlicharchivarischen Aufgaben zu vernachlässigen. Zentrale Ausschüsse und eine Zusammenarbeit mit Universitäten und Kunsthochschulen sollten die Demokratisierung des Museumswesens befördern, Musterkabinette, ja ganze

»Muster-Heimatmu-

seen«, ebenso wie Tagungen und eine Fachzeitschrift sollten deren fortschrittliche Ausrichtung garantieren. Im Zweijahresplan festgeschrieben wurden die obligatorische Einrichtung einer Gegenwartsabteilung sowie die Veranstaltung von jährlich mindestens einer Sonderausstellung, die sich mit dessen Zielen befasste. Neben dem Plan für ein kulturhistorisches Zentralmuseum in Dresden und weiteren kulturhistorischen Instituten in Magdeburg und Rostock, betrachtete man den Abschluss der dringendsten baulichen Maßnahmen an den Museen für vordringlich.' 0 3 In Anlehnung an die Ziele des Zweijahresplanes rief die Sächsische Verwaltung für Volksbildung 1 9 4 8 zur »Säuberung der Museen von bedeutungslosen Gegenständen« und zur »Einrichtung von zeitnahen Abteilungen (Raum der Gegenwart)« in allen größeren Institutionen auf. Zunächst sollte jedoch in Ausstellungen »konsenswürdiges Material« zu den Themen Bodenreform, Schulreform und »geistige Erneuerung« gewonnen werden. 904

Die Museen im Zweijahresplan _ 201

Trotz der Einengungen durch den Zweijahresplan und die Polemiken der Formalismus-Debatte versuchten die Museen in Dresden, Erfurt, Chemnitz und Halle ihre Sammlungen weiter für expressive Tendenzen des zo. Jahrhunderts offen zu halten. Bis Anfang der fünfziger Jahre kauften sie insbesondere für ihre Grafikabteilungen expressionistische oder »proletarisch-revolutionäre« Kunst. Ahnliches gilt für das Museum der Bildenden Künste in Leipzig, das unter anderem Blätter von Beckmann, Moll und Pechstein erwarb. An den Dresdner Kunstsammlungen konnte Wolfgang Balzer 1948 das Gemälde BELEUCHTETE HÄUSERZEILE I (1929) von Feininger, S C H L O S S AM MEER v o n N a y , DER I N V A L I D E -

SCHRANKENWÄRTER

von Felixmüller sowie Grafiken von Barlach, Pechstein, Nay und Hofer ankaufen. 1949 kamen unter anderem Noldes SEGLER IM GELBEN MEER (1914), eine BODENSEELANDSCHAFT von Dix sowie dessen Grafik-Mappe DER KRIEG (1924) hinzu, die in nahezu jeder Sammlung der SBZ zu finden war (Abb.

jz).9°$

Eines der interessantesten Projekte dieser Zeit, war die 1948 von Balzer geplante Ausstellung ABSTRAKTE MALEREI. An ihr sollten neben Mitgliedern der Dresdner Gruppe DER RUF auch auswärtige Gäste wie Nay, Camaro, Balden, Trökes, Uhlmann und Zimmermann teilnehmen.906 Letztere wurden alle von der Westberliner Galerie Rosen vertreten und fühlten sich einer expressiv-abstrahierenden und oftmals surrealen Formensprache verpflichtet. Endlich, so Balzer in einem Brief an Rosen, sollten die »Leistungen und Aufgaben dieser Kunst, die schon auf der Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung i946< starkes Interesse fanden, [...] geschlossen zur Geltung kommen.« Z w a r rechnete er aufgrund der politischen Lage hauptsächlich mit Künstlern aus der Ostzone, wünschte sich jedoch auch Teilnehmer aus anderen Zonen. 907 Tatsächlich kam die Präsentation im Sommer 1948 zustande, wenn auch in etwas anderer Zusammensetzung. Neben den Künstlern der Gruppe DER RUF waren die Berliner Maler Wolfgang Frankenstein, Karl Otto Götz, Juro Kubicek, Ernst Wilhelm Nay und Oskar Neriinger eingeladen worden, doch die Ausrichtung war dieselbe geblieben.908 Auch in den darauf folgenden Monaten gelang es Balzer immer wieder moderne Kunst in den Räumen der Kunstsammlungen zu zeigen. So kam im Sommer 1948 die Schau DEUTSCHE GRAPHIK 1 8 8 0 - 1 9 3 0 zustande oder im Winter des gleichen Jahres eine Gedächtnisausstellung zu Ehren von Ernst Barlach. 909 Im Herbst 1949, präsentierten die Kunstsammlungen parallel zur ZWEITEN DEUTSCHEN KUNSTAUSSTELLUNG über zoo Werke des Malers Otto Dix aus den Jahren 1934 bis 1949. 9 1 0 Doch die Kritik war gespalten. Während die TÄGLICHE RUNDSCHAU lobte, dass mit der Schau »das Schaffen eines der bedeutendsten Repräsentanten der deutschen bildenden Kunst der Gegenwart in den Mittelpunkt des Gesamtgesprächs über Deutschlands zeitgenössische Kunst« gerückt würde, verurteilten andere Zeitungen die stereotype Wiederkehr »gewisser Lieblingsfarben« in einigen

2 0 2 - E i n e neue Kulturpolitik: Der B e g i n n der Formalismus-Debatte 1948/1949

55

H e r m a n n Glöckner, ROTE DÄCHER, 1 9 3 8 , Deckfarben auf Pappe, 39 χ j i cm, Dresden,

Staatliche Kunstsammlungen, Galerie Neue Meister

Gemälden, die auf Verfall und Fäulnis, zumindest aber auf Pessimismus und Dekadenz schließen ließen. 9 " Im Hinblick auf die

ZWEITE

DEUTSCHE

KUNSTAUSSTELLUNG

hatte die

Gemäldegalerie in Pillnitz eine Erweiterung und Umgestaltung erfahren. Auch moderne Kunst aus dem ersten Jahrhundertdrittel sollte weiterhin zu sehen sein. Aus einem Arbeitsbericht geht hervor, dass unter anderem Feiningers HÄUSERZEILE

I,

sowie Schwimmers

Nays

SCHLOSS

IM A T E L I E R

gesehen waren (Abb. jj).9'z

AM

MEER,

Glöckners

ROTE

BELEUCHTETE DÄCHER

(1938)

(um 1946/1947) für die moderne Abteilung vor-

Doch scheinen die Gemälde nie in der Neukonzeption

berücksichtigt worden zu sein, zumindest ist keins in dem von Balzer 1 9 5 0 angefertigten Verzeichnis der Gemäldegalerie aufgeführt. 9 ' 3 Genannt werden dagegen Arbeiten von Otto Modersohn, Albert Weisgerber und Karl Hofer sowie zahlreiche Gemälde von Slevogt und Corinth. Von Beckmann hatte Balzer das konventionelle Portrait der Gräfin von Hagen (1908) gehängt, auch eine neusachliche Arbeit von Lachnit sowie zwei Stilleben von Alexander Kanoldt aus den 1920er Jahren waren zu sehen. Als einziger Expressionist war Karl Schmidt-Rottluff mit einer

BÄUM-

Die Museen im Zweijahresplan _ 205

LANDSCHAFT von 1 9 2 8 vertreten. 9 ' 4 Der Verzicht auf die abstrahierenden Arbeiten von Feininger, N a y und Glöckner w a r vermutlich der aktuellen kulturpolitischen Situation geschuldet. Diese hatte sich spätestens seit dem Artikel von Dymschitz im November 1 9 4 8 auch in Dresden verschärft, wenngleich die Gemäldegalerie noch keine direkten Auswirkungen zu spüren bekam. 9 1 5 Ähnlich wie in Dresden wurde auch im Angermuseum in Erfurt der modernen Kunst weiterhin eine große Bedeutung beigemessen. Nachdem Kunze 1 9 4 6 / 1 9 4 7 bereits die Gemäldegalerie und die Abteilung mittelalterlicher Kunst wiedereröffnet hatte, machte er 1 9 4 8 den von Heckel 1 9 2 2 gestalteten Museumsraum, trotz seines konservatorisch schlechten Zustandes, wieder für die Öffentlichkeit zugänglich. 9 1 6 Ferner waren die Künstler der Vorkriegsavantgarde in temporären Ausstellungen präsent. Im J a h r 1 9 4 7 zeigte Kunze unter anderem Arbeiten von Mueller, Herbig, Mareks, H o f f m a n n , Crodel sowie die Gemeinschaftsausstellung WEGE DER KUNST IN DER GEGENWART. 917 Es folgten Präsentationen von Barlach, dem abstrakt arbeitenden Horst von Marées, Neriinger ( 1 9 4 8 ) und von Juli bis Oktober 1 9 4 9 eine von der Galerie Henning in Halle übernommene Ausstellung mit Arbeiten von Heckel, aus der Kunze drei Grafiken für die Sammlung des Angermuseums erwarb. 9 ' 8 Auf der anderen Seite fanden aber auch Themenausstellungen statt, wie beispielsweise DER S O Z I A L E K Ä M P F DER A R B E I T E R B E W E G U N G

( 1 9 4 7 ) . 9 1 9 Sol-

che Präsentationen entsprachen den Ziel Vorstellungen des Z w e i jahresplanes und den entsprechenden Vorgaben der Länder, die Museen soweit wie möglich für die Arbeit der Volksbildung einzuspannen. 920 Eigens dafür geschaffene Museumsbeiräte, die sich aus Vertretern demokratischer Parteien und Massenorganisationen zusammensetzten, sollten die Umsetzung des an die Institutionen gerichteten Volksbildungsauftrages überprüfen. 9 1 1 Gemäß den Forderungen des Ministeriums für Volksbildung eröffnete im Angermuseum 1 9 4 9 die ständige Abteilung WIEDERAUFBAU NACH DEM KRIEGE. Dies bedeutete jedoch nicht, dass Kunze sein Engagement für die Gegenwartskunst und den Expressionismus vernachlässigte. Ganz im Gegenteil: In zahlreichen Sonderausstellungen präsentierte er der Erfurter Bevölkerung zeitgenössische Kunst, die er ihr darüber hinaus in Vorträgen näher zu bringen versuchte. Lobend äußerte sich die ABENDPOST im Oktober 1 9 4 8 zu einem seiner Reden: »Indem Dr. Kunze in historischer Darstellung von den Tierzeichnungen der Steinzeit und der abstrakten Ornamentik der Völkerwanderungszeit an durch das Mittelalter bis in die Neuzeit zeigte, wie wirklichkeitsnahe und wirklichkeitsferne Gestaltungen einander ablösen, gab er der Erörterung über die Probleme der zeitgenössischen Kunst eine sichere Grundlage und führte sie aus den Niederungen polemischen Tagesstreitens auf die Ebene sachgerechter

_ E ¡ n e neue Kulturpolitik: Der Beginn der Formalismus-Debatte 1948/1949

Diskussion. Die Feststellung, daß in einer Zeit gewaltiger politischer und sozialer Handlungen und einer Neuformung des wissenschaftlichen Weltbildes auch die Kunst neue Wege sucht und neue Ziele ansteuert, half wesentlich, die Problematik der vielfältigen und widerspruchsvollen bildnerischen Bemühungen der Gegenwart zu entschlüsseln. >Auch wo wir sie nicht verstehen, wollen wir sie achten< lautete die Mahnung zu toleranter Haltung, mit der Dr. Kunze seine instruktiven Darlegungen schloß.« 511 Trotz der einschränkenden Forderungen von Seiten des Ministeriums für Volksbildung und der zunehmenden Verurteilung expressiver und abstrakter Gestaltungsformen, forderte Kunze einen toleranten und sachlichen Umgang mit der Kunst. Eindrücklich zeigt sich dieses Engagement in seinem wohl größten Projekt, die Errichtung einer GALERIE DER GEGENWART, die im Januar 1949 eröffnete. Dort präsentierte Kunze die moderne Malerei nach ihren Entwicklungslinien und den aktuell vorhandenen Tendenzen. Wie es in einem Bericht der THÜRINGISCHEN VOLKSZEITUNG hieß, strebte Kunze den Wiederaufbau der 1 9 3 7 durch die Nationalsozialisten zerstörten Gegenwartsabteilung an. 913 Z w a r konnte er dieses ambitionierte Vorhaben nicht realisieren, doch umfasste die moderne Abteilung des Angermuseums Anfang 1949 bereits fünf Räume. Allerdings musste Kunze in einem Brief an den ehemaligen Bauhäusler Josef Albers bedauernd zugeben, dass von den Meistern des Bauhaus nur Feininger vertreten sei.924 Insgesamt hatte Kunze nur wenige Neuerwerbungen tätigen können. Darunter befanden sich Grafiken von Barlach, Credei, Grosz, Hofer, Kokoschka, Mareks, Mueller, Pechstein, Rohlfs sowie die Grafikmappe DER KRIEG und einige Lithografien von Dix. Darüber hinaus hatte er einige Arbeiten von Heckel, Crodel, Strempel, Neriinger ein drittes Aquarell der DOM UND SEVERI-GRUPPE von Rohlfs und den FLÖTENSPIELER (1936) von Barlach erstanden.925 Ansonsten speiste sich die moderne Sammlung vor allem aus Leihgaben, unter anderem von Mac Zimmermann und Heinz Trökes, die 1948 kurzzeitig Professuren an der Kunsthochschule im nahe gelegenen Weimar inne hatten. 916 Aus diesen Leihgaben, Ankäufen und den am Museum verbliebenen Beständen setzte sich die moderne Abteilung zusammen. Zu sehen waren unter anderem Schmidt-Rottluff, Strempel und Rohlfs mit drei Varianten der DOM- UND SEVERI KIRCHE ebenso wie Feiningers Aquarell BARFÜSSERKIRCHE (1923), Blumenmotive von Nolde und Heckel, ein weibliches Bildnis von Kokoschka sowie Arbeiten von Hofer, Driesch, Barlach, Blumenthal und Mareks (Abb. 54).917

Eupho-

risch schrieb die ABENDPOST in einer Vorbesprechung der Ausstellung: »Im Angermuseum wird die Galerie der Gegenwart neu entstehen. Zwar sind im Jahr 1 9 3 7 die meisten und besten Werke der früheren Abteilung zeitgenös-

Die Museen

54

Lyonel

Feininger,

BARI ÜSSERKIRCHF.

II,

¡m Z w e i j a h r e s p l a n

1923, Aquarell, 40,2

Χ Ì I,X

. 2 0 5

cm,

Erfurt, Angermuseum

sischer Kunst beschlagnahmt und v e r k a u f t w o r d e n , aber aus den geretteten Beständen, N e u e r w e r b u n g e n und Leihgaben w i r d im Seitenflügel des Obergeschosses eine neue Galerie moderner M a l e r e i , G r a p h i k und Plastik a u f g e b a u t , die über die künstlerischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts unterrichtet.« 9~s Generell w a r e n die Pressereaktionen auf die G A L E R I E

DER

GEGENWART

äußerst positiv, und dies, o b w o h l zu diesem Z e i t p u n k t bereits heftig über Formalismus und Realismus in der Kunst diskutiert wurde. Z u verdanken ist dies vermutlich der Unterstützung, die Kunze von den städtischen Behörden erhielt. Dies lässt zumindest die Ansprache des Erfurter Stadtrates Lepinski bei der E r ö f f n u n g der modernen Abteilung vermuten, der darauf hinwies, wie wichtig es sei, keinen Kunststil auszuschließen, so dass die »teilweise widerspruchsvolle M a n n i g f a l t i g k e i t der Inhalte und Formen« den Betrachter zu einer persönlichen Entscheidung herausfordere. 9 2 9 Dass diese »widerspruchsvolle M a n n i g f a l t i g k e i t « einer Rechtfertigung bedurfte, verdeutlicht dagegen ein Artikel in der A B E N D P O S T , in dem es hieß:

2 0 6 _ E ¡ n e neue Kulturpolitik: Der Beginn der Formalismus-Debatte 1948/1949

»Vom Expressionismus bis zum Surrealismus werden hier in exemplarischen Werken der Malerei, der Graphik und der Plastik die verschiedenen Phasen der künstlerischen Entwicklung unseres Jahrhunderts sichtbar. Entwöhnte und ungeübte Augen werden vor manchem Stück befremdet oder gar schockiert sein, mag es sich nun um fast historisch anmutende Schöpfungen von Rohlfs, Heckel, Kokoschka, Otto Mueller, Beckmann oder um Arbeiten von Hofer, Trökes, Hofmann, Strempel, Neriinger und Gerhard Mareks handeln, die im Brennpunkt aktueller Diskussionen über Wesen und Weg der Kunst stehen. Die Tatsache, daß gerade auch problematische Werke zur Schau gestellt sind, bedeutet nicht, daß sich die Museumsleitung mit jedem Stück identifiziert. Es ist vielmehr nur eine Pflicht der Objektivität erfüllt, und als Antwort auf den Versuch, die widerspruchsvollen künstlerischen Bestrebungen der Gegenwart im Querschnitt zu zeigen, muß die gleiche Toleranz von den Besuchern erwartet werden. Im übrigen bleibt zu bedenken, daß eine zeitgenössische Galerie als Feld der Auseinandersetzung niemals fertig ist, und daß sich im Wechsel ihres Bestandes und in lebendigem Kontakt mit dem künstlerischen Geschehen immer wieder neue Akzentsetzungen ergeben. Am besten man komme - nicht nur einmal und schaue.« 9 3 0 Deutlich strich der Autor die Distanz der Museumsleitung gegenüber den ausgestellten Arbeiten heraus und berief sich auf ihre museale Verpflichtung einen Querschnitt über die »widerspruchsvollen künstlerischen Bestrebungen der Gegenwart« zu liefern. Trotz der vorsichtigen Wortwahl des Rezensenten kann man in Erfurt von einem relativ toleranten Umgang mit dem künstlerischen Erbe des ersten Jahrhundertdrittels und den in die Kritik geratenen zeitgenössischen Tendenzen sprechen. Eine ähnliche Situation schien in Chemnitz zu bestehen. Fast zur gleichen Zeit wie in Erfurt erweiterte Schreiber-Weigand dort die Ausstellungsräume und eröffnete 1 9 4 9 im Schlossbergmuseum die Abteilung DIE KUNST DER LETZTEN 1 0 0 JÄHRE (MALEREI UND PLASTIK). 9 3 1 Ein halbes Jahr früher, im August 1 9 4 8 , hatten die Kunstsammlungen bereits zu einer Präsentation ihrer Neuerwerbungen und Leihgaben seit 1 9 4 5 geladen. Lobend hob die CHEMNITZER VOLKSSTIMME Schreiber-Weigands Engagement für die moderne Kunst hervor: »Es ist geradezu erstaunlich, wie planmäßig in den drei Jahren seit Kriegsende trotz unendlichen Nöten die Städtische Kunstsammlung unter der Leitung von Direktor Schreiber-Weigand die Lücken, die nazistischer Unverstand gerissen, wenigstens einigermaßen wieder zu schließen verstanden hat.«931

Die M u s e e n im Zweijahresplan _ 2 0 7

55

Karl Schmidt-Rottluff,

98,2 χ

DIU GELBF.N

BI.UMEN,

1 9 3 2 , ÖL a u f

1 1 2 , 8 cm, Chemnitz, Kunstsammlungen, Leihgabe aus

Leinwand. Privatbesit/

Ausgestellt waren unter anderem die von Schmidt-Rottluff als Leihgaben ans Museum gegebenen Gemälde KÜCHENFENSTER ( 1 9 3 2 ) , DIE GELBEN BLUMEN ( 1 9 3 2 ) und M E E R E S S C H N E C K E N

(um 1 9 4 5 ) Sowie ZWEI

MÄDCHEN

(1927)

von

Mueller, W E I N B E R G H A U S von Paul Wilhelm, R U S S I S C H E S B E G R Ä B N I S von R o -

bert Steri, die Plastiken GENIUS und SCHREITENDER von Kolbe, CENERENTOLA ( 1 9 4 1 ) von Mareks, VERLORENER SÖHN ( 1 9 3 5 ) von Blumenthal, ein Selbstbildnis von Scheibe, einige Tierplastiken von Gaul sowie eine Skulptur von Minne (Abb. ss)· Auch einige Künstler der Region waren berücksichtigt worden. Grafiken von Pechstein, Hofer, Steri, Dix, Kollwitz, Mareks und Uhlmann, dessen FIGURENKOMPOSITION,

wie der Autor der C H E M N I T Z E R

VOLKSSTIMME

a n g a b , als

Beispiel für die Absichten der Modernen ausgewählt worden war, vervollständigten das Bild. 9 1 ' Neben der Dauerausstellung zeigte Schreiber-Weigand regelmäßig temporäre Präsentationen, wie von Hans Theo Richter ( 1 9 4 7 ) , Josef Hegenbarth und Otto Mueller (1947). 9 3 4 Letztere hatte er von den Kunstsammlungen in Dresden übernommen. In den Jahren 1 9 4 8 / 1 9 4 9 folgten unter anderem Ausstellungen von Paul

2 0 8 - E i n e neue Kulturpolitik: Der Beginn der Formalismus-Debatte 1948/1949

Wilhelm, dem französischen Impressionismus und Erich Heckel. In den Kritiken der lokalen Presse zur Heckel-Ausstellung kann man dann doch ablesen, dass die Formalismus-Diskussion langsam auch in Chemnitz ihre Spuren hinterließ. Heckeis Arbeiten wurde ein revolutionärer Pathos einer zurückliegenden Zeit bescheinigt, der nur noch gedämpft und wie von fern an die Besucher herantrete. Ein Rezensent sah darin die »Tragödie eines Aufstandes, der nicht die K r a f t hatte, Umwälzung zu werden und rückkippte ins Gegenteil. Nicht nur Schwäche des Künstlers: Kann man von ihm verlangen, was die Gesellschaft nicht vermag?« 9 3 5 Anders als in Chemnitz, Erfurt oder Dresden ging der A u f b a u einer modernen Abteilung in Weimar nur schleppend voran. Erst im Juni 1 9 4 8 konnte Walter Scheidig einen Teil der ständigen Sammlung im Schlossmuseum eröffnen. Wie aus einem Brief an das Thüringische Ministerium für Volksbildung ersichtlich wird, wollte Scheidig dort unter anderem Bilder der Weimarer Malerschule und der Malerei der Gegenwart zeigen, letztere sollten vor allem durch lokale Maler wie Walter Klemm, Otto Herbig oder Heinrich Burkhardt und das Kunsthandwerk des Weimarer Bauhauses vertreten werden. 9 ' 6 Die Genehmigung zur Eröffnung wurde ihm von Gerhard Strauss von der Zentralverwaltung für Volksbildung aufgrund einiger Kritikpunkte nur unter Vorbehalt erteilt. Strauss w a r am 24. Juni 1 9 4 8 zur »Abnahme« nach Weimar gekommen. Um die von ihm geäußerten Kritikpunkte auszuräumen, bereitete Scheidig bereits im Februar

1 9 4 9 eine Revision

der

Sammlung vor. Die Gegenwartskunst ließ sich seines Erachtens aufgrund der immer unzureicherenden Mittel, die allenfalls noch sporadische Ankäufe erlaubten, nicht mehr adäquat darstellen. Daher wollte Scheidig den Versuch einer neuen Synthese der Künste unter dem Primat der Architektur unternehmen. Neben den Räumlichkeiten für die Kunst des Impressionismus und des Bauhauses sollten auch die Hochschule für Baukunst und bildende Kunst zwei Räume bekommen, in denen die Studenten wechselnde Gemeinschaftsarbeiten, Einzelwerke oder Projekte ausstellen durften. 9 3 7 Damit griff Scheidig ein Konzept auf, das Koehler bereits in den zwanziger Jahren an den Weimarer Sammlungen eingeführt hatte. Deutlicher als an den Kunstsammlungen machten sich an der Weimarer Kunsthochschule die Auswirkungen der Formalismus-Debatte bemerkbar. Es waren vor allem die 1 9 4 7 berufenen Berliner Maler Heinz Trökes und M a c Zimmermann, die innerhalb des Kollegiums der Hochschule für Baukunst und Bildende Künste heftige Kontroversen auslösten. Beide vertraten einen autonomen Kunstbegriff, nach der die Dozenten möglichst wenig Einfluss auf die Studenten ausüben sollte. Nachdem ihnen eine Professur verweigert worden war, reichten beide zum 1 . April 1 9 4 8 ihre Kündigung ein. 938 Eine Konsequenz dieser Streitigkeiten w a r sicher die Überprüfung der Hochschule durch die Zentralverwaltung für Volksbildung, die im Juli 1948 von Strauss durchgeführt wurde. Dieser bemängelte den herrschenden

Der »Hallenser Museumsstreit« _ 209

Pluralismus in der Kunstauffassung der Professoren und die »teils zu formalistischen Spielereien«, woraufhin eine Umbesetzung der Abteilungsleitung erfolgte, die zu einer grundlegenden Richtungsänderung im Lehrprogramm führte. 9 3 9 Anders als bei der Kunsthochschule hatten die von Strauss für die Kunstsammlungen in Weimar geäußerten Verbesserungsvorschläge zunächst keine ernsten Konsequenzen. Auch die meisten anderen Museen schienen von der FormalismusDiskussion die Künstler, Kritiker und Parteifunktionäre verstärkt seit 1 9 4 8 / 1 9 4 9 führten, trotz manch kritischer Stimme in der Presse, nicht unmittelbar betroffen zu sein. Dies trifft allerdings nicht auf alle Sammlungen zu, die es sich nach 1 9 4 5 zur Aufgabe gemacht hatten die vormals »entartete« Vorkriegskunst wieder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

DER » H A L L E N S E R M U S E U M S S T R E I T «

In Halle hatte der Stadtrat im November 1 9 4 7 den Kunsthistoriker Gerhard Händler zum neuen Direktor des Moritzburgmuseums berufen. Sein zentrales Anliegen war, die 1 9 3 7 von den Nationalsozialisten zerschlagene expressionistische Sammlung so weit wie möglich zu rekonstruieren. N u r so konnte seiner Meinung nach, der Anschluss an das zeitgenössische Kunstgeschehen gelingen. Das Hallenser Museum kannte Händler bereits aus den Zeiten von Alois Schardt. An die von ihm und M a x Sauerlandt begründete Tradition versuchte er nun anzuknüpfen. Werner Meyer-Günther, Referent für Bildende Kunst im Kultusministerium, erklärte sich bereit, ihm aus den Mitteln der Landesregierung Sachsen-Anhalt Ankäufe kostspieliger Arbeiten zu finanzieren und als staatliche Leihgaben zu überlassen. Die Gelder standen also bereit, jetzt stellte sich die Frage, wie er an geeignete Werke für die Sammlung kommen konnte. In Halle w a r nach Worten Händlers »nicht viel zu holen«, so dass er und Meyer-Günther sich in den Berliner Galerien umsahen. 940 Doch es w a r vor allem Ferdinand Möller, der für die Rekonstruktion der modernen Sammlung in Halle eine besondere Rolle spielte. Schon 1 9 4 6 hatte der Kunsthändler bei seiner Auseinandersetzung mit Gerhard Strauss bezüglich der Hallenser Bilder auf der Dresdner Kunstausstellung sein Entgegenkommen signalisiert. In einem Brief an Strauss erklärte er sich bereit, die »von der Galerie Möller aus der Aktion >Entartete Kunst< vom Reich erworbenen und geretteten Werken den deutschen Museen und damit dem deutschen Volke wieder zugänglich zu machen«. Auf Anfrage wollte er diese den Museen zunächst als Leihgabe zur Verfügung stellen und später gegebenenfalls über einen Ankauf verhandeln. 9 4 1 Händler setzte sich erstmals im Januar 1 9 4 8 mit dem Kunsthändler in Verbindung. In einem Brief bat er, die »um das Kirchner- und Heckelbild schwebenden Fragen zu erörtern«. 9 4 2 Die

210 _ Eine neue Kulturpolitik: Der B e g i n n der Formalismus-Debatte 1948/1949

56

Erich Heckel. BEIM FRISEUR, 1 9 1 3 , Öl auf Leinwand,

9 5 , 1 X 7 1 , 8 cm, Halle, Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt

beiden waren jedoch nicht die einzigen Gemälde, die Möller aus den ehemaligen Beständen der Moritzburg besaß. Möller und Händler verabredeten ein Treffen in Berlin. Kurze Zeit später gab Möller sechs Bilder nach Halle. In dem mit der Landesregierung ausgehandelten Kaufvertrag vom Z3. September 1948 waren Feiningers DOM z u HALLE ( 1 9 3 I ) , Heckeis BARBIERSTUBE KÄMMENDER

AKT

( 1 9 1 3 ) und FRÜHLING

sowie

AKTE

IM

IN F L A N D E R N , K i r c h n e r s

STRANDWALD

(1913)

und

das

SICH

Mosaik

LEGENDE ( 1 9 Z 5 ) von Schmidt-Rottluff verzeichnet (Abb. j6). Bis auf Kirchners AKTE IM STRANDWALD waren alle Werke vor dem Krieg im Eigentum des Museums gewesen. Da Heckeis FRÜHLING IN FLANDERN und Kirchners SICH KÄMMENDER AKT noch von der Sächsischen Landesregierung unter Verschluss gehalten wurden, schickte Möller zunächst Kirchners Gemälde ATELIERECKE

-

aus dem ehemaligen Besitz der Nationalgalerie in Berlin - und von Heckel LANDSCHAFT

MIT

PFLÜGENDEM

BAUERN

( 1 9 2 3 ) , die s p ä t e r d u r c h die D r e s d n e r -

Der »Hallenser Museumsstieit« _ 211

Bilder ersetzt werden sollten.943 Nur fünf Tage später wurde die Kaufvereinbarung in einen Leihvertrag umgewandelt. Allein das Mosaik LEGENDE von Karl SchmidtRottluff ging - bereits bezahlt - in den Besitz des Museums über.944 Von Anfang an als Leihgabe von Möller vorgesehen war Kandinskys IMPROVISATION (1914). Neben Möller stellten Hallenser Privatsammler Kunstwerke für die Erweiterung der Galerie zur Verfügung. Arnold Buzies lieh dem Museum das Gemälde KÜHE IM WALDE ( 1 9 1 9 ) von Kirchner und der Industrielle Felix Weise ROTE DÜNE ( 1 9 1 3 ) und TREIDELNDE FISCHER ( 1 9 2 1 ) von Schmidt-Rottluff sowie einige französische Werke von Dufy, Othon und Friesz. Im gleichen Zeitraum versuchte Händler zu ermitteln, wo sich Emil Noldes Gemälde ABENDMAHL befand, da er es gerne als kunst- und museumsgeschichtlich wichtiges Werk für die Sammlung zurückerworben hätte. Trotz ausgiebigem Schriftwechsel mit Nolde fand er es nicht heraus. Erst viel später gestand ihm der Künstler, dass sich das Gemälde damals in seinem persönlichen Besitz befand. 945 Wenn Gerhard Händler auch auf Noldes ABENDMAHL verzichten musste, konnte er durch die Neuerwerbungen und Leihgaben sowie dem Altbestand die moderne Abteilung zusammen mit dem übrigen Museum am 7. Oktober 1948 wieder der Öffentlichkeit zugänglich machen. 946 Die Eröffnung wurde ein voller Erfolg. Allerdings hatte es im Vorfeld ein kleines Zwischenspiel gegeben. In diesem kündigten sich die neuen kulturpolitischen Forderungen und die damit in Zusammenhang stehenden Ereignisse, die sich Anfang 1949 an der Moritzburg abspielen sollten, bereits an. Der Hallenser Kulturoffizier der SMA, Hauptmann Edelberg, hatte sich ohne jegliche Begründung die Ankaufslisten für die Moritzburg sowie den mit Möller zum Abschluss gebrachten Vertrag verschafft. 947 Damit erschien Edelberg Ende September 1948 in der Moritzburg und wünschte, die auf der Liste verzeichneten MEDITATIONEN (1934) von Jawlensky und die Gemälde von Pechstein und Strecker zu sehen. Im selben Raum, in dem sich genannte Bilder befanden, hing auch die IMPROVISATION ( 1 9 1 4 ) von Kandinsky, an der sich der Zorn des Kulturoffiziers entzündete (Abb. j/J.

Er warf Händler und dem dazu gestoßenen Meyer-Günther vor, Volks-

vermögen zu vergeuden und drohte, die Oberleitung von dem Gemälde in Kenntnis zu setzen.948 Trotz der Verwarnung blieb die Begegnung jedoch vorerst ohne Folgen. 949 Am Tag der Eröffnung kamen noch einmal zwei sowjetische Kulturoffiziere ans Haus, welche die Präsentation in Augenschein nahmen, jedoch nichts zu beanstanden hatten. 9S ° Die Feierlichkeiten verliefen ohne Zwischenfälle. Dass die Formalismus-Debatte trotzdem schon in der Stadt und in den Köpfen angekommen war, bewies die Rede von M a x Pechstein zur Einweihung der Abteilung. Dieser beglückwünschte das Moritzburgmuseum zunächst zu seiner Vollendung und be-

2 1 2 _ Ein e n e u e K u l t u r p o l i t i k : D e r B e g i n n d e r F o r m a l i s m u s - D e b a t t e 1 9 4 8 / 1 9 4 9

57

U n b e k a n n t e r F o t o g r a f . M o d e r n e Abteilung des M o r i t z b u r g m u s e u m in Halle, 1 9 4 8

( R a u m mit Arbeiten v o n Wassily K a n d i n s k y und Alexej J a w l e n s k y ) , Halle, Bildarchiv der Stiftung M o r i t z b u r g , K u n s t m u s e u m des Landes Sachsen-Anhalt

tonte dessen Bedeutung und Einmaligkeit sowohl im Osten als auch im Westen des Landes. Doch nutzte er die Gelegenheit, Stellung zur aktuellen Kunstdiskussion zu beziehen und sich gegen eine Bevormundung der Künstler und für eine »gesunde [sachliche] Opposition gegenüber der neuen Kunst« auszusprechen. 9 5 1 Eine freie, pluralistische Sammeltätigkeit hielt auch Händler für unabdingbar. Dies wird anhand seiner zur Eröffnung herausgegebenen Schrift deutlich, in der er seine Pläne und Konzeptionsvorstellungen für die moderne Abteilung darlegte: »Das Moritzburgmuseum in Halle hatte in Zeiten freier Kunstentwicklung seine eigene Aufgabe und seine eigene Form gefunden. Allein ein lebendiges Wiederanknüpfen an die Leitsätze seiner Blütezeit gibt die Gewähr für einen neuen Aufstieg. Der Wiederaufbau wurde von dem Gedanken getragen, die dem Museum zugefügte Schädigung soweit als möglich wettzumachen und darüber hinaus Wege zur Z u k u n f t anzudeuten. [...] Das hallische Museum kann sein Eigenrecht, seine Existenz unter den großen deutschen Galerien wirklich am besten, ja eigentlich nur dann behaupten, wenn es auch fernerhin planvoll als Galerie der lebendigen Kunst ausgebaut w i r d . « 9 5 1

Der »Hallenser Museumsstreit« _ 213

58

Unbekannter Fotograt.

M o d e r n e A b t e i l u n g d e s M o r i t z b u r g m u s e u m s in H a l l e .

( R a u m mit Arbeiten von Wilhelm L e h m b r u c k , Lyonel Feininger, Karl Schmidt-Rottluff und M a x Halle, Bildarchiv der Stiftung M o r i t z b u r g , K u n s t m u s e u m des Landes

Sachsen-Anhalt

Für Händler stand dabei außer Frage, dass zu diesem Ausbau einer »Galerie der lebendigen Kunst« auch ein Wiederanknüpfen an die Tendenzen des ersten Jahrhundertdrittels gehörte. In der Sammlung sollte sich die Kontinuität der deutschen bildenden Kunst - insbesondere der Malerei - vom frühen 19. Jahrhundert bis 1 9 4 8 spiegeln. Der Rundgang begann mit Arbeiten des Hallenser DeutschRömers Adolf Senff gefolgt von Blechen, Runge, Schwind, Feuerbach, von Marées, Spitzweg, Thoma und Constable. Danach kündigte sich die Moderne mit Werken von Trübner, Slevogt, Corinth, Leibi, Schuch und zwei frühen Bildern von Beckmann an. Es folgten, wie Heinz Lüdecke in seiner umfangreichen Rezension zur Wiedereröffnung beschrieb, die »reichhaltig repräsentierten« Maler der BRÜCKE, zwei große figürliche Kompositionen von Ernst Wilhelm Nay, WEISSE KATZE ( 1 9 1 2 ) von Franz Marc, eine etwas »wilde aber geschichtlich wichtige Abstraktion von Kandinsky«, die MEDITATIONEN von Jawlensky sowie Arbeiten von Klee und Feininger (Abb. j8).

1948

Pechstein),

Rohlfs war ein eigenes Kabinett gewidmet. Der Saal, in dem

die »soziale Thematik« vorherrschte, überraschte, so Lüdecke, durch das Schützengrabentriptychon von Dix, welches zusammen mit Hofers MANN AM FENSTER ( 1 9 Z 7 / 1 9 3 0 ) und Arbeiten von Strempel und Kollwitz gehängt war (Abb. 59)· Weiter ging es mit dem »Franzosensaal«, in dem um eine Komposition von Gleizes,

214 _ Eine neue Kulturpolitik: Der Beginn der F o r m a l i s m u s - D e b a t t e

59

1948/1949

Unbekannter Fotogral. M o d e r n e A b t e i l u n g des M o r i t z b u r g m u s e u m s in H a l l e , 1 9 4 8

( R a u m mit A r b e i t e n v o n O t t o D i x , K ä t h e K o l l w i t z und H o r s t Strempel), H a l l e , B i l d a r c h i v der S t i f t u n g M o r i t z b u r g , K u n s t m u s e u m des L a n d e s S a c h s e n - A n h a l t

ein Vlaminck, ein D u f y und verschiedene Bilder deutscher Künstler gruppiert waren, die französische Einflüsse erkennen ließen. Namentlich nannte Lüdecke Oskar Moll, Rudolf Levy, Franz Heckendorff, Hans Purrmann, Anton Kerschbaumer und Horst Strempel. Die nächsten Räume führten in das »jüngere und jüngste Kunstschaffen aller Richtungen ein, in denen neben Mitteldeutschland (Crodel, Herbig, Gilles, Lange, Schmidt-Kirstein, Hegenbarth) besonders Berlin berücksichtigt« war. Paul Strecker, Alexander Camaro, Werner Heidt, Curt Lahs und andere hatten dort ihren Platz gefunden, ebenso wie der verstorbene Neoverist Georg Schrimpf und Alfred Partikel. 953 Plastiken von Lehmbruck, M a r c , Blumenthal, Mareks, Seitz, Heiliger und Grzimek waren auf alle Räume verteilt. Lüdecke pries die Wiedereröffnung als eine »Kulturtat europäischen Ranges, um eine Leistung, die den R u f , den Deutschland einst als Pflege- und Bewahrungsort der Kunst genoß, zu einem Teil wiederherstellt [...][und] eine Fülle so starker Eindrücke [vermittelt], daß die Rehabilitierung seines internationalen Namens außer Zweifel steht. Die Landesregierung, die Stadtverwaltung und die Besatzungsbehörden dürften mit große-

Der »Hallenser M u s e u m s s t r e i t « _ 215

rem Stolz auf dieses Resultat ihrer freiheitlichen Kulturpolitik und ihres planenden Eifers blicken.«' 5 4 Der Verweis auf die »freiheitliche Kulturpolitik« erscheint im Hinblick auf die »Besuche« der S M A D im Moritzburgmuseum und die sich zuspitzende Diskussion um Aufgabe und Form der zeitgenössischen Kunst zynisch. Hinzu kommt, dass die »Lobpreisungen« Lüdeckes in starkem Kontrast zu seiner Argumentation des im folgenden J a h r publizierten Aufsatzes DIE TRAGÖDIE DES EXPRESSIONISMUS stehen. Z w a r forderte er bereits in seinem Artikel zur Eröffnung des Moritzburgmuseums die Ergänzung der Sammlung durch sozial engagierte Arbeiten von Grosz, Neriinger, Ehmsen, Duda und Grundig, vermisste aber gleichzeitig Werke von Nolde, Macke, Kokoschka und einiger anderer Expressionisten. Deren historische Stellung erkannte Lüdecke zwar auch später noch an, doch sollte er sie als nicht zukunftsträchtig verurteilen. 955 In anderen Rezensionen fand die Wiedereröffnung des Hallenser Museums ebenfalls ein positives Echo, obwohl die meisten Artikel die fehlende Präsenz der sozialen Thematik beklagten. So hieß es in der FREIHEIT vom 8. Oktober 1 9 4 8 : »Soweit der Blick in der sowjetischen Z o n e auch schweifen mag, eine Kunstsammlung von einer derartigen Geschlossenheit dürfte nicht aufzufinden sein. Dabei sei Berlin ausdrücklich eingeschlossen. Aber auch die anderen Zonen werden eine derartige Sammlung kaum aufzuweisen haben. Freilich beschränkt sie sich auf die letzten 1 5 0 Jahre [...]. Freilich wird die seit Jahren währende Diskussion über das Wesen der Kunst wieder neu entflammt. [...] Schon vor der Eröffnung ist über die Zweckmäßigkeit dieser Veranstaltung gestritten w o r d e n . « ' 5 6 Kritik brachte der Autor vor allem gegenüber den »Hypermodernen« Kandinsky und Klee vor, denen er nur aus pädagogischer Sicht ein Gastrecht zubilligte: »Betrachtet man die Ausstellung von der pädagogischen Seite her, dann sind wohl auch die Auswüchse experimentell darzulegen, wenn man zeigen will, wie es nicht gemacht werden soll. Und darum geht letzten Endes der Kampf mit den jungen Künstlern der Gegenwart, die sich mit den Problemen der Gegenwart auseinanderzusetzen h a b e n . « ' 5 7 Wenige Monate später, im Februar 1 9 4 9 , äußerte sich Erich Vogt in der BILDENDEN KUNST über die Neueröffnung des Moritzburgmuseums. Mittlerweile hatte sich die Formalismus-Debatte weiter zugespitzt. Dennoch stellte Vogt in

216 _ Eine neue Kulturpolitik: Der Beginn der F o r m a l i s m u s - D e b a t t e

1948/1949

seinem Artikel die Bedeutung des deutschen Expressionismus für die Entwicklung der modernen europäischen Kunst nicht in Frage. Der Expressionismus sei Ausdruck der drängenden, wenn auch ungelösten sozialen Probleme die im Umfeld des Ersten Weltkrieges entstanden waren, und sei damit ein »unentbehrliches Mittel der geschichtlichen Selbsterkenntnis«. Er hielt es für sinnvoll, dass die Neuerwerbungen der Hallenser Galerie sich vornehmlich auf diese Epoche konzentrierten. 958 Doch hielt auch er einen Ausbau der erst im Ansatz vorhandenen Sammlung von Kunstwerken sozialen Inhalts für notwendig: »Damit würde das Gegengewicht gegen die formalistischen Tendenzen verstärkt werden, die sich ohnehin - die künstlerische Situation nach

1945

spiegelnd - vordrängen. Eine richtige Museumspolitik könnte die Entwicklung in die wünschenswerte Richtung lenken helfen, indem sie durch Auswahl und geschicktes Hängen Beispiele des Gesunden und Zukünftigen herausstellte.« 959 Auch wenn Vogt den Erwerb von Arbeiten aus dem ersten Drittel des zo. Jahrhunderts zur Veranschaulichung des künstlerischen Erbes und als »unentbehrliches Mittel der geschichtlichen Selbsterkenntnis« anerkannte, sah er in ihnen keine Tradition, an die es anzuknüpfen galt. Vielmehr sollte dem Betrachter durch eine kontrastierende Hängung das »Gesunde« vor Augen geführt werden. Dagegen sah die ZEITSCHRIFT FÜR KUNST durch die Hallenser Präsentation die Möglichkeit gegeben, »die deutsche Malerei von der Goethezeit bis zur Gegenwart in treffenden Beispielen kennenzulernen.« Z w a r würde der zeitübergreifende Wert der Sammlung vermutlich erst allmählich von der breiten Öffentlichkeit als Bildungsmittel anerkannt, doch sei die Diskussion darum bereits lebhaft im Gange. Die Debatte werde dazu beitragen, »den Begriff der Kunst, besonders im Hinblick auf ihre jüngsten Strömungen, weiter zu klären und auch den ihr noch Fernerstehenden von der Notwendigkeit ihres Daseins als höchstem Ausdruck des Lebensgefühls für eine Epoche zu überzeugen und ihm die Augen [zu] öffnen für die tiefen und ernsten Schönheiten wahrhaften Schöpfertums. « 960 Trotz der gemeinhin positiven Resonanz von Publikum, Malern und Kunstkritikern zog Händlers Ankaufspolitik und Gestaltung des Museums den Unmut der Parteiführung der SED auf sich. Bereits kurz nach der Eröffnung hatte es aus den Hallenser Reihen im Ministerium für Volksbildung erste Anzeichen gegeben, dass gegen Händler und Meyer-Günther intrigiert wurde, was sich durch MeyerGünthers fristlose Entlassung Ende Oktober 1 9 4 8 bestätigte. 961 Für Händler spitzte sich die Situation zu, als Gerhard Strauss von der Zentralverwaltung für Volksbildung im Januar 1 9 4 9 zu einer Museumsprüfung nach Halle kam. 9 6 1 Dort ange-

Der »Hallenser Museumsstreit« _ 217

Marktkirche in H a l l e

DAS MORITZBURGMUSEUM IN HALLE/S.

Chrisfuskopt aus d e m A b e n d m a h l (193? beschlagnahm!)

60

Broschüre zur Eröllnung des Moritzburgmuseums in Halle, 1948

kommen, wies er Händler mit den ersten Begrüßungsworten auf seine Eröffnungsschrift hin und erklärte sie für konfisziert. Auslöser war nach Auffassung Händlers der Bildausschnitt aus dem ABENDMAHL von Emil Nolde, da Nolde nach Worten von Strauss »aktiver Vorkämpfer Adolf Hitlers gewesen sei«. 9 6 ' Das Gemälde war gemeinsam mit Feiningers MARKTKIRCHE ( 1 9 3 0 ) , Kokoschkas SELBSTBILDNIS ( 1 9 1 4 ) und Marcs Reh-Studie im Katalog abgebildet (Abb.

60). Die Broschüre

wurde sichergestellt. Aber nicht nur diese. Auch die von Ferdinand Möller zur Verfügung gestellten Kunstwerke erklärte Strauss für beschlagnahmt, zumindest so lange, bis Möller die Herkunft der Bilder nachgewiesen habe. 9 '' 4 Schon Anfang Dezember 1948 hatte sich der Kunsthändler in einem Brief an Händler über die kulturpolitischen Entwicklungen beunruhigt gezeigt: »Es freut mich, daß das Museum zunächst noch in der 1 . Fassung geblieben ist, aber ich kann mich von der Sorge nicht befreien, daß eines Tages, zumal nach dem Aufsatz von Dymschitz in der Täglichen Rundschau es doch zu größeren Auseinandersetzungen kommen wird und was machen wir dann mit meinen Leihgaben?« 9 6 5

218

Eine neue Kulturpolitik: Der Beginn der Formalismus-Debatte 1948/1949

Die Bilder blieben, bedingt durch den Beschluss der Zentralverwaltung für Volksbildung von 1 9 4 6 , in dem die Rückführung »entarteter« Kunst an ihre ursprünglichen Besitzer festgelegt worden war, weiterhin im Museum. 9 6 6 Möller, der im Sommer 1 9 4 9 die S B Z verließ, sollte sie trotz zahlreicher Anfragen nicht zurück erhalten. A m 22. März 1 9 5 3 informierte ihn das Moritzburgmuseum, dass die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten (StaKoKu) eine Rückgabe der Bilder bis auf weiteres nicht in Betracht zog.' 6 7 Nachdem Strauss Händler sein Beschlagnahmungsvorhaben unterbreitet hatte, folgte ein Rundgang durch das Museum. Dort lobte Strauss, der vor dem Krieg bei Wilhelm Worringer an der Universität Königsberg studiert hatte, einerseits die Qualität der Neuerwerbungen, äußerte andererseits jedoch immer wieder scharfe Kritik. Seiner Meinung nach müsse sich ein Museum in einer Region wie Halle, das sich mitten in einem ausgedehnten Industriegebiet befinde und in dem ein Großteil der Einwohner dem Arbeiterstand angehöre, nach dem Verständnis der Bevölkerung, ihren Interessen und Gewohnheiten richten. Diese Aufgabe erfüllte die moderne Abteilung der Moritzburg seiner Meinung nach nicht. Strauss fragte, warum Händler keine Arbeiten von Baluschek, Zille, Neriinger oder den beiden Grundigs erworben hätte, die alle Ansätze zu einer neuen Kunst zeigten, welche die bürgerliche Dekadenz ablösen wolle. Händler entgegnete, dass Meyer-Günther und ihm die »Erinnerung an das alte Moritzburgmuseum, wie es erfahrene Vorgänger geprägt hatten, vor Augen gestanden habe«, als sie den Wiederaufbau durch den Erwerb von Arbeiten der Expressionistengeneration und ihrer Gefährten vom BLAUEN REITER und Bauhaus in die Wege geleitet hätten. Daraufhin machte Strauss geltend, dass man mit »Realitäten« umgehen müsse. Die von ihm genannten Künstler seien Wegbereiter einer neuen, fortschrittlichen Kunst, die Expressionisten dagegen der Widerschein des Faschismus. 968 Händler rechtfertigte seine Ankaufspolitik indem er Strauss zu erklären versuchte, dass er neben expressionistischer Kunst, die früher die moderne Sammlung dominiert habe, auch andere Tendenzen zu Wort kommen lasse. Neben neusachlichen Arbeiten, wie etwa von Schrimpf und Partikel, seien viele der jüngeren Generation im Museum vertreten. Insgesamt habe er sich bemüht, einen möglichst breiten Überblick von der Kunst des beginnenden 1 9 . Jahrhunderts bis in die Gegenwart zu liefern. 969 Die beim Rundgang angeklungenen Streitpunkte wurden im Anschluss in einer vierstündigen Besprechung, bei der weitere Angestellte der Zentralverwaltung für Volksbildung zugegen waren, fortgeführt. Wie aus seinem Bericht vom 2 1 . Januar 1 9 4 9 über den Verlauf der Unterredung hervorgeht, erkannte Strauss die Leistung des Wiederaufbaus vom rein musealen Standpunkt durchaus an, bemängelte jedoch das Fehlen gesellschaftspolitischer Gesichtspunkte und von Kunstwerken »realistischen Stils«. Die Ankäufe Händlers seien nach rein subjektiven Gesichtspunkten

Der » H a l l e n s e r M u s e u m s s t r e i t « _ 219

getätigt worden, dessen Ergebnis ein »Klassenmuseum« sei. Strauss schlug vor, Werke von Baluschek, Kollwitz, Masereel, Nagel und Neriinger einzufügen und am Eingang zu den Räumen des Expressionismus ein Hinweisschild mit der Aufschrift: »bürgerliche Verfallskunst und Ansätze zur neuen Gestaltung« anzubringen. 970 Händler ging nicht explizit auf die drastischen Umgestaltungsvorschläge

von

Strauss ein. Vielmehr betonte er seine Bemühungen sozialkritische Kunstwerke zu erwerben, von denen ihm jedoch viele von bedenklicher Qualität erschienen. Vor allem gegenüber den Arbeiten von Nagel und Neriinger äußerte er Zweifel, ebenso wie zu denen von Felixmüller, der auf Wunsch des neuen Referenten im Kultusministerium und der S M A D eine große Ausstellung im Moritzburgmuseum erhalten sollte. 97 ' Strauss ließ sich von Händlers Einwänden nicht beirren. Vielmehr regte er zusätzlich noch eine Präsentation älterer Kunst mit dem im Zuge der Bodenreform beschlagnahmten Besitz der Schlösser und Herrensitze an, die im April 1 9 4 9 zeitgleich mit einer öffentlichen Diskussion über aktuelle Fragen der Kunst stattfinden sollte. Händlers eigene Ausstellungspläne wurden nicht berücksichtigt. 971 Stattdessen wurde er nach Abschluss des Gesprächs dazu aufgefordert, ein Konzept anzufertigen, das den Vorstellungen von Strauss entsprach und es binnen 1 4 Tagen bei der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in Berlin einzureichen. 973 Damit w a r der Besuch beendet. In einer Aktennotiz vom 25. Januar 1 9 4 9 legte Strauss seinen Eindruck über die Zustände an der Moritzburg noch einmal ausführlich dar. Seiner Meinung nach entsprachen sie in keinster Weise den Zielen einer fortschrittlichen Museumsarbeit: »Die durch Dr. Händler aufgebaute Galerie entspricht dem Typus der Museumsgalerie, wie sie aus früheren Zeiten bekannt ist. Sie beschränkt sich auf eine vornehmlich ästhetischen Gesichtspunkten folgende und in ihrer Auswahl sehr subjektive Darstellung des Ablaufs der bildenden Kunst bei betontem Schwergewicht bei der sogenannten modernen Kunst. Entgegen der Besprechungen im Februar v.J. ist ein Versuch, auch mit Hilfe des kunsthistorischen Materials Auskunft zu geben über die gesellschaftliche Entwicklung, nicht gemacht worden. Fehlen tut auch die seinerzeit empfohlene Einrichtung zweier Räume, die sich ausgesprochen mit der Kulturgeschichte Halles und dadurch mit seinem ökonomischen und gesellschaftlichen Werdegang befassen. Die Kunst des 20. Jahrhunderts ist mit durchschnittlich ästhetisch guter Qualität vertreten. Diese sind aber ausgesprochen einseitig insofern, als Versuche zur Ermittlung und Darstellung neuer progressiver Kunsttendenzen sich beschränken auf eine geringfügige Hereinnahme der Arbeiten von Käthe Kollwitz und von Dix. Im Hinblick auf die erzieherische Funktion des Museums wurde diese Lösung als unbefriedigend empfunden.« 9 7 4

220 _ E ¡ n e neue K u l t u r p o l i t i k : Der Beginn der Formalismus-Debatte 1948/1949

Es musste also etwas geschehen. Aus der Notiz von Strauss geht hervor, dass Händler zugestimmt hatte, die Präsentation entsprechend der Vorschläge der Zentralverwaltung für Volksbildung umzugestalten. Dass Händler jedoch keinesfalls gewillt war, diesen Forderungen im einzelnen, geschweige denn im Gesamten nachzukommen, ergibt sich aus der Tatsache, dass er kurz darauf den Entschluss fasste, Halle mit seiner Familie noch vor Ablauf der 1 4 Tage Frist zu verlassen und über Berlin nach Westdeutschland zu flüchten. 975 A m 7. Februar 1 9 4 9 brach er nach Berlin auf. Etwa zur gleichen Zeit erschien in der satirischen Zeitschrift ULENSPIEGEL ein Artikel von Herbert Sandberg. Unter der Überschrift DER HALLENSER BILDERSTURM, wies Sandberg auf die Vorkommnisse und restriktiven Maßnahmen in Halle hin, wobei er einen deutlichen Bezug zum nationalsozialistischen Bildersturm herstellte. Weiter schrieb er: »Vorerst wollen die Hallenser Künstler ihr schönes Ausstellungshaus wiederhaben. Was scheren sie schon Kollwitz und Werner Heidt, was Strempel und Otto Müller, wenn sie nur wieder ihre schönen Wände freibekommen. Also, weg mit dem dekadenten Zeugs und ran mit der Hallenser Produktion. N u n nichts gegen Halles Künstler. Auch sie sollen ausstellen, und zwar in der schmucken, weißen Galerie des Museums. Ausstellungswände, wie sie in Berlin nicht zu finden sind. Aber die Maler wollen mehr. Sie wollen gleich das ganze Haus. Da kommt die deutsche Verwaltung für Volksbildung. Auch sie will einige Räume, um die Schätze aus den bodenreformierten Schlössern zu zeigen. Und von anderer Seite will man noch den Maler Felixmüller dort aufhängen. [...] Also ein neuer Bildersturm. Doch wir als geschulte Optimisten glauben, die zuständigen Stellen werden ihn abwehren, Räume für die anderen Projekte zur Verfügung stellen und so unser schönstes Museum erhalten; aber als angelernte Skeptiker sagen wir doch: Freunde, wenn ihr reicher werden wollt (im Sinne von bereichern), dann setzt euch aufs R a d und fahrt so schnell wie möglich nach Halle.« 9 7 6 Wie ernst die im Artikel so ironisch beschriebene Situation für Händler und die von ihm aufgebaute moderne Abteilung war, kann man einem Bericht von M a x Grabowski vom Amt Bildende Kunst beim Parteivorstand der S E D vom 1 0 . Februar 1 9 4 9 entnehmen In diesem beklagte er die unhaltbaren Zustände, die ihm bei seinem Besuch in Halle aufgefallen waren: »Das Museum ist in der jetzigen Form nicht mehr zu verantworten. Das Verhältnis zwischen expressionistischer, surrealistischer, abstrakter und ähnlichen formalistischen Kunstrichtungen mit realistischen Künstlern ist geradezu

Der » H a l l e n s e r M u s e u m s s t r e l l «

absurd. Gegen etwa 4 Säle mit realistischer oder romantischer Kunst stehen 1 2 Säle mit abstrakter Malerei. Ich bin der Auffassung, daß diese Art Museumsgestaltung sofort beseitigt werden muß und daß entweder von Dr. Händler oder von einem anderen geeigneten Museumsleiter ein neues Museum aufgebaut wird. Die Voraussetzungen hierzu sind bereits gegeben, da auf Veranlassung der Landesregierung Sachsen-Anhalt sämtliche Kunstgegenstände aus der Bodenreform in der Moritzburg gesammelt wurden. Es ist danach sicherlich möglich, ein mehr oder weniger lückenloses Bild der künstlerischen und allgemeinen kulturellen Entwicklung der letzten 200 Jahre zu geben und in diesem Rahmen dann auch die abstrakte und expressionistische Kunst zu Beginn des 2.0. Jahrhunderts in einem entsprechenden Raum zu zeigen. Das ganze Museum müßte aber auf eine neue Grundlage gestellt werden. O b der jetzige Museumsleiter, Dr. Händler, diese Arbeit leisten kann, erscheint mir unwahrscheinlich.« 9 7 7 Händler befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in der Westzone und hatte somit keine Konsequenzen zu befürchten. Doch machte seine Flucht den Weg frei für die von Grabowski gewünschte Umgestaltung des Museums nach gesellschaftsorientierten Gesichtspunkten. Die Vorgänge in Halle bewirkten, dass die Sammlung zum »Zentralpunkt des Kampfes für die Freiheit der Kunst« wurde. 9 7 8 Dazu trug nicht zuletzt der öffentlich ausgetragene Wortwechsel zwischen Händler und Strauss bei, der mit einem Artikel von Händler in der Zeitung DIE WELT seinen Anfang nahm. 9 7 9 In seinem Aufsatz, der mit KUNST IN DER OSTZONE übertitelt war, beschrieb Händler die Hallenser Vorfälle. Er betonte die Notwendigkeit einer freien, ästhetischen Kunsterfahrung und verurteilte die doktrinäre Lehrhaftigkeit in den Museen der sowjetischen Besatzungszone: »Ostzonale Direktiven fordern kategorisch von den Museumsleitern Beschriftung und Lenkung. Oberstes Gesetz sei die gesellschaftspolitische Interpretation der Entwicklung. [...] J a , wir sind wieder einmal so weit wie im Dritten Reich: Jene Meister der >Brücke< und des >Blauen-ReitersMarxistischer< und »Bolschewistischer« Zersetzungstendenzen anprangerte, sie werden heute von der Zentralverwaltung, die die Ostzonale Volksbildung überwacht, für »Bürgerliche Dekadenz« und »Widerspiegelung des Faschismus« erklärt. M a n schlägt entsprechende Beschriftung vor, »Lenkung« also; Lenkung, Ausrichtung wo-

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2 2 2 _ Eine neue Kulturpolitik: Der Beginn der Formalismus-Debatte 1948/1949

hin? - Z u m sozialistischen >Realismusfortschrittlich< reformierten Ostens sein einheitliches, bunt plakatives Gepränge gibt. [...] M a n lasse sich durch die hier und da noch wahrnehmbare scheinbar freiheitliche Tünche< nicht beirren. Die Für- und Widerreden über die >Moderne< in den Kulturgruppen, die Duldung an sich unliebsamer Künstler in Ausstellungen sind pseudodemokratische Ummäntelungen, die das wahre Ziel nur schwach verbergen.« 9 8 0 Mit harten Worten kritisierte Händler die von Seiten der Verwaltung für Volksbildung geforderte gesellschaftspolitische Ausrichtung der Museen. Diese verlangte eine positive Stellungnahme zum sozialistischen A u f b a u und zur Kunst des Sozialistischen Realismus. Dies bedeutete gleichzeitig eine Verurteilung expressiver Gestaltungstendenzen. Klar stellte Händler eine Analogie zwischen der restriktiven Kulturpolitik des Nationalsozialismus und den aktuellen Vorwürfen gegen die moderne Kunst in der Formalismus-Debatte heraus. N u r die Vokabeln hätten sich entsprechend der politischen Situation geändert: Nun gälten die Maler der BRÜCKE und des BLAUEN REITERS nicht mehr - wie noch wenige Jahre zuvor - als marxistisch-bolschewistische

»Zersetzungstendenzen«,

sondern würden nunmehr

als

»Widerspiegelung des Faschismus« gebrandmarkt. Als Reaktion auf die von Händler vorgebrachten Anschuldigungen erschien im M a i 1 9 4 9 unter dem Titel HALLENSER MUSEUMSSTREIT ein Artikel von Gerhard Strauss, in dem dieser das Handeln der Verwaltung für Volksbildung rechtfertigte und Händlers Vorgehen in Halle heftig kritisierte. Händler sei seiner Aufgabe nicht gewachsen gewesen. Nicht Qualitätsgesichtspunkte hätten sein Handeln beim Wiederaufbau des Moritzburgmuseums bestimmt, sondern einzig seine ganz persönlichen Vorstellungen von »seinem M u s e u m « . ' 8 1 Öffentliche Proteste hatten, nach Angaben von Strauss, zu einer Überprüfung des Hallenser Museums im Januar 1 9 4 9 geführt, woraufhin der A u f b a u einer gesellschaftlich wirksamen Einrichtung verlangt worden sei. 982 Bei dieser Gelegenheit sei das Hallenser Museum dazu angehalten worden, in Z u k u n f t einen objektiven Überblick über den Verlauf der künstlerischen Entwicklungen zu vermitteln sowie aktiv an der Ermittlung und Förderung junger Künstler teilzuhaben, insbesondere von solchen, die sich mit zeitnahen Problemen auseinandersetzten. Das Museum sollte zur Hebung des kulturellen Niveaus der gesamten Bevölkerung und zur Entwicklung eines historischen Bewusstseins beitragen. 983 Diese Punkte seien von Händler nicht in die Tat umgesetzt worden. Z w a r erkannte Strauss Händlers bisherige Leistung als »subjektiv interessant« an, doch unterstellte er ihm mangelnde Objektivität.

Der » H a l l e n s e r M u s e u m s s t r e i t « _ 2 2 5

Strauss versuchte Händlers Vorwürfe einer restriktiven Kunstpolitik und Verurteilung des Expressionismus als »bürgerlich dekadent« in der SBZ zu entkräften und warf ihm vor, damit eine Entfremdung zwischen Ost und West forcieren zu wollen: »Wie wenig selbst heute noch nach der nun offensichtlichen Provokation seitens Dr. Händlers die Kunst der Brücke usw. verbrannt, beseitigt oder geschändet wird, ist dem Umstand zu entnehmen,

daß nicht sie einer

Sonderausstellung Platz zu machen hatte, sondern diejenigen der Romantiker! Vielleicht wird dieses oder jenes Werk aus räumlichen Gründen oder wegen seiner Schwäche vorübergehend oder ganz entfernt werden, vorangehen wird jedoch eine ausführliche Prüfung in wissenschaftlich exakter Weise. Was wäre jedoch dagegen einzuwenden? Das also sind die Tatsachen einer angeblichen Kunstbarbarei, einer vermeintlichen wissenschaftlichen oder sogar persönlichen Nötigung. [...] Er [Strauss] bedauert, daß auch in der Museumsarbeit der Versuch zu einer Entfremdung von Ost- und Westdeutschland gemacht wurde, denn darauf allein zielt >Die Welt< a b . « 9 8 4 Die Vorhaltungen von Strauss ließ Händler nicht auf sich beruhen. In einem »Offenen Brief« legte er nochmals seine Ziele beim Wiederaufbau des Hallenser Museums dar. Diese hätten sich aus dem Wissen um die Geschehnisse, die Aufgaben und die spezifischen Lebensbedürfnisse des einst so freiheitlich orientierten Museums ganz von selbst ergeben. Die Wiedergutmachung des Unrechts und die lebendige Fortführung der bewährten alten Traditionen waren ihnen als Pflicht erschienen. Umso mehr hätten ihnen diese »ominösen und wahrhaft geschichtsklitternden Worte« bei der Aufstellung des Arbeitsprogramms in den Ohren geklungen. Nach diesen Ausführungen wandte sich Händler direkt an Strauss: »Erklärten Sie sich nicht kategorisch >dreifach entsetzt< über das, was sie vorfanden? Sprachen Sie nicht von >KlassenmuseumMuseum der bürgerlichen Dekadenz