Die Rolle von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit in der politischen Auseinandersetzung in den USA und Kanada am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs [1 ed.] 9783428490479, 9783428090471

Welche Bedeutung hat die Verfassung in der politischen Auseinandersetzung? Ist die gesellschaftlich hoch kontrovers disk

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German Pages 253 Year 1997

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Die Rolle von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit in der politischen Auseinandersetzung in den USA und Kanada am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs [1 ed.]
 9783428490479, 9783428090471

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CHRISTIANE MOORS

Die Rolle von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit in der politischen Auseinandersetzung in den USA und Kanada am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs

··

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 733

Die Rolle von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit in der politischen Auseinandersetzung in den USA und Kanada am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs

Von Christiane Moors

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Moors, Christiane: Die Rolle von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit in der politischen Auseinandersetzung in den USA und Kanada am Beispiel des Schwangerschaftsabbruchs / von Christiane Moors. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 733) Zugl.: Frankfurt/Main, Univ., Diss., 1995/96 ISBN 3-428-09047-0

Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09047-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort

Diese Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur befinden sich auf dem Stand Frühjahr 1995. Meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Michael Bothe, möchte ich sehr herzlich für den Anstoß zu diesem Thema danken, sowie für die vielen Gespräche, in denen er die Arbeit förderte und begleitete. Auch dem Zweitgutachter, Herrn Professor Dr. Erhard Denninger, gilt mein Dank. Dem Zentrum für Nordamerika-Forschung danke ich für die finanzielle Unterstützung, durch die mir u.a. ein 6-monatiger Nordamerika-Aufenthalt ermöglicht wurde. Daß ich diesen Auslandsaufenthalt nutzbringend gestalten konnte, verdanke ich der Hilfe von guten Freunden. In Washington, D.C., waren es Ms. Irmgard Hunt und ihre Freunde und Bekannte, die mir in zahlreichen Diskussionen ein Bild von der Vielschichtigkeit und Lebendigkeit amerikanischer Politik und amerikanischen Lebens vermittelten. Durch die Hilfe und Fürsorge von Ms. Anne Burnett und Ms. Clare Beckton konnte ich auch in Kanada einen tieferen Einblick in die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse gewinnen. Ihre Vermittlung öffnete mir in Ottawa zahlreiche Türen, von Staatsvertretern bis hin zu Interessenvertretern wie Dr. Morgentaler. Nicht zuletzt sei meinen Eltern und meinem Lebensgefährten, Joachim Grafen, für die uneingeschränkte Unterstützung gedankt, ohne die mir die Erstellung der Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Frankfurt am Main, 1997

Christiane Moors

Inhaltsverzeichnis

Α. Einleitung

13

Β. Historische Entwicklung der Strafbarkeit der Abtreibung

16

I. Die ersten Abtreibungsverbote

16

II. Generelle Pönalisierung

18

III. Erste Liberalisierung durch Indikationen

21

IV. Frauenbewegung und das neue Denken in Rechten

23

V. Weitere Reformen in Europa

23

VI. Reformen in den USA und Kanada

33

VII. Zwischenergebnis

38

VIII. Statistische Daten zur Abtreibung

39

C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter / Interessenvertretung vor Gericht I. USA 1. Pro-choice Vertreter

42 43 43

a) ACLU - American Civil Liberties Union

43

b) AGI - Alan Guttmacher Institute

44

c) CRLP - Center for Reproductive Law & Policy

44

d) NAF - National Abortion Federation

45

e) NARAL - National Abortion and Reproductive Rights Action League

46

f) NOW - National Organisation for Women

47

g) PPFA - Planned Parenthood Federation of America

48

h) RCRC - Religious Coalition for Reproductive Choice

49

nsverzeichnis

4 2. Pro-life Vertreter

50

a) AUL - Americans United for Life

50

b) NRLC - National Right to Life Committee

51

c) Operation Rescue

52

d) Die römisch-katholische Kirche

53

3. Gerichtsverfahren, persönliche und gesellschaftliche Interessen und die Rolle von Verbänden

55

a) Kläger, Beklagte und Beteiligte

55

b) Zulässigkeitsvoraussetzungen als Steuerungsmittel

58

c) Beteiligung von Interessenverbänden

62

4. Zwischenergebnis II. Kanada 1. Pro-choice Vertreter

63 65 65

a) Henry Morgentaler

65

b) CARAL - Canadian Abortion Rights Action League

67

c) LEAF - Women's Legal Education and Action Fund

68

d) NAWL - National Association of Women and the Law

69

e) PPFC - Planned Parenthood Federation of Canada

69

2. Pro-life Vertreter

70

a) Joseph Borowski - Alliance Against Abortion

70

b) R.E.A.L. (Realistic, Equal, Active, for Life) Women of Canada

72

3. Gerichtsverfahren, persönliche und gesellschaftliche Interessen und die Rolle von Verbänden

72

a) Kläger, Beklagte und Intervenienten

73

b) Zulässigkeitsvoraussetzungen als Steuerungsmittel

74

c) Beteiligung von Interessenverbänden

78

4. Zwischenergebnis III. Vergleich

79 80

nsverzeichnis D. Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe zur Abtreibung in den USA und Kanada I. USA

81 81

1. Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit

81

2. United States v. Vuitch - das erste Abtreibungsurteil

83

3. Roe v. Wade / Doe v. Bolton - ein fundamentales Recht wird geschaffen

85

4. Planned Parenthood v. Danforth / Colautti ν. Franklin - Bestätigung von Roe v.Wade

95

5. Die Medicaid-Trilogie und Harris v. McRae - Einschränkungen der Finanzierung bei Staaten und Bund

96

6. Bellotti v. Baird und H.L. v. Matheson - Verfassungsrechte für Minderjährige? 7. Akron v. Akron Center - Modellgesetz gegen Roe v. Wade

103 106

8. Thornburgh v. American College - Verteidigung der Entscheidungsfreiheit 9. Webster v. Reproductive Services - Stärkung der Einzelstaaten

110 113

10. Hodgson ν. Minnesota und Ohio v. Akron Center for Reproductive Law - weitere Einschränkungen der Rechte Minderjähriger 11. Rust v. Sullivan - "Maulkorberlaß" für Beratungsstellen

118 120

12. Planned Parenthood v. Casey - Rettung oder Aufgabe von Roe ν. Wade

123

13. Ada v. Guam Society of Obstetricians & Gynecologists und Barnes v. Moore - die Entscheidung der Nichtentscheidung 14. Zwischenergebnis II. Kanada

136 136 139

1. Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit

139

2. Morgentaler v. The Queen - Bestätigung der Gesetzgebung

141

3. Minister of Justice of Canada v. Borowski - Lebensschützer vor Gericht, 1. Teil

146

nsverzeichnis

6

4. Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen - neue Rechte mit der Charter of Rights and Freedoms

147

5. Borowski v. Canada - Lebensschützer vor Gericht, 2. Teil

156

6. Tremblay v. Daigle - Rechte des Vaters

158

7. The Queen v. Morgentaler - Nova Scotias Kampf gegen Abtreibungskliniken

161

8. Zwischenergebnis

163

III. Vergleich E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß I. USA 1. Gesetzgeberische Reformen des Bundes

164 166 166 166

a) Verfassungsreformversuche

166

b) Human Rights Bill

167

c) Gesundheitswesen / Medicaid

168

d) FOCA - Freedom of Choice Act

170

e) FACE - Freedom of Access to Clinic Entrances Act

173

2. Aktueller Stand der Bundespolitik

174

3. Gesetzgeberische Reformen der Einzelstaaten

176

4. Gesetze der Einzelstaaten - Stand 1994

178

a) Finanzierung

178

b) Beschränkungen bei Minderjährigen

180

c) Informierte Zustimmung

182

d) Wartefristen

182

e) Verbot der Abtreibung

183

f) Verbot der Finanzierung durch Krankenversicherung

183

g) Einverständnis- oder Benachrichtigungserfordernis des Ehemannes 183 h) Gesetzliche pro-life Erklärung

183

i) Gesetzliche pro-choice Erklärung

184

j ) Verfassungsgarantien

184

5. Politische Landkarte

185

nsverzeichnis 6. Übersicht zur Politik der Einzelstaaten

188

7. Richterernennung

190

8. Wahlen

194

9. Zwischenergebnis

195

II. Kanada 1. Gesetzgeberische Reformen des Bundes

197 197

a) Rekriminalisierung der Abtreibung, 1. Versuch

197

b) Rekriminalisierung der Abtreibung, 2. Versuch

198

c) Gerichtliches Zwischenspiel

198

d) Rekriminalisierung der Abtreibung, 3. Versuch

199

e) Debatten im Repräsentantenhaus

200

f) Senatsentscheidung

202

2. Aktueller Stand der Bundespolitik

204

3. Regelung der Abtreibung in den Provinzen

206

a) Atlantik-Kanada

206

aa) Newfoundland

206

bb) Nova Scotia

207

cc) New Brunswick

208

dd) Prince Edward Island

209

b) Quebec

209

c) Ontario

210

d) Prärie

211

aa) Alberta

211

bb) Manitoba

211

cc) Saskatchewan

212

e) British Columbia

216

f) Territories (Yukon und Northwest Territories)

217

g) Gesamtübersicht

217

4. Zwischenergebnis III. Vergleich

219 220

nsverzeichnis

8 F. Schlußbetrachtung

I. Politisierung von Verfassungsgerichtsbarkeit

223 223

II. Verrechtlichung des Konfliktes

227

III. Zentralisierung durch die Verfassung?

230

IV. Konfliktverschärfung oder Rationalisierung durch Verfassungsrecht

231

Anhang

234

I. Literaturverzeichnis II. Urteile

234 243

1. Supreme Court USA

243

2. Supreme Court Kanada

245

III. Öffentliche Dokumente und Studien

245

IV. Glossar

247

Abkürzungsverzeichnis Abs. ACLU A.-G. AGI Art. Att. Aufl. AUL Bearb. Begr. B.C.S.C. B.C.L.R. BRD BVerfG BVerfGE Cal. App. Cal. Rptr. CARAL CBA C.C. C.C.C. CCP C.H.A. Cir. CMA CRLP Co. CQ Cr. DDR D.L.R. EuGRZ EMRK FAZ FR ff. FN

Absatz American Civil Liberties Union Attorney-General Alan Guttmacher Institute Artikel Gen. - Attorney-General Auflage Americans United for Life Bearbeiter Begründer British Columbia Supreme Court British Columbia Law Report Bundesrepublik Deutschland Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen California Appellate (Court) California Reporter Canadian Abortion Rights Action League Canadian Bar Association Criminal Code Canadian Criminal Cases Court Challenges Program Canada Health Act Circuit (Court) Canadian Medical Association Center for Reproductive Law & Policy Company Congressional Quarterly Cranch's Reports Deutsche Demokratische Republik Dominion Law Reports Europäische Grundrechte Zeitschrift Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grund freiheiten Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurter Rundschau fortfolgende Fußnote

10 F. Supp. F. FPP GG Hrsg. IPPF i.S. Jh. JCPC JuS JöR JZ KJ LEAF Ltd. L. Ed. NAF NARAL NALWL N.B.R. NJW Nr. No. NOW NRLC PP PPFA PPFC R. RCAR RCRC R.E.A.L. RFN RICO s. S. Sask. R. S.C.R. S. Ct. SE SFHG u.a.m. U.S. u.U. v. Vol. ZRP

Abkürzungsverzeichnis Federal Supplement Federal Family Planning Perspectives Grundgesetz Herausgeber International Planned Parenthood Federation im Sinne Jahrhundert Judicial Committee of the Privy Council Juristische Schulung Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristenzeitung Kritische Justiz Women's Legal Education and Action Fund limited Lawyers' Edition National Abortion Federation National Abortion and Reproductive Rights Action League National Association of Women and the Law New Brunswick Reports Neue Juristische Wochenschrift Nummer Number National Organisation for Women National Right to Life Committee Planned Parenthood Planned Parenthood Federation of America Planned Parenthood Federation of Canada Regina Religious Coalition for Abortion Rights Religious Coalition for Reproductive Choice Women of Canada - Realistic, Equal, Active, for Life Women of Canada Reproductive Freedom News Racketeer Influenced and Corrupt Organizations section Seite Saskatchewan Reports (Canada) Supreme Court Reports Supreme Court Reporter (USA) Southeastern Schwangeren- und Familienhilfegesetz und anderes mehr United States (Supreme Court Reports) unter Umständen versus Volume Zeitschrift für Rechtspolitik

Abkürzungsverzeichnis Abkürzungen der Bundesstaaten der USA:

AL AK ΑΖ AR CA CO CT DE DC FL GA HI 10 IL IN IA KS KY LA ME MD MA MI MN MS MO MT NE NV NH NJ NM NY NC ND OH OK OR PA RI SC SD TN TX UT

Alabama Alaska Arizona Arkansas California Colorado Connecticut Delaware District of Columbia Florida Georgia Hawaii Idaho Illinois Indiana Iowa Kansas Kentucky Louisiana Maine Maryland Massachusetts Michigan Minnesota Mississippi Missouri Montana Nebraska Nevada New Hampshire New Jersey New Mexico New York North Carolina North Dakota Ohio Oklahoma Oregon Pennsylvania Rhode Island South Carolina South Dakota Tennesse Texas Utah

Abkürzungsverzeichnis

12 VT VA WA WV WI WY

Vermont Virginia Washington West Virginia Wisconsin Wyoming

Abkürzungen der kanadischen Provinzen:

Alta. B.C. Man. N.B. NM N.S. Ont. P.E.I. Que. Sask.

Alberta British Columbia Manitoba New Brunswick Newfoundland Nova Scotia Ontario Prince Edward Island Quebec Saskatchewan

Α. Einleitung Die Arbeit versucht, den politischen Stellenwert von Verfassungsgarantien am Beispiel der Abtreibung rechtsvergleichend zu erfassen. Das Beispiel der Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch ist geeignet, da es sich um einen hoch kontroversen gesellschaftlichen Konflikt handelt, an dessen Austragung sich entsprechend viele und diverse politische Interessengruppen beteiligt haben. Außerdem wurde die Diskussion sowohl in den USA als auch in Kanada entscheidend durch verfassungsrechtliche Argumente geprägt. Als Gemeinsamkeit der juristischen Argumentationsstrukturen läßt sich dabei das Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz des werdenden Lebens und der Entscheidungsfreiheit der Schwangeren feststellen. Die nähere Betrachtung der Lösung dieses Konfliktes zeigt jedoch erhebliche Unterschiede in der Würdigung dieser Rechte. Die diese Arbeit herausfordernde Tatsache ist, daß die gerichtliche Durchsetzung von Verfassungsgarantien in beiden Staaten als Mittel gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung instrumentalisiert wurde. Das Ausmaß und die Intensität der verfassungsgerichtlichen Auseinandersetzung ist beispiellos und führt zu der Frage, welche Funktion die Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem Zusammenhang hat und wie die Urteile vom politischen System aufgenommen werden. In den USA richteten sich die Klagen dabei gegen Gesetze der Einzelstaaten, da diese die Strafrechtskompetenz haben, in Kanada ist der Bund zuständig. Es wäre daher zu vermuten gewesen, daß sich die Provinzen Kanadas, die in dieser Frage an eine bundesrechtliche Vorgabe gewöhnt sind, leichter mit der Entscheidung des Gerichtes arrangieren. Abgesehen von den Unterschieden, die sich aus den Besonderheiten der verschiedenen Lösungsansätze der Gerichte ergeben, zeigt sich jedoch kein gravierender Unterschied in der Aufnahme der Entscheidungen, sondern die Abtreibungsdebatte wird in beiden Staaten, sowohl vor als auch nach den maßgeblichen Verfassungsentscheidungen, von starken regionalen Unterschieden geprägt. Es scheint, daß auch die Autorität eines Verfassungsgerichtes bei einem so kontroversen Thema wie der Abtreibung keine für alle Beteiligten akzeptable Lösung finden kann. In einer geschichtlichen Übersicht wird zunächst gezeigt, wie sich der Konflikt um den Schwangerschaftsabbruch entwickelt hat. Die USA und Kanada unterscheiden sich durch ihre verfassungsgerichtlichen Urteile wesentlich

2 Moors

14

Α. Einleitung

von den europäischen Staaten. Zwar lassen sich die nordamerikanischen Reformen in den zeitlichen Rahmen der internationalen Entkriminalisierung einfügen, aber im Unterschied zu Europa wurde in Nordamerika die Reform durch die Verfassungsgerichte, nicht durch den Gesetzgeber initiiert und gestaltet. Während es sich in Europa fast ausschließlich um abstrakte Normenkontrollen neu geplanter oder neu verabschiedeter Gesetze handelte, wurden in Nordamerika seit langem bestehende Gesetze erfolgreich herausgefordert. Die Gerichte zeichnen auch verantwortlich für die verfassungsrechtliche Färbung der Diskussion in der Gesellschaft, in der das Lebensrecht des Ungeborenen und das Freiheitsrecht der Frau gegeneinander abgewogen werden, während sich die Argumente vorher vorwiegend im medizinischen Bereich bewegten. Zuletzt ging mit der verfassungsgerichtlichen Besetzung des Themas eine Popularisierung des Konfliktes einher. Der Schwangerschaftsabbruch wurde von der Privatsphäre vor die Gerichte und so in die öffentliche Auseinandersetzung gebracht und zum Maßstab einer bestimmten politischen Haltung gemacht. Um die darüber hinausgehende politische Bedeutung der Urteile ermessen zu können, sind zwei Blickpunkte wesentlich: zum einen, wie es zu den Entscheidungen kam und zum anderen, wie die Entscheidungen im politischen Prozeß aufgenommen wurden. In einem ersten Schritt wird aufgezeigt, welche gesellschaftlichen Gruppierungen sich in der Abtreibungsdebatte engagieren und welche Positionen sie vertreten. Es zeigt sich dabei, daß die gerichtliche Auseinandersetzung sowohl von pro-choice, als auch von pro-life Vertretern als Mittel zur Veränderung erkannt und gezielt eingesetzt wird. Die institutionelle Einrichtung eines Verfassungsgerichtes verleiht diesen politischen Bewegungen eine Plattform, die es ihnen ermöglicht, ihr Anliegen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Handhabung der Prozeßbefugnis und der Zulassung als Intervenie r vor Gericht erweist sich dabei als Mittel der Steuerung dieses Phänomens, nämlich der Instrumentalisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit für politische Ziele. Zum Verständnis der Auseinandersetzung vor Gericht werden anschließend die verfassungsrechtlichen Vorgaben von den Gerichten in den USA und Kanada dargestellt. Dabei ist insbesondere zu zeigen, in welchem Kontext die Entscheidungen ergingen, und wie die Richter selbst ihre Rolle im politischen Prozeß bestimmen. In den USA handelt es sich um eine Reihe von Fällen im Zeitraum von 1973 bis heute, währenddessen der zunächst festgefügte Rahmen, der den Einzelstaaten wenig Freiraum zur individuellen Regelung ließ, langsam erodierte und so

Α. Einleitung

15

wieder mehr Befugnisse auf die Staaten übergingen. In Kanada sind zwar zahlenmäßig weniger Entscheidungen über Abtreibung bis zum Obersten Gerichtshof gelangt, aber diese waren nicht weniger einschneidend in ihrer Wirkung. Dies, obwohl das Gericht - was besonders im Vergleich zu den USA interessant erscheint - einen anderen Ansatz von Verfassungsrechtsprechung propagierte und die Entscheidungsbefugnis über die Abtreibung beim Parlament belassen wollte. Daß sich das Verständnis des Gerichtes von seiner Aufgabe im Verhältnis zum Parlament mit Einführung der Charter of Rights and Freedoms dennoch grundlegend änderte, zeigt sich an der unterschiedlichen Behandlung des Abtreibungsthemas vor und nach Verabschiedung der Verfassung. Bei den Auswirkungen der Entscheidungen wird der Schwerpunkt der Darstellung auf die den Entscheidungen folgende Gesetzgebung gelegt. Dies zum einen, um einen aktuellen Überblick über die geltende Abtreibungsregelung in beiden Staaten zu vermitteln, zum anderen, da die Gesetzgebung als direkte Antwort auf Verfassungsentscheidungen zu sehen ist. Nicht nur, um bestehende Regelungen an die veränderte Verfassungsrechtsprechung anzupassen, sondern auch um gerade diese Rechtsprechung herauszufordern. Der Föderalismus erweist sich dabei als Instrument, der zentralisierenden Wirkung der Verfassungsrechtsprechung entgegenzuwirken. Auswirkungen der Verfassungsrechtsprechung zeigen sich jedoch nicht nur in der Gesetzgebung, sondern auch in anderen politischen Bereichen, so z.B. in den USA bei Wahlen oder Richterernennungen. Insgesamt betrachtet stellen sich die USA und Kanada als Staaten dar, deren Abtreibungsgesetzgebung stark zersplittert und in den Provinzen, bzw. Einzelstaaten unterschiedlich geregelt wird. Die Debatte um den Schwangerschaftsabbruch ist in beiden Staaten durch die rechtliche Argumentation geprägt und wurde durch die Verfassungsentscheidungen nicht beendet, sondern eher gefördert. Durch die Entscheidungen wurde ein Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen sich die Debatte fortan bewegte. Der Nachteil dieses Rahmens ist die zu beobachtende Verrechtlichung des Themas, aber dies wird durch den Vorteil ausgeglichen, daß gerichtlich festgestellte Interessen vom Gesetzgeber gezwungenermaßen zu beachten sind. Daß dies nicht automatisch erfolgt, zeigt sich an Gesetzgebungsversuchen in den USA, die die Interessen der Frau nicht berücksichtigten, und die trotzdem erfolgreich verabschiedet wurden. Die Auswirkungen der verfassungsrechtlichen Besetzung des Themas sollen in einer abschließenden Analyse diskutiert werden.

2*

Β. Historische Entwicklung der Strafbarkeit der Abtreibung I. Die ersten Abtreibungsverbote Die generelle Strafbarkeit von Abtreibung ist eine relativ neue Entwicklung in der mehr als 5000 Jahre alten Geschichte der Abtreibung. In der griechischrömischen Kultur, die den abendländischen Rechtskreis prägte, war Abtreibung trotz unterschiedlicher Einschränkungen ein oft benutztes Mittel zur Familienplanung. Abtreibungsverbote im frühen römischen Recht hatten ihren Ursprung nicht im Schutz des ungeborenen Lebens, denn dieses wurde als Teil der Frau angesehen. Die Verbote begründeten sich aus der "patria potestas", der häuslichen Zuchtgewalt des (männlichen) Familienoberhauptes, dem das "ius vitae et necis", und damit das Recht über Leben und Tod der Nachkommenschaft zugesprochen wurde. Ein Schwangerschaftsabbruch, der auf alleiniges Betreiben der Frau herbeigeführt wurde, war daher aufgrund der Rechtsverletzung des Ehemannes strafbar 1. Der dem griechischen Arzt Hippokrates (um 460 - um 370 v. Ch.) zugeschriebene Eid repräsentiert eine griechische Ethik, die ärztliche Hilfe zur Abtreibung genauso wie die Hilfe zum Selbstmord ablehnt. Der Eid des Hippokrates stellt trotz seiner Popularität jedoch nur eine Lehrmeinung unter vielen dar. Zeitgenössische Philosophen wie Piaton und sein Schüler Aristoteles empfahlen die Abtreibung dagegen als Mittel zur Bevölkerungskontrolle 2. Ein religiöses Abtreibungsverbot entstand mit dem Christentum. Während frühe christliche Schriften den Schwangerschaftsabbruch ausnahmslos verurteilten 3 , so wurde dies ungefähr ab dem 3. Jahrhundert relativiert. Das Abtreibungsverbot setzte nunmehr nicht mit Beginn der Schwangerschaft ein, son1

Günter Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn: Kulturgeschichte des Abtreibungsverbotes, Stuttgart 1988, S.26,27. 2 Siehe Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn, S.12-14, 17-18. 3 So in der Didache, dem ältesten urchristlichen Katechismus; das Verbot wurde aber so ausgelegt, daß eine Bestrafung der Frau nur dann erfolgte, wenn die abgebrochene Schwangerschaft das Resultat eines weiteren Verbots wie Ehebruch oder Prostitution war; nach Kristin Luker, Abortion & the Politics of Motherhood, Berkeley / Los Angeles / London 1984, S. 12-13.

I. Die ersten Abtreibungsverbote

17

dem erst ab dem 40. Tag nach der Empfängnis eines Jungen, bzw. dem 80. Tag nach der Empfängnis eines Mädchens. Erst dann galt der Fötus als beseelt und wurde daher in seinem Leben geschützt. Die christliche Lehre schuf mit dieser Beseelungstheorie die wohl früheste Form einer "Fristenlösung". Bis 1869 wurde die Beseelungstheorie als Teil der gültigen Kirchenlehre beibehalten4. Im Mittelalter wurde durch das kanonische Recht der Papstkirche im Widerspruch zur Beseelungslehre schon die Empfängnisverhütung als Totschlag behandelt. Geahndet wurden Schwangerschaftsabbruch und Empfängnisverhütung jedoch nur im Kirchenrecht im Rahmen der Beicht- und Bußpraxis. Das weltliche Recht ließ beides grundsätzlich straflos 5. Die Verweltlichung des Abtreibungsverbotes begann erst in der frühen Neuzeit und war in der Mitte des 16. Jahrhunderts mit der Kodifizierung der bedeutendsten Strafgesetzbücher der europäischen Großmächte abgeschlossen. In der Regel wurde darin zwischen einer Abtreibung vor oder nach der Beseelung unterschieden 6. In der Peinlichen Gerichtsordnung (PGO) Kaiser Karls V. von 1532, die eine Schlüsselrolle für die Entwicklung deutschen Strafrechtsdenkens spielte, wurde z.B. die Abtreibung eines "lebendigen" Kindes unter Androhung der Todesstrafe verboten 7. Unklar blieb, ab wann der Fötus als lebendig anzusehen war. Die kursächsische Konstitution von 1572 war in diesem Zusammenhang von maßgebender Bedeutung für die regionale Aufnahme der PGO. Denn erstmalig wurde der in der PGO offen gelassene Zeitpunkt der Belebung festgesetzt. Diese sollte dann erfolgt sein, wenn die Frau Kindsbewegungen spüren konnte. Dadurch wurde die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs materiell-rechtlich an die Kenntnis der Frau von ihrer Schwangerschaft geknüpft und somit nur vorsätzliches Handeln bestraft, gleichzeitig blieb eine prinzipielle Straflosigkeit im frühen Stadium der Schwangerschaft erhalten 8 .

4

Siehe dazu Günter Jerouschek, Vom Wert und Unwert der pränatalen Menschenwürde, in: JZ 1989, S.279-285 (283, 284); Jane Hurst, The History of Abortion in the Catholic Church, Washington, D.C. 1990, S. 19; als Beispiel für eine feministische Auseinandersetzung mit der christlichen Lehre zur Abtreibung siehe Beverly Wildung Harrison, Our Right to Choose, Boston / Toronto 1983, S. 119-153. 5 Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn, S.62-81. 6 Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn, S.138-139. 7 In Art. 133 der PGO heißt es "..so jemandt eynem weibssbikL.eyn lebendig kindt abtreibt...", siehe Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn, S.5-7. 8 Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn, S. 162-163.

Β. Historische Entwicklung der Strafbarkeit der Abtreibung

18

Auch das für die amerikanische Rechtsentwicklung bedeutsame common law 9 , das in England im 17. Jh. die Kirchengerichtsbarkeit ablöste, hat den Zeitpunkt der Spürbarkeit von Kindsbewegungen zur Feststellung des Lebensbeginns gemacht. Dort hieß es: "Life begins in contemplation of law as soon as an infant is able to stir in the mother's womb." 1 0 Abtreibungen, die vor diesem Zeitpunkt durchgeführt wurden, d.h. bis zum 4. oder 5. Monat der Schwangerschaft, blieben straflos 11 . Sowohl in den USA als auch in Kanada wurde vor der Einführung von gesetzlichen Normierungen diese Regelung mit dem common law übernommen.

II. Generelle Pönalisierung Um die Mitte des 17. Jh. verstärkte sich die Kritik am Fristenkonzept. Die aufkommende Lehre der Simultanbeseelung, derzufolge die Beseelung im Augenblick der Empfängnis erfolgt, die neue Lehre der Medizin, die eine Zäsur in der Entwicklung des Fötus generell verneinte, und nicht zuletzt sinkende Geburtenraten, verbunden mit dem Staatsziel einer möglichst hohen Bevölkerungszahl, führten im Verlauf des 18. Jh. zu einer erneuten Änderung der strafrechtlichen Bewertung der Abtreibung 12 . In fast allen europäischen Kodifikationen wurde nunmehr der Schwangerschaftsabbruch während der gesamten Schwangerschaftsdauer pönalisiert 13 . In den USA wurde 1821 das erste Gesetz zur Regulierung der Abtreibung in Connecticut erlassen und bis ca. 1900 hatte jeder Staat der Union ein Gesetz,

9

Der Begriff common law wird für das gesamte Richterrecht, im Unterschied zum Gesetzesrecht, des anglo-amerikanischen Rechtssystems verwandt; siehe dazu Dieter Blumenwitz, Einführung in das anglo-amerikanische Recht, 3.Aufl., München 1987, S.4 ff.. 10 Nach Barbara Huber, Landesbericht Großbritannien, in: Albin Eser / Hans-Georg Koch (Hrsg.), Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich, Teil 1: Europa, 1 .Aufl. Baden-Baden 1988, S.623-757 (667); vgl. auch Malcolm Potts, Intellectual History Of Abortion, in: Paul Sachdev (Hrsg.), Perspectives On Abortion, Metuchen, N.J. / London 1985, S.15-32 (22,23). 11 Erstgebärende können Kindsbewegungen gewöhnlich ab der 20. Schwangerschaftswoche feststellen, bei einer zweiten Schwangerschaft ist dies schon ab der 16. Schwangerschaftswoche möglich; siehe dazu Willibald Pschyrembel (Begr.) / Christoph Zink (Bearb.); Klinisches Wörterbuch; Berlin / New York 1990, S.852. 12 Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn, S.186-192, 210-212. 13 Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn, S.285,286.

II. Generelle Pönalisierung

19

welches die Abtreibung in jedem Stadium der Schwangerschaft verbot, außer zur Lebensrettung der Mutter 1 4 . Diese restriktiven Abtreibungsgesetze waren auf ein gezieltes "lobbying" der Ärzteschaft zurückzuführen, seit ihrer Gründung 1847 vor allem durch die American Medical Association. Die Argumentation blieb insofern nachhaltig von Einfluß, da die Abtreibung nunmehr als medizinisches Problem gehandhabt wurde, welches allein von Ärzten entschieden werden konnte. Die Ärzteschaft argumentierte im Prinzip widersprüchlich. Auf der einen Seite reklamierten sie auf Grund von wissenschaftlicher Erkenntnis, daß der Fötus bereits ab der Konzeption ein Recht auf Leben habe. Auf der anderen Seite sollte Abtreibung zur Lebensrettung der Mutter straflos bleiben und insofern das Lebensrecht der Mutter über das des Fötus gestellt werden. Die Entscheidung darüber, ob und wann eine Abtreibung medizinisch notwendig sei, sollte von Ärzten allein getroffen werden können. Mit der Übernahme dieser Konstruktion in fast allen Staaten, daß nämlich eine medizinisch indizierte Abtreibung trotz der grundsätzlichen Strafbarkeit - gerechtfertigt sei, hatten die Ärzte ein fast uneingeschränktes Ermessen in der Durchführung von Abtreibungen 15 . Die Motivation der Ärzte für eine Strafbarkeit von Abtreibungen einzutreten, sofern diese nicht von Ärzten durchgeführt wurde, hatte vielfältige Gründe. Ein wesentlicher Grund war die gesundheitliche Gefährdung der Frauen, da vor der Entwicklung von Antibiotika und technisch sicheren Abtreibungsverfahren die Todesrate bei Abtreibungen hoch war. Für die Ärzteschaft bot sich die Abtreibung aber auch an, um ihre wissenschaftliche Überlegenheit gegenüber anderen, nichtärztlichen Ausübenden der Heilkunst darzustellen. Nur die Ärzte, so argumentierten sie, seien im Besitz der wissenschaftlichen Fakten, daß ein Fötus von Beginn der Empfängnis an ein Kind sei. Abtreibungen erfolgten ihrer Darstellung nach daher aus einer Unwissenheit der Frauen über den Wert vorgeburtlichen Lebens 16 . Zudem war dies eine Möglichkeit unliebsame Konkurrenz auszuschalten17. Denn die Abtreibung war auch im viktorianischen Zeitalter nicht ungewöhnlich, wurde aber zumeist nicht von Ärzten ausgeführt, sondern konnte wegen fehlender Standesregeln von jedermann angeboten werden. Dies erfolgte verdeckt als Angebot zur Regulierung von menstruellen Unregelmäßigkeiten. Medikamente zur Wiederherstellung der Menstruation wurden weitverbreitet in Zeitungsanzeigen angeboten, allerdings mit dem warnenden Zusatz, daß sie 14 15 16 17

Luker, S.15. Luker, S.32-33 Luker, S.21. Luker, S.27.

20

Β. Historische Entwicklung der Strafbarkeit der Abtreibung

nicht von verheirateten Frauen anzuwenden seien. Sowohl dieser Zusatz, als auch die einfache Tatsache, daß die häufigste Ursache für das Ausbleiben der Menstruation eine Schwangerschaft ist, machten den abortiven Charakter dieser Medikamente offenkundig 18 . In Kanada wurde ungefähr zeitgleich der Umschwung von einer Fristenlösung zum generellen Verbot der Abtreibung vollzogen. Während zunächst nach dem aus England übernommenen common law, sowie um 1840 in einigen Provinzen entsprechend des ebenfalls aus England übernommenen Lord Ellenborough Act (von 1803), die Strafbarkeit erst ab der Spürbarkeit von Kindsbewegungen einsetzte, wurde 1892 mit der Aufnahme des "Offences against the Persons Act" in den Canadian Criminal Code eine generelle Strafbarkeit der Abtreibung begründet 19 . Die erfolgreiche Besetzung des Schwangerschaftsabbruchs durch die Ärzte und das daraus resultierende gesetzliche Verbot - mit Ausnahme der medizinischen Indikation - wurde in den USA fast 100 Jahre, bis ca. 1960 sowohl von der Ärzteschaft als auch von der Bevölkerung als legitimer Teil des amerikanischen Lebens akzeptiert. Dies gelang, obwohl oder vielleicht weil Abtreibungen auch während dieser Zeit weiterhin durchgeführt wurden, die strafrechtliche Verfolgung nicht sehr strikt betrieben wurde, und so Abtreibungen für Frauen auch in weiter gefaßten Notlagen möglich waren 20 . Mit dem strafrechtlichen Verbot und der medizinischen Indikation lag es allein im Ermessen der Ärzte eine Notlage, und damit eine Rechtfertigung der Abtreibung zu diagnostizieren. Dies geschah in unterschiedlicher Weise. Während ein Teil der Ärzteschaft die Indikation im strengen Sinne interpretierte, daß eine Abtreibung nur dann zulässig sei, wenn andernfalls das biologische Leben der Frau gefährdet sei, gab es auch Ärzte, die unter Lebensrettung ferner die Qualität des Lebens und einen mehr seelischen und sozialen Aspekt verstanden. Abtreibungen waren demnach auch dann akzeptiert, wenn die Gesundheit der Frau, inklusive der mentalen Gesundheit, gefährdet war, weiterhin in Fällen von Vergewaltigung, Inzest oder der Wahrscheinlichkeit einer fötalen Mißbildung 21 . Daneben existierte jedoch auch ein breites Feld von illegalen Abtreibungen. Zum einen, da die ärztliche Versorgung aus finanziellen Gründen nur besser 18

Luker, S.18, 19. M. Janine Brodie / Shelley A.M. Gavigan / Jane Jenson, The Politics of Abortion, Toronto 1992, S.10. 20 Vgl. James C. Mohr, The Historical Character of Abortion in the United States Through World War II; in: Sachdev, S.3-14 (8-10). 21 Luker, S.46. 19

III. Erste Liberalisierung durch Indikationen

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gestellten Personen zugänglich war, zum anderen war die Einschätzung der Ärzte nicht vorhersehbar und Frauen, die sich an einen Arzt zur Abtreibung wandten, waren an dessen Interpretation der Lebensrettung gebunden 22 . Eine Diskussion der Abtreibung fand zu diesem Zeitpunkt nicht statt. Während die illegale Abtreibung im privaten Bereich zwar verbreitet, aber aus moralischen Gründen nicht zur öffentlichen Diskussion geeignet war, war die medizinische Indikation dem ärztlichen Ermessen überlassen 23.

III. Erste Liberalisierung durch Indikationen Daß die der Handhabung der Indikation zugrundeliegenden unterschiedlichen Wertevorstellungen ans Licht der Öffentlichkeit drangen, lag an der medizinischen Entwicklung, die eine Schwangerschaftsunterbrechung zur reinen Lebensrettung der Frau immer seltener erforderlich machte. Seit ca. 1920 hatte die Medizin erhebliche Fortschritte in Bereichen gemacht, die zuvor als Indikationsfälle zur Abtreibung galten. Die Indikation wurde daraufhin mehr in den Bereich der Psychologie verlagert, mit der Begründung, daß eine Abtreibung erforderlich sei, da die Frau andernfalls Selbstmord verüben werde 24 . - England / Schweden / Dänemark In Europa setzte sich die rechtliche Normierung von Indikationsregelungen in einigen Ländern schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts durch. So wurde in England das während der gesamten Schwangerschaftsdauer geltende strafrechtliche Verbot der Abtreibung aus dem Jahre 1803 durch den Erlaß des "Infant Life (Preservation) Act" von 1929 insofern relativiert, daß trotz des Verbotes das Leben der Mutter absoluten Vorrang vor dem Schutz des ungeborenen Kindes genoß. Denn eine Ausnahmeregelung im "Infant Life (Preservation) Act", der die Tötung eines Kindes im Zeitraum zwischen Spätstadium der Schwangerschaft und Vollendung der Geburt unter Strafe stellt, läßt die Tötung des Kindes zur Rettung des Lebens der Mutter za25. Die Tendenz zum Verzicht auf Strafdrohung bei Gefahr für die Schwangere wurde zunächst in den skandinavischen Ländern fortgeführt, z.B. durch die 22

Luker, S.50. Luker, S.54. 24 Luker, S.54-55. 25 Siehe Evert Ketting / Philip van Praag, Schwangerschaftsabbruch - Gesetz und Praxis im internationalen Vergleich, l.Aufl. Tübingen 1985, S.17; vgl auch Nicolas P. Terry, England, in: Stanislaw J. Frankowski / George F. Cole (Hrsg.), Abortion and Protection of the Human Fetus, Dordrecht / Boston / Lancaster 1987, S.75-111 (77,78). 23

Β. Historische Entwicklung der Strafbarkeit der Abtreibung

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Schaffung des Gesetzes über den Schwangerschaftsabbruch in Schweden im Jahre 1938, welches (allerdings unter sehr engen Voraussetzungen) außer rein medizinischen, auch eugenische, kriminologische und soziale Gesichtspunkte beachtete26. Auch das für die damalige Zeit sehr liberale Gesetz in Dänemark von 1937 ließ eine Abtreibung außer zum Schutz des Lebens der Mutter noch in den Fällen von Vergewaltigung oder Inzest z u 2 7 . Die dortigen Veränderungen führten auch wieder in England zu einer vermehrten Diskussion und Liberalisierungsbewegung, die ihren vorläufigen Höhepunkt in dem sogenannten "Bourne-case" fand. In dem Prozeß von 1938 wurde ein Arzt angeklagt, der einen Schwangerschaftsabbruch bei einem 14jährigen vergewaltigten Mädchen vorgenommen hatte. Obwohl die Austragung der Schwangerschaft keine Lebensgefahr für das Mädchen bedeutet hätte, und damit die einzige legale Möglichkeit für einen Abbruch nicht gegeben war, wurde der Arzt freigesprochen. Das Gericht legte die körperliche Lebensgefahr der Frau so aus, daß davon auch seelische Gefahren umfaßt wurden 28 . - Deutschland Im Deutschen Reich wurde nach dem § 218 des Reichsstrafgesetzbuch von 1871 der Schwangerschaftsabbruch ohne Ausnahme für strafbar erachtet und mit Zuchthaus von 1 bis 5 Jahren bestraft. Eine umfassende Reform ließ sich nicht verwirklichen, obwohl sich der Reichstag sechsmal mit der Regelung befaßte. Es wurde lediglich 1926 eine Strafmilderung durchgesetzt. Daher kam dem Urteil des Reichsgerichts vom 11.3. 1927 große Bedeutung zu, in dem im Rahmen der Güterabwägung festgestellt wurde, daß bei Todesgefahr für die Schwangere der von einem Arzt durchgeführte Schwangerschaftsabbruch nicht rechtswidrig sei 2 9 . In der Weimarer Republik kam es zu vielen Aktionen gegen den § 218, die jedoch durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten jede Aussicht auf Erfolg verloren. Unter Hitler wurde das Gesetz sogar noch verschärft, ausge-

26

Karin Comils / Bernd Wiskemann, Landesbericht Schweden, in: Eser / Koch, Teil 1, S.1383-1482 (1404). 27 Siehe Ketting / van Praag, S.l 1,14. 28 "If the doctor is of the opinion, on reasonable grounds and on adequate knowledge, that the probable consequences of the continuation of the pregnancy would indeed make the woman a physical and mental wreck, then he operates, in that honest belief, for the purpose of preserving the life of the mother"; nach Ketting / van Praag, S.l 7. 29 Hans-Georg Koch, Landesbericht Bundesrepublik Deutschland, in: Eser / Koch, Teil I, S. 17-324 (68).

IV. Frauenbewegung und das neue Denken in Rechten

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nommen davon waren lediglich nichtarische Volkszugehörige; Juden war die Abtreibung ausdrücklich erlaubt 30 .

IV. Frauenbewegung und das neue Denken in Rechten Mit der beginnenden Liberalisierung der Abtreibungsgesetze hätte die Debatte weiterhin unter Ärzten und Juristen verbleiben können, wenn nicht folgend ein neuer Anspruch der Frauen aufgetaucht wäre. Sie reklamierten erstmalig, daß die Entscheidung über eine Abtreibung nicht - wie bisher - von Ärzten, sondern von den Frauen selbst getroffen werden sollte. Da die Basis der Argumentation darauf gerichtet ist, wer die Entscheidung über eine Abtreibung in den Händen hält, wird diese Haltung mit "pro-choice" beschrieben. Es überrascht, daß dieser Anspruch auf ein Recht auf Abtreibung - der heute aus der Diskussion nicht mehr wegzudenken ist - in den USA erst Mitte bis Ende der 60er Jahre geltend gemacht wurde und auch in Kanada erst nach Verabschiedung des neuen Gesetzes (im Rahmen der Strafrechtsreform von 1969) von Frauen gefordert wurde. Dazu muß man sich jedoch vor Augen halten, daß dieses neue Bewußtsein von Frauen über den Wert der körperlichen Selbstbestimmung, das ein Recht auf Abtreibung beinhaltet, mit der sich wandelnden Stellung der Frau in der sozialen Welt erwuchs. Die körperliche Selbstbestimmung bedeutet wenig, wenn es die vorangige Aufgabe der Frau ist, Kinder zu gebären und Mutter zu sein. Mit dem Vordringen von Frauen in Berufe, die zuvor Männern vorbehalten waren (u.a. da sie längere Ausbildungszeiten erforderten), bekam die Kontrolle darüber, ob und wann eine Frau Kinder wollte, eine neue und wichtige Bedeutung 31 .

V. Weitere Reformen in Europa Die Reformbemühungen wurden insgesamt durch den 2.Weltkrieg unterbrochen, dann aber wieder aufgenommen. In den fünfziger Jahren entwickelte sich eine breite politische und gesellschaftliche Diskussion über die strafrechtliche

30 Renate Augstein / Hans-Georg Koch, Was man über den Schwangerschaftsabbruch wissen sollte, München 1984, S.28. 31 Luker, S.118.

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Β. Historische Entwicklung der Strafbarkeit der Abtreibung

Bewertung der Abtreibung, die schließlich Mitte der sechziger Jahre zu einer weltweiten Entkriminalisierung führte 32 . - Schweden Als Auslöser kommt hier die in einigen Ländern allmählich sich verändernde Praxis bezüglich der Abtreibung in Betracht. So wurde in Schweden 1946 die Einführung einer weiter gefaßten sozial-medizinischen Indikation durchgesetzt, nachdem festgestellt worden war, daß die Zahl der illegalen Abtreibungen aus sozialer Not stetig zunahm. In dem Jahr der Gesetzesänderung war eine Zunahme von zuletzt 700 auf 6000 Schwangerschaftsabbrüche zu verzeichnen 3 3 . Auch das Aufkommen der modernen Frauenbewegung und die sich damit verändernde Einstellung zu Sexualität und Familienplanung spielten eine wesentliche Rolle in der gesellschaftlichen Diskussion. - Großbritannien Vorreiter der Reformbewegung war Großbritannien, das nach mehreren erfolglosen Versuchen im Jahre 1967 den Abortion Act verabschiedete. Das Gesetz gilt in England, Wales und Schottland, nicht jedoch in Nordirland. Darin enthalten sind die Voraussetzungen, nach denen ein Schwangerschaftsabbruch, als Ausnahme zum grundsätzlich fortbestehenden Verbot der s.58 des Offences against the Person Act von 1861 und nach dem Infant Life Act von 1929, nicht strafbar ist. Dieses Indikationsgesetz läßt die Schwangerschaftsunterbrechung bis zur 28. Woche zu, wenn die Fortsetzung der Schwangerschaft eine größere Gefahr für das Leben der Mutter mit sich bringt als ein Abbruch. Da dies fast immer der Fall ist, führte das Gesetz zu einer Situation, die einem Schwangerschaftsabbruch auf Antrag gleichkam, obwohl formalgesetzlich nur die medizinische Indikation anerkannt war 3 4 . 1990 wurde in einem parlamentarisch sehr mühsamen Verfahren die Frist auf 24 Wochen verkürzt 35 . Die Gesetzesänderung von 1967 hatte großen Einfluß auf andere Staaten mit restriktiven Regelungen, die - nicht zuletzt durch den Abtreibungstourismus in Nachbarländer - gezwungen waren, sich erneut mit dem Thema auseinanderzusetzen. So kam es auch in Dänemark, Schweden, der Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien und den Niederlanden zu Reformen. 32

Monika Frommel, "Lebensschützer" auf dem Rechtsweg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 30.3.1990, S.19. 33 Cornils / Wiskemann, S.1405. 34 Huber, S.688; ebenso Ketting / van Praag, S.19. 35 Nach Rolf Stürner, Die Unverfügbarkeit ungeborenen menschlichen Lebens und die menschliche Selbstbestimmung, in: JZ 1990, S.709-724 (715).

V. Weitere Reformen in Europa

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- Niederlande In einigen Ländern reagierte die Praxis dabei schneller auf die Veränderungen in der Beurteilung, Auseinandersetzung und Handhabung des Themas, als die Gesetzgebung. So war z.B. in den Niederlanden schon 1971 die Situation entstanden, daß eine Frau den Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch erhalten konnte, obwohl dies nach dem alten Gesetz von 1886 nur aus medizinischen Gründen erlaubt war. Eine Entscheidung darüber, wann diese medizinischen Gründe vorliegen, wollten weder der Gesetzgeber noch die Ärzteschaft treffen, so daß dies der betroffenen Frau überlassen blieb 3 6 . 1981 wurde das Gesetz auf Antrag der regierenden Koalition aus Christdemokraten und Liberalen an die veränderte Praxis angeglichen, trat aber erst 1984 in Kraft. Demnach ist ein Schwangerschaftsabbruch nicht strafbar, wenn sich die Frau in einer Notlage befindet, die jedoch nicht gesetzlich definiert wird, sondern von der Frau gemeinsam mit dem Arzt bestimmt wird, der zugleich den Abbruch durchführt. - Dänemark In Dänemark wurde das Gesetz 1973 der bereits veränderten Praxis angepaßt; jede Frau kann bis zur 12. Woche der Schwangerschaft ungeachtet ihrer Motive einen Abbruch erhalten 37 . - Schweden In Schweden kam es 1975 zur letzten Gesetzesänderung bezüglich des Schwangerschaftsabbruchs, wodurch dieser auf Verlangen der Frau innerhalb der ersten 18 Wochen ermöglicht wurde. Es handelt sich hierbei um eines der liberalsten Gesetze38. - Österreich Im selben Jahr wurden auch in Frankreich und Österreich Reformen durchgeführt, in beiden Ländern verbunden mit einem Verfassungsstreit. Nachdem gegen heftigen Widerstand der Opposition in Österreich die Fristenlösung am 1.1. 1975 in Kraft trat, wurde von der Salzburger Landesregierung das Verfassungsgericht angerufen. Die Antragsteller hielten das Gesetz für verfassungswidrig, da das Lebensrecht des Fötus verletzt werde. Ein Lebensrecht sei zwar in den österreichischen Grund- und Freiheitsrechten nicht ausdrücklich normiert, wohne diesen Rechten jedoch als selbstverständliche Voraussetzung inne. Weiterhin sei ein Lebensrecht, auch des ungeborenen Lebens, in Art. 2

36 37 38

Ketting/ van Praag, S.22. Ketting/ van Praag, S.14. Ketting / van Praag, S.13.

Β. Historische Entwicklung der Strafbarkeit der Abtreibung

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der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) statuiert, die in Österreich Verfassungsrang genießt. Der Verfassungsgerichtshof entschied jedoch, daß die Fristenlösung nicht im Widerspruch zur Bundesverfassung stünde. Das System der Schutzrichtung der im Staatsgrundgesetz enthaltenen Rechte sei auf die Gewährleistung der Rechte des Einzelnen vor dem Zugriff des Staates gerichtet, nicht dagegen, ob eine bestimmte Handlung strafbar sein solle oder nicht. Auch Art. 2 der EMRK sei nicht verletzt, da die Vorschrift keine Begriffsbestimmung enthalte und sich daher auch nicht auf das ungeborene Leben erstrecke 39. - Frankreich In Frankreich wurden noch 1942 unter dem Vichy Regime die Strafbestimmungen gegen die Abtreibung verschärft und im selben Jahr wurde dort die letztbekannte Hinrichtung für eine Abtreibung vollstreckt. Nach der Befreiung kehrte man zu der alten Regelung von 1939 zurück, die geringere Strafdrohungen vorsah, sowie eine rechtfertigende Indikation im Falle der schweren Gefahr für das Leben der Schwangeren 40. 1975 wurde der Reformentwurf der Gesundheitsministerin Simone Veil vom Verfassungsrat (Conseil Constitutionnel) gebilligt und so zum geltenden Gesetz. Es regelt u.a. die Freistellung des Schwangerschaftsabbruchs von der Strafbarkeit innerhalb der ersten 10 Wochen, wenn sich die Schwangere nach ihrer eigenen Einschätzung in einer Notlage befindet 41 . Der Verfassungsrat war der Auffassung, daß der legale Schwangerschaftsabbruch nicht gegen das in der Präambel der Verfassung von 1946 garantierte Recht auf Achtung des menschlichen Lebens verstoße. Denn das Schwangerschaftsabbruchgesetz garantiert ebenfalls in Art. 1 die Achtung eines jeden menschlichen Wesens vom Beginn des Lebens an und durchbricht diesen Grundsatz nur im Notstandsfall unter gesetzlich festgelegten Voraussetzungen 42. - Italien Das erste Strafgesetzbuch des geeinten Italien von 1889 verbot den Schwangerschaftsabbruch ohne Einschränkungen. Das Strafmaß wurde 1930 während der Ära des Faschismus noch verschärft, es wurde aber auch eine allgemeine 39

Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes vom 11.10.1974; abgedruckt in EuGRZ 1975, S.74-81. 40 Siehe Thomas Wüst-Reichenbach, Landesbericht Frankreich, in: Eser / Koch, Teil I, S.475-572 (498-502). 41 Übersetzung der Entscheidung siehe EuGRZ 1975, S.54 ff.; vgl. auch Ketting / van Praag, S.37. 42 Wüst-Reichenbach, S.507-510.

V. Weitere Reformen in Europa

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Notstandsvorschrift zur Rechtfertigung angewandt, wenn das Leben der Schwangeren gefährdet war 4 3 . Die Verfassungsgerichtsentscheidung von 1975 kündigte die beginnende Reform an 4 4 . Das Gericht erklärte in einer betont kurz gehaltenen Entscheidung die geltende Regelung des Schwangerschaftsabbruchs insofern für verfassungswidrig, da als rechtfertigende Ausnahme der Abtreibung nur der allgemeine Rechtfertigungsgrund des Notstandes vorgesehen war, der keine adäquate Anwendung im Schwangerschaftskonflikt gewähre. Denn ein Notstand liege normalerweise nur dann vor, wenn eine schwere Schädigung unmittelbar bevorstehe, während die Risiken einer Schwangerschaft möglicherweise zum Abtreibungszeitpunkt bereits vorhersehbar sind, sich aber noch nicht realisiert haben. Auch bestehe zwischen dem Rechtsgut des Lebens und der Gesundheit der Schwangeren keine Gleichwertigkeit im Verhältnis zu Leben und Gesundheit des Ungeborenen, da dieses erst Person werden müsse. Insgesamt blieb das Gesetz jedoch mit der Maßgabe bestehen, daß der bestehende rechtfertigende Notstand auf den Fall der Gesundheitsgefährdung der Frau erstreckt wird, da die Gesundheit der Frau bei Gefahr eines schweren Schadens dem Leben des Kindes vorgeht 45 . 1978 wurde ein neues Gesetz verabschiedet, das in den ersten 90 Tagen einer Schwangerschaft den Abbruch zuläßt, wenn die Frau geltend macht, daß die Fortsetzung der Schwangerschaft eine ernste Gefahr für ihre körperliche oder geistige Gesundheit bedeuten würde. Eine förmliche Indikationsfeststellung findet jedoch nicht statt, so daß die Entscheidung letztlich von der Frau abhängt. In einem Beratungsgespräch, das zumeist mit dem behandelnden. Arzt geführt wird, kann dieser entweder die Dringlichkeit der Abtreibung bestätigen, ohne jedoch die Gründe zu benennen, oder die Dringlichkeit verneinen. Letzteres verhindert jedoch nicht die Abtreibungsmöglichkeit der Schwangeren, sondern sie unterliegt in diesem Fall lediglich einer 7-tägigen Wartefrist bis sie einen Abbruch erhalten kann. Die Situation kommt daher einem Anspruch der Schwangeren auf eine Abtreibung innerhalb der ersten 90 Tage der Schwangerschaft gleich. Diese parlamentarische Lösung wurde 1981 in einer Volksabstimmung bestätigt 46 .

43

830).

Johanna Bosch, Landesbericht Italien, in: Eser / Koch, Teil I, S.799-889 (828-

44 Übersetzung der Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichtes vom 18.2.1975 in EuGRZ 1975, S.162 ff.. 45 Siehe dazu auch Hans Reis, Das Lebensrecht des ungeborenen Kindes als Verfassungsproblem, Tübingen 1984, S.88-91. 46 Siehe hierzu Jörg Luther, Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, BadenBaden 1990, l.Aufl., S.168-175; Bosch, S.843-844.

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Β. Historische Entwicklung der Strafbarkeit der Abtreibung

- Spanien In Spanien war der Schwangerschaftsabbruch bis 1985 ununterbrochen strafbar. Ein Reformversuch im Jahre 1983, der eine medizinische, eugenische und kriminologische Indikation vorsah, konnte wegen einer vorbeugenden Klage vor dem Verfassungsgericht nicht in Kraft treten. Das Gericht hielt die begrenzte Straffreistellung zwar prinzipiell für zulässig, aber es bemängelte die geringen verfahrensrechtlichen Garantien, die eine unzulässige Ausdehnung der Straffreistellung verhindern sollten. Die Argumentation des Gerichtes war der des deutschen Bundesverfassungsgerichtes insofern ähnlich, als der Staat eine Schutzpflicht auch gegenüber dem ungeborenen Leben habe. Bei Kollisionen zwischen dem Rechtsgut des ungeborenen Lebens und den Grundrechten der Schwangeren könne der Gesetzgeber dann auf eine strafrechtliche Sanktion verzichten, wenn unerträgliche Belastungen entstehen würden, was jedenfalls bei medizinischen, kriminologischen und eugenischen Indikationen der Fall sein könne 47 . Nach einer Anpassung an die verfahrensrechtlichen Vorgaben des Gerichtes konnte das Gesetz 1985 in Kraft treten 48 . - Bundesrepublik Deutschland In der Bundesrepublik fanden Anfang der 70er Jahre eine Fülle von Protestkundgebungen gegen die geltende Abtreibungsregelung statt. Insbesondere die Frauenbewegung machte sich in vielfältiger Form für eine Reform des Rechts stark. Die größte Publizität wurde mit einer zuvor schon in Frankreich erprobten Aktionsform erreicht. 374 Frauen bekannten im Magazin "Der Stern" vom 3. 6. 1971, daß sie abgetrieben hatten. Die Aktion fand sicher keine uneingeschränkte Zustimmung, aber es wurde den Frauen dadurch leichter gemacht, sich zu solidarisieren und eine Diskussion war unvermeidlich geworden 49 . Es begannen aber auch Kampagnen der Befürworter des Abtreibungsverbotes, insbesondere aus dem Bereich der Kirche und der Ärzteschaft. Entsprechend vielfältig und langwierig war die folgende Reformdiskussion innerhalb des Bundestages.

47

Entscheidung übersetzt in: EuGRZ 1985, S.611 ff.. Siehe Walter Perron, Landesbericht Spanien, in: Eser / Koch, Teil 1, S. 1621-1664 (1634-1640); Auszüge und Anmerkungen zum Urteil des spanischen Verfassungsgerichts (sowie zu weiteren Gerichtsentscheidungen bezüglich des ungeborenen Lebens) auch bei Pieter Willem Smits, The right to life of the unborn child in international documents, decisions and opinions; Bedum 1992, S. 122-133. 49 Vgl. Herta Däubler-Gmelin / Renate Faerber-Husemann, § 218 Der tägliche Kampf um die Reform, Bonn 1987, S.82- 85. 48

V. Weitere Reformen in Europa

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Sowohl die damalige Regierungskoalition von SPD und FDP, als auch die CDU/CSU-Fraktion hatten große Schwierigkeiten innerhalb der eigenen Partei einen Konsens zu finden. 1974 legte der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, der in den Beratungen der verschiedenen Entwürfe auch keine Mehrheit fand, dem Bundestag vier verschiedene Gesetzesentwürfe zur Beratung vor. In einer Schlußabstimmung wurde schließlich der SPD/FDP-Entwurf, nämlich die Fristenlösung angenommen. Danach sollte die Schwangerschaftsunterbrechung in den ersten 12 Wochen nach Beratung durch einen Arzt straffrei sein. Im Bundesrat, in dem die CDU/CSU die Mehrheit hatte, erhielt der Entwurf keine Zustimmung; auch der angerufene Vermittlungsausschuß konnte keinen Kompromiß finden. Letztendlich wurde der Einspruch des Bundesrates durch den Bundestag zurückgewiesen und das Gesetz am 21. 6. 1974 im Bundesgesetzblatt verkündet 50 . Das Gesetz trat dennoch nicht in Kraft, denn das Bundesverfassungsgericht, welches von 5 Bundesländern mit christlich-demokratischer Regierung zur Überprüfung der Fristenlösung angerufen worden war, erklärte es für grundgesetzwidrig und damit nichtig 5 1 . Obwohl die Motivation des Gesetzes war, das ungeborene Leben durch diese Lösung besser zu schützen als durch Strafbestimmungen, verwarf das Gericht diese Möglichkeit und setzte Vorgaben für eine Regelung im Sinne einer Indikationslösung. Dies führte zu der Regelung, die einen Schwangerschaftsabbruch in den ersten 12 Wochen erlaubt, wenn eine Indikation vorliegt. Diese wird unterteilt in die allgemein-medizinische, die eugenische, die kriminologische und die Indikation im Falle einer schweren Notlage. Für die Feststellung dieser Indikationen sind keine Anhaltspunkte vorgegeben, sondern es obliegt dem Ermessen des Arztes, ob eine Indikationslage anzunehmen ist. In dieser Form trat das Gesetz 1976 in Kraft. Neuen Auftrieb bekam die Abtreibungsdebatte in der Bundesrepublik Deutschland durch die Strafgerichtsverfahren gegen den Frauenarzt Dr. Theissen. Im September 1988 begann vor dem Landgericht Memmingen der Prozeß gegen den Arzt wegen illegaler Schwangerschaftsabbrüche "in mindestens 156 Fällen", 1989 erging das Urteil mit einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten 52 . Der Fall Theissen war Auslöser und Vehikel einer grundsätzlichen 50

Siehe Koch, S.78-81. BVerfGE 39, 1 ff; mit Anmerkungen abgedruckt in EUGRZ 1975, S.126 ff.. 52 Am 3.12.1991 hob der 1. Strafsenat des BGH das Urteil im Strafausspruch auf; siehe hierzu "Kein Horrorszenario wie in Memmingen" in Der Spiegel 3/1994, S.52-55; ausführlicher zum Urteil siehe Winfried Hassemer, Bestrafung des Schwangerschaftsabbruchs und Beschlagnahme von Patientinnenkarteien - Fall Theissen, in: JuS 1992, S.703-705. 51

3 Moors

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Β. Historische Entwicklung der Strafbarkeit der Abtreibung

Debatte über das Abtreibungsrecht und schuf die Fronten, die sich ein Jahr später bei der Wiedervereinigung Deutschlands gegenüberstanden, als wegen der unterschiedlichen Regelungen im Westen (Indikationsregelung) und im Osten (Fristenregelung) eine gemeinsame Neuregelung erforderlich wurde. Der Einigungsvertrag von 1990 bestimmt in Art. 31 IV, daß in der DDR die seit 1972 bestehende Fristenlösung vorerst bestehen bleibt, aber der gesamtdeutsche Gesetzgeber wurde verpflichtet, bis zum 31. 12. 1992 "eine Regelung zu treffen, die den Schutz vorgeburtlichen Lebens ... besser gewährleistet, als dies in beiden Teilen Deutschlands derzeit der Fall ist" 5 3 . Die Diskussion ging von Fristenlösung zu Indikationenlösung, aber auch die verschärfte Strafbarkeit der Abtreibung wurde gefordert, oder der von der Bundestagspräsidentin, Frau Rita Süssmuth, vorgeschlagene "dritte Weg" diskutiert 54 . Eine Neuregelung wurde schließlich am 26. Juni 1992 beschlossen, als sich im Bundestag ein Gruppenantrag von SPD, FDP und etwa 30 CDUAbgeordneten durchsetzte. Nach 14-stündiger Debatte stimmten die Abgeordneten (der "Fraktionszwang" wurde vorher formell aufgehoben) mit 355 gegen 283 Stimmen für die Fristenregelung mit Beratungspflicht. Nach der im neuen Schwangeren- und Familienhilfegesetz (SFHG) festgeschriebenen Regelung, sollte der Abbruch in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft nicht rechtswidrig sein, wenn sich die Frau 3 Tage zuvor hat beraten lassen 55 . Das Gesetz sah weiterhin eine Reihe von Hilfsmaßnahmen für Schwangere und Mütter

53

Vgl. Friedrich Karl Fromme, Rechtswidrig, aber nicht strafbar - der Weg zur Abtreibung wird im Westen kürzer, in: FAZ vom 16.3.1993, S.3; insbesondere zu den verfassungsrechtlichen Problemen dieser Regelung des Einigungsvertrages siehe Bernd Schünemann, Quo vadis §218 StGB? in ZRP 1991, S.379-392; sowie Erich Samson, Geteiltes Strafrecht im vereinten Deutschland, in: Neue Justiz 4/1991, S. 143-147; zur Vereinbarkeit der Fristenlösung mit dem GG siehe Michael Sachs, Der Fortbestand der Fristenlösung für die DDR und das Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift, 1990, S. 193-199. 54 Es handelte sich bei ihrem Vorschlag um den Entwurf eines "Lebensschutzgesetzes"; siehe dazu "Das zerreißt die Partei" in: Der Spiegel 20/1991, S.18-31; zu den verschiedenen Vorschlägen der Union, SPD u.a. siehe die Süddeutsche Zeitung vom 26.9.1991, S. 13; zu der Debatte und dem grundsätzlich unterschiedlichen Ansatz der Abtreibungsdiskussion als Frage der Gewissensentscheidung siehe Monika Frommel, Strategien gegen die Demontage der Reform der §§ 218 ff. StGB in der Bundesrepublik, in: ZRP 1990, S.351-354; eine damit vergleichbare Betrachtungsweise findet sich in den USA bei der Diskussion der Abtreibung als Teil der Religionsfreiheit; siehe dazu Peter S. Wenz, Abortion rights as religious freedom; Philadelphia 1992. 55 So der in Artikel 13 des SFHG geänderte §218 a I; Abdruck des SFHG in Bundesgesetzblatt 1992, Teil I, S. 1398-1404.

V. Weitere Reformen in Europa

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vor, die die Entscheidung für ein Kind erleichtern sollten. So soll z.B. ab dem 1.1. 1996 ein Kind vom dritten Lebensjahr an einen Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens haben 56 . Obwohl das SFHG im Juli 1992 den Bundesrat passierte, wurde sein Inkrafttreten durch eine einstweilige Verfügung des Bundesverfassungsgerichtes verhindert. Dieses war von 247 Unionsabgeordneten und dem Freistaat Bayern angerufen worden, da ihrer Auffassung nach die pauschalierte Rechtmäßigkeit der Abtreibung innerhalb der 12-Wochen Frist das verfassungsrechtlich gebotene Unwerturteil der Abtreibung mißachte. In dem Urteil vom 28. Mai 1993 erklärte das Bundesverfassungsgericht das SFHG in wesentlichen Teilen für verfassungswidrig, ließ aber die Fristenregelung mit Beratungspflicht als Regelungsmodell bestehen57. Das Gericht hat insbesondere den § 218 a I StGB verworfen, da dieser den Schwangerschaftsabbruch innerhalb von 12 Wochen nach der Empfängnis und nach einer Beratung als "nicht rechtswidrig" bezeichnete. Der Schwangerschaftsabbruch muß nach Meinung des Gerichts für die gesamte Dauer der Schwangerschaft als Unrecht angesehen werden und demnach gesetzlich verboten sein. Denn schon dem ungeborenen Leben komme Menschenwürde zu, so daß der Staat eine Schutzpflicht habe. Dieser Schutz sei nicht absolut, sondern auch die Menschenwürde der Frau, sowie ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und ihr Persönlichkeitsrecht seien zu beachten. Diese Rechte der Frau können die generelle Rechtspflicht zum Austragen des Ungeborenen nicht aufheben, sondern nur in Ausnahmefällen greifen. Diese Ausnahmelage kann nur im Falle der staatlich überwachten Feststellung eine Abtreibung rechtfertigen und damit auch die gesetzliche Krankenkasse leistungspflichtig werden lassen 58 . Obwohl das Beratungsmodell im Prinzip anerkannt wurde, erklärte das Gericht die entsprechende Regelung in § 219 StGB für nichtig, da die Ausgestal56

Siehe den neu gefaßten §24 III des Kinder- und Jugendhilfegesetzes in Art.5 des

SFHG. 57

BVerfG, Urteil vom 28.5.1993, in: NJW 1993, S.1751-1779; vgl. Horst-Hennek Rohlfs / Ursel Schäfer, Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland 1993/94; München 1993; S.378-383. 58 Siehe BVerfG in: NJW 1993, S.1751-1779 (1753-1754,1758,1767); zu den mit dem Urteil entstandenen Unsicherheiten bezüglich der Finanzierung einer sozial indizierten Abtreibung siehe Manfred Wienand, Sozialhilfe bei Abbruch einer Schwangerschaft, in: Familie und Recht, 4/1993, S.209-212; Johann Bader, Sozialhilfe kann ungewollt Schwangere in die Illegalität treiben, in: FR vom 10.11.1993, S.14; Hans Harald Bräutigam / Marlies Menge / Sabine Rückert, Geld oder Leben, in: Die Zeit vom 16.7.1993, S.9. 3*

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Β. Historische Entwicklung der Strafbarkeit der Abtreibung

tung der Beratung nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Lebensschutz genüge 59 . Am 16. Juni trat eine Übergangsregelung des Gerichtes für Gesamtdeutschland in Kraft, die solange galt, bis der Bundestag ein neues Gesetz verabschiedet hatte. Eine Abtreibung war danach in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft rechtswidrig, aber nicht strafbar, sofern zuvor eine Beratung erfolgt war. Für die Beratung wurden umfassende Kriterien festgelegt, um sie "ergebnisoffen, aber zielorientiert" zu gestalten und so zu einem wirksamen Schutz des ungeborenen Lebens werden zu lassen, der die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigt 60 . Ein im Mai 1994 verabschiedeter Gesetzentwurf der Regierungskoalition 61 wurde vom Bundesrat abgelehnt und scheiterte auch im Vermittlungsausschuß. Im Februar 1995 wurden im Bundestag sechs neue Gesetzesentwürfe zur Novellierung des Abtreibungsrechts eingebracht. Die CDU/CSU-Fraktion hielt an dem ursprünglichen, im Vermittlungsausschuß gescheiterten Entwurf fest. Die fünf neuen Gesetzesentwürfe wurden von der FDP, der SPD, den Grünen, der PDS und einer Minderheitengruppe von CDU/CSU-Abgeordneten vorgeschlagen. Unterschiede finden sich in den Entwürfen insbesondere zu der Frage der Finanzierung der Abtreibung, der Ausgestaltung der Beratung und zu der Frage der Strafbarkeit des "Umfelds" der Schwangeren 62. Aber erst nachdem sich die Bundestagsfraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf einen gemeinsamen Entwurf verständigten, konnte dieser Kompromiß am 29. Juni 1995 von einer breiten Mehrheit des Bundestages und am 14. Juli 1995 auch vom Bundesrat verabschiedet werden. Das neue Abtreibungsrecht sieht vor, daß nur rechtmäßige Schwangerschaftsabbrüche (d.h. nach einer medizinischen oder kriminologischen Indikation, die embryopathische Indikation soll in der medizinischen aufgehen) von den Krankenkassen finanziert werden. Ein straffreier (aber nicht rechtmäßiger) 59

Zur Ausgestaltung der Beratung siehe BVerfG in: NJW 1993, S. 1751-1779 (1760-1762). 60 Besprechungen des Urteils finden sich in: Das Urteil zu § 218 StGB - in Wortlaut und Kommentar; in: Sonderheft der KritV von 1/1993, weiterhin Monika Frommel, § 218: Straflos, aber rechtswidrig; zielorientiert, aber ergebnisoffen - Paradoxien der Übergangsregelungen des Bundesverfassungsgerichts; in: KJ 1993, S.324-335; oder Georg Hermes / Susanne Waither, Schwangerschaftsabbruch zwischen Recht und Unrecht, in: NJW 1993, S.2337-2347; europarechtliche Bezüge finden sich bei Ulrich Vultejus, Das Schwangerschaftsurteil, in: Betrifft JUSTIZ 1993, S. 101-104. 61 Siehe "Knappe Mehrheit für die Neuregelung des Abtreibungsrechts" in der FAZ vom 27.5.1994, S.l. 62 "Bei der erneuerten Fristenregelung zeichnet sich eine Mehrheit gegen die Union ab", FAZ vom 11.2. 1995, S.l und S.2.

VI. Reformen in den USA und Kanada

33

Schwangerschaftsabruch nach einer Beratung muß von der Frau in der Regel selbst finanziert werden. Für sozial bedürftige Frauen soll die Krankenkasse den Eingriff vorfinanzieren und das Geld von den Ländern zurückerhalten. Die Einkommensgrenze für die Bedürftigkeit wurde auf D M 1700,- (in den neuen Bundesländern D M 1500,-) brutto monatlich festgelegt. Die Formulierung des Beratungszieles orientiert sich eng an dem Urteil des BVerfG und sieht vor, daß die Beratung dem Schutz des ungeborenen Lebens dient. Der Forderung des BVerfG nach einer strafrechtlichen Verantwortung des familiären Umfelds wurde dadurch Rechnung getragen, daß auch die Nötigung zum Schwangerschaftsabbruch künftig strafbar sein soll 6 3 .

VI. Reformen in den USA und Kanada -USA Zwei spezielle Ereignisse förderten parallel zu den europäischen Entwicklungen auch in den USA die Reformdiskussion. Das in Europa zugelassene Medikament Thalidomide (Contergan) hatte Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre bei vielen Kindern zu Mißbildungen geführt, deren Mütter es während der Schwangerschaft eingenommen hatten. In den USA war es zwar verboten, aber 1962 stellte die schwangere US-Bürgerin Sherri Finkbine fest, daß es sich bei einem von ihr eingenommenen Beruhigungsmittel, welches ihr Ehemann aus Europa mitgebracht hatte, um Thalidomide gehandelt hatte. Auf Anraten ihres Arztes ließ sie sich einen Termin für eine Abtreibung im örtlichen Krankenhaus geben, den sie auch ohne Schwierigkeiten erhielt. Um andere Frauen vor der Gefährlichkeit des Medikaments zu warnen, gab sie die Information an einen befreundeten Journalisten. Die daraus resultierende Schlagzeile entfachte eine solche Diskussion, nicht nur in ihrem Heimatstaat Kalifornien, sondern in den gesamten USA, daß die bereits terminierte Abtreibung wieder abgesagt wurde und es für Ms. Finkbine keine Möglichkeit mehr gab, eine legale Abtreibung in den USA zu erhalten und sie schließlich nach Schweden fahren mußte. Eine ähnliche Wirkung hatte 1962-1965 der Ausbruch von Röteln, die bei schwangeren Frauen zu Mißbildungen der Kinder führen können. Insgesamt wurden als Resultat der Epidemie ca. 15.000 Kinder mit schweren Defekten

63

Nach SFHÄndG vom 21.8.1995, BGBl. I, S.1050; vgl. auch FAZ vom 27.6.1995, S.l und 2; FAZ vom 30.6.1995, S.l und 2; FAZ vom 15.7.1995, S.2.

34

Β. Historische Entwicklung der Strafbarkeit der Abtreibung

geboren 64 . Durch das Ausmaß dieser Tragödie wurde an die Öffentlichkeit gebracht, daß die von Ärzten seit ca. 1940 ausgeübte Praxis, im Falle einer Rötelninfektion während der Schwangerschaft eine Abtreibung zu indiziern, nicht von allen Kollegen geteilt wurde und vor allem nicht immer von den Buchstaben des Gesetzes gedeckt war. Dadurch wurde die Debatte auch in der Öffentlichkeit zu der moralischen Frage gelenkt, wann die bisher von Ärzten unterschiedlich gehandhabte Indikation einer Abtreibung zulässig sein sollte. Der der Abtreibung zugrunde liegende fundamentale Konflikt wurde durch diese Fälle publik gemacht, nämlich ob ein Fötus eine Person ist und damit die gleichen Rechte wie ein geborener Mensch besitzt, oder ob es sich um potentielles Leben handelt, dem geringerer Schutz zukommt. Wieder war es die medizinische Profession, die Motor der Reformbewegung war. Nunmehr wurden die Ärzte, die 100 Jahre früher für die Strafbarkeit der Abtreibung eintraten, in die andere Richtung aktiv, d.h. sie setzten sich für eine Liberalisierung der Gesetzgebung ein. Dies hatte pragmatische Gründe, denn der Konflikt der unterschiedlichen Auslegung der therapeutischen Indikation war nunmehr an die Öffentlichkeit gedrungen. Ärzte, die eine weite Auslegung befürworteten, waren nicht mehr durch kollegiale Diskretion gedeckt, sondern hatten im Licht der Öffentlichkeit eine Strafverfolgung zu befürchten. Daher forderten die Ärzte die Deckung ihrer Tätigkeit durch reformierte Gesetze, die die Indikation zur Abtreibung nicht allein auf die Lebensrettung der Frau beschränkten 65 . Dementsprechend sah auch der Model Penal Code von 1962, der zwar nicht verbindlich war, aber Modellcharakter und Leitbildfunktion hatte, in den Fällen von Vergewaltigung, Inzest, Unzucht oder wenn eine Fortsetzung der Schwangerschaft die geistige oder körperliche Gesundheit der Frau stark beeinträchtigen würde, von Strafe ab. Der erste Staat, der diesem Modell folgte, war 1967 Colorado, im selben Jahr änderten auch Kalifornien und North Carolina ihre Gesetze entsprechend dem Model Penal Code. Bis 1971 wurde noch in weiteren 10 Staaten eine Indikationenlösung eingeführt, dann gab es in Alaska, Hawaii, New York und Washington sogar noch weitreichendere Änderungen zur Fristenlösung 66 . Ein durchschlagender Erfolg für die pro-choice Bewegung und im Vergleich zu den bisherigen Reformen eine erdrutschartige Neuerung wurde am 64

Laurence Tribe, Abortion: The Clash of Absolutes, New York / London 1992,

S.37.

65 66

Tribe, S.38. Ketting / van Praag, S.42-43.

VI. Reformen in den USA und Kanada

35

22. Januar 1973 durch die Entscheidung des Supreme Court in Roe v.Wade 67 erzielt. Durch die weitgehende Anerkennung der Entscheidungsfreiheit der Frau über eine Abtreibung (bis zum 6. Schwangerschaftsmonat ohne Beschränkungen, außer solcher zum Gesundheitsschutz der Frau) wurden sämtliche Abtreibungsverbote, auch die liberalisierten Gesetze mit erweiterten Indikationen, von einem Tag auf den anderen ungültig. Das bedeutete für 46 von 50 Bundesstaaten, daß ihr Abtreibungsrecht verfassungswidrig und unanwendbar wurde. Die Vereinigten Staaten hatten sich sozusagen "über Nacht" von ihrer prinzipiell konservativen Haltung zur Abtreibung zu einem Staat mit einem der liberalsten Abtreibungsgarantien der Welt verwandelt. Die Entscheidung war jedoch nicht nur ein Sieg für pro-choice, sondern mobilisierte im Gegenzug die pro-life Bewegung in einem bisher nicht wiederholten Ausmaß. Dies ist zum Teil durch das Urteil selbst begründet, da die Personenqualität des Fötus verneint wurde. Die Überzeugung der pro-life Anhänger, daß der Fötus als menschliches Leben einem geborenen Menschen gleichsteht, wurde nicht nur als eine Meinung unter vielen dargestellt, sondern zudem in den Bereich der Privatsphäre verwiesen 68 . Diese Bewertung war nicht nur konträr zu den fest verwurzelten Vorstellungen der pro-life Anhänger, sondern sie offenbarte sich diesen auch in ihrem ganzen Ausmaß erstmalig durch die Gerichtsentscheidung. Die bisherigen Reformbewegungen durch Indikationen ließen sich noch mit ihrer Überzeugung verbinden, daß bei Indikationen ein Leben gegen das andere abgewogen werde. In Roe ν. Wade ging es jedoch nicht um die Abwägung "Leben gegen Leben", sondern um das Entscheidungsrecht der Frau und entgegenstehende Staatsinteressen 69. So gewann das Lebensrecht des Fötus erst im Anschluß an diese Entscheidung an Bedeutung und die pro-life Bewegung verhinderte eine Akzeptanz der getroffenen Entscheidung. Die nächsten 20 Jahre der Abtreibungsdebatte in den USA wurden von einer Polarisierung der Meinungen geprägt, sowie einer nicht abreißenden Auseinandersetzung vor dem Obersten Gerichtshof, die schließlich zu einer langsamen Erodierung der Grundsätze von Roe ν. Wade führte. Eine Umkehr oder Abschwächung der Rechtsprechung wurde auf unterschiedliche Weise versucht, aber als erfolgreichste Taktik erwies sich letztlich der Verfassungsprozeß. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die sich verändernde Besetzung des Gerichtshofes, dessen neue Richter dazu tendieren, den Einzelstaaten in der Abtreibungsfrage wieder mehr Freiraum zu überlassen.

67 68 69

Roe v.Wade, 410 U.S. 113. Luker, S.140-141. Luker, S.l39.

Β. Historische Entwicklung der Strafbarkeit der Abtreibung

36

Bislang konnten weder Politiker noch Richter ein Ende oder auch nur eine Beruhigung der Abtreibungsdebatte erreichen, so daß die Entwicklung heute von einer besorgniserregenden Zunahme der gewalttätigen Auseinandersetzung geprägt wird. - Kanada Galt in Kanada zunächst englisches Recht, so änderte sich auch im ersten eigenen Strafgesetzbuch von 1892 bezüglich der umfassenden Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs nichts. Eine Gerichtsentscheidung nahm 1906 Abbrüche zur Lebensrettung der Schwangeren von der Strafbarkeit aus 70 . Erst 1969 wurde die Abtreibungsgesetzgebung reformiert und ließ nun eine Abtreibung nach Zustimmung durch eine ärztliche Kommission in Fällen der Lebens- oder Gesundheitsgefahr der Frau zu. Die Motivation der Reform war auch hier die Klarstellung der ärztlichen Verantwortung 71 . Die führenden Beteiligten an der parlamentarischen Debatte waren Ärzte, vertreten durch die Canadian Medical Association (CMA) und Juristen, vertreten durch die Canadian Bar Association (CBA). Bezeichnend für die Debatte ist auch der Ausspruch des damaligen Justizministers Pierre Trudeau, der sein Reformpaket mit den Worten begründete: "The state has no business in the bedrooms of the nation." 72 Die Beteiligten waren bemüht, die Debatte nicht in den Bereichen von Moral zu führen, sondern betonten den Unterschied von Sünde und Verbrechen, um die Reform als Angleichung der Gesetze an bestehende medizinische Praxis (so die CMA), bzw. bestehende soziale Sitten (so die CBA) darzustellen 73 . Frauenverbände, als größte der damaligen Zeit seien z.B. der "National Council of Women" oder "The Canadian Committee on the Status of Women" genannt, gaben zwar Stellungnahmen ab, aber sie gewannen keinen maßgeblichen Einfluß in der Debatte. Das Argument eines Rechtes auf Abtreibung ist damals aber auch von den Frauenverbänden - mit Ausnahme der "Toronto Women's Liberation Group" - noch nicht vorgebracht worden, sondern ihre

70

Dirk Plagemann, Landesbericht Kanada, in: Eser / Koch, Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich, Teil 2: Außereuropa, 1. Aufl. Baden-Baden 1989, S.593-660 (609,610). 71 Brodie, S.ll. 72 Frederick Lee Morton, Morgentaler v. Borowski: Abortion, the Charter and the Courts; Toronto 1992, S.23. 73 Jane Jenson in: Brodie, S.30.

VI. Reformen in den USA und Kanada

37

Kritik an der bestehenden Regelung beschränkte sich darauf, daß die bestehende Praxis ungerecht sei und mehr soziale Gerechtigkeit gefordert wurde 7 4 . Der kanadische Supreme Court entschied mehrere Fälle zur Abtreibung. 1975 bestätigte der Oberste Gerichtshof eine Verurteilung Henry Morgentalers, der Abtreibungen entgegen der gesetzlichen Regelung durchgeführt hatte. 1982 änderte sich in Kanada die Rechtslage, als ein verfassungsrechtlicher Grundrechtskatalog (The Canadian Charter of Rights and Freedoms) verabschiedet wurde. Grundrechte waren zuvor in der Canadian Bill of Rights nur auf einfachgesetzlicher Ebene, nicht verfassungsrechtlich geschützt. Infolge dieser Änderung erfuhr das Abtreibungsgesetz eine andere Bewertung. 1988 wurde das Gesetz aufgehoben, da die prozedurale Ausgestaltung der Regelung die Sicherheit der Person nach s.7 der Charter verletze. Es ging dabei lediglich um das Recht der schwangeren Frau auf Sicherheit. Der Supreme Court von Kanada vermied es - im Gegensatz zum amerikanischen Gerichtshof - in dieser und den folgenden Entscheidungen die Frage der Bewertung eines Rechts auf Abtreibung oder eines Rechts des Fötus als Person im Sinne der Charter zu behandeln. Die zeitlich parallel verlaufende Klage des Abtreibungsgegners Borowski, der die Aufhebung des Strafgesetzes beantragte, da der Fötus in seinem verfassungsrechtlich garantierten Lebensrecht verletzt werde, erreichte das Gericht kurz nach der Morgentaler-Entscheidung von 1988, so daß die Klage Borowskis mangels eines bestehenden Gesetzes für erledigt erklärt wurde. Durch die völlige Aufhebung des Gesetzes wurde die Frage der Abtreibung in das Zentrum der politischen Auseinandersetzung geworfen. Dadurch, daß der Gerichtshof die Regelung für verfassungswidrig erklärt hatte, war bei aller Zurückhaltung in der Form der Entscheidung doch deutlich, daß es sich hier nicht nur um eine medizinische Frage handelte, sondern um eine Frage von Rechten, die in der Verfassung garantiert waren und die zum Ausgleich gebracht werden mußten. Damit war der politische Raum entstanden, in dem die pro-life und pro-choice Bewegungen sich entfalten konnten. Die Abtreibungsdebatte wurde damit endgültig ihrer medizinisch-technischen Betrachtungsweise entrissen und zu einer - die ganze Nation bewegenden - Frage gemacht. Die folgende parlamentarische Auseinandersetzung blieb mit dem Versuch, ein neues Gesetz zu verabschieden, bis heute erfolglos.

74

Jane Jenson in: Brodie, S.31.

38

Β. Historische Entwicklung der Strafbarkeit der Abtreibung

VII. Zwischenergebnis Die geschichtliche Entwicklung zeigt, daß die generelle Strafbarkeit der Abtreibung erst im Verlauf des 18. Jh. einsetzte. Seit dem Zweiten Weltkrieg, hauptsächlich in den 60er und 70er Jahren, setzte dann ein internationaler Trend zur Entkriminalisierung ein, der in den meisten Ländern zu einer Indikationen· oder zu einer Fristenlösung führte 75 . In einigen europäischen Staaten gab es die Reformen begleitende Verfassungsurteile, in Italien ging das Verfassungsgerichtsurteil zeitlich einer drei Jahre später erfolgenden Reform voraus, ohne diese jedoch vorwegzunehmen. Die Gerichte in Österreich und Frankreich bestätigten den Gesetzgeber, während das deutsche und das spanische Verfassungsgericht den Gesetzgeber zu strengeren Maßnahmen zum Schutze des Ungeborenen verpflichtete, als es gesetzlich vorgesehen war 7 6 . Im fundamentalen Gegensatz zu den europäischen Gerichten sind die Gerichte in den USA und Kanada dem Gesetzgeber zuvorgekommen und haben die Liberalisierung des Rechts durch ihre Urteile selbst herbeigeführt. Der Zeitpunkt von Roe ν. Wade fiel zwar in eine Umbruchsphase des Rechts, aber dieser Trend hatte längst nicht alle Staaten der USA ergriffen. Die Entscheidung nahm daher nicht lediglich eine vorhandene Strömung auf oder verstärkte sie, sondern hat selbst eine Bewegung ausgelöst. Hält man sich vor Augen, daß in lediglich 4 von 50 Einzelstaaten das geltende Gesetz bestehen bleiben konnte, und daß in den meisten Staaten eine Reform des generellen Abtreibungsverbotes überhaupt nicht im Gange oder auch nur beabsichtigt worden war, so bekommt man vielleicht eine kleine Vorstellung von der Eigendynamik, die diesem Richterspruch innewohnte. Auch in Kanada traf der Richterspruch von der Aufhebung des Abtreibungsgesetzes die Politiker völlig unerwartet. Nachdem Kanada seine Reform des Abtreibungsrechtes 1969 durchgeführt hatte, hielt das Gesetz nicht nur einer ersten Bewährungsprobe der gerichtlichen Überprüfung stand, sondern war auch kurz davor, sein 20-jähriges Bestehen feiern zu können. Auch wenn sich mit der Zeit die Mängel in der praktischen Anwendung durch die Provin75

Tabellarische Übersicht der geltenden Abtreibungsregelung von 9 europäischen Ländern und der USA in Ketting / van Praag, S.48-49. 76 Zu dem sich hier anbietenden Vergleich der konträren verfassungsrechtlichen Ansätze der Urteile in den USA und der Bundesrepublik Deutschland wird verwiesen auf die Arbeiten von Winfried Brugger, Abtreibung - ein Grundrecht oder ein Verbrechen? in: NJW 1986, S.896-901; Donald P. Kommers, Liberty and Community in Constitutional Law: The Abortion Cases in Comparative Perspective, in: Brigham Young University Law Review, 1985, S.371-409; Hans Reis; Heike Kaup, Der Schwangerschaftsabbruch aus verfassungsrechtlicher Sicht, Frankfurt Bern New York Paris, 1991.

VIII. Statistische Daten zur Abtreibung

39

zen herausstellten, so war zum Zeitpunkt der Morgentaler-Entscheidung 1988 kein ernsthafter politischer Vorstoß zur Änderung zu erwarten. Die Einführung der Charter hatte es ermöglicht, daß eine einzelne Person mit Hilfe des Gerichtes eine Reform auch gegen den politischen Willen der Regierenden erzwingen konnte. Dadurch ergaben sich völlig neue Möglichkeiten der politischen Beteiligung und Einflußnahme. Die Obersten Gerichte betätigten sich in den USA und Kanada aber nicht nur als Reformer des Rechts, sondern machten die Abtreibung zu einem populären Thema. Endgültig war die Abtreibungsdebatte nun keine technischmedizinische Angelegenheit mehr, sondern eine öffentliche und moralische Frage, die die ganze Nation bewegte. Die Forderung des Rechtes auf Abtreibung setzte zwar schon Ende der 60er Jahre ein, aber ihr wurde in beiden Staaten erst durch die Gerichtsentscheidungen umfassend Geltung verliehen. Als Reaktion auf die Entscheidungen entstand die pro-life Bewegung, die das Lebensrecht des Fötus zum Zentrum der Debatte machte. Die Popularisierung ist zum einen damit zu erklären, daß die Entscheidungen so einschneidende Auswirkungen hatten, daß die Gesetzgeber gezwungen waren, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Zum anderen gilt in beiden Staaten, daß eine medizinische Frage - als die die Abtreibung lange behandelt wurde - leichter aus der öffentlichen Debatte herausgehalten werden kann, da hierzu "Expertenmeinungen" gefragt sind. Handelt es sich jedoch um eine Frage von Rechten des einzelnen, so ist nicht nur jeder Bürger betroffen, sondern die meisten haben auch ihre eigene Meinung dazu oder bilden sie sich im Laufe der Debatte. Das macht einen Kompromiß für die Regierung und auch die damit befaßten Gerichte schwerer, zumal wenn es sich um so unvereinbare moralische Positionen handelt wie in der Abtreibungsdiskussion.

V m . Statistische Daten zur Abtreibung -USA Die USA haben eine sehr hohe Abtreibungsrate, ungefähr fünf mal so hoch wie die der Niederlande. Die Abtreibungsrate im Jahre 1975 (gemessen wird die Anzahl der Abtreibungen pro 1000 Frauen im Alter von 15-44) betrug 22; 1980 war sie auf 29 gestiegen, 1985 lag sie bei 28 und 1988 bei 27. In absoluten Zahlen sind das 1.6 Millionen Schwangerschaftsabbrüche für das Jahr 1988. Die folgenden Zahlen beziehen sich alle auf das Jahr 1988.

Β. Historische Entwicklung der Strafbarkeit der Abtreibung

40

Von den aufgetretenen 6.4 Millionen Schwangerschaften waren 3.6 Millionen (56%) unerwünscht; von den unerwünschten Schwangerschaften endeten 43% mit einer Geburt, 44% mit einer Abtreibung und 13% mit einer Fehlgeburt. Die Rate der ungewollten Schwangerschaften ist bei Teenagern noch höher und beträgt dort 82%. Fast die Hälfte (47%) der ungewollt Schwangeren hat ein Verhütungsmittel benutzt; die Schwangerschaften treten zumeist wegen falschen oder unzulänglichen Gebrauchs der Verhütungsmittel auf. Die meisten Abtreibungen werden von jungen Frauen oder Teenagern gewünscht; 58% sind unter 25 Jahren, davon sind 26% Teenager (zwischen 11 und 19 Jahren). 65% der abtreibenden Frauen sind weiß, aber die Abtreibungsrate ist unter Nicht-Weißen mehr als doppelt so hoch. 50% aller Abtreibungen werden bis zur 8. Woche der Schwangerschaft durchgeführt 77 , 89% noch im ersten Trimester der Schwangerschaft. Ca. 100 Schwangerschaftsabbrüche oder 0.01% finden nach der 24. Woche statt, die überwiegende Mehrheit hiervon wegen einer Anenzephalie des Ungeborenen 7 8 . - Kanada Kanadische Frauen hatten 1991 insgesamt 95.059 Abtreibungen, das entspricht einer Abtreibungsrate (pro 1000 Frauen zwischen 15 und 44 Jahren) von 14.7. Die Gesamtzahl setzt sich zusammen aus 70.277 Abtreibungen in Krankenhäusern, 23.343 Abtreibungen in Kliniken und 1.439 Frauen, die in die USA reisten, um dort abtreiben zu lassen. Die absoluten Zahlen der durchgeführten Abtreibungen sind in der Statistik zwar steigend, aber dies ist nur bedingt aussagekräftig, da Angaben über in Privatkliniken durchgeführte Abtreibungen erstmalig vollständig im Jahre 1990 gesammelt und in die Statistik aufgenommen wurden. Die Abtreibungsrate unter jungen Frauen ist besonders hoch, so waren 19.8 % der Schwangeren, die einen Abbruch vornehmen ließen, unter 20 Jahren und 73.2 % waren unter 30 Jahren.

77

Die Schwangerschaftsdauer wird hierbei ab dem ersten Tag der letzten Periode berechnet; da die Konzeption normalerweise erst ca. 14 Tage später eintritt, ist die tatsächliche Schwangerschaftsdauer bei dieser Berechnung um ca. 2 Wochen kürzer als oaiiitliche Daten beruhen auf wissenschaftlichen Untersuchungen und eigenen Veröffentlichungen des Alan Guttmacher Institute; siehe Facts in Brief, Contraceptive Use 1/4/93; Facts in Brief, Abortion in the United States 1/4/93 und Facts in Brief, Pregnancy and Birth in the United States, 1/4/93, Hrsg.: The Alan Guttmacher Institute.

VIII. Statistische Daten zur Abtreibung

41

88.2 % aller Schwangerschaftsabbrüche werden im ersten Trimester, d.h. bis zur 12. Schwangerschaftswoche durchgeführt 79 , im Vergleich dazu waren es 1975 nur 81.3% 80 .

79

Gerechnet wird, wie in den USA, ab der letzten Menstruation, nicht ab Empfängnis, vgl. dazu FN 75; siehe auch Abortion: Medical Facts; Childbirth by Choice Trust. 80 Sämtliche Angaben nach Therapeutic Abortions 1991, Hrsg.: Statistics Canada, Ottawa September 1993.

C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter / Interessenvertretung vor Gericht Die Vereinigten Staaten kann man als das "Land der Interessengruppen" bezeichnen, in dem sich im Vergleich zu Europa eine wesentlich höhere Anzahl, Vielfalt und Farbigkeit der Verbände findet 1. Bei einem politisch so wichtigen und kontrovers diskutierten Thema wie dem der Abtreibung ist es daher nicht erstaunlich, daß eine Fülle von Verbänden auch in diesem Bereich Interessen wahrnehmen. Die folgende Darstellung der pro-choice und pro-life Akteure zeichnet ein Bild der gesellschaftlichen Kräfte, die sich im Abtreibungskonflikt engagieren. Während die Interessenvertretung der Verbände bei Parlamentariern und Bürokraten der "klassischen" Vorstellung von lobbying entspricht, haben sich die pro-choice und pro-life Akteure auch an die Judikative gewandt. Als Kläger, Beklagte und Beteiligte waren sie bei den maßgeblichen Gerichtsverfahren zur Abtreibung präsent. Der Erfolg der Taktik wurde bereits im geschichtlichen Teil dieser Arbeit deutlich, da die Abtreibungsgesetzgebung in den USA und Kanada nicht vom Gesetzgeber, sondern maßgeblich von den Gerichten bestimmt worden war. Wie es den pro-choice und pro-life Akteuren gelungen ist, die von ihnen vertretenen gesellschaftlichen Interessen in den Gerichtsverfahren einzubringen, wird anhand der anschließend dargestellten Rechtsprechung zur Klagebefugnis und zur Beteiligung von Verbänden deutlich. Denn erst mit der extensiven Auslegung dieser Zulassungsvoraussetzungen wurde die umfassende gesellschaftliche Konfliktaustragung vor den Gerichten möglich.

1 Vgl. Peter Lösche, Interessenorganisationen, in: Willi Paul Adams / Ernst-Otto Czempiel / Berndt Ostendorf / Kurt L. Shell / P.Bernd Spahn / Michael Zöller (Hrsg.), Länderbericht USA I, Bonn 1990, S. 419-441 (432-433).

I. USA

43

L USA 1. Pro-choice Vertreter a) ACLU - American Civil Liberties Union Die A C L U 2 wurde 1920 von Roger Baldwin gegründet. Sie ist eine gemeinnützige Vereinigung, die sich für die Individualrechte der Bürger Amerikas, so wie sie in der Bill of Rights garantiert sind, einsetzt. Als Mittel hierzu dienen Gerichtsverfahren, aber auch das lobbying von Abgeordneten. 2000 assoziierte Anwälte, die jährlich ca. 6000 Fälle im Namen der ACLU verhandeln, machen den Verband zur größten privaten Anwaltsfirma. Keine andere Organisation ist so oft vor dem Supreme Court vertreten. Ein nationales Büro in New York und Washington, D.C., sowie Vertretungen in jedem Einzelstaat und Hunderte von lokalen Vertretungen bilden ein Netzwerk über die gesamten USA. Finanzielle Unterstützung erfährt ACLU von den 275.000 zahlenden Mitgliedern und Spenden von Individuen und Stiftungen. Das Jahresbudget der ACLU, inklusive sämtlicher Vertretungen, beträgt ungefähr $ 30 Millionen. Staatliche Unterstützung bekommt ACLU nicht, ja lehnt diese aus Gründen der Unabhängigkeit sogar ab 3 . 1974 wurde das Reproductive Freedom Project der ACLU gegründet, um sich speziell für die Gewährleistung und Umsetzung der Prinzipien von Roe ν. Wade einzusetzen4. Die Anwälte von ACLU waren seither an fast jedem wichtigen Abtreibungsverfahren in den USA beteiligt. 1992 verließen sämtliche der am Reproductive Freedom Project beteiligten neun Anwälte die ACLU, um eine eigene Organisation 5 zu gründen. Trotz des - personell wie finanziell herben Verlustes für die ACLU wurde das Projekt fortgeführt, allerdings in verringertem Umfang 6 .

2

ACLU - American Civil Liberties Union, 132 West 43rd Street, New York, N.Y. 10036; oder 122 Maryland Av. NE, Washington, DC 20002. 3 Siehe ACLU, Briefing Paper No.l, Guardian of Liberty: American Civil Liberties Union. 4 Lee Epstein / Joseph Fiske Kobylka, The Supreme Court & Legal Change, Chapel Hill/London 1992, S.206. 5 Siehe in dieser Arbeit Kapitel C. I. 1. c). 6 Judy Sarasohn, ACLU Regrouping After Defection By Key Unit; in: New Jersey Law Journal, 22.6.1992, S.4.

C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter

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b) AGI - Alan Guttmacher Institute Das A G I 7 ist eine gemeinnützige Vereinigung und wurde 1968 als Sonderabteilung der Planned Parenthood Federation of America (PPFA) gegründet. 1977 wurde es von PPFA organisatorisch unabhängig. Die führende Forschungseinrichtung im Bereich der Familienplanung wird von Politikern, Medienvertretern und anderen Aktivisten als zuverlässige Informationsquelle genutzt. Ziel des AGI ist es, die Gesundheit und das Wohlergehen der Frauen während Schwangerschaft und Geburt zu sichern; insbesondere ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden, aber auch die Sicherung der Freiheit, ungewollte Schwangerschaften durch eine Abtreibung zu beenden. Finanziert wird das AGI, das über ein jährliches Budget von mehr als $ 5 Millionen verfügt, sowohl von öffentlichen als auch von privaten Geldgebern 8.

c) CRLP - Center for Reproductive Law & Policy Das CRLP 9 , entstanden 1992 aus dem Reproductive Freedom Project der ACLU, ist die anwaltliche Vertretung von pro-choice Interessen. Die Mitarbeiter haben fast eine Art Monopol für die Vertretung bei den wichtigsten Abtreibungsprozessen vor dem Supreme Court, aber auch in den einzelstaatlichen Gerichten 10 . Als Grund für die Trennung von der ACLU wurde angegeben, daß das CRLP dadurch in der Lage sei, die eigenen Spendengelder frei verwenden zu können, ohne für andere ACLU Aktivitäten mitzuzahlen. Unter der Leitung von Ms. Janet Benshoof war das jährliche Budget des Reproductive Freedom Project von $ 70.000 im Jahre 1977 auf zuletzt $ 2.3 Millionen angestiegen.

7

AGI - Alan Guttmacher Institute, 111 Fifth Avenue, New York, Ν Y 10003, oder 2012 Massachusetts Av. NW, Washington, DC 20036. 8 Zur Zielsetzung und zum Budget des AGI siehe Annual Report 1990-1991, The Alan Guttmacher Institute, 1992. 9 CRLP - Center for Reproductive Law & Policy, 120 Wall Street, New York, NY 10005. 10 Vor 1992 wurden die Prozesse auch schon von den Anwälten des CRLP, aber noch unter der Regie des ACLU geführt; die Bedeutung des CRLP in der gesellschaftlichen Entwicklung zeigt sich auch daran, daß 4 ihrer Anwältinnen (Janet Benshoof, Lynn M. Paltrow, Rachael Pine und Kathryn Kolbert) 1991 vom "The National Law Journal" zu den 100 einflußreichsten Anwälten in den USA gezählt wurden; siehe The National Law Journal, Vol.13, No.29, 25.3.1991.

I. USA

45

Desweiteren erhofft man sich Spenden von denjenigen, die nicht das umfangreiche Programm der ACLU fördern möchten, sondern gezielt die Rechte der Frauen. Im Unterschied zur ACLU will sich das CRLP auch international betätigen und sucht die weltweite Zusammenarbeit 1 ^ Das CRLP informiert durch eigene Publikationen, so z.B. in der Zeitung "Reproductive Freedom News", speziell zum Stand von gerichtlichen Verfahren in den USA in einem "litigation docket", sowie zu ausgewählten und aktuellen Themen und regelmäßig auch zu den Abtreibungsgesetzen in den Einzelstaaten.

d) NAF - National Abortion Federation 1977 wurde N A F 1 2 mit dem Ziel gegründet, daß alle Frauen die Informationen über Abtreibungen erhalten, die sie benötigen, um eine überlegte Entscheidung zu treffen. Die Mitglieder von NAF bezeichnen sich selbst als die Experten im Bereich der Abtreibung. Sie sind als Ärzte, Wissenschaftler oder Krankenschwestern in Bereichen tätig, die mit Abtreibung zu tun haben. Vor diesem Hintergrund informieren sie die Öffentlichkeit über medizinische Fakten und über Abtreibungsmöglichkeiten 13 , weiterhin bieten sie Hilfestellung bei dem Umgang mit der Abtreibungsgesetzgebung 14. Außerdem setzt sich NAF auch für die Ausbildung von Ärzten zur Abtreibung ein 1 5 .

11

Nach David Margolick, Seeking Strength in Independence, Abortion-Rights Unit quits A.C.L.U.; in: The New York Times, 21.5.1992, A 20. 12 NAF - National Abortion Federation, 1436 U Street, N.W., Suite 103, Washington, D.C. 20009. 13 Siehe The Truth About Abortion, A Fact Sheet Series from the National Abortion Federation, 1991. 14 So gibt zum Beispiel die Broschüre Parental Involvement Laws, A Guide for Abortion Providers, NAF 1991, eine umfassende Übersicht über die unterschiedlichen Zustimmungsverfahren bei Minderjährigen und bietet vorformulierte Muster für Einverständnis· oder Benachrichtigungserklärungen an, die den unterschiedlichen Gesetzeserfordernissen Rechnung tragen. 15 Siehe Fact-sheet von NAF, An Overview: National Abortion Federation; sowie zur Problematik der fehlenden Arztausbildung im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs, Who Will Provide Abortions, Ensuring the Availability of Qualified Practitioners, Recommendations from a National Symposium, October 25-26, 1990; NAF, American College of Obstetricians and Gynecologists, 1991. 4 Moors

46

C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter e) NARAL - National Abortion and Reproductive Rights Action League

N A R A L 1 6 wurde 1969 gegründet und ist der politische Sprecher der prochoice Bewegung. Mit 350.000 Mitgliedern und 36 Niederlassungen ist es die größte der pro-choice Organisationen und verfügt über ein Jahresbudget von über $ 10 Millionen 1 7 . Ziel von NARAL ist es, Abtreibungen legal, sicher und zugänglich für alle Frauen in den USA zu machen 18 . Dies geschieht in erster Linie durch Wahlwerbungskampagnen für pro-choice Kandidaten auf allen politischen Ebenen. Die Veröffentlichungen der Abstimmungen in Senat und Repräsentantenhaus zu relevanten Gesetzen zeigen den Wählern gezielt, welche Abgeordneten pro-choice Interessen unterstützen 19. Bei den Präsidentschaftswahlen 1992 unterstützte N A R A L den demokratischen Bewerber Clinton mit mehr als $ 3 Millionen. Zusätzlich wurden 3.3 Millionen unterstützende Schreiben versandt und mehr als 1 Million Telefongespräche geführt, um Wähler in sechs ausgewählten entscheidungserheblichen Staaten20 von Clinton zu überzeugen. NARAL unterstützt die ausgewählten Kandidaten finanziell, aber auch durch Informationsbeschaffimg, so z.B. politische Analysen. Weiterhin unterstützt die Organisation Forschungs- und andere Projekte zum Abtreibungsrecht der Frau und publiziert einen jährlichen Führer zu der gesetzlichen Abtreibungslage in den Einzelstaaten. Nach der Wahl von Clinton verkündete NARAL, im Vertrauen auf den zukünftigen Schutz der Abtreibungsrechte durch die Bundesregierung, zukünftig der Aufklärung und Verhütung ungewollter Schwangerschaften mehr Aufmerksamkeit schenken zu wollen 2 1 .

16

NARAL - National Abortion and Reproductive Rights Action League, 1101 14th Street NW, Washington, D.C. 20004 oder NARAL/ NARAL Foundation, 1156 15th Street NW, Suite 700, Washington, D.C. 20005. 17 Zur Gründung und Geschichte von NARAL siehe Lawrence Lader, Abortion II, Boston 1973, S.87-97; zum Budget siehe für NARAL and NARAL PAC: Annual Report, Securing the Right to Choose: Real Choices, Real Solutions, 1990-91, S.l4; sowie für NARAL Foundation: Annual Report, Securing the Right to Choose: Real Choices, Real Solutions, 1990-91, S.10. 18 Zu den Zielen und von NARAL vertretenen Positionen siehe: Promoting Reproductive Choices, A New Approach to Reproductive Health, NARAL 1994; und Who Decides? A Reproductive Rights Issues Manual, The NARAL Foundation 1990. 19 NARAL, Congressional Vote Record on Abortion, 1991. 20 Als diese sogenannten "key states" erachtete NARAL: California, Colorado, Illinois, Missouri, Ohio und Wisconsin. 21 Charles Babington, Abortion-Rights Group Broadens Focus; The Washington Post, 24.12.1992, Al.

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Zum Jahresbeginn 1994 änderte NARAL entsprechend der neuen Zielsetzung den Namen, ohne jedoch das Kürzel zu verändern. Aus der National Abortion Rights Action League wurde die National Abortion and Reproductive Rights Action League 22 . Dies ist die zweite Namensänderung seit der Gründung von NARAL. Die erste erfolgte 1973 nach dem überraschenden Sieg in der Roe-Entscheidung, denn durch die Entscheidung war das ursprüngliche, im Namen ausgedrückte Ziel der damaligen "National Association for the Repeal of Abortion Laws" bereits erreicht worden.

f) NOW -National Organisation for Women N O W 2 3 wurde 1966 mit dem Ziel gegründet, die Gleichberechtigung der Frau in der Gesellschaft zu fördern und ist die größte feministische Vereinigung der USA geworden. Die gemeinnützige Organisation setzt sich nicht nur für die rechtliche, sondern auch für die tatsächliche Gleichberechtigung der Geschlechter ein. Voraussetzung dafür ist die vermehrte Gestaltung durch und Mitwirkung von Frauen in politischen Bereichen von Regierung, Wirtschaft, Erziehung, Religion und anderen einflußreichen Einrichtungen der Gesellschaft. Die von NOW vertretenen feministischen Interessen reichen von geforderten Rechten für Homosexuelle bis zum Kampf gegen Rassismus oder Gewalt gegen Frauen. NOW fordert die Möglichkeit für Frauen, sichere und legale Schwangerschaftsabbrüche zu erhalten, es soll aber der Frau allein überlassen sein, ob sie sich für oder gegen eine Abtreibung entscheidet24. An Gerichtsverfahren beteiligt sich die Organisation nicht nur als amicus curiae, sondern war zuletzt als Betreiberin einer Abtreibungsklinik auch selbst Klägerin in dem Verfahren "NOW ν. Scheidler" 25 . Der sich mehr als 8 Jahre hinziehende Prozeß endete mit einem Sieg für N O W 2 6 , da ihnen und anderen Betreibern von Abtreibungskliniken das Recht zuerkannt wurde, die Klinik

22

Reproductive Freedom News III/l, 14.1.1994, S.8. NOW - National Organisation for Women, 1000 16th Street NW, Washington, D.C. 20036. 24 Siehe Who Cares About Women's Rights? NOW Cares! 10/83, überarbeitet 11/88. 25 National Organisation For Women, Inc. v. Joseph Scheidler, Entscheidung des Supreme Court vom 24.1.1994, No. 92-780. 26 Siehe Diane Minor "After Stunning Victory, NOW v. Scheidler Goes Back to Investigation, Litigation" in der von NOW herausgegebenen Zeitschrift "National Times" April 1994, Vol. XXVI, Nr.3, S.1,3; ebenso Holly Idelson, Abortion Clinics Can Use RICO To Fight Violence; in: CQ, 29.1.1994, S.175. 23

4*

C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter

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gegen Störungen militanter Abtreibungsgegner unter Einsatz des Bundesgesetzes RICO (Racketeer Influenced and Corrupt Organizations) zu schützen.

g) PPFA - Planned Parenthood Federation of America 1916 eröffnete Margaret Sanger in New York die erste Familienplanungsklinik. Für ihr Bemühen, die Menschen über Verhütungsmethoden aufzuklären, wurde sie schon 10 Tage später polizeilich festgenommen. Dennoch war der Anfang gemacht, der in den nächsten Jahrzehnten die PPFA 2 7 zu einer mächtigen Organisation (mit mehr als 900 Kliniken in 49 Staaten und D.C.) werden ließ. Ziel der PPFA ist es, die Öffentlichkeit und Politiker über Familienplanungsthemen zu informieren, so z.B. über Verhütungsmöglichkeiten, Abtreibung, Sterilisation, Geschlechtskrankheiten und Aids. PPFA ist der Auffassung, daß durch gezielte Aufklärung und freien Zugang zu Verhütungsmitteln ungewollte Schwangerschaften und sexuell übertragbare Krankheiten wie Aids zum einem großen Teil vermieden werden könnten. Deshalb setzen sie sich in erster Linie für diese Aufklärung ein. Im Namen der ungewollt schwangeren Frauen vertreten sie jedoch die Forderung nach einer medizinisch sicheren und finanziell tragbaren Abtreibungsmöglichkeit. Die gemeinnützige Organisation hat heute nicht nur Filialen in allen Bundestaaten, sondern verfügt auch über einen internationalen Zweig, der International Planned Parenthood Federation (IPPF) 28 . Das Jahresbudget von insgesamt über $ 400 Millionen wird zu einem großen Teil ($ 140 Millionen) durch eigene Einnahmen der Kliniken erreicht, die staatlichen Förderungen betragen ca. $ 125 Millionen und der Rest wird überwiegend aus privaten Spenden gewonnen 29 . Die Gerichte trugen ihren Teil zur Verwirklichung der Ideale von Margaret Sanger bei. Estelle Griswold, Direktorin der Planned Parenthood League of Connecticut, war die Klägerin in dem Fall Griswold v. Connecticut 30 , in dem der Supreme Court 1965 die Legalisierung des Gebrauchs von Verhütungsmitteln aussprach. Damit wurde das Betätigungsfeld von PPFA wesentlich vergrö-

27

PPFA - Planned Parenthood Federation of America Inc., 810 Seventh Av., New York, N Y . 10019. 28 Siehe dazu - IPPF, Annual Report 1991-92. 29 Siehe A Tradition of Choice for 75 Years, Planned Parenthood Federation of America Inc., Annual Report 1991, Summary of 1991 Financial Activities, S.32-33. 30 Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479.

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ßert, da man nun in allen Staaten der USA ohne gesetzliches Verbot über Verhütungsmittel beraten konnte. 1991 nahmen 1.8 Millionen Menschen die Gelegenheit wahr, sich bei Planned Parenthood über Familienplanung beraten zu lassen. Seit der Legalisierung der Abtreibung in Roe ν. Wade wird in einigen Kliniken auch die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen angeboten. 1990 machten ca. 129.000 Frauen in einer der 57 PP-Kliniken, die Abtreibungen anbieten, von dieser Möglichkeit Gebrauch 31 . Die gerichtliche Auseinandersetzung ist für PPFA ein wichtiges Mittel im Kampf um das umfassende Recht auf Familienplanung, das auch gezielt eingesetzt wird. Dies geschieht durch Beobachtung der Gesetzgebung, Erstellung von Analysen der Urteile, Beteiligung an Gerichtsverfahren als Kläger oder amicus curiae und nicht zuletzt durch die Koordinierung dieser gerichtlichen Strategien mit anderen Organisationen 32.

h) RCRC - Religious Coalition for Reproductive Choice Die RCRC 3 3 wurde unter Führung der methodistischen Kirche 1973 nach der Roe-Entscheidung gegründet. Die 36 Mitgliedsgruppen setzen sich aus Vertretern der christlichen, jüdischen und anderer Religionen zusammen. Obwohl die Positionen zur Abtreibung entsprechend der religiösen Vielfalt im einzelnen differieren, ist man sich darin einig, daß Frauen die Entscheidung über eine Abtreibung am besten im Einklang mit ihrer eigenen religiösen Überzeugung treffen. Für einige bedeutet das, daß sie in keinem Fall eine Abtreibung wählen, während andere zu der Überzeugung kommen können, daß in ihrer Situation eine Abtreibung die bessere Entscheidung ist 3 4 .

31

Damit werden ca. 8% aller Abtreibungen in den USA (insgesamt jährlich ca. 1.6 Millionen) in PP-Kliniken durchgeführt; aus A Tradition of Choice for 75 Years, 1991 Service Report, PPFA, S.10. 32 Hierzu und ergänzend eine Übersicht der gerichtlichen Beteiligungen von PPFA in "Legal Services" S.22-24 in: A Tradition of Choice for 75 Years; PPFA, Annual Report 1991. 33 RCRC - Religious Coalition for Reproductive Choice, 100 Maryland Av. NE, Washington, D.C. 20003. 34 Dazu Sabrae Jenkins, Abortion Rights, Poor Women, and Religious Diversity; S. 151-156 in: Marlene Gerber Fried (Hrsg.), From Abortion to Reproductive Freedom: Transforming a Movement; Boston 1990.

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C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter

Voraussetzung für diese religiöse Vielfalt 3 5 und Freiheit ist nach Aufassung der RCRC, daß sich die Regierung in der Abtreibungsfrage nicht eine der Positionen zu eigen macht, sondern die traditionelle Trennung von Staat und Kirche beachtet und von einer Stellungnahme und dem Erlaß von Gesetzgebung generell absieht 36 . Bezog sich die Zielsetzung der RCRC zunächst nur auf die Freiheit der Abtreibungsentscheidung, so setzt sich die Organisation nunmehr auch für weitergehende Freiheiten und Rechte der Frauen auf dem Gebiet der Familienplanung ein. So unterstützen sie die Verhütung ungewollter Schwangerschaften, insbesondere bei Jugendlichen, ferner Sexualaufklärung und erziehung und den Zugang zu Familienplanungszentren. Mit Jahresbeginn 1994 hat die RCRC ihrer neuen Aufgabenstellung namentlich Ausdruck gegeben und aus der vormaligen RCAR (Religious Coalition for Abortion Rights) wurde die RCRC 3 7 . Ein ehemaliges Mitglied des RCRC, nunmehr jedoch selbständig organisiert, sind Catholics for a Free Choice 38 . Sie bemühen sich unter der Führung ihrer Präsidentin Frances Kissling mit Publikationen zu zeigen, daß katholischer Pluralismus kein in sich widersprüchlicher Begriff ist.

2. Pro-life Vertreter a) AUL- Americans United for Life A U L 3 9 wurde 1971 gegründet und ist eine gemeinnützige Anwaltsfirma für pro-life Interessen, die neben der gerichtlichen Tätigkeit aber auch informierend tätig ist. Insbesondere helfen AUL-Anwälte den Gesetzgebern der Einzelstaaten bei dem Entwurf und der Ausgestaltung von pro-life orientierten Gesetzen.

35 Zu den unterschiedlichen Positionen der Kirche siehe Maureen Muldoon, The Abortion Debate in the United States and Canada; New York / London 1991. 36 Siehe Julia Duin, Methodists step back from Abortion-Rights Group; in: The Washington Post, 17.10.1992, D9; zu der rechtlichen und steuerrechtlichen Stellung der Kirche als Wohltätigkeitsorganisation und der Trennung von Staat und Kirche siehe: Gail McGreevy Harmon, The Church as Charity: Some Legal Considerations, in: Guide for Prochoice Catholics, S. 10-13, Catholics for a Free Choice (Hrsg.), 1990. 37 Reproductive Freedom News III/l, 14.1.1994, S.7. 38 Catholics for a Free Choice, 1436 U Street NW, Washington, D.C. 20009. 39 AUL - Americans United for Life, 343 S. Dearborn Street, Suite 1804, Chicago, Illinois 60604.

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A U L hat an fast jedem Abtreibungsverfahren vor dem Supreme Court teilgenommen 40 , einschließlich Roe ν. Wade. Sie spielten 1989 auch in dem Fall Webster v. Reproductive Health 41 eine entscheidende Rolle, formulierten 3 amicus curiae Schriftsätze und koordinierten 30 weitere. Auch das in dem Fall PP v. Casey 42 angegriffene Gesetz des Staates Pennsylvania beruhte auf einem Entwurf der AUL. Zur Information über die Ziele der Organisation werden Veranstaltungen und Veröffentlichungen gesponsort, sowie zwei Zeitungen publiziert. "AUL Forum" erscheint monatlich mit Berichten zu Abtreibung und Euthanasie, während "AUL Stateline" auf die aktuelle Berichterstattung über den Stand der Gesetzgebung spezialisiert ist 4 3 .

b) NRLC - National Right to Life Committee Als Reaktion auf die Roe-Entscheidung wurde im Juni 1973 das N R L C 4 4 in Detroit gegründet. Als Absplitterung der "National Conference of Catholic Bishops" wurde eine eigenständige Organisation gegründet, um im Kampf gegen die Abtreibung auch nicht-katholische Mitglieder zu erreichen 45 . Heute ist es die größte pro-life Organisation mit Vertretungen in allen Einzelstaaten und insgesamt ca. 3000 lokalen Niederlassungen. Ziel der Organisation ist es, ein völliges Verbot der Abtreibung zu erreichen, aber sie setzt sich auch gegen jede Form der Euthanasie ein. Dies wird mit dem umfassenden Recht auf Leben und dem Wert des Lebens, das nach Meinung des NRLC mit der Befruchtung beginnt, begründet.

40

Zur gerichtlichen Strategie von AUL siehe Richard S. Myers, Prolife Litigation and the American Civil Liberties Tradition; in: Dennis J. Horan / Edward R. Grant / Paige C. Cunningham (Hrsg.), Abortion and the Constitution - Reversing Roe v. Wade Through the Courts; Washington, D.C. 1987, S.23-56. 41 Webster v. Reproductive Health Services, 109 S.Ct. 3040. 42 PP v. Casey, 112 S.Ct. 2791, 1992. 43 Nach Facts about Americans United for Life, AUL 1993; Every Child Deserves the Right to be Born, AUL 1992. 44 NRLC - National Right to Life Committee, Suite 500, 419 7th Street NW, Washington D.C., 20004-2293. 4 * Michele McKeegan, Abortion Politics; New York, 1992, S.23; und Programs and Services; National Right to Life, S.ll.

C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter

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Das NRLC nimmt Einfluß durch 46 : a) pro-life Erziehung - Veranstaltung von Seminaren und Schulungen, Herausgabe einer Zeitung (National Right to Life News), Herstellung und Versand von Broschüren und Informationsmaterial b) Medienarbeit - Organisation von Medienkampagnen, eigene Radiostation c) Marktforschung und Meinungsumfragen - Durchführung und Veröffentlichung von Meinungsumfragen d) lobbying bei der Gesetzgebung - Entwicklung und Unterstützung von Gesetzgebung zur größtmöglichen Einschränkung der Abtreibungsmöglichkeiten e) politische Arbeit - Wahlwerbung für pro-life Kandidaten im Kongress und im Weißen Haus f) grass-root lobbying - Mitgliederwerbung und Spendensammlung Die als gemeinnützig anerkannte Organisation finanziert sich ausschließlich durch Spendenbeiträge.

c) Operation Rescue 1986 gründete Randall A. Terry als Geschäftsführer die Operation Rescue. Ziel der militanten Organisation war es, Abtreibungen weniger durch Überzeugungsarbeit, als vielmehr durch physischen Einsatz zu verhindern. So wird vor Kliniken demonstriert und Eingangstüren werden blockiert, um Frauen zu hindern, diese zu betreten 47 . Diese Strategie des zivilen Ungehorsams erfordert von den Mitgliedern großen persönlichen Einsatz, denn durch die massive Behinderung der Frauen, der Ärzte und des Klinikpersonals, die bis zur Sachbeschädigung reicht, werden bewußt Geldstrafen und Festnahmen durch die Polizei provoziert. Zu den provokanten Mitteln gehört auch die Verteilung von "Steckbriefen" mit Namen, Adresse, Arbeitsort und -zeit von Ärzten, die Abtreibungen durchführen, um diese durch Mitgliederaktionen an ihrem Tun zu hindern. Auch der 1993 von einem Abtreibungsgegener erschossene Arzt David Gunn war zuvor in einem derartigen Steckbrief von Operation Recsue beschrieben worden 48 .

46

Die folgende Darstellung nach einem Artikel der Präsidentin des NRLC, Wanda Franz, "What has NRLC done for you lately?", erschienen in: National Right to Life News, 12.5.1992, S.3. 47 Muldoon, S.143; zur Einsatztaktik der Operation Rescue siehe weiterhin Gary Wills, Save the Babies, in: Time vom 1. Mai 1989, S.23-25; zu der durch diese aggressive Taktik wiederum ausgelöste Verteidigung der Abtreibungsrechte siehe Ann Baker, Pro-Choice Activism Springs from Many Sources, in: Fried, S. 179-184. 48 Nach Washington Post, 12.3.1993, A 1, A 4.

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Die Mehrheit der aktiven Mitglieder ist männlich, relativ jung (zwischen 20 und 30 Jahren) und religiös orientiert 49 . Bei den Aktionen werden nicht nur Frauen und Angestellte der Kliniken behindert, sondern es entstehen zusätzlich hohe Kosten für die Städte und Gemeinden, die den Polizeischutz für die Kliniken bereitstellen müssen 50 . Randall Terry ist zuletzt bei den Präsidentschaftswahlen aktiv geworden, indem er fast 200.000 Briefe verschickte, die sich gegen die Wahl von Clinton als Präsident richteten. Darin wird die pro-choice Position Clintons als "childkilling" bezeichnet und weiterhin kritisiert, daß Clinton das Zusammenleben homosexueller Paare fördere 51 .

d) Die römisch-katholische Kirche Die römisch-katholische Kirche ist mit ca. 55 Millionen Mitgliedern die größte Konfession der U S A 5 2 . Auch wenn die römisch-katholische Kirche nicht eine pro-life Organisation im engeren Sinne ist, hat sie sich in dieser Debatte doch sehr engagiert. Die Kirche vertritt die Lehre, daß Leben mit der Konzeption beginnt und unter allen Umständen geschützt werden muß 5 3 . Dementsprechend fühlte sie sich durch die Aussage in Roe ν. Wade, die dem ungeborenen Leben keinen Verfassungsschutz gewährte, herausgefordert. Die Bischöfe riefen zur Mißachtung jedes Gesetzes auf, das die ärztliche Mitwirkung an einer Abtreibung verlange, denn sie fürchteten die erzwungene Beteiligung

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Susan Faludi, Backlash: The Undeclared War Against American Women, New York, 1992, S.401. 50 McKeegan, S.l 13. 51 Howard Kurtz, Pamphlet Labels Vote for Democrat a "Sin", in The Washington Post, 15.10.1992, A12. 52 Nach Mary Segers, American Catholicism: The Search for a Public Voice in a Pluralistic Society; aus Guide for Prochoice Catholics, S.4-7 (5). An zweiter Stelle stehen die in der "Southern Baptist Convention" zusammengeschlossenen Kirchen mit 13 600 126 Mitgliedern, an dritter Stelle die "United Methodist Church" mit 9 584 711 Mitgliedern. Nach Martin Riesebrodt, Die amerikanischen Religionen, in: Willi Paul Adams / Emst-Otto Czempiel / Bernd Ostendorf / Kurt L. Schell / P. Bernd Spahn / Michael Zöller (Hrsg.), Länderbericht USA II, Bonn 1990, S. 469-492 (474). 53 Papst Johannes Paul II. bekräftigte zuletzt in seiner Enzyklika "Evangelium vitae" unter dem Datum des 25.3.1995 die Lehre der Kirche, daß die Abtreibung "die vorsätzliche Tötung eines unschuldigen Menschen" sei und daher dem göttlichen Gebot "Du sollst nicht töten" widerspreche. Auszüge aus dem Wortlaut der Enzyklika in der FAZ vom 31.3.1995, S.10

C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter

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katholischer Ärzte an Schwangerschaftsabbrüchen 54. Auch wenn sich diese Befürchtung nicht realisierte, blieb die Kirche bei ihrem Kampf gegen Roe ν. Wade. 1975 verkündete die National Conference of Catholic Bishops eine Kampagne gegen die Abtreibung 55 und beteiligte sich seither nicht zuletzt als amicus curiae in Gerichtsverfahren, um ihrer Position Gehör zu verschaffen. Beispielhaft sind dazu die politischen Aktivitäten des New Yorker Kardinals O'Connor, der z.B. öffentlich Gouverneur Mario Cuomo die Sündhaftigkeit einer pro-choice Politik vorwarf oder in seiner Eigenschaft als Vorstand der National Conference of Catholic Bishops auf geplante Gesetzgebung Einfluß zu nehmen versuchte 56 . Die direkte politische Einflußnahme wurde von der Kirche zwar aus steuerrechtlichen Gründen minimalisiert, aber unabhängige Bürgerbewegungen mit pro-life Interessen werden unterstützt. Die Bedeutung der Kirche liegt dabei nicht nur in den finanziellen Mitteln, sondern vor allem in der Möglichkeit von pro-life Bewegungen auf die logistische Apparatur der Kirche zurückgreifen zu können. Die Kirche verfügt nicht nur über ausgestattete Räumlichkeiten u.ä., sondern auch über beste Kommunikationsmöglichkeiten, die sich jede andere Organisation erst selbst mühsam aufbauen muß 5 7 . Die katholische Kirche in Kanada, vom Vatikan als eine der liberalsten der Welt bezeichnet, hat sich im Unterschied zu der US-amerikanischen aus der politischen Dimension der Abtreibungsdebatte herausgehalten und die Entscheidung von Abtreibung oder Geburtenkontrolle im wesentlichen ihren Mitgliedern überlassen. Für die Formierung der pro-life Bewegung in Kanada spielte sie weder finanziell noch organisatorisch eine wichtige Rolle, wenn auch viele der in pro-life Organisationen engagierten Mitglieder katholischen Glaubens sind 5 8 .

54

Siehe Eva R. Rubin, Abortion, Politics, and the Courts, New York / Westport / London 1987, S.90. 55 Kurzfassung des "Pastoral Plan for Pro-Life-Activities" in: House Hearings, 1975, Bd.l, S.284 ff; nach Thomas Weigend, Landesbericht Vereinigte Staaten von Amerika; in: Eser / Koch, Teil 2, S.949-1118 (1000, FN 255). 56 Eine Übersicht der katholischen Aktivitäten im politischen Bereich in: BishopSpeak: A Chronology of the US Catholic Clergy's Involvement in Abortion Politics, November 1989 - June 1990; Nancy Evans / Denise Shannon, Guide for Prochoice Catholics, S.30-36. 57 Nach Rosalind Petchesky, Abortion and Woman's Choice, Boston 1990, S.252253; zur Einstellung der Katholiken zur Abtreibung siehe Andrew M. Greeley, The Abortion Debate and the Catholic Subculture, in: America, 11.7.1992, S. 13-15. 58 Hierzu Anne Collins, The big evasion: Abortion, the issue that won't go away; Toronto 1985, S.37-44.

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3. Gerichtsverfahren, persönliche und gesellschaftliche Interessen und die Rolle von Verbänden Die Darstellung der Kläger, Beklagten und Beteiligten in den Gerichtsverfahren gibt ein Bild davon, welche persönlichen und gesellschaftlichen Interessen in den Gerichtsverfahren repräsentiert wurden.

a) Kläger, Beklagte und Beteiligte In der folgenden Tabelle sind die Kläger und Beklagten der wichtigsten Verfahren in der Abtreibungsdebatte vor dem Supreme Court aufgeführt. Um zu zeigen, wer die Prozesse initiiert hat, wird hier als Kläger diejenige Person oder Organisation bezeichnet, die in der Eingangsinstanz Kläger war, obwohl diese beim letzten Stand des Verfahrens vor dem Supreme Court nicht zwangsläufig Berufungskläger, sondern auch Berufungsbeklagte sein kann. Aus Übersichtlichkeitsgründen wird nicht die beklagte Amtsperson des Staates, sondern der Staat selbst aufgeführt.

Entscheidung 1971 United States v. Vuitch, 402 US 62 1973 Roe v. Wade, 410 US 113 1973 Doe v. Bolton, 410 US 179 1976 P.P. of Central Missouri v. Danforth, 428 US 52 1977 Mäher v. Roe, 432 US 464

Kläger United States

Beklagter ein Arzt

eine schwangere Frau eine schwangere Frau, neun Ärzte zwei Ärzte, Planned Parenthood

Texas Georgia Missouri

zwei schwangere Frauen

1977 Beai v. Doe, 432 US 438

schwangere Frauen

1977 Poelker v. Doe, 432 US 519 1979 Bellotti v. Baird, 443 US 622

eine schwangere Frau

Connecticut Pennsylvania Missouri

1979 Colautti v. Franklin, 439 US 379 1980 Harris v. McRae, 448 US 297 1981 H.L. v. Matheson, 450 US 398

William Baird (Arzt und Direktor einer Abtreibungsklinik), ein Arzt, eine schwangere Minderjährige ein Arzt, ein ärztlicher Berufsverband schwangere Frauen, eine Abtreibungsklinik eine schwangere Minderjährige

Massachusetts Pennsylvania Bundesregierung Utah

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C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter

1983 City of Akron v. Akron Center for R.H., 462 US 416

1983 Simopoulos v. Virginia, 462 US 506 1983 P.P. Assn. v. Ashcroft, 462 US 476 1986 Thornburgh v. American College of Obstetricians and Gynecologists, 476 US 747

1989

1990

1990

1991 1992

drei Gesellschaften, die Abtreibungskliniken betreiben und ein Arzt, der in einer dieser Kliniken arbeitet Virginia

P.P. of Kansas City (Missouri), zwei Ärzte, eine Abtreibungsklinik ein Berufsverband (American College of Obstetricians and Gynecologists), Ärzte, Geistliche, eine schwangere Frau, Berater und Anbieter von Abtreibungen Webster v. R.H. Services, fünf staaliche Angestellte im Gesundheitsdienst (drei Ärzte, eine 492 US 490 Schwester, ein Sozialarbeiter), zwei private gemeinnützige Einrichtungen, die über Abtreibungen beraten und diese auch durchführen (Reproductive Health Services, P.P. of Kansas City) eine Einrichtung, die AbtreibunOhio v. Akron Center for gen durchführt (Akron Center R.H., 497 US 502 for R.H.), ein dieser Einrichtung angehörender Arzt, eine schwangere Minderjährige Hodgson v. Minnesota, zwei Ärzte, vier Kliniken, sechs 497 US 417 schwangere Minderjährige, eine Mutter einer schwangeren Minderjährigen Rust v. Sullivan, Empfänger der Title X-Gelder, Ärzte, die über diese Gelder 11 S.Ct. 1759 Aufsicht führen P.P. of SE Pennsylvania v. fünf Abtreibungskliniken, ein Arzt und eine Gruppe von Ärzten, die Casey, 112 S.Ct. 2791 Abtreibungen durchführen

Ohio

ein Gynäkologe Missouri Pennsylvania

Missouri

Ohio

Minnesota

Bundesregierung Pennsylvania

Die Prozesse wurden in den USA überwiegend in der Form von Klagen gegen die Staaten geführt, die die Abtreibung einschränkende Gesetze erlassen hatten. Die Ausnahmen sind die Fälle US v. Vuitch und Simopoulos v. Virginia, in denen das Verfahren durch eine Anklage gegen einen Arzt initiiert wurde.

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Insgesamt betrachtet ist als erstes auffällig, daß fast alle Verfahren von der pro-choice Seite ausgehen. Die Staaten befinden sich mit ihren Gesetzen jeweils in der Defensive und müssen diese gegen den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit verteidigen, während die Kläger die Initiative ergreifen, um die neuen Gesetze gerichtlich zu Fall zu bringen. Daß dies nicht alle Staaten gleichermaßen betrifft, zeigt sich an der Häufung der Klagen gegen die Staaten Missouri (4 Verfahren), Ohio (2 Verfahren) und Pennsylvania (4 Verfahren). Diese drei Staaten sind damit in 10 von 20 Verfahren auf der Beklagtenseite zu finden. Schwangere Frauen sind in 11 Fällen Kläger. Ärzte sind an insgesamt 14 Prozessen beteiligt und ihre Berufsverbände an zwei Verfahren. Abtreibungskliniken sind in 9 Fällen Kläger. Die Beteiligung der Ärzte und Kliniken ist nicht gleichbleibend, sondern zunehmend. Während in den ersten Jahren der Abtreibungsverfahren (bis ca. 1981) schwangere Frauen die häufigsten Kläger sind, überwiegt danach die Beteiligung von Ärzten und Kliniken. Die streitenden Interessenvertreter sind auf der einen Seite die jeweiligen Staatsregierungen, die einschränkende Abtreibungsgesetze durchsetzen möchten. Auf der anderen Seite kämpfen - im parlamentarischen Verfahren unterlegene - Frauen, Ärzte und auch Vertreter von Kliniken für möglichst ungehinderte Abtreibungsmöglichkeiten. Daß es sich dabei nicht um Einzelinteressen handelt, sondern beide Seiten eine Vielzahl von Gleichgesinnten vertreten, zeigt sich an der Unterstützung, die Kläger und Beklagte durch weitere Prozeßbeteiligte bekommen. Eine häufig genutzte Art der Prozeßbeteiligung ist die Unterstützung einer der Parteien als amicus curiae 59 . Diese sieht so aus, daß Schriftsätze eingereicht werden, in denen die Argumentation zu dem Fall dargelegt wird, seltener dagegen durch einen mündlichen Vortrag in der Hauptverhandlung. Die Beteiligung der amici curiae 60 war bei Roe ν. Wade und Doe v. Bolton mit 13, bzw. 12 amici relativ hoch, im Verlauf der nächsten 10 Jahre verlor sich das Interesse ein wenig. In dieser Zeit gab es bei den die Abtreibung betreffenden Verfahren gar keine oder nur 3 bis 4 das Verfahren unterstützende amici curiae. Dies 59

Grundlegend zur Rolle des amicus curiae, insbesondere zum Wechsel von der ursprünglichen Bedeutung im common law als neutraler "Freund des Gerichts" zu einem parteigebundenen Beteiligten, siehe Samuel Krislov, The Amicus Curiae Brief: From Friendship To Advocacy; in: The Yale Law Journal 1963, Nr.72, S.694-721. 60 Auf eine tabellarische Auflistung der amici wurde aus Platzgründen verzichtet; ein vollständiges Verzeichnis der bei einem Fall als amici beteiligten Organisationen findet sich jedoch jeweils als Anhang zu den Urteilen in der Ausgabe der Lawyers' Edition.

C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter

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änderte sich 1986, als 20 amici zu Thornburgh v. American College vortrugen und kulminierte 1989 mit 78 amici bei Webster v. Reproductive Health Services. Nicht zufällig stimmt dies zeitlich mit einem Zeitpunkt überein, als die veränderte Besetzung am Obersten Gerichtshof einen Umschwung in der Abtreibungsrechtsprechung ankündigte. Diese ausnehmend hohe Beteiligung wurde zwar nicht wieder erreicht, aber die folgenden Fälle blieben bis heute von einer stark erhöhten Beteiligung der amici geprägt, so mit 22 amici bei Hodgson v. Minnesota oder zuletzt in PP v. Casey mit 35 amici. Die angegebene Zahl der amici ist insofern unvollständig, da jeder der Schriftsätze die Meinung von mitunter vielen verschiedenen Organisationen zusammenfaßt, die sich auf eine gemeinsame Argumentation geeinigt haben. So wurde z.B. zur Unterstützung der pro-choice Seite in Webster v. Reproductive Health Services ein einzelner Schriftsatz im Namen von 77 Organisationen unterbreitet, die alle die Gleichstellung der Frau zum Ziel und so dazu gemeinsam vorgetragen haben 61 . In Hodgson ν. Minnesota und Ohio v. Akron Center findet sich jeweils ein amicus Schriftsatz, der für 274 Organisationen verfaßt wurde, die als gemeinsames Ziel die Unterstützung von Roe v. Wade formulieren. Die meisten pro-choice und pro-life Verbände treten ein oder mehrmals als amicus auf, aber die höchste Beteiligungsrate zeigt sich auf der pro-life Seite bei der United States Catholic Conference, sowie NRLC und AUL. Auch die Regierung der Vereinigten Staaten ließ seit 1986, insbesondere unter Präsident Bush, keine Gelegenheit aus, sich an Verfahren als amicus der pro-life Seite zu beteiligen. Bei der pro-choice Seite ist PP die führende Organisation, die als amicus oder auch selbst als Klägerin auftritt.

b) Zulässigkeitsvoraussetzungen

als Steuerungsmittel

Gerichte haben im Gegensatz zu anderen politischen Institutionen keine Möglichkeit, ihre Aktivitäten selbst auszulösen62. Sie sind davon abhängig, daß eine formale Klage eingereicht wird. Eine Steuerungsmöglichkeit der Gerichte besteht in der Prozeßauswahl, aber auch in der Interpretation der Zulässigkeitsvoraussetzungen. Zulässigkeitsvoraussetzungen wie Klagebefugnis und Erledigterklärung sind Merkmale, die ihren Ursprung in der streitlösenden Funktion 61

Eine Darstellung der amici curiae in Roe ν. Wade und Webster v. Reproductive Health Services findet sich auch in: Epstein / Kobylka, S.317-324. 62 Im englischen Original heißt es "... judges have no self-starting capacity", siehe Walter F. Murphy, James E. Fleming und William F. Harris, American Constitutional Interpretation, New York, 1986, S.55.

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der Gerichte haben. Sie sind nicht nur ein wichtiges Regulativ, sondern ihre Auslegung ist auch ein Zeichen dafür, wie das Gericht seine eigene Rolle im Verhältnis zu den anderen politischen Organen sieht 63 . Sieht sich das Gericht umfassend als Verfechter von verfassungsrechtlichen Grundsätzen, so wird es geneigt sein, die Zulassungsvoraussetzungen weit zu interpretieren, um keinen Bereich der verfassungsrechtlichen Kontrolle entgehen zu lassen. Betont man jedoch mehr die traditionelle Aufgabe der Gerichte als konfliktlösende Institution, so wählt man den engeren Ansatz und läßt einen Kläger nur beim Vorliegen und zur Lösung einer bestimmten Streitigkeit zu. Für das Vorliegen der Klagebefugnis ist zu unterscheiden, ob es sich a) um eine Klage nach einem Gesetz handelt, das eine Bestimmung über die Klagebefugnis enthält, oder ob es sich b) um eine Klage nach Common Law oder c) wegen der Verletzung eines Gesetzes ohne besondere Regelung der Klagebefugnis handelt. In den Fällen b) und c) hat sich die Rechtsprechung von dem ursprünglichen Erfordernis einer Rechtsverletzung dahingehend entwickelt, daß eine "injury in fact" (eine Art faktischer Betroffenheit) ausreichend sei. Eine Grenze für die Bundesgerichte ergibt sich aus Artikel III der Verfassung. Danach sind von den Gerichten nur "Fälle und Streitigkeiten" zu entscheiden64. Ein Fall oder eine Streitigkeit liegt nach Ansicht des Supreme Court aber nur dann vor, wenn der Kläger die Verletzung eigener Interessen geltend machen kann. Dadurch ist die Popularklage oder die Entscheidung über eine abstrakte Rechtsfrage (z.B. eine abstrakte Normenkontrolle) verwehrt 65 . Zusätzlich sei auch erforderlich, daß das Interesse, auf das sich der Kläger beruft, innerhalb der "zone of interest" der anzuwendenden Verfassungsgarantie oder des fraglichen Gesetzes liege 66 . Die auf der "injury in fact" basierende Rechtsprechung ermöglichte einen umfassenden Weg zu den Gerichten und damit die gerichtliche Kontrolle in vielen Bereichen. Seit Mitte der 70er Jahre wurden jedoch zusätzliche Erfor-

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Der Supreme Court der USA sagte dazu in Warth v. Seidin, 422 U.S. 490 (498), 1975, "the standing principles are founded in concern about the proper - and properly limited - role of the courts in a democratic society". 64 In Art.III, Abs.l der Verfassung heißt es: "The Judicial Power of the United States shall be vested in one Supreme Court and such inferior Courts..." und in Abs.2: "The Judicial Power shall extend to all Cases,.., arising under this Constitution...to Controversies...". 65 Nach Michael Bothe / Lothar Gündling, Neuere Tendenzen des Umweltrechts im internationalen Vergleich, Berlin 1990, S.208-209. 66 Siehe Association of Data Processing Service Organizations ν. Camp, 397 U.S. 150(153), 1969.

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C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter

dernisse geschaffen, die den injury in fact Test ergänzen und einschränken, wodurch die Klagemöglichkeiten wieder verringert wurden 67 . Schwangere Frauen, die bei ihrem Abtreibungswunsch durch staatliche Gesetze behindert werden, sind zweifellos von einer einschränkenden Abtreibungsgesetzgebung betroffen und damit auch klagebefugt. Wegen der Dauer des Verfahrens kommt es jedoch vor der Entscheidung zu einer tatsächlichen Erledigung des Falles, d.h. die Frau trägt die Schwangerschaft aus oder läßt sie abbrechen, bevor ein Urteil gefällt worden ist. Daher wären bei einer strikten Anwendung des Tatbestands der Erledigung sämtliche Klagen von schwangeren Frauen hoffnungslos. Der Supreme Court erkannte die Gefahr, daß die wiederholte Verletzung eines Rechts der Frau möglich war, und diese Verletzung bei strikter Anwendung der Zulässigkeitsvoraussetzungen der richterlichen Kontrolle entgehen würde. Die Klage von Jane Roe wurde daher zugelassen und, trotz der Beendigung der Schwangerschaft vor der Verfahrensbeendigung, als bestehende Streitigkeit behandelt 68 . Eine Schwangerschaft blieb jedoch trotzdem Voraussetzung, um das Verfahren in Gang zu setzen. Allein die Möglichkeit einer Schwangerschaft genüge nicht, da es sonst an der persönlichen Betroffenheit fehle, die erst den verfassungsrechtlichen "Fall" begründe und da die Geltendmachung eines generellen Mißstandes (generalized grievance) nach Ansicht des Gerichtes für die Klagebefugnis ungenügend sei. Dementsprechend wurde in Roe ν. Wade den Mitklägern, dem Ehepaar Doe, die Klagebefugnis vom Supreme Court verweigert. Sie hatten sich auf den hypothetischen Fall berufen, daß sie bei einem Versagen der Verhütungsmittel eine Abtreibung wünschen würden, deren Erhalt ihnen dann in Texas aber nicht möglich wäre 6 9 . Für die Klagebefugnis erforderlich ist weiterhin, daß der Kläger zeigen kann, daß das Grundrecht auch speziell ihn, nicht etwa einen Dritten, vor dem von ihm erlittenen Schaden schützt 70 . Die strikte Anwendung dieses Grundsatzes würde es Ärzten oder Kliniken unmöglich machen, die Verletzung der Rechte der Frauen geltend zu machen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz 67 Ausführlicher hierzu siehe Carl Tobias, Standing to Intervene; in: Wisconsin Law Review 1991, S.415-463 (425-427). 68 Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (125). 69 Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (128). 70 Data Processing Service v. Camp, 397 U.S. 150 (153), 1969; obwohl es sich bei diesem Fall um Verwaltungsrecht handelt, ist er beispielhaft für das Interessenerfordernis; siehe auch Sara Blake, Standing to litigate Constitutional Rights and Freedoms in Canada and the United States; in Ottawa Law Review Nr. 16, 1984, S.66-96 (74).

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wird jedoch gemacht, wenn die Verletzung der Rechte eines Dritten in der direkten Verletzung des Kläger resultiert 71 . Diese sogenannte "ius tertii"Ausnahme hat zur Voraussetzung, daß der Kläger persönlich verletzt ist, daß diese Verletzung an das Recht des Dritten gebunden ist und der Dritte gehindert ist, die Verletzung selbst geltend zu machen. Die Ausnahme hat es Ärzten und Abtreibungskliniken ermöglicht, die Rechte ihrer Patienten auf Verhütung oder Abtreibung gerichtlich geltend zu machen 72 , da sie ja auch selbst von einer einschränkenden Regelung betroffen werden. Denn ein Arzt hat das Recht auf die Ausübung seiner Tätigkeit, wozu auch Abtreibungen gehören können. Einschränkungen seiner Tätigkeit können nicht nur durch strafrechtliche Vorschriften ausgelöst werden, sondern z.B. auch aus staatlichen Regulierungen resultieren, die finanzielle Einbußen zur Folge haben 73 . Da prinzipiell die direkt Betroffenen ihre Rechtsverletzung am besten selbst darlegen, soll zuletzt die Wahrnehmung ihrer Rechte nur dann von Dritten erfolgen können, wenn sie selbst daran gehindert erscheinen. Das Gericht stellt keine hohen Anforderungen an dieses Merkmal. So läßt es gelten, daß Frauen, die von einer einschränkenden Abtreibungsregelung betroffen sind, die gerichtliche Auseinandersetzung betreffend dieser privaten Entscheidung möglicherweise scheuen. Daher sollen Ärzte in den eine Abtreibung betreffenden Verfahren generell auch die Interessen der Frauen geltend machen können 74 . Für eine Klinik, die Abtreibungen anbietet, gelten die gleichen Grundsätze wie für die Ärzte, so daß auch sie mögliche Rechtsverletzungen der Frauen geltend machen kann 7 5 . Um einen aktuellen Streitfall zu begründen, müssen die Ärzte auch nicht eine Strafverfolgung abwarten, sondern es genügt, daß sie die direkten Adressaten der Gesetzgebung sind 7 6 . Die Ärzte werden hier gegenüber den Frauen privilegiert behandelt, da sie sich einer Strafverfolgung nicht aussetzen müssen, während eine Frau nur klagen kann, wenn sie schwanger ist. 71

Singleton v. Wulff, 428 U.S. 106 (112-116) 1976. Siehe Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479 (1965) und Doe v. Bolton, 410 U.S. 179 (1973); vgl. auch Sara Blake, S.75. 73 So wurde Ärzten die Klagebefugnis zugestanden in ihrer Klage gegen die Weigerung des Staates Missouri, Abtreibungen durch Medicaid zu finanzieren, Singleton v. Wulff, 428 U.S. 106. 74 Siehe Singleton v. Wulff, 428 U.S. 106. 75 Siehe Barron, Jerome Α., Constitutional Law in a Nutshell, St Paul 1986, S.35; zur Klagebefugnis einer Gesellschaft, die die Verletzung des Rechtes ihrer Kunden auf Verhütung geltend macht siehe Carey ν. Population Services, 431 U.S. 678 (1977). 76 Doe v. Bolton, 410 U.S. 179 (188). 72

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Der Supreme Court ging jedoch in seiner Auslegung der Klagebefugnis bei abtreibungsrelevanter Gesetzgebung nicht so weit, eine Interessenvertretung der Ungeborenen durch Privatpersonen zuzulassen. Die Klage eines Kinderarztes, der einen Prozeß als Interessenvertreter der ungeborenen Kinder fortführen wollte, wurde nicht zugelassen. Nach Ansicht des Gerichtes sind nur Staaten berechtigt, die Interessen der Ungeborenen zu vertreten 77 . Eine Organisation hätte bei einer entsprechenden Argumentation auch keine Aussicht auf Erfolg, als Repräsentant der Ungeborenen gerichtlich aufzutreten.

c) Beteiligung von Interessenverbänden Interessenverbände können ein Klagerecht nicht nur für den Schutz des eigenen Status und der Rechte und Interessen der Organisation haben, sondern auch das gemeinsame Interesse der Mitglieder geltend machen, wenn sie dieses angemessen repräsentieren 78. Sie können sich jedoch an Verfahren auch dadurch beteiligen, daß sie einen Testfall lancieren, um ein bestimmtes Urteil zu erreichen. Dazu wird ein geeigneter Kläger gesucht und der Prozeß von Anfang bis zum Ende von der Organisation gesteuert. Dieses Verfahren ist besonders erfolgreich bei großen Verbänden wie ACLU, da sie in jedem Staat Vertretungen haben, an die sich Bürger im Falle von Verfassungsbeschwerden wenden. Auch die Anwälte des CRLP sind - ohne selbst Kläger zu sein - durch die Übernahme der Prozeßvertretung maßgeblich an den Abtreibungsentscheidungen beteiligt, so z.B. in den Fällen PP v. Casey, Rust v. Sullivan, Hodgson v. Minnesota, Webster v. Reproductive Health Services, Thornburgh v. American College und Harris v. McRae. Weiterhin besteht die Möglichkeit, die Entscheidung des Gerichtes als Intervenier zu beeinflussen. Intervenienten können zugelassen werden, wenn sie ein eigenes Interesse an dem Fall haben, das durch die Prozeßparteien nicht ausreichend repräsentiert w i r d 7 9 oder ein der Klage oder Verteidigung entsprechendes Interesse haben und ihre Zulassung den Prozeß nicht übermäßig verzögern würde 8 0 . Die letzte Einschränkung macht bereits den möglichen Nachteil einer Intervention deutlich. Da Intervenienten im Kern dieselben Pro-

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Diamond v. Charles, 476 U.S. 54. Nach Eckard Rehbinder / Hans-Gerwin Burgbacher / Rolf Knieper, Bürgerklage im Umweltrecht, Berlin 1972, S.65-66. 79 § 24 (a) (Intervention of Right) der Federal Rule of Civil Procedure. 80 § 24 (b) (Permissive Intervention) der Federal Rule of Civil Procedure. 78

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zeßrechte wie die Parteien haben 81 , d.h. sie können z.B. selbst Anträge stellen, Kreuzverhöre durchführen oder Beweismittel vorlegen, kann ihre Beteiligung umfassende und nicht abzusehende Folgen auf den Prozeß haben. Leichter wird daher - und dies ist in den Abtreibungsfällen die Regel - die Beteiligung als amicus curiae gewährt. Die dazu erforderliche Zustimmung der Klagebeteiligten oder des Gerichtes wird meist gewährt, von dem Zustimmungserfordernis befreit sind lediglich Repräsentanten des Staates82. Die Prozeßbeteiligung des amicus curiae hat den Vorteil, daß Informationen und Meinungen umfassend berücksichtigt werden können, ohne daß jedoch der mögliche Nachteil einer Intervention riskiert werden müßte, nämlich daß die ursprünglichen Parteien die alleinige Prozeßsteuerung verlieren könnten.

4. Zwischenergebnis Die Interessenverbände von pro-choice und pro-life vertreten die konträren Positionen in der Abtreibungsdebatte, die sich aus unterschiedlichen feministischen, religiösen, wissenschaftlichen oder allgemein politischen Überzeugungen bilden. Sie stellen sich als überaus große und mächtige Organisationen dar, die in der Regel durch politische und rechtliche Überzeugungsarbeit die Interessen ihrer Mitglieder vertreten. Eine Ausnahme ist dabei die pro-life Gruppe Operation Rescue, die als "Vorreiter" einer zunehmend von Gewaltbereitschaft geprägten Auseinandersetzung gelten kann. Diese Tendenz ist - wahrscheinlich nicht zufällig - zu einem Zeitpunkt akut geworden, als sich die pro-life Bewegung nicht mehr durch den Präsidenten der Vereinigten Staaten vertreten fühlen konnte, und als auch die Rechtsprechung des Supreme Court keine völlige Umkehr von Roe mehr erhoffen ließ. Die pro-choice und pro-life Verbände agieren nicht nur regional, sondern sind - entsprechend der zentralen Bedeutung des Themas - in allen Staaten der USA aktiv vertreten. Grundsätzlich wirken Verbände, die ein im gesamten Staat einheitlich vorhandenes Interesse vertreten, in Richtung einer einheitlichen Lösung durch den Gesamtstaat. Verbände engagieren sich aber auch dort, wo sie ihre Interessen am besten durchsetzen können 83 . Im Bereich der Abtreibung wirken nur die pro-choice Vertreter in Richtung einer bundeseinheitlichen 81

Nach Carl Tobias, Intervention After Webster, in: Kansas Law Review 1990, Nr.38, S.731-766 (738). 82 Vgl. Lawrence Baum, The Supreme Court, Washington, D.C., 1992, 4. Aufl., S.84-87. 83 Vgl. Michael Bothe, Die Kompetenzstruktur des modernen Bundesstaates in rechtsvergleichender Sicht, Berlin / Heidelberg / New York 1977, S-72. *

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Lösung durch den Supreme Court, da dieser bislang der Garant war, der den Interessen von pro-choice am wirksamsten Nachdruck verlieh. Die pro-life Verbände haben dagegen mehr Chancen für eine Durchsetzung ihrer Politik in einzelnen Staaten und konzentrierten ihre lobby-Arbeit daher auf die Gesetzgebung der Staaten. Die großen pro-choice Verbände wie PP und ACLU haben ihren Ursprung lange vor Roe ν. Wade, denn Bürgerrechtsbewegungen setzen sich in den Vereinigten Staaten - in denen Parteien im Verhältnis zu Europa nur eine untergeordnete Rolle als Vertreter bestimmter Gruppeninteressen spielen - schon immer für bestimmte Interessen der Bevölkerung ein. Relativ neu ist jedoch das in der Abtreibungsdebatte zu beobachtende Zusammenspiel von Interessenvertretung und Gerichten, das eine Gestaltung der Politik - auch ohne parlamentarische Beteiligung - ermöglicht. Entsprechend der zunehmenden Bedeutung der gerichtlichen Auseinandersetzung haben sich die Interessenverbände für die Durchsetzung ihrer Ziele auch auf die Vertretung vor Gericht spezialisiert. A u f der pro-choice Seite haben dies PP und ACLU, bzw. ab 1992 das CRLP getan, in der pro-life Bewegung sind A U L und das NRLC zu nennen. Daß fast alle Gerichtsprozesse von der pro-choice Seite initiiert werden, erklärt sich aus der Tatsache, daß die pro-life Bewegung keine eigene Klagebefugnis hat und die Interessen der Ungeborenen, die sie gerne vertreten würden, nur vom Staat wahrgenommen werden können. Durch die problemlose und zunehmende Beteiligung von Interessenverbänden an den Verfahren ist jedoch beiden Seiten die Einbringung ihrer Interessen vor Gericht ermöglicht 84 . Damit wurde der Blick des Supreme Court von der reinen Streitentscheidung auch auf die politischen Zusammenhänge und Dimensionen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen gelenkt.

84 Vgl. zu den Beteiligungsmöglichkeiten bei Abtreibungsfällen und für eine sehr restriktive Auslegung jeder Beteiligung argumentierend: Carl Tobias, Intervention After Webster.

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Π . Kanada 1. Pro-choice Vertreter a) Henry Morgentaler Dr. Henry Morgentaler ist wohl der Protagonist in Kanada für das Recht einer Frau auf eine Abtreibung. Dreimal stand er deswegen allein vor dem Obersten Gerichtshof. Der Konflikt mit dem Gesetz und die Auseinandersetzung vor Gericht zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben. Um die Beweggründe für dieses außergewöhnliche Engagement ein wenig zu verstehen, ist kurz auf seine Lebensgeschichte einzugehen. Henry Morgentaler wurde am 19. März 1923 in Lodz, Polen, als zweites von 3 Kindern geboren. Die Eltern waren Juden, aber nicht religiös orientiert. Sie waren aktiv im "Bund" tätig, einer jüdischen sozialistischen Arbeiterbewegung. 1939 wurde Lodz durch die Deutschen besetzt, und die Familie wegen ihrer jüdischen Religionszugehörigkeit verfolgt. Der Vater wurde 1940 als erstes Familienmitglied deportiert und er starb noch im selben Jahr in einem Konzentrationslager; die Schwester kam im Warschauer Ghetto um. Mit seiner Mutter und seinem Bruder lebte Henry Morgentaler 4 Jahre im Ghetto in Lodz, bis sie 1944 nach Ausschwitz-Birkenau gebracht wurden. Männer und Frauen wurden bei der Ankunft getrennt und die Brüder sahen ihre Mutter nie wieder. Am 29. April 1945 erlebten Henry Morgentaler und sein Bruder Mumek die Befreiung durch amerikanische Truppen 85 . Später berichtete Dr. Morgentaler, daß diese Erlebnisse den Grundstein für seine Lebensphilosphie bildeten. Durch die furchtbaren Erfahrungen fühlte er sich einerseits in seinem Atheismus bestätigt, da kein Gott den Verfolgten geholfen hatte. Zum anderen begründete sich damals sein tiefes Mißtrauen gegenüber dem Staat, gegenüber der Gleichsetzung von Recht und Gesetz. Dieses Mißtrauen gab ihm den Mut, auf dem Wege des zivilen Ungehorsams für ein eigenes Gerechtigkeitsempfinden zu kämpfen 86 . Nach 4 Jahren Medizinstudium in Deutschland (Marburg) und Belgien, wanderte Dr. Morgentaler 1950 nach Kanada aus. In Montreal fand er in der Montreal Humanist Fellowship auch eine geistige Heimat. Die Organisation begründet ihre Philosphie auf die Lehre von Bertrand Russell und Erich Fromm 85

Nach Eleanor Wright Pelrine, Morgentaler The Doctor who couldn't tum away; Halifax 1975, S.5-16. 86 Morton, S.31.

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und fördert ein ethisch orientiertes Freidenkertum, das sich auf wissenschaftliche Erkenntnis beruft und jede Form von Religion - wegen der Unwissenschaftlichkeit und der damit verbundenen Bevormundung der Menschen - ablehnt 87 . 1968 wurde Morgentaler der erste Präsident der nationalen Vereinigung, der Canadian Humanist Association. In dieser Position wurde er, als eine Person des öffentlichen Lebens und als Arzt, in die Abtreibungsdebatte gezogen. Er glaubt an das Recht einer Frau auf eine sichere Abtreibung und entschied sich daher 1968, seinem Gewissen zu folgen, und auf Wunsch von Frauen Abtreibungen durchzuführen, auch wenn er damit gegen das Gesetz verstieß (welches erst 1969 reformiert wurde). Da er seine Tätigkeit nicht verheimlichte, wurde er im August 1973 das erste Mal angeklagt, Abtreibungen entgegen s.251 des C.C. in seiner Klinik und ohne Zustimmung eines Abtreibungskomitees durchgeführt zu haben 88 . Das Geschworenengericht sprach ihn frei, aber im Berufungsurteil des Quebec Court of Appeal wurde aus dem Freispruch eine Verurteilung, die von dem Supreme Court 1975 aufrecht erhalten wurde. Während Dr. Morgentaler seine Gefängnisstrafe von 18 Monaten absaß, wurde er wegen anderer Abtreibungen erneut angeklagt, von einer Jury wiederum freigesprochen, aber diesmal wurde der Freispruch auch vom Berufungsgericht bestätigt. Zwischenzeitlich - und auch als Reaktion auf die Verurteilung Dr. Morgentalers - war ein Zusatz zu S.613 des Strafgesetzes ergangen, der es unmöglich machte, im Berufungsverfahren den Freispruch eines Geschworenengerichtes durch einen Schuldspruch zu ersetzen 89. Trotzdem hätte das Gericht den Freispruch aufheben und das Verfahren zur Neuverhandlung zurückverweisen können 90 . Dr. Morgentaler wurde schließlich schon nach 10 Monaten freigelassen. Denn in einer ungewöhnlichen Aktion hatte der neue Justizminister die Neuverhandlung der ersten Anklage veranlaßt und nachdem Dr. Morgentaler hierbei zum dritten Mal von Geschworenen freigesprochen worden war, wurden in Quebec alle weiteren Anklagen und Untersuchungen gegen ihn aufgegeben 91.

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Nach einem Entwurf der Prinzipien und Ziele der Humanist Association of Canada von Henry Morgentaler und Lloyd Brereton, Draft for a Canadian Humanist Manifesto; in: Humanist in Canada, 1968, No.3, S.U. 88 Morton, S.33, 34. 89 Morton, S.82. 90 Morton, S.85. 91 Abortion in Law and History; Toronto 1992, Childbirth by Choice Trust, S.21.

II. Kanada

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1983 eröffnete Dr. Morgentaler eine Abtreibungsklinik in Toronto, Ontario. 1984 endete die strafrechtliche Verfolgung auch hier zunächst mit einem Freispruch durch das Geschworenengericht. In der Berufung wurde jedoch eine Neuverhandlung angeordnet. Dagegen legte Dr. Morgentaler Rechtsmittel ein und 1988 führte dieses Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof zur Aufhebung der relevanten Strafgesetzgebung und somit zur Straffreiheit der Abtreibung in ganz Kanada 92 . Heute betreibt Dr. Morgentaler in vielen Städten Kanadas Abtreibungskliniken (so in Montreal, Winnipeg, Toronto, Halifax, Vancouver und St. John). Daß die Beendigung der strafrechtlichen Verfolgung für Dr. Morgentaler kein Ende der gerichtlichen Auseinandersetzung bedeutet, zeigen Streitigkeiten wie z.B. sein jüngster Fall 1993 vor dem Supreme Court und laufende Verfahren gegen die Provinzen New Brunswick und Manitoba. Die zahlreichen Spenden von Organisationen und Einzelpersonen für die gerichtlichen Kosten Dr. Morgentalers werden in einem dazu eingerichteten "Legal Defense Fund" gesammelt 93 .

b) CARAL - Canadian Abortion Rights Action League C A R A L 9 4 ist die wichtigste Verbündete von Dr. Morgentaler. Der Verband wurde 1974 gegründet und die Initialen standen zunächst für "Canadian Association for the Repeal of the Abortion Law" und bezeichneten so die damalige Zielsetzung, nämlich die Aufhebung der Strafgesetzgebung zur Abtreibung. Nach dem Erreichen dieses Zieles in der Morgentaler-Entscheidung von 1988 löste sich die Organisation jedoch nicht auf, sondern sie kämpft weiterhin für das Recht der Frauen auf Zugang zu sicheren und finanzierten Abtreibungen. CARAL hat dazu von Anfang an mit Dr. Morgentaler zusammengearbeitet und diesen auch in seinen Prozessen finanziell unterstützt. Des weiteren gibt CARAL eine Zeitung heraus und nimmt Einfluß, indem an Politiker und Organisationen pro-choice Informationen geschickt werden. Das nationale Büro und die Geschäftsführung haben den Sitz in Toronto, aber insgesamt 36 Niederlassungen in den Provinzen und ca. 30.000 Mitglieder in ganz Kanada garantieren den Kontakt auch zu entlegeneren Gebieten. 92

Vgl. Abortion in Law and History, Childbirth by Choice Trust, S.21. Morton, S.l29. 94 CARAL -Canadian Abortion Rights Action League, 344 Bloor St. W Suite 306, Toronto, Ontario M 5 S 3 A 7. 93

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CARAL wird nicht staatlich unterstützt, sondern das jährliche Budget von ca. $ 400.000 wird durch private Spenden erreicht 95 .

c) LEAF - Women's Legal Education and Action Fund L E A F 9 6 wurde 1985 gegründet, nachdem der Gleicheitssatz in s. 15 der kanadischen Verfassung aufgenommen worden war. Im Bundesvorstand von LEAF sind alle Provinzen oder Territorien vertreten. Ziel der gemeinnützigen Organisation ist die Gleichberechtigung der Frauen in der kanadischen Gesellschaft. Sie unterstützen dies in erster Linie durch die Beteiligung an Gerichtsprozessen, entweder durch die Unterstützung von Klägern oder - wie in den Abtreibungsprozessen geschehen - als Intervenient 97 . Diese gerichtliche Unterstützung wurde eine Zeitlang aus Bundesmitteln gefördert. Das 1985 ins Leben gerufene Court Challenges Program, CCP, sollte auch den finanziell nicht gut ausgestatteten Minderheiten den Zugang zu den Gerichten ermöglichen, um ihre Rechte aus der Charter durchsetzen zu können. Im Zuge von Sparmaßnahmen wurde 1992 die Beendigung des CCP (mit einem Budget von jährlich $ 2.5 Millionen) beschlossen. LEAF erhält zwar eigene Spenden in der nicht unbeträchtlichen Höhe von jährlich über $ 500.000, aber als Hauptgeschädigter der Streichung der CCPMittel mußte LEAF eine empfindliche Reduktion aller Aktivitäten vornehmen 9 8 . Abgesehen von der gerichtlichen Tätigkeit engagiert sich LEAF für die öffentliche Aufklärung und Information bezüglich der Gleichheitsrechte, fördert Forschungsprojekte und Analysen, die Politikern, insbesondere im Stadium der Gesetzesvorbereitung, unterbreitet werden, so z.B. auch während der parlamentarischen Debatte zur neuen Abtreibungsgesetzgebung 99. 95

Siehe die Publikationen von CARAL: CARAL As An Organization, The Case Against Criminal Sanctions (1988), Who Decides? A Manual For Campaign Organizers On Dealing With Choice. 96 LEAF - Women's Legal Education and Action Fund, 489 College Street, Suite 403, Toronto, Ontario M 6 G 1 A 5. 97 Siehe Women's Legal Education and Action Fund Fact Sheet, 1992; Women's Legal Education and Action Fund (LEAF) Promoting Equality for Canadian Women; LEAF: Making the law working for women. 98 LEAF News Release, 29.9.1992. 99 Siehe LEAF, Submission to Legislative Committee of Parliament on Bill C-43, an Act Respecting Abortion.

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d) Ν AWL- National Association of Women and the Law Gegründet 1974 setzt sich N A W L 1 0 0 für die gesetzlichen Rechte der Frauen ein. Ziel der gemeinnützigen Organisation ist es, durch Gesetzesreformen, Forschung und Information den Status der Frauen zu verbessern. Finanziell ermöglicht wird dies durch das staatliche "Women's Program of the Secretary of State" und die etwa 1.000 privaten Mitglieder 1 0 1 . Informationen über den Status der Frauenrechte werden u.a. durch die Mitarbeit am "Canadian Journal of Women and the Law" sowie die Herausgabe einer eigenen Zeitschrift, "Jurisfemme", gegeben. Im Rahmen des lobbying für eine frauenfreundliche Gesetzgebung hat N A W L z.B. 1989 zum Gutachten der Law Reform Commission über den rechtlichen Status des Fötus eine Erwider u n g 1 0 2 präsentiert, sowie 1990 ein Gutachten zum damals geplanten Abtreibungsgesetz ausgearbeitet 103 .

e) Ρ PFC - Planned Parenthood Federation of Canada Die Bedeutung der Planned Parenthood Federation of Canada 104 für die prochoice Debatte ist in Kanada wesentlich geringer als die ihrer amerikanischen Schwesterorganisation. Sie setzen sich jedoch ebenso wie diese für die Bedürfnisse der Bevölkerung ein, bezüglich sexueller Fragen und der Familienplanung aufgeklärt und informiert zu werden 1 0 5 . Wegen des bis 1988 geltenden Verbots der Durchführung von Abtreibungen in privaten Einrichtungen betreibt PPFC keine Abtreibungskliniken. Sie setzt sich jedoch für Aufklärung in Fragen der Familienplanung ein und befürwortet das eigenverantwortliche Entscheidungsrecht einer Frau über eine Abtreibung.

100 NAWL - National Association of Women and the Law, 604 - 1 Nicholas Street, Ottawa, Ontario Κ 1 Ν 7 Β 7. 101 Siehe The National Association of Women and the Law, General Information Package, Februar 1993. 102 A Response to Crimes Against the Foetus, the Law Reform Commission of Canada's Working Paper No.58, NAWL's Working Group on Health and Reproductive Issues, 1989. 103 Brief to the Legislative Committee of Parliament on Bill C-43, An Act Respecting Abortion, NAWL's Working Group on Health and Reproductive Issues, 1990. 104 ppFc . planned Parenthood Federation of Canada, 1 Nicholas Street, Suite 430, Ottawa, Ontario K I N 7 Β 7. 105 Siehe PPFC Bulletin; Januar 1993, S.2.

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PPFC beteiligt sich wegen der hohen Kosten nicht selbst an Gerichtsverfahren, aber sie unterstützt Dr. Morgentaler z.B. durch Einzelaktionen wie Veranstaltungen in ihren Räumlichkeiten, deren Erlös der Morgentaler Stiftung zukommt106.

2. Pro-life Vertreter a) Joseph Borowski - Alliance Against Abortion Joseph Borowski wurde 1932 in Saskatchewan als eines von 10 Kindern geboren. Seine Eltern waren polnische Einwanderer. Borowski war schon mit 12 Jahren gezwungen, die Schule zu verlassen, um seiner Familie beim Broterwerb zu helfen. Er arbeitete, wo immer sich Arbeit fand; heiratete 1952 und hat drei Töchter. Als Minenarbeiter in Manitoba begann er sich zunächst gewerkschaftlich zu engagieren. Sein Einsatz für die Sicherheit der Minenarbeiter und seine starken, kompromißlosen Ansichten ließen ihn auch politisch erfolgreich gegen die herrschende Tory Regierung aktiv werden 1 0 7 . 1969 übernahm die Neue Demokratische Partei die Regierung in Manitoba und Borowski wurde Verkehrsminister. So unaufhaltsam und überraschend erfolgreich seine politische Karriere bis dahin verlief, sollte er in der Politik an den Eigenschaften scheitern, die ihn bis hierher gebracht hatten. Borowski entdeckte eher zufällig seine Überzeugung, daß Abtreibung etwas Unrechtes sei, engagierte sich anschließend jedoch unbeirrbar für die Rechte des Ungeborenen und machte sich sowohl mit dem Thema, als auch mit seiner ihm eigenen Kompromißlosigkeit selbst in der eigenen Partei Feinde 1 0 7 . Nachdem Premier Schreyer ihm untersagte, als Kabinettsmitglied einen privaten Feldzug gegen die Abtreibung zu führen, verließ Borowski 1971 das Kabinett und verlor bei den Wahlen 1973 auch seinen Sitz als unabhängiger 106

Information aus einem Gespräch der Verfasserin am 11.2.1993 in Ottawa mit Bonny Johnson, Direktorin der PPFC; das Beispiel bezieht sich auf eine Veranstaltung in Alberta, genannt "An Evening with Dr. Morgentaler", da anläßlich eines von PPAlberta organisierten Vortrags Dr. Morgentalers $ 1.500 gespendet wurden; siehe Bulletin, PPFC, September 1992, S.8. 107 Er nahm u.a. zahlreiche Gefängnisaufenthalte in Kauf, da er sich weigerte, Steuern zu zahlen, die auf Grund einer erst nach den Wahlen erlassenen Vorschrift erhoben wuren. 108 Nach einem Telefongespräch mit einem pro-life orientierten Arzt, der sich bei ihm als NDP-Politiker über Abtreibungen in Manitoba beschwerte, begann er sich für das Thema zu interessieren; vgl. Anne Collins, S.3-4.

II. Kanada

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Kandidat. Das war der Anfang einer neuen Bewegung, denn im selben Jahr gründete Borowski mit sieben Freunden die "Alliance for Life", um sich gegen Abtreibung zu engagieren. Obwohl die Organisation nicht als gemeinnützig anerkannt und Spenden daher nicht steuerlich abzugsfähig waren, erhielt Borowski finanzielle Zuwendungen von Tausenden, die er für seine Idee begeistern konnte 1 0 9 . Seine Idee war die des persönlichen zivilen Ungehorsams und Borowski verweigerte fortan seine Steuerzahlungen mit dem Hinweis auf die staatliche Finanzierung von Abtreibungen. Dafür ging er sogar ins Gefängnis, aber sein Märtyrertum hatte keinen Erfolg. Auf der Suche nach einer neuen Strategie stieß er auf den Anwalt Morris Shumiatcher, der in den nächsten Jahren für ihn arbeiten sollte. Shumiatcher war nicht irgendein Anwalt, sondern ein herausragender Verfassungsrechtler 110 mit profunden pro-life Überzeugungen 111 . Die jahrelange Zusammenarbeit dieses ungleichen Paares führte zu einer spektakulären Herausforderung des kanadischen Strafrechts vor dem Obersten Gerichtshof. Es kostete ihn, bzw. seine ihn über Alliance for Life unterstützenden Anhänger nach eigenen Angaben ca. $ 100.000, um 1981 allein das Recht gehört zu werden, zu erstreiten. Im Februar 1983 wurde seinem Verfahren beinahe ein Ende gemacht, da der Court of Queens Bench eine Garantiesumme in Höhe von $ 350.000 für kommende Gerichtskosten verlangte. Aber die Freunde und Förderer ließen Borowski nicht im Stich und das Geld konnte beschafft werden. Nach 10 Jahren des Prozessierens hatte sich Borowski zwar seinen Auftritt vor dem Supreme Court erkämpft, aber mehr als dies wurde ihm auch nicht zugestanden. Fünf Monate nach der Anhörung entschied das Gericht, daß sein Fall durch die Aufhebung des Strafgesetzes erledigt sei.

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Soweit nach Morton, S.38-42 und S.63-68. Er wirkte u.a. entscheidend an der Gestaltung der Saskatchewan Bill of Rights mit, Morton, S.90. 111 In seiner Anwaltstätigkeit engagierte er sich gegen die Liberalisierung des Abtreibungsrechtes; auch seine persönlichen Erfahrungen führten ihn zur pro-life Position: die Ehe mit seiner Frau ist ungewollt kinderlos geblieben und als Jude sieht er in den Abtreibungen die Wiederholung des Holocaust, da die Vernichtung unwerten Lebens erfolgt; Morgentaler, wie zuvor dargestellt wurde, hat aus diesen Erlebnissen eine völlig andere Lebensprägung erfahren; nach Morton, S.90-92. 110

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C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter b) R.E.A.L. ( Realistic , Equal, Active, for Life) Women of Canada

R.E.A.L. Women of Canada 112 wurde 1983 gegründet und versteht sich als eine unabhängige Organisation, die die Interessen der Frauen Kanadas wahrnimmt, u.a. durch die Beteiligung an Gerichtsverfahren. Sie engagieren sich im Namen ihrer Mitglieder für traditionelle Familienwerte, unter besonderer Betonung der väterlichen Verantwortung, und unter diesem Mantel werden recht unterschiedliche Anliegen vertreten: so z.B. sollen Scheidungen erschwert werden, die Möglichkeiten der Frau, sich auf die Kinderversorgung zu konzentrieren, dagegen verbessert; Quotenregelungen zu Gunsten von Frauen lehnen sie genauso wie Pornographie und Prostitution ab, wobei die letzteren beiden als strafbare Handlungen ganz verboten werden sollten. Sie sind gegen Abtreibung, da auch das Ungeborene als wertvolles Familienmitglied geschützt werden müsse. Zudem sei die Austragung einer Schwangerschaft ihrer Meinung nach medizinisch sicherer, während die physischen und psychischen Auswirkungen einer Abtreibung regelmäßig unterschätzt würden. Auch sei Abtreibung eine Form der Ausbeutung von Frauen, da die Frau als sexuelles Objekt "ohne Konsequenzen" benutzt werde 1 1 3 .

3. Gerichtsverfahren, persönliche und gesellschaftliche Interessen und die Rolle von Verbänden Wie zuvor im USA-Teil wird folgend anhand der Kläger, Beklagten und Beteiligten in den Abtreibungsprozessen gezeigt, welche gesellschaftliche Kräfte die gerichtlichen Entscheidungen ausgelöst haben und wie dies durch das Prozeßrecht ermöglicht wurde.

112

R.E.A.L. Women of Canada, Box 8813, Station "Τ", Ottawa, Ontario, K1G 3J1. Nach: Real Women of Canada, Position Papers; Easy Divorce?; Child Care, Whose Responsibility?; Pornography in Canada; und der Presentation to the Legislative Committeee on Bill C-43, An Act Respecting Abortion, 1990. 113

II. Kanada

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a) Kläger, Beklagte und Intervenieren Die Geschichte der Abtreibung, ein Thema von so zentraler Bedeutung für die Frauen, wurde in Kanada vor den Gerichten ausschließlich von männlichen Akteuren bestimmt. Drei Verfahren wurden gegen Henry Morgentaler 114 und zwei von Joseph Borowski 1 1 5 geführt, wobei Borowski als Kläger, Morgentaler jedoch als Beklagter vor Gericht stand. In dem Verfahren gegen Morgentaler von 1988 waren außer Morgentaler noch zwei weitere Ärzte, Smoling und Scott, angeklagt worden. Das Verfahren gegen Chantal Daigle, der eine Abtreibung untersagt werden sollte, wurde von ihrem ehemaligen Lebensgefährten Tremblay angestrengt 116 . Während sich die Prozeßbeteiligung für Morgentaler und seine Arztkollegen ja zwingend aus der Beklagtenstellung ergibt, stellt sich die Frage, wie die übrigen Akteure ihren Fall zur gerichtlichen Entscheidung brachten. Beteiligte 1 1 7 im Morgentaler-Fall von 1975 waren auf Seiten Morgentalers die Foundation of Women in Crisis, sowie die Canadian Civil Liberties Association, und auf Seiten des Staates die Alliance for Life, Fondation pour la Vie und eine Ärztevereinigung. Während sich bei Borowski 1981 nur die Vertreter der Provinzen Ontario, British-Columbia und Alberta beteiligten, hatte er 1989 vor Gericht die Unterstützung folgender pro-life Verbände: Interfaith Coalition on the Rights and Wellbeing of Women and Children, R.E.A.L. Women of Canada. A u f der Gegenseite argumentierte der Women's Legal Education and Action Fund (LEAF). Im Gegensatz zu 1975 waren im Morgentaler-Fall von 1988 allerdings keine Intervenierten zugegen. Dies lag jedoch nicht an einer restriktiven Haltung des Gerichtes, sondern die pro-life Gruppen hatten sich finanziell im Parallelverfahren Borowski v. Attorney-General engagiert und die wichtigste pro-choice Gruppe CARAL unterstützte Morgentaler und seine anwaltliche Argumentati114

Morgentaler v. The Queen, 53 D.L.R. (3d) 161; Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385; The Queen v. Morgentaler, 3 S.C.R. 463. 115 Minister of Justice of Canada ν. Borowski, 130 D.L.R. (3d) 588 und Borowski v. Attorney-General of Canada, 57 D.L.R. (4th) 231. 116 Tremblay v. Daigle, 62 D.L.R. (4th) 634. 117 Die beteiligten Intervenieren werden sowohl in der offiziellen Entscheidungssammlung, den S.C.R., sowie auch den D.L.R., vor den Entscheidungsgründen aufgeführt.

C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter

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on. Andere pro-choice Gruppen wurden vom Anwalt Morgentalers abgewehrt, da dieser befürchtete, daß dann im Gegenzug auch pro-life Gruppen eine Beteiligung anstreben würden 1 1 8 . In Tremblay v. Daigle waren 1989 als Intervenienten zugelassen: der Attorney-General von Kanada und der Provinz Quebec, CARAL, LEAF, Canadian Civil Liberties Association, Campaign Life Coalition, Canadian Physicians for Life und R.E.A.L. Women of Canada. In The Queen ν. Morgentaler von 1993 ist der einzige Intervenient auf Seiten Dr. Morgentalers CARAL, auf der Seite von Nova Scotia finden sich R.E.A.L. Women of Canada, der Attorney General of Canada und der Attorney General der Provinz New Brunswick.

b) Zulässigkeitsvoraussetzungen

als Steuerungsmittel

Auch der Supreme Court von Kanada hat einige Abtreibungsprozesse erst durch die extensive Auslegung der Eingangsvoraussetzungen möglich gemacht. Die Klagebefugnis ist im kanadischen common law nicht einheitlich geregelt, sondern die Voraussetzungen variieren je nach Verfahren 119 . In der Rechtsprechung des Supreme Court wurde sie bei einer Verfassungsbeschwerde gewährt, wenn der Kläger zeigen kann, daß er von der angegriffenen Gesetzgebung direkt betroffen i s t 1 2 0 . Eine Ausnahme von dieser persönlichen Beschwer hat der Supreme Court erst 1974 in der Entscheidung Thorson v. Attorney General of Canada 121 ermöglicht. Joseph Thorson klagte gegen den "Official Languages Act", mit dem unter Trudeau's Regierung alle Bundeseinrichtungen zur Zweisprachigkeit verpflichtet wurden. Die Argumentation des Klägers war, daß die Regierung ihre Regelungsbefugnisse bezüglich der Sprachen überschritten habe. Das angegriffene Gesetz sah keine Sanktionen vor und richtete sich auch in keiner Weise an die Bürger, sondern wies lediglich die Bundesbehörden an, zur Umsetzung der Zweisprachigkeit bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Da es somit keine direk118

Morton, S.221. Dies kann von der Verfahrensart (z.B. eine einstweilige Verfügung, ein Revisionverfahren, eine Unterlassungsklage) oder dem Kläger (Wähler oder Steuerzahler) abhängen; ausführlich zu den unterschiedlichen Voraussetzungen Barry Lee Strayer, The Canadian Constitution and the Courts, 3. Aufl., Toronto / Vancouver 1988, S. 145 ff.. 120 Blake, S.66-96 (68). 121 Thorson v. A.-G. for Canada, 1 S.C.R. 138, 1975. 119

II. Kanada

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ten Auswirkungen auf die Bürger hatte, hätte nach den traditionellen Regeln lediglich der Justizminister durch Einholung eines Gutachtens gerichtlich die Verfassungsmäßigkeit überprüfen lassen können 1 2 2 . Die unteren Instanzen verneinten dementsprechend die Klagebefugnis des Klägers, da er nicht persönlich beschwert sei. Der Supreme Court überraschte jedoch mit der Feststellung, daß einem Kläger - soweit es keine andere vernünftige und effektive Möglichkeit der Anrufung des Gerichtes gäbe - die Klagebefugnis auch aus einem echten Interesse an der Gültigkeit der Gesetzgebung zugestanden werden kann 1 2 3 . Dieser Grundsatz wurde 1976 in M c N e i l 1 2 4 erweitert. Die Klage eines Bürgers richtete sich gegen die Verfassungsmäßigkeit des "Theatres and Amusements Act". Basierend auf diesem Gesetz hatte eine Komission die Aufführung des Films "Last Tango in Paris" aus sittlichen Gründen verboten. Direkt betroffen von diesem Verbot waren zunächst die Filmverleiher oder Kinobesitzer, die den Film nicht verwerten durften. Der Kläger war nur indirekt beschwert, da es für ihn keine Möglichkeit gab, den Film im Kino zu sehen. Im Unterschied zu Thorson handelte es sich um ein Gesetz, bei dem es von der Regelung direkt betroffene Bürger gab, nämlich die Filmverleiher und Kinobesitzer. Diesen hätte daher eine Klagebefugnis zugestanden. Das Gericht entschied aber, daß auch ein indirekt betroffener Dritter Interessen geltend machen kann, wenn es unwahrscheinlich ist, daß die Betroffenen selbst klagen. Das zugrundeliegende Prinzip, daß eine gerichtliche Überprüfung nicht an der Klagebefugnis scheitern solle, fand seinen Höhepunkt 1981 im Abtreibungsfall Minister of Justice v. Borowski 1 2 5 . Der Konflikt dieses Falles bésteht nicht zwischen Personen, sondern es ist der abstrakte Konflikt zwischen dem Criminal Code und der Canadian Bill of Rights. Im Unterschied zu Thorson gibt es Personen, die von dem Gesetz direkt betroffen sind, nämlich die Ärzte oder Frauen, die eine Abtreibung entgegen den strafrechtlichen Bestimmungen vornehmen. Der Kläger Borowski gehört nicht zu dieser Gruppe. Im Unterschied zu dem Kläger im Fall McNeil ist er aber auch nicht indirekt von der Regelung beschwert. Trotzdem wurde ihm die 122

Dies wäre dem Justizminister durch die sogenannte "constitutional reference" möglich. Danach kann beim Supreme Court ein Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen angefragt werden. Siehe Strayer, The Canadian Constitution and the Courts, S.l70-172. 123 In der Entscheidung heißt es:"the right of the citizenry to constitutional behaviour by Parliament" Thorson v. A.-G. Canada, 43 D.L.R. (3d) 1 (19), 1975. 124 Nova Scotia Board of Censors v. McNeil, 55 D.L.R. (3d) 632 (637), 1975. 125 Minister of Justice of Canada v. Borowski, 130 D.L.R. (3d) 588, 1981.

C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter

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Klagebefugnis durch den Supreme Court gewährt. Die Mehrheit des Gerichtes sah als Voraussetzung der Klagebefugnis nunmehr als ausreichend an, wenn eine Person ein echtes Interesse an der Gesetzgebung habe und keine andere vernünftige Möglichkeit bestehe, den Fall vor Gericht zu bringen 1 2 6 . Nachden sich Borowski so die Klagebefugnis erkämpft hatte, begann er im Kampf gegen die Abtreibungsgesetze erneut den Zug durch die Instanzen. Im Oktober 1988 stand er bei den Anhörungen erneut vor dem Supreme Court 1 2 7 . Das von ihm angegriffene Strafgesetz zur Abtreibung war jedoch Anfang des Jahres aufgehoben worden. Da außerdem seit seiner letzten Klage der Constitution Act, 1982 in Kraft getreten war, gab es nun zwei Bestimmungen mit Relevanz zur Klagebefugnis, Art. 24 (1) und 52 ( l ) 1 2 8 . Nach s.24 (1) kann jeder, dessen Verfassungsrechte verletzt wurden, Klage erheben. Darauf konnte sich Borowski nicht berufen, da er nicht die Verletzung eines eigenen Rechtes, sondern die der Föten geltend machte. S.52 (1) sieht vor, daß jedes Gesetz ungültig ist, welches gegen die Verfassung verstößt. Hier könnte also in einer weiteren Auslegung der Klagebefugnis in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung herausgelesen werden, daß kein Gesetz der verfassungsrechtlichen Kontrolle entgehen soll. Das Gericht prüfte dementsprechend auch, ob sich für Borowski eine Klagebefugnis aus s.52 ergeben kann. Voraussetzung ist aber jedenfalls, daß ein Gesetz existiert. Da die strafrechtliche Bestimmung zur Regelung der Abtreibung bereits aufgehoben worden war, entschied der Supreme Court am 9. März 1989, fünf Monate nach der Anhörung, daß die Klage nicht nur erledigt, sondern Borowski auch keine Klagebefugnis mehr habe 1 2 9 . In der Daigle-Entscheidung 130 wurde eine andere Zulässigkeitsvoraussetzung großzügig interpretiert. Obwohl auch hier der zugrunde liegende Konflikt erledigt war, erging ein Urteil in der Sache.

126

Ausführlicher zu dem Fall in dieser Arbeit Kapitel D. II. 3. Borowski v. Att.-Gen. of Canada, 57 D.L.R. (4th) 231, 1989. 128 S.24 (1): Anyone whose rights or freedoms, as guaranteed by this Charter, have been infringed or denied may apply to a court of competent jurisdiction to obtain such remedy as the court considers appropriate and just in the circumstances. S.52 (1): The constitution of Canada is the supreme law of Canada, and any law that is inconsistent with the provisions of the Constitution is, to the extent of the inconsistency, of no force or effect. 129 Borowski v. Att.-Gen. of Canada, 57 D.L.R. (4th) 231 (250,251). 130 Tremblay v. Daigle, 62 D.L.R. (4th) 634. 127

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Das Gericht begründete dies mit der Wiederholungsgefahr einer solchen Verfügung. Diese Begründung änderte nichts an der offensichtlichen Tatsache, daß sich das Urteil nicht an die Prozeßbeteiligten richtete, sondern an diejenigen, die vielleicht auch mit dem Gedanken gespielt hatten, ihre Rechte als potentieller Vater gerichtlich geltend zu machen. Durch die Abweisung der einstweiligen Verfügung sollte jedem weiteren Versuch, über eine einstweilige Verfügung Abtreibungen zu verhindern, vorgebeugt werden. Dies zeigt sich auch an dem Exkurs des Gerichtes in das common law, wobei festgestellt wurde, daß auch hier keine Rechte des Vaters existieren. Diese Ausführung war für die Entscheidung im Daigle-Fall irrelevant, da in Quebec ein Code Civil existiert. Jedoch konnte damit ähnlichen Klagen in common-law Provinzen von vorneherein die Erfolgsaussicht genommen werden 1 3 1 . Die weite Auslegung von Zulassungsvoraussetzungen zeigt eine Abkehr von der Funktion der Rechtsprechung als rein streitentscheidende Instanz. Zwar handelt es sich auch in den dargelegten Fällen um Streitfälle, aber die Problemstellung ist weniger im konkreten Konflikt zwischen Kläger und Beklagtem begründet, sondern der Kläger macht als Bürger Interessen der Allgemeinheit geltend. Diese Konstellation könnte man mit einer Art "privater" constitutional reference vergleichen, denn dem Kläger geht es um die Beurteilung grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Konflikte. Daß das Gericht die Aufgabe annimmt, grundsätzliche Problemstellungen zu entscheiden, zeigt sich besonders deutlich an dem Daigle-Fall. Das Urteil richtete sich nicht an die Prozeßparteien, deren Streit sich bereits erledigt hatte, sondern an die Allgemeinheit. Die Erweiterung der Klagemöglichkeiten durch den Supreme Court zeigt jedoch nicht nur ein verändertes Selbstverständnis des Gerichts, sondern hatte auch Konsequenzen für die Beteiligung von Interessenverbänden. Die Tatsache, daß die Klage eines Bürgers zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes möglich war, ohne daß dieser direkt oder indirekt von der Gesetzgebung betroffen ist, öffnete ein weites Betätigungsfeld auch für Verbände, die eine berechtigte Chance sahen, ihren Interessen auch gerichtlich Nachdruck zu verleihen.

131

"It is useful to do so as well to avoid the repetition of the appellant's experience in the common law provinces" so in Tremblay v. Daigle, 62 D.L.R. (4th) 634-665

(660). 6 Moors

C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter

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c) Beteiligung von Interessenverbänden Interessenverbände können zum einen selbst Kläger sein, wenn ein von ihnen vertretenes Interesse betroffen ist und es keine andere vernünftige und effektive Möglichkeit gibt, das Verfahren zu betreiben. Eine alternative Möglichkeit, das Verfahren zu betreiben, kann z.B. darin liegen, daß ein stärker Betroffener Klage erheben könnte 1 3 2 . Zum anderen haben Interessenverbände die Möglichkeit, sich als Intervenie n t 1 3 3 an einem Verfahren zu beteiligen. Während Regierungen sich jederzeit an Verfahren beteiligen können, wird Individuen oder Verbänden die Beteiligung am Verfahren nur dann bewilligt, wenn der Antragsteller ein direktes Interesse an dem Fall darlegen kann und die Darstellung durch die ursprünglichen Parteien, ohne Beteiligung des Intervenienten, ungenügend wäre 1 3 4 . Die unveränderte Anwendung dieser aus dem common law entstandenen Regel führte über einen Zeitraum von ca. 80 Jahren zu nur wenigen privaten Beteiligungen an Verfahren. Eine Abkehr von dieser zurückhaltenden Gewährung der Beteiligung erfolgte 1973 und 1975 in zwei Fällen 1 3 5 , einer davon war das Verfahren gegen Dr. Morgentaler. Hier eröffnete das Gericht erstmals Interessenverbänden die Möglichkeit, in einem "privaten" Verfahren zu argumentieren und ihre Sichtweise vorzutragen. Verbände waren zwar auch vorher schon als Intervenienten zugelassen worden, aber nicht in privaten Verfahren, d.h. wenn es z.B. um die Verurteilung einer Person in einem Strafverfahren geht, und sich die Person auf ein ganz

132

Mit diesem Argument wurde die Klage von CARAL gegen das Gesetz Nova Scotias, das Abtreibungskliniken verbot, abgewiesen. Siehe Entscheidung des Nova Scotia Supreme Court, Appeal Division, vom 27. 3.1990, CARAL v. Att.-Gen. of Nova Scotia, 69 D.L.R. 241. 133 Der Begriff des "Intervener" im kanadischen Recht ist nicht mit demselben Ausdruck im US-amerikanischen Recht identisch. Während der Intervenient in den USA weitgehend Parteienrechte wahrnehmen kann, liegt die Ausgestaltung der Rechte des Intervenienten in Kanada im Ermessen des Gerichts und ist - da meistens lediglich Anhörungsrechte gewährt werden - mit der Stellung des amicus curiae vergleichbar. Vgl. Jillian Welch, Interest Group Intervenors and Supreme Court Charter Litigation, University of Toronto Faculty of Law Review, Nr. 43 1985, S.204-231 (205, FN 1). 134 Siehe dazu Welch, Interest Group Intervenors and Supreme Court Charter Litigation, S.213. 135 Att.-Gen. of Canada v. Lavell, 38 D.L.R. (3d) 481 (1973) und Morgentaler v. The Queen, 1 S.C.R. 616 (1975).

II. Kanada

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bestimmtes, ihr zustehendes Recht beruft. Als Beispiel für ein öffentliches Verfahren, in dem es Verbandsbeteiligung schon vorher gab, ist dagegen z.B. die Einholung eines Gutachtens von der Regierung beim Gericht zur Verfassungsmäßigkeit einer geplanten Gesetzgebung o.ä. zu sehen 136 . Mit der Zulassung von Interessengruppen in privaten Verfahren setzte sich die Einsicht durch, daß in der Verfassungsrechtsprechung auch eine private Klage Auswirkungen für die Öffentlichkeit mit sich bringt. Da das Urteil über die Streitentscheidung hinausgeht, und die prinzipielle Beziehung zwischen Staat und Bürger definieren kann, ist es auch für mehr Personen als die ursprünglichen Parteien von Interesse. Trotzdem war der Oberste Gerichtshof in Verfassungsentscheidungen eher zurückhaltend in der Zulassung von Intervenierten. Vielleicht in einem Versuch, die positiven Effekte von Beteiligungen zu nutzen, ohne die damit verbundene Länge der Anhörungen ausufern zu lassen, wurden 1987 die Supreme Court Rules so ergänzt, daß Intervenierten nur dann mündlich vortragen dürfen, wenn das Gericht dies ausdrücklich anordnet und auch ihr schriftlicher Vortrag wurde auf den Umfang von 20 Seiten beschränkt 137 . In den Abtreibungsfällen hat das Gericht es durch seine erweiterte Interpretation der Zulässigkeitsregeln ermöglicht, die Gerichtsverfahren auch zur Darstellung der damit verbundenen öffentlichen Interessen zu nutzen.

4. Zwischenergebnis Die Protagonisten der Abtreibungsentscheidungen, Morgentaler und Borowski, sind Männer, die zwar von einem außergewöhnlichen persönlichen Engagement getrieben werden, aber sie führten die Verfahren nicht ohne Unterstützung und repräsentieren daher mehr als ihre eigenen Interessen, nämlich die von unzähligen gleichgesinnten kanadischen Bürgern und Bürgerinnen. Die Parteien werden in Kanada - wie auch in den USA - nicht als Vertreter bestimmter sozialer Gruppierungen oder Interessen angesehen, so daß Verbände die Forderungen von pro-choice und pro-life formulierten. Ungewöhnlich ist, daß die Hauptvertreter beider Seiten von Anfang an - auch noch vor Einführung der Charter - nicht die Parlamente, sondern den Obersten Gerichtshof zum Forum ihrer Auseinandersetzung machten. 136

Zur "reference procedure" siehe Katherine E. Swinton, The Supreme Court and Canadian Federalism; Toronto / Calgary / Vancouver 1990, S.l 1-12; Strayer, The Canadian Constitution and the Courts, S.l70-172. 137 Siehe dazu Strayer, S.173 und 195-197; Swinton, S.68-75. *

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C. Führende pro-choice und pro-life Vertreter

Ermöglicht wurde diese Entwicklung in Kanada durch die erweiterten Zulassungsvoraussetzungen von Klägern und Beteiligten, wodurch zudem ein Bewußtsein des Gerichtes für die Bedeutung seiner politischen Rolle gezeigt wird, die über die reine Streitentscheidung hinausgeht und den Blick auf größere politische Zusammenhänge eröffnet.

III. Vergleich In beiden Staaten wurden die Prozesse vorwiegend von Ärzten, nicht von den direkt betroffenen Frauen, geführt. Als Beteiligte an den Prozessen findet sich in beiden Staaten eine Vielfalt von Interessenverbänden: von Regierungsvertretern, Berufsverbänden und Frauenrechtsorganisationen bis hin zu religiösen Vereinigungen. Dabei ist eine Aufgabenverteilung und die Spezialisierung mindestens eines Verbandes auf gerichtliche Verfahren festzustellen. Diese Interessenverbände spielen eine zentrale Rolle in den Verfahren. Sie sind nicht nur treibende Kraft zu bestimmten Prozessen, sondern liefern wesentliche Informationen an das Gericht und bringen nicht zuletzt den Prozeßstoff auch an die Öffentlichkeit. Sowohl in den USA als auch in Kanada wurden die Klagen und die Beteiligung an den Verfahren zur Abtreibung erst dadurch ermöglicht, daß die Gerichte die Zulassungsvoraussetzungen für Kläger und Beteiligte lockerten. In Kanada wurde dabei die Klagebefugnis (in Minister of Justice of Canada ν. Borowski) sogar noch extensiver ausgelegt als in den U S A 1 3 8 , wo eine Interessenvertretung der Ungeborenen als nicht ausreichend für eine Klagebefugnis angesehen wurde 1 3 9 . Dagegen gibt es in den USA eine erheblich höhere Beteiligung von Interessenverbänden an den Verfahren. Dort wäre, wie in Kanada im Morgentaler-Fall 1988 geschehen, die Entscheidung über einen so wichtigen Fall ohne Verbandsbeteiligung undenkbar. Insgesamt betrachtet hat sich die Rechtsprechung als Mittel zur Gestaltung der Gesellschaft, die die politische Partizipation von Interessen ermöglicht, die im parlamentarischen Verfahren unterlegen sind 1 4 0 , in beiden Staaten etabliert. In den USA hat dies Tradition, in Kanada ist es eine neuere Entwicklung. 138 Dies könnte u.a. daran liegen, daß der kanadische Gerichtshof wegen der Institution der "references", d.h. der verfassungsrechtlichen Gutachtenerteilung (die es in den USA nicht gibt), die keinen Streitfall voraussetzt, geneigter ist, eine umfassende Grundrechtsprüfung in dem Sinne zu befürworten, daß kein Sachverhalt der gerichtlichen Kontrolle entgeht. 139 Siehe Diamond v. Charles, 476 U.S. 54. 140 Besonders deutlich ist dies in der Lebens- und Gerichtsgeschichte des erfolglosen Politikers Borowski.

D. Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe zur Abtreibung in den USA und Kanada I. USA 1. Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit Die Verfassung der USA von 1787 enthielt keinen expliziten Grundrechtskatalog. 1791 wurden mit den Individualgarantien der ersten zehn Verfassungszusätze, der sogenannten "Bill of Rights", der bundesstaatlichen Gewalt Grenzen gesetzt1. Ausschlaggebende Bedeutung im Prozeß der Demokratisierung und Egalisierung in den Vereinigten Staaten kommt jedoch dem 14. Verfassungszusatz (ratifiziert 1868) zu, in dem die Grundrechtsgarantien auch gegenüber der einzelstaatlichen Gesetzgebung gewährt wurden. Demnach darf kein Staat eine Person in Leben, Freiheit oder Eigentum ohne ein rechtmäßiges Verfahren beeinträchtigen oder den gleichen rechtlichen Schutz verweigern 2 . Diese Formulierung ist zwar erheblich kürzer als die Bill of Rights, aber die Rechtsprechung inkorporierte später über die Voraussetzung des rechtmäßigen Verfahrens, der "due process clause", die wesentlichen Garantien der Bill of Rights 3 . Die Verfassung gibt in Art. 3, Abs. 1 die Errichtung eines Obersten Gerichtshofes vor, der in eng begrenzten Fällen erstinstanzlich, ansonsten als Appellationsinstanz für Fälle und Streitigkeiten zuständig ist, soweit sich diese sich aus Bundesrecht oder der Verfassung ergeben. Die Normenkontrolle, d.h. die Befugnis der Überprüfung der Gesetzgebung auf ihre Verfassungsmäßigkeit, wurde in der Verfassung nicht geregelt. Der Supreme Court erkämpfte sich 1803 in seinem Urteil Marbury v. Madison 4 diese Kompetenz zur letztgültigen Verfassungsinterpretation selbst und damit auch die Befugnis, Bundes1

Emil Hübner, Das politische System der USA, München 1989, S.l2-16. 14. Verfassungszusatz, Abs.l: "nor shall any state deprive any person of life, liberty, or property, without due process of law; nor deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws." 3 David Duke, Principles of Liberty: A Practical Guide to Constitutional Law; Fullerton 1991, S.6,7. 4 Marbury v. Madison, 1 Cr. 137 (1803). 2

D. Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe

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oder Staatengesetze für verfassungswidrig und ungültig zu erklären. Richter Marshall erklärte in der Urteilsbegründung, daß die Kompetenz des "judicial review" 5 in der Logik der Verfassung vorgegeben sei. Stehe das Gericht vor der Entscheidung, einen Fall entsprechend der gesetzlichen oder entsprechend der verfassungsrechtlichen Regelung zu lösen, so habe die Verfassung als oberstes Recht Vorrang auch über dem vom Kongreß gesetzten Recht. Diese gerichtliche Kompetenz ist bis heute politisch höchst umstritten, denn in der Auslegung der Verfassung übt das Gericht eine Funktion aus, die in einem natürlichen Spannungsverhältnis zum demokratisch legitimierten Gesetzgeber steht. Nie liegen die Befugnisse von Legislative und Judikative so dicht beieinander wie bei der Normenkontrolle. Unterschiedliche Methoden der Verfassungsinterpretation ermöglichen es, entweder die verfassungsgerichtliche Kontrolle oder die politische Entscheidung stärker zu gewichten. Bei der Auslegung der Verfassung kann der Richter sich, grob vereinfachend, entweder am Prinzip des "judicial restraint", der richterlichen Zurückhaltung orientieren oder "judicial activism", d.h. richterlichen Aktivismus ausüben. Die zurückhaltende Interpretation der Verfassung orientiert sich eng am Text und dessen ursprünglicher Bedeutung. Die Verfassungswidrigkeit wird danach nur in Fällen festgestellt, in denen ein Gesetz präzisen Formulierungen der Verfassung widerspricht. Der Entscheidung des Gesetzgebers kommt hier eine größere Bedeutung zu als der richterlichen Prüfung 6. Ein wesentlicher Kritikpunkt an dieser Methode ist, daß eine historisch begründete Interpretation - zumal eines Rechtsdokuments aus dem 18. Jahrhundert - veränderten Problemlagen nicht gerecht werden könne. Auch erforderten die zahlreichen unbestimmten und abstrakten Formulierungen der Verfassung, diese schöpferisch zu interpretieren 7. Die gegensätzliche Interpretationsmethode des judicial activism bemüht sich demnach um ein übergeordnetes Verständnis der Verfassung und zieht deren abstrakte Begriffe auch zur Lösung von Konflikten heran, die zur Zeit der Entstehung der Verfassung keine Rolle spielten. Der judicial activism behandelt durch die großzügigere Interpretation der Verfassung eine Mehrzahl von Kon5

Zum Ursprung und zur Begründung des judicial review siehe David P. Currie, The Constitution of the United States, Chicago / London 1988, S.l4-24; zur richterlichen Gewalt in der Verfassung der USA siehe Christian Manfred Klette, Zur Einführung: Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten, in: JuS 1976, Heft 1, S.8-14 (11). 6 Für eine historische Interpretation argumentiert beispielsweise Robert H. Bork in: The Tempting of America, New York / London 1990, S.l 61-185. 7 Gegen eine historische Interpretation argumentieren beispielsweise Laurence H. Tribe / Michael C. Dorf in: On Reading the Constitution, Cambridge / London 1991, S.6-31.

I. USA

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fliktfällen als gerichtlich zu lösende Verfassungsprobleme und stärkt damit die verfassungsgerichtliche Kontrolle gegenüber dem Gesetzgeber. Je weiter die Richter in einem schöpferischen Prozeß die Verfassung interpretieren, desto eher setzen sie sich damit aber auch der Kritik aus, eigene Wertvorstellungen und politische Ideologien anstatt gesetzlicher Grundlagen durchzusetzen und die Aufgaben des Gesetzgebers an sich zu reißen. Da die Lösung verfassungsrechtlicher Konflikte zumeist in politisch sensiblen Bereichen stattfindet, bringen die gesellschaftlichen Konsequenzen der Entscheidung die Richter in die Rolle politischer Entscheidungsträger 8. Zusammenfassend führt der judicial activism zu einer umfassenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle, während der judicial restraint der politischen Entscheidungsgewalt den Vorrang beläßt. Die Entscheidung für eine Methode der Verfassungsinterpretation ist daher mit dem Verständnis von der Rolle des Gerichtes verbunden, die es im politischen Prozeß und im Verhältnis zu anderen politischen Organen einnimmt. Die Richter haben die Möglichkeit, die Entscheidung des Parlaments zu respektieren (solange sie nicht im krassen Gegensatz zum Wortlaut der Verfassung steht), oder eigene Interpretationen vorzunehmen, eigenes Ermessen auszuüben und ein möglicherweise anderslautendes Ergebnis auch uneingeschränkt durchzusetzen. Die Rechtsprechung des Supreme Court wurde in verschiedenen Phasen von unterschiedlichen richterlichen Verfassungsinterpretationen dominiert 9 . Auch die folgend dargestellte Rechtsprechung zur Abtreibung läßt über die rein rechtliche Entwicklung hinaus, die sich verändernde Tendenz, die Abtreibung als Verfassungsproblem zu werten, und somit einen Wandel des Selbstverständnisses des Gerichts erkennen.

2. United States v. Vuitch - das erste Abtreibungsurteil 1971 hatte der Supreme Court in United States v. Vuitch 1 0 das erste Mal über die Verfassungsmäßigkeit eines Abtreibungsgesetzes zu befinden. Der 8

Zu den Methoden der Verfassungsinterpretation vgl. Kurt L. Shell, Die Verfassung im Wandel, in: Adams / Czempiel / Ostendorf / Shell / Spahn / Zöller (Hrsg.), Länderbericht USA I, S.288-302 (292-293). 9 Ein Abriß dieser Phasen ist beispielsweise dargestellt in Kurt L. Shell, Die Verfassung im Wandel, S.288-302 (293-302) oder von Winfried Brugger, Verfassungsgerichtspolitik à la USA, ZRP 1987, S.52-61(53-56). 10 United States v. Vuitch, 402 U.S. 62 (1971).

D. Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe

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Arzt Milan Vuitch war wegen der Durchführung von Abtreibungen angeklagt worden und in der Vorinstanz wurde das dem Fall zugrunde liegende Gesetz des District of Columbia für nichtig erklärt. Das Bundesgericht von D.C. sah die Ausnahmevorschrift, die eine Abtreibung nur im Falle der Gefahr für Leben oder Gesundheit der Frau erlaubte, als unzulässig vage an. Der Supreme Court hob die Entscheidung auf, aber die Begründung ließ noch wenig von den verfassungsrechtlichen Problemen erkennen. In den von Richter Black verfaßten Entscheidungsgründen, denen sich weitere vier Richter anschlossen, heißt es, daß ein Gesetz nach Möglichkeit in einer verfassungsmäßigen Form ausgelegt werden soll. Dies gelang den Richtern im vorliegenden Fall, indem sie die Beweislast umkehrten. Das NichtVorliegen der rechtfertigenden Ausnahme sei im Falle einer Anklage von der Staatsanwaltschaft zu beweisen, ansonsten sei prinzipiell davon auszugehen, daß die von einem Arzt durchgeführte Abtreibung rechtmäßig, nämlich zur Lebens- oder Gesundheitsrettung der Frau erfolgt sei1 \ Es blieb der Vorwurf, daß der Gesundheitsbegriff zu vage sei, da nicht deutlich sei, ob auch die mentale Gesundheit umfaßt sei. Die Richter sehen aber keinen Grund, warum die psychische Gesundheit ausgeschlossen sein sollte, zitieren dazu eine entsprechende Definition aus dem "Webster's Dictionary" und bestätigen somit die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes. Weitergehende Argumente des Berufungsklägers wurden nicht berücksichtigt 12 . In der abweichenden Meinung des Richters Douglas findet sich eine ausführlichere Argumentation, die auch die möglichen verfassungsrechtlichen Probleme anspricht. Er sieht Abtreibung als eine Entscheidung an, die durch ein zwingendes persönliches Interesse an der Familienplanung geschützt ist, und dieses Interesse sei vom Gesetzgeber zu beachten. Die Gesundheitsgefährdung der Frau sei zudem als Rechtfertigungsgrund zu unbestimmt. Unsicher sei z.B., ob schon jede ungewollte Schwangerschaft als Ursache von Ängsten und Bedrängnis eine Gesundheitsgefahr darstellen könne. Wegen des emotionalen und moralisch-religiösen Gehalts der Abtreibungsfrage sei es auch unvorhersehbar, wie sich die Geschworenen zu der Frage, ob eine Gesundheitsgefährdung vorgelegen habe, entscheiden würden. Nur eine klare und deutliche Regelung könne den Ärzten und den Geschworenen die nötigen Richtlinien vermitteln 1 3 . Auch Richter Stewart ergänzt in seiner abweichenden Meinung, daß er einige der verfassungsrechtlichen Bedenken der Berufungskläger für gerechtfertigt hält, aber er schließt sich der Meinung des Gerichtes an, daß Gesetze möglichst 11 12 13

United States v. Vuitch, 402 U.S. 62 (70). United States v. Vuitch, 402 U.S. 62 (71-73). United States v. Vuitch, 402 U.S. 62 (78-80).

I. USA

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in einer verfassungsmäßigen Weise ausgelegt werden sollen und das sei hier möglich gewesen14. Das Gericht hat damit in einer möglichst engen Urteilsbegründung die Gesetzgebung von D.C. bestätigt und nur zwei Richter, Douglas und Stewart, äußerten ihre Zweifel bezüglich der generellen Verfassungsmäßigkeit der Abtreibungsgesetzgebung.

3. Roe v. Wade / Doe v. Bolton ein fundamentales Recht wird geschaffen In den folgenden Jahren gab es eine Flut von Klagen in den Einzelstaaten gegen bestehende Abtreibungsgesetze. Schon 1970 waren in 13 Staaten Verfahren anhängig, und dementsprechend sammelten sich die Revisionsanträge beim Supreme Court. Die Verfahren entsprangen individuellen und lokalen Initiativen; der Frauenbewegung fehlte es zu der Zeit noch an den Mitteln zu einer konzertierten Aktion 1 5 . Auch war eine Klage vor dem Supreme Court nicht besonders vielversprechend für die Reformer. Es war zwar vorauszusehen, daß das Gericht die verfassungsrechtlichen Fragen auf Dauer nicht wie in US v. Vuitch vermeiden konnte, aber 5 Richter hatten das in dem Fall angegriffene Gesetz immerhin für verfassungsgemäß gehalten. Das politische Klima deutete ebenso wenig auf eine revolutionäre Entscheidung hin, denn Präsident Nixon hatte den Wahlkampf 1968 gegen einen aktivistischen Gerichtshof geführt und in seiner ersten Amtszeit schon 2 neue Richter ernannt (Burger und Blackmun). Seit US v. Vuitch hatte sich die Besetzung erneut mit 2 von Nixon ernannten Richtern verändert (Rehnquist und Powell) 16 . -Roev. Wade In der Entscheidung Roe ν. Wade 17 hat der Supreme Court 1973 zu den verfassungsrechtlichen Fragen des Schwangerschaftsabbruchs Stellung bezogen und zugleich den Rahmen für die zukünftige Handhabung durch den Gesetzgeber gesetzt. Das angegriffene Gesetz des Staates Texas war typisch für die in den meisten Staaten seit ca. einem Jahrhundert unverändert bestehende Pönalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, die eine Ausnahme nur bei Lebensge-

14 15 16 17

United States v. Vuitch, 402 U.S. 62 (96). vgl. Eva R. Rubin, S.48-54. vgl. Epstein / Kobylka, S.l4-17. Roe v. Wade, 410 U.S. 113.

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fahr der Frau zuließ 18 . Die Klägerin, eine unverheiratete, schwangere, junge Frau, trug unter dem Pseudonym Jane Roe vor, daß sie Opfer einer Gruppenvergewaltigung geworden sei und sich nicht in der Lage fühle, die daraus resultierende Schwangerschaft auszutragen. Sie wünschte, die Schwangerschaft von einem Arzt abbrechen zu lassen, aber dies war ihr in Texas nicht möglich. Jane Roe berief sich zur Durchsetzung ihres Antrags auf die in der Verfassung garantierten Freiheitsrechte. Weiterhin sei das Gesetz des Staates Texas zu unpräzise und vage, um der Verfassung zu entsprechen 19. Obwohl die mündliche Verhandlung schon im Dezember 1971 stattfand, sollte die Entscheidung erst viel später ergehen, denn, obwohl eine Mehrheit der Richter für die Aufhebung des Gesetzes war, konnte man sich nicht auf die Entscheidungsgründe einigen. Der ursprüngliche Entwurf von Richter Blackmun hob das Gesetz auf, da es zu vage sei; eine schwer zu führende Argumentation angesichts der vorhergehenden Entscheidung in US v. Vuitch, die zudem erneut die verfassungsrechtlichen Kernfragen vermied. Nach erneuten Besprechungen und Anregungen von Richter Brennan, die Konfrontation mit dem Thema nicht länger zu vermeiden, wurde der Einigungsprozeß durch die 1972 neu hinzukommenden Richter Rehnquist und Powell erschwert. Schließlich wurde eine neue mündliche Verhandlung anberaumt, die am 11. Oktober 1972 stattfand 20 . Bei den anschließenden internen Debatten der Richter präsentierte Blackmun einen komplett neuen Entscheidungsentwurf, der Grundlage für die letztendlich verkündete Mehrheitsentscheidung (7 zu 2) werden sollte. Darin wird das Gesetz des Staates Texas für verfassungswidrig erklärt, da es das in der Verfassung garantierte Recht der Frau verletzt, über eine Abtreibung ohne staatlichen Einfluß zu entscheiden. - Recht der Frau Dieses Entscheidungsrecht der Frau ist nicht ausdrücklich in der Verfassung enthalten, sondern wurde aus dem right to privacy 21 hergeleitet, welches als verfassungstextlich nicht genanntes Recht von der Rechtsprechung entwickelt wurde. In dem hierzu maßgeblichen Fall, Griswold v. Connecticut 22 , entschied 18

Ein Verzeichnis der Staaten findet sich in Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (118, FN 2). 19 Siehe Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (120) und Tribe, S.4. 20 Nach Bernard Schwartz, A History of the Supreme Court; New York / Oxford 1993, S.337-351. 21 Ausführlich zum right to privacy siehe Michael Piazolo, Das Recht auf Abtreibung als Teilaspekt des Right to Privacy, Frankfurt am Main / Berlin / Bern / New York Paris/Wien 1992, S. 166 ff.. 22 Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479, (1965).

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der Supreme Court, daß das staatliche Verbot der Benutzung von Verhütungsmitteln gegen das Recht auf Privatsphäre verstoße, das in der Freiheitsgarantie des 14. Verfassungszusatzes in Verbindung mit der due process clause 23 enthalten sei. Begründet wurde dies mit der "Penumbra" der Bill of Rights, die im Wege der Auslegung aus einzelnen Vorschriften der Verfassung (Verfassungszusätze 1,3, 4 und 5), in denen Teilbereiche der Privatsphäre angedeutet werden, gewonnen wurde. Auch sei im 9. Verfassungszusatz die Anerkennung nicht spezifizierter Grundrechte verankert. Das right to privacy, das nach Meinung des Gerichts älter als die Bill of Rights sei, wurde mit dieser Entscheidung in den Rang eines fundamentalen Rechtes gehoben. Die Richter gehen in ihrer Entscheidung dabei von der Annahme aus, daß die due process clause, die ursprünglich dazu gedacht war, ein angemessenes Verfahren zu garantieren, auch bestimmte substantielle Rechte schützt. Durch die Benennung des substantiellen Rechtes auf Privatsphäre wird - im Falle der Verletzung dieses Rechtes - auch eine inhaltliche Kontrolle der Gesetzgebung ermöglicht. Die Interpretation der due process clause im Sinne des sogenannten substantive due process ist bis heute höchst umstritten. Es handelt sich jedoch primär um die Frage, welche Freiheitsinteressen so wichtig zu bewerten seien, daß sie als Grundrechte (fundamental rights) erhöhten Schutz erhalten. Daß die due process clause über eine reine Verfahrensgarantie hinaus auch bestimmte Rechte vor einer inhaltlichen Einschränkung schützt, ist zumindest für die (selektive) Inkorporation der Bill of Rights in den 14. Verfassungszusatz ein anerkannter Teil der Rechtsprechung geworden 24 . Eine andere Frage ist, ob es die due process clause auch erlaube, über die spezifischen Grundrechte der Bill of Rights hinaus, weitere, textlich nicht spezifizierte fundamentale Interessen 23

Die due process clause ist im 5. und 14. Verfassungszusatz enthalten. Im 5. Verfassungszusatz heißt es: "nor (shall any person) be deprived of life, liberty, or property, without due process of law"; die entsprechende Regelung des 14. Verfassungszusatz, die sich an die Einzelstaaten richtet, lautet: "Nor shall any state deprive any person of life, liberty, or property, without due process of law". Ebenfalls unter Berufung auf das right to privacy waren u.a. die Rechte begründet worden, Schulen nicht das Lehren einer bestimmten Fremdsprache zu verbieten (Meyer v. Nebraska, 262 U.S. 390, 1923), Privatschulen zu besuchen (Pierce ν. Society of Sisters, 268 U.S. 510, 1925), nicht gegen seinen Willen sterilisiert zu werden (Skinner v. Oklahoma, 316 U.S. 535, 1942) oder das Recht, seinen Ehepartner frei zu wählen (Loving v. Virginia, 388 U.S. 1, 1967). 24 Der Supreme Court ließ eine Garantie der Bill of Rights über die due process clause auch für die Einzelstaaten verbindlich werden, wenn diese Garantie als fundamentaler Bestandteil des traditionellen Gerechtigkeits- und Freiheitsverständnisses zu werten sei. Nach Duke, S. 6-7.

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wie hier das right to privacy - als Grundrechte zu charakterisieren. Gegen eine Beschränkung der geschützten Rechte auf die textlich erwähnten, spricht unter anderem der 9. Verfassungszusatz. Danach soll die Auflistung bestimmter Rechte in der Verfassung nicht dazu benutzt werden, andere (d.h. weitere) Rechte zu verletzen oder zu versagen 25. Die Spezifizierung des nichttextlich verankerten Grundrechtes auf Privatsphäre wurde vom Gericht in Griswold v. Connecticut bewußt nicht allein auf die due process clause gestützt, sondern mit weiteren verfassungsrechtlichen Bezügen untermauert, um den Unterschied zu der viel kritisierten ehemaligen Rechtsprechung der "economic substantive due process" hervorzuheben 26. Die Parallele wurde von den Kritikern (dieser und der folgenden auf das right to privacy gestützten Entscheidungen) jedoch dennoch gezogen 11 . In den nachfolgenden Entscheidungen wurde der Schutz der Privatsphäre in einem das Recht erweiternden Sinne interpretiert. So wurde in Eisenstadt v. Baird 2 8 das Gesetz des Staates Massachusetts aufgehoben, das die Vergabe von Verhütungsmitteln an Unverheiratete verbot. Das right to privacy wurde als das Recht des Individuums definiert, verheiratet oder ledig, ohne staatliche Bevor25

Im 9. Verfassungszusatz heißt es: "The enumeration in the Constitution, of certain rights, shall not be construed to deny or disparage others retained by the people." 26 Im späten 19. Jahrhundert wurde die due process Klausel erstmalig dazu benutzt, nicht nur Verfahrensgarantien, sondern bestimmte substantielle Rechte zu definieren, die nicht ausdrücklich in der Verfassung enthalten waren. Der verfassungsrechtliche Schutz ökonomischer Interessen (economic due process) führte dabei - beginnend mit Lochner v. New York, 198 U.S. 45, 1905 - zur Aufhebung eines großen Teils der Wirtschaftsgesetzgebung des New Deal. Der Supreme Court erklärte die Gesetze für verfassungswidrig, da die durch die Freiheitsgarantie in Verbindung mit der due process clause geschützte Vertragsfreiheit verletzt werde, ohne daß der Eingriff durch eine "fair, reasonable and appropriate exercise of the police power" gerechtfertigt sei. Diese "economic substantive due process" Rechtsprechung wurde erst unter erheblichem politischen Druck - vgl. West Coast Hotel Co. v. Parrish, 300 U.S. 379, 1937 - Mitte der 30er Jahre aufgegeben. Vgl. hierzu und zu den Gründen für einen Kurswechsel der Rechtsprechung Harald Hohmann, Angemessene Außenwirtschaftsfreiheit zwischen staatlichen Beschränkungs- und individuellen Freiheitsinteressen in den Rechtsordnungen von USA, Japan und Deutschland/EU, Habilitations-Manuskript Stand: Juni 1995, Kapitel III 3 a). 27 Im Unterschied zu der economic substantive due process Rechtsprechung handelt es sich zwar nunmehr um bürgerlich-politische, nicht wirtschaftliche Rechte, aber da die Auswirkungen der Lochner-Rechtsprechung heute einmütig verurteilt werden, wird die Parallele herangezogen, um die scheinbar willkürliche Gewichtung von Interessen auch des "new substantive due process" zu belegen. Siehe dazu Norman Vieira, Constitutional Civil Rights, 2. Aufl. St. Paul 1990, S. 15 ff.. 28 Eisenstadt v. Baird, 405 U.S. 438 (1972).

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mundung so fundamentale Entscheidungen treffen zu können, wie über das Zeugen oder Gebären eines Kindes 29 . Mit diesem Ergebnis deutet sich schon die Richtung an, die nun in Roe ν. Wade fortgeführt wurde. Blackmun schrieb, daß das right to privacy auch weit genug ginge, um die Entscheidung einer Frau zu umfassen, ob sie ihre Schwangerschaft beenden wolle oder nicht. Dies wurde vor allem mit den Auswirkungen, die eine solche Entscheidung mit sich bringt, begründet. Ein unerwünschtes Kind zur Welt bringen zu müssen, in eine Familie, die vielleicht schon vorher überlastet war, könne die Mutter sowohl physisch als auch psychisch überfordern 30 . Zu der beachtlichen Tatsache, daß das right to privacy hier vom Schutz einer räumlich verstandenen Intimsphäre verändert wird zum Garant der eher im ideellen Bereich anzusiedelnden Freiheit zu höchstpersönlichen Entscheidungen, wird vom Supreme Court zur Begründung nichts vorgetragen. Als Quelle des Rechtes wurden verschiedene Vorschriften der Verfassung genannt, insbesondere aber das in der due process clause des 14. Verfassungszusatzes garantierte Freiheitsrecht 31. Die Entscheidungsfreiheit über eine Abtreibung steht der Frau jedoch nach Meinung des Gerichts nicht allein, sondern, da es sich primär um eine medizinische Entscheidung handele, nur zusammen mit ihrem Arzt z u 3 2 . Auch sei das Recht zur Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch nicht während der gesamten Schwangerschaftsdauer uneingeschränkt gewährleistet. Zu berücksichtigen seien eventuell einschränkende Rechte des Fötus oder des Staates. - Recht des Fötus Von dem Beklagten wurde geltend gemacht, daß auch der Fötus den Schutz der Verfassung genieße, nämlich das Recht auf Leben nach dem 14. Verfassungszusatz33. Der Supreme Court hat sich in seinem Urteil auf die Beantwortung genau dieser Frage beschränkt und untersucht, ob der Fötus als Person in den Anwendungsbereich und damit den Schutz des 14. Verfassungszusatzes fällt. In der Verfassung selbst sei der Begriff "Person" nicht definiert. Er werde jedoch fast nur in solchen Zusammenhängen angewandt, die naturgemäß eine 29

"If the right to privacy means anything, it is the right of the individual, married or single, to be free from unwarranted governmental intrusion into matters so fundamentally affecting a person as the decision whether to bear or beget a child." so in Eisenstadt v. Baird, 405 U.S. 438 (453). 30 Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (153). 31 Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (153). 32 Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (163). 33 Es heißt dort: "nor shall any state deprive any person of life...".

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bereits geborene Person voraussetzen. Es wird daher gefolgert, daß das ungeborene Leben von der Verfassung nicht geschützt sei. Aus einer Untersuchung zur Geschichte des Abtreibungsverbots entnimmt das Gericht, daß es zum Zeitpunkt der Entstehung der Verfassung für eine Frau leichter gewesen sei, eine Abtreibung zu erhalten, als zum Zeitpunkt dieses Urteils. Daher sei auch nicht anzunehmen, daß die Begründer der Verfassung damals den Schutz des Fötus beabsichtigten34. Dem zuvor festgestellten Recht der Frau stehe also kein eigenes verfassungsrechtliches Äquivalent des Fötus entgegen. - Staatsinteressen Es fragt sich daher, welche Staatsinteressen an der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs die Einschränkung des Rechtes der Frau rechtfertigen können. Das Gericht unterscheidet zwei Ansatzpunkte für ein mögliches Staatsinteresse. Zum einen könne der Staat an die medizinische Seite der Abtreibung anknüpfen. Denn ein Staat habe ein berechtigtes Interesse daran, daß die Gesundheit der Frauen geschützt wird. Der Fortschritt in der Medizin habe hier jedoch dazu geführt, daß eine Abtreibung im frühen Stadium der Schwangerschaft relativ sicher geworden sei; im Verhältnis zur Sterblichkeit bei der Geburt sei das Risiko etwa gleich oder sogar geringer anzusehen. Dies gelte jedoch nur unter Verhältnissen, die eine legale Abtreibung erlauben. Die Risiken einer illegalen Abtreibung unter unkontrollierten medizinischen Bedingungen seien ungleich höher. Das Interesse des Staates an einer Regelung zugunsten des Gesundheitsschutzes der Frau werde mit zunehmender Schwangerschaftsdauer größer, da sich damit auch die Risiken einer Unterbrechung erhöhten. Zum anderen habe der Staat ein berechtigtes Interesse daran, vorgeburtliches Leben zu schützen. Um dieses Interesse anzuerkennen, bedarf es nach Ansicht des Supreme Court keiner Entscheidung darüber, wann menschliches Leben beginne. Denn der Staat habe auch ein Interesse an der Erhaltung von potentiellem Leben. Dieses Interesse stehe dem Staat jedoch nicht während der gesamten Schwangerschaftsdauer gleichermaßen zu, sondern erstarke mit der zunehmenden Entwicklung des Fötus.

34

Siehe Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (158).

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- Interessenausgleich Unklar ist aber noch, wie weit diese unterschiedlichen Interessen angesichts des fundamentalen Rechtes der Frau überhaupt Berücksichtigung finden können 3 5 . Das Gericht wendet den strict scrutiny test an, da ein fundamentales Recht nur durch ein zwingendes Staatsinteresse (compelling state interest) eingeschränkt werden könne. Nach diesem Prüfungsmaßstab kann das Recht der Frau also nur durch die zuvor festgestellten Staatsinteressen eingeschränkt werden, wenn diesen ein überragend hoher Stellenwert zukommt und das angestrebte Ziel nicht durch ein weniger einschneidendes Mittel erreicht werden kann. Der Supreme Court beantwortet diese Abwägung nicht pauschal, sondern stellt ein 3-Stufen-Modell auf, welches den Ausgleich der widerstreitenden Interessen in zeitlichen Abschnitten unterschiedlich regelt. Im ersten Schwangerschaftsdrittel muß nach Meinung des Gerichts die Entscheidung über eine Abtreibung allein der Frau und ihrem Arzt überlassen bleiben. Das Recht der Frau, eine vom Staat unabhängige Entscheidung allein mit ihrem Arzt treffen zu können, wird hier höher als jedes mögliche entgegenstehende Staatsinteresse bewertet. Im zweiten Schwangerschaftsdrittel können Regelungen erlassen werden, die zum Schutz der Gesundheit der Frau erforderlich sind. Denn in diesem Zeitraum wird das Staatsinteresse an der Erhaltung der Gesundheit der Frau als zwingend anerkannt. Dies wird damit begründet, daß nun die Abtreibung ein höheres oder vergleichbares Gesundheitsrisiko wie die Fortführung der Schwangerschaft erreicht. Dementsprechend hat der Staat die Regelungsbefugnis bezüglich der Art und Weise der Durchführung des Eingriffs, soweit dies in vernünftiger Form dem Gesundheitsschutz der betroffenen Frau dient 3 6 . Erst im letzten Drittel der Schwangerschaft wirkt sich das Interesse des Staates am Erhalt des potentiellen Lebens aus. In diesem Stadium der Schwangerschaft sei die Lebensfähigkeit des Fötus auch außerhalb des Mutterleibes 35 Das Gericht wendet in der Regel einen zweistufigen Prüfungsmaßstab an. Werden unbenannte Freiheitsinteressen eingeschränkt, so ist der "rational basis test" anzuwenden. Danach ist ein Gesetz gerechtfertigt, wenn es einem legitimen öffentlichen Interesse dient und die eingesetzten Mittel dieses Ziel fördern. Wird ein spezifisch benanntes Grundrecht oder ein vom Gericht als fundamental anerkanntes Recht verletzt, so ist der strict scrutiny test anzuwenden. Danach kann das Gesetz nur auf Grund eines überragenden oder zwingenden Staatsinteresses (compelling interest) gerechtfertigt sein. Vgl. Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S.90-91. 36 Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (163).

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erreicht. Daher habe der Staat ein so zwingendes Interesse am Erhalt dieses Lebens, daß das Recht der Frau auf ihre freie Entscheidung verdrängt werden könne. In diesem Stadium könne ein Staat die Abtreibung auch ganz verbieten, außer in Fällen in denen ein Abbruch aus medizinischen Gründen zur Lebensoder Gesundheitsrettung der Frau indiziert ist. Denn das Leben und die Gesundheit der Frau werden vom Gericht in jedem Stadium der Schwangerschaft höher als andere Rechte eingestuft 37 . Die Richter White und Rehnquist wehren sich in ihrer abweichenden Meinung heftig gegen die hier vom Gericht ausgeübte Normenkontrolle. Sie halten die Entscheidung für eine rohe Ausübung juristischer Macht gegenüber dem Gesetzgeber, die durch nichts in der Verfassung gerechtfertigt sei und deren Konfliktlösung dem politischen Prozeß überlassen sein sollte 38 . - Doe v. Bolton In der am selben Tag ergangenen Entscheidung Doe v. Bolton 3 9 wurden auch Teile des Abtreibungsgesetzes des Staates Georgia aufgehoben. Im Gegensatz zu dem in Roe ν. Wade behandelten Gesetz aus Texas handelte es sich hier um ein erst kurz zuvor erlassenes Reformgesetz, das die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs in mehreren Indikationsfällen vorsah. So sollte eine Abtreibung nach dem medizinischen Urteil des Arztes gerechtfertigt sein, wenn Lebens- oder Gesundheitsgefahr für die Frau bestünde, Schäden des Fötus zu erwarten wären oder wenn die Schwangerschaft auf Vergewaltigung oder Inzest beruhte. Der Supreme Court hielt diese Vorschrift nicht für zu vage, sondern interpretierte sie so, daß der Arzt bei der Entscheidung alle ihm relevanten Faktoren zu berücksichtigen hätte, wobei insbesondere der Begriff "Gesundheit" einer weiten Interpretation zugänglich sei, die alle für das Wohlbefinden der Patientin erheblichen Umstände berücksichtigt 40 . Für verfassungswidrig erklärt wurden dagegen die prozeduralen Vorschriften, die vorsahen, daß a) Abtreibungen nur in einem zugelassenen Krankenhaus vorgenommen werden dürfen b) vor einer Abtreibung die Zustimmung eines Komitees erteilt werden muß, und c) die Zustimmung von zwei weiteren Ärzten erforderlich ist.

37

Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (163,164). Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (222); die abweichende Meinung gilt auch für die Entscheidung Doe v. Bolton, 410 U.S. 179. 39 Doev. Bolton, 410 U.S. 179. 40 Doe v.Bolton, 410 U.S. 179 (191-192). 38

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Das Gericht sieht keine zwingenden Gründe des Gesundheitsschutzes dafür gegeben, daß eine Abtreibung im ersten Trimester in einem akkreditierten Krankenhaus vorgenommen werden solle. Es stehe dem Staat Georgia jedoch frei, Regelungen bei einer fortgeschrittenen Schwangerschaft zu treffen. Auch die Zustimmung eines im Krankenhaus zu bildenden Komitees belaste das Recht der Frau, ohne einem erkennbaren zusätzlichen Interesse zu dienen, das nicht schon in der Entscheidung des Arztes mit der Frau Berücksichtigung fände. Da die Entscheidung über eine Abtreibung einem Arzt und seiner Patientin überlassen sein soll, sei auch die zuletzt noch erforderliche Zustimmung von zwei weiteren Ärzten eine unzulässige Belastung dieses Rechts. Denn wie die zuvor genannten Voraussetzungen führe auch dieses prozedurale Erfordernis zu einer Verknappung der Abtreibungsmöglichkeiten, sowie zu zeitlichen Verzögerungen bis zum Erhalt derselben. Im Zweifel könnten aber auch drei Ärzte oder ein Komitee kaum eine bessere Entscheidung als einer allein treffen und daher seien diese Erfordernisse durch kein Interesse des Staates gerechtfertigt. - Ergebnis Mit Roe v. Wade wurde nicht nur ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt, sondern 46 Abtreibungsgesetze der Staaten waren unanwendbar geworden 41 . Das Gericht ist mit dem Urteil im höchsten Maße aktivistisch oder legislativ tätig geworden. Durch die substantielle Auslegung der due process clause wurde die Einstufung des textlich nicht spezifizierten Interesses der Frau als ein fundamentales Recht ermöglicht. Das Gericht hat bei der Prüfung, ob das Recht verletzt wurde, nicht nur eine formale, sondern auch eine inhaltliche Kontrolle der Gesetzgebung übernommen. Dadurch konnte der Gesetzgeber erheblich in seiner Gestaltungsfreiheit beschränkt werden, während die verfassungsgerichtliche Kontrolle gestärkt wurde. Entgegen den Erwartungen des Präsidenten Nixon, den Aktivismus des Supreme Court durch seine Richterernennungen zu bremsen, schrieb der von ihm ernannte Richter Blackmun das Urteil und zwei weitere von Nixon Ernannte unterstützten die Mehrheitsmeinung (Powell und Burger). Die Fallumstände in Roe v. Wade hätten genügend Anhaltspunkte für eine eng umschriebene mögliche Verfassungswidrigkeit geboten. Denn Jane Roe behauptete, vergewaltigt 41

Als Beispiel für zahlreiche Auseinandersetzungen im Schrifttum mit dem Urteil siehe John Hart Ely, The Wages of Crying Wolf: A Comment on Roe v. Wade; in: The Yale Law Journal, Vol.82, 1973, S.920-949; und Ronald Dworkin, Unenumerated Rights: Whether and How Roe Should be Overruled; in: The University of Chicago Law Review, Vol.59, No.l Winter 1992, S.381-432. 7 Moors

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worden zu sein und es bestand keine legale Abtreibungsmöglichkeit für sie, auch nicht bei einer Gesundheitsgefahr. Anstatt aber lediglich das rigorose Gesetz für nichtig zu erklären, hat das Gericht zugleich ein Modell der pauschalierten Interessenabwägung entworfen, das weit über die im Fall angelegten Probleme hinausging. Dies richtete sich an den zukünftigen Gesetzgeber, nicht nur in Texas und Georgia, sondern an die Mehrheit der Staaten, in denen eine Reform der Abtreibungsgesetze nunmehr nötig wurde. Damit zeigt sich, daß das Gericht als Reformer tätig geworden ist. Diese Reform erfolgte nicht nur im zeitlichen Einklang mit der europäischen Entwicklung, sondern es bestehen auch inhaltliche Parallelen. So weist die RoeEntscheidung eine starke Übereinstimmung mit der Reformregelung in England von 1967 auf, die auch im Urteil zitiert wird 4 2 .Der wesentliche Unterschied zu der europäischen Entwicklung ist jedoch, daß die Reform in den USA vom Gericht, nicht vom Gesetzgeber ausging. Das Gericht hat mit der Entscheidung, wie die betroffenen Interessen zu gewichten seien, eine Aufgabe an sich gezogen, die in Europa vom Gesetzgeber wahrgenommen worden war. Die Entscheidungsfreiheit über das "Wie und Ob" einer Reform war den Einzelstaaten in den USA durch diese Vorgabe vom Supreme Court genommen worden. Die pro-life Seite erlitt in dem Urteil eine schwere Niederlage. Trotz der Beteiligung von pro-life Organisationen (AUL und NRLC) Schloß sich das Gericht ihrer Argumentation nicht an, daß das ungeborene Leben von der Verfassung geschützt sei. Diese Negierung ihres Anspruchs wurde von der pro-life Bewegung zwar heftig kritisiert, aber sie verhalf der Bewegung auf der anderen Seite auch zu vermehrter Unterstützung und Popularität, denn die Entscheidung war für viele, ganz besonders aber für die katholische Kirche, ein Auslöser, sich für den Schutz der Ungeborenen einzusetzen43. Die pro-choice Bewegung, insbesondere PP und Naral, konzentrierte sich nach der Entscheidung darauf, das neu gewonnene Recht der Frauen auch durchführbar zu machen. PP gründete bundesweit eigene Abtreibungskliniken, in denen sichere und kostengünstige Abtreibungen angeboten wurden 44 .

42 Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (136,137). In England ist ein Schwangerschaftsabbruch bei Gesundheits- oder Lebensgefahr der Frau erlaubt, von der Gesundheit umfaßt ist dabei auch das zukünftige Wohlergehen. Weiterhin kann die Schwangerschaft auch abgebrochen werden, wenn ihre Beendigung eine größere Gesundheitsgefährdung als die Abtreibung bedeutet; siehe Huber in:Eser / Koch, Teil 1, S.675. 43 Vgl. Tribe, S. 143-147. 44 Vgl. Tribe, S. 142,143.

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4. Planned Parenthood v. Danforth / Colautti v. Franklin Bestätigung von Roe v. Wade - Planned Parenthood of Central Missouri v. Danforth Die in Roe v. Wade geschaffenen Grundsätze wurden vom Gericht zunächst strikt angewandt. So im Jahre 1976, als in Planned Parenthood v. Danforth 45 Teile eines neuen Gesetzes des Staates Missouri für verfassungswidrig erklärt wurden. Die strafrechtliche Vorschrift, daß das Einverständnis des Ehemannes vor einer Abtreibung einzuholen sei, wurde als unzulässige Einmischung in die zwischen dem Arzt und der Frau zu treffende Entscheidung gesehen. Denn das Entscheidungsrecht der Frau würde sonst einem absoluten und willkürlichen Veto ausgesetzt. Mit der gleichen Begründung wurde auch das Zustimmungserfordernis eines Elternteiles bei einer Minderjährigen für verfassungswidrig gehalten. Mit PP als Mitkläger zeigte sich hier schon die Bedeutung der pro-choice Bewegung für die Einhaltung der Prinzipien von Roe v. Wade. - Colautti v. Franklin In Colautti v. Franklin 46 wurden 1979 Teile eines Gesetzes des Staates Pennsylvania aufgehoben, die den Arzt vor einer Abtreibung verpflichteten, einen Lebensfähigkeitstest durchzuführen, sowie bei Grund zur Annahme der Lebensfähigkeit besondere Sorgfaltspflichten zum Schutz des Fötus bei der Abtreibung zu beachten. Das Gericht hielt die Vorschrift für zu vage formuliert, um vor der Verfassung Bestand haben zu können. Denn die Feststellung der Lebensfähigkeit werde zwar dem Arzt überlassen, aber es sei nicht deutlich erkennbar, ob dies auch für den zweiten Teil der Vorschrift gelte, die die besonderen Sorgfaltspflichten für den möglichen Fall der Lebensfähigkeit festsetzt 47 . Das Gericht betont, daß es der Entscheidung des Arztes überlassen sein müsse, die Lebensfähigkeit festzustellen. Erst nach Feststellung der Lebensfähigkeit könne der Staat Regelungen zum Schutz des Fötus treffen, nicht bereits ab einem beliebigen Zeitpunkt einer möglichen Lebensfähigkeit 48 .

45 46 47 48

7*

Planned Parenthood of Central Missouri ν. Danforth, 428 U.S. 52 (1976). Colautti v. Franklin, 439 U.S. 379. Colautti v. Franklin, 439 U.S. 379 (390-401). Colautti v. Franklin, 439 U.S. 379 (388,389).

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5. Die Medicaid-Trilogie und Harris v. McRae Einschränkungen der Finanzierung bei Staaten und Bund Bezüglich eines anderen Ansatzpunktes mußte das neu geschaffene Entscheidungsrecht allerdings schon 1977 empfindliche Beschränkungen vor Gericht hinnehmen. Denn die Konstruktion der Grundrechte als Abwehrrechte und die vorsichtige Formulierung des Gerichts, die es vermieden hatte von einem "Recht auf Abtreibung" zu sprechen, gaben der Frau keinen Anspruch auf die tatsächliche Ermöglichung eines Schwangerschaftsabbruchs. So konnte ein Staat über die Verweigerung der Kostentragung des Abbruchs der Frau erhebliche Schwierigkeiten in der Durchsetzung ihres Rechts bereiten. Mit der Verfassungsmäßigkeit verschiedener Beschränkungen in finanzieller Hinsicht hat sich der Supreme Court in der Trilogie der sogenannten MedicaidEntscheidungen (Beai v. Doe, Mäher v. Roe und Poelker v. Doe) befaßt. - Beai v. Doe Im ersten Fall, Beai v. Doe 4 9 , klagten Frauen aus dem Staat Pennsylvania, denen eine Abtreibung von Medicaid 50 , der staatlichen Krankenversicherung für Bedürftige, nicht finanziert wurde. Nach dem Gesetz war dies nur dann zulässig, wenn die Abtreibung aus medizinischen Gründen erforderlich, ein schwer geschädigtes Kind zu erwarten war, oder die Schwangerschaft auf Vergewaltigung oder Inzest beruhte. Die Klägerinnen waren der Auffassung, daß der Staat aufgrund des MedicaidGesetzes des Bundes verpflichtet sei, die Kosten auch bei nicht medizinisch indizierten Abtreibungen bei Bedürftigen zu übernehmen. Die Mehrheit der Richter stellte dazu fest, daß die Entscheidung, nur medizinisch begründete Abtreibungen finanziell zu unterstützen, eine politische Entscheidung sei. Diese sei daher von den Volksvertretern, nicht vom Supreme Court zu treffen. Geprüft wurden kaum verfassungsspezifische Fragen, sondern ob die Regelung mit der Bundesregelung zu Medicaid (Art. 14 des Social Security Act) übereinstimmt. Danach soll die notwendige medizinische Versorgung gewährleistet werden und die Verteilung der Zuwendungen nach sinnvollen Erwägungen erfolgen.

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Beai v. Doe, 432 U.S. 438 (1977). Das Medicaid-System beruht auf dem Zusammenspiel von Bund und Einzelstaaten. Die Einzelstaaten erhalten Zuschüsse vom Bund, wenn sie sich zur Einhaltung bestimmter Grundsätze verpflichten. 50

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Dies wurde bejaht, da die Schwangerschaftsunterbrechung aus nicht medizinisch indizierten Gründen auch nicht zu der medizinisch notwendigen Versorgung gehöre 51 . Die Unterscheidung in medizinisch notwendige und nicht notwendige Abtreibungen sei weiterhin nicht willkürlich, sondern entspreche der Zielvorstellung des Staates. Denn das Staatsinteresse am Schutz des potentiellen Lebens sei - wenn auch in zunehmendem Maße - während der gesamten Schwangerschaftsdauer vorhanden. Die geltende Regelung mache nur dieses Staatsinteresse stark, das in Roe v. Wade Erwähnung und Billigung fand, nämlich daß ein Staat politisch deutlich machen darf, daß Geburten von größerem Wert als Abtreibungen seien 5 2 . Auf die dadurch erfolgende Beeinträchtigung des Rechtes der Frau wird nicht eingegangen. Nur in den abweichenden Meinungen der Richter Brennan, Marshall und Blackmun, die Träger der Roe-Entscheidung waren und sich hier überstimmt sahen, findet dieses Recht Erwähnung. Ihren Ausführungen zufolge ist Schwangerschaft ohne Zweifel ein Zustand, der medizinische Versorgung im Sinne des Art. 14 erfordere. Wenn eine Frau allein mit ihrem Arzt darüber entscheiden dürfe, ob eine Abtreibung erfolgen soll, oder ob sie das Kind austrägt, und diese Entscheidung durch die Verfassung geschützt werde, so müsse ein Staat diese beiden Möglichkeiten als gleichwertige Alternativen, ohne moralische Bewertungen einfließen zu lassen, auch gleichwertig behandeln. Werde die Geburt bezahlt, die Abtreibung dagegen nur in bestimmten Fällen, so sei dies ein gravierender Eingriff in die Entscheidung vor allem der Frauen, die kaum über die finanziellen Möglichkeiten verfügen, eine Abtreibung zu bezahlen 53 . Richter Marshall führt dazu noch aus, daß hier eine Regelung aus moralischen Gesichtspunkten erfolge, die aus verfassungsrechtlichen Gründen kein Staat direkt verfolgen dürfte 54 . In einem abschließenden gemeinsamen Votum weisen die drei Richter noch einmal darauf hin, daß ein verfassungsrechtlich geschütztes Recht nicht bejaht und im gleichen Atemzug die Realisierung verhindert werden könne 55 . - Mäher v. Roe In der zweiten Entscheidung, Mäher v. Roe 5 6 , die am selben Tag verkündet wurde, ging es um das Gesetz des Staates Connecticut, das in ähnlicher Weise 51 52 53 54 55 56

Beai v. Doe, 432 U.S. 438 (444,445). Beai v. Doe, 432 U.S. 438 (446). Beai v. Doe, 432 U.S. 438 (449-454). Beai v. Doe, 432 US 438 (455). Beai v. Doe, 432 U.S. 438 (462). Maher v. Roe, 432 U.S. 464 (1977).

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wie im zuvor beschriebenen Fall die Erstattung von Abtreibungskosten über Medicaid nur im Falle einer medizinischen Notwendigkeit vorsah. Zwei Frauen, denen es nicht gelungen war, die Bescheinigung über die medizinische Notwendigkeit einer Abtreibung zu erhalten, klagten gegen die Einschränkung und beriefen sich dazu insbesondere auf das Gleichbehandlungsgebot der "equal protection clause". Sie sahen sich als mittellose Schwangere durch den Ausschluß des Schwangerschaftsabbruchs aus dem Medicaid-Programm gegenüber den Frauen benachteiligt, die ihre Schwangerschaft austragen und die Geburt finanziert bekommen. Mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor wurde die Regelung als verfassungsgemäß aufrecht erhalten. Entsprechend einem vom Supreme Court entwickelten Prüfungsmodell ist die equal protection clause dann als verletzt anzusehen, wenn eine "verdächtige Differenzierung" vorgenommen wird, d.h. zu Lasten von politisch verletzlichen Gruppen (discrimination against a suspect class), oder wenn in ein fundamentales Verfassungsrecht eingegriffen wird, ohne daß diese Differenzierung, bzw. der Eingriff durch ein zwingendes Staatsinteresse gedeckt sind (strict scrutiny test). Daneben wendet das Gericht in Fällen, in denen weder eine verdächtige Differenzierung erfolgt noch ein fundamentales Recht beeinträchtigt wird, den "rational basis test" an, der nur zu der Überprüfung dient, ob das in Frage stehende Gesetz eine rationale Grundlage hat. Die sechs entscheidenden Richter sahen keine Verletzung der equal protection clause, da schwangere Frauen keine politisch verletzliche Gruppierung darstellten deren Differenzierung es einer erhöhten Rechtfertigung bedürfe 57 . Das verfassungsmäßige Recht der Frauen, ohne ungebührliche Belastung über ihre Abtreibung zu entscheiden, sei durch die Nichtfinanzierung nicht berührt 58 . Da also kein verfassungsmäßig garantiertes Recht verletzt sei und auch keine verdächtige Differenzierung vorliege, sei kein zwingendes Staatsinteresse erforderlich, sondern es genüge, wenn das Gesetz den Anforderungen des schwächeren rational basis test entspreche, d.h. das Gesetz müsse auf vernünftige Weise einem verfassungsrechtlich erlaubtem Zweck dienen. Das Staatsziel, potentielles Leben zu schützen, sei bereits in Roe v. Wade anerkannt worden. In Beai v. Doe sei festgestellt worden, daß dieses Interesse auch während der gesamten Schwangerschaft bestehe, wenn auch nicht durch57 58

Mäher v. Roe, 432 U.S. 464 (470). Mäher v. Roe, 432 U.S 464 (474).

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gehend in einem zwingenden Maße. Dieser Interessengrad sei aber hier gerade nicht erforderlich, denn es genüge, daß es sich lediglich um ein verfassungsmäßig erlaubtes Staatsziel handele. Die finanzielle Bevorzugung von Geburten gegenüber Abtreibungen sei auch geeignet, dieses Ziel zu erreichen 59 , so daß der rational basis test als erfüllt zu betrachten sei. Im einzelnen wurde in der Entscheidung zwar auf das in Roe ν. Wade konstituierte Recht der Frau Bezug genommen, es wurde jedoch restriktiver gestaltet. So wurde ausdrücklich erklärt, daß es sich nicht um ein Recht handele, daß ein generelles verfassungsmäßiges Recht auf Abtreibung garantiere 60 . Dies wurde zwar so auch nicht in Roe ν. Wade behauptet, aber die Gestaltung des Rechtes war in dieser Hinsicht zumindest noch offen. Weiter wurde ausgeführt, daß der Staat die Gestaltung des Rechts der Frau überlassen könne, ohne zur Unterstützung verpflichtet zu sein. Die Frau sei lediglich vor übermäßigen Einschränkungen ihrer Entscheidungsfreiheit geschützt. Dies sei nicht schon dann der Fall, wenn die Frau auf private Mittel angewiesen sei 6 1 . Das Gericht versichert, mit diesem Urteil nicht von Roe ν. Wade abzuweichen und verweist dazu auf die Unterschiede, die sich daraus ergeben, daß einmal direkter staatlicher Intervention begegnet werden mußte, während es hier um die staatliche Förderung einer alternativen Aktivität gehe 62 . Die Auswirkungen der veränderten Interpretation lassen sich jedoch nicht übersehen. Das Recht der Frau wird nun als reines Freiheitsrecht zur Entscheidung definiert, ohne jede Garantie oder Hilfe, diese Entscheidungsfreiheit auch ausüben zu können. Dies wird auch in den abweichenden Meinungen deutlich gemacht. Für die Richter Brennan, Marshall und Blackmun ist es unverständlich, wie die Mehrheit des Gerichts nicht anerkennen kann, daß durch die Versagung der Finanzierung das Recht der Frau verletzt werde. Die finanzielle Nichtgewährung wirke genauso wie ein direktes Verbot. Das Recht sei auch nicht erst dann verletzt, wenn ein absolutes Hindernis geschaffen werde. Jede Belastung, die nicht durch ein zwingendes Staatsinteresse gerechtfertigt sei, stelle eine übermäßige Belastung dar. Da der Staat Connecticut keine zwingenden Gründe zur Rechtfertigung der Nichtfinanzierung der Abtreibung vorbringen könne, sei das Gesetz verfassungswidrig 63. 59 60 61 62 63

Mäher v. Roe, 432 U.S. 464 (478). Mäher v. Roe, 432 U.S. 464 (473). Mäher v. Roe, 432 U.S. 464 (473-474). Mäher v. Roe, 432 U.S. 464 (475). Mäher v. Roe, 432 U.S. 464 (482-490).

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- Poelker v. Doe Die letzte Entscheidung dieser Trilogie, Poelker v. Doe 6 4 , beschäftigte sich mit einem sehr ähnlichen Fall. Jane Doe, eine der Klägerinnen, sah sich in ihrem Gleichheitsrecht verletzt, da der Staat Missouri in seinem von öffentlichen Mitteln finanziertem Krankenhaus nur medizinisch indizierte Schwangerschaftsunterbrechungen ausführte. Die Kosten für Geburten wurden allerdings übernommen. Jane Doe erhielt die von ihr gewünschte Abtreibung nicht; sie war damit auf eine private Klinik angewiesen. Das Gericht verweist in seiner Entscheidung im wesentlichen auf die Begründung im vorigen Fall, da die Interessenlage hier vergleichbar mit der Versagung der Medicaid Mittel zu bestimmten Abtreibungen sei. - Harris v. McRae 1976 wurden gleichartige Bestrebungen auf der Bundesebene verwirklicht. Die Haushaltszuweisung an das Gesundheits-und Sozialministerium wurde in diesem und allen folgenden Jahren mit der Auflage versehen, daß die Mittel nur unter eng definierten Voraussetzungen für Abtreibungen verwendet werden dürfen. In der striktesten Version der Auflage werden Abtreibungen nur bei Lebensgefahr der Frau finanziert. Andere Versionen ließen diese Ausnahmefinanzierung auch in Fällen von Vergewaltigung oder Inzest zu, oder wenn bei Austragung der Schwangerschaft eine schwere und langwierige physiche Gesundheitsschädigung der Frau zu erwarten wäre. Nach dem Kongreßabgeordneten Henry Hyde, der einen derartigen Vorbehalt als erster vorschlug, werden diese Regelungen (in allen drei Versionen) allgemein als Hyde Amendment bezeichnet. Den Einzelstaaten steht es zwar frei, aus ihren eigenen Etats weiterhin alle Schwangerschaftsabbrüche zu bezahlen, aber die meisten folgten der Politik des Bundes. Im Jahre 1980 hatte der Supreme Court in Harris v. McRae 6 5 über die Verfassungsmäßigkeit des Kongreßbeschlusses der Einschränkung der Medicaid Hilfe für Abtreibungen zu entscheiden. Im verfassungsrechtlichen Teil des Urteils wird untersucht, ob das Hyde Amendment das Entscheidungsrecht der Frau verletzt. Es werden noch einmal die Grundzüge der vergangenen Abtreibungsentscheidungen wiederholt. So wird insbesondere auf die Begründung in Mäher v. Roe bezug genommen, da dort festgestellt wurde, daß ein Staat Abtreibungen nicht finanzieren müsse, obwohl die Entscheidung darüber grundsätzlich geschützt sei 6 6 . Auch eine 64 65 66

Poelker v. Doe 432 U.S. 519 (1977). Harris v. McRae, 448 U.S. 297 (1980). Harris v. McRae, 448 U.S. 297 (313).

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Präferenz für das Gebären von Kindern dürfe der Staat dadurch deutlich machen, daß er die Geburten finanziere, die Abtreibungen dagegen aus privaten Mitteln bezahlt werden müssen 67 . In vergleichbarer Form zu der in Mäher v. Roe diskutierten Einschränkung begründe das Hyde Amendment kein unüberwindbares Hindernis für die zur Abtreibung entschlossene Frau, sondern es versage ihr lediglich die Finanzierung. Das könne auch dann der Fall sein, wenn ein Staat z.B. ganz auf eine Teilnahme an Medicaid verzichte 68 . Ein Unterschied zu Mäher v. Roe liegt - abgesehen davon, daß es sich hier um die Gesetzgebung auf Bundesebene handelt - darin, daß das Hyde Amendment die Finanzierung von "medizinisch notwendigen" Abtreibungen enger definiert. Als medizinisch notwendig werden - in der Version des Jahres 1980 nur solche Schwangerschaftsabbrüche angesehen, die zur Lebensrettung der Frau erforderlich sind, oder wenn die Schwangerschaft auf Vergewaltigung oder Inzest beruht 69 . Die Gesundheitsgefährdung der Frau reicht also hier für eine medizinisch indizierte und damit finanzierte Abtreibung nicht aus. Der Supreme Court sieht aber trotz dieses Unterschiedes keine Verletzung der Verfassung, da es entscheidend darauf ankomme, daß das Recht die Entscheidungsfreiheit garantiere, aber nicht eine positive Verpflichtung des Staates postuliere, die finanziellen Mittel zur Durchsetzung dieses Rechts, unter welchen Umständen auch immer, bereitzustellen. Bezüglich der Ausführung, warum das Hyde Amendment den Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt, bezieht sich das Gericht wieder ganz auf die in Mäher v. Roe getroffenen Feststellungen. Frauen, die eine Abtreibung wünschen, seien keine benachteiligte Gruppierung und es werde das legitime Staatsziel verfolgt, potentielles Leben zu schützen. Die bevorzugte Finanzierung von Geburten sei geeignet, dieses Staatsziel zu fördern 70. Eine darüber hinausgehende Wertung, nämlich ob es sich bei der Regelung um eine kluge Sozialpolitik handele, sei nach Ansicht des Gerichtes ein Bereich, über den zu entscheiden es nicht autorisiert sei 7 1 . Eine abweichende Meinung dazu vertreten die Richter Brennan, Marshall und Blackmun; Richter Stevens verfaßte eine gesondert begründeten Meinung. Sie sehen das Recht der Frau als verletzt an. Die Entscheidungsfreiheit der Frau sei zwar kein positives Recht auf Zugang zu einer Abtreibung, wann immer dies erwünscht wird, aber dieses Recht beinhalte, daß sich der Staat mit seiner 67 68 69 70 71

Harris v. McRae, 448 U.S. 297 (314). Harris v. McRae, 448 U.S. 297 (315). Harris v. McRae, 448 U.S. 297 (302). Harris v. McRae, 448 U.S. 297 (323-325). Harris v. McRae, 448 U.S. 297 (326).

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Macht zurückhalten müsse, um der Frau keine untragbare Last aufzubürden, die ihr die Entscheidungsfreiheit auf Umwegen nehme 72 . Dieser indirekte Weg der Versagung der Finanzierung beschränke das Recht der Frau genauso effektiv wie ein direktes Verbot. Richter Marshall führt zum Gleichbehandlungsgrundsatz aus, daß der strict scrutiny test hätte angewandt werden müssen, da ein fundamentales Recht verletzt werde. Weiterhin beruhe die Unterscheidung hier unzulässigerweise darauf, daß eine Frau ihr verfassungsmäßiges Recht ausübt. Alle medizinisch notwendigen Eingriffe werden von der Medicaid bezahlt. Daher sei in Mäher v. Roe keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes gesehen worden. Da nun aber nicht einmal alle medizinisch notwendigen Abtreibungen bezahlt werden, liege ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz vor 7 3 . Die Ausübung eines verfassungsmäßigen Rechtes dürfe nicht Grund für eine Benachteiligung sein, die sonst nicht erfolgen würde. So äußert sich auch Richter Stevens, der im besonderen ausführt, warum hier - folgt man der Stufenregelung von Roe v. Wade - keine ausreichenden Staatsinteressen vorliegen, die das Hyde Amendment rechtfertigen könnten. Er verweist außerdem auf die Staatspflicht zur Neutralität bei der Gewährung von Hilfe 7 4 . Die Gegenargumente beziehen sich insgesamt in großen Teilen auf das bereits in Mäher v. Roe Vorgetragene. In der Mehrheitsentscheidung war das Recht der Frau in sehr drastischer Weise auf den Kerngehalt der persönlichen Gewissensentscheidung reduziert worden, auf ein reines Abwehrrecht bezüglich eines möglichen staatlichen Verbotes. Die Durchführung und tatsächliche Ausübungsmöglichkeit dieses Rechtes war dagegen keine Staatsaufgabe. Die Mehrheit des Gerichts war nicht gewillt, in diesen staatlichen Bereich der Sozialpolitik einzugreifen. Die pro-life Seite hatte mit der Verabschiedung des Hyde Amendment (bei einer demokratischen Mehrheit in beiden Kammern) und dessen Bestätigung in dieser Entscheidung ihren bislang größten Erfolg. Nicht nur wegen der großen Anzahl von Abtreibungen, die nunmehr nicht mehr staatlich finanziert würden, sondern auch wegen der Möglichkeit, bei der Abstimmung im Kongreß zum Hyde Amendment eine öffentlich-wirksame und moralische Erklärung gegen die Abtreibung durchzusetzen 75. Die Argumentation der pro-life Seite war 72

Harris v. McRae, 448 U.S. 297 (330). Harris v. McRae, 448 U.S. 297 (344-346). 74 Harris v. McRae, 448 U.S. 297 (351, 356). 75 Dazu, wie von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde, siehe diese Arbeit Kapitel Ε. I. 1. c). 73

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auch dahingehend erfolgreich, daß die Finanzierungsfrage unter dem Aspekt diskutiert wurde, ob der Staat Abtreibungen fördern müsse. Die Nichtfinanzierung erschien bei dieser Fragestellung als eine Möglichkeit, sich neutral zu verhalten.

6. Bellotti v. Baird und H.L. v. Matheson Verfassungsrechte für Minderjährige? Aber auch das Abtreibungrecht in seiner Gestaltung als Recht auf eine freie Entscheidung blieb von legislativen Angriffen nicht verschont. Ein Ansatzpunkt dazu war die gesonderte Behandlung von Minderjährigen. Das absolute Verbot des Verkaufs von Verhütungsmitteln an Minderjährige wurde zwar 1977 für verfassungswidrig erklärt, da auch diese ein Recht auf Privatsphäre genießen 76 . Aber anders sah es bei dem immer wiederkehrenden Versuch der Einschränkung von Abtreibungen aus, so z.B. in der Form von Genehmigungs- oder Benachrichtigungserfordernissen der Eltern. - Bellotti v. Baird 1976 hatte der Supreme Court in Planned Parenthood v. Danforth 77 es für unzulässig gehalten, daß Minderjährige vor einer Abtreibung die Einwilligung ihrer Eltern erhalten müßten. Drei Jahre später wurde auch in Bellotti v. Baird 7 8 die Regelung des Staates Massachusetts, die ein Einwilligungserfordernis der Eltern von Minderjährigen vorsah, mit nur einer einzigen abweichenden Meinung für verfassungswidrig erklärt. Trotz dieses im Ergebnis mit der bisherigen Rechtsprechung übereinstimmenden Urteils, zeichnete sich ab, daß eine Mehrheit des Gerichts Einschränkungen des Rechtes der Frau - für Minderjährige mit gewissen Modifizierungen - zulassen würde. Die Regelung des Staates Massachusetts sah vor, daß Minderjährige ihre Eltern vor einer Abtreibung informieren mußten. Wenn einer der beiden Elternteile die Zustimmung zu der Abtreibung verweigerte, konnte die Zustimmung in einem gerichtlichen Verfahren ersetzt werden. Richter Powell formulierte die Urteilsbegründung, der sich die Richter Stewart, Rehnquist und Chief Justice Burger anschlossen. Es wurde zunächst ausgeführt, daß das verfassungsrechtlich geschützte Recht der Frau auch Minder76 77 78

Carey ν. Population Services International, 431 U.S. 678 (1977). Planned Parenthood of Central Missouri ν. Danforth, 428 U.S. 52 (1976). Bellotti v. Baird, 443 U.S. 662 (1979).

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jährigen zustehe, gerade für sie sei diese Entscheidung sogar von besonderer Bedeutung für ihre Zukunft. Trotzdem könnten Unterschiede in der Behandlung zu Erwachsenen gerechtfertigt sein, wenn diese durch die besondere Verletzlichkeit einer Jugendlichen, ihre Unreife oder die Berücksichtigung der elterlichen Autorität begründet seien. So sei die Einschränkung, daß beide Elternteile benachrichtigt werden oder ihr Einverständnis geben müssen, angesichts der Bedeutung der Entscheidung und der elterlichen Interessen keine übermäßige Belastung des Entscheidungsrechtes der Minderjährigen. Es dürfe aber kein möglicherweise willkürliches Veto durch das Erfordernis der Einwilligung anderer entstehen. Daher müsse die Möglichkeit bestehen, die Zustimmung in einem alternativen Verfahren zu ersetzen 79. Damit dieses Verfahren keine übermäßige Belastung des Rechts der Minderjährigen darstelle, stellten die Richter bestimmte Anforderungen an die Gestaltung des Verfahrens auf. So müsse die Minderjährige die Möglichkeit haben, auch ohne vorherige Benachrichtigung der Eltern, direkt die gerichtliche Zustimmung zu ersuchen. Könne sie vor Gericht darlegen, daß sie reif genug sei, eine eigenverantwortliche Entscheidung zu treffen, so sei ihr die Zustimmung jedenfalls zu erteilen. Fehle ihr diese Reife, so sei die Zustimmung zu erteilen, wenn sie zeigen könne, daß die Entscheidung für eine Abtreibung in ihrem besten Interesse sei 8 0 . In Massachusetts wird die gerichtliche Zustimmung erteilt, wenn das Gericht die Abtreibung im Interesse der Minderjährigen befürwortet. Dieses Verfahren entspricht nach Auffassung der Richter nicht den zuvor dargestellten verfassungsrechtlichen Anforderungen. Denn bei diesem Verfahren könne die gerichtliche Entscheidung auch dann die Entscheidung der Minderjährigen ersetzen, wenn sie reif genug sei, die Entscheidung eigenverantwortlich zu treffen. Auch sei es für die Minderjährige nicht möglich, das Gericht ohne vorherige Benachrichtigung der Eltern anzurufen. Die Regelung verletze daher die verfassungsrechtliche Garantie der freien Entscheidung über eine Abtreibung. Die Richter Stevens, Brennan, Marshall und Blackmun schließen sich dem Ergebnis der Entscheidung an. Auch sie halten das Gesetz für verfassungswidrig. Sie distanzieren sich aber davon, daß eine richterliche Prüfung bei Minderjährigen überhaupt stattfinden darf. Dies ist ihrer Meinung nach eine Verletzung des Rechtes, da es dadurch einem Veto Dritter ausgesetzt werde 81 . Richter White hielt als einziger das Gesetz für verfassungsgemäß 82.

79 80 81 82

Bellotti v. Baird, 443 U.S. 662 (633-643). Bellotti v. Baird, 443 U.S. 662 (643-648). Bellotti v. Baird, 443 U.S. 662 (654, 655). Bellotti v. Baird, 443 U.S. 662 (656-657)

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Trotz der Mehrheit von acht Richtern, die das Gesetz des Staates Massachusetts für verfassungswidrig hielten, wurde deutlich, daß eine Mehrheit von fünf Richtern nicht bereit war, die Grundsätze von Roe ν. Wade auch uneingeschränkt für Minderjährige zu garantieren. Es finden sich in der von Richter Powell formulierten Urteilsbegründung aber auch Hinweise, die eine Einschränkung des Rechtes erwachsener Frauen denkbar werden lassen. Denn in der Begründung wird geprüft, ob die Regelung das Entscheidungsrecht der Minderjährigen in einer verfassungswidrigen Weise verletze. Diese Verletzung verneint das Gericht, so daß es nicht zu einer dem Stufenmodell von Roe entsprechenden Prüfung der Rechtfertigung kommt. Als Konsequenz dieser Entscheidung wäre danach das Recht der Frau auch in den ersten drei Monaten nicht vor jeder Einschränkung geschützt, die nicht durch ein zwingendes Staatsinteresse gedeckt ist, sondern die erhöhte Rechtfertigung wäre erst dann erforderlich, wenn das Entscheidungsrecht einer übermäßigen Belastung ausgesetzt wird. Für die Gesetzgeber ergaben sich damit neue Handlungsmöglichkeiten: zum einen bezüglich besonderer Einschränkungen für Minderjährige, zum anderen schienen Einschränkungen möglich, die das Recht der Frau nicht übermäßig belasten. Während die möglichen Einschränkungen bei Minderjährigen - ohne daß dies für die Entscheidung nötig gewesen wäre - im Urteil klar formuliert wurden, war die Bedeutung einer "übermäßigen Belastung" nicht erkennbar. - H.L. v. Matheson In H.L. v. Matheson 83 wurde 1981 mit 6:3 Stimmen, gegen die Auffassung der Richter Blackmun, Marshall und Brennan, das Gesetz des Staates Utah für verfassungsgemäß erklärt, das - soweit möglich - die Benachrichtigung der Eltern vor der Durchführung einer Abtreibung bei Minderjährigen vorsah. Die Verfassungsmäßigkeit ergibt sich nach Auffassung des Gerichts daher, weil dieses Gesetz nicht ein - verfassungsmäßig rechtswidriges - Vetorecht einer anderen Person konstruiere. Die Benachrichtigung der Eltern sei eine typische Voraussetzung, die ein Staat vor einer wichtigen Entscheidung bei einer Minderjährigen in deren eigenem Interesse verlangen kann. So könnten die Eltern den Arzt z.B. mit wichtigen Informationen versorgen, die für die Entscheidung benötigt würden 84 . Die Eltern-Kind-Beziehung sei auch in anderen Urteilen als von der Verfassung geschützt angesehen worden. Der Staat verfolge mit der obligatorischen Information der Eltern sinnvolle und wichtige Familieninteressen. Die Regelung sei am Schutz dieser Interessen orientiert, daher werde keine Garantie der Verfassung verletzt 85 . 83 84 85

H.L. v. Matheson, 450 U.S. 398. H.L. v. Matheson, 450 U.S. 398 (409-411). H.L. v. Matheson, 450 U.S. 398 (413).

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Die Verfasser der abweichenden Meinung, die Richter Brennan, Marshall und Blackmun, wiederholen die Grundsätze der in Roe ν. Wade festgestellten Garantie, daß eine Frau die Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch allein mit ihrem Arzt treffen könne. Dieses Recht stehe auch Minderjährigen zu. Einschränkungen dieser Entscheidung müßten also wichtigen Staatsinteressen dienen. Daß die Entscheidung der Minderjährigen durch ein Benachrichtigungserfordernis belastet werde, stehe zwar im Gegensatz zu dem Bild einer unterstützenden Familie, aber man dürfe nicht immer von einem idealen Familienbild ausgehen. In vielen Fällen würden die Kinder - auch in ihrem eigenen Interesse - nicht alle wichtigen Entscheidungen mit den Eltern besprechen. Die belastende Regelung müsse daher zu ihrer Rechtfertigung einem wichtigen Staatsinteresse dienen 86 . Vorgetragen wurde, daß das Gesetz dem Ziel diene, zusätzliche, medizinisch erforderliche Informationen zu erhalten. Dem entspreche jedoch nicht die Ausgestaltung des Gesetzes, daß eine verheiratete Minderjährige nur ihren Ehemann zu informieren hat. Auch das zweite Staatsziel, daß die Entscheidung überlegter ausfalle, wenn die Eltern involviert seien, könne nicht durch eine so pauschale Regelung erreicht werden. Dem generellen Familienzusammenhalt könne dadurch nicht gedient werden, denn bei einer Minderjährigen, die eventuell selbst reif genug für eine Entscheidung sei, könne nicht durch Zwang ein fehlender Familienverband ersetzt werden. Da das Gesetz durch keine rechtfertigenden Staatsinteressen gedeckt sei, sei es daher als verfassungswidrig zu betrachten 87.

7. Akron v. Akron Center ein Modellgesetz gegen Roe v. Wade In der Abtreibungsentscheidung Akron v. Akron Center 88 von 1983 ging es um die Gültigkeit eines Gesetzes in Ohio, das vorschrieb, daß a) alle Abtreibungen ab dem 3. Monat in einem Krankenhaus durchgeführt werden müssen, b) bei Minderjährigen unter 15 Jahren vorher die Einwilligung eines Elternteils oder eines Gerichts eingeholt werden muß, c) bestimmte Informationen durch den Arzt vor einer Abtreibung an die Frau gegeben werden müssen, 86 87 88

H.L. v. Matheson, 450 U.S. 398 (434-441). H.L. v. Matheson, 450 U.S. 398 (440-454). City of Akron v. Akron Center for Reproductive Health 462 U.S. 416 (1983).

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d) die Abtreibung erst nach einer Wartefrist von 24 Stunden vorgenommen werden darf, und e) die Überreste des Fötus in einer humanen und hygienischen Art beseitigt werden müssen. Die Regelung war nach der "national model legislation" einer pro-life Gruppe entstanden. Diese Modellgesetzgebung wurde von den pro-life Gruppen in der Absicht entworfen, das Entscheidungsrecht der Frau zu beschränken, ohne gegen die herrschende Rechtsprechung zu verstoßen. Außer in Ohio wurde dieses Modell u.a. auch in den Staaten Louisiana, Nevada und Utah durchgesetzt 89 . Auch der Prozeßvertreter des Bundes (Solicitor General) Rex E. Lee, setzte in seinem Schriftsatz darauf, nicht die blanke Abkehr von Roe ν. Wade zu fordern, sondern bot dem Gericht Änderungen an, die sich im scheinbaren Einklang mit den Vorentscheidungen befinden. Sein Verständnis von Roe ν. Wade und dessen Folgeentscheidungen führte ihn zu der Formulierung, daß staatliche Regulierungen wirksam seien, solange sie keine übermäßige Belastung (undue burden) darstellten 90 . Da es keine leichte Aufgabe sei, die Grenze einer übermäßigen Belastung festzustellen und der Unterschied zwischen Gesetzgeber und Gericht nicht verwischt werden solle, empfehle es sich für das Gericht bei seiner Entscheidung größte Rücksicht auf die Gesetzgebung zu nehmen 91 . Die pro-life Bewegung unterstützte dieses Argument und sah seit langem zum ersten Mal die Chance für einen Sieg. Dies schien der erste Fall zu sein, der in einem veränderten politischen Klima stattfand und nach vielen Erfolgen auf der Staatenebene stand nun auch die Bundesregierung, erstmals in einem Fall ohne Finanzierungsbezug, auf ihrer Seite. A u f der Bundesebene waren als Angriff auf Roe ν. Wade bereits Versuche der Verfassungsänderung gemacht worden 92 . Eingeleitet worden war die veränderte politische Stimmung in dem Wahljahr 1980. Der Sieg Ronald Reagans bei den Präsidentschaftswahlen wurde von pro-life ebenso wie die wiedergewonnene Mehrheit der Republikaner im Senat und der Zuwachs im Repräsentantenhaus um 20 pro-life Vertreter als Hoffnung auf eine Veränderung in der Abtreibungspolitik gewertet 93 . Diese Hoffnung sollte sich aber nicht erfüllen.

89 90 91 92 93

Vgl. Epstein / Kobylka, S.236-238. Vgl. Epstein / Kobylka, S.240. Vgl. Epstein / Kobylka, S.240, 241. Genauer dazu siehe in dieser Arbeit Kapitel Ε. I. 1. a). Vgl. Epstein / Kobylka, S.231.

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- Mehrheitsmeinung Das Gericht entschied mit einer Mehrheit von sechs Richtern, daß die angegriffene Regelung insgesamt verfassungswidrig sei. In strikter Anwendung der bisher entwickelten Grundsätze bestätigten die Richter noch einmal Roe ν. Wade. Zur Einschränkung des fundamentalen Rechts der Frau sei ein zwingendes Staatsinteresse nötig. Als solche seien bislang nur zwei Rechte anerkannt worden, nämlich zum einen das Recht am Schutz des möglichen Leben, welches erst ab Lebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibs ein zwingendes Interesse werde, zum anderen das Interesse am Erhalt der Gesundheit der Frau. Dieses werde erst nach dem ersten Drittel der Schwangerschaft zwingend 94 . Zuerst stellte das Gericht fest, daß es für die Gesundheit der Frau nicht erforderlich sei, im zweiten Drittel der Schwangerschaft in einem akkreditierten Hospital behandelt zu werden. Die diesbezügliche Vorschrift sei daher verfassungswidrig. Eine Regulierung sei zwar in diesem Stadium prinzipiell zulässig, da das Staatsinteresse zwingend sei, aber die Regulierung muß in einem sinnvollen Zusammenhang zum verfolgten Staatsziel stehen. Daran fehle es hier. In der Zeit, als Roe ν. Wade geschrieben wurde, hätte die stationäre Behandlung noch erforderlich sein können, aber die Fortschritte in der Medizin, die eine Abtreibung auch im zweiten Drittel heute sicherer machten, erforderten nun eine andere Bewertung 95 . Nach den in den vorigen Entscheidungen herausgearbeiteten Grundsätzen sei deutlich, daß das Einwilligungserfordernis der Eltern oder des Gerichts bei einer Frau unter 15 Jahren einem verfassungswidrigen Vetorecht gleichkomme, wenn sie nicht die Möglichkeit habe, zu zeigen, daß sie die nötige Reife besitze, selbst die für sie beste Entscheidung zu treffen 96 . Einem Arzt könne auch keine Vorschrift gemacht werden, welche Informationen er seiner Patientin vor einer Abtreibung mitzuteilen habe, denn diese Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Frau stehe unter dem Schutz der Verfassung 97 . Die Einführung einer Wartefrist diene keinem Staatsziel. Es sei nicht davon auszugehen, daß dadurch weniger Abtreibungen ausgeführt werden und daher sei sie als Schranke für die Frau unzulässig 98 .

94 95 96 97 98

Akron v. Akron Center, 462 U.S. 416 (426-430). Akron v. Akron Center, 462 U.S. 416 (431-439). Akron v. Akron Center, 462 U.S. 416 (439-440). Akron v. Akron Center, 462 U.S. 416 (445). Akron v. Akron Center, 462 U.S. 416 (450).

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Die Beseitigung des Fötus in humaner Form sei eine Vorschrift, die zu unbestimmt sei, um vor der "due process clause" Bestand zu haben". - abweichende Meinung Die neue, von Reagan ernannte Richterin O'Connor verfasste ein abweichendes Urteil, dem sich die beiden Richter White und Rehnquist anschlossen, und in dem das vom Solicitor General Lee entwickelte Konzept der übermäßigen Belastung übernommen wurde. Die Richter argumentierten, daß die Stufentheorie von Roe ν. Wade kein neutraler Maßstab für die Überprüfung von Verfassungsfragen sei und es vielmehr darauf ankomme, ob die in Frage stehende Regelung eine unbillige oder übermäßige Härte für das in der Verfassung garantierte Recht der Frau darstelle. Ein Beweis für die Hinfälligkeit des Stufenrahmes sei ja die Korrektur in diesem Urteil, die das Gericht gezwungenermaßen vorgenommen habe, da der medizinische Fortschritt eine neue Bewertung verlange. So wie der Zeitpunkt, an dem ein Eingreifen aus Gründen des Mutterschutzes möglich sei, nach hinten verlegt wurde, bewege sich der der Lebensfähigkeit des Fötus, der ja ebenfalls Maßstab für ein zwingendes Staatsinteresse sei, nach vorne. Roe v. Wade sei daher auf Kollisionskurs mit sich selbst 100 . Da Roe ν. Wade kein verfassungsmäßiges Recht auf Abtreibung garantiere, müsse auch nicht jeder staatliche Eingriff am strict scrutiny test gemessen werden. Die Frau sei nur vor übermäßigen Härten in ihrer Entscheidungsfreiheit geschützt. Zwar habe das Gericht, wenn es um Einschränkungen im Bereich der sexuellen Selbstbestimmung ging, stets den strict scrutiny test angewandt; Voraussetzung für die Anwendung desselben sei jedoch zunächst, daß die in Frage stehende Regelung eine übermäßige Belastung eines geschützten Rechtes vornehme. Diese sei dann gegeben, wenn das Entscheidungsrecht mit absoluten Hindernissen oder schwersten Beschränkungen versehen werde. So wie es z.B. in Roe v. Wade oder Missouri v. Danforth geschehen w a r 1 0 1 . Entsprechend diesem Standard stelle die hier zu beurteilende Satzung keine übermäßige Beschränkung dar, da keine der Vorschriften eine Abtreibung völlig unmöglich mache. Die steigenden Kosten durch einige Vorschriften seien nicht untragbare Belastungen und der Staat habe ein Interesse am Schutz des Fötus, welches die Regelungen sinnvoll erscheinen lasse 102 .

99

Akron v. Akron Center, 462 U.S. 416 (451). Akron v. Akron Center, 462 U.S. 416 (453-458). 101 Akron v. Akron Center, 462 U.S. 416 (461-464). 102 Akron v. Akron Center, 462 U.S. 416 (466-475). 100

8 Moors

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Die abweichende Meinung läßt ein unterschiedliches Verständnis von der

Rolle des Gerichts erkennen, da der undue burden Standard zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt in die gesetzgeberischen Entscheidungen eingreift, nämlich erst dann, wenn diese die Schwelle einer übermäßigen Belastung erreicht haben. Dementsprechend betont O'Connor in ihrem Votum auch, daß der Gesetzgeber zur Lösung so sensibler Themen am besten geeignet sei. Der von Solicitor General Lee geforderten Unterordnung gegenüber dem Gesetzgeber stimmte sie jedoch nicht zu. O'Connor entgegnete, daß auch wenn der Gesetzgeber in einer Demokratie für die Lösung bestimmter Probleme zuständig sei, dies nicht bedeute, daß das Gericht der Einschätzung des Gesetzgebers folgen müsse. Der undue burden Standard sei angebracht, da das in den Abtreibungsfällen anerkannte Entscheidungsrecht seiner Natur nach nicht vor allen staatlichen Eingriffen schütze. Wegen der begrenzten Reichweite des Rechtes - nicht aus Unterordnung gegenüber der parlamentarischen Entscheidung - werde die Gesetzgebung erst dann einem strict scrutiny test unterzogen, wenn die Schwelle der übermäßigen Belastung erreicht sei 1 0 3 . Wenn sich auch der erhoffte Sieg für pro-life nicht eingestellt hatt, so zeichnete die abweichende Meinung einen möglichen Weg für die Zukunft vor, wie das Gericht eine Umbewertung der Abtreibungsfrage erreichen konnte, ohne ausdrücklich von der Vorentscheidung abzurücken 104 .

8. Thornburgh v. American College Verteidigung der Entscheidungsfreiheit 1986 hatte der Supreme Court in Thornburgh v. American College 1 0 5 über ein Gesetz des Staates Pennsylvania zu entscheiden, das wiederum mit Hilfe von pro-life Organisationen wie der A U L entworfen worden war. Der inhaltliche Unterschied zu dem in Akron für verfassungswidrig gehaltenen Gesetz war 103

Akron v. Akron Center, 462 U.S. 416 (465). Am selben Tag wurden auch PP v. Ashcroft und Simopolous v. Virginia entschieden. In PP v. Ashcroft (462 U.S. 476) wurde parallel zu Akron eine Bestimmung für nichtig erklärt, die Abtreibungen ab der 12. Schwangerschaftswoche auf Krankenhäuser beschränkte. Die anderen Regelungen galten als verfassungsgemäß, so das Erfordernis nach jeder Abtreibung einen Pathologiebericht zu erstellen, ab Lebensfähigkeit des Fötus einen zweiten Arzt hinzuzuziehen und bei Minderjährigen die Zustimmung der Eltern oder eines Gerichtes einzuholen. In Simopolous v. Virginia (462 U.S. 506) wurde die Bestimmung des Staates Virginia als verfassungsmäßig beurteilt, die Abtreibungen im 2. Schwangerschaftsdrittel auf lizensierte Einrichtungen zu beschränken. 105 Thornburgh v. American College, 476 U.S. 747, 1986. 104

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nur geringfügig, daher war es verwunderlich, daß das Gericht den Fall bei unveränderter Besetzung überhaupt zur Entscheidung annahm. Die Beteiligung der pro-choice und pro-life Bewegung war groß. Pro-choice Gruppen waren nicht nur wegen der Annahme des Falles beunruhigt, sondern wurden zusätzlich von dem neuen Solicitor General Charles Fried herausgefordert, der im Gegensatz zu seinem Vorgänger die völlige Aufgabe von Roe ν. Wade forderte. Er stützte sich bei seiner Argumentation auf die historische Interpretation der Verfassung und kritisierte die Instabilität des von Roe ν. Wade zu verantwortenden Rechts. In der Entscheidung wurden die Grundsätze von Roe ν. Wade und Akron ν. Akron Center bestätigt und sämtliche zur Debatte stehenden Vorschriften als verfassungswidrig aufgehoben. Die Entscheidung erging jedoch nicht, wie noch in Akron mit 6 zu 3, sondern nur mit 5 zu 4 Stimmen Mehrheit. Chief Justice Burger Schloß sich hier überraschenderweise den Gegnern von Roe ν. Wade an. In der Mehrheitsmeinung wurde die Bestimmung über eine informierte Zustimmung für unzulässig gehalten. Denn sie sah vor, daß einer Frau 24 Stunden vor einer Abtreibung ganz bestimmte und umfassende Informationen gegeben werden müssen. Es sei aber im wesentlichen Sache des Arztes, die im Einzelfall erforderliche Information auszuwählen. Die Verpflichtung des Arztes, eine Litanei von Informationen weiterzugeben, deren Zweck allein darin liege, die Frau von ihrer Entscheidung abzubringen, sei daher eine verfassungswidrige Beschränkung 106 . Weiterhin wurde die detaillierte, der Öffentlichkeit zugängliche Datensammlung bezüglich einer Abtreibung für ungültig erklärt. Zwar werde der Name der Frau nicht genannt, doch die Fülle und Genauigkeit der Datensammlung mache eine Identifikation möglich 1 0 7 . Verfassungwidrig seien zuletzt auch die Erfordernisse, daß der Arzt bei Abtreibungen, bei denen die Lebensfähigkeit des Fötus möglich sei, jede Sorgfalt anwenden müsse, um zu versuchen, den Fötus zu retten und bei möglicher Lebensfähigkeit einen zweiten Arzt hinzuziehen müsse. Es wurde keine Ausnahmebestimmung vorgesehen, die bei einem medizinischen Notfall ein Absehen von diesen Erfordernissen ermöglicht. Daher werde hier der Schutz des lebensfähigen Fötus über den in medizinischen Notfällen damit konkurrierenden Gesundheitsschutz der Frau gestellt. Da letzterer jedoch in jedem Fall vor-

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*

Thornburgh v. American College, 476 U.S. 747 (760-765). Thornburgh v. American College, 476 U.S. 747 (766-767).

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rangig sei, sei die Vorschrift nicht zulässig und, da sie bewußt ohne Ausnahmeregelung erging, auch nicht in einer verfassungsgemäßen Weise auslegbar 108 . Burger erläutert in seiner abweichenden Meinung, daß er Roe ν. Wade und die nachfolgenden Fälle, nie so verstanden habe, daß ein Recht auf Abtreibung auf Verlangen gewährt werde. Er hält die angegriffenen Bestimmungen insgesamt für verfassungsgemäß. Zwar hatte er auch schon in PP v. Danforth einige die Abtreibung einschränkende Bestimmungen entgegen der Mehrheitsmeinung für verfassungsgemäß gehalten, aber während er vorher argumentierte, daß die Einschränkungen mit Roe ν. Wade zu vereinbaren seien, stellt er nunmehr die grundsätzliche Revision von Roe ν. Wade in Aussicht 1 0 9 . In Thornburgh wurden die tragenden Elemente von Roe ν. Wade vom Gericht bestätigt. Aber das Besondere an der Entscheidung war nicht ihre Aussage zur Verfassungswidrigkeit der Regelung, sondern die Tatsache, daß sich die ursprüngliche tragende Mehrheit von 7 Befürwortern eines Rechtes der Frau über eine Abtreibung nunmehr auf 5 verkürzt hatte. Kurz nach der Entscheidung ging Richter Burger in Pension, Rehnquist übernahm die freigewordene Stellung des Vorsitzenden und Antonin Scalia wurde neuer Richter am Supreme Court. Als 1987 auch Richter Powell den Gerichtshof verließ, war das für die pro-choice Seite alarmierend. War zuvor noch, auch wenn sich Scalia erwartungsgemäß den Roe-Gegnern anschloß, eine pro-choice Mehrheit gewahrt, so konnte der neu zu ernennende Richter nunmehr den Ausschlag für oder gegen Roe ν. Wade geben. In dieser Ausgangslage wurde Robert H. Bork von Präsident Reagan nominiert und dies führte zu einer ungewohnt heftigen öffentlichen Debatte. Bork war durch zahlreiche Veröffentlichungen bekannt für seine Überzeugung, daß das Gericht die Verfassung historisch oder nach dem Wortlaut interpretieren solle. Er hatte sowohl Griswold als auch Roe ν. Wade dafür kritisiert, daß sich das right to privacy nicht aus der Verfassung ergebe. Dementsprechend ging die Nominierungsdebatte nicht um seine juristische oder persönliche Qualifikation, sondern darum, wie sich die Rechtsprechung des Supreme Court möglicherweise ändern werde, wenn ein Richter gewählt würde, der diese Doktrin nicht anerkennt 110 . Der Senat lehnte schließlich die Ernennung von Bork ab, und im Februar 1988 wurde Anthony Kennedy ohne Gegenstimmen zum neuen Richter am Obersten Gerichtshof ernannt. Kennedy's Position war schwerer zu

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Thornburgh v. American College, 476 U.S. 747 (768-771). Thornburgh v. American College, 476 U.S. 747 (783-785). 110 Vgl. Tribe, S. 169; zur Rolle der Richterernennungen siehe auch in dieser Arbeit Kapitel E. I. 7. 109

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bestimmen, da er wenig veröffentlicht hatte und auch in den Anhörungen z.B. zur Abtreibung keine Stellungnahme gab 1 1 Angesichts dieser Umstände ist es verständlich, daß der nächste vom Supreme Court zu entscheidende Fall zur Abtreibung höchste Aufmerksamkeit erlangte.

9. Webster v. Reproductive Services Stärkung der Einzelstaaten In der Entscheidung Webster v. Reproductive Health Services 112 des Supreme Court aus dem Jahre 1989 ging es um ein Gesetz des Staates Missouri, welches vorschreibt, daß a) in der Präambel bestimmt wird, daß das Leben jedes Menschen mit der Empfängnis beginnt, b) Angestellte und Einrichtungen des öffentlichen Dienstes nicht zur Vornahme von Abtreibungen eingesetzt werden dürfen, es sei denn zur Lebensrettung der Frau, c) bei Abtreibungen, die in der 20. Schwangerschaftswoche oder später erfolgen, der Arzt zunächst feststellen muß, ob der Fötus lebensfähig ist. Die letzte Bestimmung stand in direktem Widerspruch zu dem Stufenrahmen von Roe ν. Wade, das im letzten Urteil des Supreme Court noch einmal eindeutig bestätigt worden war. Der Erlaß eines solchen Gesetzes kann daher nur als Testfall gewertet werden, um zu sehen, wie die veränderte Besetzung des Gerichtshofes darauf reagiert. Der Fall erreichte eine einmalig hohe Beteiligung von 78 amici curiae. Insgesamt waren sogar 420 Organisationen beteiligt, da viele Verbände einen gemeinsamen amicus Schriftsatz verfaßten. Während sich PP und die Anwälte des Reproductive Freedom Projects der ACLU auf die rechtliche Argumentation konzentrierten, nutzte NARAL die Gelegenheit, eine Kampagne für prochoice zu führen. Es wurden Kundgebungen und Aktionen organisiert, um dem Gericht, den Medien und der Öffentlichkeit eine pro-choice Mehrheit zu demonstrieren, die in den letzten Jahren weniger publik gewesen war als die prolife Bewegung 113 .

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Epstein / Kobylka, S.264. Webster v. Reproductive Health Services, 109 S. Ct. 3040 (1989). Siehe Epstein / Kobylka, S.273.

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Der Staat Missouri, die Bundesregierung und andere pro-life Vertreter ersuchten das Gericht, sich endgültig von Roe ν. Wade zu distanzieren. Diesem Wunsch wurde zwar nicht entsprochen, aber ein zersplitterter Gerichtshof hielt weitere Einschränkungen des Abtreibungsrechtes aufrecht. - Mehrheitsmeinung Der Supreme Court erklärte in einem Mehrheitsvotum der Richter Rehnquist, White und Kennedy, dem O'Connor und Scalia im Ergebnis zustimmten, die Bestimmungen insgesamt für gültig. Die Präambel prüften sie nicht auf ihre Verfassungsmäßigkeit, da damit der Staat zwar eine bestimmte Auffassung von Lebensbeginn vertrete, dies sei aber nur dann unzulässig, wenn durch diese Auffassung bestimmte Regelungen bezüglich der Abtreibung gerechtfertigt werden sollen. Diese Wirkung habe aber eine Präambel gerade noch n i c h t 1 1 4 . Die Versagung der Benutzung von öffentlichen Einrichtungen zu Abtreibungen sei verfassungsgemäß und in einer Linie mit den zuvor ergangenen Entscheidungen zu sehen. Der Staat habe keine positive Verpflichtung zur Bereitstellung von Mitteln zur Durchführung von Abtreibungen. Wenn dies für eine finanzielle Unterstützung durch den Staat gelte, dann auch für die öffentlichen Mittel in Form von Bediensteten und Krankenhäusern 115 . Bei der Vorschrift bezüglich der Prüfung der Lebensfähigkeit des Fötus ab der 20. Schwangerschaftswoche legte der Supreme Court die Vorschrift in einer verfassungsrechtlich zulässigen Form aus, nämlich so, daß dieser Test nur dann durchgeführt werden müsse, wenn auch tatsächlich zu erwarten sei, daß der Fötus lebensfähig sei. Als Staatsinteresse gilt hier der Schutz des potentiellen Lebens. In der weiteren Argumentation entfernt sich das Gericht nunmehr von den tragenden Gründen der früheren Entscheidungen, insbesondere von dem Stufenrahmen von Roe v. Wade. In Colautti v. Franklin 1 1 6 war eine gleichlautende Bestimmung, daß ein Arzt die Lebensfähigkeit im 2. Schwangerschaftsdrittel prüfen müsse, für verfassungswidrig erkannt worden, da sie zu vage sei und der Staat in diesem Teil der Schwangerschaft noch kein durchgreifendes Staatsinteresse an einer Regelung habe. Jetzt dagegen wird aufgeführt, daß die Stufenregelung nicht sinnvoll sei, denn der Staat habe ein durchgehendes Interesse am Schutz des Fötus. Es sei nicht erkennbar, warum dieses Interesse erst ab Lebensfähigkeit des Fötus 114 115 116

Webster v. Reproductive Health Services, 109 S. Ct. 3040 (3049-3050). Webster v. Reproductive Health Services, 109 S. Ct. 3040 (3051-3053). Colautti v. Franklin, 439 U.S. 379 (1979).

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zwingend sein solle, denn es existiere - genauso wie das Staatsinteresse am Gesundheitsschutz der Frau - während der gesamten Schwangerschaft. Der Test zur Lebensfähigkeit sei geeignet, dieses Staatsziel zu fördern. Dies soll genügen, um die Verfassungsmäßigkeit zu begründen 117 . Ob das Recht der Frau als fundamental bezeichnet wird, wie in Roe ν. Wade und Akron v. Akron Center, oder nur ein Freiheitsinteresse darstellt, wie die entscheidenden Richter hier meinen, sei eine abstrakte Differenzierung, die die Interessenkollision bei Schwangerschaftsabbrüchen nicht sinnvoll lösen könne. Es sei auch nicht Aufgabe des Gerichts, politische Entscheidungen aus der Verantwortung der Legislative zu nehmen, sondern die Balance herzustellen, zwischen dem, was der Gesetzgebung erlaubt sei, und dem, was die Verfassung außerhalb der Reichweite der Gesetzgebung gestellt habe. Abschließend wird ausgeführt, daß dieser Fall nicht geeignet sei, Roe ν. Wade umfassend zu überprüfen, daher bliebe das Urteil zunächst erhalten. Roe ν. Wade solle aber eingeschränkt und verändert werden, wenn sich die Gelegenheit dazu ergebe 118 . Das Gericht hat mit dieser Entscheidung, die dem Gesetzgeber Regulierungen ermöglicht, die bislang nicht möglich waren, die von ihm angesprochene Balance zwischen Gesetzgebung und Verfassung zu Gunsten des Gesetzgebers korrigiert. Zugleich enthielt das Urteil eine deutliche Aufforderung an die Staaten, ein noch restriktiveres Abtreibungsgesetz - vielleicht sogar ein Verbot - zu erlassen, das dann zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den Prinzipien von Roe ν. Wade Anlaß geben würde. - Votum der Richterin O'Connor Richterin O'Connor, schließt sich diesem Urteil im Ergebnis an, allerdings nicht der Begründung zur Verfassungsmäßigkeit des Lebensfähigkeitstestes. In ihrem Sondervotum führt sie aus, daß die Feststellungen des Gerichtes, sich von Roe ν. Wade zu distanzieren, überflüssig seien, da diese Vorschrift ohne Bruch zu Roe ν. Wade verfassungsgemäß sei. Die richterliche Zurückhaltung gebiete es, einen Fall nur dann neu zu beurteilen, wenn der vorliegende nicht mit der Vorentscheidung vereinbar sei 1 1 9 . Das sei hier nicht der Fall. Schließlich habe der Staat nach Roe ν. Wade ein zwingendes Interesse ab der Lebensfähigkeit und gerade dieses Faktum solle ja festgestellt werden. Sie wiederholt trotzdem, daß sie die Stufenregelung von Roe ν. Wade für problematisch halte und die Überprüfung der Verfassung an dem Maßstab, ob die Frau einer übermäßigen Belastung unterworfen werde, bevorzuge. Auch danach sei 117 118 119

Webster v. Reproductive Health Services, 109 S. Ct. 3040 (3057). Webster v. Reproductive Health Services, 109 S. Ct. 3040 (3058). Webster v. Reproductive Health Services, 109 S. Ct. 3040 (3061).

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die hier erforderliche Feststellung der Lebensfähigkeit des Fötus keine übermäßige Belastung des Rechtes der Frau 1 2 0 . - Votum des Richters Scalia Richter Scalia begründet seine Meinung zu diesem Fall in einem abweichenden Votum, in dem er sich dem Ergebnis, aber nicht der Begründung der Mehrheit anschließt. Er findet, daß es höchste Zeit sei, Roe ν. Wade neu zu überprüfen und er würde es noch rigoroser tun als die anderen Richter. Denn er ist der Auffassung, daß das Gericht in dieser Materie seine Kompetenz überschritten und sich unzulässigerweise in die Souveränität des Gesetzgebers eingemischt habe. Die in Roe v. Wade gelösten Konflikte seien politischer, nicht rechtlicher Natur und hätten daher nicht vom Gericht behandelt werden dürfen. Das Gericht habe sich zu seinem eigenen Schaden nur dem Druck von Interessengruppen ausgesetzt, der eigentlich bei den Politikern angebracht wäre. Scalia widerspricht auch O'Connors Auffassung von richterlicher Zurückhaltung, denn die Konfrontation mit Roe v. Wade ist seiner Ansicht nach inhaltlich unvermeidlich, so daß die weitere Umgehung des Konfliktes unverantwortlich sei 1 2 1 . - Votum der Richter Blackmun, Brennan und Marshall Die Richter Blackmun, Brennan und Marshall (denen Stevens zustimmt, ausnehmend bezüglich der Vorschrift zur Benutzung öffentlicher Einrichtungen), wenden sich vehement gegen die Interpretation der Mehrheit. Sie machen nur kurze Ausführungen zu den fraglichen Bestimmungen, die sie insgesamt für verfassungswidrig halten, und konzentrieren ihr Votum auf die Verteidigung der Konstruktion von Roe ν. Wade, die hier mehrheitlich aufgegeben worden sei. Der Kritik der Mehrheit, Roe ν. Wade ergebe sich nicht aus der Verfassung, begegnen sie mit dem Hinweis auf zahlreiche andere juristische Methoden, die schon immer vom Gericht aufgestellt worden seien, um verfassungsrechtliche Belange auszugleichen und abzuwägen. Diese Methoden seien sinnvoll, nützlich und erforderlich, um die Bandbreite der abstrakt formulierten Rechte der Verfassung abzustecken. Die Behauptung der Mehrheit, daß das Staatsinteresse an der Erhaltung des potentiellen Lebens während der gesamten Schwangerschaftsdauer zwingend sei, sei willkürlich und werde nicht begründet. Dagegen gäbe es viele Gründe

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Webster v. Reproductive Health Services, 109 S. Ct. 3040 (3061-3063). Webster v. Reproductive Health Services, 109 S. Ct. 3040 (3064-3067).

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dafür, die Entwicklung des Fötus in mehrere Etappen zu unterteilen und parallel dazu das Staatsinteresse wachsen zu lassen 122 . Zuletzt kommentieren sie den angewandten Prüfungsmaßstab, der nur feststelle, ob das Gesetz das Staatsziel erlaubtermaßen fördere. Dieser Maßstab sei neu, aber bedeutungslos, da genau dies die Frage sei, die das Gericht entscheiden solle. Er sei nicht einmal mit dem etablierten und schwächsten rational basis test vergleichbar. Wenn das Staatsinteresse am Fötus von Anfang an zwingend sei, dann sei demnach jede Maßnahme, je rigoroser desto besser, eine erlaubte Förderung dieses Staatszieles. Darauf scheine sich der Supreme Court zuzubewegen und die Staaten zu ermutigen, es auszutesten 123 . Den von der Mehrheit als Balance bezeichneten Ausgleich der Interessen halten die Richter für "reinen Unsinn" 1 2 4 . Das Gericht habe die verfassungsrechtliche Aufgabe, den Einzelnen in seiner Privatsphäre vor einem Eingriff des Staates zu schützen. Der dazu in dieser Entscheidung vorgenommene Interessenausgleich sei keine Balance, da der Schutz des Privaten fast nicht mehr vorhanden sei. - Ergebnis Mit dieser Entscheidung war von einer Mehrheit der Richter der Interessenausgleich von Roe ν. Wade als unpraktikabel aufgegeben worden, ohne daß diesem etwas Neues entgegengesetzt wurde. Die Staatsinteressen am Schutz des Fötus und der Gesundheit der Frau wurden aufgewertet, indem sie als während der gesamten Schwangerschaftsdauer gleichermaßen vorhanden angesehen werden, nicht wie zuvor als mit der Entwicklung des Fötus in ihrer Bedeutung wachsend. Welchen verfassungsrechtlichen Rang und damit auch Schutz das Entscheidungsrecht der Frau hiergegen noch hat, ist bei der Vielzahl der Meinungen unklar, für ein fundamentales Recht wird es aber nur noch von 3 Richtern gehalten. Ebenso wenig ist zu erkennen, nach welchem Prüfungsmaßstab dieses Recht zukünftig eingeschränkt werden kann. Nur noch 3 Richter (Blackmun, Brennan und Marshall) halten an dem strict scrutiny test fest, 3 Richter (Rehnquist, White und Kennedy) wählten keinen der bekannten Prüfungsmaßstäbe, sondern stellten nur fest, daß das angestrebte Staatsziel durch die gewählte Regelung gefördert werde. Richterin O'Connor wendet den undue burden test an. Scalia hat sich von der Begründung der Mehrheitsmeinung in 122

Webster v. Reproductive Health Services, 109 S. Ct. 3040 (3067-3075). Webster v. Reproductive Health Services, 109 S. Ct. 3040 (3076-3077). 124 Wörtlich heißt es "unadultered nonsense", Webster v. Reproductive Health Services, 109 S. Ct. 3040 (3076, FN 11). 123

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diesem Teil der Entscheidung distanziert, da ihm die Abkehr von Roe v. Wade nicht deutlich genug formuliert wurde, und sich somit in seiner ersten Abtreibungsentscheidung für keinen Prüfungsmaßstab explizit entschieden. Bei seiner vernichtenden Kritik an Roe ν. Wade kann für ihn jedoch nur ein rational basis test oder die neu formulierte Prüfung, ob das Staatsziel erlaubtermaßen gefördert werde, in Frage kommen. Die Reaktionen auf das Urteil waren auf beiden Seiten der Abtreibungsfrage heftig. Die pro-life Bewegung feierte einen Sieg, der zwar nicht vollständig, aber doch sehr beachtlich war. Die pro-choice Seite war erschüttert, aber versuchte aus der Niederlage neue Kraft zu gewinnen, und ihre Anhänger angesichts der drohenden Gefahren verstärkt zu mobilisieren. Es blieb nicht viel Zeit dazu, denn die nächsten Fälle waren schon zur Entscheidung angenommen.

10. Hodgson ν. Minnesota und Ohio v. Akron Center for Reproductive Law - weitere Einschränkungen der Rechte Minderjähriger - Hodgson v. Minnesota 1990 war in Hodgson ν. Minnesota 125 über ein Gesetz des Staates Minnesota zu entscheiden, das bei Minderjährigen die Benachrichtigung beider Eltern vor einer Abtreibung vorsah. In einer ersten Version sah das Gesetz keine Möglichkeit vor, das Benachrichtigungserfordernis alternativ durch ein gerichtliches Verfahren zu ersetzen. Diese Fassung wurde mit 5 zu 4 Stimmen für verfassungswidrig erklärt. Mit einer anders zusammengesetzten 5 zu 4 Mehrheit wurde aber gleichzeitig Kapitel 6, sozusagen die zweite Version des Gesetzes, für verfassungsgemäß erklärt. Kapitel 6 war vorsorglich für den Fall erlassen worden, daß die vorhergenannten Bestimmungen nicht in Kraft treten könnten. Darin wurde die Voraussetzung der Benachrichtigung beider Elternteile wie zuvor wiederholt, aber die Möglichkeit eines gerichtlichen Alternativverfahrens hinzugefügt. Auf die Benachrichtigung des zweiten Elternteils konnte nur in medizinischen Notfällen, falls der Aufenthaltsort unbekannt war oder bei Mißhandlung durch den Elternteil, die polizeilich angezeigt worden war, verzichtet werden. Eine Scheidung der Eltern, das fehlende Sorgerecht eines Elternteils oder auch die Möglichkeit, daß diese nie zusammengelebt haben, sollte dagegen keine

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Hodgson v. Minnesota, 110 S. Ct. 2926 (1990).

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Ausnahme begründen. Weiterhin sollte zwischen Benachrichtigung und Erhalt der Abtreibung eine Wartefrist von 48 Stunden eingehalten werden 1 2 6 . Auch die 48 Stunden Wartefrist zwischen Benachrichtigung und Erhalt der Abtreibung wurde für legitim gehalten. Das Gericht sah in den 48 Stunden Verzögerung nur eine minimale Belastung, die dadurch gerechtfertigt sei, daß die Eltern dadurch Zeit hätten, z.B. die medizinische Qualifikation des Arztes zu überprüfen 127 . Damit hatte das Gericht zum ersten Mal entschieden, daß Minderjährige einer zusätzlichen Wartefrist ausgesetzt werden können und auch das Benachrichtigungserfordernis beider Elternteile bei der Einrichtung eines gerichtlichen Alternativverfahrens verfassungsgemäß sei. Zwar war auch in H.L. v. Matheson die Benachrichtigung beider Elternteile erforderlich gewesen, aber das Erfordernis wurde dort durch den Zusatz "soweit möglich" wieder eingeschränkt. Hier ging es jedoch um eine strikte Voraussetzung, die Ausnahmen nur in eng begrenzten Fällen zuließ. - Ohio v. Akron Center for Reproductive Health In Ohio v. Akron Center 1 2 8 , das am selben Tag entschieden wurde, wurde das gesetzliche Benachrichtigungserfordernis eines Elternteils mit gerichtlichem Alternativverfahren von einer Mehrheit von 6 Richtern aufrecht erhalten. Das Besondere an dem Gesetz des Staates Ohio war die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens. So wurde die Anonymität der Minderjährigen nicht umfassend garantiert und die Dauer des Gerichtsverfahrens konnte im Ausnahmefall bis zu 22 Tage in Anspruch nehmen. Auch war der Vortrag der Minderjährigen vom Gericht nur dann als bewiesen anzusehen, wenn sie einen klaren und überzeugenden Beweis vorbringen konnte, welches die höchste Anforderung an Beweiskraft i s t 1 2 9 . Die Ausgestaltung wurde vom Supreme Court aber unter Anwendung des undue burden test für zulässig gehalten. Das Recht einer minderjährigen Frau, eine Abtreibung zu erhalten, wurde damit in beiden Fällen erheblich erschwert. Denn je nach familiärer, wohnlicher und finanzieller Situation können sich Auflagen wie eine besondere Wartefrist und das Benachrichtigungs- oder Einverständniserfordernis der Eltern (auch bei gerichtlichem Alternativverfahren), als gravierende Hindernisse auswirken. Der Überprüfungsmaßstab der neuen Mehrheit, die übermäßige 126 127 128 129

Hodgson v. Minnesota, 110 S. Ct. 2926 (2931-2933). Hodgson v. Minnesota, 110 S. Ct. 2926 (2944). Ohio v. Akron Center for Reproductive Health, 497 U.S. 507 (1990). Ohio v. Akron Center for Reproductive Health, 497 U.S. 507 (512-516).

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Belastung, hat in diesen Entscheidungen schwere Einschränkungen bei Minderjährigen als minimale Belastungen deklariert und so für verfassungsrechtlich unbedeutend erklärt.

11. Rust v. Sullivan - "Maulkorberlaß" für Beratungsstellen Mit diesem U r t e i l 1 3 0 hat der Supreme Court 1991 die Politik des Bundes bestätigt, die es den Familienplanungszentren der Einzelstaaten untersagte, bei geplanten Abtreibungen zu beraten. Der zwischenzeitlich zurückgetretene Richter Brennan wurde von Präsident Bush durch David Souter ersetzt. Dies war seine erste Mitwirkung an einem die Abtreibung betreffenden Fall. Zur Überprüfung standen Ausführungsvorschriften zu § 1008 des Kapitel X des Public Health Service Act. Nach Kapitel X des Public Health Service Act hat der Kongress seit 1970 Bundesmittel an öffentliche oder gemeinnützige Vereinigungen gegeben, um die Einrichtung und den Erhalt von Zentren zu unterstützen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Beratungen und andere Dienstleistungen im Bereich der Familienplanung anzubieten. § 1008 verbietet hierbei die Verwendung von Zuwendungen nach Kapitel X in Programmen, in denen Abtreibung eine Methode der Familienplanung i s t 1 3 1 . Das Bundesgesundheitsministerium hatte 1988 zu § 1008 Ausführungsregelungen erlassen, um eine klare Trennung der Finanzen für allgemeine Kapitel-X-Programme und Abtreibungen zu erreichen. Dies sollte dadurch erreicht werden, daß Familienplanung, die von Zuwendungen nach Kapitel X gefördert wurde, nur noch als präventive Familienplanung zulässig sein sollte. In der Praxis bedeutete dies, daß eine schwangere Frau in der Beratung nicht auf eine Abtreibung als mögliche Alternative zum Austragen des Kindes hingewiesen werden darf. Sogar auf ausdrückliches Anfragen der Frau darf keine Adresse oder Einrichtung genannt werden, an die sich die Frau mit ihrem Abtreibungswunsch wenden kann. Weiterhin dürfen die Empfänger der Zuwendungen nach Kapitel X sich nicht an Aktivitäten beteiligen, die es zum Ziel haben, Abtreibungen zu erleichtern, so z.B. ein lobbying für die Lockerung der gesetzlichen Voraussetzungen. Zuletzt ist eine finanzielle und organisatorische Trennung von Einrichtungen, die Abtreibungen durchführen oder sonst fördern, zu beachten. Die von dieser 130

Rust v. Sullivan, 111 S. Ct. 1759(1991). Es heißt dort "None of the funds appropriated under this title shall be used in programs where abortion is a method of family planning"; nach Rust v. Sullivan, I I I S . Ct. 1759(1762). 131

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Regelung betroffenen Familienplanungszentren machten hiergegen eine Verletzung ihrer Rechte aus dem 1. und 5. Verfassungszusatz geltend 1 3 2 . In einer vom Vorsitzenden Richter Rehnquist verfaßten Begründung, unter Zustimmung von Scalia, White, Kennedy und Souter, hielt das Gericht die Regulierung für verfassungsgemäß. Zunächst stellte es fest, daß die Ausführungsvorschriften der Verwaltung eine zulässige Interpretation darstellten, die sich im Rahmen der Rechtsgrundlage befinde. Denn die Ausführungsvorschriften begründeten nicht so schwere Zweifel an ihrer Verfassungsmäßigkeit, daß die Auslegung keinesfalls mehr vom Willen des Kongreß gedeckt sein könnte 1 3 3 . Zur Verfassungsmäßigkeit führten die Richter aus, daß die Regierung bestimmte Aktivitäten fördern könne, ohne dazu verpflichtet zu sein, eine alternative Möglichkeit auch zu unterstützen. Dies sei keine Diskriminierung auf Grund einer bestimmten Meinung, sondern lediglich die Förderung der einen Aktivität unter Ausschluß der anderen. Die Verweigerung der Förderung einer Aktivität sei nicht mit einem Verbot derselben gleichzusetzen, und daher im Rahmen der verfassungsmäßigen staatlichen Regelungsbefugnis 134 . Das Verbot der Beratung über die Möglichkeit einer Abtreibung verletze nicht das Recht auf freie Rede, da es den Angestellten nur Beschränkungen während ihrer Arbeitszeit auferlege, die sich aus der Zielrichtung und dem Rahmen der Projekte der Zentren ergeben. Es steht den Angestellten frei, sich in ihrer Freizeit über Abtreibung zu äußern oder sich dafür zu engagieren 135 . Ebensowenig sei das Entscheidungsrecht der Frau aus dem 5. Verfassungszusatz verletzt 1 3 6 , da die due process clause kein positives Recht auf staatliche Hilfe gewährt. Auch das Recht der Frau auf Information ohne staatliche Einflußnahme, welches Voraussetzung für die Ausübung ihres Entscheidungsrechtes ist, werde nicht verletzt, denn es stehe ihr frei, sich in anderen Einrichtungen über Abtreibungsmöglichkeiten zu informieren. Im Gegensatz dazu seien die Beschränkungen in den Fällen Akron v. Akron Center 1 3 7 und Thornburgh v. American College 1 3 8 so gelagert gewesen, daß jede Frau bestimmte Infor132

Rust v. Sullivan, I I I S . Ct. 1759 (1762). Rustv. Sullivan, I I I S . Ct. 1759(1767-1771). 134 Rust v. Sullivan, I I I S . Ct. 1759 (1772). 135 Rust v. Sullivan, I I I S . Ct. 1759 (1775). 136 Da sich die Klage hier gegen ein Handeln des Bundes richtet, ist der 5. Verfassungszusatz Grundlage des Entscheidungsrechtes der Frau; darin wird wortgleich zum 14. Verfassungszusatz (das sich speziell an die Einzelstaaten richtet) das Recht auf Freiheit im Rahmen der due process clause geschützt. 137 Akron v. Akron Center, 462 U.S. 416 (423). 138 Thornburgh ν. American College, 476 U. S. 747 (1986). 133

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mationen erhalten mußte, bzw. jeder Arzt bestimmte Informationen weitergeben mußte 1 3 9 . Richter Blackmun verfaßte eine abweichende Meinung, deren erstem Teil Marshall und O'Connor zustimmen. Er führt darin aus, daß Bundesgesetze von der Verwaltung möglichst so ausgelegt werden sollen, daß verfassungsrechtliche Probleme vermieden werden. Die Interpretation des Ministeriums werfe in mehrfacher Hinsicht verfassungsrechtliche Bedenken auf und ergebe sich nicht zwingend aus Text oder Geschichte von § 1008. Daher erfolgte sie ohne eine ausreichende gesetzliche Rechtsgrundlage und sei unwirksam 1 4 0 . Eine weitergehende verfassungsrechtliche Prüfung der Regelung des Ministeriums ergibt sich bei dieser Argumentation nicht. Da Blackmun aber zu den von der Mehrheit angesprochenen Verfassungsproblemen eine andere Meinung vertritt, macht er auch hierzu Ausführungen in einem zweiten Teil, dem Marshall und Stevens zustimmen. Im Ergebnis sieht er auch die Ausführungsvorschriften als verfassungswidrig an. Nicht nur wegen der Verletzung des Rechts auf freie Rede, sondern vor allem wegen der Auswirkungen auf das Entscheidungsrecht der Frau über eine Abtreibung. Dieses Entscheidungsrecht müsse von der Frau ohne staatliche Einflußnahme wahrgenommen werden können. Dies sei aber nicht möglich, wenn Informationen aus ideologischen Gründen unterdrückt würden 1 4 1 . Das Gericht hat mit dieser Entscheidung das Recht der Frau auf Entscheidungsfreiheit in der Abtreibungsfrage erneut eingeschränkt. Nunmehr durften in öffentlichen Einrichtungen Abtreibungen nicht nur nicht durchgeführt, sondern auch nicht mehr erwähnt werden. Die direkte Konfrontation mit Roe ν. Wade wurde jedoch vermieden, indem feine Unterschiede zu vorhergehenden Entscheidungen aufgezeigt werden, die das unterschiedliche Ergebnis rechtfertigen sollen.

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Rust v. Sullivan, I I I S . Ct. 1759 (1777). Rust v. Sullivan, I I I S . Ct. 1759 (1778-1780). Rust v. Sullivan, I I I S . Ct. 1759 (1780-1786).

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12. Planned Parenthood v. Casey Rettung oder Aufgabe von Roe v. Wade? In Planned Parenthood v. Casey 1 4 2 befaßte sich der Supreme Court noch einmal ausdrücklich und grundsätzlich mit dem verfassungsrechtlichen Rahmen bezüglich des Schwangerschaftsabbruchs. Der Fall erreichte eine sehr hohe Publizität und Beteiligung, denn die pro-choice Bewegung fürchtete wegen der erneuten Besetzungsveränderung eine endgültige Aufgabe von Roe ν. Wade, während die pro-life Seite auf die Durchsetzung des rational basis test hoffte 1 4 3 . Seit Webster v. Reproductive Health Services waren zwei Richter neu hinzugekommen. Richter Souter hatte schon in Rust v. Sullivan für eine Beschränkung des Abtreibungsrechtes gestimmt. 1991 wurde Richter Marshall von Präsident Bush durch Clarence Thomas ersetzt. Dem Fall liegt ein Gesetz des Staates Pennsylvania aus dem Jahre 1990 zugrunde. Die Berufungsentscheidung erging am 21. Oktober 1991, so daß bei Ausschöpfung aller Fristen die Entscheidung vom Supreme Court erst nach den Präsidentschaftswahlen 1992 gefallen wäre 1 4 4 . Aber die Anwälte der Klägerseite schafften es, innerhalb von 3 Wochen ihre Berufungsschrift zu verfassen, so daß die mündliche Verhandlung im April 1992 und die Entscheidung im Juni 1992 ergehen konnte, rechtzeitig um die bevorstehenden Wahlen zu beeinflussen 145 . Am 29. Juni 1992 bestätigte der Supreme Court in Planned Parenthood v. Casey mit 5 zu 4 Stimmen, daß eine Frau bis zur Lebensfähigkeit des Fötus das Recht hat, über eine Abtreibung zu entscheiden. Der Gerichtshof entzog diesem Recht jedoch nunmehr die Einstufung als fundamental und die damit verbundene Überprüfung nach dem strict scrutiny test wurde durch einen undue burden test ersetzt. Wegen der starken Zersplitterung innerhalb des Gerichtes (es wurden 5 Meinungen für das Urteil verfaßt) kann man jedoch schlecht von einer wirklichen Mehrheitsmeinung oder Meinung des Gerichtes sprechen.

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Planned Parenthood v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (1992); eine auszugsweise deutsche Übersetzung von Bettina Zimmermann ist in EuGRZ 1992, S.494-504. 143 Siehe Brief Of National Right To Life, in: Leon Friedman (Hrsg.), The Supreme Court Confronts Abortion; New York 1993, S.259-282 (280, 281). 144 Für die Berufung besteht eine Frist von 90 Tagen, bei deren Ausnutzung der Supreme Court erst Ende Januar 1992 über die Annahme entschieden hätte; Fälle die später als im Januar zur Entscheidung angenommen werden, werden normalerweise nicht mehr im selben Kalenderjahr gehört oder entschieden; siehe dazu Friedman, S.l2. 145 Friedman, S.12.

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Überprüft wurde der Pennsylvania Abortion Control Act. Dieser schrieb die Erfüllung mehrerer Erfordernisse vor der Durchführung einer Abtreibung vor: - Ärzte müssen die Frau über die Risiken und Alternativen einer Abtreibung informieren und anschließend 24 Stunden warten, bis sie die Abtreibung durchführen. - Frauen unter 18 Jahren brauchen die Einverständniserklärung eines Elternteiles oder eines Richters. - verheiratete Frauen müssen ihren Ehemann von einer bevorstehenden Abtreibung informieren. - Ärzte müssen bestimmte Informationen an den Staat weiterleiten, so z.B. ob der Fötus lebensfähig war. - eine Ausnahme zu den Vorschriften ist nur dann möglich, wenn eine akute Lebens- oder Gesundheitsgefahr für die Frau besteht. In der Vorinstanz waren sämtliche Erfordernisse - bis auf die Benachrichtigung des Ehemannes - mit dem Hinweis darauf für verfassungsgemäß erklärt worden, daß der Standard von Roe ν. Wade vom Supreme Court in Webster v. Reproductive Health Services aufgegeben worden sei. Der Supreme Court bestätigte in seinem Urteil im Ergebnis die Entscheidung der Vorinstanz. - Votum der Richter O'Connor, Kennedy undSouter Die drei Richter O'Connor, Kennedy und Souter verfaßten eine gemeinsame Begründung, die zur Mehrheitsmeinung wurde, da sich die Richter Blackmun und Stevens dem Ergebnis insoweit anschlossen, als das Einverständniserfordernis des Ehemannes für verfassungswidrig erklärt wurde, während die übrigen vier Richter Rehnquist, Scalia, White und Thomas dem Ergebnis in den Teilen zustimmten, in denen das Gesetz des Staates Pennsylvania aufrecht erhalten wurde. Die Urteilsbegründung des Gerichts beginnt mit dem Hinweis, daß das Herzstück von Roe ν. Wade ausdrücklich bestätigt werde und daß auch in Zukunft daran festgehalten werden soll. Wegen der zunehmend umstrittenen Interpretation der letzten Entscheidungen des Supreme Court bei den unteren Gerichten, die Roe ν. Wade zum Teil für aufgehoben halten, sieht sich das Gericht veranlaßt, die tragenden Grundsätze seiner Haltung zur Abtreibung noch einmal zu verdeutlichen 146 . Als Kern der Entscheidung, die in diesem Urteil bestätigt werden soll, sehen die drei Richter das Recht der Frau, über eine Abtreibung vor Lebensfähigkeit des Fötus zu entscheiden und diese auch ohne unbillige staatliche Einmischung 146

PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2803-2804).

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durchführen zu lassen. Vor dem Zeitpunkt der Lebensfähigkeit sei das Staatsinteresse nicht stark genug, um ein absolutes Verbot zu begründen, aber danach sei auch dies möglich, solange Ausnahmeregelungen zum Lebens- und Gesundheitsschutz der Frau gemacht würden. Der Staat habe während der gesamten Schwangerschaftsdauer ein legitimes Interesse am Schutz der Gesundheit der Frau und des Lebens des Fötus 1 4 7 . Die Richter bestätigen dann noch einmal die Herkunft des Rechtes aus dem Freiheitsrecht in Verbindung mit der due process clause des 14. Verfassungszusatzes 148 . Die Aufgabe des Gerichtes bei der Interpretation des Freiheitsbegriffes sei es nicht, die eigenen moralischen Maßstäbe anzulegen, sondern die Freiheit aller zu definieren. Die dem Abtreibungskonflikt zu Grunde liegende verfassungsrechtliche Frage sei hierbei, ob ein Staat die moralische Frage so entscheiden dürfe, daß für die Frau keine Entscheidungsmöglichkeit mehr verbleibe. Von dem Freiheitsrecht geschützt seien Entscheidungen, die auf einer sehr privaten Ebene stattfinden und von persönlichen Überzeugungen im Bereich der Philosophie und des Glaubens geprägt sind. Vom Einzelnen zu beantwortende Fragen bezüglich der Bedeutung des Universums oder des Geheimnisses menschlichen Lebens könnten nicht Ausdruck der eigenen Persönlichkeit sein und diese zugleich formen, wenn sie unter staatlicher Bevormundung stünden. 149 Aber auch wenn die Entscheidung über eine Abtreibung höchstpersönlicher Natur sei, so seien doch die Konsequenzen für andere nicht zu vergessen: für die Ärzte, die potentiellen Väter oder andere Personen aus dem sozialen Umfeld der Schwangeren, sowie die Gesellschaft als Ganzes, die die Tatsache, daß Abtreibungen erlaubtermaßen stattfinden, akzeptieren müsse. Das Ausmaß, in dem staatliche Gesetzgebung das Interesse der Frau einschränken kann, werde seit Roe ν. Wade kontrovers debattiert 150 . Das Gericht erkenne zwar die Argumente der Staaten an, die Roe ν. Wade gerne aufgehoben sähen, aber dem stünde die soeben dargelegte Auffassung von Freiheit und die Bindungswirkung der Vorentscheidungen (stare decisis D o k t r i n 1 5 1 ) entgegen. Eine Aufgabe der vorherigen Rechtsprechung sollte nach dem Prinzip der stare decisis nur dann erfolgen, wenn sie sich als unbrauchbar erwiesen hätte. Dies sei bei Roe v. Wade - trotz aller Kritik - nicht der F a l l 1 5 2 . Vergleiche mit 147 148 149 150 151

PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2804). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2804). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2806-2807). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2807-2808). Zur Entwicklung und Bedeutung der stare decisis Doktrin siehe Blumenwitz,

S.22 ff.. 152

9 Moors

PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2809).

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Fällen, in denen das Gericht eine bestimmte Rechtsprechung aufgegeben hatte (Adkins 1 5 3 durch West Coast H o t e l 1 5 4 und Plessy 155 durch B r o w n 1 5 6 ) zeigten, daß das Gericht zu einem veränderten Verständnis der Fakten gekommen war. Sie bedeuteten nicht den Sieg einer bestimmten verfassungsrechtlichen Doktrin über eine andere, sondern seien Ausdruck der Anwendung verfassungsrechtlicher Normen auf eine veränderte Sicht der Tatsachen. Bezüglich Roe ν. Wade hätten sich weder die Fakten noch das Verständnis der Fakten durch das Gericht geändert 157 . Eine Änderung der Rechtsprechung wäre aber nicht nur unbegründet, sondern dazu noch schädlich. Die Akzeptanz des Gerichtes in der Bevölkerung begründe sich darauf, daß die Entscheidungen auf juristischen Prinzipien basierten und keine Kompromisse auf Grund gesellschaftlichen oder politischen Drucks seien. Ein zu häufiger Gebrauch der Veränderung der Rechtsprechung würde die Glaubwürdigkeit des Gerichtes strapazieren. Die Korrektur vorhergehender Entscheidungen könne nur dann anerkannt werden, wenn zwingende Gründe dafür bestünden. Sonst stelle sich die Aufgabe der Rechtsprechung lediglich als Unterwerfung unter politischen Druck dar und würde das Ansehen des Gerichtes nicht stärken, sondern im Gegenteil vermindern 158 . Nach diesen generellen Ausführungen zum Freiheitsbegriff und zum Prinzip des stare decisis kommt das Gericht zu seiner Einschätzung des konkreten Rechtes der Frau, über eine Abtreibung zu entscheiden. Diese Entscheidung sei nach Meinung des Gerichtes bis zum Zeitpunkt der Lebensfähigkeit des Fötus ein verfassungsrechtlich geschützter Teil der Freiheit. Obwohl die Stufenregelung aus Roe ν. Wade nicht beibehalten werde, solle am Zeitpunkt der Lebensfähigkeit festgehalten werden. Dies zum einen wegen der stare decisis Doktrin, zum anderen habe sich dieser Zeitpunkt in der 153

Adkins v. Children's Hospital of D.C., 261 U.S. 525 (1923); das Gericht hielt hier das gesetzliche Erfordernis von Minimallohngarantien für Frauen für eine verfassungsrechtlich unzulässige Beschränkung des Rechtes auf Vertragsfreiheit. 154 West Coast Hotel v. Parrish, 300 U.S. 379 (1937); mit dieser Entscheidung wurde die vorherige Interpretation von Vertragsfreiheit wieder eingeschränkt und staatliche Regulierungen zum Schutz der Arbeitnehmer für zulässig gehalten. 155 Plessy v. Ferguson, 163 U.S. 537 (1896); die staatliche Segregationspolitik wurde nicht als Verstoß gegen die equal protection clause geahndet, da das Gericht durch die "separate but equal" Doktrin die Unterbringung in gesonderten Abteilen der öffentlichen Verkehrsmittel per se nicht diskriminierend fand. 156 Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 (1954); Aufgabe der "separate but equal" Doktrin und Anerkennung durch das Gericht, daß die Segregation eine Diskriminierung der Farbigen darstellt. 157 PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2812-2814). 158 PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2815-2816).

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Praxis bewährt. Die Lebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Mutterleibes verdeutliche, daß es sich nunmehr um ein zweites, eigenständiges Leben handele, dessen Schutz der Staat auch gegen die Interessen der Frau übernehmen könne 1 5 9 . Auch wenn die Frau in ihrer Entscheidungsfreiheit geschützt sei, so könne der Staat trotzdem Regelungen erlassen, die zum Ziel haben, daß sie eine informierte Entscheidung treffe. Diese Regelungen wären zwar nach der rigiden Stufenregelung von Roe ν. Wade nicht zulässig, aber das Verbot jeder Maßnahme zum Schutz des Fötus vor Lebensfähigkeit werde den gegeneinander abzuwägenden Interessen nicht gerecht. Nicht jedes Gesetz, das die Ausübung des Rechtes erschwere, so z.B. die Kosten einer Abtreibung erhöhe oder die Abtreibungsmöglichkeiten vermindere, sei deswegen verfassungswidrig 160 . Wegen des Staatsinteresses am Schutz des ungeborenen Lebens seien nicht alle staatlichen Regulierungen einer Abtreibung, die diesen Schutz zum Ziel haben, unzulässig. Nach Meinung der drei Richter sei der undue burden Standard, d.h. es darf keine übermäßige Belastung erfolgen, das beste Mittel, um das Interesse des Staates und die verfassungsrechtlich geschützte Freiheit der Frau zum Ausgleich zu bringen. Eine übermäßige Belastung sei demnach gegeben, wenn die Regelung den Zweck oder die Wirkung hat, der Entscheidung einer Frau über eine Abtreibung ein substantielles Hindernis entgegenzusetzen161. Danach wendet das Gericht sich den konkret zu überprüfenden Normen zu. - Definition des medizinischen Notfalles Gegen die Definition des medizinischen Notfalles in § 2303 des Pennsylvania Abortion Control A c t 1 6 2 wurde vorgebracht, daß bestimmte Formen von Notfällen nicht erfaßt werden. Das Gericht der 1. Instanz befand die Definition daher für verfassungswidrig, während das Berufungsgericht sie in einer verfassungsgemäßen Form so auslegte, daß alle medizinischen Notfälle, die eine Gesundheitsgefahr für die Frau darstellen, umfaßt seien. Der Supreme Court Schloß sich dieser letzten Interpretation an und befand die Vorschrift daher für verfassungsgemäß.

159

PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2816-2817). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2818-2820). 161 PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2820). 162 Ein medizinischer Notfall liegt nach dem Gesetz vor, wenn ein Zustand eintritt, der "on the basis of the physician's good faith clinical judgement, so complicates the medical condition of a pregnant woman as to necessitate the immediate abortion of her pregnancy to avert her death or for which a delay will create serious risk of substantial and irreversible impairment of major bodily function"; nach PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2822). 160

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- Informationspflicht Nach § 3205 des Pennsylvania Abortion Control Act muß der Arzt die Frau mindestens 24 Stunden vor der Abtreibung über den Vorgang informieren, die Gesundheitsrisiken von Abtreibung und Geburt erläutern und das wahrscheinliche Alter des Fötus bestimmen. Des weiteren soll er auf erhältliches staatliches Informationsmaterial hinweisen, das Adressen von Adoptionsstellen enthält, sowie allgemeine Informationen zum Fötus, finanzielle Hilfen des Staates bei der Geburt u.a.m.. Die Richter sehen in dieser Vorschrift keine übermäßige Belastung des Entscheidungrechtes der Frau. Die Abgabe bestimmter Informationen an die Frau diene ihrer Meinung nach dem Gesundheitsinteresse der Frau. Ihre Entscheidung falle nach Erhalt der Informationen überlegter aus. Damit werde vorgebeugt, daß sie psychologische Schäden erleide, falls sie später Tatsachen erführe, die ihre Entscheidung vielleicht beeinflußt hätten und ihr zu dem damaligen Zeitpunkt nur nicht bekannt waren 1 6 3 . - Wartefrist Die mit der Abgabe der Informationen verbundene Wartefrist von mindestens 24 Stunden diene ebenfalls diesem Staatsinteresse, da eine gewisse Zeit der Reflektion erforderlich sei, um eine überlegte Entscheidung zu treffen. Fraglich sei hierbei jedoch, ob nicht die Wartefrist ein substantielles Hindernis darstellen könne. Für Frauen, die nicht in der Nähe einer Abtreibungsklinik wohnen, könne die Warteperiode eine Verzögerung von mehr als 24 Stunden bedeuten, da sie zweimal anreisen müßten, höhere Kosten entstünden und sie ihre Abwesenheit beim Arbeitgeber, der Familie oder anderen Personen erklären müßten. Diese Schwierigkeiten seien zwar beunruhigend, aber sie stellten keine übermäßige Belastung d a r 1 6 4 . - Einverständniserklärung

des Ehemannes

Nach § 3209 ist vorgesehen, daß - außer in medizinischen Notfällen - eine verheiratete Frau nur dann eine Abtreibung vornehmen lassen kann, wenn sie eine schriftliche Erklärung vorlegt, daß sie ihren Ehemann über ihre Absicht informiert hat. Eine Ausnahme hiervon ist dann möglich, wenn sie schriftlich erklärt, daß sie nicht von ihrem Ehemann schwanger wurde, dieser nicht aufzufinden ist, die Schwangerschaft auf Grund einer polizeilich gemeldeten Vergewaltigung in der Ehe entstand oder daß sie glaubt, eine Benachrichtigung

163 164

PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2822-2824). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2825-2826).

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brächte sie in die Gefahr körperlicher Mißhandlung durch ihren Ehemann oder andere Personen. Das Gericht der ersten Instanz hörte hierzu eine Reihe von Experten, die unter anderem folgende Einschätzungen zu dem Erfordernis gaben: Jedes Jahr werde in den USA in ca. 2 Millionen Familien Gewalt angewandt. Diese Zahl sei niedrig geschätzt, da Familienmitglieder normalerweise zurückhaltend seien, sich in diesen Fällen des Mißbrauchs gegenüber anderen, insbesondere staatlichen Stellen, zu öffnen. Selbst gegenüber Ärzten gäben geschlagene Frauen diese Tatsache häufig nicht zu, da sie es sich selbst nicht eingestehen möchten. Frauen aller sozialen Schichten könnten davon betroffen sein. Körperliche Gewalt sei dabei nur eine offensichtliche Form des Mißbrauchs, der auch durch psychologischen Zwang erfolgen könne und durch die soziale und ökonomische Abhängigkeit der Frauen fortgesetzt werde 1 6 5 . Das Gericht sah sich durch diese Information in seiner eigenen Einschätzung bestätigt, daß zwar die Mehrheit der Ehefrauen - nämlich diejenigen in funktionierenden Ehegemeinschaften - eine Abtreibung mit ihrem Ehemann besprechen würde, aber daß ebenso Millionen von Frauen die Opfer von regelmäßiger - physischer oder psychischer - ehelicher Gewalt seien und daher sehr gute Gründe dafür haben mögen, ihrem Ehemann nicht von einer Abtreibung zu berichten. Die Ausnahmeregelung des § 3209 sei unzulänglich, da von dem Benachrichtigungserfordernis nur unter eng definierten Umständen abgesehen werde. So sei die Benachrichtigung zwar im Falle der Gefahr einer körperlichen Mißhandlung nicht erforderlich, aber diese Ausnahme könnte von denjenigen Frauen nicht angewandt werden, die psychologischen Mißbrauch befürchten, so z.B. daß ihre Absicht von dem Ehemann an andere Personen weitererzählt werde, oder daß dieser finanziellen oder emotionalen Druck auf sie oder die Kinder ausübe. Unzulänglich sei auch die Ausnahme, daß eine Benachrichtigung entbehrlich sei, wenn die Schwangerschaft auf sexuellem Mißbrauch in der Ehe beruht und dies von der Frau innerhalb von 90 Tagen angezeigt wurde. Zwar seien Vergewaltigung in der Ehe oder Geschlechtsverkehr aus Angst vor Schlägen häufig, aber meistens würde dies nicht polizeilich angezeigt. Daher könnten sich viele Frauen - auch wenn sie Opfer sexueller Gewalt in der Ehe geworden waren - auf diese Ausnahmeregelung nicht berufen 166 . Das Erfordernis der Benachrichtigung des Ehemannes sei daher geeignet, einer Reihe von Frauen die Entscheidung über eine Abtreibung nicht nur zu

165 166

PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2826-2828). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2828-2829).

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erschweren, sondern ganz unmöglich zu machen. Es handele sich daher um ein substantielles Hindernis 1 6 7 . Dieser Einschätzung stehe der Einwand der Klagegegner nicht entgegen, daß nur ca. 1 % der Frauen, die eine Abtreibung suchen, von der Regelung betroffen wären und es daher für die meisten Frauen überhaupt keine Belastung darstelle. Denn für die Prüfung, ob eine übermäßige Belastung vorliege, höre die Analyse nicht bei dem einem Prozent der von der Regelung betroffenen Frauen auf, sondern sie beginne gerade h i e r 1 6 8 . Der Ehemann habe zwar ein Interesse an der Schwangerschaft seiner Frau und der Entwicklung des Fötus, dem der Staat Pennsylvania hier durch das Benachrichtigungserfordernis Rechnung zu tragen versuche. Vor der Geburt sei die Frau jedoch unvergleichlich mehr von einer Schwangerschaft betroffen und daher überwiege ihr Freiheitsinteresse jedenfalls alle möglichen Interessen des potentiellen Vaters 1 6 9 . Im Ergebnis sei das Benachrichtigungserfordernis des Ehemannes daher wegen der übermäßigen Belastung des Rechtes der Frau als verfassungswidrig zu werten. - Zustimmungserfordernis

eines Elternteils

bei Minderjährigen

Das Zustimmungserfordernis eines Elternteils bei Minderjährigen vor einer Abtreibung hält das Gericht für verfassungsgemäß, da die Möglichkeit bestehe, die Zustimmung in einem gerichtlichen Verfahren ersetzen zu lassen 170 . - Datensammlung Die Vorschrift bezüglich der Datensammlung bei Abtreibungen hält das Gericht ebenso für verfassungsgemäß, da die Vertraulichkeit der Patienten gewahrt sei und die Datensammlung als Grundlage der medizinischen Forschung zum Gesundheitsschutz der Frauen begründet sei. Demgegenüber sei die möglicherweise dadurch eintretende geringfügige Kostensteigerung kein substantielles Hindernis 1 7 1 . Die drei Richter halten demnach alle Vorschriften, mit Ausnahme des Benachrichtigungserfordernisses des Ehemannes, für verfassungsgemäß.

167 168 169 170 171

PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2829). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2829). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2830-2831). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2832). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2832-2833).

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- Votum des Richters Blackmun Richter Blackmun schließt sich dem Urteil zum Teil an, aber er hält nicht nur - wie die Mehrheitsmeinung - das Benachrichtigungserfordernis des Ehegatten, sondern alle fünf Regelungen des Staates Pennsylvania für verfassungswidrig. Dies ergibt sich, da er der Neuschöpfung des Gerichtes, dem undue burden test, nicht zustimmt, sondern sowohl an der Trimester Regelung von Roe ν. Wade, als auch an dem strict scrutiny Standard festhält 172 . - Votum des Richters Stevens Richter Stevens stimmt mit der Mehrheitsmeinung überein, daß das stare decisis Prinzip eingehalten und der Kern von Roe ν. Wade nicht aufgegeben werden soll. Er spricht zudem aus, was in der Mehrheitsmeinung implizit enthalten sei, nämlich daß ein Fötus noch keine Person sei und daher auch keinen Rechtsschutz aus der Verfassung genieße 173 . Er distanziert sich von der Mehrheitsmeinung jedoch bezüglich der Staatsinteressen zum Schutz des potentiellen Lebens, die er nur dann anerkennt, wenn sie nicht religiösen Ursprungs seien 1 7 4 . Der Staat solle nicht seine eigenen Vorstellungen durchsetzen können, wenn eine Frau eine persönliche Entscheidung treffen müsse. Daher kommt er zu dem Ergebnis, daß die 24Stunden Wartefrist und die staatliche Informationspflicht verfassungswidrig seien 1 7 5 . - Votum des Richters Rehnquist Der Vorsitzende Rehnquist, dem Scalia, Thomas und White zustimmen, hält sämtliche Regulierungen des Gesetzes von Pennsylvania für verfassungsgemäß. Er meint, daß Roe ν. Wade trotz des stare decisis Prinzips hätte aufgehoben werden sollen, da es eine falsche Entscheidung gewesen sei. Im Ergebnis bekräftigt er die Ergebnisse der Webster-Entscheidung, daß das Entscheidungsrecht der Frau ein Freiheitsinteresse sei, welches zwar unter die due process clause falle, aber durch rationale Staatsinteressen eingeschränkt werden könne176.

172 173 174 175 176

PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2844-2855). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2838-2839). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2839). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2840-22843). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2855-2873).

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- Votum des Richters Scalia Scalia stellt in seinem abweichenden Votum, dem Rehnquist, White und Thomas zustimmen, fest, daß die Entscheidung einer Frau über eine Abtreibung keine von der Verfassung geschützte Freiheit sei. Scalia erkennt zwar an, daß die Abtreibungsentscheidung für eine Frau sehr wichtig sei, aber für die Frage, ob diese Entscheidung unter den Freiheitsbegriff des 14. Verfassungszusatzes falle und damit Verfassungsschutz genieße, komme es darauf an, ob sie in der Verfassung spezifiert, bzw. genannt sei oder ob die Tradition der amerikanischen Gesellschaft einem Abtreibungsverbot entgegenstehe. Nach dieser engen historischen und wörtlichen Auslegung des Verfassungstextes sei die Abtreibungsentscheidung nicht geschützt und könne daher nach dem Prüfungsmaßstab mit dem niedrigsten Erfordernis, dem rational basis test, d.h. bei einem vernünftigen Staatsinteresse eingeschränkt werden. Nach diesem Standard hätte das Gesetz vollständig erhalten bleiben können177. Scalia kritisiert weiterhin, daß es sich bei dem Urteil nicht um eine von der Vernunft vorgegebene Lösung handele. Beide Positionen, die von pro-life (d.h. einen Fötus als menschliches Leben anzuerkennen) und die gegenteilige von pro-choice (d.h. Vorrang des Entscheidungsrechtes der Frau) seien gleichermaßen Wertentscheidungen und könnten demnach verschieden beurteilt werden. Es sei keine juristische Entscheidung, der einen oder anderen Position mehr Gewicht beizulegen, sondern eine politische 178 . An der Mehrheitsmeinung kritisiert er insbesondere, daß sich diese fälschlicherweise auf das stare decisis Prinzip beriefen, da eine Reihe von Vorentscheidungen nunmehr aufgehoben seien. So sei die Bestimmung, daß eine Frau bestimmte Informationen vor einer Abtreibung erhalten müsse, die 24-Stunden Wartefrist oder die Datensammlung nach der bisherigen Rechtsprechung unzulässig gewesen, nunmehr jedoch erlaubt 1 7 9 . Auch hielt er die Annahme für anmaßend, daß das Gericht in der Abtreibungsfrage die Kontroverse durch eine auf der Verfassung basierende Lösung beenden könne. Die Kontroverse sei schon durch Roe nicht gelöst, sondern verstärkt worden, denn die Entscheidung habe die Möglichkeit der Kompromißfindung auf der Staatenebene zerstört. Er sieht auch in diesem Urteil keine Möglichkeit, die Abtreibungsdebatte zu beruhigen, sondern gerade das Gegenteil, eine nicht endende Auseinandersetzung, werde provoziert. Diese werde 177 178 179

PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2873-2875). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2875). PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2881)

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noch dadurch verstärkt, daß das Gericht wiederum ftlr das ganze Land entschieden habe, anstatt regionale Unterschiede zu akzeptieren und die Parlamente gewähren zu lassen, die für diese demokratische und politische Auseinandersetzung gerüstet seien 1 8 0 . - Ergebnis Trotz der in der Urteilsbegründung von Richterin O'Connor betonten Kontinuität der Rechtsprechung wurden - wie in dem Votum von Richter Scalia aufgeführt - mit dieser Entscheidung wesentliche Merkmale der bisherigen Rechtsprechung aufgehoben. Die Stufenregelung von Roe hatte es bisher ermöglicht, dem Gesetzgeber klare Grenzen zu setzen. Nunmehr wurde allein der Zeitpunkt der Lebensfähigkeit des Ungeborenen als zeitliche Grenze beibehalten. Vor diesem Zeitpunkt ist jede Beschränkung zulässig, die keine übermäßige Belastung darstellt. Der undue burden test macht es erforderlich, jede staatliche Regelung auf die damit einhergehende tatsächliche Belastung des Rechts der Frau zu überprüfen. Welche Belastung vom Gericht zukünftig als unzumutbar angesehen wird, ist aus der Definition der undue burden als "substantielles Hindernis" nicht zu erkennen. Daher wird das Gericht voraussichtlich über eine Fülle von Gesetzen entscheiden müssen, die die Abtreibung durch prozedurale Erfordernisse erschweren. Die Stufenregelung hatte es durch die zeitliche Vorgabe vermieden, jede Regelung im Detail überprüfen zu müssen 181 . Bei einer konsequenten Anwendung hätte das Thema Abtreibung nicht immer wieder von Neuem vom Gericht entschieden werden müssen. Diese Möglichkeit hat das Gericht mit dem undue burden test nicht, da dessen Grenzen für die Gesetzgeber nicht erkennbar sind. Die Aufgabe der Einstufung des Entscheidungsrechtes der Frau als "fundamental" erfolgte zwar nicht ausdrücklich, aber ist implizit in dem Wechsel zum undue burden test enthalten. Bei einem fundamentalen Recht war nach der bisherigen Rechtsprechung jede Einschränkung des Rechtes nach dem strict scrutiny test zu messen. Die Mehrheit argumentiert zwar, daß ein Recht auch nach der bisherigen Rechtsprechung erst ab einer gewissen Intensität des Eingriffs als verletzt anzusehen war. Der undue burden test könnte danach als eine Art Vorprüfung gesehen werden, ob das in Roe garantierte Recht verletzt werde. Richter Scalia wies in seinem Votum jedoch auf einen erheblichen Unter180

PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2882-2885). Selbst Richter Scalia bemerkte in seinem Votum, daß die Stufenregelung von Roe möglicherweise der einzige Grund sei, der es der Mehrheit erlaube zu behaupten, daß Roe sich in der Praxis bewährt habe und daher wegen der stare decisis Doktrin daran festgehalten werden solle; PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2881). 181

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schied zu der bisherigen Rechtsprechung hin. Zwar verletze eine Regelung ein fundamentales Recht dann nicht, wenn die Einschränkung nur inzident erfolgt, d.h. nicht Zweck des Gesetzes ist. Bei den die Abtreibung regelnden Gesetzen handele es sich aber um die direkte Beschränkung des Entscheidungsrechtes der Frau. Vergleichbar wäre es, wenn der Kauf eines religiösen Buches erst nach einer 24-Stunden Wartefrist zulässig wäre, und das Gericht vor einer Prüfung, ob die Religionsfreiheit verletzt sei, erst prüfe, ob diese Regelung eine übermäßige Belastung des Rechtes sei. Sehr deutlich werden in dem Casey-Urteil auch die unterschiedlichen Vorstellungen der Richter über die Rolle des Gerichts im Verhältnis zum Gesetzgeber. Die Richter O'Connor, Kennedy und Souter haben auf den ersten Blick mit dem undue burden test eine zurückhaltendere Rolle als bisher eingenommen, da sie dem Gesetzgeber mehr Freiraum in der Gestaltung des Abtreibungsrechtes überlassen. Diese Zurückhaltung ist jedoch nur durch das Ergebnis zu rechtfertigen, nicht durch die Definition der Aufgabe des Gerichtes, so wie sie selbst diese geben. In dem Votum heißt es: "Where, in the performance of its judicial duties, the Court decides a case in such a way as to resolve the sort of intensely divisive controversy reflected in Roe..., its decision has a dimension that the resolution of the normal case does not carry. It is the dimension present whenever the Court's interpretation of the Constitution calls the contending sides of a national controversy to end their national division by accepting a common mandate rooted in the constitution." 182 Die Richter sehen ihre Aufgabe demnach auch darin, in Streitfragen, die die Nation spalten, im Hinblick auf die Verfassung einen nationalen Konsens zu ermöglichen. Ob ihnen dies gelungen ist, soll in der Schlußbetrachtung bewertet werden. Daß sie sich überhaupt der Streitfrage um die Abtreibung annehmen, liegt in ihrer Interpretation von Freiheit der due process clause begründet. Sie orientieren sich zur Bestimmung der verfassungsrechtlich garantierten Freiheiten nicht nur an der Bill of Rights und beschränken die Rechte auch nicht auf jene, die zum Zeitpunkt der Verfassungsentstehung garantiert waren. Die Richter Blackmun und Stevens stimmen dem Votum von O'Connor, Kennedy und Souter in dem Teil zu, in dem die oben zitierte Aussage enthalten ist, daß das Gericht in bestimmten Fällen von übergeordneter Wichtigkeit als nationaler Konfliktloser berufen sei. Auch ihre Argumentation zum Entscheidungsrecht ist vergleichbar, das Recht wird von ihnen jedoch in der Abwägung mit entgegenstehenden Staatsinteressen stärker gewichtet.

182

PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2815).

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Ein diametral zu dieser Auffassung stehendes Verständnis von der Aufgabe des Gerichtes wird in den Voten der Richter Rehnquist, Scalia, White und Thomas deutlich. Diese Richter sprechen der Entscheidung einer Frau über eine Abtreibung keinen verfassungsrechtlichen Schutz zu. Ihre Form der Verfassungsauslegung, die sich an einer engen wörtlichen und historischen Interpretation des Freiheitsbegriffes orientiert, gibt dem Gericht wesentlich weniger Möglichkeiten, Streitfragen zu entscheiden. Richter Scalia zitiert aus den Federalist Papers, um seine Aufgabe als Richter aus der Entstehungsgeschichte der Verfassung zu bestimmten: "The judiciary...has...no direction either of the strength or of the wealth of the society, and can take no active resolution whatever. It may truly be said to have neither Force nor Will but merely judgement... ". 183 Die von kontroversen Meinungen geprägte Abtreibungsdebatte kann und soll seiner Meinung nach nicht von einem Gericht, sondern von den demokratisch legitimierten Volksvertretern entschieden werden. Das Gericht habe das Mandat erhalten, nach Text und Tradition der Verfassung zu entscheiden, nicht dagegen einen sozialen Konsens durch seine Entscheidungen herbeizuführen. Die Reaktionen auf diese Entscheidung waren von pro-choice und pro-life gleichermaßen negativ. Während NOW die Roe-Entscheidung für "tot" erklärte, und auch Vertreter von NARAL und PP ähnlich reagierten, verzeichnete NRLC sie als einen Sieg für die Gegenseite 184 . Die Einschätzung beider Seiten ist nur zum Teil richtig, denn PP v. Casey war eine Kompromißentscheidung und es kann daher weder für pro-choice noch für pro-life als klarer Sieg oder Verlust bezeichnet werden. Das Überraschende an der Entscheidung war die Koalition der Richter O'Connor, Kennedy und Souter, die sich für eine vermittelnde Position einsetzten. Für Kennedy bedeutete das eine Meinungsänderung, denn in Webster v. Reproductive Health Services hatte er sich noch zusammen mit Rehnquist und White für eine grundlegendere Revision von Roe ν. Wade ausgesprochen. In Rust v. Sullivan hatten Kennedy und auch Souter zusammen mit Rehnquist, White und Scalia das Beratungsverbot über Abtreibung in staatlichen Einrichtungen aufrecht erhalten. Nunmehr befanden sich Kennedy und Souter Seite an Seite mit O'Connor, um gemeinsam den undue burden test zu etablieren.

183 184

PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791 (2882). Siehe Tribe, S.244.

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13. Ada v. Guam Society of Obstetricians & Gynecologists und Barnes ν. Moore - die Entscheidung der Nichtentscheidung Mit der Ablehnung der Annahme der Fälle Ada v. Guam Society of Obstetricians & Gynecologists und Barnes ν. Moore bestätigte der Supreme Court im Dezember 1992 seine Rechtsprechung in PP v. Casey. In Ada v. Guam ging es um die Überprüfung eines Verbotes der Abtreibung, außer in Fällen der Lebensgefahr der Frau oder wenn die Fortführung der Schwangerschaft eine schwere Gesundheitsgefährdung erwarten ließ. In den Vorinstanzen wurde das Gesetz für verfassungswidrig erklärt und durch die Nichtannahme des Falles hat der Supreme Court diese Rechtsprechung bestätigt. Eine Annahme wäre nur dann erfolgt, wenn das Gericht das Urteil der unteren Instanz hätte abändern wollen. Die Richter Rehnquist, White und Scalia, erklärte Gegner von Roe ν. Wade, sprachen sich dementsprechend auch für eine Überprüfung aus, aber es fehlte ihnen die für die Annahme benötigte vierte Stimme 1 8 5 . In Barnes v. Moore stand die Rechtmäßigkeit eines Gesetzes aus Mississippi, das eine Informationserteiluung mit anschließender 24-stündiger Wartefrist vor einer Abtreibung vorsieht, zur Entscheidung. Das Gesetz ähnelte in der Ausgestaltung der Vorschrift aus Pennsylvania, die zuvor in PP v. Casey aufrecht erhalten wurde. In der Vorinstanz wurde das Gesetz für verfassungsgemäß gehalten und dies wurde vom Supreme Court durch die Nichtannahme bestätigt 186 .

14. Zwischenergebnis Mit der Anerkennung eines Entscheidungsrechtes der Frau über eine Abtreibung hat der Supreme Court 1973 die Abtreibungsdebatte in verfassungsrechtliche Bahnen gelenkt. Die stark aktivistische Position, die er in dieser Entscheidung gegenüber der Gesetzgebung eingenommen hatte, wurde jedoch bis heute erheblich zurückgenommen. Die Veränderung wurde durch eine Rechtsprechung erreicht, in der die zunächst nur von zwei Richtern vertretene abweichende Meinung immer mehr Unterstützung fand. Die Überzeugung, daß Roe 185

Vgl. Joan Biskupic, Basic Right to Abortion Affirmed as Justices Decline Guam Case; in: The Washington Post, 1.12.1992, A l . 186 Joan Biskupic, Justices Let Stand A State's Restraint Of Abortion Rights; in: The Washington Post, 8.12.1992, A l .

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v. Wade ein verfassungsmäßiges Recht auf Abtreibung garantiere, wurde bald relativiert. Ansatzpunkt waren dazu Gesetze, die nicht direkt in Konfrontation zu dem Entscheidungsrecht der Frau standen, sondern ihr die Ausübung des Rechtes erschwerten. In den Medicaid Fällen zeigte sich, daß das Recht nur denjenigen zustand, die dafür bezahlen konnten. Rechtlich wurde dazu auf den Unterschied abgestellt, der einerseits zwischen einem staatlichen Verbot der Abtreibung und andererseits der staatlichen Förderung einer alternativen Aktivität bestehe. Das Erfordernis staatlicher Neutralität wurde damit bezüglich der Finanzierung aufgegeben. Die Benachrichtigungs- und Einwilligungserfordernisse der Eltern schränkten die Ausübung des Rechts bei Minderjährigen ein. Das Gericht hielt dies wegen der besonderen Schutzwürdigkeit von Minderjährigen sowie wegen des Staatsinteresses an einem familiären Zusammenhalt für gerechtfertigt. Zugelassen wurden auch das Verbot der Durchführung einer Abtreibung oder der Beratung darüber in öffentlichen Krankenhäusern oder besondere Sorgfaltspflichten zur Feststellung der Lebensfähigkeit des Fötus. In der CaseyEntscheidung wurden auch zuvor für verfassungswidrig gehaltene Vorschriften erstmals zugelassen. Die 24-Stunden Wartefrist war in Akron v. A k r o n 1 8 7 für verfassungswidrig gehalten worden, und das Erfordernis, daß der Arzt einer Frau vor einer Abtreibung bestimmte, staatlich ausgewählte Informationen zukommen lassen müsse, war in Thornburgh 188 für unzulässig erklärt worden. Diese Erfordernisse erschweren generell die Abtreibung, erhöhen die Kosten, vermindern Abtreibungsmöglichkeiten und belasten so wiederum besonders finanziell bedürftige Frauen. Wenn auch von einer neuen Mehrheit des Gerichtes das Entscheidungsrecht der Frau in der letzten Abtreibungsentscheidung 1992 noch einmal formal bestätigt wurde, so sind doch die Unterschiede, die sich zu den vorhergehenden Urteilen, bzw. zu den Grundsätzen von Roe ν. Wade ergeben, nicht zu übersehen. Aus einem fundamentalen Recht der Frau, die Entscheidung über eine Abtreibung allein mit ihrem Arzt zu treffen, wurde ein Freiheitsinteresse, dessen Schutzbereich schwer zu bestimmen ist. Die dem Entscheidungsrecht möglicherweise entgegenstehenden Staatsinteressen wurden dagegen aufgewertet. Nach dem Stufenrahmen von Roe v. Wade 187 188

Akron v. Akron Center, 462 U.S. 416 (449-451). Thornburgh v. American College, 476 U.S. 747 (759-765).

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gab es eine pauschalierte Abwägung des Gerichtes, daß in dem ersten Schwangerschaftsdrittel kein Staatsinteresse, im zweiten Drittel Gesundheitsinteressen der Frau und erst im letzten Drittel der Schutz des potentiellen Lebens geltend gemacht werden konnten, da sie erst in diesen Stadien einen so zwingenden Grad erlangten, daß das Entscheidungsrecht der Frau überwiegen konnte. Durch die Aufgabe dieses Stufenrahmens wurde ein Vakuum geschaffen, das durch keine neuen Anhaltspunkte ersetzt wurde. Staatsinteressen können nun während der gesamten Schwangerschaftsdauer geltend gemacht werden und das Recht der Frau bei der Abwägung im Einzelfall auch jederzeit überwiegen. Lediglich die Lebensfähigkeit des Fötus blieb als Grenze erhalten. Dieser Zeitpunkt markiert für die Frau, bis wann ihre Entscheidung für eine Abtreibung nicht absoluten Hindernissen unterworfen werden darf. Für den Staat bedeutet die Lebensfähigkeit des Fötus - und dies ist unverändert seit Roe ν. Wade - daß das Staatsinteresse nunmehr das Entscheidungsinteresse der Frau überwiegt, nicht jedoch ihr Lebens- und Gesundheitsinteresse. Die veränderte Gewichtung der gegeneinander abzuwägenden Interessen hatte auch Konsequenzen für die vom Gericht angewandte Form des Interessenausgleichs. Mit der Aufgabe der Einstufung des Entscheidungsrechtes als fundamental ging der Schutz vor einschränkenden Gesetzen durch das Erfordernis des strict scrutiny test verloren. Der Rahmen des neu eingeführten undue burden tests ist dagegen unklar, nicht nur wegen seiner Unerprobtheit, sondern auch wegen seiner vagen Umschreibung. Wann ein gesetzliches Erfordernis ein unzumutbares Hindernis bedeutet, wird sich erst durch weitere oberste Gerichtsentscheidungen von Fall zu Fall klären lassen. Der neue Prüfungsmaßstab bringt zudem eine Veränderung der Beweislast mit sich. Mußten zuvor die Staaten darlegen, welches Interesse ihre Regelung erforderlich machen sollte, so liegt es nunmehr an der Frau oder dem Arzt, zu beweisen, daß eine Regelung das Abtreibungsrecht übermäßig belasten würde. Obwohl der undue burden test nur von drei Richtern (O'Connor, Kennedy und Souter) in Casey vertreten wurde, hat er die meisten Chancen, die Abtreibungsgesetzgebung in Zukunft zu gestalten. Nur die Richter Stevens und Blackmun hielten in Casey an dem Erfordernis des strict scrutiny tests fest. Vier Richter (Rehnquist, Scalia, Thomas, White) plädierten dagegen für den rational basis test, der praktisch jede Beschränkung rechtfertigen ließe und einer völligen Aufgabe von Roe ν. Wade gleichkäme. Die drei Richter hatten mit dem undue burden test die Fäden in der Hand, da sich ihnen die letzten zwei Roe-BefÜrworter insoweit anschlossen, als Be-

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schränkungen für verfassungswidrig gehalten wurden, während es den vier Gegnern von Roe ν. Wade an der entscheidenden fünften Stimme für eine Mehrheit fehlt. Auch die zwischenzeitlich erfolgte Pensionierung der Richter White und Blackmun wird daran zunächst nichts ändern. Die Roe-Gegner haben mit Richter White eine Stimme verloren, da es sehr unwahrscheinlich erscheint, daß der von Präsident Clinton benannte Nachfolger Stephen Breyer eine Aufhebung von Roe befürworten würde. Aber auch eine neue Mehrheit für den strict scrutiny test wird sich noch nicht ergeben. Denn selbst im günstigsten Fall für pro-choice, wenn der Nachfolger Blackmuns, Stephen Breyer, wie dieser den strict scrutiny test anwenden sollte, und die Nachfolgerin Whites, Ruth Ginsberg im Unterschied zu White sich dem anschlösse, so hätten die Befürworter des strict scrutiny test immer noch keine neue Mehrheit, sondern drei statt der zuletzt nur noch zwei Stimmen.

I I . Kanada 1. Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit Die erste Verfassung Kanadas ist die Britisch-Nordamerika-Akte (BNA) von 1867. Durch dieses Gesetz des Londoner Parlaments wurde aus den englischen Kolonien der Staat Kanada begründet und die parlamentarische Regierungsform sowie der Föderalismus festgelegt. Ein Grundrechtskatalog war in der BNA nicht enthalten. Wie in Großbritannien wurden Grundrechte nur durch den Gesetzgeber sowie ungeschriebene Verfassungsgrundsätze und Verfassungskonventionen geschützt. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden Bestrebungen stark, die sich für eine verfassungsrechtliche Kodifizierung von Grundrechten einsetzten. Der kanadische Gesetzgeber besaß jedoch nicht die Kompetenz die BNA zu ändern, ohne zugleich ein Änderungsverfahren auszuarbeiten, das eine hinreichende Beteiligung der Provinzen garantierte. Diese Regelung war getroffen worden, um zu verhindern, daß die föderale Struktur durch ein einfachgesetzliches Änderungsgesetz zum Nachteil der Provinzen verändert werden könnte. Da Versuche einer Einigung bezüglich des Änderungsverfahrens zwischen Bund und Provinzen fehlschlugen, griff der Bundesgesetzgeber 1960 mit der Canadian

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Bill of Rights, einem Grundrechtskatalog auf einfachgesetzlicher Ebene, einer

verfassungsrechtlichen Lösung vor 189.

Die in der Bill of Rights garantierten Individualrechte waren jedoch nur für die Bundesgewalt verbindlich, nicht für die Provinzen. Wegen des Gesetzescharakters war zudem unklar, ob das Gericht Gesetze, die gegen die Bill of Rights verstießen, für nichtig erklären konnte oder ob es damit degen die Vorherrschaft des Parlaments verstoßen würde. Die Bill of Rights gab selbst keine eindeutige Antwort auf diese Frage und der Oberste Gerichtshof orientierte sich in einer sehr zurückhaltenden Interpretation eher an der englischen Tradition der Vorherrschaft des Parlaments als an seinem amerikanischen Nachbarn. Nur in einem F a l l 1 9 0 hob der Supreme Court ein Gesetz wegen Unvereinbarkeit mit der Bill of Rights auf. Da das Gesetz jedoch aus der Zeit vor Inkrafttreten der Bill of Rights stammte, war damit nicht die Frage geklärt, ob auch ein zeitlich nach der Bill of Rights verabschiedetes Gesetz für unwirksam hätte erklärt werden können 1 9 1 . Wegen dieser restriktiven Auslegung konnte die Bill of Rights für den Grundrechtsschutz auf Bundesebene wenig bewirken 1 9 2 . Ein verfassungsrechtlicher Grundrechtsschutz wurde erst 1982 mit der "Charter of Rights and Freedoms" erreicht. Die Charter of Rights and Freedoms war ein Teil des Constitution Act, wodurch Kanada die Befugnis zu Verfassungsänderungen ohne Zustimmung von Großbritannien erhielt 1 9 3 . Die Verfassungsreform wurde - nachdem Verhandlungen zwischen Bund und Provinzen in einer Verfassungskonferenz 1980 gescheitert waren - zunächst von der Bundesregierung allein erarbeitet. Nachdem der Supreme Court entschieden hatt e 1 9 4 , daß sich eine Beteiligung und die Zustimmung einer wesentlichen Mehrheit der Provinzen zwar nicht aus Verfassungsrecht, aber aus Verfassungskonvention herleite, wurden erneute Verhandlungen mit den Provinzen unumgänglich. Bis auf Quebec stimmten schließlich alle Provinzen dem Canada Act zu. Da Quebec kein Vetorecht zukam, konnte trotzdem eine Resolution zur

189 vgl. Bettina Zimmermann, Kanadische Verfassungsinstitutionen im Wandel: Unitarisierung durch Grundrechtsschutz, Berlin 1992, S. 19-32. 190 R. v. Drybones, S.C.R. 282 (1970). 191 Hierzu und zu einem Vergleich der Charter mit der Bill of Rights siehe Peter W. Hogg, A Comparison of the Canadian Charter of Rights and Freedoms with the Canadian Bill of Rights; in: Gerald A. Beaudoin / Ed Ratushny, The Canadian Charter Charter of Rights and Freedoms, 2. Aufl. Toronto / Calgary / Vancouver 1989, S.l-20 (17-20). 192 V g l . Michael Bothe, La protection des droits fondamentaux au Canada, JÖR Bd. 35, 1986, S.267 ff. (275) 193 Michael Bothe, Die Entwicklung des Föderalismus in den angelsächsischen Staaten, in JöRBd.31, 1982, S.l09-167 (136). 194 Reference Re Amendment of the Constitution of Canada, 1 S.C.R. 753 (1981).

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Annahme des Canada Act das kanadischen Parlament passieren, und der Canada Act vom Westminsterparlament im März 1982 verabschiedet werden 1 9 5 . In der Charter wurde die Unklarheit der Bill of Rights vermieden, ob das Gericht die Kompetenz der Verwerfung grundrechtswidriger Gesetze habe. In Art. 52 der Charter wird die Vorherrschaft der Verfassung normiert, sowie in Art. 24 (1) festgelegt, daß die Gerichte jegliche Befugnisse haben, die garantierten Rechte durchzusetzen 196 . Die Auslegung der Verfassung durch die Gerichte erfolgte bis 1949 in letzter Instanz durch das Judicial Committee des Privy Council (JCPC), das höchste Rechtsprechungsorgan Großbritanniens. Erst mit der Abschaffung dieser Appellationsinstanz, die vor 1949 auch unter Umgehung des bereits seit 1875 existierenden Supreme Court of Canada 197 angerufen werden konnte, lag die letzte Verfassungsauslegung nicht mehr in den Händen englischer Richter, sondern bei den Kanadiern selbst 198 .

2. Morgentaler v. The Queen - Bestätigung der Gesetzgebung Die erste Entscheidung des Supreme Court zur Abtreibungsgesetzgebung erging am 26. März 1975 im Fall Morgentaler v. The Queen 1 9 9 . Dr. Morgentaler war in diesem Verfahren angeklagt, eine Abtreibung in Quebec durchgeführt zu haben, ohne sich an die seit 1969 zur Abtreibung geltenden Vorschriften des Criminal Code gehalten zu haben.

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Nach Zimmermann, S. 45-49. Zu der Entwicklung der richterlichen Normenkontrolle siehe Peter W. Hogg, Constitutional Law of Canada; 3.Aufl. Toronto 1992, S.l 16-124; sowie Christopher Philip Manfredi, Judicial Power and the Charter: Canada and the Paradox of Liberal Constitutionalism; Toronto 1993, S.l9-39. 197 Der Supreme Court wurde nicht in dem Constitution Act, 1867, geschaffen, sondern dort wurde lediglich in s.101 die Möglichkeit der Schaffung eines Obersten Gerichtshofes durch das Parlament gegeben. 1875 nahm das Parlament diese Befugnis wahr und schuf durch einfaches Gesetz die Existenz, Besetzung und Organisation des Supreme Court; siehe Joseph Eliot Magnet, Constitutional Law of Canada, Cases, Notes and Materials; 4. Aufl., Vol.1, Montreal 1989, S.97. 198 Siehe Ronald G. Landes, The Canadian Polity; 3. Aufl. Scarborough 1991, S.213. 199 Morgentaler v. The Queen, 53 D.L.R. (3d) 161, 1975. 196

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Die Abtreibung ist in s.251 des Criminal Code geregelt 200 . Nach Abs.l ist jeder, der eine Schwangerschaftsunterbrechung versucht oder vornimmt, mit lebenslänglichem Gefängnis zu bestrafen. Abs.2 legt die Gefängnisstrafe der Schwangeren auf 2 Jahre fest. Abs.3 definiert die strafbaren Abtreibungsmethoden. Abs.4 regelt die Ausnahmetatbestände, unter deren Voraussetzung eine Schwangerschaftsunterbrechung nicht strafbar ist. 200

In s. 251 des Criminal Code heißt es: "(1) Every one who, with intent to procure the miscarriage of a female person, whether or not she is pregnant, uses any means for the purpose of carrying out his intention is guilty of an indictable offence and is liable to imprisonment for life. (2) Every female person who, being pregnant, with intent to procure her own miscarriage, uses any means or permits any means to be used for the purpose of carrying out her intention is guilty of an indictable offence and is liable to imprisonment for two years. (3) In this section, "means" includes (a) the administration of drug or other noxious thing, (b) the use of an instrument, and (c) manipulation of any kind. (4) Subsection (1) and (2) do not apply to (a) a qualified medical practitioner, other than a member of a therapeutic abortion committtee for any hospital, who in good faith uses in an accredited or approved hospital any means for the purpose of carrying out his intention to procure the miscarriage of a female person, or (b) a female person who, being pregnant, permits a qualified medical practitioner to use in an accredited or approved hospital any means described in paragraph (a) for the purpose of carrying out her intention to procure her own miscarriage, if, before the use of those means, the therapeutic abortion committee for that accredited or approved hospital, by a majority of the members of the committee and at a meeting of the committee at which the case of such female person has been reviewed, (c) has by certificate in writing stated that in its opinion the continuation of the pregnancy of such female person would or would be likely to endanger her life or health, and (d) has caused a copy of such certificate to be given to the qualified medical practitioner. (5) The Minister of Health of a province may by order (a) require a therapeutic abortion committee for any hospital in that province, ..., to furnish to him a copy of any certificate..., together with such othere information relating to the circumstances surrounding the issue of that certificate as he may require,... (6) For the purposes of subsections (4) and (5) and this subsection "accredited hospital" means a hospital accredited by the Canadian Council on Hospital Accreditation... "approved hospital" means a hospital in a province approved for the purposes of this section by the Minister of Health of that province;... "therapeutic abortion committee" for any hospital means a committee, comprised of not less than three members each of whom is a qualified medical practitioner,...".

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Demnach muß a) die Abtreibung von einem qualifizierten Arzt, der nicht Mitglied eines Abtreibungskomitees ist, in einem dazu akkreditierten oder anerkannten Hospital vorgenommen werden, b) die Schwangere ihren Wunsch auf Abbruch der Schwangerschaft vorher dem Abtreibungskomitee desselben Krankenhauses zur Entscheidung vorlegen. c) Dieses Komitee muß mehrheitlich beschließen und schriftlich bestätigen, daß eine Fortführung der Schwangerschaft Leben oder Gesundheit der Frau gefährden würde und d) eine Kopie dieser Bescheinigung dem Arzt, der die Abtreibung durchführen soll, zukommen lassen. Abs.5 regelt, daß die Gesundheitsminister der Provinzen Kopien der Bescheinigungen und andere Informationen einfordern können. Abs.6 definiert u.a. die Voraussetzungen für ein "akkreditiertes" und "anerkanntes" Hospital, sowie den Begriff "Abtreibungskomitee", welches sich aus mindestens 3 Ärzten zusammensetzen soll. Dr. Morgentaler berief sich zu seiner Verteidigung auf s.45 des Strafgesetzbuches, demnach eine chirurgische Operation gerechtfertigt ist, wenn sie fachgerecht durchgeführt wird und gesundheitlich unter Beachtung der Umstände des Falles geboten i s t 2 0 1 . Zudem berief er sich auf den im common law enthaltenen, allgemeinen Rechtfertigungsgrund des Notstandes. Denn die Schwangere, bei der er die Abtreibung vorgenommen habe, sei in akuter Gefahr gewesen und für eine Genehmigung der Abtreibung im Rahmen der Vorschriften der s.251 sei keine Zeit gewesen. Weiterhin griff er die Gültigkeit der StrafVorschrifi mit der Begründung an, daß diese u.a. gegen s.l (a) und (b) der Bill of Rights verstoße. S.l (a) der Bill of Rights garantiert das Recht des Individuums auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Einschränkungen dürfen nur in einem rechtmäßigen Verfahren

201 In s.45 des Criminal Code heißt es:"Every one is protected from criminal responsibility for performing a surgical operation upon any person for the benefit of that person if (a) the operation is performed with reasonable care and skill, and (b) it is reasonable to perform the operation, having regard to the state of health of the person at the time the operation is performed and to all the circumstances of the case." zitiert nach Morgentaler v. The Queen, 53 D.L.R. (3d) 161 (179).

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erfolgen. S.l (b) gibt jedem Individuum das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz 202 . Die in der Bill of Rights enthaltenen Rechte gleichen vom Wortlaut her den Garantien der US-amerikanischen Verfassung und Dr. Morgentaler berief sich dementsprechend in seiner Verteidigung auch auf die Auslegung der Verfassung durch den Supreme Court in den USA, insbesondere in der Entscheidung Roe v. Wade. Der Supreme Court von Kanada folgte dieser Interpretation jedoch nicht, sondern bestätigte mit 6 zu 3 Stimmen die Entscheidung der Vorinstanz, in der der Freispruch der Jury durch einen Schuldspruch des Angeklagten ersetzt worden war. In der von Richter Pigeon formulierten Begründung wurde ausgeführt, daß der Rechtfertigungsgrund der s.45 auf die Abtreibungsvorschrift nicht anwendbar sei und die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstandes nicht vorgelegen hätten. Während das Gericht ausführlich zu der Frage Stellung nimmt, wieso das Berufungsgericht die - in der Tat ungewöhnliche und auch bezweifelbare - Kompetenz hatte, einen Freispruch der Geschworenen in einen Schuldspruch umzuwandeln, wird die Anwendbarkeit der Bill of Rights in einem Satz und einstimmig verworfen 203 . In dem Votum des Richters Dickson (dem 5 weitere Richter zustimmen) wird gleich zu Anfang deutlich, warum sich das Gericht nicht mit dieser Frage beschäftigt. Er sagt, daß es nicht die Aufgabe des Gerichtes sei, sich in der lauten und anhaltenden öffentlichen Debatte über Abtreibung, die in diesem Land geführt werde, zu engagieren. Die Werte, die das Gericht zu akzeptieren habe, seien diejenigen des Parlamentes, das entschieden habe, das allein der Wunsch einer Frau keine Abtreibung rechtfertigen könne 2 0 4 . Der Vorsitzende Richter Laskin, dem zwei weitere Richter, Spence und Judson, zustimmen, ist in seinem Minderheitenvotum der Auffassung, daß der Freispruch der Jury wiederhergestellt werden solle. Abgesehen davon hat er sich im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung auch inhaltlich mit dem Argument 202

In s.l der Canadian Bill of Rights heißt es: "It is hereby recognized and declared that in Canada there have existed and shall continue to exist without discrimination by reason of race, national origin, colour, religion or sex, the following human rights and fundamental freedoms, namely, (a) the right of the individual to life, liberty, security of the person and enjoyment of property, and the right not to be deprived thereof except by due process of law; (b) the right of the individual to equality before the law and the protection of the law;". 203 Morgentaler v. The Queen, 53 D.L.R. (3d), 161 (193). 204 Morgentaler v. The Queen, 53 D.L.R. (3d), 161 (203).

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bezüglich der Bill of Rights beschäftigt. Er kommt jedoch zu demselben Ergebnis, daß nämlich keine Verletzung vorliege. Er führte aus, daß die Verfassungsinterpretation des US-amerikanischen Gerichtshofes für die kanadische Bill of Rights nicht maßgeblich sein könne, da die gesetzlichen Grundlagen zu verschieden seien. Die verfassungsrechtliche Tradition und das Verständnis von richterlicher Gewalt ließen in Kanada keine Einmischung des Gerichtes in den materiellen Gehalt der Gesetzgebung zu. Auch sei die Bill of Rights ein Gesetzestext, der bezeichnend für die Vorherrschaft des Parlamentes und daher ungeeignet sei, die Weisheit der Gesetzgebung zu überprüfen 205 . Die Entscheidung des Parlamentes lasse keine gerichtliche Korrektur zu und Ungleichheiten in der Anwendung der bundesrechtlichen Vorschrift seien dementsprechend vom Parlament, nicht vom Gericht zu korrigieren 206 . - Ergebnis Eine richterliche Änderung des Abtreibungsgesetzes in Kanada wäre bei einer aktivistischen Auslegung der Bill of Rights theoretisch möglich gewesen. Der Supreme Court der USA hatte mit der Roe-Entscheidung zwei Jahre zuvor für eine entsprechende Interpretation des Freiheitsrechtes bedeutende Vorgaben geleistet. Die kanadischen Richter hatten auch die Möglichkeit, wie sie in dem Drybones Case 2 0 7 fünf Jahre zuvor gezeigt hatten, ein Bundesgesetz wegen Unvereinbarkeit mit der Bill of Rights für unwirksam zu erklären. In diesem Fall wurde die Möglichkeit jedoch eindeutig von den Richtern zurückgewiesen und auf die traditionelle Vorherrschaft des Parlaments, sowie den Gesetzes- nicht Verfassungscharakter der Bill of Rights verwiesen. Das Gericht versuchte in dieser Entscheidung eine klare Trennung zwischen Politik und Recht zu ziehen und sich nicht in die Aufgaben der Gesetzgebung zu mischen. Selbst in dem Minderheitenvotum wurde der Bill of Rights die Fähigkeit abgesprochen, als Instrument des sozialen Wandels zu dienen. Trotz der Beteiligung von pro-choice Gruppen, die für ein Abtreibungsrecht aus der Bill of Rights plädierten, wurde diese Argumentation vom Gericht nicht akzeptiert. Die gerichtliche Niederlage führte dennoch auf Umwegen zu einem Erfolg Morgentalers in Quebec. In einer weiteren Anklage plädierte Morgentaler erneut auf "nicht schuldig", wurde von der Jury freigesprochen und der Freispruch wurde diesmal auch in der Berufung bestätigt. Die zwischenzeitlich angeordnete Neuverhandlung des ersten Prozesses gegen Morgentaler endete 205 206 207

Morgentaler v. The Queen, 53 D.L.R. (3d), 161 (173). Morgentaler v. The Queen, 53 D.L.R. (3d), 161 (176). Drybones v. The Queen, S.C.R. 282, 1970.

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mit dem dritten Freispruch in Folge für den Angeklagten. 1976 führten die Wahlen in Quebec zu einem Regierungswechsel. Der neue Justizminister der Parti Québécois erklärte gegenüber Ottawa, daß s.251 in Quebec unanwendbar geworden sei und daher nicht mehr verfolgt werde 2 0 8 . Damit hatte die katholischste Provinz Kanadas 1976 entgegen der geltenden Bundespolitik faktisch die Straffreiheit der Abtreibung erreicht.

3. Minister of Justice of Canada ν. Borowski Lebensschützer vor Gericht, 1. Teil 1981 erreichte Joseph Borowski in Minister of Justice of Canada v. Bor o w s k i 2 0 9 zum ersten Mal den Supreme Court, um dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes gerichtlich Geltung zu verschaffen. Er stützte sich auf die Canadian Bill of Rights, da deren s.l auch das ungeborene Leben schütze. Er beantragte die Erklärung der Verfassungswidrigkeit der Vorschriften des Criminal Code, da diese unter bestimmten Voraussetzungen eine legale Abtreibung ermöglichten. Es kam in den Vorinstanzen jedoch nicht zu der Erörterung dieser Frage, da dem Kläger die Klagebefugnis abgesprochen wurde. Denn er war nicht in eigenen Rechten verletzt und konnte sich auch auf kein spezielleres Interesse stützen, als seine allgemeine Besorgnis darüber, daß Föten rechtlich unzureichend und seiner Meinung nach sogar in verfassungswidriger Weise nicht geschützt würden. Erst in der letzten Instanz wurde vom Supreme Court die Klagebefugnis bejaht. Nach Meinung der Mehrheit des Gerichtes ist es für eine Klagebefugnis, wenn es keinen anderen Weg zur Überprüfung gibt, ausreichend, daß ein Bürger sein echtes Interesse an der Gültigkeit der angegriffenen Gesetzgebung darlegt. Borowski hatte sich schon zuvor in verschiedenen persönlichen Aktionen als Lebensschützer der Föten versucht und ihm wurde daher ein echtes Interesse zugestanden. Auch gäbe es keinen anderen oder naheliegenderen Weg, das Gericht in dieser Frage anzurufen. Da die Vorschrift als Ausnahme formuliert sei, gäbe es für Frauen, die Abtreibungen wünschen oder Ärzte, die solche durchführen, keine Veranlassung, die Verfassungsmäßigkeit anzugreifen, da sie von der Ausnahmevorschrifi geschützt werden. Ärzte oder Frauen, die dagegen keine Abtrei208 209

Morton, S.83-86. Minister of Justice of Canada ν. Borowski, 130 D.L.R. (3d) 588,1981.

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bung wünschen oder durchführen, hätten kein größeres Interesse an der Klärung als Borowski, da sie auch nicht direkt davon betroffen seien 2 1 0 . Als näher Betroffener wäre lediglich ein Mann denkbar, der die Abtreibung seines gezeugten, aber ungeborenen Kindes verhindern möchte. Wegen der Länge eines gerichtlichen Verfahrens in allen Instanzen sei diese Möglichkeit jedoch nicht realisierbar, da zuvor die Beendigung der Schwangerschaft durch eine Abtreibung oder eine Geburt erfolgen würde 2 1 In einer abweichenden Meinung der Richter Laskin und Lamer warnen diese vor einer Annahme der Entscheidung des Falles, da dieser rein hypothetischer Natur sei und zudem fraglich erscheine, ob die abstrakte Klärung, ohne jeden Intervenierten, dem zugrundeliegenden Konflikt überhaupt gerecht werden könne. Aber auch bei der gedachten Fortsetzung des Verfahrens unter Zulassung von Intervenierten auf der Gegenseite würde dies nur dazu führen, daß das Gericht von zwei Parteien ohne direktes Interesse zur Auseinandersetzung mißbraucht würde 2 1 2 . Dieser Fall beschränkte sich vor dem Supreme Court auf die Frage der Klagebefugnis, aber mit der Zulassung der Klage schien auch die Überprüfung möglicher Rechte des Fötus durch das Gericht nur noch eine Frage der Zeit zu sein.

4. Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen neue Rechte mit der „Charter of Rights and Freedoms" 1988 stand Dr. Morgentaler in dem Fall Morgentaler, Smoling and Scott v. the Queen 2 1 3 erneut vor dem Obersten Gerichtshof. Die Ärzte Dr. Morgentaler, Dr. Smoling und Dr. Scott waren angeklagt worden, da sie Abtreibungen durchgeführt hatten, ohne zuvor die nach s.251 Abs. 4 des Criminal Code erforderliche Bescheinigung eines Abtreibungskomitees erhalten zu haben. Ähnlich wie bei Morgentaler 10 Jahre zuvor in Quebec, waren die Angeklagten auch in Toronto, Ontario von den Geschworenen zunächst freigesprochen wor210

130 D.L.R. (3d) 588 (604-606). Das Gericht widerlegte diese Einschätzung in Tremblay v. Daigle, 62 D.L.R. (4th) 634, als es eine Entscheidung erließ, obwohl die Schwangerschaft bereits abgebrochen worden war; siehe in dieser Arbeit Kapitel D. II. 6. 212 130 D.L.R. (3d) 588 (590-598); diese Bedenken sollten sich 1989 erfüllen, als Borowski erneut vor dem Supreme Court stand, aber nicht allein, sondern mit drei Interessengruppen als Intervenieren. 213 Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385, 1988. 211

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den, aber in der Berufung wurde der Fall zurückverwiesen und eine Neuverhandlung angeordnet 214 . Vom Supreme Court von Canada war im Gegensatz zu der ersten Abtreibungsentscheidung von 1975 nunmehr nicht nur die Bill of Rights zu beachten, sondern die 1982 neu in Kraft getretene Charter of Rights and Freedoms war maßgeblicher Verfassungstext. Mit der Einführung der Charter war die parlamentarische Vorherrschaft durch eine richterliche Kontrolle ersetzt worden. Diese neuen Möglichkeiten und Argumente führten nunmehr zur Aufhebung der Abtreibungsgesetzgebung und konnten so als großer Sieg der pro-choice Bewegung gewertet werden. Der Eindruck rechtfertigt sich aber eher vom Ergebnis als von den Begründungen, die uneinheitlich und nur zurückhaltend von den Möglichkeiten der Charter Gebrauch machten. Mit 5 zu 2 Stimmen wurde das geltende Abtreibungsstrafrecht im Ergebnis für verfassungswidrig erklärt. Die Mehrheitsmeinung setzt sich aus den Voten der Richter Dickson/Lamer und der Richter Beetz/Estey, die in großen Teilen der Begründung übereinstimmen, sowie der Richterin Wilson, die einen völlig anderen Lösungsansatz wählte, zusammen. Richter Mclntyre verfaßte ein abweichendes Votum, dem Richter La Forest zustimmte. - Votum des Vorsitzenden Richters Dickson -S.7 - Sicherheit der Person Zu Beginn seiner Begründung zitiert Dickson seine Feststellung aus dem Morgentaler-Urteil von 1975, daß das Gericht nicht zur Lösung der Abtreibungsdebatte berufen sei. Es stimme auch immer noch, daß das Gericht nicht komplexe und widersprüchliche Aufgaben der Politik lösen könne, aber es habe durch die Charter wichtige Kompetenzen zur Überprüfung der Legislative hinzugewonnen 215 . Bei der Umsetzung dieser neuen Befugnisse, stellt Dickson fest, daß s.251 des Criminal Code eine Verletzung des in s.7 der Charter garantierten Rechtes auf Sicherheit der Person bedeute. S.7 der Charter schützt das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person, eine Einschränkung ist nach dem 2. Halbsatz nur in Übereinstimmung mit den Grundsätzen einer "fundamental justice" zulässig 216 . Dickson begründet die Verletzung mit dem staatlichen Einfluß auf 214

Regina v. Morgentaler, Smoling and Scott, 52 Ontario Reports (2d) 353, 1985. Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (393-394). 216 S.7 der Charter lautet: "Everyone has the right to life, liberty and security of the person and the right not to be deprived thereof except in accordance with the principles of fundamental justice." 215

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die körperliche Integrität der Frau und dem psychischen Stress, der mit der Abtreibungsregelung im geltenden Strafrecht verbunden s e i 2 1 7 . Zum einen könne eine Frau die Entscheidung über einen für sie medizinisch sicheren Eingriff nicht allein treffen, zum anderen sei die Tatsache, daß es nicht nur in ihrer Hand liege, ob sie die Abtreibung erhalte, mit großem psychischen Streß verbunden. Eine Frau mit Hilfe des Strafrechts dazu zu zwingen, eine ungewollte Schwangerschaft auszutragen, es sei denn sie erfülle bestimmte Kriterien, die nicht mit ihren eigenen Vorstellungen übereinstimmen müssen, sei sogar eine gewichtige Verletzung der Sicherheit der Person. Zur Erfüllung der Erfordernisse der Indikationsregelung nach s.251 Abs.4 würden weitere Hindernisse und damit Verzögerungen geschaffen. Entsprechend einer staatlich durchgeführten, umfangreichen Untersuchung in Kanada, dem sogenannten "Badgley Report", beträgt die durchschnittliche Wartezeit einer Frau von dem ersten Arztbesuch bis zur genehmigten Abtreibung 8 Wochen. Diese Zeitspanne sei zwar nicht ungebührlich lang, aber sie habe bedeutende Konsequenzen für die Schwangere, da bestimmte Methoden der Schwangerschaftsunterbrechung zeitabhängig seien, z.B. nur bis zur 12. Woche durchgeführt werden könnten. Auch seien Abtreibungen, entsprechend statistischer Untersuchungen, um so einfacher und risikoloser, je früher sie durchgeführt würden. Die staatlich erzwungene Verzögerung bedeute daher ebenfalls eine Verletzung der Sicherheit der Frau. Dies nicht nur durch das erhöhte Risiko bei dem Eingriff, sondern auch durch die psychische Belastung, die gerade mit der Wartezeit verbunden sei 2 1 8 . - s. 7, 2. Halbsatz -fondamental justice S. 251 müsse daher, um Bestand vor der Verfassung zu haben, mit den Prinzipien einer "fundamental justice" übereinstimmen, so wie es im 2. Halbsatz von s.7 der Charter gefordert wird. Dieses Prinzip habe sowohl eine formelle, als auch eine materielle Komponente, die bei Verletzung eines Rechtes der Charter auch eine materiellrechtliche Überprüfung erlaube. Es brauche hier jedoch nicht die schwierige Frage entschieden zu werden, wie weit die materielle Überprüfung in der Abgrenzung zur Regelungsbefugnis der öffentlichen Politik reiche, denn es genüge die Untersuchung, ob die verfahrensrechtlichen Anforderungen der Vorschrift mit den Prinzipien einer "fundamental justice" übereinstimmen 219 .

217 218 219

Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (401). Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (402-407). Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (399).

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Um die Reichweite der Gesetzesregelung zu erkennen, müsse dazu die praktische Anwendbarkeit berücksichtigt werden. Vielfältiges Material liefere der bereits angesprochene Badgley Report, der die Schwierigkeiten der Durchführung des Gesetzes ersichtlich mache. So habe das scheinbar neutrale Erfordernis, daß vier Mediziner in einem Krankenhaus zur Verfügung stehen müssen, drei für das Komitee, einer zur Durchführung der Abtreibung, zur Folge, daß in einem Viertel der Krankenhäuser in Kanada Abtreibungen nicht durchgeführt werden können, da weniger als vier Mediziner zur Verfügung stehen. Durch die Anforderungen, die an akkreditierte oder anerkannte Krankenhäuser gestellt würden, und die in keinem sachlichen Zusammenhang zu den Abtreibungen stünden, sondern z.B. von der verfügbaren Bettenzahl abhingen, werde noch einmal ca. 33,5% der Krankenhäuser die Durchführung von Abtreibungen verwehrt. Auch stehe es hierbei in der Macht der Provinzregierungen, solche Regelungen für die Anerkennung zu erlassen, die kein Krankenhaus der Gegend erfüllt, so daß damit eine Abtreibung in dem Bezirk ganz unmöglich gemacht würde. Die Einrichtung eines Abtreibungskomitees erfolge auf freiwilliger Basis, so daß im Ergebnis nur die Hälfte der Krankenhäuser, die praktisch in der Lage wären, Abtreibungen durchzuführen, von dieser Möglichkeit auch Gebrauch machten 220 . Ein weiterer Mangel der formalen Regelung sei das Fehlen von Richtlinien, an denen sich das Ärztekomitee orientieren könne, um eine Gefahr für Leben oder Gesundheit der Schwangeren festzustellen. Ob im Sinne der Definition der "World Health Organisation" von dem Begriff der Gesundheit nicht nur die physische, sondern auch die psychische Gesundheit umfaßt werde, bliebe offen und werde von den Komitees unterschiedlich beurteilt 2 2 1 . Diese vielfältigen Probleme zur praktischen Realisierung einer Indikation widersprächen den Grundsätzen von Gerechtigkeit. Denn ein wesentlicher Punkt des Strafrechtssystems sei, daß, wenn der Gesetzgeber eine Ausnahmeregelung zur Strafbarkeit geschaffen hat, diese Ausnahme nicht so schwer zu erreichen sein darf, daß sie praktisch illusorisch werde. Nach den Fakten des Badgley Reports sei es für viele Frauen Kanadas entweder gar nicht möglich, oder nur unter großen Schwierigkeiten, u.U. durch Reisen in andere Provinzen, eine rechtmäßige Abtreibung zu erhalten 222 .

220 221 222

Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (407-410). Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (411). Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (412-413).

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Zusammenfassend sei die Struktur des Indikationstatbestands in sich selbst so ungerecht und voller Hindernisse zur eigenen Verwirklichung angelegt, daß sie als nicht vereinbar mit den Prinzipien einer "fundamental justice" angesehen werden könne 2 2 3 . - section 1 Obwohl die Verletzung der s.7 festgestellt wurde, könnte die Vorschrift trotzdem nach s.l der Charter Bestand haben. Danach dürfen die in der Charter enthaltenen Rechte nur innerhalb vernünftiger gesetzlicher Grenzen beschränkt werden, die in einer freien und demokratischen Gesellschaft zu rechtfertigen sind 2 2 4 . Nach den von der Rechtsprechung des Supreme Court entwickelten Kriterie n 2 2 5 ist diese Voraussetzung gegeben, wenn: a) das Ziel des Gesetzes von solcher Wichtigkeit ist, daß die Einschränkung zu rechtfertigen ist und b) die Mittel der Einschränkung vernünftig und in einer freien und demokratischen Gesellschaft nachweislich gerechtfertigt sind. Der zweite Punkt entspricht einem Verhältnismäßigkeitstest. Demnach sollen die Mittel zur Verwirklichung eines wichtigen Zieles vernünftig, gerecht und nicht willkürlich gewählt sein. Außerdem soll das verletzte Recht so wenig wie möglich eingeschränkt werden. Als letztes sollen die Einschränkungen nicht unverhältnismäßig zum angestrebten Ziel sein. Richter Dickson sieht als Ziel des Gesetzes den Interessenausgleich zwischen dem Schutz von Leben und Gesundheit der Frau und dem Schutz des Fötus an. Er enthält sich dabei der Beantwortung der Frage, ob der Fötus möglicherweise einen eigenen verfassungsrechtlichen Wert habe. S.251 des Criminal Code stelle das Interesse des Schutzes des Fötus dann zurück, wenn Leben oder Gesundheit der Frau gefährdet seien. Das Leben und die Gesundheit der Frau seien demnach als vorrangig zu betrachten 226 . Sowohl der Schutz der Gesundheit der Frau als auch der Schutz des Fötus seien Staatsinteressen von Bedeutung. Das Ziel, den Ausgleich der widerstreitenden Interessen zu schaffen, sei auch prinzipiell geeignet, Grundrechte einzuschränken.

223

Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (414). In s.l der Charter heißt es: "The Canadian Charter of Rights and Freedoms guarantees the rights and freedoms set out in it subject only to such reasonable limits prescribed by law as can be justified in a free and democratic society." 225 Es wird verwiesen auf: R. ν. Big M Drug Mart Ltd., 18 D.L.R. (4th) 321 (352); der Test wurde in R. v. Oakes, 26 D.L.R. (4th) 200 (227-228) entwickelt. 226 Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (415). 224

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D. Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe

Aber die eingesetzten Mittel erfüllten keine der vom Gericht aufgestellten Kriterien zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit nach s.l der Charter. Zum einen erfolge die Einschränkung des in s.7 der Charter geschützten Rechts der Frau auf Sicherheit der Person, wie zuvor bereits festgestellt worden sei, nicht in Übereinstimmung mit den fundamentalen Prinzipien der Rechtsordnung. Die Ausgestaltung sei willkürlich und ungerecht erfolgt. Zum anderen würden die Rechte der Frauen mehr als nötig eingeschränkt, da viele Frauen aufgrund der komplizierten Ausgestaltung entweder doch straffällig würden oder u.U. nur nach traumatischer Verzögerung ihre Schwangerschaftsunterbrechung erhielten. Diese Nachteile stünden in keinem Verhältnis zu dem Ziel des Gesetzes, das ja auch dem Schutz der Schwangeren dienen solle. S.251 des Criminal Code sei demnach auch nach s.l der Charter verfassungswidrig 227 . Richter Lamer schließt sich diesem Votum an. - Votum des Richters Beetz Die Ausführungen des Richter Beetz stimmen im wesentlichen mit denen des Chief Justice Dickson überein. Er sieht in der Regelung des s.251 auch eine Verletzung der Sicherheit der Frau, definiert diese jedoch etwas enger. Die Verletzung resultiere seiner Meinung nach daraus, daß das Strafrecht eine Frau daran hindern könne, bei Lebens- oder Gesundheitsgefahr möglichst schnell eine medizinische Behandlung zu erhalten 228 . Auch die zeitlichen Verzögerungen auf Grund der prozeduralen Erfordernisse von s.251 erhöhten die medizinischen Risiken und könnten möglicherweise zu einem psychologischen Trauma führen. Dies begründe eine Verletzung der Sicherheit der Person 229 , die den Prinzipien der fundamental justice nicht entspreche 230 . Bei den Erwägungen zur Vereinbarkeit des Gesetzes mit s.l der Charter ist er der Auffassung, im Unterschied zum Votum der Richter Dickson und Lamer, daß der Zweck des Gesetzes vorrangig der Schutz des Fötus sei. Dieses Staatsziel rechtfertige prinzipiell auch Einschränkungen der Rechte der Frauen. Einige der in s.251 getroffenen Regelungen seien jedoch nicht geeignet, dieses Ziel zu erreichen und stellten daher keine sinnvolle Regelung dar. Da die eingesetzten staatlichen Mittel zum Schutz des Fötus weiterhin auch in keinem vernünftigen Verhältnis zur Erreichung des angestrebten Zieles stünden, die

227 228 229 230

Morgentaler, Morgentaler, Morgentaler, Morgentaler,

Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (416-417). Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (427-428). Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (429-439). Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (440-452).

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Gesundheit der Frau durch die festgestellten Verzögerungen gerade noch gefährdet würde, entspreche dies auch nicht dem Verhältnismäßigkeitstest. Ergänzend führt Richter Beetz aus, daß seiner Meinung nach das Staatsziel des Schutzes des Fötus keine Regelung rechtfertigen könne, die überhaupt keine Ausnahmeregelung zum Schutz der Gesundheit der Frau träfe. Eine Abstufung, die der Frau in den letzten Monaten der Schwangerschaft eine stärkere Einschränkung ihres Rechtes zumute, könnte dagegen mit s.l vereinbar sein 2 3 1 . Richter Estey schließt sich diesem Votum an. - Votum der Richterin Wilson Richterin Wilson kommt mit der Mehrheit der Richter im Ergebnis zur Verfassungswidrigkeit der Norm, ihre Begründung weicht aber erheblich von den zuvor dargelegten Äußerungen ab. Das verfassungsrechtliche Problem des Gesetzes sieht sie nicht wie ihre Kollegen in dessen verfahrensrechtlicher Ausgestaltung, sondern darin, daß eine Frau überhaupt gegen ihren Willen zur Austragung einer Schwangerschaft verpflichtet werden könne 2 3 2 . Ob diese Einschränkung der Entscheidungsfreiheit mit den in der Charter garantierten Rechten vereinbar sei, ist das zentrale Thema ihres Votums. Zunächst geht sie wie ihre Richterkollegen von einer Verletzung der s.7 der Charter aus. Entscheidungsrelevant sei hierbei aber nicht nur die mögliche Verletzung der psychischen und physischen Sicherheit, sondern es sei insbesondere das in s.7 ebenfalls garantierte Freiheitsrecht zu beachten 233 . Dieses Recht beinhalte die Freiheit des einzelnen zu persönlichen Entscheidungen, die vom Staat zu respektieren seien. Interessante Parallelen seien zu der USamerikanischen Verfassung und den dortigen Entscheidungen des Supreme Court zu sehen, der ein Entscheidungsrecht der Frau, ob sie eine Schwangerschaft fortführen oder abbrechen lassen möchte, aus dem right to privacy des 14. Verfassungszusatzes entwickelte 234 . S.7 der kanadischen Charter enthielte ein vergleichbares Recht auf persönliche Gewissensentscheidungen, zu denen "ohne Zweifel" auch das Recht der Entscheidung über eine Abtreibung gehöre235.

231

Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (422, 456-457). 232 Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (482). 233 Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (484). 234 Richterin Wilson verweist dazu auf die Entscheidungen Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973) und Doe v. Bolton, 410 U.S. 179 (1973). 235 Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (490).

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Denn diese Entscheidung habe nicht nur gewichtige psychologische, wirtschaftliche und soziale Folgen, sondern sei auch Ausdruck der persönlichen, ethischen und sozialen Haltung. Die Entscheidungsfreiheit werde durch die Einschränkung des s.251 des Criminal Code verletzt. Denn die Entscheidung darüber, ob eine Abtreibung durchgeführt werden könne oder nicht, werde danach nicht von der Frau getroffen, sondern von einem Komitee 2 3 6 . In der Beurteilung der Verletzung der Sicherheit der Person nach s.7 schließt sie sich den Voten der Richter Beetz und Dickson an. Die Verletzung der Prinzipien einer fundamental justice begründet sie insbesondere damit, daß nicht nur s.7, sondern auch andere Rechte der Charter durch den Criminal Code verletzt würden 2 3 7 . Denn die Einschränkung der Entscheidungsfreiheit der Frau widerspreche auch der Garantie der Freiheit des Gewissens, statuiert in s.2 der Charter 238 . Bei der Prüfung des s.l der Charter stellt sie fest, daß der Schutz des Fötus als Zweck des Gesetzes anzusehen sei. Dieses Ziel sei auch grundsätzlich geeignet, das Recht der Frau aus s.7 einzuschränken. Fraglich sei nur, wann das Recht des Fötus so erheblich geworden sei, daß es das Entscheidungsrecht der Frau verdrängen könne 2 3 9 . Zur Beantwortung dieser Frage verweist sie noch einmal auf die Rechtsprechung des Supreme Court der USA, die den Interessenausgleich zwischen dem Schutz des Fötus und der Entscheidungsfreiheit der Frau in zeitlichen Stufen vornehme. Das Staatsinteresse könne danach mit fortschreitender Schwangerschaftsdauer höher gewertet werden. Die Entscheidung der Festlegung eines bestimmten Zeitpunkts sei letztlich dem Gesetzgeber überlassen, unzulässig sei aber jedenfalls eine pauschale Beurteilung ohne Berücksichtigung des Stadiums der Schwangerschaft, wie sie in s.251 vorgenommen wurde. Dies sei nicht nur eine Beschränkung des Rechts der Frau, sondern ein Bestreiten der Existenz desselben 240 .

236 237 238 239 240

Morgentaler, Morgentaler, Morgentaler, Morgentaler, Morgentaler,

Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (491). Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (497). Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (494). Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (498). Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (500).

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- Votum des Richters Mclntyre Richter Mclntyre, dem sich Richter La Forest anschließt, verfaßte eine abweichende Meinung, die ein Schulbeispiel der richterlichen Zurückhaltung darstellt und vor den Gefahren der richterlichen Gesetzgebung unter dem Mantel der Charter-Interpretation warnt. Seiner Meinung nach hat das Gericht hier Aufgaben des Parlamentes wahrgenommen und gesetzgeberische Erwägungen getroffen. Die Charter habe zwar neue Überprüfungsrechte des Gerichtes eingeführt, aber dies bringe die Gefahr mit sich, die Entscheidungen von den politischen Meinungen der Richter abhängig werden zu lassen. Die einzige Möglichkeit, dem Sinn der Verfassung gerecht zu werden, bestehe darin, sich strikt an die Verfassung zu halten und nur solche Interpretationen zuzulassen, die einen klaren Ursprung in der Verfassung zeigen 2 4 1 . Die Auffassung der Richterin Wilson und des Vorsitzenden Richters Dickson basierten, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch inzident, auf der Annahme, daß der Frau unter s.7 der Charter ein Recht auf Abtreibung garantiert sei. Der Zwang zur Austragung einer Schwangerschaft werde von ihnen als Verletzung der Sicherheit der Person behandelt, ergo beinhalte s.7 ein Recht darauf, eine Abtreibung zu erhalten 242 . Hierzu werde aber in der Verfassung nichts gesagt, auch aus einer historischen Betrachtung ließe sich kein Recht auf Abtreibung begründen, da diese von jeher strafbar gewesen sei. Eine Verletzung der Sicherheit der Person sei nicht schon bei jeder staatlichen Beanspruchung anzunehmen, die Streß auslöse, sondern nur dann, wenn ein verfassungsrechtlicher Schutz bestehe. Dieser existiere im Bereich der Abtreibung nicht, daher sei s.7 durch den Criminal Code nicht verletzt 2 4 3 . Den Bedenken gegen die verfahrensrechtliche Ausgestaltung der Indikationsregelung könne er nicht folgen, da eine Ausnahmeregelung nur in dem Maße erreichbar sein müsse, in dem es vom Parlament beschlossen sei. Die Durchführung einer Abtreibung werde durch s.251 des Criminal Code nicht unmöglich gemacht. Eventuell bestehende Durchführungsschwierigkeiten oder mangelnde Effektivität seien vom Gesetzgeber, nicht von den Gerichten zu korrigieren 244 .

241 242 243 244

Morgentaler, Morgentaler, Morgentaler, Morgentaler,

Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (463-467). Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (468). Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (473). Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385 (480).

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156 - Ergebnis

Mit dieser Entscheidung wurde die bundesweite Straffreiheit der Abtreibung in Kanada erreicht, obwohl die Richter davon ausgingen, daß der Gesetzgeber im Prinzip befugt sei, die Abtreibung mit den Mitteln des Strafrechts zu regeln 2 4 5 . In den Voten der Richter Dickson/Lamer und Beetz/Estey wurde die Verfassungswidrigkeit allein damit begründet, daß die Auswirkungen der Regelung zu Ungerechtigkeiten führe. Wie eine verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende strafrechtliche Regelung aussehen könnte, ob z.B. eine Indikationenoder Fristenregelung prinzipiell zulässig sei, wurde von den Richtern nicht entschieden, sondern allenfalls am Rande angedeutet. Allein Richterin Wilson setzte sich mit der Frage auseinander, ob nicht nur die Auswirkungen, sondern auch die strafrechtliche Regelung selbst mit den verfassungsrechtlichen Garantien der Charter vereinbar sei. Alle 7 Richter erkennen ein prinzipielles Staatsinteresse am Schutz des Fötus an, aber die Frage, ob dem Fötus selbst verfassungsrechtlicher Schutz zukommen könne, wurde nicht beantwortet. Für die pro-choice Bewegung schien das Urteil wie ein doppelter Gewinn. Zum einen, da die angegriffene Gesetzgebung aufgehoben worden war, zum anderen, da hierdurch die parallele Klage von Borowski gegenstandslos geworden zu sein schien.

5. Borowski v. Canada - Lebensschützer vor Gericht, 2. Teil Im Oktober 1988 war Joe Borowski mit dem Verfahren Borowski v. Attorney-General for Canada 246 zurück vor dem Supreme Court, um die Indikationsregelung der s.251 des Criminal Code für verfassungswidrig erklären zu lassen. Nunmehr mit dem zusätzlichen Argument, daß die in der Charter of Rights and Freedoms garantierten Rechte des Fötus verletzt würden. 245 Besprechungen des Urteils finden sich beispielsweise in folgenden Aufsätzen: Lorraine Eisenstat Weinrib, The Morgentaler Judgement: Constitutional Rights, Legislative Intention, And Institutional Design; University of Toronto Law Journal, Vol. XLII, No. 1, Winter 1992, S. 22-76; Geoffrey Marshall, Liberty, Abortion And Constitutional Review in Canada; in: A.W. Bradley (Hrsg.), Public Law, London 1988, S.l 99219; Bernd Rasehom, Ein Grundrecht auf Abtreibung und die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen in Kanada; in: Zeitschrift der Gesellschaft für Kanada-Studien, 1990, 1 O.Jahrgang/Nr. 1, Band 17, S.97-111; M.L. McConnell, "Even By Commonsense Morality": Morgentaler, Borowski And The Constitution Of Canada; in: The Canadian Bar Review, Vol.68, 1989, S.765-796. 246 Borowski v. Att.-Gen. of Canada 57 D.L.R. (4th) 231, 1989.

II. Kanada

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Damit hatten sich die Befürchtungen von Richter Laskin, die er in seiner abweichenden Meinung 1981 zur Klagebefugnis von Borowski geäußert hatte, nunmehr erfüllt. Das Gericht sollte ohne einen konkreten Streitfall und ohne Gesetz über die Verfassungsrechte der Ungeborenen entscheiden; es gab keine direkt Betroffenen, aber die Beteiligung von Interessenverbänden. Entgegen der Erwartungen der pro-choice Verbände und auch der Regierung, verschob das Gericht die Frage der Zulässigkeitsvoraussetzungen und ließ die Beweisaufnahme zu, auch zu der Frage der Persönlichkeit des Fötus. Borowski und die pro-life Verbände erhofften sich ein Urteil, das in abstrakter Form erklären würde, daß auch der Fötus von s.7 der Charter geschützt werde. Damit hätten sie ihre Position gegenüber einer vom Parlament zu beschließenden neuen Gesetzgebung gestärkt. Dies wollten die pro-choice Verbände verhindern 2 4 7 . In der Vorentscheidung des "Saskatchewan Court of Appeal" 2 4 8 war die Klage Borowskis abgewiesen worden. Das Gericht begründete dies damit, daß s.7 der Charter, demnach jedem das Recht auf Leben garantiert wird, nicht auch für den ungeborenen Mensch gelte. Der Begriff "jeder" sei in der Verfassung nicht definiert und es müsse daher aus der Geschichte beantwortet werden, ob auch der Fötus davon umfaßt wird. Der Schutz des ungeborenen Lebens sei in der geschichtlichen Entwicklung weder umfassend, noch durchgehend geregelt. Respekt und Achtung für menschliches Leben seien zwar Traditionen des Rechts, aber diese Tradition gelte nicht in gleicher Form auch für den Fötus 2 4 9 . Auch in den USA und den europäischen Staaten, mit Ausnahme der Bundesrepublik Deutschland, werde der Fötus nicht in den verfassungsrechtlichen Schutz des Lebens miteinbezogen 250 . Eine Auslegung der Canadian Bill of Rights oder der Charter, die den Schutz des Fötus als "jeder" miteinbezöge, sei daher wegen des andersgearteten traditionellen Verständnis nicht möglich. Für die Geltung des verfassungsrechtlichen Schutzes auch für den Fötus bedürfe es einer klaren und ausdrücklichen Einbeziehung, an der es jedoch fehle. Der Fötus sei daher nicht von der Charter geschützt. Der Supreme Court 2 5 1 verwarf in der Entscheidung schon die Zulässigkeit der Klage, so daß es sich nicht mit der Frage der Geltung der Verfassung für den Fötus auseinanderzusetzen hatte. Das Gericht befand einstimmig, daß der 247 248 249 250 251

11 Moors

Vgl. Morton, S.261-270. Borowski v. Att.-Gen. of Canada, 39 D.L.R. (4th) 731, 1987. Borowski v. Att.-Gen. of Canada, 39 D.L.R. (4th) 731 (740-741). Borowski v. Att.-Gen. of Canada, 39 D.L.R. (4th) 731 (744-748). Borowski v. Att.-Gen. of Canada, 57 D.L.R. (4th) 231.

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Fall erledigt sei, da die Ungültigkeit der s.251 der Klage ihre Grundlage entzogen habe, nämlich der Behauptung einer Verletzung durch dieses Gesetz 252 . Die rein theoretische Beantwortung von verfassungsrechtlichen Fragen ohne Bezug zu konkretem staatlichen Handeln entspreche nicht dem traditionellen Verständnis des Gerichts, das eine noch zu treffende Entscheidung des Parlaments nicht vorwegnehmen möchte 2 5 3 . Der Kläger habe auch keine Klagebefugnis mehr, denn die Klagebefugnis sei mit dem persönlichen Interesse an einer Entscheidung verbunden. Eine Überprüfung der Verfassungsvereinbarkeit aus den vom Kläger vorgetragenen Gründen würde nunmehr bereits hypothetisch gewordene Fragen aufwerfen. Die Klage beziehe sich weder auf ein geltendes Gesetz noch anderes staatliches Handeln, das noch tatsächliche Auswirkungen haben könne 2 5 4 . Das Gericht hatte damit Borowski nicht mehr als eine Anhörung seiner Argumente gewährt. Dem Gesetzgeber wurde in der Frage der Ausgestaltung des Schutzes des Fötus in einem neu zu schaffenden Gesetz nicht vorgegriffen.

6. Tremblay v. Daigle - Rechte des Vaters Während das Gericht die Beantwortung der Frage nach Rechten des Fötus in Borowski v. Attorney-General noch vermied, traf es 1989 in dem Fall Tremblay v. Daigle 2 5 5 diesbezüglich eine Entscheidung, obwohl sich die Sache vorher erledigt hatte. Jean-Guy Tremblay erreichte eine einstweilige Verfügung gegen seine ehemalige Lebensgefährtin Chantal Daigle, die ein Kind von ihm erwartete und dies nach einer Trennung des Paares nicht austragen wollte. In der einstweiligen Verfügung wurde ihr eine Abtreibung untersagt, da das ungeborene Kind ein menschliches Wesen sei und demnach in seinem Recht auf Leben durch Artikel 1 der Quebec Charter of Human Rights geschützt werde. Die Entscheidung wurde in allen Instanzen bestätigt, so daß sie schließlich dem Supreme Court vorlag. Zu diesem Zeitpunkt war Ms. Daigle bereits in der 22. Woche schwanger. Nachdem am 8. August 1989 morgens die mündliche Anhörung begonnen hatte, verkündete der Anwalt von Ms. Daigle nach der Mittagspause, daß er soeben erfahren habe, daß seine Mandantin eine Abtrei252 253 254 255

Borowski v. Att.-Gen. of Canada, 57 D.L.R. (4th) 231 (242-243). Borowski v. Att.-Gen. of Canada, 57 D.L.R. (4th) 231 (248-249). Borowski v. Att.-Gen. of Canada, 57 D.L.R. (4th) 231 (250-251). Tremblay ν. Daigle, 62 D.L.R. (4th) 634, 1989.

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bung erhalten habe. Damit war die einstweilige Verfügung im Prinzip erledigt und der Rechtsstreit gegenstandslos geworden. Trotzdem entschied das Gericht, die Verhandlung fortzusetzen und traf schließlich auch eine Entscheidung in der Sache. Denn - so die Begründung des Supreme Court - trotz der tatsächlichen Erledigung des Falles sei eine Entscheidung geboten, um prinzipiell die Situation von Frauen zu klären, die sich in einer ähnlichen Lage wie Ms. Daigle befinden könnten und um diesen denselben Weg durch die gerichtlichen Instanzen zu ersparen 256 . Nach der Beseitigung dieser Zulässigkeitshürde waren die zu entscheidenden Fragen, ob der Fötus ein Recht auf Leben nach der Canadian oder der Quebec Charter habe, und ob der potentielle Vater ein Mitbestimmungsrecht über eine Abtreibung habe. Das Gericht entschied einstimmig, daß es keine Rechte gäbe, die eine einstweilige Verfügung, wie sie gegen Ms. Daigle ergangen war, begründen könnten. Der Antragsteller argumentierte, daß der Fötus eine Person nach dem Code Civil von Quebec sei und daher auch ein menschliches Wesen im Sinne der Charter. Die Definition des Fötus als menschliches Wesen sei aber auch für sich betrachtet eine sprachliche Notwendigkeit. Das Gericht prüfte zunächst die sprachlich-textliche Argumentation: Die Quebec Charter of Human Rights and Freedoms garantiert jedem "menschlichen Wesen" das Recht auf Leben, persönliche Sicherheit, Unverletzlichkeit und Freiheit 2 5 7 . Das Gericht betont vor der Beantwortung der Frage, ob der Fötus ein menschliches Wesen im Sinne der Charter sei, daß es hier um den rein rechtlichen Aspekt gehe; Entscheidungen auf Grund von sozialen, moralischen oder wirtschaftlichen Wertungen seien vom Gesetzgeber zu treffen. Das schlichte, aber einleuchtende Argument des Antragstellers, daß ein Fötus nichts anderes als ein menschliches Wesen sein könne, findet das Gericht 256

Tremblay ν. Daigle, 62 D.L.R. (4th) 634 (648, 664); wenn auch vom Gericht nicht angesprochen, so kann doch die Tatsache eine Rolle gespielt haben, daß dies nicht der erste Versuch eines Mannes war, eine Abtreibung zu verhindern. In Alberta und Manitoba waren diese Versuche in der ersten Instanz fehlgeschlagen, aber einen Monat zuvor, im Juli 1989, wurde in dem Fall "Murphy v. Dodd" in Toronto, Ontario auf Veranlassung eines Mannes eine Verfügung erlassen, die seine Freundin an einer Abtreibung hindern sollte; obwohl diese Verfügung bereits eine Woche später wieder aufgehoben wurde, hatte der Fall große Schlagzeilen gemacht; siehe dazu Morton, S.275. 257 In Kapitel I, Satz 1 der Human Rights and Freedoms heißt es: "1. Every human being has a right to life, and to personal security, inviolability and freedom. He also possesses juridicial personality." zitiert nach Tremblay v. Daigle, 62 D.L.R. (4th) 634 (639). 1*

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nicht überzeugend. Eine rein sprachliche Interpretation werde dem komplexen Problem nicht gerecht, und könne ebensowenig wie eine rein wissenschaftliche Betrachtungsweise der hier erforderlichen juristischen Interpretation genügen258. Der Antragsteller argumentiert weiterhin, daß an anderer Stelle in der Charter von Rechten von Personen die Rede ist, woraus abgeleitet werden könne, daß ein Unterschied zwischen menschlichen Wesen und Personen bestehe und der Begriff menschliches Wesen in seiner umfassenderen Bedeutung auch Föten einschließe. Das Gericht bezweifelt diese Logik und findet es wahrscheinlicher, daß der Begriff "menschliches Wesen" deswegen gewählt wurde, um nicht-natürliche Personen, wie z.B. juristische Personen, auszuschließen 2 5 9 . In einer historischen Interpretation kommt das Gericht zu dem Ergebnis, daß es nicht in der Absicht der Verfasser der Quebec Charter lag, den Status von Föten rechtlich zu regeln. Gerade die Tatsache, daß keine Definition der Begriffe "Person" oder "menschliches Wesen" erfolgte, spreche dafür, daß der Fötus nicht geschützt werden sollte, denn für einen effektiven Schutz hätte diese Frage deutlich beantwortet werden müssen und nicht dem Gutdünken Dritter überlassen werden können 2 6 0 . Diese Interpretation, daß ein Fötus kein menschliches Wesen im Sinne der Quebec Charter sei, werde auch nicht durch das Argument des Antragstellers beeinflußt, daß der Fötus eine Person nach dem Code Civil von Quebec sei und dieses für die Interpretation der Charter zu beachten sei. Denn entgegen der Annahme des Antragstellers ist das Gericht auch nicht der Auffassung, daß der Fötus eine Person i.S. des Code Civil sei. Der Code Civil berücksichtige zwar in einigen Ausnahmefällen die Rechte gezeugter, aber noch nicht geborener Kinder, und behandele sie als Personen. Dies gilt jedoch nur unter der Voraussetzung, daß sie lebend geboren werden, ansonsten werden die Rechte hinfällig, als hätte es das Ungeborene nie gegeben. Die Behandlung des Ungeborenen als Person sei daher eine Fiktion des Zivilrechts, um dem Fötus in bestimmten Konstellationen zukünftige Rechte zu sichern. Da es sich um eine Fiktion handele, werde hierdurch gerade die gegenteilige Position unterstützt, daß nämlich prinzipiell, d.h. wenn keine Fiktion eingreift, der Fötus auch keine Person im Sinne des Code Civil sei. Diese Auslegung erfolge auch in Übereinstimmung mit der Entscheidung Montreal

258 259 260

Tremblay ν. Daigle, 62 D.L.R. (4th) 634 (650). Tremblay ν. Daigle, 62 D.L.R. (4th) 634 (651). Tremblay ν. Daigle, 62 D.L.R. (4th) 634 (662).

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Tramways 2 6 1 , in der zwar die Möglichkeit des Schadensersatzes für vorgeburtliche Verletzungen anerkannt wurde, damit ging jedoch nicht die Anerkennung der juristischen Persönlichkeit des Ungeborenen einher 2 6 2 . Die Frage, ob der Fötus ein Recht auf Leben nach s.7 der kanadischen Verfassung haben könnte, wurde vom Gericht nicht beantwortet. Da es um eine zivilrechtliche Streitigkeit zwischen Privatpersonen ging und kein staatliches Handeln vorlag, war die Charter nach Auffassung des Gerichtes nicht anwendbar263. Mögliche Rechte des potentiellen Vaters, auf Grund seines Beitrags zur Zeugung des Fötus, wurden vom Gericht - kurz, aber eindeutig - verneint. Hierfür gäbe es weder eine gesetzliche Grundlage, noch irgendeinen Fall, in dem derartige Rechte jemals anerkannt worden wären 2 6 4 . In einem kurzen Exkurs verweist das Gericht darauf, daß auch das common law keine Rechte des Fötus anerkenne. Dies werde ausgeführt, um dem Versuch einer Wiederholung dieser einstweiligen Verfügung in common-law Provinzen vorzubeugen 265 . Im auffälligen Unterschied zu der Borowski-Entscheidung von 1988, hat das Gericht hier einen hypothetischen Fall ohne eine aktuelle, zu Grunde liegende Streitigkeit entschieden, und darüber hinaus noch Hinweise für zukünftige, ähnlich gelagerte Fälle gegeben.

7. The Queen v. Morgentaler Nova Scotias Kampf gegen Abtreibungskliniken Am 4. Februar 1993 stand Henry Morgentaler in der Verhandlung zu The Queen v. Morgentaler 266 das dritte Mal vor dem Obersten Gerichtshof. Er hatte sich gegen die Anklage der Provinz Nova Scotia zu verteidigen, Abtreibungen entgegen den Bestimmungen des Medical Services Act durchgeführt zu haben.

261

Montreal Tramways Company v. Paul Levéillé, Canada Law Report 1933, S.456-488. 262 Tremblay ν. Daigle, 62 D.L.R. (4th) 634-665 (654-659). 263 Tremblay ν. Daigle, 62 D.L.R. (4th) 634 (664). 264 Tremblay ν. Daigle, 62 D.L.R. (4th) 634 (665). 265 Tremblay ν. Daigle, 62 D.L.R. (4th) 634 (660). 266 The Queen v. Morgentaler, 3 S.C.R. 463, 1993.

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D. Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe

Die Vorschrift war 1989 von der Provinz erlassen worden und beschränkte die Durchführung von Abtreibungen auf öffentliche Krankenhäuser. Eine inhaltsgleiche Voraussetzung war im Morgentaler-Fall 1988 - wegen der dadurch verursachten Verzögerung - als Teil des damals geltenden Strafgesetzes aufgehoben worden. Nova Scotia versuchte, das identische Erfordernis als gesundheitsrelevante Gesetzgebung wieder einzuführen. Bei einem Verstoß gegen den Medical Services Act war eine Geldstrafe zwischen $ 10.000 und $ 50.000 vorgesehen. Zusätzlich wurde bestimmt, daß von der Krankenversicherung nur noch Abtreibungen finanziert werden sollten, die in öffentlichen Krankenhäusern durchgeführt wurden. In den vorinstanzlichen Entscheidungen waren die Regelungen aufgehoben worden, da sie strafrechtlicher Natur seien und damit nicht in den Kompetenzbereich der Provinz fielen. Diese Entscheidung wurde vom Supreme Court bestätigt. Dr. Morgentaler stritt nicht ab, Abtreibungen in seiner Klinik und damit entgegen den Bestimmungen durchgeführt zu haben. Zu seiner Verteidigung berief er sich jedoch auf die Unwirksamkeit der Gesetzgebung, da diese nach Natur und Inhalt eine strafrechtliche Regelung sei, die in den alleinigen Kompetenzbereich des Bundes falle. Die Regelung durch die Provinz sei daher "ultra vires", d.h. in Überschreitung ihrer Gesetzgebungskompetenz erlassen worden 2 6 7 . Die Provinz berief sich dagegen auf die ihr nach Art. 92 (7) des Constitution Act zustehende Befugnis zur Regelung von Krankenhäusern. Ziel und Absicht des Gesetzes seien nicht strafrechtlicher Natur gewesen, sondern die Privatisierung bestimmter medizinischer Leistungen sollte verhindert werden, um eine gleichbleibende Qualität für alle Bürger zu sichern. Es ging bei dem Fall allein um die Frage der Kompetenz, bzw. um die rechtliche Natur der erlassenen Regelung. Das Gericht prüfte dazu den Hintergrund der Gesetzgebung, der zu der Verabschiedung führte, sowie die beabsichtigten und zu erwartenden Auswirkungen des Gesetzes. Der Supreme Court 267

The Queen v. Morgentaler, 3 S.C.R. 463 (468-472); die Gesetzgebungsbefugnis von Bund und Provinzen sind in Artikel 91 und 92 des Constitution Act, 1867, geregelt. Nach Art.91 Nr.27 hat der Bund das Recht zur Strafgesetzgebung. Die Provinzen kontrollieren nach Art.92 Nr.7 die Errichtung, den Unterhalt und den Betrieb von Krankenhäusern, sowie nach Nr. 13 Eigentums- und Bürgerrechte der Provinz und nach der Generalklausel der Nr. 16 obliegt ihnen auch jede Materie, die rein lokaler oder privater Natur in der Provinz ist. Weiterhin erlaubt Art.92 Nr. 13 den Erlaß von Berufsausübungsregeln, rwobei diejenigen für Ärzte wiederum für Abtreibungen Relevanz haben können; zu dieser Abgrenzung siehe Mollie Dunsmuir, Abortion: Constitutional and Legal Developments; vom 29.11.1989, zuletzt überarbeitet am 13.4.1993, Research Branch, Library of Parliament, S. 1-3.

II. Kanada

163

folgte im Ergebnis der Argumentation Dr. Morgentalers und entschied, daß die Bestimmungen strafrechtlicher Natur und daher - außerhalb der Regelungskompetenz der Provinz - verfassungswidrig seien. Denn aus der Geschichte der Gesetzgebung ergäbe sich, daß die Regulierung zu dem Zweck erlassen worden sei, Dr. Morgentaler an der von ihm angekündigten Eröffnung einer Klinik zu hindern. Dies sei nicht - wie behauptet - aus Gründen des Gesundheitsschutzes geschehen, sondern wegen einer prinzipiellen Abneigung der Abgeordneten gegen Abtreibungskliniken 268 . Die von der Regierung angegebenen Gründe der Sicherung eines einheitlichen Standards der medizinischen Leistung erscheinen dem Gericht dagegen vorgeschoben, da nichts dafür spreche, daß Abtreibungen in Kliniken mit größeren Gesundheitsgefahren oder mit erhöhten Kosten der Provinz verbunden seien 2 6 9 . Damit hatte das Gericht den Versuch der Provinz, die strafrechtliche Lücke im Bundesrecht durch eine Provinzregelung zu ersetzen, deutlich zurückgewiesen.

8. Zwischenergebnis In Kanada hat die Einführung der Charter zu einer deutlich anderen Rolle des Gerichtes gegenüber der Gesetzgebung geführt. Obwohl auch in der Bill of Rights das Recht auf Sicherheit der Person garantiert wurde, konnte erst die verfassungsrechtliche Verankerung in der Charter zu einer gerichtlichen Überprüfung der Abtreibungsgesetzgebung führen, die diese für nichtig erklärte. Trotz der Aufhebung des Gesetzes wurden dem Parlament vom Obersten Gericht auch 1988 nur wenige deutliche Vorgaben gemacht. Durch die Beschränkung der Begründungen von vier Richtern im Morgentaler-Fall 1988 auf eine Verletzung der Sicherheit der Person aus verfahrensrechtlichen Gesichtspunkten, wurde offen gehalten, ob eine Frau ein Recht auf eine Abtreibung haben kann. Von Richterin Wilson wurde das Recht einer Frau auf eine Abtreibung dagegen bejaht, von den Richtern Mclntyre und La Forest wurde dies deutlich verneint. Die Sicherheit der Person erfordert nach Ansicht einer Mehrheit des Gerichtes, daß der Erhalt einer Abtreibung aus Gesundheitsgründen möglich sein muß. Und diese Gesundheitsgründe umfassen - wie sich aus der Interpretation des Gerichtes zur Sicherheit ergibt - auch psychologische Faktoren wie Streß.

268 269

The Queen v. Morgentaler, 3 S.C.R. 463 (503). The Queen v. Morgentaler, 3 S.C.R. 463 (506,510,512-513).

164

D. Rechtsprechung der Obersten Gerichtshöfe

Eventuelle Rechte des Fötus nach der Charter hat das Gericht in keiner Entscheidung geprüft und dies auch bewußt unterlassen, um dem Gesetzgeber nicht vorzugreifen. Aus der Daigle-Entscheidung kann man jedoch ableiten, daß das Gericht wahrscheinlich keine Rechte des Fötus in der Charter verankert sieht und eine Interessenabwägung daher zwischen einem Staatsinteresse und einem Recht der Frau zu treffen ist, nicht zwischen zwei Rechten. Insofern steht es dem Gesetzgeber auch frei, auf einen Schutz des Fötus völlig zu verzichten. Diese Einschätzung ergibt sich aus der einstimmigen Interpretation der Charter von Quebec in Tremblay ν. Daigle, die entscheidende Hinweise auch bezüglich einer möglichen Auslegung der kanadischen Charter durch das Gericht enthält. Die Quebec Charter of Human Rights and Freedoms spricht im Gegensatz zu der kanadischen Charter von dem Recht auf Leben jedes menschlichen Wesens, nicht jeder Person. Eine Verneinung der Rechte des Fötus als "menschliches Wesen", obwohl dieser Begriff einer weiteren Interpretation zugänglich ist als der Begriff der "Person", zeigt daher die äußerst zurückhaltende Tendenz des Gerichts in der Gewährung von Rechten des Fötus. Eine davon abweichende Interpretation der Charter ist dementsprechend gering einzuschätzen. Zu einem weiteren Versuch der gerichtlichen Verhinderung einer Abtreibung durch möglicherweise entgegenstehende Rechte des Vaters oder des Fötus kam es folglich auch nicht.

I I I . Vergleich Beide Gerichte haben sich in unterschiedlicher Weise mit dem Problem des strafrechtlichen Verbots der Abtreibung auseinandergesetzt. Dies, obwohl die Vorgaben im Verfassungstext dahingehend ähnlich waren, daß in keiner der Verfassungen Abtreibung oder das ungeborene Leben erwähnt werden; dagegen existieren allgemeine Garantien zum Schutz von Leben und Freiheit. Gemeinsam ist die Entscheidung beider Gerichte, in den USA explizit, in Kanada implizit, das in der Verfassung garantierte Recht auf Leben nicht auf den Schutz des ungeborenen Lebens auszudehnen, sondern lediglich "Staatsinteressen" daran zuzulassen. Eine unterschiedliche Behandlung erfährt jedoch die Frage, ob eine Frau ein Recht auf Abtreibung hat. Die grundlegende US-amerikanische Entscheidung Roe v. Wade hat unter starker Betonung des Freiheitsrechtes der Frau aner-

III. Vergleich

165

kannt, daß die Entscheidung über eine Abtreibung allein der Frau zusammen mit ihrem Arzt zusteht. Zusätzlich schuf das Gericht durch einen pauschalierten Interessenausgleich klare Vorgaben für die Gesetzgebung, der die verbleibende Gestaltungsmöglichkeit der Einzelstaaten stark einschränkte. In den letzten Jahren wurde dies jedoch wieder relativiert, und das Entscheidungsrecht der Frau stärkeren gesetzlichen Einschränkungen unterworfen. In Kanada hat dagegen im Morgentaler-Fall von 1988 eine Mehrheit von vier Richtern die direkte Beantwortung der Frage, ob ein Abtreibungsrecht aus der Verfassung herzuleiten ist, bewußt vermieden, um dem Gesetzgeber bei einer Neuregelung nicht vorzugreifen. Zwei Richter lehnten ein aus der Verfassung begründetes Abtreibungsrecht ab, Richterin Wilson formulierte als einzige den verfassungsrechtlichen Schutz einer Abtreibungsentscheidung. Trotz der formalen Beschränkung des Urteils von vier Richtern auf die Feststellung der Verletzung der Sicherheit der Frau durch die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Gesetzes, finden sich aber auch hier Hinweise für eine zukünftige Gesetzgebung. So erfordert nach Meinung der Mehrheit des Gerichtes die Sicherheit der Person, daß einer Frau die Abtreibung aus Gesundheitsgründen möglich sein muß, wobei die Gesundheit auch durch psychische Faktoren bestimmt werde. Im Gegensatz zu Roe ν. Wade blieb aber - mit Ausnahme des Votums der Richterin Wilson - unklar, bis zu welchem Grad eine Einschränkung der Abtreibungsmöglichkeit verfassungsmäßig sein könnte. In den USA wurde mit der Abtreibungsregelung in Roe ν. Wade ein Urteil geschaffen, das typisch für einen richterlichen Aktivismus ist, denn das Gericht interpretiert die Verfassung nicht wörtlich oder historisch, sondern gestaltend und nimmt zudem gegenüber der Gesetzgebung eine starke Stellung ein. In seinen letzten Entscheidungen überläßt der Supreme Court der USA dem Gesetzgeber aber wieder mehr Gestaltungsfreiheiten. Die kanadische Entwicklung geht andererseits von einem Gerichtshof, der die Vorherrschaft des Parlamentes anerkennt, zu einem Verfassungsorgan, das durch die Charter ein Instrument der Kontrolle der Gesetzgebung erhalten hat und von dieser Möglichkeit auch Gebrauch macht. Die kanadischen Entscheidungen sind zwar zurückhaltender in der Interpretation der Verfassung, aber es finden sich auch dort Ausführungen, die wegen der Fallgestaltung nicht erforderlich gewesen wären. Auch die Tatsache, daß in Borowski v. AttorneyGeneral überhaupt eine mündliche Anhörung stattfand, sowie die Entscheidung in Tremblay ν. Daigle trotz der Erledigung der Sache, zeigen in Kanada ein starkes gerichtliches Selbstbewußtsein gegenüber dem Gesetzgeber, das über die Rolle als streitentscheidende Instanz hinausgeht.

E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß L USA 1. Gesetzgeberische Reformen des Bundes Der Bund hat in den USA keine strafrechtliche Kompetenz, aber er hat auf anderen Wegen, direkt oder indirekt, in der Abtreibungsfrage Einfluß genommen oder dies zumindest versucht. Als Reaktion auf höchstrichterliche Entscheidungen sind vor allem die Versuche einer Verfassungsänderung zu sehen, sowie zuletzt der FOCA (Freedom of Choice Act). Aber auch die Steuerungsmöglichkeiten des Gesundheitswesens wurden vom Bund genutzt, um die Auswirkungen der vom Gericht geschaffenen "Abtreibung auf Verlangen" abzuschwächen.

a) Verfassungsreformversuche Die Verfassungsreformversuche im Anschluß an die Roe-Entscheidung wurden von den Anhängern der pro-life Bewegung initiiert, denen die Abtreibungsentscheidung durch das Gericht viel zu weit ging. Es wurden zwei unterschiedliche Ansätze verfolgt: Das sogenannte "Human Rights Amendment" hatte zum Ziel, die gerichtliche Interpretation von Roe ν. Wade, nämlich daß der Fötus nicht von der Verfassung geschützt sei, zu revidieren. Dazu sollte der Begriff "Person" in der Verfassung verbindlich so definiert werden, daß auch das ungeborene Leben davon umfaßt wird. In den Jahren 1974, 1976 und 1981 hielten die Ausschüsse beider Häuser umfangreiche Anhörungen dazu ab, aber keiner der Ausschüsse empfahl die Annahme eines derartigen Verfassungzusatzes. Bedenken ergaben sich vor allem bei der Vorstellung, daß als Konsequenz des Zusatzes geborenes und ungeborenes Leben unter allen Umständen gleichermaßen geschützt werden müßte 1 .

1

Weigend, Landesbericht USA; in: Eser/Koch, Teil 2, S.949-1118 (1102-1104).

I. USA

167

Einen anderen Ansatz verfolgte das "States' Rights Amendment". Dieses versuchte durch einen Verfassungszusatz die Kompetenz des einzelstaatlichen Gesetzgebers wiederherzustellen, die vom Supreme Court unter Berufung auf die Bundesverfassung in Roe ν. Wade praktisch beseitigt worden war. Der Zusatz beinhaltete dazu die Feststellung, daß die Verfassung kein Recht auf Abtreibung gewähre, und daß Bund und Einzelstaaten eine konkurrierende Gesetzgebung in Bezug auf die Abtreibung hätten, wobei die jeweils restriktiveren Gesetze vorrangig sein sollten. Dieser Vorrang einer restriktiven Lösung sollte es - nach dem Plan der prolife Anhänger - ermöglichen, daß die Abtreibung doch nicht ausschließlich und endgültig von den Einzelstaaten geregelt werden sollte, sondern daß im Falle einer möglichen pro-life Mehrheit im Kongreß diese Politik für die Einzelstaaten verbindlich sein sollte. 1983 wurde ein entsprechender Antrag im Senat abgelehnt2.

b) Human Rights Bill Die Schwierigkeit einer Verfassungsänderung liegt in erster Linie an den schwer erfüllbaren formalen Voraussetzungen. Nach Art. V der Verfassung ist dazu eine 2/3 Mehrheit beider Häuser und die anschließende Ratifikation durch 3/4 der Staaten erforderlich. Die "Human Rights Bill" versuchte diese Schwierigkeit zu vermeiden, indem eine Veränderung der Interpretation des Begriffes "Leben" im 14. Verfassungszusatz, durch den Erlaß eines einfachen Bundesgesetzes erreicht werden sollte. In der Human Rights Bill wurde festgestellt, daß das Leben mit der Empfängnis beginnt. Damit sollte der einzelstaatliche Gesetzgeber in die Lage versetzt werden, den Schutz des Lebens des 14. Verfassungszusatzes auf Ungeborene auszudehnen. Faktisch hätte dies die Revision der Rechtsprechung des Obersten Gerichtes durch ein Bundesgesetz bedeutet. Diese Konfrontation mit dem Supreme Court wurde 1982 jedoch vermieden, da die Human Rights Bill im Senat scheiterte 3.

2

Weigend, Landesbericht USA; in: Eser / Koch, Teil 2, S.949-1118 (1104-1106). Weigend, Landesbericht USA; in: Eser / Koch, Teil 2, S.949-1118 (1099-1100); das gleiche Problem der Revision der Verfassungsrechtsprechung durch eine einfache Mehrheit, stellt sich auch beim FOCA. 3

168

E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß c) Gesundheitswesen / Medicaid

1965 hat der Kongreß Medicaid geschaffen, ein von Bund und Staaten gemeinsam finanziertes Programm zur Sicherung der medizinischen Versorgung derjenigen Personen, die sich eine medizinische Behandlung bzw. eine private Krankenversicherung nicht leisten können. Ca. 30 Millionen Amerikaner nehmen Medicaid in Anspruch 4 . Vorgesehen ist, daß der einzelstaatliche Gesetzgeber grundsätzlich selbst bestimmt, in welchem Umfang er medizinische Leistungen übernimmt. Für die Zuschüsse des Bundes (50 bis 80%) ist jedoch erforderlich, daß ein Grundsatzprogramm entworfen wird, das bestimmten bundesrechtlich vorgegebenen Prinzipien entspricht. Bis zu Roe v. Wade wurden alle legalen Schwangerschaftsabbrüche bei bedürftigen Frauen über Medicaid, und somit zur Hälfte vom Bund finanziert. Nachdem durch Roe ν. Wade die Anzahl der legalen Schwangerschaftsabbrüché schlagartig auf ein Vielfaches angestiegen war, wurde 1976 vom Kongreß erstmalig die Haushaltszuweisung an das Gesundheits- und Sozialministerium mit der Auflage versehen, daß die Mittel nicht zur Finanzierung von Abtreibungen (außer in eng umschriebenen Indikationsfällen wie der Lebensgefahr der Frau) verwendet werden durften. Obwohl die letzte gerichtliche Entscheidung hierzu erst 1980 in Harris v. McRae 5 erging, konnte die Regelung schon 1978 erstmalig in Kraft treten. Nach ihrem Initiator, dem Kongreßabgeordneten Henry Hyde, werden diese - mit geringfügigen Variationen seither alljährlich gewordenen - Zusätze "Hyde-Amendments" genannt. Da die Indikationsfälle äußerst selten sind, ist der Bund damit als Geldgeber für bedürftige Frauen praktisch ausgefallen 6. Die Anzahl der vom Bund bezuschußten Schwangerschaftsabbrüche reduzierte sich dadurch von 294.600 im Jahre 1977 auf 165 im Jahre 19907. Die Finanzierungsbeschränkung wurde 1988 noch durch eine Ausführungsvorschrift verschärft, die auch die Beratung über einen Schwangerschaftsab-

4

Nach Congress Report, Entscheidungen und Entscheidungsprozesse der Legislative der Vereinigten Staaten von Amerika, 12/1993, S.6. . 5 Harris v. Mc Rae, 448 U.S. 297, 1980; die Verfassungsmäßigkeit der Finanzierungsbeschränkung wurde hiermit bestätigt. 6 Weigend, Landesbericht USA; in: Eser / Koch, Teil 2, S.949-1118 (1065-1067). 7 Siehe dazu Rachel Benson / Daniel Daley, Public Funding of Contraceptive, Sterilization and Abortion Services, Fiscal Year 1990; in: S.K. Henshaw / J. Van Vort (Hrsg.), Abortion Factbook; New York 1992, S.123-130 (128).

I. USA

169

bruch in öffentlich finanzierten oder unterstützten Einrichtungen verbot. Diese Beschränkung wurde erst durch Präsident Clinton wieder aufgehoben 8. Auch der 103. Kongreß war (bei der Abstimmung über die Finanzen des Departments of Labor, Health and Human Services für 1994) wenig geneigt, Abtreibungen für Bedürftige generell durch Medicaid zu finanzieren 9. Die zuvor geltende Regelung, eine Abtreibung nur bei Lebensgefahr der Frau zu bezahlen, wurde nur insofern liberalisiert, daß dies nunmehr zusätzlich auch in Fällen von Inzest und Vergewaltigung erfolgt. Im Oktober 1993 wurde diese Maßnahme von Präsident Clinton unterzeichnet und damit die Medicaid Finanzierung für Abtreibungen wieder geringfügig erweitert 10 . Das Bundesgesundheitsministerium wies die staatlichen Medicaid Direktoren an, ihre Finanzierungspläne bis zum 31. März 1994 an die Vorgaben des Bundes anzupassen. Davon betroffen sind die 30 Staaten, die entsprechend der bisherigen Bundesregelung Abtreibungen nur bei Lebensgefahr finanzierten 11. Seit Mai 1994 wurde in 12 Gerichtsverfahren ausnahmslos entschieden, daß die Staaten, die am Medicaid Programm des Bundes teilnehmen, auch der Politik des Bundes zur Finanzierung der Abtreibung folgen müssen. Auch für 1995 wurde die Regelung, daß Abtreibungen im Falle von Lebensgefahr, Vergewaltigung oder Inzest von Medicaid finanziert werden, unverändert übernommen 12 . Eine umfassende Finanzierung der Abtreibung hätte sich nach dem Entwurf des unter dem Vorsitz der First Lady Hillary Clinton ausgearbeiteten Krankenversicherungsgesetzes (Health Security Act) ergeben. Danach sollte die Abtreibung ein Bestandteil des Versicherungspaketes für alle Amerikanerinnen sein 13 . Das umfangreiche Projekt stieß jedoch nicht nur in diesem, sondern in zahlreichen Punkten auf so erheblichen Widerstand, daß es in der Legislaturperiode des 103. Kongresses in keinem der Häuser bis zur Abstimmung gelangte14.

8

Siehe CQ, 4.9.1993, S.2320. Alissa J. Rubin / Jill Zuckman, Abortion Funding Rebuff shows House divided; in CQ, 3.7.1993, S.1735-1739 (1735). 10 Ca. 1-2% der Abtreibungen beruhen auf Fällen von Lebensgefahr, Vergewaltigung oder Inzest; CQ, 4.9.1993, S.2320. 11 Siehe Reproductive Freedom News III/l, 14.1.1994, S.5 und Reproductive Freedom News III/6, 1.4.1994, S.3; eine Übersicht der Finanzierung der Abtreibung (Stand April / Mai 1994) ist in dieser Arbeit Kapitel E. I. 4. a). 12 CQ, 5.11.1994, S.3179; Reproductive Freedom News IV/13, 30.6.1995, S.3 13 Reproductive Freedom News 11/20, 5.11.1993, S.2 14 Vgl. CQ, 5.11.1994, S.3179. 9

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E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß d) FOCA - Freedom of Choice Act

Die erste Fassung des FOCA wurde nach der Webster-Entscheidung im Jahre 1989 entworfen, als deutlich wurde, daß der Supreme Court nicht mehr als Garant für die Prinzipien der Roe-Entscheidung gelten konnte. Der Entwurf gibt sich in §1 den Titel "Freedom of Choice Act of 1993". §2 ist einer Präambel vergleichbar und erläutert die Gründe für dieses Gesetz. So stellt der Kongress fest, daß die verfassungsrechtlichen Beschränkungen der Gesetzgebungsbefugnis der Einzelstaaten zur Abtreibung in Roe ν. Wade seit 1989 verändert wurden. So habe der Gerichtshof nicht mehr den strict scrutiny Standard angewandt und dies hat einige Staaten dazu veranlaßt, das Recht der Frau zur Beendigung einer Schwangerschaft zu beschränken. Diese Gesetze tangieren u.a. den zwischenstaatlichen Handel, da eine Frau für den Erhalt einer Abtreibung eventuell in einen Nachbarstaat reisen muß; sie diskriminieren diejenigen Frauen, die sich eine solche Reise nicht leisten könneh, und behindern Frauen generell in der Ausübung ihrer gesetzlichen Rechte. Der Zweck dieses Gesetzes ist es, die Einschränkungen der Staaten in der Gestaltung der Abtreibung, so wie sie bei Anwendung des strict scrutiny Standards in Verbindung mit der Roe-Entscheidung verfassungsrechtlich vorgegeben waren, nunmehr gesetzlich festzuschreiben. §3 ist die Umsetzung der Roe-Entscheidung in Gesetzesform und sieht vor: (a) Ein Staat (1) soll bis zum Zeitpunkt der fötalen Lebensfähigkeit die Freiheit einer Frau, über eine Abtreibung zu entscheiden, nicht einschränken können; (2) kann ab dem Zeitpunkt der fötalen Lebensfähigkeit die Freiheit einer Frau, über eine Abtreibung zu entscheiden, einschränken, es sei denn, die Abtreibung ist zur Lebens -oder Gesundheitsrettung der Frau erforderlich; und (3) kann Regelungen zur Ausführung einer Abtreibung erlassen, wenn diese aus medizinischen Gründen für die Gesundheit der Frau erforderlich sind. (b) Nichts in dem Gesetz soll so ausgelegt werden, daß (1) ein Staat daran gehindert wird, Individuen oder private Einrichtungen davor zu schützen, an einer Abtreibung mitzuwirken, die sie aus Gewissensgründen ablehnen; (2) ein Staat daran gehindert wird, Abtreibungen nicht zu finanzieren; (3) ein Staat daran gehindert wird, bei Minderjährigen die Beteiligung eines Elternteiles, gesetzlichen Vertreters oder eines anderen verantwortlichen Erwachsenen vor einer Abtreibung zu verlangen 15 .

15 Abdruck in: Proceedings and Debates of the 103d Congress, First Session, Senate 427,21.1.1993.

I. USA

171

Die Regelungen unter (a) 1 und 2 entsprechen genau dem in Roe v. Wade festgesetzten Standard, wonach die Lebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Mutterleibes den Zeitpunkt markiert, ab dem ein Verbot der Abtreibung gerechtfertigt sein kann; die Regel, daß Gesundheit und Leben der Frau während der gesamten Schwangerschaftsdauer Vorrang vor den Interessen des Fötus haben und eine Abtreibung daher immer rechtfertigen können, wurde ebenso übernommen. Die in (a) 3 genannte Eingriffsbefugnis des Staates ist insofern eine Veränderung zu Roe ν. Wade, als hier Regelungen zur Ausführung der Abtreibung während der gesamten Schwangerschaftsdauer zulässig sind, wenn sie zum Gesundheitsschutz der Frau erfolgen. Nach Roe v. Wade war dies erst im zweiten Schwangerschaftsdrittel möglich, da in den ersten drei Monaten kein staatliches Regelungsinteresse das Entscheidungsrecht der Frau überwiegen konnte. Die Ausführungsregeln unter (b) wurden erst später hinzugefügt und sollen den Inhalt des FOCA nicht verändern, sondern sind eine Auslegungshilfe. Da Unsicherheiten entstanden waren, ob diese Art der Regulierungen, obwohl vom Supreme Court in seiner Rechtsprechung gebilligt, mit einer strikten Auslegung von Roe ν. Wade zu vereinbaren wären, war diese Klarstellung erforderlich. Die Ausführungsregeln verdeutlichen, daß auch die unter dem strict scrutiny Standard von Roe ν. Wade in den Folgeentscheidungen für zulässig gehaltenen Beschränkungen mit dem FOCA weiterhin erlassen werden können, d.h. ein Staat muß nicht für Abtreibungen zahlen 16 , kann Regelungen zum Schutz von Personen und Organisationen erlassen, die aus Gewissensgründen an keiner Abtreibung partizipieren möchten 17 und ein Staat kann bei Minderjährigen Benachrichtigungs- oder Zustimmungserfordernisse der Eltern oder der gesetzlichen Vertreter verlangen 18 . Die Gesetzgebungsbefugnis wird aus Abs. 5 des 14. Verfassungszusatzes und der in Art.I, Abs. 8 enthaltenen commerce clause begründet. In Abs. 5 des 14. Verfassungszusatzes wird der Kongreß ermächtigt, den Bestimmungen des Zusatzes durch geeignete Gesetzgebung Geltung zu verschaffen 19 . Nach der Entscheidung des Supreme Court in Katzenbach v. Morgan 2 0 , auf die sich die Verfechter des FOCA berufen, hat der Kongreß damit 16

Harris v. McRae, 448 U.S. 297, 1980. Doe v. Bolton, 410 U.S. 179, 1973. 18 Bellotti v. Baird, 443 U.S. 622, 1979; PP v. Ashcroft, 462 U.S. 476, 1983; H.L. v. Matheson, 450 U.S. 398,1981; Hodgson ν. Minnesota 110 U.S. 2926,1990. 19 Section 5: "The congress shall have power to enforce, by appropriate legislation, the provisions of this article." i o Katzenbach v. Morgan, 384 U.S. 641, 1966. 17

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E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

die umfassende Befugnis, den Inhalt der Rechte des 14. Zusatzes zu bestimmen 2 1 . Die commerce clause gibt dem Kongreß die Befugnis zur Regelung des zwischenstaatlichen Handels 22 . Die unterschiedlichen Abtreibungsregelungen veranlassen Frauen zu Reisen in Nachbarstaaten, in denen sie eine Abtreibung leichter erhalten können. Dies ist eine Form des innerstaatlichen Handels, der durch die Vereinheitlichung des FOCA beseitigt werden soll. Daher kann sich der Kongreß auch auf die commerce clause als Grundlage seines Handelns berufen. Dies erscheint zwar auf den ersten Blick eine recht weite Auslegung, aber der Kongreß kann sich auf eine Reihe von Gerichtsurteilen stützen, die die Klausel ebenso großzügig interpretierten, um die Regelungsbefugnis des Bundes gegenüber den Einzelstaaten durchzusetzen 23. Die Kritiker des FOCA wenden gegen die Gesetzgebungsbefugnis des Kongresses in dieser Materie ein, daß es bei dem Erlaß des FOCA um die Auslegung einer verfassungsrechtlichen Bestimmung geht, wenn nicht sogar um die Schaffung eines Verfassungsrechtes. Sie erinnern an die Human Life B i l l 2 4 , die u.a. deswegen abgelehnt wurde, weil es sich um den Versuch gehandelt habe, die Verfassung zu ändern, ohne jedoch die prozeduralen Erfordernisse einer Verfassungsänderung einzuhalten. Die legislative Neuinterpretation der Verfassung ist aber im Hinblick auf das dazu spezielle Verfahren einer Verfassungsänderung unzulässig 25 . Dagegen ist festzustellen, daß die Human Life Bill das verfassungsrechtlich geschützte Recht einer Frau über eine Abtreibung zu entscheiden, weggenommen hätte, während es im FOCA - wie nach s.5 des 14. Zusatzes auch zulässig um die Sicherung der Verfassungsrechte geht 2 6 . Eine Verwirklichung des ehrgeizigen Projektes war leider zu keinem Zeitpunkt in realistischer Nähe. Denn der FOCA kam im 103. Kongreß weder im 21

In einer anderen Entscheidung, Oregon v. Mitchell, 400 U.S. 112 (1970) hielt das Gericht jedoch die allgemeine Herabsetzung des Wahlalters auf 18 Jahre für eine zu weitreichende Ausübung der Gesetzgebungskompetenz des Kongresses aus s.5. 22 Art.I, s.8: "The congress shall have power to regulate commerce with foreign Nations, and among the several states...". 23 Beispiele bei Christian Klette, S. 12. 24 Diese beinhaltete eine gesetzliche Definition, die den Beginn des menschlichen Lebens auf den Zeitpunkt der Konzeption festlegte. 25 Siehe John C. Harrisons Aussage vor dem Committee on Labor and Human Resources, in United States Senate, 102. Kongreß, Hearing on S. 25, 13.5.1992, S.l 1-17 (15-16). zo The Freedom of Choice Act of 1992, Report together with Minority Views, 15.7.1992, S.30.

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Haus noch im Senat bis zur Abstimmung, obwohl die jeweiligen Ausschüsse in Haus (The House Judiciary Committee am 19. Mai 1993) und Senat (The Labor and Human Resources Committee am 24. März 1993) dem Entwurf zugestimmt hatten 27 . Dies lag zum Teil daran, daß durch Clinton die gegenwärtige Mehrheit im Supreme Court gesichert erschien und diese Mehrheit das Recht der Frau zwar beeinträchtigt, aber gleichzeitig zumindest formal aufrecht erhalten hatte, so daß es an einer unmittelbaren Bedrohung fehlte, die den Kongreß möglicherweise zu einer Verabschiedung gedrängt hätte.

e) FACE - Freedom of Access to Clinic Entrances Act Die zunehmende Gewalt von pro-life Anhängern gegen Kliniken und die Belästigung von Frauen vor Kliniken, macht es nicht nur für die Frauen schwerer, eine Abtreibung zu erhalten, sondern führt auch dazu, daß viele Ärzte keine Abtreibungen mehr durchführen wollen. Seit 1977 gab es 1500 angezeigte Akte der Gewalt gegen Abtreibungskliniken, sowie mehr als 6000 Störungen wie Klinikblockaden oder Bombendrohungen 28. Ein Höhepunkt der Gewalt wurde im März 1993 erreicht, als das erste Mal ein Mensch aus ideologischen Gründen von einem "pro-life"-Anhänger umgebracht wurde. Der Arzt Dr. David Gunn, der in einer Klinik in Pensacola, Florida Abtreibungen vornahm, wurde von einem Abtreibungsgegner erschossen. Dies war der erste, blieb jedoch nicht der einzige Mordfall. 1994 wurden vier Mitarbeiter von Abtreibungskliniken durch Abtreibungsgegner getötet. Daneben gab es acht Mordversuche, drei Bomben- und fünf Brandanschläge in Kliniken, sowie zahlreiche andere Formen von Gewalt gegen Ärzte, Frauen, Kliniken und Klinikpersonal 29 . Zwar haben die Einzelstaaten die Möglichkeit, selbst Gesetze zum Schutz von Kliniken zu erlassen, aber die vorhandenen Vorschriften sind oft nicht ausreichend, uneinheitlich und sind in ihrer Anwendung zudem von der lokalen Politik abhängig 30 . 27

CQ, 5.11.1994, S.3179; CQ, 4.9.1993, S.2320. Nach NARAL, Promoting Reproductive Choices, 1994, S.26. 29 Eine Auflistung der Vorfälle findet sich in CQ Researcher, 7.4.1995, Vol.5, No. 13, S.304 und 309. 30 Der Versuch, ein Bundesgesetz, das ehemals zum Schutz vor Klu-Klux-Klan Aktivitäten erlassen wurde, gegen Klinikblockaden anzuwenden, wurde vom Supreme Court für unzulässig erklärt; siehe Bray v. Alexandria Women's Health Clinic, Entscheidung des Supreme Court vom 13.1.1993, No.90-985; Für anwendbar hielt das Gericht jedoch die bundesrechtliche Vorschrift des RICO; siehe NOW ν. Scheidler, Entscheidung des Supreme Court vom 24.1.1994, No.92-780; vgl. auch Holly Idelson, Despite Republican Concerns, Panel OKs Clinic Protections; in: CQ 26.6.1993, S.16611662. 28

12 Moors

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E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

Um dieser Gewalt entgegenzuwirken und zumindest den ungehinderten Zugang zu Kliniken zu sichern, wurde der Freedom of Access to Clinic Entrances Act (FACE) erlassen, der am 26.5.1994 mit der Unterzeichnung des Präsidenten in Kraft trat 3 1 . Das Gesetz verbietet es, mit Gewalt oder unter Androhung von Gewalt eine Person daran zu hindern, eine Abtreibungsklinik aufzusuchen. Bei einem ersten Verstoß werden Geldstrafen von bis zu $ 10.000 oder eine Gefängnisstrafe bis zu 6 Monaten angedroht. Für Wiederholungstäter gelten noch strengere Strafbestimmungen 32. Seit Beginn 1995 wird FACE zunehmend vom Justizministerium eingesetzt, um die Belästigung abtreibungswilliger Frauen sowie die Gewalt gegen Abtreibungskliniken und Klinikpersonal zu ahnden 33 .

2. Aktueller Stand der Bundespolitik Clinton hat die Wahlen 1992 als pro-choice Kandidat gewonnen, aber die Umsetzung dieser Haltung in die Politik fällt ihm noch schwer. Als erfolgreiche Durchsetzung von pro-choice Maßnahmen hat die Clinton Regierung außer der Verabschiedung des FACE vorzuweisen, daß das Verbot der Nutzung fötalen Gewebes zu Forschungszwecken, sowie das Beratungsverbot über Abtreibung in öffentlich-geförderten Einrichtungen aufgehoben wurden. Die letzten beiden Maßnahmen waren zuvor im 102. Kongreß am Veto von Präsident Bush gescheitert 34. Die erste Neubesetzung des Supreme Court im August 1993 mit Ruth Bader Ginsburg ist erfolgreich verlaufen. Präsident Clintons Kandidatinnenauswahl wurde nicht nur von pro-choice Vertretern, sondern auch von konservativen Abgeordneten begrüßt 35 , so daß die Bestätigung des Senats mit 96:3 Stimmen mühelos erfolgte 36 .

31

RFNIII/11, 10.6.1994, S.3. RFN III/9, 13.5.1994, S.6; eine Darstellung der in Senat und Haus diskutierten Entwürfe, sowie die gesetzlichen Schutzbestimmungen in den Einzelstaaten findet sich in: "Legislative Responses to Violence and Harassment at Women's Health Clinics"; CRLP (Hrsg.) New York 1993. 33 Reproductive Freedom News IV/7, 7.4.1995, S.2 34 CQ, 4.9.1993, S.2319-2320. 32

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Ginsburg befürwortet ein Recht der Frau auf Abtreibung aus der Verfassung, so daß sie als pro-choice Kandidatin gelten kann. Ihre Einschätzung, daß dieses Entscheidungsrecht der Frau eher aus den Gleichheitsrechten als aus dem right to privacy herzuleiten sei, ist für eine pro-choice Interpretation vielversprechend, da sich daraus z.B. eine staatliche Verpflichtung zur Gleichbehandlung auch im Bereich der Finanzierung von Abtreibungen ergeben kann. Andererseits hat sie kritisiert, daß Roe ν. Wade zu schnell und zu weitreichend entschieden worden sei, und so eine Reformbewegung der Staaten durch den Gerichtshof unterbrochen worden sei 3 7 . 1994 ergab sich erneut eine Besetzungschance für Präsident Clinton, als Richter Blackmun im April seinen Rücktritt ankündigte 38 . Der von Präsident Clinton zur Nachfolge ausgewählte Richter Stephen G. Breyer wurde am 29. Juli 1994 vom Senat mit 87:9 Stimmen bestätigt. Die Anhörungen verliefen relativ ruhig und verursachten weniger öffentliche Aufmerksamkeit, als zuvor die erste Ernennung einer Richterin durch Präsident Clinton für den Supreme Court. Es ist anzunehmen, daß Stephen G. Breyer, der als "gemäßigt" in seinen politischen Ansichten gilt, die gerichtliche Legalisierung der Abtreibung unterstützen wird. Wie weit diese Unterstützung im Einzelnen gehen wird, ist allerdings seiner Erklärung, daß die Abtreibungsfrage "settled law" sei, nicht zu entnehmen 39 . Die Abtreibungsfrage ist ein immer wiederkehrender Streitpunkt in der Bundespolitik, wie sich in der Debatte des Krankenversicherungsgesetzes oder in der Diskussion um die Reform des Sozialstaats wieder zeigte. Selbst bei der Anhörung des von Präsident Clinton für den Posten des Gesundheitsministers

35

Janet Benshoof, Direktorin des Center for Reproductive Law & Polica lobte Ginsburg als "Thurgood Marshall of gender equality law" und der pro-life orientierte republikanische Senator Orrin Hatch bemerkte: "Do I agree with her on everything? Of course not. But she's going to make a very excellent justice." Diese und andere Kommentare in CQ, 19.6.1993, S.1571. 36 CQ, 7.8.1993, S.2162. 37 So Ruth Ginsburg in einer Rede am 9.3.1993 an der New York University School of Law, in Auszügen abgedruckt in: CQ, 19.6.1993, S.l572; siehe auch ihren Aufsatz "Some Thoughts on Autonomy and Equality in Relation to Roe v. Wade" in: North Carolina Law Review, No.63, S.375, 1986. 38 Siehe Ruth Marcus, Justice Blackmun Announces Retirement, in: The Washington Post, 7.4.1994, Al. 39 Siehe Holly Idelson, Breyer's Liberal, Conservative Mix Seems To Assure Confirmation, in: CQ, 21.5.1994, S.1305-1307 (1307); Ceci Connolly, Breyer Wins Confirmation With 87-9 Senate Vote, in: CQ, 30.7.1994, S.2149. 12*

176

E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

ausgewählten Dr. Henry Foster wurde die Tatsache, daß dieser Abtreibungen durchgeführt hatte sowie seine Haltung zur Abtreibung zum Zentrum der Diskussion 40 .

3. Gesetzgeberische Reformen der Einzelstaaten Wegen der Fülle der gesetzgeberischen Reformen zur Abtreibung in den Einzelstaaten wird nur ein kurzer Abriß der Regelungen seit Roe ν. Wade gegeben, gefolgt von einer Gesamtübersicht des Jahres 1994. Ziel ist es, die unterschiedlichen Regelungen in den Einzelstaaten deutlich zu machen 41 . 1973 waren durch Roe ν. Wade die meisten Abtreibungsgesetze der Einzelstaaten (46 von 50) verfassungswidrig und daher nicht mehr anzuwenden. In der Folge wurde eine große Anzahl von Gesetzen erlassen, die meisten in der Absicht die gerichtlich gewährte Abtreibungsfreiheit wieder einzuschränken. Bis 1978 gab es nur noch 16 Staaten, die keine restriktive Maßnahme erlassen hatten 42 . Die Möglichkeiten der Staaten waren aber durch die Vorgaben des Supreme Court stark begrenzt. Die strikte zeitliche Einteilung der Schwangerschaft in drei Abschnitte und die daran festgemachte pauschalierte Abwägung der möglichen Staatsinteressen gegen das Entscheidungsrecht der Frau machten es relativ überschaubar, welche Gesetze vor dem Gericht Bestand haben und welche von vorneherein unzulässig sein würden 43 . Trotzdem war - wie die Prozesse vor dem Supreme Court bestätigen - auch die gerichtliche Klärung immer wieder erforderlich; dies war aber weniger durch Unsicherheiten zu den Prinzipien der Roe-Entscheidung begründet, sondern die Staaten versuchten in ihrer Gesetzgebung die unterschiedlichen Meinungen und die sich verändernden Mehrheiten im Gericht zu nutzen 44 . 40

Reproductive Freedom News, IV/9, 5.5.1995, S.4 Eine Zusammenstellung der Gesetze in den Einzelstaaten zur Abtreibung findet sich in Howard A. Hood / Igor I. Kavass / Charles O. Galvin (Hrsg.), Abortion In The United States - A Compilation of State Legislation, Volume I, Abortion Laws by State, Volume II, Abortion Laws by Topic; Buffalo / New York 1991. 42 Epstein/Kobylka, S.211. 43 Dies war auch mit der Roe-Entscheidung beabsichtigt gewesen. Die weit gefaßte Urteilsbegründung (mit einer abstrakt-generellen Interpretation der Verfassung, aber konkreten daraus gefolgerten Anweisungen an den Gesetzgeber) sollte dem Gesetzgeber den Weg für zukünftige Gesetzesvorhaben weisen. 44 Daß die Gesetzgebung ein "Austesten" der Rechtsprechung war, zeigen z.B. die wiederholten Klagen von Staaten wie Pennsylvania, das, nach einer gerichtlichen Niederlage und einigen Jahren Wartezeit, mit leicht verändertem Gesetz erneut den Supreme Court herausforderte; so ist z.B. die Casey Entscheidung (1993) eine Neuauflage von Thornburgh (1986). 41

I. USA

177

Durchsetzen konnten sich Regelungen zum Verbot der Abtreibung nach Lebensfähigkeit des Fötus oder Klauseln, beispielsweise zum Schutz von Arbeitnehmern, die aus Gewissensgründen keine Abtreibung durchführen wollen. Weiterhin wurden Datensammlungserfordernisse erlassen und als einschneidendste Änderung die Finanzierung der Abtreibung stark eingeschränkt und Minderjährige besonderen Regularien unterworfen. Darüber hinausgehende Erfordernisse wie die Zustimmung des Ehemannes oder elterliche Zustimmungserfordernisse bei Minderjährigen ohne daß letztere gerichtlich ersetzt werden konnte, wurden vom Gericht dagegen für verfassungswidrig gehalten. 1989 schien es zum ersten Mal seit Roe ν. Wade möglich, daß die an den Supreme Court verlorene Regelungskompetenz von den Staaten wiedergewonnen werden könne. In dem folgenden legislativen Crescendo waren die pro-life Kräfte dominierend. Dies entspricht der Stärke ihrer Lobby durch gut ausgestattete lokale Vertretungen. Obwohl die meisten Gesetze im Vorfeld der parlamentarischen Auseinandersetzung am Veto von Gouverneuren 45 oder an gerichtlichen Verfügungen scheiterten, kam es in vielen Staaten zu strikten Einschränkungen der Abtreibungsmöglichkeiten und in Utah und Louisiana sogar zu einem Verbot der Abtreibung. Als erstes zur Entscheidung vor dem Supreme Court kam aber kein Abtreibungsverbot, sondern das Gesetz des Staates Pennsylvania, mit einer Neuauflage der Regelung, die schon 1986 in Thornburgh v. American College für verfassungswidrig gehalten wurde. Das Gericht ließ nunmehr eine Wartefrist und die Erteilung bestimmter Informationen als Einschränkungen der Abtreibung zu. Wenn auch diese Erfordernisse für sich schon erhebliche Auswirkungen zeigen können 46 , so ist doch von noch größerer Bedeutung die grundsätzlich veränderte Position des Gerichts, wonach das Entscheidungsrecht der Frau eingeschränkt werden kann, solange keine übermäßige Belastung eintritt 47 . Die prozeduralen Einschränkungen, die danach zulässig sein mögen, sind noch 45

Zum politischen Einfluß der Gouverneure in der Abtreibungsgesetzgebung der Staaten Idaho, Lousiana und Utah siehe H.E. Scruggs, The Impact of Gubernatorial Leadership on Abortion Legislation: The Cases of Idaho, Lousiana and Utah; American Political Science Association, 1993. 46 Die Auswirkungen dieser Vorschriften wirken uneinheitlich, d.h. eine Erschwerung der Abtreibung ergibt sich nicht für alle Frauen des Staates, sondern insbesondere für Minderjährige, für die Bewohnerinnen ländlicher Gebiete und für diejenigen, die sich ihre Entscheidungsfreiheit nicht dadurch erkaufen könne, daß sie z.B. in einen Nachbarstaat reisen. 47 Zu der Entscheidung PP v. Casey, 112 S. Ct. 2791, 1992 siehe in dieser Arbeit Kapitel D. I. 12.

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E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

nicht gerichtlich festgestellt, und werden eine lange Reihe von neuen Fallentscheidungen nach sich ziehen.

4. Gesetze der Einzelstaaten - Stand 1994 a) Finanzierung Der Supreme Court hatte in Roe ν. Wade zwar ein Entscheidungsrecht der Frau festgestellt, dieses war über das Recht auf Privatsphäre jedoch nur negativ als Abwehrrecht gegenüber dem Staat definiert. Ein Recht auf die tatsächliche Durchführung einer Abtreibung ließ sich daher nicht ableiten 48 und die Finanzierung oder Nicht-Finanzierung blieb dem Bund, bzw. den Einzelstaaten überlassen. Nach der Roe-Entscheidung und der damit verbundenen Expansion der legalen Schwangerschaftsabbrüche, begannen einige Staaten, die Finanzierung über Medicaid auf einige Indikationsfälle einzuschränken. Nachdem auch der Bund die Medicaid Finanzierung reduzierte, schlossen sich die meisten Staaten der restriktiven Bundespolitik an 4 9 . Für März 1994 ergibt sich für die Medicaid Finanzierung der Abtreibung folgendes B i l d 5 0 :

48

Eine andere Interpretation hätte sich möglicherweise ergeben, wenn sich der Supreme Court auf die Argumentation eingelassen hätte, daß Abtreibungsregelungen als Verstoß gegen die Gleichheitsrechte besonderer Rechtfertigung bedürfen. Die Verletzung des Gleichheitssatzes ist denkbar, da nur Frauen und keine Männer betroffen sind. 49 Weigend, Landesbericht USA; in: Eser / Koch, Teil 2, S.949-1118 (1066-1067). 50 Die nachfolgenden Angaben zum Gesetzesstand der Einzelstaaten basieren auf A State-By-State Review Of Abortion Rights, 4th Edition, 1993, NARAL; die Aktualisierungen erfolgten nach einem Informationsgespräch der Verfasserin im April 1994 in Washington, D.C. mit Claudia Center von NARAL.

• bei Lebensgefahr der Frau, Vergewaltigung oder Inzest • ausschließlich bei Lebensgefahr der Frau

• in fast allen Fällen E3 bei Lebensgefahr der Frau, Vergewaltigung, Inzest oder fötaler Mißbildung

Finanzierung der Abtreibung durch Medicaid:

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E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

30 Staaten51 gewähren Medicaid zu Abtreibungen nur im Falle der Lebensgefahr der Frau. 8 Staaten52 finanzieren die Abtreibung darüber hinaus in eng gefaßten Indikationsfällen von Vergewaltigung oder Inzest. Nur 12 Staaten53 und D.C. finanzieren die Abtreibung in fast allen Fällen. Seit dem 31.3.1994 sind alle Staaten vom Bund angewiesen, Abtreibungen außer bei Lebensgefahr auch in Fällen von Vergewaltigung oder Inzest zu finanzieren. Dies widerspricht der Regelung in den 30 Staaten, die Abtreibungen bisher nur im Falle der Lebensgefahr der Frau finanzierten. Seit Mai 1994 wurden 12 Staaten durch gerichtliche Verfügungen gezwungen, sich der Politik des Bundes anzupassen54.

b) Beschränkungen bei Minderjährigen

Viele Staaten stellen für Minderjährige Sonderregelungen auf, die die Möglichkeit einer Abtreibung von einer Einverständniserklärung oder der Benachrichtigung eines oder beider Elternteile abhängig machen. Das folgende Bild zeigt, in welchen Staaten Minderjährigen die Abtreibung durch besondere Einschränkungen erschwert wird:

51 Al, ΑΖ, AR, CO, DE, FL, GA, IL, IN, KS, KY, LA, ME, MI, MS, MO, MT, NE, NV, NH, NM, ND, OH, OK, RI, SC, SD, TN, TX, UT. 52 ID, ΙΑ, MD, ΜΝ, ΡΑ, VA, WI, WY. 53 AK, CA, CT, HI, MA, NJ, NY, NC, OR, VT, WA, WV. 54 Siehe Reproductive Freedom News IV/5, 10.3.1995, S.2 und IV/13, 30.6.1995, S.3.

• •

Spezielle Einschränkungen

Keine speziellen Einschränkungen Einschränkende Gesetze vorhanden, aber z.Zt. nicht anwendbar

Einschränkungen der Abtreibung bei Minderjährigen

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E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

1994 gibt es in 35 Staaten55 einschränkende Gesetze, die Minderjährigen eine Abtreibung nur nach einer elterlichen Benachrichtigung oder Zustimmung erlauben. Ein entsprechendes Gesetz in Virginia müßte noch vom Gouverneur unterzeichnet werden. 11 dieser Staaten haben zusätzlich Wartefristen von 24 bis 72 Stunden für Minderjährige56. In 23 Staaten sind diese Gesetze in Kraft, in 20 Staaten57 mit einem gerichtlichen Alternativverfahren, 3 Staaten58 lassen zusätzlich oder alternativ die elterliche Benachrichtigung oder Zustimmung durch eine ärztliche ersetzen. 2 Staaten59 haben eine Pflichtberatung bei Minderjährigen vorgesehen, in deren Rahmen die Benachrichtigung der Eltern diskutiert werden soll.

c)Informierte

Zustimmung

31 Staaten60 schreiben gesetzlich vor, daß Frauen vor einer Abtreibung über bestimmte, staatlich ausgewählte Fakten informiert werden.

d) Wartefristen

Das Erfordernis von Wartefristen vor einer Abtreibung läßt sich nach Roe ν. Wade verfassungsrechtlich nicht begründen. In P.P. v. Casey hat der Supreme Court 1992 unter Abkehr der bisherigen Rechtsprechung die Zulässigkeit einer 24-Stunden Wartefrist erstmalig bejaht. In 7 Staaten61 sind Wartefristen in Kraft. In 8 weiteren Staaten62 stehen Wartefristen im Gesetz, die bisher jedoch nicht angewandt wurden.

55

AL, AK, AZ, AR, CA, CO, DE, GA, ID, IL, IN, KS, KY, LA, MA, MD, MI, MN, MS, MO, MT, NE, NV, NM, ND, OH, PA, RI, SC, SD, TN, UT, WV, WI, WY. 56 AR, GA, ID, IL, MN, NE, OH, SD, TN, WV, WY. 57 AL, AR, GA, IN, KS, LA, MA, MI, MN, MS, MO, NE, ND, OH, PA, RI, SC, UT, WI, WY. 58 MD, TN, WV. 59 CT, ME. 60 AL, AK, CA, CT, DE, FL, ID, IL, IN, KS, KY, LA, ME, MA, MI, MN, MS, MO, MT, NE, NV, ND, OH, PA, RI, SD, TN, TX, UT, VA, WI. 61 KS, MS, NE, ND, OH, PA, UT. 62 DE, ID, IN, KY, MA, MI, SD, TN.

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e) Verbot der Abtreibung

Louisiana und Utah63 haben 1991 ihre gesetzlichen Abtreibungsverbote (die noch aus der Zeit vor Roe ν. Wade stammten) neu in Kraft gesetzt. Die Anwendung wurde durch gerichtliche Verfügungen untersagt.

f) Verbot der Finanzierung durch die Krankenversicherung

10 Staaten64 haben Gesetze, die es entweder der Krankenversicherung für staatliche Bedienstete oder auch allen Versicherungen verbietet, Abtreibung in den normalen Leistungskatalog aufzunehmen. Die Versicherungen dürfen dies nur über eine Zusatzvereinbarung, die vom Versicherungsnehmer mit entsprechenden Sonderprämien zu finanzieren ist. Die Regelung in Rhode Island, die alle Versicherungen verpflichtete, für die Deckung der Leistungen bei Abtreibungen eine Sonderprämie einzuführen, ist jedoch nicht anwendbar, da sie gerichtlich für verfassungswidrig erklärt wurde.

g) Einverständnis-

oder Benachrichtigungserfordernis

des Ehemannes

10 Staaten65 haben unanwendbare Gesetze, die das Einverständnis oder die Benachrichtigung des Ehemannes vor einer Abtreibung vorsehen.

h) Gesetzliche pro-life Erklärung

6 Staaten66 haben erklärt, daß sie Abtreibung verbieten wollen, sobald Roe v. Wade außer Kraft gesetzt wird. 6 Staaten67 haben erklärt, daß sie Abtreibungen bis zu der verfassungsrechtlich möglichen Grenze beschränken werden.

63 64 65 66 67

LA, UT. CO, ID, IL, KY, MA, MO, NE, ND, PA, RI. CO, FL, IL, KY, MT, ND, PA, RI, SC, UT. IL, KY, LA, ND, SD, WV. AR, MO, MT, NE, PA, UT.

184

E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß i) Gesetzliche pro-choice Erklärung

5 Staaten68 haben die Rechtmäßigkeit einer Abtreibung bis zur Lebensfähigkeit oder bis zur 24. Woche gesetzlich festgeschrieben. Das Gesetz des Staates Nevada ist zusätzlich dadurch vor einer Veränderung geschützt, daß es nur durch einen Volksentscheid wieder aufgehoben werden kann.

j) Verfassungsgarantien

Jeder der 50 Einzelstaaten hat seine eigene Verfassung, an der sich Gesetze messen müssen. Während der einzelstaatliche Verfassungsschutz nie hinter den der nationalen Verfassung zurückfallen kann, ist eine Interpretation, die einen höheren Schutz der Individualrechte garantiert, uneingeschränkt möglich. Wegen der zurückgehenden Sicherung der Abtreibungsrechte in der Bundesverfassung kommt den einzelstaatlichen Verfassungen nun eine erhöhte Bedeutung zu. Es ergibt sich damit eine Verlagerung der gerichtlichen Auseinandersetzungen vom Obersten Gerichtshof zu den einzelstaatlichen Gerichten69. Im Bereich der Finanzierung sind z.B. 7 Staatsgerichte70 der Interpretation des Supreme Court nicht gefolgt, sondern haben den einseitigen Ausschluß der Finanzierung der Abtreibung als Verfassungsverletzung aufgehoben. Das right to privacy wurde in 10 einzelstaatlichen Verfassungen71 explizit aufgenommen, in anderen wurde es in Entscheidungen implizit anerkannt. Beispiele für eine eigenständige Interpretation dieses Rechts bieten Urteile der Gerichte in Florida und Kalifornien. In beiden Staaten wurden Einverständniserfordernisse vor Abtreibungen bei Minderjährigen im Gegensatz zur Supreme Court Rechtsprechung und unter Hinweis auf die Staatsverfassung aufgehoben72.

68

CT, MD, ME, WA, NV. Kimberley A. Chaput, Abortion Rights under . State Constitutions: Fighting the Abortion War in the State Courts; in: Oregon Law Review, Nr.70, 1991, S.593-628. 70 CA, CT, MA, NJ, NY, OR, Vt. 71 Nach Chaput, S.608. 72 California Court of Appeals, American Academy of Pediatrics v. Van de Kamp, 214 Cal. App. 3d 831, 263 Cal. Rptr. 46 (1989); Florida Supreme Court, In re T.W, 551 So. 2d 1186 (Fla. 1989). 69

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5. Politische Landkarte

dagegen dafür • •

Bei einer Gesetzesvorlage zu einem Abtreibungsverbot in seinem Staat entscheidet sich der Gouverneur:

Meinung der Gouverneure zu einem Abtreibungsverbot:

In einer 1993 von NARAL durchgeführten Untersuchung wurde die Haltung sämtlicher Gouverneure, sowie von Senat und Haus der Einzelstaaten zur Abtreibunspolitik festgestellt. Es wurden dabei folgende Ergebnisse gewonnen:

186

E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

32 Gouverneure73 und die Bürgermeisterin von D.C. sind dafür, Abtreibungen legal zu halten. 18 Gouverneure74 sind gegen die Legalisierung der Abtreibung und würden die Errichtung jedes Hindernisses unterstützen, soweit dies verfassungsrechtlich möglich ist. Die Legislative, auch in den Einzelstaaten aus Senat und Haus bestehend, zeigt auf die Frage, ob sie ein Verbot der Abtreibung verhindern würde, folgende Meinung: 25 Senate75 sind gegen ein Verbot der Abtreibung, 13 76 dafür und bei weiteren 13 77 wäre die Stimmverteilung so knapp, daß man das Ergebnis nur mit "unentschieden" bezeichnen kann. 26 7 8 der Häuser würden ein Verbot der Abtreibung verhindern, 18 79 wären für ein Verbot und 5 8 0 unentschieden. Aus diesen Meinungen ergibt sich das folgende Bild:

73

Dies sind die Gouverneure der Staaten: ΑΖ, AR, CA, CO, CT, DE, FL, GA, HI, IL, IN, KY, ME, MD, MA, MN, MO, NV, NJ, NM, NY, NC, ND, OK, OR, RI, TN, TX, VT, VA, WA, WV. 74 Dies sind die Gouverneure der Staaten: AL, AK, ID, ΙΑ, KS, LA, MI, MS, MT, NE, NH, OH, PA, SC, SD, UT, WI, WY. 75 AK, ΑΖ, AR, CA, CO, CT, DE, DC, HI, IL, KS, ME, MD, MA, NV, NH, NM, NC, OR, SC, TX, VT, VA, WA, WY. 76 AL, KY, LA, MI, MS, MO, ND, OH, PA, SD, TN, UT, WV. 77 Fl, GA, ID, IN, IA, MN, MT, NE, NJ, NY, OK, RI, WI. 78 AK, ΑΖ, CA, CO, CT, DE, FL, GA, HI, IL, ME, MD, MT, NV, NH, NY, NC, OR, RI, SC, TN, TX, VT, VA, WA, WY. 79 AL, AR, ID, IN, KY, LA, MI, MN, MS, MO, ND, OH, OK, PA, SD, UT, WV, WI. 80 IA, KS, MA, NJ, NM.

• • •

dagegen unentschieden dafür

Bei einer Abstimmung zu einem Abtreibungsverbot in ihrem Staat entscheiden sich die Kammern:

Meinung der gesetzgebenden Kammern zu einem Abtreibungsverbot

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E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

Bei der Frage, ob gesetzliche Hindernisse zur Abtreibung verabschiedet werden könnten, ergibt sich: 42 Senate81 würden die Verabschiedung von Hindernissen unterstützen, 5 Senate82 würden dies nicht tun und 4 8 3 sind unentschieden. Ein ähnliches Bild bei den Häusern zeigt, daß 40 Häuser84 die Hindernisse unterstützen würden, 5 8 5 dagegen wären und 4 8 6 unentschieden. Kombiniert man die Ergebnisse, so zeigt sich, daß in 12 Staaten87 beide Häuser und in 8 Staaten88 sämtliche Gesetzgebungsorgane (Gouverneur und beide Häuser) mehrheitlich ein Abtreibungsverbot befürworten. 82 der 99 Staatsorgane (Haus und Senat) befürworten einige Einschränkungen und 31 würden Abtreibung verbieten.

6. Übersicht zur Politik der Einzelstaaten Auch wenn es sich bei der Darstellung um eine Momentaufnahme handelt, die sich nach jeder Wahl verschieben und verändern kann, zeigt sich, daß eine einheitliche Regelung der Abtreibung in den USA nicht zu erwarten ist. Die unterschiedliche Ausnutzung der vorhandenen Beschränkungsmöglichkeiten spiegelt die widersprüchliche Haltung der Einzelstaaten zur Abtreibung wider. Die politische Haltung einiger Staaten macht zudem deutlich, daß teilweise der Wille zur Beschränkung der Abtreibung in einem wesentlich größeren Ausmaß vorhanden ist als bisher möglich, so daß das Gesamtbild der Abtreibung weiterhin von den gerichtlich festgesetzten Grenzen abhängig sein wird.

81

AL, AK, ΑΖ, AR, DE, FL, GA, ID, IL, IN, IA, KS, KY, LA, ME, MD, MA, MI, MN, MS, MO, MT, NE, NV, NJ, NM, NY, ND, OH, OK, OR, PA, RI, SC, SD, TN, TX, UT, VA, WV, WI, WY. 82 CT, DC, HI, VT, WA. 83 CA, CO, NH, NC. 84 AL, AK, AZ, AR, CT, DE, FL, GA, 10, IL, IN, IA, KS, KY, LA, ME, MD, MA, MI, MN, MS, MO, MT, NJ, NM, NC, ND, OH, OK, PA, RI, SC, SD, TN, TX, UT, VA, WV, WI, WY. 85 HI, NY, OR, VT, WA. 86 CA, CO, NV, NH. 87 AL, KY, LA, MI, MS, MO, ND, OH, PA, SD, UT, WV. 88 AL, LA, MI, MS, OH, PA, SD, UT.

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Trotz der im Gesamtbild uneinheitlichen Verteilung von pro-choice und prolife orientierten Staaten lassen sich regionale Strukturen erkennen. Danach sind die pro-choice orientierten Staaten hauptsächlich an der Pazifikküste (Pacific West) und im Nordosten der USA vertreten, während der Süden, Mountain West und der Mittlere Westen eher pro-life orientiert einzustufen sind 89 . Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Finanzierung. Die politische Entscheidung, Abtreibungen über Medicaid nicht nur in wenigen Indikationsfällen zu finanzieren, zeigt eine aktive pro-choice Haltung, die über Lippenbekenntnisse hinausgeht und daher als wichtiges Indiz einer pro-choice Politik gewertet werden kann. Mit Ausnahme von West Virginia, North Carolina und D.C. ist kein einziger Staat im Süden oder Mittleren Westen zu dieser Politik bereit, während fünf der neun Staaten des Nordostens (bis auf Maine, Rhode Island, New Hampshire und Pennsylvania) die Finanzierung in fast allen Fällen übernehmen. An der Pazifikküste sind es die Staaten Washington, Oregon und Kalifornien sowie Alaska, die eine pro-choice Politik betreiben. Ähnliche Ergebnisse zeigen sich auch bei der regionalen Verteilung der einschränkenden Regelungen der Abtreibung sowie anhand der politischen Landkarten. Die Befürworter eines Abtreibungsverbotes sind vorrangig in den Staaten des Südens, in Mountain West und im Mittleren Westen zu finden. Auch einschränkende Regelungen der Abtreibung sowie gesetzliche pro-life Erklärungen treten gehäuft im Süden, in Mountain West und im Mittleren Westen auf. Bei den pro-choice orientierten Staaten des Nordostens und der Pazifikküste handelt es sich um die Staaten mit der größten Bevölkerungsdichte, die durch Urbanisierung (Nordosten) und wirtschaftliches Wachstum geprägt sind. Die Regionen des Mittleren Westens und des Südens sind dagegen bevölkerungsärmer und von der Landwirtschaft, aber auch von industrieller Entwicklung geprägt. Die sogenannte frost-belt/sun-belt-Verschiebung in den 70er Jahren führte zwar zu einer Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede der Regionen, die Lebensverhältnisse wurden homogener, aber nicht nivelliert. Der Süden ist trotz der politischen wie wirtschaftlichen Modernisierung immer noch eine konservative Region, in der sich alte Wertvorstellungen aus fundamentalistisch religiösen Traditionen gehalten haben. Pazifische Staa-

89

Die regionale Gliederung der USA in Westen (WA, OR, CA, AK, HI = Pacific West; NV, ID, MT, WY, CO, NM, UT, ΑΖ = Mountain West), Mittlerer Westen (ND, SD, NE, KS, MN, IA, MO, WI, IL, IN, MI, OH), Nordosten (PA, NY, ME, VT, NH, MA, RI, CT, NJ) und Süden (MD, DE, DC, VA, WV, KY, TN, NC, SC, GA, FL, AL, MS, LA, AR, OK, TX) entspricht der Aufteilung des Statistischen Bundesamtes (U.S. Bureau of the Census). Eine Karte dazu ist abgedruckt in: Andreas Falke, Regionalund Stadtentwicklung, in: Adams / Czempiel / Ostendorf / Schell / Spahn / Zöller (Hrsg.), Länderbericht USA II, S. 183-205 (185). 13 Moors

190

E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

ten wie Washington, Oregon und Kalifornien sind dagegen für ihre liberalen politischen Strukturen bekannt90. Die zuvor dargestellte Abtreibungspolitik entspricht insofern dem geographischen Bild der politischen Kultur der USA, nach dem sich die bevölkerungsreichen Staaten der Pazifik- und Nordostküste als liberaler, die bevölkerungsärmeren Staaten im Süden, Mountain West und im Mittleren Westen als konservativer darstellen.

7. Richterernennung In den USA hat es einen auffälligen Wandel in der Rechtsprechung zum Abtreibungsrecht gegeben. Da dieser mit der zunehmend konservativen Besetzung des Gerichtshofes einherging, liegt der Schluß nahe, die Entscheidungen als ein Produkt der jeweiligen Personalentscheidungen und die Richterauswahl als den determinierenden Faktor der Verfassungsrechtsprechung zu sehen. Dementsprechend nahm das öffentlichen Interesse an der Richterauswahl und dem Ernennungsprozeß zu. So gab Clinton das Wahlversprechen, bei der Auswahl des nächsten Richters die pro-choice Position zur Voraussetzung zu machen. Das Alter der Richter Blackmun (84) und White (75) machte es wahrscheinlich, daß der neue Präsident schon bald auch einen neuen Richter ernennen konnte91. Aber auch über mögliche Rücktritte von Rehnquist, Stevens oder O'Connor wurde zum Zeitpunkt der Präsidentschaftswahlen 1992 spekuliert 92. Obwohl die Zustimmung des Senats zum Kandidaten des Prädidenten die Regel ist 93 , kann eine konzertierte Aktion von Interessenverbänden gegen eine Nominierung auch erfolgreich sein. Das zeigt z.B. die Ablehnung von Robert Bork, der von Präsident Bush 1987 vorgeschlagen wurde, aber die Bestätigung des Senats mit 42 zu 58 Stimmen verfehlte. Ein Gegenbeispiel ist aber die Wahl von Clarence Thomas im Jahre 1991, der trotz erheblicher

90

nach Andreas Falke, Regional- und Stadtentwicklung, S. 183-192. Joan Biskupic, Court Vacancies Await New President; in: The Washington Post, 6.11.1992 A l , A18. 92 Joan Biskupic, Some Supreme Court Justices Telegraph Retirement Wishes; in: The Washington Post, 6.11.1992 A18. 93 In den letzten 25 Jahren wurden nur 3 Bewerber abgelehnt; auch die unterschiedliche Parteienzugehörigkeit von Präsident und Senat ist dabei kein Hindernis; von den letzten 11 Ernennungen fanden 8 durch einen republikanischen Präsidenten bei demokratischer Mehrheit im Senat statt; nach CQ, 10.7.1993, S.1810. 91

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Proteste 94 mit einem ähnlich knappen Ergebnis (52 zu 48) vom Senat bestätigt wurde 9 5 . Die Bestimmung der genauen Position eines Kandidaten vor seiner Wahl, ist meistens nicht möglich, es sei denn, er verfügt (wie Robert Bork) über extreme Ansichten und hat diese auch publiziert. Denn während der Anhörungen vor dem Senat verstehen es die meisten Kandidaten, auf direkte Fragen ausweichende Antworten zu geben. Dies können sie damit begründen, daß sie wegen des Prinzips der richterlichen Unparteilichkeit nicht vorab Fragen beantworten können, die später eventuell in der Form eines Rechtsstreits von ihnen zu entscheiden sind 9 6 . Daß die Besetzung nur ein Faktor von vielen ist (wenn auch vielleicht derjenige mit dem größten Gewicht), hat sich in den Abtreibungsfällen bestätigt. In der folgenden Tabelle wird die Besetzung des Gerichtshofes seit 1969 dargestellt und anschließend kurz zu der veränderten Rechtsprechung in Bezug gesetzt (die Namen der neuernannten Richter sind geschwärzt, die des Vorsitzenden jeweils kursiv). 1969 Burger Black Fortas Brennan Douglas Marshall White Stewart Harlan 94

1970 Burger Black Blackmun Brennan Douglas Marshall White Stewart Harlan

1972 Burger Powell Blackmun Brennan Douglas Marshall White Stewart Rehnquist

1975 Burger Powell Blackmun Brennan Stevens Marshall White Stewart Rehnquist

1981 Burger Powell Blackmun Brennan Stevens Marshall White O'Connor Rehnquist

Thomas hatte sich gegen die Anschuldigungen einer ehemaligen Mitarbeiterin, Anita Hill, zu wehren, die ihm sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vorwarf; der Verlauf der Anhörungen wurde erheblich kritisiert, da die männlichen Beteiligten den Eindruck erweckten, daß sich nicht Thomas, sondern Ms. Hill zu verteidigen hätte; der Fall beschäftigte auch noch ein Jahr später die Medien, siehe Laura Blumenfeld, One Year, A.H. (After Hill): Women & Sexual Harassment in America; in: The Washington Post, 13.10.1992 E5. 95 Vgl. CQ, 17.9.1993, S.829. 96 Bei einer geschickten Fragestellung kann man diese Konfrontation aber zum Teil umgehen, so ist es z.B. unwahrscheinlich, daß ein Kandidat die Frage beantwortet, ob ein Recht auf Abtreibung in der Verfassung enthalten ist, aber allgemeinere Ausführungen zum right to privacy lassen ebenso Schlüsse auf die Haltung zur Abtreibung zu. Daß dies nicht immer funktioniert, zeigten zuletzt Richter Thomas und Souter, die auch die Stellungnahme zum right to privacy verweigerten; siehe dazu CQ, 10.7.1993, S.1810 und CQ, 25.1.1992, S.169. 13*

192 1986 Scalia Powell Blackmun Brennan Stevens Marshall White O'Connor Rehnquist

E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß 1988 Scalia Kennedy Blackmun Brennan Stevens Marshall White O'Connor Rehnquist

1990 Scalia Kennedy Blackmun Souter Stevens Marshall White O'Connor Rehnquist

1991 Scalia Kennedy Blackmun Souter Stevens Thomas White O'Connor Rehnquist

1993 Scalia Kennedy Blackmun Souter Stevens Thomas Ginsburg O'Connor Rehnquist

1994 Scalia Kennedy Breyer Souter Stevens Thomas Ginsburg O'Connor Rehnquist

Von 1969 bis 1972 wurden vier Richter von Präsident Nixon neu ernannt (Burger, Blackmun, Powell, Rehnquist). In den Jahren von 1973 bis 1980 erfolgte nur eine personelle Veränderung, nämlich 1975 die Ernennung von Stevens durch Präsident Ford. In der Amtszeit Präsident Reagans wurden drei Richter (O'Connor, Scalia und Kennedy) ernannt, Präsident Bush konnte in den 4 Jahren seiner Präsidentschaft zwei Richter (Souter und Thomas) auswählen. Richterin Ginsberg, 1993 durch Präsident Clinton ernannt, ist die erste wieder von einem demokratischen Präsidenten nominierte Richterin seit der Ernennung von Marshall durch Lyndon B. Johnson im Jahre 1967. Da Marshall 1991 durch den Bush-Kandidaten Clarence Thomas ersetzt wurde, war Richter White, dessen Platz die neue Richterin einnimmt, der letzte noch am Gerichtshof tätige Richter, der von einem Demokraten ernannt worden war 97 . 1994 trat Blackmun zurück und Präsident Clinton konnte mit Stephen G. Breyer, der im Juli 1994 vom Senat bestätigt wurde, einen zweiten Richter seiner Wahl für den Supreme Court bestimmen98. Mit Richter Blackmun, dem Autor von Roe ν. Wade, ist der letzte von den 7 Richtern zurückgetreten, die 1973 an der Mehrheitsentscheidung beteiligt waren. Präsident Nixon war mit dem Ziel seiner Besetzungspolitik, die aktivistische Ära des Gerichtes zu beenden, nicht sehr erfolgreich. Obwohl er 1969 den neuen Vorsitzenden Burger, sowie in der Folge drei weitere Richter ernennen konnte, wurde von diesen das hoch aktivistische Roe ν. Wade entschieden.

97

Während der Amtszeit von Präsident Carter ergab sich keine Möglichkeit einer Neubesetzung; siehe F.A.Z. vom 16.6.1993, S.12 und Kenneth Jost, The Issues, in: CQ Researcher, 17.9.1993, S.819-821, 824-825 (819). 98 Connolly, S.2149.

I. USA

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Aber auch die folgenden sechs Richter (bis einschließlich 1991) wurden von republikanischen Präsidenten ausgewählt und langsam veränderten sich die Mehrheiten in der Abtreibungsrechtsprechung 99. Die überzeugende pro-choice Mehrheit in Roe v. Wade 100 mit 7 zu 2 Stimmen konnte 1983 in Akron v. Akron Center 101 unter Bestätigung der Grundsätze von Roe ν. Wade noch einmal mit 6 zu 3 Stimmen bestätigt werden. Die abweichende Meinung in Roe ν. Wade wurde von den Richtern Rehnquist und White vertreten, denen sich 1983 die neue Richterin O'Connor anschloß, um gegen die Mehrheit zu stimmen. 1989 hatten sich die Mehrheitsverhältnisse in Webster v. Reproductive Health Services schon umgekehrt und die vormalige Minderheit aus Rehnquist, White und O'Connnor konnte nun, unterstützt durch die zwischenzeitlich hinzugekommenen Richter Kennedy und Scalia, mit 5 zu 4 Stimmen die Meinung des Gerichts vertreten. Daß Roe ν. Wade in der Webster-Entscheidung nicht gleich ganz aufgehoben worden war, lag an der Gestaltung des Falles, so argumentierten zumindest die Richter. Erschreckend oder erfreulich - je nach Standpunkt - war jedenfalls die Tatsache, daß zum ersten Mal seit 1973 eine Mehrheit von Richtern im Supreme Court vertreten war, die sich nicht zu den Grundsätzen von Roe ν. Wade bekannten. 1992 fiel in PP v. Casey mit wiederum zwei neuen Richtern, Thomas und Souter, die Entscheidung über die Zukunft von Roe ν. Wade. Es ergab sich nun eine neue Koalitionenbildung bei den Richtern. Nicht überraschend war, daß sich Thomas auf die Seite der erklärten Gegner von Roe ν. Wade schlug, nämlich zu Rehnquist, White und Scalia. Aber eine Mehrheit zur Aufgabe von Roe v. Wade kam trotzdem nicht zustande. Kennedy nahm überraschenderweise zusammen mit O'Connor und dem neuen Richter Souter eine vermittelnde Position ein. Diese drei konnten in einer zwischen den Extremen formulierten Mittelmeinung und mit wechselnder Unterstützung der anderen Richter die neue Mehrheitsmeinung formulieren. Die Richterernennung ist damit sowohl in der Öffentlichkeit als auch bei der Rechtsprechung zwar ein bedeutender Faktor, aber allein die rechnerische Bildung von Mehrheiten ist noch keine Garantie für eine bestimmte Fallentscheidung. 99 Zu der insbesondere von Präsident Reagan verfolgten Strategie, die Durchsetzung seiner Politik durch gezielte Richterauswahl zu erreichen, siehe Herman Schwartz, Packing the Courts, New York 1988. 100 Die entscheidenden Richter waren: Blackmun, Brennan, Burger, Douglas, Marshall, Powell, Stewart. 101 Powell, Burger, Brennan, Marshall, Blackmun, Stevens.

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. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

8. Wahlen Ein Wahlkampf wird immer wieder benutzt, um bestimmte Ansichten eines Kandidaten herauszugreifen und diese allein für das Wahlverhalten ausschlaggebend werden zu lassen. Diese single-issue Politik wird in den USA von zahlreichen Interessenverbänden erfolgreich betrieben, so natürlich auch im hochkontroversen Bereich der Abtreibung. Das Prinzip ist einfach und wird auf Bundesebene genauso wie bei lokalen Wahlen durchgeführt. Es wird für den Kandidaten geworben, der sich für die vertretenen Interessen stark zu machen verspricht. Dies kann bei großen Organisationen, die aus steuerlichen Gründen zumeist eine eigene Unterorganisation zur Sammlung von Wahlkampfspenden haben, eine erhebliche Förderung des kostspieligen Wahlkampfes bedeuten. Ob der Kandidat sein Versprechen einlöst, läßt sich an sogenannten "hitlists" schnell nachprüfen. Diese zeigen das genaue Abstimmungsverhalten der Abgeordneten in Washington und ermöglichen so eine schnelle und einfache Information, wie pro-choice oder pro-life orientiert der Volksvertreter in der Legislaturperiode abgestimmt hat 102 . Für unentschiedene Wähler gibt es diese Listen auch mit den Namen der von der Organisation unterstützten Kandidaten. So hat man jederzeit den politisch passenden Namen parat 103 . Die tatsächliche Bedeutung dieser Aktionen ist, abgesehen von dem Publizitätseffekt (auch für die eigene Organisation), schwer einzuschätzen. So wurde die Präsidentschaftswahl 1992 von beiden Seiten der Abtreibungsdebatte zu einem Kampf zwischen pro-choice und pro-life beschworen. NARAL schaltete z.B. Fernsehwerbung, um an die Bedeutung der Wahlen für die künftigen Richter am Supreme Court zu erinnern 104. Die National Right to Life News legte ihren Lesern dagegen Bush als prolife Kandidat ans Herz 105 und zeigte in einer Gegenüberstellung der Kandida-

102

So z.B. Congressional Vote Record on Abortion 1991, publiziert von NARAL, darin gibt eine "rating" Ziffer am Ende der Abstimmungsdarstellung zusätzlich die prozentuale Übereinstimmung mit pro-choice an; waren alle Abstimmungen im prochoice Sinner erfolgt, so sind dies 100% für den Kandidaten. 103 Siehe NARAL-PAC 1992 Voters' Guide, mit allen pro-choice Kandidaten für Senats-, Haus-, Gouverneurs- und Staatsanwaltswahlen für alle Staaten 1992. 104 Nach Howard Kurtz / Ann Devroy, NARAL Ads Ask Voters To Consider Candidates' Abortion Rights Stance; in: The Washington Post, 27.10.1992, A13. 105 President Bush's Strong Record on Abortion, National Right to Life News, 15.9.1992, S.5.

I. USA

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ten die Auswirkungen der Wahl für pro-life Interessen106. Daß dieses Thema nicht alle Amerikaner gleich bewegte, zeigte sich aber bei den Debatten der Präsidentschaftskandidaten. Weder Bush, noch Clinton oder Perot wurde eine Frage zur Abtreibung oder zur zukünftigen Benennung von Supreme Court Richtern gestellt. Lediglich in der Debatte der Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten wurde die Fage diskutiert 107. Am Ende wurde von pro-choice ein Sieg proklamiert, da Clinton nun einmal pro-choice und Gewinner war. Aber nur 12% der Wähler sagten, daß Abtreibung eines der zwei wichtigsten Themen gewesen sei, das sie zur Entscheidung bewegte. Und diese Wählergruppe hatte vorwiegend Bush ihre Stimme gegeben, nämlich 56% (36% dagegen für Clinton und 8% für Perot). Bei einer anderen Fragestellung kommt man aber auch zu einem anderen Ergebnis. 32% der Wähler bezeichneten die Ernennung des nächsten Supreme Court Richters als sehr wichtig in ihrer Entscheidungsfindung. Diese Gruppe wählte zu 50% Clinton, zu 39% Bush und 11% blieben für Perot 108 . Die Tatsache, daß nur 51% der Wähler glauben, daß die Wahlkampagne die wichtigsten Probleme angesprochen hat (während 47% dies verneinen), kann nur einen zusätzlichen Denkanstoß über die Schwierigkeit der Auswertung statistischer Daten geben109.

9. Zwischenergebnis Die Abtreibung ist durch die gerichtlichen Entscheidungen - trotz der, zumindest anfangs, deutlichen Vorgaben - nicht aus der öffentlichen oder gesetzgeberischen Debatte verschwunden, sondern wird weiterhin auf allen politischen Ebenen heftig umkämpft, in der parlamentarischen Auseinandersetzung wie auch als Wahlkampfthema. 106

Where do the Candidates Stand on Abortion, National Right to Life News, 15.9.1992, S.14. 107 Erwartungsgemäß bezeugte Gore, daß er und Clinton eine pro-choice Position vertreten, während Quayle sich als pro-lifer bekannte. Stockdale, auserwählter Vize von Perot, meinte es sei eine Frage des right to privacy, aber als die Diskussion dieses Punktes seiner Meinung nach zu lange andauerte, sagte er "So what the heck! Let's get on with talking about something substantive". Nachzulesen in "Campaign '92: Transcript of the Vice Presidential Debate" in: The Washington Post, 14.10.1992 A 15. 108 Beide Umfragen wiedergegeben nach E.J.Dionne, Abortion Rights Supporters Claim Election Gains; in: The Washington Post, 9.11.1992 A9. 109 "How Voters Rated The Race", The Washington Post, 3.11.1992 A9.

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E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

Trotz der Vorgaben des Supreme Court konnten Bund und Einzelstaaten erheblichen Einfluß auf die Gestaltung der Abtreibung nehmen. Der größte Erfolg einer restriktiven Abtreibungspolitik des Bundes war die fast ausnahmslose Streichung der Finanzierung der Abtreibung aus Medicaid. Nach der Billigung durch den Supreme Court zeigte sich die Bedeutung einzelstaatlicher Verfassungen, als 7 Staatsgerichte der Bundesentscheidung nicht folgten. Die geringfügige Erweiterung der Finanzierung (seit 1993 außer bei Lebensgefahr auch in Fällen von Vergewaltigung und Inzest) ändert nichts daran, daß die meisten Frauen für eine Abtreibung keine Unterstützung des Staates erhalten können 110 . Von den neueren Reformversuchen des Bundes in eine pro-choice Richtung konnte sich lediglich FACE durchsetzen, wodurch Kliniken vor Gewaltaktionen von pro-life Anhängern bundeseinheitlich besser geschützt werden sollen. Ehrgeizigere Projekte wie der FOCA oder das Krankenversicherungsgesetz konnten sich nicht durchsetzen. In den Einzelstaaten ist das Bild insgesamt betrachtet in höchstem Maße uneinheitlich. In der regionalen Gliederung sind es vornehmlich die Staaten im Süden, in Mountain West und im Mittleren Westen, die eine pro-life Politik betreiben, während die Küstenstaaten des Pazifik und im Nordosten eher eine pro-choice Politik verfolgen. Einige Staaten versuchen sich seit Roe ν. Wade, aber mit zunehmendem Erfolg seit Webster v. Reproductive Health Services, an der restriktiven, prozeduralen Gestaltung der Abtreibung. Durch diese Hemmnisse wird die Abtreibung zwar nicht illegal, was den Staaten wegen der verfassungsrechtlichen Schranken auch nicht möglich wäre, aber die Abtreibungsmöglichkeiten werden zunehmend erschwert. Die Auswirkungen dieser Politik tragen vor allem die Minderjährigen und finanziell Bedürftige. Da nicht alle Staaten eine restriktive Abtreibungspolitik verfolgen, sehen die Gesetze in Staaten mit pro-choice Mehrheit in den Parlamenten oder Gerichten völlig anders aus. Diese Unterschiede in der Ausgestaltung der Abtreibungsmöglichkeiten werden durch den Rückzug des Obersten Gerichtes, das bisher noch zentralisierend wirkte, verstärkt. Die Erfolgsaussichten des Bundes dieser 110

Die Situation mittelloser Frauen würde noch zusätzlich verschärft, wenn die am 24. März 1995 im Repräsentantenhaus verabschiedete "Welfare Bill" Gesetz würde. Denn der republikanische Gesetzesentwurf sieht neben umfangreichen Kürzungen und einer Erweiterung der einzelstaatlichen Verantwortung im Sozialhilfebereich u.a. vor, daß an unverheiratete Mütter unter 18 Jahren keine Barmittel als Sozialhilfe geleistet werden. CQ, 25.3.1995, S.872-875

II. Kanada

197

Dezentralisierung (z.B. durch zukünftige Richterauswahl) zu begegnen, sind im Moment gering einzuschätzen. Daß diese Unterschiede ohne verfassungsrechtliche Grenzen noch größer wären, ergibt sich aus der Haltung der politischen Machtinhaber der Einzelstaaten; 1994 wäre in 8 Staaten der USA mit einem generellen Verbot der Abtreibung zu rechnen gewesen.

I L Kanada 1. Gesetzgeberische Reformen des Bundes Nachdem die strafrechtliche Abtreibungsgesetzgebung Anfang 1988 vom Supreme Court für nichtig erklärt worden war, hatte die Bundesregierung die Aufgabe, ein neues Strafgesetz vorzulegen. Die Hinweise, die das Gericht gegeben hatte, wurden von der Regierung genau untersucht und versucht umzusetzen.

a) Rekriminalisierung

der Abtreibung, 1. Versuch

In einem ersten Versuch im Mai 1988 sollte über einen Antrag abgestimmt werden, der die Entscheidung über eine Abtreibung in einem frühen Schwangerschaftsstadium weitgehend der Frau zusammen mit ihrem Arzt überließ und später mehr Beschränkungen unterworfen wurde. Premierminister Mulroney von der regierenden konservativen Partei hatte die Abstimmung darüber der Fraktionsdisziplin enthoben, da es sich um eine Gewissensentscheidung handele 1 1 1 . Weiterhin sollte über zwei gegensätzliche Zusätze zu diesem Entwurf abgestimmt werden, der eine betonte den Schutz des Fötus, der andere das Entscheidungsrecht der Frau. Ungewöhnlich an dem Verfahren war jedoch, daß mehr als diese beiden Zusätze nicht eingebracht werden konnten - normalerweise präsentiert die Regierung einen Gesetzentwurf und alle Abgeordneten können Ergänzungen der Gesetzesvorschläge beantragen - und zudem sollte die Redezeit auf 20 Minuten pro Abgeordneten beschränkt werden. 111

Brodie, S.67.

198

E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

Die Opposition aus Liberalen und Neuen Demokraten bemängelte diese undemokratische Verfahrensweise und da die Zustimmung des gesamten Hauses für die Einführung des Antrags erforderlich war, war dieser erste Versuch gescheitert1 1 2 .

b) Rekriminalisierung

der Abtreibung, 2. Versuch

Mitte 1988 wurde der ursprüngliche Antrag dann ohne die beiden Zusätze eingebracht, allerdings diesmal nicht in der Form eines Gesetzentwurfs, sondern die Debatte über den Antrag sollte der Regierung lediglich ein Bild - für eine zukünftige Gesetzgebung - von der Meinungspalette im Haus verschaffen. Die Debatten vom am 26. und 27. Juli 1988 führten zu 21 Zusätzen, die vom Sprecher des Hauses auf fünf wesentliche reduziert wurden, über die am 28. Juli abgestimmt wurde. Dabei erreichte kein Zusatz eine Mehrheit, auch der Regierungsvorschlag wurde mit 147 zu 76 Stimmen abgelehnt. Die größte Zustimmung (105 dafür, 118 dagegen) erhielt der restriktivste Zusatz, der eine Abtreibung nur bei Lebensgefahr der Frau, die von 2 Ärzten festgestellt werden mußte, zuließ 113 . Die pro-life Befürworter zeigten sich damit als Gruppe zwar zahlenmäßig am stärksten vertreten, aber nicht mehrheitsfähig. Das Regierungsziel, einen Eindruck vom "sense of the House" zu gewinnen, hatte sich nicht erfüllt. Premier Mulroney hoffte nunmehr auf die Hilfe des Supreme Court und verkündete, daß vor weiteren Schritten zunächst die Entscheidung des Gerichtes zu Borowski v. Attorney-General abgewartet würde.

c) Gerichtliches Zwischenspiel Nachdem sich die konservative Partei in den Wahlen vom 21. November 1988 erneut eine parlamentarische Mehrheit gesichert hatte, wurde am 9. März 1989 die Entscheidung des Gerichtes zu Borowski v. Attorney-General verkündet. Aber da die Frage der Rechte des Fötus nicht diskutiert wurde, gab es auch hier keine Entscheidungshilfe für das Parlament 114.

112 113 114

Brodie, S.68. Brodie, S.86-87. Brodie, S.88, 95.

II. Kanada

199

Kurz darauf, im Sommer 1989, wurde der Supreme Court erneut Mittelpunkt der Abtreibungsdiskussion, als über den spektakulären Versuch eines potentiellen Vaters, eine Abtreibung zu verhindern, zu entscheiden war (Tremblay v. Daigle). Das Recht der Frau, ohne Mitwirkung des potentiellen Vaters über eine Abtreibung zu entscheiden, wurde zwar durch das Urteil bestätigt, aber die Regierung fühlte sich nunmehr herausgefordert, und wurde auch massiv aufgefordert, etwas zu tun und nicht die gesamte Abtreibungspolitik den Gerichten zu überlassen. Die Daigle-Entscheidung, aber auch die im selben Jahre in den USA ergangene Entscheidung im Falle Webster v. Reproductive Health Services, hatte nur zu deutlich gemacht, wie verletzlich die gegenwärtige alleinige Sicherung der Rechte der Frau durch die Gerichte war.

d) Rekriminalisierung

der Abtreibung, 3. Versuch

Premier Mulroney berief ein Komitee aus pro-life und pro-choice Abgeordneten ein, die einen Kompromiß ausarbeiteten, der am 3. November 1989 als Bill C-43 im Repräsentantenhaus vorgestellt wurde 115 . Danach ist Abtreibung strafbar, es sei denn, sie wird von einem Arzt vorgenommen, der zuvor festgestellt hat, daß das Leben oder die Gesundheit der Frau ohne die Abtreibung gefährdet würden. Gesundheit wurde definiert als physische, geistige und psychologische Gesundheit. Abgesehen davon, daß es ohne die Morgentaler-Entscheidung von 1988 wahrscheinlich gar keinen neuen Entwurf gegeben hätte, war die Entscheidung auch für wesentliche Ausgestaltungen der Bill C-43 verantwortlich. Als Vorgaben der Morgentaler-Entscheidung, zu deren Einhaltung man verfassungsrechtlich verpflichtet war, sah die Regierung an: - daß Abtreibungsmöglichkeiten generell für Frauen vorhanden sein müßten, - daß das verfassungsrechtlich garantierte Recht der Frau auf Sicherheit der Person geschützt werden müßte, - daß der Schutz des Fötus ein rechtmäßiges Staatsinteresse sei, - daß die Gesundheit der Frau während der gesamten Schwangerschaftsdauer geschützt werden müßte. Die Hinzuziehung eines zweiten Arztes bei einer Abtreibungsentscheidung sei zulässig, wenn dadurch nicht das Gesundheitsrisiko der Frau vergrößert würde.

115

Graham Praser, Mulroney sought compromise from Tory caucus on new bill; in: The Globe and Mail, 4.11.1989, A 8.

200

E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

Diese Prinzipien haben nach Ansicht der Regierung zu dem neuen Entwurf geführt, der nunmehr in einer verfassungsrechtlich einwandfreien Lösung den Ausgleich der konkurrierenden Interessen des Rechtes der Frau und des gesellschaftlichen Interesses am Schutz des Fötus vornehme. Durch die Beseitigung der prozeduralen Vorschriften, wie des Zustimmungserfordernisses eines Abtreibungskomitees oder die Beschränkung der Abtreibungsmöglichkeit auf dafür zugelassene Krankenhäuser, sei die Ursache der Verzögerungen und der Verknappung der Abtreibungsmöglichkeiten beseitigt worden, die zuvor zu einer Gesundheitsgefahr für die Frau geführt hätten. Das Staatsinteresse am Schutz des Fötus werde dadurch gewährleistet, daß Abtreibungen nur nach ärztlicher Beurteilung aus Gesundheitsgründen vorgenommen werden dürfen. Durch die Definition der Begriffe, wie z.B. Gesundheit, wurde einem Kritikpunkt des Supreme Court nachgegeben, der die uneinheitliche Auslegung des Gesundheitsbegriffes im alten Gesetz bemängelt hatte. Die Definition der Gesundheit als geistige, physische und psychologische ist ebenfalls ein Zugeständnis an den Supreme Court, der den Gesundheitsbegriff (und damit den Ausnahmefall, in dem einer Frau eine Abtreibung aus Gründen der Sicherheit der Person erlaubt sein muß) ausdrücklich auch psychologisch verstand 116. Damit wurden in einer engen Anlehnung an die Morgentaler-Entscheidung von 1988 die prozeduralen Mängel der alten Gesetzgebung beseitigt, ohne jedoch substantielle Veränderungen, etwa der Art, wie sie Richterin Wilson in dem Urteil angesprochen hatte, vorzunehmen.

e) Debatten im Repräsentantenhaus Als typische Kompromißformel, nämlich einerseits Kriminalisierung, andererseits relativ großzügige Indikationsmöglichkeiten, erntete der Vorschlag bei den Debatten im Repräsentantenhaus durchweg mehr Kritik als Zustimmung. Die pro-choice orientierten Teilnehmer kritisierten, daß die Abtreibung überhaupt wieder kriminalisiert werden sollte, anstatt den nationalen Standard 116

Nach Justice Information, "New Abortion Legislation, Background Information", 3.11.1989, sowie Justice Information, "Notes for an Address by the Honourable Doug Lewis, Minister of Justice and Attorney General of Canada at a News conference on the Tabling of Legislation on Abortion".

II. Kanada

201

des Zugangs über den Canada Health Act zu regeln. Die Antwort der Regierung hierauf war, daß dies in die Kompetenz der Provinzen falle. Der pro-life Standpunkt war, daß der Schutz des Fötus wegen der weiten Interpretationsmöglichkeit des Gesundheitsbegriffes unzureichend sei 117 . Die Interpretation der Gesundheit war tatsächlich der Angelpunkt dieser Vorlage, und dadurch, daß die Beurteilung durch einen Arzt vorgenommen wurde, lag die Hauptverantwortung der Entscheidung nicht bei den Frauen, sondern bei den Ärzten. Diese standen der ihnen in Bill C-43 überantworteten Entscheidung ablehnend gegenüber. In einer Stellungnahme der Canadian Medical Association (CMA) wurde kritisiert, daß durch die drohende Strafverfolgung der Ärzte das Arzt-Patienten Verhältnis gestört werde und die Abtreibungsmöglichkeiten weiter verknappt würden. Trotz der gesetzlichen Definition der Gesundheit blieben Unklarheiten dahingehend, was die psychologische Gesundheit beinhalte 118 . Die unterschiedlichen Auffassungen hierzu führten, verbunden mit der in Bill C-43 nicht verhinderten Klagemöglichkeit Dritter, zu einer großen Verunsicherung der Ärzteschaft. Zwar war in Tremblay v. Daigle entschieden worden, daß der potentielle Vater kein Recht habe, eine Abtreibung zu verhindern, aber unter der Bill C-43 konnte jedermann gegen einen Arzt Anzeige erstatten, dessen Abtreibungspraxis Anlaß zu Zweifeln an der Gesetzmäßigkeit gab 119 . Auch bestand die Möglichkeit, daß potentielle Väter durch eine einstweilige Verfügung die Ausführung einer Abtreibung verzögern konnten, wenn sie behaupteten, daß diese gegen den Criminal Code verstoßen würde. Während die pro-life Gruppen einen ungehinderten Zugang zu Abtreibungen befürchteten, sahen pro-choice Organisationen das umgekehrte Ergebnis voraus, nämlich die weitere Verknappung der Abtreibungsmöglichkeiten. Letztlich hätte das Ergebnis schlicht und einfach variiert; je nachdem, welche Politik in der jeweiligen Provinz vertreten würde.

117

Eine Zusammenstellung der Argumente findet sich in Brodie, S. 100-108. In den Debatten wurde hierzu auf den Daigle-Fall hingewiesen, da Chantal Daigle den typischen Fall einer sozialen Indikation personifiziert, der geeignet ist, eine uneinheitliche Bewertung zu erfahren; je nachdem ob man die psychologische Gesundheit bei der Tatsache einer ungewollten Schwangerschaft ansich schon gefährdet sieht, oder höhere Kriterien ansetzt; letztendlich ist die Entscheidung von der jeweiligen Bewertung des Arztes abhängig. 119 Brodie, S.105; ein Zusatz wurde diskutiert, der die Anklage nur nach Zustimmung des Staatsanwaltes zulassen sollte, um "private prosecution" zu verhindern. 118

202

E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

Die neue Justizministerin Kim Campbell versicherte dessen unbeirrt, daß ein nationales Gesetz, welches die Berechtigung zur Abtreibung festlege, doch besser als gar kein Gesetz sei. Darin unterstützt wurde sie von der Einschätzung der Law Reform Commission, die meinte, daß es den Provinzen angesichts einer nationalen Regelung schwer fallen werde, den Zugang zu beschränken 1 2 0 . Die Fragwürdigkeit dieser Einschätzung einer Bindungswirkung der Provinzen ist aber auch Ms. Campbell bewußt gewesen, denn während der Debatten äußerte sie später, daß, falls die Provinzen die Abtreibungsmöglichkeiten tatsächlich beschränken sollten, dies nicht vom Bund kontrolliert werden könne. Die Regierung gab diesen Teil der Abtreibungspolitik also bewußt in die Hände der Provinzen, und enthob sich jeder Verantwortung für die Ausführung des Gesetzes121. Im Mai 1990 fanden die letzten drei Tage der Debatte statt, bei der sich kein Zusatz zu C-43 durchsetzen konnte. Die endgültige Abstimmung im Haus am 29, Mai 1990 brachte eine knappe Mehrheit mit 140 zu 131 Stimmen für die Annahme von Bill C-43. Die große Anzahl der Gegenstimmen rekrutierte sich aus einer ungewöhnlichen Allianz aus pro-life und pro-choice Anhängern. Daß das Gesetz trotzdem eine Mehrheit fand, lag an der Fraktionsdisziplin der Konservativen, von denen nur 13 gegen die Annahme stimmten.

f) Senatsentscheidung Damit ging das Gesetz zu der 2. Kammer der Gesetzgebung, dem Senat. Dieser beriet erst ein halbes Jahr später, im Oktober 1990, über das Gesetz. Bis dahin hatten sich erste Auswirkungen schon gezeigt. Obwohl das Gesetz noch nicht in Kraft war, hatte allein die Wahrscheinlichkeit der bevorstehenden Annahme bewirkt, daß sich die Abtreibungsmöglichkeiten verringerten. So hatten z.B. in Manitobas größtem Abtreibungskrankenhaus 4 der 5 Ärzte, die den Schwangerschaftsabbruch ausführten, ihre Tätigkeit eingestellt und der fünfte kündigte seinen Ausstieg an, sobald C-43 Gesetz würde. Im Peter Lougheed Krankenhaus in Calgary stoppten alle 7 abtreibenden Ärzte den Eingriff und zwangen so wöchentlich durchschnittlich 35 Frauen aus der Gegend in die USA zu reisen, um dort eine Abtreibung durchführen zu lassen. Ähnliche Vorkommnisse gab es in ganz Kanada. Die Engpässe einzelner Regionen führten 120 121

Brodie, S.106. Brodie, S.107.

II. Kanada

203

wiederum zu Wartefristen in Metropolen wie Toronto, wo Abtreibungen noch durchgeführt wurden 122 . Die fachärztliche Vereinigung der Gynäkologen (Society of Obstetricians and Gynaecologists), deren Mitglieder 95% der Abtreibungen in Kanada durchführen, verkündete nach einer Mitgliederbefragung, daß nur noch 158 Ärzte bereit seien, nach Inkrafitreten des Gesetzes Abtreibungen durchzuführen 123. Deutlicher hätten sich die Befürchtungen der Kritiker von Bill C-43, die eine Verknappung auf Grund der drohenden Strafverfolgung vorausgesagt hatten, kaum beweisen können. In den Anhörungen des Senats versuchte Justizministerin Campbell zwar zu beschwichtigen und versicherte immer wieder, daß die Ärzte das Gesetz falsch verstünden, aber selbst ihr Angebot, von einer Strafverfolgung abzusehen, bis diese Bedenken geklärt seien, konnte niemanden so recht überzeugen. Die mögliche Strafverfolgung lag, wenn das Gesetz erst einmal in Kraft war, nicht in ihrer Hand und die faktischen Auswirkungen waren nicht wegzudiskutieren. Nach zwei Monaten der Beratung hatte der Senat 38 Einzelpersonen und Gruppen angehört, die mit Ausnahme von zwei Kabinettsmitgliedern und zwei Organisationen (darunter die Law Reform Commission) sich alle gegen die Annahme des Gesetzes aussprachen124. Trotzdem war der Ausgang der Abstimmung am 31. Januar 1991 bis zuletzt ungewiß. Zu Recht, denn mit 43 zu 43 Stimmen kam es erstmalig seit Bestehen des Senats zu einem unentschiedenen Ausgang. Nach einem Augenblick der Verwirrung wurde jedoch festgestellt, daß die Senatsregeln vorsehen, daß ein Gleichstand der Stimmen eine Nicht-Annahme bedeutet und Bill C-43 damit endgültig abgelehnt worden war 1 2 5 . 122

Brodie, S.110-112. The Society of Obstetricians and Gynecologists of Canada Newsletter, Ottawa, Canada, 2.10.1990; ebenso Toronto Star, 7.12.1990, A l . 124 Als Beispiele für eine kritische Auseinandersetzung mit Bill C-43 im Schrifttum siehe Lorraine E. Weinrib, Bill C-43: An Act Respecting Abortion; in: The Law Society Gazette, Vol.XXV, No.2, Juni 1991, S. 147-159; Sheila M. Noonan, Abortion and Bill C-43; in: Queen's Law Journal, Vol.16, No.2, Sommer 1991, S.321-345; Sheila L. Martin, The New Abortion Legislation; in: Constitutional Forum, Vol.l, No.2, Sommer 1991, S.5-7,20. 125 Die Unüblichkeit einer Ablehnung zeigt sich daran, daß die letzte Ablehnung vor 30 Jahren erfolgt war; da der Senat im Gegensatz zum Repräsentantenhaus keine gewählte Volksvertretung ist, ist er sehr zurückhaltend im Gebrauch seines Vetorechtes; siehe dazu "The abortion bill fails, by a vote of the unelected" in: The Globe and Mail, 2.2.1991 D6. 123

204

E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

Die Regierung reagierte relativ gelassen auf die Ablehnung und kündigte an, daß es zumindest in dieser Legislaturperiode keinen neuen Versuch der Abtreibungsgesetzgebung geben werde 126 .

2. Aktueller Stand der Bundespolitik Abtreibung ist seit Januar 1988 in Kanada nicht mehr strafbar und eine Neuregelung ist seit dem Scheitern von Bill C-43 nicht geplant worden. Daß der Bund die Strafkompetenz nicht völlig aus der Hand gibt, zeigt sich an der Beteiligung am Verfahren gegen Nova Scotia 1993, aber dies ist nicht gleichzusetzen mit Ambitionen für den Erlaß eines neuen Strafgesetzes. Auf eine offizielle Anfrage des National Action Committee on the Status of Women, ob die Regierung eine neue Gesetzgebung plane, wurde ausweichend in dem Sinne geantwortet, daß dringendere Themen zu erledigen seien und daß das Strafrecht ungeeignet sei, das prinzipielle Problem einer ungewollten Schwangerschaft zu lösen. Das Problem der mangelnden Abtreibungsmöglichkeiten in entlegenen Gebieten sei Aufgabe der Provinzen, da der Canada Health Act nur allgemeine Vorgaben aufstelle, deren Ausführung den Provinzen obliege 127 . Diese zurückhaltende Antwort verschweigt einen wesentlichen Grund für die passive Haltung der Regierung. Abtreibung ist in Kanada ein Thema, bei dem für die Regierenden nichts zu gewinnen ist. Die pro-choice orientierten Bürger sind zufrieden damit, daß die Abtreibung entkriminalisiert wurde. Ihre weitergehende Forderung nach einem nationalen Standard bei der Abtreibungsmöglichkeit wird mit dem Hinweis auf die Zuständigkeit der Provinzen abgewiesen. Der Forderung der pro-life Bewegung nach einem gesetzlichen Schutz des Fötus kann die kanadische Regierung, selbst wenn sie wollte, nur ungenügend nachkommen. Durch die verfassungsrechtliche Vorgabe, daß der Schutz der Gesundheit der Frau einem Schutz des Fötus vorgeht, kann ein Verbot nur mit der Ausnahme einer Abtreibungsmöglichkeit bei Gesundheitsgefahr realisiert werden. Ein solches Gesetz ist den Anhängern von pro-life jedoch nicht restriktiv genug. 126

Siehe Chantal Hébert, "Le Projet de loi sur l'avortement défit au Sénat" in Le Devoir, 1.2.1991 A4. 127 Status of Women Canada, Federal Response to Questions Submitted by the National Action Committee on the Status of women (NAC), 1.6.1992.

II. Kanada

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Es wären jedoch nicht nur diese beiden Positionen zu vereinbaren, sondern eine neue Kriminalisierung würde auch den Widerstand der Ärzte hervorrufen, die die Möglichkeit einer Strafverfolgung befürchten und daher schon 1991 mit ihrer massiven Kampagne entscheidend zum Scheitern von Bill C-43 beitrugen. Zuletzt hat sich der entkriminalisierte Zustand auch zunehmend etabliert, so daß es für eine Regierung schwierig würde, überhaupt einen Handlungsbedarf festzustellen. Daß die Bevölkerung Kanadas andere Themen für wichtiger hält, zeigt sich auch daran, daß die Abtreibung im Rahmen der Bundeswahlen 1993 kaum thematisiert wurde. Das Aufgreifen des Themas durch die Neuen Demokraten (NDP) ist als Ausnahme von der Regel zu sehen128. Es läßt sich dadurch erklären, daß die NDP als einzige Partei eine deutliche Position zur Abtreibung vertritt, und die wechselnden Äußerungen anderer Politiker, bzw. die Unsicherheit ihrer Position auf diesem Gebiet, daher als einzige Partei auch "mit gutem Gewissen" kritisieren kann. Die neuen Mehrheitsverhältnisse nach den Wahlen 129 am 25. Oktober 1993 mit einem Sieg der Liberalen, bzw. einem beispielslosen Verlust der Konservativen, lassen eine Gesetzesnovelle zur Rekrimialisierung der Abtreibung noch unwahrscheinlicher erscheinen. Die Haltung der liberalen Partei zur Abtreibung ist zwar uneinheitlich130, aber im Vergleich zu den Konservativen neigt die Mehrheit der Parteimitglieder jedenfalls eher zu einer pro-choice Position. Der neue Premierminister Jean Chretien äußerte vor den Wahlen, daß seine Partei keine Pläne für ein Abtreibungsgesetz habe. Wenige Tage später korrigierte er seine Aussage aber dahingehend, daß dies nicht heiße, daß es nicht eventuell einige Zeit nach den Wahlen doch eine Abstimmung über ein neues Gesetz geben könne 131 .

128 Dazu Warren Caragata, NDP puts abortion rights in election platform; in: The Gazette, 27.1.1993 F8. 129 Zum Wahlergebnis siehe FR, 27.10.1993, S.l oder FAZ, 27.10.03, S.l. 130 Ein Zusammenschluß von Parteimitgliedern kämpft gegen Abtreibungsrechte (Liberals for Life). 131 Toronto Star, 3.2.1993 A2.

14 Moors

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E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

3. Regelung der Abtreibung in den Provinzen Die medizinische Regelung der Abtreibung obliegt als Gesundheitssache den Provinzen. Mit der Morgentaler-Entscheidung von 1988 ist die Zuständigkeit im Gesundheitswesen - solange es kein neues Strafgesetz gibt - die einzige Regelungsbefugnis im Bereich der Abtreibung geworden. Folgend wird nach Regionen gegliedert 132 kurz dargestellt, wie die Abtreibung in den einzelnen Provinzen geregelt wird, und welche Regelungsversuche die Provinzen unternommen haben, wobei die Kernpunkte der unterschiedlichen Ausgestaltung die Finanzierung und die tatsächlichen Abtreibungsmöglichkeiten sind 133 .

a) Atlantik-Kanada aa) Newfoundland In Newfoundland werden nur in einem öffentlichen Krankenhaus in St. Johns Abtreibungen durchgeführt und finanziert. Die Abtreibung erfolgt aber nur in einem frühen Schwangerschaftsstadium, wenn ein Gremium - bestehend aus einem Gynäkologen, einem Psychiater und einem Sozialarbeiter - zugestimmt hat, und zuvor eine Beratung durch eine Krankenschwester erfolgt ist. Es ergeben sich dadurch Wartezeiten von 4 - 6 Wochen. Ende 1993 war das Krankenhaus kurzfristig ohne einen Arzt, der Abtreibungen durchführen konnte, so daß es keine Abtreibungsmöglichkeit für finanziell bedürftige Frauen gab. Die Situation ist allerdings inzwischen verbessert worden. Dr. Morgentaler hat 1990 eine Klinik in St. Johns eröffnet. Zunächst weigerte sich die Provinz für Abtreibungen in der Klinik zu zahlen. Nachdem die Provinzregierung jedoch feststellte, daß die von der Versicherung getragenen 132 Für eine Regionalgliederung werden in Kanada üblicherweise die Atlantikregion (Newfoundland, Nova Scotia, New Brunswick und Prince Edward Island), die Prärieregion (Manitoba, Saskatchewan und Alberta) und die Territories unterschieden, während die Provinzen Quebec, Ontario und British Columbia eigene Regionen bilden. Nach Rainer-Olaf Schultze, Ungleiche Entwicklung und Regionalpolitik in Kanada, Auesburg 1990, S.86. 133 Stand der Informationen: Januar 1994, wenn nicht anders vermerkt aus Childbirth by Choice Trust, Abortion In Canada Today: The Situation Province-By-Province, Januar 1994; sowie The Provincial Abortion Siuation After The Defeat Of Bill C-43, Dezember 1992; sowie Toronto Star, 27.1.1993 Al.

II. Kanada

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Kosten für eine Abtreibung in einem Krankenhaus außerhalb der Provinz bis zu $ 4000 betrugen, änderte man Ende 1992 die klinikfeindliche Politik. Seither werden zumindest die Arztgebühren bei einer Abtreibung in der Klinik erstattet^.

bb) Nova Scotia Die meisten Abtreibungen werden in Halifax durchgeführt. Die Provinz Nova Scotia finanziert Abtreibungen in öffentlichen Krankenhäusern, wo sich jedoch Wartezeiten bis zu 6 Wochen ergeben und bezahlt die Kosten des Arztes bei einer Abtreibung in einer Privatklinik. Im Juni 1989, kurz nachdem Dr. Morgentaler angekündigt hatte, eine Klinik in Halifax zu eröffnen, erließ Nova Scotia den "Act to Restrict Privatization of Medical Services". Darin wurde festgelegt, daß eine Reihe von medizinischen Eingriffen, darunter Abtreibungen, nur in öffentlichen Krankenhäusern durchgeführt werden dürfen. Zuwiderhandlungen können mit Geldstrafen von $ 10.000 bis 50.000 bestraft werden. Der Sinn des Gesetzes sollte es nach Erklärungen der Regierung sein, die Privatisierung bestimmter medizinischer Dienstleistungen zu verbieten, um eine hochqualifizierte Gesundheitsversorgung für alle Bewohner in Nova Scotia zu gewährleisten. Obwohl außer Abtreibung noch andere Eingriffe auf Krankenhäuser beschränkt werden sollten, wurde das Gesetz aber allgemein als Reaktion auf Dr. Morgentalers Ankündigung der Eröffnung einer Abtreibungsklinik in Halifax gesehen. Die Canadian Abortion Rights Action League (CARAL) versuchte, das Gesetz gerichtlich zum Scheitern zu bringen, da es außerhalb der provinziellen Gesetzgebungsbefügnis liege und verfassungswidrig sei. Das Gericht (Nova Scotia Trial Division) 135 entschied jedoch im Oktober 1989, daß CARAL keine Klagebefugnis zustehe und dies wurde in der Berufungsinstanz im März 1990 bestätigt136. Das Berufungsgericht erkannte zwar im Unterschied zum Gericht der 1. Instanz ein ausreichendes Interesse der Organisation an der Gesetzge134

Die Arztkosten sind jedoch nur ein Teil (ca. 1/3) der Rechnung, da auch die Inanspruchnahme der klinischen Einrichtung bei einem Eingriff in Rechnung gestellt wird. Diese über die Arztkosten hinausgehende Summe ist von den Frauen selbst zu tragen. 135 CARAL v. Attorney-General of Nova Scotia, 63 D.L.R. (4th) 680-686. 136 Canadian Abortion Rights Action League Inc. v. Attorney-General of Nova Scotia, 69 D.L.R. (4th) 241-258. 14*

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E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

bung an, welches über das normale Interesse eines jeden Bürgers hinausgehe, aber in der Zwischenzeit war ein Verfahren wegen Übertretung des Gesetzes gegen Dr. Morgentaler in Gang gesetzt worden. Dieser habe, nach Ansicht des Gerichtes, durch seinen direkten Konflikt mit dem Gesetz ein noch dringenderes Interesse an der Klärung der Gültigkeit des Gesetzes und die Frage sei daher besser in dem anderen Verfahren zu klären. Dr. Morgentaler hatte seine Abtreibungsklinik trotz des Gesetzeserlasses eröffnet und erklärte am 27. Oktober 1989 vor der Presse, daß er bereits 7 Abtreibungen durchgeführt habe. Er wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, berief sich zu seiner Verteidigung jedoch auf die Verfassungswidrigkeit der Vorschrift. Tatsächlich entschied Richter Joseph Kennedy des Provinzgerichtes 137 im Oktober 1990, daß die unter dem Medical Services Act vorgenommenen Regulierungen strafrechtlicher Natur seien und daher nicht in der Kompetenz der Provinz lägen. Diese Entscheidung wurde vom Berufungsgericht 138 1991 und zuletzt am 30. September 1992 vom Supreme Court 139 in einer einstimmigen Entscheidung bestätigt. Der Supreme Court sah den vorrangigen Sinn des Gesetzes darin, Abtreibungen außerhalb von Krankenhäusern als sozial unerwünschtes Verhalten zu verbieten, während die gesundheitspolitischen Erwägungen der Provinzregierung nur vorgeschoben seien140.

cc) New Brunswick Abtreibungen werden in New Brunswick nurfinanziert, wenn sie in öffentlichen Krankenhäusern von einem Gynäkologen ausgeführt werden, nachdem zwei Ärzte zugestimmt haben, daß die physische oder psychische Gesundheit der Frau andernfalls gefährdet sei 141 . Abtreibungsmöglichkeiten bestehen in drei Krankenhäusern, die jedoch alle im Süden der Provinz liegen und die die Abtreibung nur für Anwohner durchführen.

137

Re v. Morgentaler 99 N.S.R. (2d) 293. Re ν. Morgentaler, Nova Scotia Supreme Court, Appeal Division, 1991, 83 D.L.R. (4th) 8-37. 139 The Queen v. Morgentaler, 3 S.C.R. 463, 1993; siehe in dieser Arbeit Kapitel D. II.7. 140 Sean Fine, Nova Scotia ban on clinic struck down; in: The Globe and Mail, 1.10.1993, A l , A2. 141 Michel Laliberte / Diane Tremblay "Avortement au Nouveau-Brunswick: un choix difficile... d'accès?" in Ven'd'est, März-April 1992, No 48, S.29-32. 138

II. Kanada

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Dr. Morgentaler prozessierte gegen die Provinz, da diese auch für Abtreibungen außerhalb der Provinz nur dann zahlen wollte, wenn nach den in New Brunswick geltenden Erfordernissen verfahren worden war. Es wurde jedoch gerichtlich festgestellt, daß die Regelungen nicht in anderen Provinzen Anwendung finden können. Daher sei eine Abtreibung auch dann zu finanzieren, wenn sich die Frau gerade in einer anderen Provinz aufhalte und sie nach den dort geltenden Voraussetzungen legal habe durchführen lassen142.

dd) Prince Edward Island 1982 wurde auf Prince Edward Island die letzte Abtreibung durchgeführt und seither gibt es keine Möglichkeit, eine Abtreibung auf der Insel zu erhalten. Dies gründet sich auf die Politik der Krankenhausverwaltung, die jedem Arzt mit dem Entzug der Krankenhausbenutzung droht, der eine Abtreibung durchführen sollte. Da die Provinzregierung ebenfalls gegenüber der Durchführung von Abtreibungen feindlich eingestellt ist 1 4 3 , tut sie nichts, um den Erhalt von Abtreibungen in Prince Edward Island zu ermöglichen. Etwa 200 Frauen verlassen Prince Edward Island jährlich, um eine Abtreibung in einer Klinik in Halifax, Montréal oder den USA vornehmen zu lassen. Die Fahrtkosten dorthin werden nicht bezahlt und die Kostenerstattung einer Abtreibung in einem Krankenhaus außerhalb von Prince Edward Island ist nur dann möglich, wenn ein Gremium aus 5 Ärzten der Entscheidung der Frau vorher zugestimmt hat. Klinikabtreibungen werden generell nicht finanziert.

b) Quebec Quebec hat schon vor der Entscheidung des Gerichtes zur Strafgesetzgebung des S.251 C.C. seine eigene Abtreibungspolitik durchgesetzt. Nach Freisprüchen durch Geschworenengerichte in den Jahren 1973, 1975 und 1976 erklärte der Generalstaatsanwalt am 10. Dezember 1976, daß das Strafgesetz in Quebec unanwendbar sei und Übertretungen daher nicht mehr verfolgt würden. Seither waren Abtreibungen in Quebec nicht nur in öffentlichen Krankenhäusern, sondern auch in lokalen Einrichtungen erhältlich und dies ohne Zu142

Morgentaler v. New Brunswick (Att.Gen.) 98 N.B.R. (2nd) 1989. Siehe dazu die Regierungserklärung von 1988 in: Journal of the Legislative Assembly of Prince Edward Island, S.90-91, 117-118 (1988). 143

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E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

Stimmung eines Abtreibungskomitees. Das Bundesgesetz war damit schon 1976, 12 Jahre vor der Morgentaler-Entscheidung, in einer einzelnen Provinz (die zudem als die katholischste gilt) außer Kraft gesetzt worden 144 . Die Erklärung des Staatsanwalts, daß ein einzelnes Bundesgesetz fortan nicht mehr angewandt werden soll, liegt zwar sicherlich nicht in seiner Befugnis, aber die Bundesregierung unter Premier Trudeau zog es vor, nicht auf die Ankündigung zu reagieren und die Politik Quebecs und ihre Abtreibungskliniken stillschweigend zu dulden 145 . Schwangerschaftsabbrüche werden in öffentlichen Krankenhäusern und einigen Gesundheitszentren146 ganz finanziert, in Privatkliniken nur zum Teil. Die Abtreibungsmöglichkeiten konzentrieren sich auf Montréal, wo sich besonders die privaten Anbieter niedergelassen haben und ca. 75% aller Abtreibungen vorgenommen werden, während in den ländlicheren Bezirken weniger Einrichtungen zur Verfügung stehen147.

c) Ontario Die Provinz Ontario zahlt seit 1990 für jede Abtreibung, unabhängig davon, ob sie in einer Privatklinik oder in einem öffentlichen Krankenhaus vorgenommen wurde. Die Abtreibungsmöglichkeiten variieren. In den Metropolen sind Krankenhäuser und Privatkliniken vorhanden, dagegen gibt es in einigen Bezirken keine (Brockville, Kitchener, Cambridge, Owen Sound) oder nur beschränkte Abtreibungsmöglichkeiten (Mississauga, York Region, Peel North, Oshawa). Das größte Problem bezüglich der Abtreibungsmöglichkeiten ergibt sich hier aus Drohungen und tätlichen Angriffen von Abtreibungsgegnern gegen Kliniken. So wurde z.B. die Klinik Dr. Morgentalers in Toronto 1992 durch eine Bombe zerstört. 144

Dr. Morgentaler, "Abortion: Medical, Legal and Moral Aspects" in Humanist in Canada, Winter 1985, S.3-6 (5); Madeleine Vallée, De la Contraception a Γ avortement: outrage a l'autonomie des femmes, cahier 30, Université lavai Quebec, 1989, S. 15. 145 Morton, Morgentaler v. Borowski, S.87. 146 Es handelt sich dabei um öffentlich geführte oder geförderte Einrichtungen, die auf Familienplanung spezialisiert sind und in diesem Zusammenhang auch die Durchführung von Abtreibungen anbieten. 147 Zu Quebec siehe "L'Accessibilité aux services de contraception et d'Avortement" Gouvernement du Quebec, Conseil du statut de la femme, Mai 1992.

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d) Prärie aa) Alberta In der ersten Woche nach der Morgentaler-Entscheidung von 1988 verkündete der für die Krankenhausverwaltung zuständige Minister Marvin Moore, daß nur diejenigen Abtreibungen von der Versicherung bezahlt würden, denen zuvor von einem Komitee zugestimmt wurde. Wegen der Supreme Court Entscheidung sei dies zwar keine Voraussetzung mehr für die Legalität der Abtreibungen, aber es sei auch nicht entschieden worden, daß die Versicherung für Abtreibungen ohne Zustimmung eines Komitees zahlen müsse. Der nachhaltige Protest eines anderen Kabinettsmitglieds, Elaine Me Coy, Ministerin für Frauenfràgen führte schließlich zu einer Kompromißlösung, die die Bezahlung von Abtreibungen vorsah, soweit sie in einem anerkannten Krankenhaus vorgenommen wurden und ein zweiter Arzt zusätzlich konsultiert wurde 148 . 1991 wurde diese restriktive Politik aufgegeben und seither werden Abtreibungen nicht nur in öffentlichen Krankenhäusern finanziert, sondern auch in Privatkliniken, in letzteren allerdings nur zu einem Anteil bis 25%. Im selben Jahr wurde auch das Erfordernis der Hinzuziehung eines zweiten Arztes aufgegeben. Abtreibungsmöglichkeiten gibt es nur in den Zentren Grand Prairie, Calgary und Edmonton.

bb) Manitoba In der Provinz Manitoba konzentrieren sich die Abtreibungsmöglichkeiten auf Winnipeg, wo Dr. Morgentaler eine Klinik betreibt. Die Weigerung der Provinz, Abtreibungen in seiner Klinik zu bezahlen, hat er in einem Gerichtsverfahren angegriffen 149. In der erstinstanzlichen Entscheidung des Court of Queen's Bench 150 vom 12. Juni 1992 erklärte das Gericht die Regelung für unzulässig, da der Health 148

Siehe dazu Ian T. Urquhart, Federalism, Ideology, and Charter Review: Alberta's Response to Morgentaler; in: Canadian Journal of Law and Society 4 (1989) S.l57-173 (160-162). 149 Nach Winnipeg Free Press, 22.4.1992, B20. 150 Court of Queen's Bench of Manitoba, Lexogest Inc. v. The A.G. of Manitoba, Entscheidung vom 12.6.1992, unveröffentlicht.

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E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

Services Insurance Act zwar bestimmen könne, welche medizinischen Leistungen gewährt werden und wer versichert sei, aber es könne nicht die Einrichtung bestimmt werden, in der der Eingriff vorgenommen werden soll. Die Klinik Dr. Morgentalers ist eine Einrichtung, die von der Provinz zur Vornahme von Abtreibungen zugelassen wurde, also könne eine Person, die einen Anspruch auf die Deckung einer bestimmten medizinischen Leistung habe, den Eingriff auch dort durchführen lassen. Dr. Morgentaler gewann im März 1993 auch die Berufung. Im Juli 1993 erließ das Provinzparlament den "Health Services Amendment Act", der die Zahlung erneut auf in Krankenhäusern vorgenommene Abtreibungen beschränkt. Das Verfahren gegen diese neue Gesetzgebung ist anhängig. Die Abtreibungsmöglichkeiten in Manitoba sind zudem durch Krankenhausvorstände erschwert, die keine Abtreibungen in ihrem Haus durchführen wollen oder eigene Indikationsvorschriften aufstellen. So hält z.B. ein Krankenhaus in Dauphin seit Februar 1991 die Maßnahme aufrecht, daß eine Abtreibung nur bei Lebensgefahr der Frau durchgeführt wird. Da es sich um eines der wenigen in Kanada noch existierenden Krankenhäuser handelt, das nicht öffentlich geführt wird, sondern in Privatbesitz ist, kann es, obwohl es wie ein öffentliches Krankenhaus staatlich finanziert wird, nicht zu einem anderen Verhalten verpflichtet werden 151. Die Provinzregierung könnte allenfalls die Zuschüsse entziehen, da das Krankenhaus nicht in Übereinstimmung mit den generellen Prinzipien handelt. Danach soll die medizinische Grundversorgung der Bürger, unabhängig von moralischen oder religiösen Ansichten, gewährleistet werden. Solange jedoch kein anderes Krankenhaus die Versorgung übernehmen kann, ist die Provinz auf dieses angewiesen und wird wahrscheinlich eher versuchen, eine Privatklinik für Abtreibungen zur Niederlassung zu bewegen152.

cc) Saskatchewan Saskatchewan ist nicht nur die Provinz, von der aus Borowski seinen Zug vor die Gerichte begann; auch zwei weitere Fälle zur Abtreibung erlangten nationale Aufmerksamkeit. 1985, also noch während der Gültigkeit des Abtreibungsgesetzes, unternahm die Abgeordnete Gay Caswell mit einer Gesetzesvorlage den Versuch, auf die 151

Siehe Winnipeg Free Press, 16.8.1991, S.l, "Hospital's abortion ban legal, expert

says".

152

Winnipeg Free Press, 18.8.1991, S.6, "Abortions in Dauphin".

II. Kanada

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Abtreibungsregelung Einfluß zu nehmen153. Der Erhalt einer Abtreibung sollte für eine verheiratete Frau vom Einverständnis ihres Ehemannes abhängig gemacht werden; Minderjährige sollten die Einverständniserklärung der Eltern vorweisen. Weiterhin sah das Gesetz für die Frau und zustimmungspflichtige Personen eine bestimmte Informationserteilung vor, nach der eine 48-Stunden Wartefrist einzuhalten war. Vor Inkrafttreten des Gesetzes wurde es dem Saskatchewan Court of Appeal zur Verfassungsüberprüfung vorgelegt. Das Gericht entschied, daß das Gesetz den unzulässigen Versuch darstelle, eine bestehende strafrechtliche Regelung zu verschärfen 154. 1991 wurde bei den Wahlen der Provinzregierung zugleich darüber abgestimmt, ob Abtreibungen weiterhin mit öffentlichen Mitteln finanziert werden sollen. Eine Mehrheit (63% der Wähler) lehnte dies ab und brachte damit die zugleich neu gewählte NDP Regierung, die eine explizite pro-choice Politik vertritt, in Schwierigkeiten 155. Die NDP ließ daraufhin ein juristisches Gutachten erstellen, um zu prüfen, ob die Nicht-Finanzierung der Abtreibung gegen die Charter oder gegen den Canada Health Act verstoßen würde 156 . - Verstoß gegen die Charter Es wurde zunächst festgestellt 157, daß es unwahrscheinlich sei, daß eine Nicht-Finanzierung der Abtreibung gegen s.7 der Charter verstoße. Die Entscheidung, diesen Eingriff nicht zu bezahlen, wäre kein staatlich erstelltes Hindernis, auch wenn es den Erhalt einer Abtreibung für Frauen schwerer machen würde. Aber die Nicht-Finanzierung könnte gegen das in s.l5 statuierte Gleichheitsrecht verstoßen. Der Saskatchewan Medicare Insurance Act versichert alle medizinisch notwendigen Leistungen. Die Herausnahme der Abtreibung aus

153 (private Member) Bill No.53 - An Act respecting Freedom of Informed Choice concerning Abortions in Saskatchewan, siehe dazu The Leader Post, 24.4.1985 A4; The Leader Post, Regina, 5.6.1985 und ebda. 11.6.1985 A4. 154 Reference Re Freedom of Informed Choice (Abortions) Act (1985), 25 D.L.R. (4th) 751 (Sask.C.A.); The Leader Post, 21.12.1985, A3. 155 Neil Scott, Abortion funding rejected; in: The Leader Post, 23.10.1991 A4. 156 Da diese Überlegungen auch für andere Provinzen relevant sind, die bestrebt sind, Abtreibungsmöglichkeiten zu reduzieren, sollen sie kurz dargestellt werden. 157 Folgend nach dem Gutachten der Kanzlei MacPherson Leslie & Tyerman, Regina Office, 1500 - 1874 Scarth St. Regina Saskatchewan, Canada, S4P 4E9, Aktz. 925.7 "Abortion Funding", Document 33528.

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E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

dem Leistungskatalog würde nur Frauen betreffen und könnte daher eine Diskriminierung darstellen 158 . Bei der Annahme einer Verletzung der s.l5 der Charter könnte die NichtFinanzierung der Abtreibung nur dann gerechtfertigt sein, wenn sie nach s.l innerhalb der vernünftigen Grenzen erfolgte, die durch Gesetze bestimmt sind, die in einer freien und demokratischen Gesellschaft zu rechtfertigen sind. Die möglichen Ziele einer Nicht-Finanzierung könnten in der Kostenersparnis oder in der Verhinderung von Abtreibungen gesehen werden 1 5 9 . Es ist jedoch gut möglich, daß diese Ziele den in s.l enthaltenen Verhältnismäßigkeitstest nicht bestehen würden, da die NichtFinanzierung der Abtreibung nicht das mildeste Mittel zur Erreichung des Zieles wäre 1 6 0 . Die Verfassungswidrigkeit der Nicht-Finanzierung der Abtreibung könnte sich daher aus einer Verletzung der s.l5 ergeben, die nicht als vernünftige Einschränkung durch s.l gerechtfertigt ist.

158

Für dieses Ergebnis spricht eine Entscheidung des Supreme Court, in der die gesonderte Behandlung von Schwangeren in einer Firmenversicherung als Diskriminierung auf Grund des Geschlechtes angesehen und für unzulässig erklärt wird; siehe Brooks v. Canada Safeway Ltd. (1989) 1 S.C.R. 1219; in diesem Fall wurde zwar die Diskriminierung auf Grund einer Verletzung des Manitoba Human Rights Act festgestellt, aber die Argumentation ist für s.l5, als entsprechender Bestimmung der Charter, instruktiv. 159 Der Schutz des Fötus ist als Gesetzesziel zwar auch denkbar, seine Betonung trägt jedoch (wegen der moralischen Natur) das Risiko in sich, daß die Maßnahme in Konflikt mit der Bundeskompetenz im Strafrecht kommt. 160 Bei dem Ziel der Kostenersparnis sei schon fraglich, ob das Mittel den angestrebten Zweck überhaupt erreichen kann, da Geburten und Kinder den Staat mehr Geld kosten als Abtreibungen. Aber selbst wenn man davon ausginge, so bestünde dieses Ziel nicht den folgenden Test der Wahl des mildesten Mittels, denn es ließe sich eine Kostenersparnis im Bereich der Gesundheitsversorgung auch auf anderem Wege erreichen, ohne die Gleichheitsrechte von Frauen zu verletzen. Die Verhinderung von Abtreibungen könnte zwar durch die Nicht-Finanzierung erreicht werden, aber es handelt sich dabei nicht um das mildeste Mittel, da dieses Ziel z.B. auch durch verbesserte Familienplanung erreicht werden könnte. Zuletzt wäre es auch unwahrscheinlich, daß die Ziele den letzten Verhältnismäßigkeitstest bestehen würden, da die komplette Streichung der Abtreibungsfinanzierung und die damit verbundenen rigorosen Einschränkungen in keiner angemessenen Proportion zu dem angestrebten Ziel stehen.

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- Verstoß gegen den Canada Health Act Der Canada Health Act (C.H.A.) sieht vor, daß eine Provinz alle versicherten Leistungen finanzieren muß 161 und definiert als "versicherte Leistung" u.a., "wenn die Leistung medizinisch zur Gesundheitserhaltung erforderlich ist" 1 6 2 . Denkbar wäre die Argumentation, daß eine Abtreibung nicht medizinisch erforderlich ist, wenn es die Alternative der Austragung des Kindes gibt. Dagegen spricht jedoch, daß bislang alle Abtreibungen in Saskatchewan, und ebenso in den übrigen Provinzen Kanadas, in einer Art nationalem Konsens als medizinisch erforderlich i.S. des C.H.A. betrachtet werden. Es gibt zwar keine verbindliche Definition dafür, wann ein medizinischer Eingriff erforderlich ist, aber die einheitliche Anwendung spricht für eine Implikation aller Abtreibungen. Zudem werden auch andere frei gewählte Eingriffe als medizinisch erforderlich versichert, so z.B. die Vasektomie. Die Provinz kann daher Abtreibungen nicht von der Finanzierung ausnehmen, ohne Gefahr zu laufen, daß nach s.l5 des Aktes 163 ein Teil oder sogar sämtliche Bundeszahlungen eingestellt werden; und das solange, bis die Übereinstimmung mit den Prinzipien des Gesetzes wiederhergestellt wird. Im Ergebnis könnte der Ausschluß der Finanzierung von Abtreibungen ein Verstoß gegen s.l5 der Charter und den C.H.A. sein. Die Regierung stützte sich auf diese Rechtslage und vermied so eine Umsetzung des Wählerwillens. Abtreibungen werden also weiterhin in öffentlichen Krankenhäusern finanziert, aber die Abtreibungsmöglichkeiten sind unzureichend. Nur wenige Kran161

Canada Health Act 1984, chapter 6, s.9 "In order to satisfy the criterion respecting comprehensiveness, the health care insurance plan of a province must insure all insured health services provided by hospitals, medical practitioners or dentists, and where the law of the province so permits, similar or additional services rendered by other health care practitioners." 162 Canada Health Act 1984, chapter 6, s.2 "insured health services means hospital services, physician services and surgical-dental services provided to insured persons..."; "hospital services means any of the following services provided to in-patients or outpatients at a hospital, if the services are medically necessary for the purpose of maintaining health, preventing disease or diagnosing or treating an injury, illness or disability...". 163 Canada Health Act 1984, chapter 6, s.15 (1) Where, (...), the Governor in Council is of the opinion that the health care insurance plan of a province does not or has ceased to satisfy any one of the criteria described in sections 8 to 12 or that a province has failed to comply with any condition set out in section 13, the Governor in Council may, by order, (a) direct that any cash contribution (...) be reduced, in respect of each default, by an amount that the Governor in Council considers to be appropriate, (...); or (b) (...) direct that the whole of any cash contribution or amount payable to that province for a fiscal year be withheld.

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E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

kenhäuser bieten den Eingriff an, und dies auch nur für Frauen die in der Gegend wohnhaft sind. Daraus ergeben sich teilweise Wartefristen für einen Termin von bis zu 6 Wochen.

e) British Columbia In British Columbia wurde im März 1988, nur zwei Monate nach der Legalisierung der Abtreibung in der Morgentaler-Entscheidung, ein Gesetz erlassen, welches die Finanzierung von Abtreibungen nur noch dann zuließ, wenn diese in einem Krankenhaus durchgeführt wurde und wegen der Lebensgefahr der Frau erforderlich war. Die Gesetzgebung wurde von der British Columbia Civil Liberties Association vor Gericht gebracht und vom British Columbia Supreme Court für ungültig erklärt 1 6 4 . Die Urteilsbegründung stützte sich auf einen mehr prozeduralen Grund und ließ daher offen, ob die Finanzierung von Abtreibungen prinzipiell im Ermessen der Provinz liege. Das Gesetz hatte erklärt, daß Abtreibungen, die nicht wegen der Lebensgefährdung der Frau vorgenommen werden, medizinisch nicht notwendige Abtreibungen seien und daher auch nicht versichert seien. Das Gericht fand, daß die Regierung von British Columbia nicht die Befugnis habe, pauschal festzustellen, welche ärztlichen Eingriffe medizinisch notwendig oder nicht notwendig seien. Daher sei das Gesetz unzulässig. Das Gericht deutete aber weiterhin an, daß es der Regierung möglicherweise freigestanden hätte, die Abtreibung zu einer nicht versicherten Leistung zu erklären, unabhängig davon ob sie medizinisch notwendig sei. Diese Lösung war von British Columbia wahrscheinlich bewußt nicht gewählt worden, um nicht in Konflikt mit dem Canada Health Act zu geraten, der die Versicherung aller medizinisch notwendigen Eingriffe vorsieht. Obwohl dieser Versuch einer restriktiven Abtreibungspolitik gerichtlich gestoppt wurde, gab es in British Columbia das Problem mangelnder Abtreibungsmöglichkeiten, da eine Reihe von öffentlichen Krankenhäusern keine Abtreibung mehr anbot. Die Entscheidung darüber, welche medizinischen Leistungen ein Krankenhaus anbietet, wird vom Vorstand getroffen. Dieser unterliegt der provinziellen Kontrolle, da die Vorstandsmitglieder durch die Provinzregierung gewählt werden. Durch die gezielte Wahl von pro-life Anhängern in Krankenhausvorstände können diese bei Erreichen einer Mehrheit

164

British Columbia Civil Liberties Assn. v. British Columbia (A.G.) 1988, 24 B.C.L.R. 189 (B.C.S.C.).

II. Kanada

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die Geschäftsführung des Hauses dahingehend ändern, daß Abtreibungen nicht mehr als Leistung angeboten werden 165. Nachdem 1992 die Neuen Demokraten (NDP) in British Columbia die Wahlen gewonnen hatten, änderten sie radikal die bisherige restriktive Abtreibungspolitik und begannen ihr Wahlversprechen auf Finanzierung von Abtreibungen und vor allem der Bereitstellung von Abtreibungsmöglichkeiten zu verwirklichen. Das Problem der "hospital board take over" wurde gelöst, indem die Regierung 32 Krankenhäuser schlicht angewiesen hat, Abtreibung als medizinische Leistung anzubieten166. Zwei unabhängigen Abtreibungskliniken wurde eine öffentliche Finanzierungshilfe in Höhe von $ 1 Million zugesagt.

f) Territories

( Yukon und Northwest Territories)^

1

In Yukon und den Northwest Territorien gibt es Abtreibungsmöglichkeiten zwar nur in den Krankenhäusern in den Zentren, aber die Kosten, einschließlich der Fahrtkosten, werden erstattet und die Wartezeiten sind kurz.

g) Gesamtübersicht In allen Provinzen in Kanada werden Abtreibungen, wie andere medizinische Eingriffe, in öffentlichen Krankenhäusern von der Krankenkasse finanziert. Diese Tatsache läßt nicht den Schluß auf eine abtreibungsneutrale Politik der Provinzen zu, sondern ist auf die Ausgestaltung des Canada Health Act zurückzuführen. Dieses Gesetz macht die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Gesundheitsversorgung davon abhängig, daß die von einem Arzt oder in einem Krankenhaus vorgenommenen medizinisch indizierten Eingriffe, wozu Abtreibung anerkanntermaßen gehört, versichert werden. 165

ben.

166

Diese Taktik der pro-life anhänger wird als "hospital board take over" beschrie-

Siehe The Globe and Mail, 21.3.1992, Al. Die Rechtslage in den Territorien wird der Vollständigkeit halber aufgeführt; es ist jedoch zu bedenken, daß die Territorien keine eigene Gesetzgebungsbefugnis haben, sondern der Gesetzgebungskompetenz des Bundes unterstehen. 167

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E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

Mehr Gestaltungsfreiheit haben die Provinzen bei der Zulassung von Privatkliniken und der Finanzierung von Abtreibungen in privaten Einrichtungen. Denn während der C.H.A. nur die Finanzierung von Eingriffen in anerkannten Krankenhäusern vorschreibt, sind die Provinzen nicht verpflichtet die Kosten in einer nicht anerkannten Klinik zu übernehmen. So übernehmen nur 2 Provinzen 168 die vollen Kosten, wenn der Eingriff in einer Privatklinik vorgenommen wird. 4 Provinzen 169 finanzieren einen Teil der Kosten in einer Privatlinik, zumeist die Arztgebühren. Die übrigen 4 Provinzen 170 und die Territorien 171 haben keine Privatkliniken auf ihrem Gebiet oder verweigern die Bezahlung für Eingriffe in diesen. Umstritten ist, ob zumindest die Arztkosten eines Eingriffs in einer Klinik übernommen werden müssen. Der C.H.A. sieht prinzipiell die Bezahlung der Arztgebühren vor. Ob dies von der Einrichtung abhängig ist, in der der Eingriff durchgeführt wird, ist fraglich und wird eventuell in einem noch anhängigen Verfahren von Dr. Morgentaler gegen die Provinz Manitoba gerichtlich geklärt. Nur Quebec und Ontario haben die Morgentaler-Entscheidung von 1988 akzeptiert, ohne im Anschluß daran zu versuchen, die Auswirkungen der Entscheidung durch Regelungen innerhalb der Provinz zu relativieren. In allen anderen Provinzen wurden - mit unterschiedlichem Erfolg - Versuche unternommen, in die Regelung der Abtreibung einzugreifen. Die Abtreibungsmöglichkeiten sind in den meisten Provinzen unzureichend, vor allem in ländlichen Bezirken sind Frauen oft zu aufwendigen Reisen gezwungen. Wegen der Wartefristen bei Krankenhäusern, sowie der Tatsache, daß in Privatkliniken im Gegensatz zum Krankenhaus der Eingriff meist ambulant durchgeführt wird, lassen viele Frauen die Abtreibung vorzugsweise in einer Klinik machen, auch wenn sie diese ganz oder zum Teil selbst finanzieren müssen. Das schlechte Angebot in Krankenhäusern ist auch darauf zurückzuführen, daß die Entscheidung darüber, ob Abtreibungen in einem Krankenhaus angeboten werden, dem Vorstand der Krankenhäuser obliegt. Mit der Ausnahme von British Columbia hat noch keine Provinz versucht, direkt auf diese Vorstände Einfluß zu nehmen, um Abtreibungsmöglichkeiten zu garantieren, und so die Frauen der Region von der Willkür eines Krankenhausvorstandes unabhängig 168 169 170 171

Ont., B.C.. Alta., N M , N.S., Que.. Man., N.B., P.E.I., Sask.. N.W.T. und Yukon.

II. Kanada

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zu machen. Die Provinzen sind hier jedoch insofern mitverantwortlich, als die Krankenhausvorstände von der Provinzregierung gewählt werden, so daß sich hier die Haltung der Regierung widerspiegelt. Die politische Regelung der Abtreibung läßt ungeachtet der Disparitäten ein regionale Komponente erkennen. Die entwicklungsschwachen Atlantik- und Prärieprovinzen - abgesehen von Veränderungen jüngeren Datums in Alberta und Saskatchewan - verfolgen geschlossen eine pro-life orientierte Politik. Im wirtschaftlich-kulturellen Zentrum Kanadas ist eine neuere Zuwendung zu einer pro-choice Politik auch in British-Columbia zu beobachten, eine durchgehende pro-choice Politik findet sich aber lediglich in Quebec und Ontario 172 . Die pro-choice Politik der dicht besiedelten und hoch entwickelten Stadtwelt im Süden (Quebec und Ontario) steht damit der pro-life Politik des ländlichen und fast menschenleeren Raumes im Norden entgegen. Die Positionen zur Abtreibung verlaufen damit in etwa entlang der regionalen Grenzen zwischen den wirtschaftlich stärkeren und bevölkerungsreichen Provinzen und den bevölkerungsärmeren, wirtschaftlich schwächeren und entlegeneren Regionen173.

4. Zwischenergebnis Der Bund hat es in Kanada bisher nicht erreicht, einen Ersatz für die Aufhebung der strafrechtlichen Sanktion der Abtreibung zu verabschieden. Das Morgentaler-Urteil 1988 kann trotz seiner formalen Zurückhaltung für maßgebliche Veränderungen bei dem gescheiterten Gesetzgebungsversuch des Bundes verantwortlich zeichnen. Mit der Zeit stellt sich nun die Frage, ob das Erfordernis eines Strafgesetzes - nach 6 Jahren Straflosigkeit - überhaupt noch begründbar wäre. Die Abtreibung ist zwar nicht mehr strafbar, aber daß kein legislatives Vakuum und kein einheitliches Bild entstanden ist, liegt an den Provinzen. Abtreibung wird über das Gesundheitsrecht der Provinzen reguliert (insofern wäre das Bild vom legislativen Vakuum unzutreffend) und es wird höchst unter172

Regionale Unterschiede in der Position zur Abtreibung finden sich auch bei Umfrageergebnissen. Danach halten beispielsweise nur 6,7% der Bevölkerung der Atlantikprovinzen eine Abtreibung immer dann für gerechtfertigt, wenn sich eine Frau zu dem Eingriff entschließt. In Quebec ist die Zahle mit 15,6% signifikant höher, während der Landesdurchschnitt bei 10,4% liegt. Nach Martin Thunert, Grundrechtspatriotismus in Kanada, Bochum 1992, S.221. 173 Zu den regionalen politischen Strukturen in Kanada vgl. Rainer-Olaf Schultze, Politik und Gesellschaft in Kanada; Meisenheim am Glan, 1977, S.436 ff..

220

E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

schiedlich behandelt (insofern ist kein einheitliches Bild entstanden). Dem Regulierungswillen der Provinzen werden dadurch Grenzen gesetzt, daß sie nicht auf dem Gebiet des Strafrechts tätig werden dürfen und auch in der formalen Gesundheitsgesetzgebung darauf achten müssen, die Grenze zur moralischen Vorschrift nicht zu übertreten. Die unterschiedlichen Reaktionen der Provinzen auf die MorgentalerEntscheidung von 1988 und die Tatsache, daß es - trotz Entkriminalisierung keinen erheblichen Anstieg an Zugangsmöglichkeiten zur Abtreibung gibt, zeigen, daß die Strafbarkeit der Abtreibung nur eine Seite dieser Problematik ist 1 7 4 . Mit der Straflosigkeit ergibt sich noch nicht die Möglichkeit, eine Abtreibung durchführen zu lassen oderfinanziert zu bekommen.

I I I . Vergleich In den USA und Kanada wurde durch eine höchstrichterliche Entscheidung die Abtreibung von einem Tag zum anderen legalisiert. In Kanada erfolgte dies durch die Aufhebung des Bundesgesetzes, in den USA durch konkrete Vorgaben des Supreme Court an den dort zuständigen einzelstaatlichen Gesetzgeber. Der Supreme Court der USA hat in Roe ν. Wade ein deutliches Votum für ein Entscheidungsrecht der Frau abgegeben und Rechte des ungeborenen Lebens verneint. Der Supreme Court in Kanada vermied dagegen die ausdrückliche Beantwortung dieser Fragen. In der Aufnahme der Entscheidungen durch die Gesetzgebung haben sich diese Unterschiede kaum ausgewirkt. In Staaten und Provinzen, in denen dieses Ergebnis der Auffassung der regierenden Mehrheit mißfiel, wurden Maßnahmen erlassen, die die Abtreibungsmöglichkeiten erschwerten. Diese Maßnahmen sind insofern "erfolgreich", als daß es für finanziell bedürftige Frauen, die in ländlichen Gebieten wohnen (in den USA zusätzlich erschwert noch bei Minderjährigen), trotz der Straflosigkeit der Abtreibung, faktisch keine Abtreibungsmöglichkeit gibt.

174

Die Provinzen haben allerdings schon vorher ihre eigene lokale Politik verfolgt, was sich an extremen Beispielen besonders deutlich zeigt; so Quebec, wo Abtreibung bereits seit 1976 nicht mehr verfolgt wurde oder als Gegenbeispiel Prince Edward Island, wo es seit 1982 keine Abtreibung mehr gibt.

III. Vergleich

221

In beiden Staaten spielte dabei die Finanzierung eine große Rolle 175 und der doppelte Aspekt der Abtreibung (medizinisch und moralisch) ermöglichte zusätzliche Beschränkungen. Die zunehmend restriktive einzelstaatliche Gesetzgebung in den USA paßte sich der verfassungsrechtlichen Vorgabe äußerlich an, ohne die grundsätzliche Wertentscheidung zu akzeptieren. Da die Entscheidungsfreiheit selbst geschützt war, setzten die Einschränkungen bei der dem Entscheidungsprozeß folgenden Ausübung dieser Freiheit ein. Ähnlich geschieht es in den Provinzen Kanadas. Da die Abtreibung legalisiert und es den Provinzen nicht möglich ist, die strafrechtliche Lücke zu füllen, zeigen sich die politischen Unterschiede - wie auch schon vor der gerichtlichen Entscheidung - an den vorhandenen oder fehlenden Abtreibungsmöglichkeiten. Die Politik der Einzelstaaten bzw. Provinzen erscheint damit relativ unabhängig von den gerichtlichen Vorgaben, denn in beiden Staaten gibt letztlich der lokale Gesetzgeber den Ausschlag über die zu verfolgende Abtreibungspolitik. Unterschiede in der Abtreibungspolitik sind nicht an der Grenze zwischen den USA und Kanada festzumachen, sondern sind vielmehr von der prochoice oder pro-life Politik der jeweiligen Staaten- oder Provinzregierung abhängig. So sind z.B. die Abtreibungsmöglichkeiten einer Frau in Quebec und Kalifornien ähnlich zu bewerten, während größere Unterschiede innerhalb Kanadas zwischen einzelnen Provinzen (z.B. Quebec und Prince Edward Island) oder innerhalb der USA zwischen einzelnen Staaten (z.B. Kalifornien und Pennsylvania) bestehen. In den die Grundrechte betreffenden Verfassungsentscheidungen macht das Gericht allgemeine Aussagen über das Verhältnis des Staates zum Individuum, die - soweit die entsprechende Verfassungsnorm beide Ebenen der Gesetzgebung bindet - auch im Rahmen der jeweiligen Gesetzgebungsbefugnis von beiden Ebenen der Gesetzgebung zu beachten sind. Die Abtreibungsurteile stützten sich in Kanada auf die Charter, die Bund und Provinzen bindet, in den USA auf die due process clause, die ebenfalls für Bund (5. Verfassungszusatz) und Einzelstaaten (14. Verfassungszusatz) verbindlich ist.

175 Daß es in Kanada nicht zu einer Deflnanzierung der Abtreibung in öffentlichen Krankenhäusern kam, liegt nicht an fehlenden politischen Willen (siehe British Columbia), sondern ist in der unterschiedlichen Krankenversicherungsstruktur begründet; für eine instruktive Darstellung der Familienplanungspolitik als Teil der öffentlichen Gesundheitsvorsorge in Quebec und Ontario siehe Stanley K. Henshaw / Elise F. Jones, The Delivery of Family Planning Services in Ontario and Quebec; in: FPP, Vol. 20, No. 2, März/April 1988, S.80-87.

15 Moors

222

E. Aufnahme der Entscheidungen im politischen Prozeß

Obwohl die Abtreibungsfrage sowohl als strafrechtliche, als auch als gesundheitsrechtliche Materie geregelt werden kann und damit (in Kanada und in den USA) unterschiedliche Ebenen der Gesetzgebung zuständig sind, hätte die verfassungsrechtliche Wertung der maßgeblichen Verfassungsentscheidungen von beiden Ebenen der Gesetzgebung anerkannt werden müssen. Daher wäre in der Abtreibungsfrage eine einheitliche Lösung zu erwarten gewesen. Gleichwohl zeigt sich, daß es weder in den USA noch in Kanada zu einer einheitlichen Lösung gekommen ist, sondern daß die Abtreibung regional unterschiedlich geregelt wurde. Diese regionalen Strukturen haben sich gegen die zentralisierende Wirkung der Verfassungsentscheidungen durchgesetzt. Ermöglicht wurde dies durch die kleineren politischen Handlungseinheiten des Föderalismus, die politische Strukturen differenziert widerspiegeln und so zu regional unterschiedlichen Lösungen führen. Dies kann allerdings nur in Abhängigkeit von dem gerichtlich festgestellten, verfassungsrechtlichen Spielraum erfolgen. Bei einer Entscheidung wie Roe ν. Wade blieb für eine strafrechtliche Lösung wenig Gestaltungsraum. Erst in der Finanzierungsfrage (und später in weiteren Bereichen) konnten die Einzelstaaten eine individuelle Abtreibungspolitik gestalten. Morgentaler v. The Queen ließ dem kanadischen Gesetzgeber dagegen- wegen der eng gefaßten Urteilsbegündung - von vorneherein mehr Gestaltungsfreiheit.

F. Schlußbetrachtung Die Verfassungsgerichtsbarkeit hat in den USA und Kanada die Abtreibungsdebatte maßgeblich bestimmt und es lassen sich parallele Entwicklungen als Folge der Verfassungsgarantien feststellen. Durch die Urteile wurden nicht nur Gesetzesreformen eingeleitet, sondern diese waren zudem an die deutlichen Vorgaben der Gerichte gebunden. Daß die Prozesse überhaupt vom Obersten Gerichtshof zu entscheiden waren, ergab sich nicht zufällig, sondern war das Ergebnis zielgerichteten Handelns von interessierten Personen, bzw. Interessenverbänden. Eine Rationalisierung des Konfliktes oder eine einheitliche Lösung konnte weder in den USA noch in Kanada erreicht werden. Aber die Gerichte haben durch ihre grundlegenden Entscheidungen einen Rahmen gesetzt, der den Frauen ein größeres Maß an Entscheidungsfreiheit zugestand, als zuvor in den gesetzlichen Regelungen gewährt wurde.

I. Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit Die Möglichkeit, die Verfassung als Instrument für einen sozialen Wandel zu nutzen, hat in beiden Staaten Wechselwirkungen auf den gerichtlichen und politischen Entscheidungsprozeß im Bereich der Abtreibung gehabt. So wurde zum einen die politische Auseinandersetzung von rechtlichen Argumenten dominiert, zum anderen wurden aber auch Strukturen der politischen Auseinandersetzung von den Gerichten übernommen. - Öffnung des Prozeßrechtes Die Instrumentalisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit für politische Ziele, oder anders ausgedrückt, die Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit, wurde durch die vermehrte und großzügige Zulassung von Verfahrensbeteiligten, sowie durch eine weite Auslegung der Klagebefugnis möglich, wodurch die Gerichte das Verfassungsprozeßrecht der Gesellschaft geöffnet haben. Die Zulassung von Interessenverbänden ist dabei ein Zugeständnis der Gerichte an ihre erweiterte Aufgabenstellung in der Verfassungsrechtsprechung, die über die Streitentscheidung eines Einzelfalles hinausgeht. In der Abtreibungsrechtsprechung haben die Richter zum einen Aufgaben übernommen, die sonst typischerweise der Legislative obliegen - nämlich die Beurteilung der 15*

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F. Schlußbetrachtung

tatsächlichen Auswirkung von Gesetzen - zum anderen werden die Konturen für viele Nachfolgefälle gebildet. Da das Gericht nicht über den bürokratischen Unterbau eines Parlaments verfügt, ist es von den im Verfahren von den Parteien zugetragenen Informationen abhängig. Die Zulassung von amici curiae und Intervenienten bedeutet für die Gerichte eine Unterstützung zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen. Für Interessenverbände ergibt sich dadurch eine zusätzliche Möglichkeit, auf die Interpretation von Gesetzen oder auf ihre Wirksamkeit auch noch im Anschluß an die parlamentarische Verabschiedung Einfluß zu nehmen. Von diesem Vorteil können jedoch nur die Interessenverbände Gebrauch machen, die finanziell gut ausgestattet sind, da die Gerichtsverfahren selbst, aber auch die Anwaltsgebühren für eine Prozeßbeteiligung außerordentlich hoch sind. Einen Ausgleich für diese Problematik hat in Kanada zeitweise das Court Challenging Program gebracht. Diese Öffnung des Prozeßrechts im Bereich der Verfassungsrechtsprechung ist wegen der umfassenden Bedeutung von verfassungsrechtlichen Konflikten positiv zu werten. Die Verfahren von Jane Roe oder Dr. Morgentaler hatten nicht nur für die Beteilligten, sondern auch für Millionen andere Menschen wichtige Folgen. Nur durch eine umfassende Interessensdarlegung und Argumentation - d.h. unter Beteiligung von Verbänden - kann diesen Interessen angemessen Gehör verschafft werden. Der Einsatz des Verfassungsrechts für politische Zwecke ist aber nur in dem Maß möglich, in dem die Richter gewillt sind, Streitfragen von verfassungsrechtlicher Relevanz auch aus der und mit Hilfe der Verfassung zu lösen und gegenüber der Gesetzgebung durchzusetzen. Die Vorstellungen der Richter über die Rolle des Gerichtes im Verhältnis zu anderen politischen Organen ist dabei von entscheidender Bedeutung für den "politischen Grad" ihrer Entscheidungen. - judicial activism Die Abtreibungsfälle in den USA und Kanada sind Beispiele für einen richterlichen Aktivismus, in dem die Richter gegenüber der Legislative eine starke eigene Stellung eingenommen haben. Durch die Streitentscheidung und insbesondere durch die darüber hinausgehenden Feststellungen werden zukünftige Politikbereiche maßgeblich gestaltet, und es wird Einfluß auf den Gesetzgeber ausgeübt. In den USA ist dies am deutlichsten durch die Anerkennung eines Entscheidungsrechts über eine Abtreibung aus dem right to privacy und durch die mit einem Gesetz vergleichbare Stufenregelung in Roe ν. Wade geschehen. Ein weiteres Beispiel für Hinweise an den Gesetzgeber zur Ausgestaltung von Gesetzen - ohne daß diese Ausführungen zur konkreten Fallentscheidung nötig wären - ist aber auch z.B. das von Richter Powell in Bellotti v. Baird entworfe-

I. Politisierung von Verfassungsgerichtsbarkeit

225

ne Modell des richterlichen Alternativverfahrens beim Einverständniserfordernis der Eltern von Minderjährigen. Selbst in dem zuletzt entschiedenen Fall PP v. Casey führen z.B. die entscheidenden Richter O'Connor, Kennedy und Souter aus, daß ein absolutes Verbot der Abtreibung vor Lebensfähigkeit des Ungeborenen nicht verfassungsgemäß sei, obwohl ein solches Verbot nicht zur Entscheidung ansteht. Sie wenden sich damit vorsorglich an Gesetzgeber anderer Staaten, die den neu etablierten undue burden test sonst möglicherweise anders interpretieren würden. Der Wechsel der Rechtsprechung in den USA macht dabei deutlich, daß das Selbstverständnis des Gerichtes nicht nur für das prinzipielle Bekennen zu einer inhaltlichen Überprüfung bedeutsam ist, sondern auch maßgeblich den Grad dieser Überprüfung bestimmt. Die entscheidenden Richter von Roe ν. Wade erkannten in der Verfassung übergeordnete Prinzipien, und waren bereit, diese auch auf neue Sachverhalte anzuwenden, die zum Zeitpunkt der Entstehung der Verfassung keine Rolle spielten. Nur so konnten sie der Verfassung den Schutz der Entscheidungsfreiheit der Frau entnehmen. Nach der gegensätzlichen Auffassung von Richtern wie Scalia bedeutet dies, daß die Gerichte unzulässigerweise Aufgaben der Parlamente übernehmen. Um die Befugnisse des Gerichtes nicht zu überschreiten, ist seiner Meinung nach eine stärkere Orientierung am Text der Verfassung nötig. Problembereiche wie die der Abtreibung würden danach aus dem Schutzbereich der Verfassung herausfallen. Eine Meinung zwischen diesen Extremen konnte sich in der letzten Entscheidung PP v. Casey durchsetzen. Danach wird die Abtreibung zwar nach wie vor als Verfassungsproblem gehandhabt, aber der daraus resultierende Schutz ist schwächer ausgestaltet. Wegen der Bedeutung des Selbstverständnisses der Richter für die Verfassungsinterpretation und damit auch für die Möglichkeiten der politischen Einflußnahme hat dieses Verständis bei der Richterernennung in den USA eine besondere Bedeutung erlangt. Die kanadischen Richter sahen sich erst mit Einführung der Charter zu der inhaltlichen Überprüfung von Gesetzen befugt. Sie beschränkten die Gründe für die Verfassungswidrigkeit des geltenden Abtreibungsstrafrechts zwar auf verfahrensrechtliche Gesichtspunkte, so daß der Duktus der Entscheidungen zurückhaltender klingt, aber Art und Ausmaß der Auseinandersetzung mit dem Gesetz sowie die deutlichen oder implizit geäußerten Hinweise an den Gesetzgeber sind Zeichen eines grundlegend veränderten Selbstbewußtseins des Gerichtes nach Einführung der Charter. So spricht beispielsweise Richterin Wilson in ihrem Votum zum Morgentaler-Fall von 1988 die mögliche Gestaltung einer Gesetzgebung an, die die Abtreibung entsprechend der Schwanger-

226

F. Schlußbetrachtung

schaftsdauer unterschiedlich bewertet, obwohl s.251 keine derartige zeitliche Abstufung vorsah. Auch Tremblay v. Daigle ist ein Beispiel für richterlichen Aktivismus, da zum einen eine Entscheidung in einem erledigten Fall getroffen wurde, um Wiederholungsfällen vorzubeugen, und aus dem gleichen Grund festgestellt wurde, daß dem Fötus kein Schutz aus dem common law zukommt, obwohl dies für den zugrunde liegenden Fall irrelevant war. Die aktivistische Betätigung des Gerichts bringt eine Annäherung und gegenseitige Beeinflussung von Politik und Gerichtsbarkeit (die hier unter den Stichworten Politisierung der Gerichte/ Verrechtlichung der Politik angedeutete werden soll) mit sich. Soweit dadurch wesentliche Felder der Politik durch Verfassungsentscheidungen bestimmt werden, wird dagegen vorgebracht, daß die richterliche Tätigkeit eine undemokratische Ausübung richterlicher Macht ohne entsprechende verfassungsrechtliche Legitimation - sei. Auf diese Kritik soll kurz eingegangen werden. Nach der Auffassung des judicial restraint, der richterlichen Zurückhaltung, könnten die einer Interpretation bedürftigen Begriffe der Verfassung nur vom Gesetzgeber ausgelegt werden, da nur dieser als gewählte Volksvertretung den Volkswillen repräsentiere. Die Richter seien dagegen ernannt und nicht direkt demokratisch legitimiert, um Aufgaben der Gesetzgebung zu übernehmen. Verfassungsrichter könnten zudem nicht abgewählt werden, um - wie Politiker - zur Verantwortung ihrer Entscheidungen herangezogen zu werden. Eine Verfassungsentscheidung hat tatsächlich auf den ersten Blick einen undemokratischen Aspekt, aber dies ist in der Konzeption der Gewaltenteilung weder in den USA noch in Kanda - nicht übersehen, sondern so angelegt. Durch die Verankerung eines Grundrechtskataloges werden diese Rechte bewußt dem besonderen Schutz der Verfassung überantwortet. Dieser Schutz der Verfassung ist nicht absolut, aber durch die erschwerten Bedingungen für eine Verfassungsänderung beständiger als der Schutz solcher Rechte, die von einfachen Parlamentsmehrheiten abhängig sind. Wäre die letzte Interpretation der Verfassung dem Gesetzgeber statt den Gerichten überlassen, so wäre dies zugleich ein Verlust des Bestandsschutzes gegenüber einer einfachen politischen Mehrheit. Die Struktur der Unabhängigkeit von einfachen Mehrheiten wird in der Einrichtung des Gerichtes mit unabhängigen, nicht gewählten, sondern ernannten (in den USA auf Lebenszeit, in Kanada bis zum Pensionsalter von 75 Jahren) Richtern fortgeführt. Die Unabhängigkeit der Gerichte bedeutet jedoch nicht, daß sie unbeeinflußt von der Öffentlichkeit entscheiden, sondern die Akzeptanz der Urteile ist auch für das Gericht bedeutsam; nicht zuletzt wegen der Möglichkeit der Verfassungsänderung oder der besonderen Möglichkeit des Ge-

II. Verrechtlichung des Konflikts

227

setzgebers in Kanada, nach s.33 der Charter in begrenztem Umfang Gesetze auch entgegen der Verfassung durchzusetzen. Desweiteren wird gegen den judicial activism vorgetragen, daß die Benennung verfassungstextlich nicht erwähnter Rechte keine Grundlage in der Verfassung habe und daher unzulässig sei. Über das Recht auf Abtreibung steht nichts ausdrücklich in der Verfassung, sondern das Problem ist einer verfassungsrechtlichen Lösung nur über eine Auslegung zugänglich. Daß auslegungsbedürftige Begriffe der Verfassung zur Konkretisierung von fundamentalen Rechten herangezogen werden, die einen erhöhten Grundrechtsschutz genießen, wird in den USA für einige Bereiche - wie die Inkorporation der Bill of Rights über die due process clause oder die Entscheidung, daß das right to privacy den Gebrauch von Verhütungsmitteln umfaßt - weitgehend anerkannt. Streitig bleibt, welche Rechte als so fundamental zu bewerten sind, daß sie als von der Verfassung geschützt anzusehen sind und wie weit der verfassungsrechtliche Schutz gehen soll. Diese Entscheidung wird nie unstreitig getroffen werden können, aber diese Schwierigkeit kann die Richter nicht von ihrer Verantwortung entheben, den "Generalklauseln der Verfassung" durch ihre Rechtsprechung Konturen zu geben.

Π . Verrechtlichung des Konflikts Die Urteile der Obersten Gerichte zur Abtreibung bewirkten, daß die rechtliche Diskussion in der Abtreibungsproblematik vorherrschend wurde. Da das Gericht die maßgeblichen Richtlinien zur Abtreibung festlegte, setzten bei Gericht auch die Bemühungen ein, diesen Zustand zu verändern oder zu garantieren. Einzelne pro-choice und pro-life Verbände spezialisierten sich auf die Vertretung vor Gericht, um ihre Interessen durchzusetzen. Während in den USA die pro-life Verbände ihren Einfluß primär bei der Gesetzgebung in den Einzelstaaten umzusetzen suchten, konnte sich pro-choice relativ lange auf den Supreme Court als Garant ihrer Interessen verlassen. Das Beispiel Dr. Morgentalers zeigt die neuen Möglichkeiten, die sich auch in Kanada für Verbände mit der Charter ergaben. Während das Gericht von der Canadian Bill of Rights keinen Gebrauch gemacht hatte, um die Abtreibungsgesetzgebung zu überprüfen, definierte es seine Rolle nach Verabschiedung der Charter neu und sah sich nun befugt, auch parlamentarische Entscheidungen zu kontrollieren. Einzelpersonen und Verbände konnten so mit Hilfe der Gerichte nicht nur neu entstehende Gesetze verhindern, sondern sogar die Reformierung bestehender Regelungen erzwingen.

228

F. Schlußbetrachtung

Die rechtlichen Argumente beschränkten sich aber nicht auf die Auseinandersetzung vor Gericht, sondern wurden auch von der Legislative aufgenommen. Zum einen, da der Gesetzgeber natürlich bedacht ist, eine möglichst verfassungskonforme Lösung zu finden, damit das Gesetz angewandt werden kann. Daher spielt die verfassungsrechtliche Diskussion schon in der Entstehungsphase von Gesetzen eine Rolle. Die durchgreifende Bedeutung der höchstrichterlich anerkannten Argumente ergibt sich aber auch daraus, daß sie bundesweite Geltung und zugleich einen hohen Prestigewert durch die Autorität des Gerichtes beanspruchen können. Die offensichtliche oder wahrscheinliche Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes kann es z.B. für einen Gouverneur leichter machen, seine Zustimmung zu verweigern. Das Verschieben der Verantwortung von der Politik zu den Verfassungsgerichten bei politisch hoch kontroversen Themen ist nicht nur bei der Auseinandersetzung um das Problem der Abtreibung zu beobachten. Denn die Politiker können es durch die Betonung der verfassungsrechtlichen Argumente in brisanten Fragen vermeiden, selbst Stellung zu beziehen oder handeln zu müssen. - Verarmung der Diskussion Ein möglicher Nachteil der Verrechtlichung ist, daß es zu einer Vernachlässigung der moralischen und sozialen Argumente kommen kann und somit die Gefahr der Verarmung der politischen Diskussion besteht. Die dem Abtreibungskonflikt zugrunde liegende Problematik ist, daß eine viel zu hohe Zahl, insbesondere minderjähriger Frauen, ungewollt schwanger wird. Die Konfliktursachen, z.B. schlechte Aufklärung, mangelnde Gesundheitsfürsorge, Armut oder fehlende Unterstützung für werdende Mütter, werden bei einer verkürzten Rechtsdiskussion nicht beachtet. Daher kann die rechtliche Lösung allein keine wirkliche Lösung des Problems schaffen, sondern nur einen vordergründigen Interessenausgleich. Eine ähnliche Entwicklung der Reduzierung der Auseinandersetzung auf rechtliche Argumente und damit einhergehend eine unzulängliche Konfliktlösung zeigt sich in den USA bei der zum Teil zu beobachtenden neueren Konstruktion fötaler Rechte. In den Einzelstaaten wurden Frauen z.B. durch Gerichtsentscheid gegen ihren Willen zu einer Geburt durch Kaiserschnitt gezwungen oder es wurde ihnen das Sorgerecht für das Ungeborene entzogen, da ihr Verhalten während der Schwangerschaft dieses hätte schädigen können. Obwohl fötale Rechte bisher höchstrichterlich nie anerkannt wurden, konnten sie auf einzelstaatlicher Ebene teilweise als vorrangig gegenüber den Rechten der Frau bewertet werden. Die Probleme beispielsweise drogenabhängiger Schwangerer und ihrer Kinder werden damit aber nicht gelöst, sondern eher

II. Verrechtlichung des Konfliktes

229

verschärft, da diese aus Furcht vor negativen Konsequenzen eher Vorsorgeuntersuchungen meiden werden. Die Gegenüberstellung der Rechte von Frau und Ungeborenem als widerstreitende Interessen ist zur Konfliktlösung ungeeignet, da die Besonderheit in der Beziehung einer Frau zu ihrem Ungeborenen (die nur eine gemeinsame, keine gegensätzliche Betrachtung erlaubt) unberücksichtigt bleibt1. Die gerichtliche Fixierung auf ein Lösungsmuster beengt aber auch den Blick für andere, nicht nur rechtlich relevante Aspekte. So wird in den USA die Abtreibung - entsprechend der Supreme Court Regelung - als eine Frage der Privatsphäre behandelt, die Bezüge zur Religionsfreiheit oder der Gleichbehandlung (beide Argumente wurden vom Gericht nicht akzeptiert) werden dagegen vergleichsweise selten diskutiert. Diese Argumente hätten aber u.U. eine ganz andere Bewertung der Finanzierungsverweigerung des Bundes von Abtreibungen über Medicaid ermöglicht. Denn mit der Anerkennung des Abtreibungsrechtes aus dem right to privacy, ging die verfassungsrechtliche Diskussion der Finanzierung allein um die Frage, ob ein Verfassungsrecht finanziert werden muß. Gerichte entscheiden hier aber nach anderen Kriterien als Politiker, so daß die Beurteilung nach völlig anderen Maßstäben erfolgt, als es in der Politik der Fall ist. Die Entscheidungsfreiheit über eine Abtreibung ist für finanziell Bedürftige jedoch nicht existent, wenn nicht staatlich ein minimaler Rahmen zur Ausübung des Rechtes gewährt wird. So wird argumentiert, daß die wohlfahrtsstaatliche Unterstützung der Abtreibung zu den elementaren Gütern zu rechnen ist, die - wegen ihrer Notwendigkeit für die Teilnahme am politischen Prozeß, wozu die Entscheidung über eine Abtreibung gehört - dem politischen Prozeß voranzustellen sind. Erst danach könne in der politischen Auseinandersetzung über den Schutz des Ungeborenen verhandelt werden2.

1

Nachweise der Fälle bei Dawn E. Johnson, The Creation of Fetal Rights: Conflicts with Women's Constitutional Rights to Liberty, Privacy, and Equal Protection; in: The Yale Law Journal, Vol. 95, 1986, S.599-625; oder dieselbe mit: Shared Interests: Promoting Healthy Births Without Sacrificing Women's Liberty; in: Hastings Law Journal, Vol. 43, März 1992, No. 3, S.569-614. 2 Nach Thomas Kupka, Politischer Liberalismus und soziale Gerechtigkeit: John Rawls, Ronald Dworkin, der Wohlfahrtsstaat und die Abtreibung; in: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie, 1994, S.335-362 (357 ff.).

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F. Schlußbetrachtung

Ι Π . Zentralisierung durch die Verfassung? Bei Entscheidungen der Obersten Gerichte zu Grundrechtsfragen wäre anzunehmen, daß diese Rechtsprechung durch ihre nationalen Vorgaben rechtsund politikvereinheitlichend wirkt. In der Abtreibungsfrage hat sich diese Einschätzung weder in den USA noch in Kanada erfüllt, sondern die Gesetzgebung ist regional unterschiedlich, entsprechend der vorherrschenden politischen Präferenzen. Wie weit die regionalen Strukturen der Zentralisierung entgegenwirken können, ist von den in den Urteilen enthaltenen Vorgaben abhängig. Während Roe v. Wade noch deutliche Richtlinien für die Gesetzgebung darstellte, die auch für Fragen der Finanzierung hätten nutzbar gemacht werden können, wurde vom Supreme Court durch eine veränderte Rechtsprechung zunehmend mehr Raum für unterschiedliche Lösungen in den Staaten gegeben. Die Zersplitterung der Gesetzgebung beschränkt sich heute nicht nur - wie in Kanada auf den Bereich der Finanzierung und der Abtreibungsmöglichkeiten, sondern wird durch den Rückzug des Supreme Court auch auf strafrechtlicher Ebene erreicht. In Kanada wurde zwar eine große Wirkung mit der Aufhebung des Strafgesetzes erzielt, aber die zurückhaltenden Entscheidungsgründe waren nicht geeignet, auch gegenüber den Regelungen der Provinzen bezüglich der Finanzierung oder der Bereitstellung von Abtreibungsmöglichkeiten eine gestaltende Wirkung zu entfalten. Bedenklich ist die Zersplitterung der Gesetzgebung, wenn man den Sinn der Grundrechte auch darin sieht, eine Einheit der Nation und das Vertrauen der Bürger in Staat und Verfassung zu erreichen. Die integrative Funktion der Grundrechte kann aber nur wirksam werden, wenn bestimmte Bürgerrechte keine Frage des Wohnortes sind, sondern national garantiert und auch diskutiert werden. Dieser nationale Standard ist aber - wie sich am Beispiel der Abtreibung zeigt - nicht nur eine Frage der entsprechenden Verfassungsgarantie, sondern auch des Willens der Gerichte dieser Garantie Wirksamkeit und Beständigkeit zu verleihen. Der verfassungsrechtliche Schutz wesentlicher Grundfreiheiten kann nur durch deutliche Entscheidungen gewährleistet werden, die dem Gesetzgeber die Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit aufzeigen.

IV. Konfliktverschärfung oder Rationalisierung

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IV. Konfliktverschärfung oder Rationalisierung durch Verfassungsrecht? Die Verfassungsentscheidungen haben bewirkt, daß die Abtreibungsfrage überhaupt als Konflikt erkannt und populär wurde. Durch Verfassungsklagen konnten Einzelpersonen oder Interessenverbände, die keine oder keine mehrheitsfähige parlamentarische Vertretung haben, gerichtlich zu Gehör bringen, was ihnen parlamentarisch nicht möglich gewesen wäre. Ein Beispiel dafür ist Joseph Borowski, der als pro-life Politiker versagte, aber gerichtlich relativ erfolgreich war. Wenn ihm auch die Entscheidung seines Falles versagt blieb, so wurden seine rechtlichen Argumente doch vom Supreme Court zumindest gehört und so publik gemacht. Denn durch die Aufnahme eines Themas durch die Obersten Gerichte wird diesem nationale Aufmerksamkeit geschenkt und so der wichtige öffentliche Dialog gefördert. Die Fälle Roe ν. Wade und Morgentaler, Smoling and Scott v. the Queen sind die Auslöser für eine - im Vergleich zu Europa längst überfällige - nationale Debatte gewesen, die überkommene Strukturen aufbrach und den Platz und Rahmen für eine neue Aueinandersetzung schuf. - Konfliktverschärfung Die mit der gerichtlichen Konfliktaustragung einhergehende Transformierung der Diskussion auf rechtliche Argumente trägt auch die gerichtstypische Polarisierung von Interessen in die politische Auseinandersetzung. Diese Polarisierung hat jedoch den Nachteil, die Kompromißfindung zu erschweren. Der betonte Individualismus kann sogar konfliktverschärfend wirken. Insbesondere von Mary Ann Glendon wird die These vertreten, daß der Supreme Court der USA bezüglich der Abtreibung eine konstruktive Auseinandersetzung in den Parlamenten verhindert habe3. Ihrer Meinung nach hat die Entwicklung in Europa gezeigt, daß die parlamentarische Auseinandersetzung typischerweise zu einer Form der Indikations- oder Fristenlösung führe, die einen Ausgleich der Interessen leiste. Die amerikanische Betonung der Privatsphäre ließe dagegen keine Möglichkeit, Gemeinschaftswerte der Gesellschaft in der Abwägung des Schwangerschaftskonfliktes zu berücksichtigen. In Kanada zeigte sich bei den im Endergebnis erfolglosen Verhandlungen des Parlaments über ein neues Abtreibungsrecht, daß eine Kompromißfindung durch die polarisierte Interessenvertretung erschwert werden kann. Die weit 3

Siehe Mary Ann Glendon, Abortion and Divorce in Western Law; Cambridge / London 1987 oder dieselbe in: Rights Talk - the Impoverishment of Political Discourse; New York 1991.

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F. Schlußbetrachtung

gefaßte Indikationenlösung des Gesetzes wurde von der pro-choice Seite als nicht weit genug, von pro-life dagegen als zu weitgehend kritisiert. Die Begrenzung des Themas auf den medizinischen Aspekt - wie noch bei der Reform von 1969 - war nicht mehr möglich und so scheiterte der gesetzliche Ausgleich letztlich an einer ungewöhnlichen Allianz aus pro-choice und pro-life Vertretern. Dieses Scheitern kann nicht allein dem Gericht angelastet werden, denn es gab in Kanada - das zum Zeitpunkt der Senatsentscheidung bereits drei Jahre ohne eine strafrechtliche Regelung der Abtreibung ausgekommen war - eine Reihe von guten Gründen gegen den Gesetzesentwurf und gegen eine erneute Strafbarkeit der Abtreibung. Die parlamentarischen Debatten geben aber ein Bild davon, daß die Konzentration auf das rechtliche Argument einer Kompromißfindung abträglich sein kann. Daß die parlamentarische Gesetzeslösung - entgegen der Annahme von Mary Ann Glendon - jedoch nicht immer zu einem Ausgleich und Kompromiß führt, der tatsächlich alle möglicherweise entgegenstehenden Interessen angemessen berücksichtigt, zeigt sich in den USA am Beispiel der Finanzierung, sowie der strafrechtlichen Bestrebungen einiger Einzelstaaten. Der Kongreß hatte bei der Finanzierung der Abtreibung durch Medicaid freie Hand und keine verfassungsrechtlichen Vorgaben zu beachten. Im Ergebnis wurde die Abtreibung - im Gegensatz zu der liberaleren Regelung in den meisten europäischen Staaten - bis 1993 nur im Falle der Lebensgefahr der Frau über Medicaid finanziert. Auch in einzelnen Staaten ist der politische Wille und die Mehrheit dazu vorhanden, das Strafrecht vorrangig zum Schutze des Fötus einzusetzen und eine Abtreibung - außer im Falle der Lebensgefahr der Frau - zu verbieten, ohne weitere entgegenstehende Interessen der Frau zu berücksichtigen. Diese einseitige Interessengewichtung ist zwar wegen der Vorgaben des Supreme Court nicht möglich, aber es zeigt die Notwendigkeit des verfassungsrechtlichen Schutzes als letztes Korrektiv der parlamentarischen Lösung. - Rationalisierung Eine Rationalisierung des Konfliktes läßt sich weder in den USA noch in Kanada feststellen. Die unterschiedlichen Haltungen in Staaten und Provinzen spiegeln die unverändert und scheinbar unvereinbaren Positionen in der Abtreibungsfrage wider. In den USA ist mit der zunehmenden Tendenz der Gewaltbereitschaft sogar eine gegenteilige Entwicklung in Richtung der Verschärfung der Konfliktaustragung festzustellen. Es mag auch selbst von der Autorität eines Obersten Gerichtes zuviel verlangt sein, einen derartig auf grundlegenden Wertvorstellungen basierenden Konflikt zur Zufriedenheit aller zu lösen. Trotzdem gibt der in PP v. Casey von den Richtern O'Connor, Souter und Ken-

IV. Konfliktverschärfung oder Rationalisierung

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nedy formulierte Anspruch zu denken, da sich die Richter ausdrücklich zu der Aufgabe bekannten, einen die Nation spaltenden Konflikt befrieden zu wollen. Die Zweifel, ob dies mit dem undue burden Test auch nur annähernd gelingen kann, wurden im Anschluß an die Entscheidung bereits aufgezeigt. Die grundlegende Kritik an PP v. Casey, daß eine klare verfassungsrechtliche Position nicht erkennbar sei, gilt jedoch nicht für Roe ν. Wade. Durch die zeitlich gestufte Interessenabwägung hatten die Richter eine Lösung des Konfliktes gefunden, bei der nicht jede Einzelregelung auf ihren verfassungsrechtlichen Bestand zu prüfen war. Die Stufenlösung wurde jedoch schon mit der Zulassung der Einschränkungen der Rechte Minderjähriger nur in begrenztem Umfang angewandt und in der Folgerechtsprechung weiter abgeschwächt. So konnte Roe ν. Wade nur für ca. ein Jahrzehnt eine einheitliche Regelung der Abtreibung in den USA garantieren. In dieser Zeit wurde die Entscheidung zwar auch erheblich kritisiert - so entstanden die pro-life Verbände als Reaktion auf die Negierung des Lebensrechtes des Ungeborenen - , aber ein Höhepunkt der pro-life Bewegung wurde erst zu einem Zeitpunkt erreicht, als die veränderte Besetzung des Gerichtshofes eine Abkehr von den in Roe enthaltenen Prinzipien möglich erscheinen ließ. Aber nicht nur die unterschiedlichen Haltungen innerhalb des Gerichtshofes, sondern auch eine jahrelange pro-life Politik der Präsidenten Reagan und Bush, die ebenfalls der Entscheidung des Supreme Court entgegenstand, ließ eine Akzeptanz der Entscheidung - und damit die Chance für eine Rationalisierung des Konfliktes - nicht aufkommen. Bei einer konsequenten Durchsetzung der Prinzipien von Roe oder einem deutlicheren Votum der kanadischen Richter hätte die Rationalisierung des Konfliktes möglicherweise bessere Erfolgsaussichten gehabt.

16 Moors

Anhang

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2. Supreme Court Kanada Attorney-General of Canada v. Lavell, 38 D.L.R. (3d) 481, 1973 Borowski v. Attorney-General for Canada, 57 D.L.R. (4th) 231, 1989 Brooks v. Canada Safeway Ltd., 1 S.C.R. 1219, 1989 Diybones v. The Queen, S.C.R. 282, 1970 Minister of Justice of Canada v. Borowski, 130 D.L.R. (3d) 588, 1981 Montreal Tramways Company v. Paul Levéillé, S. 456-488, Canada Law Report 1933 Morgentaler v. The Queen, 53 D.L.R. (3d) 161, 1975 Morgentaler, Smoling and Scott v. The Queen, 44 D.L.R. (4th) 385, 1988 The Queen v. Morgentaler, 3 S.C.R. 463, 1993 Nova Scotia Board of Censors v. Mc Neil, 55 D.L.R. (3d) 632, 1975 Reference Re Amendment of the Constitution of Canada, 1 S.C.R. 753 (1981) R. v. Big M. Drug Mart Ltd., 18 D.L.R. (4th) 321, 1985 R. v. Oakes, 26 D.L.R. (4th) 200, 1986 Thorson v. Attorney-General for Canada, 43 D.L.R. (3d) 1, 1975 Tremblay v. Daigle, 62 D.L.R. (4th) 634, 1989

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IV. Glossar

247

Ρ Ρ FA: Α Tradition of Choice for 75 Years, 1991 Annual Report - A Tradition of Choice for 75 Years, 1991 Service Report REAL Women of Canada: Child Care, Whose Responsibility? - Easy Divorce? - Pornography in Canada - Position Papers - Presentation to the Legislative Committee on Bill C-43, An Act Respecting Abortion, 1990

IV. Glossar

Amicus curiae - Freund des Gerichtes Anenzephalie - schwerste Mißbildung, bei der kein Gehirn ausgebildet wird; die Kinder sind nicht lebensfähig und sterben meist in den ersten Tagen nach der Geburt Badgley Report - kanadische Untersuchung zur Anwendung des Abtreibungsrechtes Commerce clause - Bundeskompetenz nach Art. I, s. 8 der US-Verfassung zur Regelung des zwischenstaatlichen Handels Common law - Richterrecht des anglo-amerikanischen Rechtskreises Due-process-clause - im 5. und 14. Verfassungszusatz der US-Verfassung enthaltene Garantie des rechtmäßigen Verfahrens Equal protection clause - Gleichbehandlungsgebot des 14. Verfassungszusatzes der USVerfassung Embryo - Bezeichnung für das Ungeborene in den ersten beiden Schwangerschaftsmonaten Fötus - Bezeichnung für das Ungeborene vom Beginn des 3. Schwangerschaftsmonats bis zur Geburt Hyde amendment - erstmalig vom US-Abgeordneten Henry Hyde eingebrachter Zusatz zur Kürzung der staatlichen Medicaid Hilfe bei Abtreibungen Medicaid - staatliches Fürsorgeprogramm in den USA, wodurch die minimale Krankenversorgung für finanziell Bedürftige gesichert wird Pro-choice - Haltung in der Abtreibungsdebatte, die die Entscheidung über eine Abtreibung der Frau überantwortet

Anhang

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Pro-life - Haltung in der Abtreibungsdebatte, die den Schutz des ungeborenen Lebens über die Entscheidungsfreiheit der Frau stellt Rational basis test - Test des US-Supreme Court zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen; ein Rechtseingriff ist möglich, wenn das Gesetz einem vernünftigen Staatsziel dient Right to privacy - in der Rechtsprechung des Supreme Court der USA entwickelte Garantie der Privatsphäre Stare-Decisis-Doktrin - Grundsatz der Bindung an Vorentscheidungen; von lateinisch "stare decisis et non quieta movere", d.h. "bei den Entscheidungen stehen bleiben" Strict scrutiny test - Test des US-Supreme Court zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen; ein Rechtseingriff ist nur bei einem zwingendem Staatsinteresse möglich Trimester

- drei Monate

Undue burden test - Test des US-Supreme Court zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen; ein Rechtseingriff ist möglich, solange keine übermäßige Belastung erfolgt