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German Pages 392 Year 2007
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN N E U E FOLGE HERAUSGEGEBEN VON J O A C H I M HEINZLE UND K L A U S - D E T L E F MÜLLER
BAND 113
SILVIA S C H M I T Z
Die Poetik der Adaptation Literarische inventio im >Eneas< Heinrichs von Veldeke
MAX N I E M E Y E R VERLAG T Ü B I N G E N 2007
Für Caroline Merlo
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-15113-0
ISSN 0440-7164
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik, Kempten
Inhaltsverzeichnis
Einleitung I. 1.1 1.2 1.3
1
Der >Eneas< im Umfeld der matiere d'antiquite Interessen der Gönner an Stoff und Inhalt Aussagen zum Stoff und seinen poetischen Erfordernissen bei Benoit de Sainte-Maure und Herbort von Fritzlar Der Epilog des >Eneas< und das Lob Veldekes bei Gottfried von Straßburg
25 25 34 72
II. 11.1 11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.1.4 11.2 11.3 11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 11.4
Topik am Beispiel der Karthagohandlung Herrschaft Flucht aus Troja Gründung und Macht Karthagos Herrscherlicher Glanz Heimlichkeit Ergebnisse im Vergleich mit der Forschung Liebe Entfachung der Liebe Qualen der Liebe Vereinigung Leid und Tod Ergebnisse im Vergleich mit der Forschung
105 108 108 118 128 135 144 153 154 162 176 182 199
III. 111.1 III.x.i 111.1.2 111.1.3 111.2
Regeln der Adaptation Inventio Topische inventio Inventio als hermeneutischer Akt Inventio als geistige Konzeption des Werkes Abbreviatio und dilatatio
219 220 221 238 254 262
IV. IV.i IV. 2
Vervollkommnung im Medium der Dichtungslehre Grenzen und Spielraum der inventio·. die descriptio des Eneas . . . . Abbreviatio und dilatatio im Dienst der Angemessenheit: die descriptio Karthagos Figurengestaltung ad laudem
293 293
IV.3
308 315
V
Ausblick: Die Kunst der Adaptation bei Hartmann und Gottfried
329
Siglen und Abkürzungen
341
Literaturverzeichnis Texte Abhandlungen und Hilfsmittel
345 345 351
Register Autoren und Werktitel, historische Personen Sachen und Wörter
373 373 378
VI
Einleitung
Zu unserem gesicherten Wissen über die großen epischen Dichtungen des deutschen Hochmittelalters gehört die Einsicht, daß sie nicht originale Erfindungen sind. Nahezu alle gehen auf lateinische oder französische Vorlagen zurück, die bedeutendsten Werke sind Bearbeitungen französischer Quellen. Dafür lassen sich zunächst historische und kulturhistorische Gründe anfuhren, denn daß die französische für die deutsche Literatur zum Modell werden konnte, verdankt sich sicher nicht zuletzt dem in Frankreich früher begonnenen Prozeß der Territorialisierung, der fiir die Entwicklung der volkssprachlichen Literaturen kaum zu unterschätzen sein dürfte, sowie den in Frankreich günstigeren Bildungsverhältnissen, die nicht nur den Dichtern, sondern anders als in Deutschland auch ihrem adligen Publikum lateinische Gelehrsamkeit garantierten. Deshalb konnte im Westen neben der lateinischen eine volkssprachliche Literatur entstehen, die rasch ein hohes künstlerisches Niveau erreichte, das sie zum Muster disponierte. Vorbild wurde sie, als deutsche Landesherren und Mäzene sie ins Deutsche übertragen ließen. Für die Repräsentation ihrer Herrschaft notwendigerweise auch auf die Förderung der Künste bedacht und der französischen Adelskultur überhaupt nacheifernd, besorgten sie die Manuskripte, nach denen die deutschen epischen Dichtungen entstanden. Ein weiterer Grund fur die Aneignung der französischen Literatur kann darin gesehen werden, daß sie im Unterschied zur Dichtung der lateinischen Tradition bereits modern geformt war und von Ereignissen und Gestalten der heroischen, antiken oder keltischen Vergangenheit in höfischer Manier erzählte. Hinzu kommt, daß Neuschöpfungen in der Kultur des Mittelalters kaum einen Platz hatten und die Arbeit am vorgegebenen Modell höher geschätzt wurde. Diesem Kunstverständnis folgten die französischen volkssprachlichen Autoren, wenn sie sich auf lateinische Quellen stützten, nicht anders als die deutschen, die auf französische zurückgriffen. Die skizzierten Voraussetzungen fur die Abhängigkeit der deutschen Werke von ihren französischen Vorlagen sind bekannt; weniger wissen wir darüber, wie sich unter diesen Bedingungen die künstlerische Genese der Bearbeitungen vollzog. Obwohl es an vergleichenden Untersuchungen nicht mangelt, ist der Vorgang der Textproduktion selbst noch weitgehend ungeklärt. Dies liegt vor allem daran, daß ein Textvergleich leicht zu ästhetischen Wertungen verfuhrt, die produktionsästhetische Fragen in den Hintergrund drängen. Waren dafür in älteren Arbeiten oftmals nationalliterarische Klischees wie das der Opposition von französischer Eleganz und deutscher Tiefe verantwortlich, hat auch noch die zu ι
Vergleichen herausfordernde Entdeckung des >Tristanin Ketten tanzen< beschrieben werden könne.3 Die Ideen seines Lehrers aufgreifend, legte Michel Huby mehr als zwanzig Jahre später eine umfangreiche Studie zu den Adaptationen Veldekes und Hartmanns vor, in der er die Bearbeitungstechniken dieser Autoren im Vergleich mit den Vorlagen zu ermitteln suchte. Er setzte dabei die von Fourquet angenommenen >Ketten< der Bearbeiter voraus und billigte ihnen dichterischen Freiraum allein im Bereich der Formgebung zu: »l'adaptation courtoise [...] est avant tout de donner une forme nouvelle ä l'expression de detail, de montrer qu'on sait dire mieux ou tout simplement autrement ce qu'un autre a dejä dit.«4 Daran entzündete sich die Kritik. Huby wurde vorgeworfen, die Originalität der deutschen Erzähltexte negiert zu haben.5 Vor allem Alois Wolf bestand auf der
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»C'est en mettant son recit en parallele avec celui de Gottfried que Ton arrive le mieux ä evaluer l'art de Thomas: lä oü ce dernier s'exprimc en 154 vers rigoureusement menages, le poete allemand se depense en parades recherchees (et, certes, brillantes) qui delayent son histoire pour la prolonger sur plus de 700 vers.« Un nouveau fragment du >Tristan< de Thomas. Hrsg. von Michael Benskin u.a. In: Romania 113 (1992—1995), S. 289—319, hier S. 318. Vgl. Ulrike Jantzen und Niels Kröner, Zum neugefundenen >Tristan