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German Pages [184] Year 2015
Gerald Stourzh
Die moderne Isonomie Menschenrechtsschutz und demokratische Teilhabe als Gleichberechtigungsordnung Ein Essay
2015 BÖHLAU VERLAG · WIEN · KÖLN · WEIMAR
Gedruckt mit Unterstützung durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich das Kulturamt der Stadt Wien - MA 7
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Bei der ersten demokratischen Wahl Südafrikas 1994 ist Nelson Mandela Wähler und Kandidat zugleich. © Picture Alliance
© 2015 by Böhlau Verlag GesmbH & Co.KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Gabriele Fernbach, Wien Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20095-6
Denn es sind immer die Schwächeren, die die Gleichheit und die Gerechtigkeit anstreben, die Stärkeren aber kümmern sich nicht darum. Aristoteles, Politik, 1318b, 4–5
Die Natur kennt weder eine Gleichheit der Individuen noch eine Gleichheit der Nationen, sie ist eine Schöpfung des Rechtes und dessen größte Wohltat für seine Unterworfenen. Karl Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 1918, S. 148
Ich widme diese Schrift meiner Frau Marlies in Dankbarkeit für die Jahre des Glücks im Alter
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
II. Isonomie in der griechischen Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 III. Abstufungen. Hierarchie im Diesseits und im Jenseits . . . . . . . . . . 31 IV. Angleichungen. Wege zur modernen Isonomie . . . . . . . . . . . . . . 55 A. Adjektivische Demokratiebegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 B. Die sechs Komponenten der modernen Isonomie . . . . . . . . . . 74 1. Die allgemeine Rechtsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2. Gleichheit vor dem Gesetz – Persönliche Rechtsgleichheit . . . . . . . . 79 3. Die Entwicklung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4. Der Grundrechtsschutz als Teil der Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . 113 5. Die Internationalisierung von Grundrechten als Menschenrechte . . . . 119 6. Die Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 V.
Conclusio: Die beiden Brennpunkte der modernen Isonomie . . . . . 137
Bibliografie I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Bibliografie II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Vorwort
Diese Schrift bezeichne ich als „Essay“, und zwar aus zwei Gründen: zum einen, weil sie eben in essayistischer Form eine Vielzahl von unterschiedlichen Themen aufgreift und auf unterschiedliche Spezialgebiete der Geschichte, der Politikwissenschaft und auch der Rechtswissenschaften Bezug nimmt; dennoch verfolgt dieser Essay einen roten Faden, eben jenen der „Isonomie“. Diese Schrift ist als Beitrag zur politischen Typenlehre gedacht. Zu all den oft nur sehr kurz angesprochenen Spezialgebieten und Spezialthemen gibt es jeweils ganze Bibliotheken von Fachliteratur. Der Leser – die Leserin – wird sehen, dass ich zahlreiche bibliografische Angaben mache, denn es ist mir wichtig, Anregungen, die ich selbst empfangen habe und als wertvoll empfinde, weiterzugeben. Der Spezialist wird sehr schnell all das bemerken, was ich nicht nenne oder vielleicht auch nicht kenne. Dieses Risiko muss ich auf mich nehmen. Zum anderen ist diese Schrift ein Essay, weil hier durchaus persönliche, vielleicht manchmal pointiert oder zugespitzt formulierte Überzeugungen vorgetragen werden und ich auch vor persönlichen, wie ich allerdings glaube, intersubjektiv begründbaren Urteilen nicht zurückschrecke. Der Essay ist daher auch in der IchForm geschrieben, die lange in wissenschaftlichen Werken als verpönt galt. Diese Schrift war längere Zeit in Vorbereitung, auch wenn ihr Abschluss spät im Leben kommt. Eine Reihe von Publikationen zur Geschichte der Grund- und Menschenrechte, auch der verfassungsmäßigen Gleichberechtigung, habe ich im Laufe der Jahrzehnte in deutscher, englischer oder französischer Sprache vorgelegt. Diese Arbeiten sind in der Bibliografie II genannt. De facto waren dies auch Vorarbeiten und bleiben Ergänzungen oder Erweiterungen zur hier vorgelegten Schrift, und selbstverständlich habe ich etliche Aussagen dieser früheren Arbeiten in diese Schrift aufgenommen. Als wichtigste Vorarbeiten nenne ich den Aufsatz „Equal Rights: Equalizing the Individual’s Status and the Breakthrough of the Modern Liberal State“ (1996), auch in französischer, nicht jedoch in deutscher Sprache publiziert, sowie meine Wiener Abschlussvorlesung von 1997 „Menschenrechte und Genozid“. Den Begriff und das Konzept der Isonomie stelle ich allerdings in diesem Essay erstmals vor. Sehr dankbar bin ich Kolleginnen und Kollegen, die diese Schrift, auch kürzere Fassungen als Grundlage für zwei Vorträge über Isonomie am Institut für Neu-
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Vorwort
zeit- und Zeitgeschichtsforschung der Akademie der Wissenschaften in Wien und am Institut Michel Villey der Juristischen Fakultät der Universität Paris II im Jahre 2013, gelesen und kommentiert haben. Mit großem, herzlichem Dank nenne ich Ludwig Adamovich, Birgitta Bader-Zaar, Olivier Beaud, Catherine Colliot- Thélène, Thomas Fröschl, Margarete Grandner, Hartmut von Hentig, Hans Hock sen., Jean-François Kervégan, Raoul Kneucker, Ralph Lerner, Helene Maimann, Wolfgang Mantl, Nicolette Mout, Jana Osterkamp, Helmut Paul, Peter Pulzer, Sonja Puntscher Riekmann, Robert Schigutt, Wolf-Dieter Stempel, Katharina Stourzh, Theresa Stourzh, und Yfaat Weiss. In meiner Familie haben meine Frau, Marlies Deskovic, und meine Töchter Katharina Stourzh und Theresa Stourzh mit kritischer Lektüre, Korrekturen, gedanklichen Anregungen und „moral support“ zum Abschluss dieser Arbeit beigetragen, und dafür danke ich ihnen aus ganzem Herzen. Ich trage allein die Verantwortung für alle Irrtümer und für alles, das zu berücksichtigen gewesen wäre, das ich aber nicht berücksichtigt habe. Für die Erstellung der Bibliografie I danke ich Waltraud Bruckner und Stefanie Hehenberger sehr herzlich. Wie schon seit Langem fühle ich mich im Verlag Böhlau ganz „zu Hause“ und danke Peter Rauch, Eva Reinhard-Weisz, Stefanie Kovacic und Bettina Waringer für ihr Interesse, ihr Einfühlungsvermögen und für die vorzügliche Betreuung dieser Schrift. Ein Wort zum Titelbild: Es zeigt Nelson Mandela bei seiner Stimmabgabe anlässlich der ersten freien und gleichen Wahl in Südafrika am 24. April 1994. Nelson Mandela, geboren 1918, hatte 27 Jahre seines Lebens in Haft verbracht, und zwar von 1963 bis 1990. Die Wahl von 1994, in seinem 76. Lebensjahr, war die erste Wahl seines Lebens. Wenige Wochen darauf, am 9. Mai 1994, wurde er in der Nachfolge des Buren Frederik de Klerk, mit dem er 1993 den Friedensnobelpreis teilte, zum ersten schwarzafrikanischen Präsidenten Südafrikas gewählt. Da in dieser Schrift viel von der Bedeutung des Stimmrechts als Kernpunkt der Demokratie die Rede ist, schien es mir sinnvoll, dieses Foto einer Stimmabgabe, die eine historische Zäsur symbolisierte, als Titelbild zu wählen. Wien, am 28. Juni 2015
Gerald Stourzh
I.
Einleitung
Der griechische Historiker Herodot bezeichnet im fünften Jahrhundert vor Christus die Herrschaft des Volkes als Isonomie – „den schönsten Namen von allen“ – οὔνομα πάντων κάλλιστον (oúnoma pántōn kálliston).1 Durchgesetzt hat sich noch im antiken Athen, und schließlich in die Neuzeit und unsere Gegenwart einmündend, nicht „Isonomie“, sondern „Demokratie“. „Isonomie“, aus ἴσος (ísos) – gleich – und νόμος (nómos) – Gesetz – ableitbar, wird am genauesten, wie der Althistoriker Christian Meier geschrieben hat, mit „Ordnung (staats)bürgerlicher Gleichberechtigung“ oder „Gleichheitsordnung“ übersetzt.2 Isonomie, so hat 1943 – gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und seines Lebens – ein weiser und großer Historiker, der Niederländer Johan Huizinga, geschrieben, drücke deutlicher und unmittelbarer als das Wort Demokratie das Ideal der Freiheit aus; auch sei das wesentliche Prinzip des Rechtsstaats im Wort Isonomie bündig und klar wiedergegeben, und das demokratische Ideal der Gleichheit vor dem Gesetz werde mit dem Begriff Isonomie reiner ausgedrückt.3 Huizingas Buch1
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Zur Gestaltung der Anmerkungen verweise ich auf die Vorbemerkung zur Bibliografie I. Herodot, 2000: Historien, hg. u. übers. v. Josef Feix, griechisch-deutsche Ausgabe, Bd. 1, Bücher I–V, 6. Aufl., Buch III 80,6, 436 u. 437 (dort übersetzt mit „...dem allerschönsten Namen“). Christian Meier, 1970: Entstehung des Begriffs „Demokratie“. Vier Prolegomena zu einer historischen Theorie, 15. In späteren Werken hat sich Meier für „Gleichheitsordnung“ entschieden: Christian Meier, 1980: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, 88, sowie: Christian Meier, 1993: Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, 206–207. Paul Nolte übersetzt Isonomie als „etwa Gleichordnung, oder Ordnung der (untereinander) Gleichen“. Paul Nolte, 2012: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, 30. Zur Etymologie, möglicherweise ursprünglich vom Verbum νέμειν (némein) – verteilen – abzuleiten, also ursprünglich „gleiche Verteilung“, ist die Literatur kontrovers. Hinweise bei: David Asheri u. a., 2007, A Commentary on Herodotus, Books I–IV, Oswyn Murray/Alfonso Moreno, Hg., 474. Johan Huizinga, 1945: Wenn die Waffen schweigen („Geschonden wereld“), übers. von
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I. Einleitung
manuskript „Geschonden wereld“ („Geschändete Welt“), in dem er diese Gedanken niedergelegt hat, wurde etliche Monate nach der Entlassung aus einem Internierungslager im kleinen Ort De Steeg bei Arnheim, fern von allen bibliothekarischen Hilfsmitteln, geschrieben. Die Nazis hatten Huizinga die Heimkehr nach Leiden verboten. Das Werk wurde nicht mehr zu Lebzeiten Huizingas veröffentlicht. Er starb am 1. Februar 1945. Noch im gleichen Jahr kam „Geschonden wereld“ in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Wenn die Waffen schweigen“ heraus.4 Ich folge also einer Überlegung Huizingas und versuche in dieser Studie, seine knappe Anregung zu einem Umriss jener Elemente einer politisch-rechtlichen Ordnung auszubauen, die man als eine Ordnung der Isonomie, als eine „moderne Isonomie“ bezeichnen könnte. Ich möchte den Begriff „Isonomie“ – und auch das Adjektiv ἰσόνμος (isonom), das im Altgriechischen als „isónomos“ sogar vor dem Substantiv belegt ist – in Verbindung mit Reflexionen über einen großen und vielfach kommentierten Paradigmenwechsel der Geschichte der Neuzeit vorstellen. Es handelt sich um den Wechsel vom Paradigma der Abstufung nicht nur der menschlichen Ordnungen, sondern der Weltordnung überhaupt zum Paradigma der „Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“, um eine schöne, auf Fichte zurückgehende Formel zu verwenden.5 Ich füge hinzu, dass „Gleichheit“ im Sinne von „Gleichberechtigung“ zu verstehen ist, als Streben nach gleichen Rechten oder als Erringung und Ausübung gleicher Rechte. Die Gleichheit der purer Willkür Unterworfenen in einer Despotie, wie sie in Montesquieus Staatstypenlehre vorgestellt wird, ist hier kein
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Wolfgang Hirsch, 95 sowie (kurz zusammenfassend) 192. Niederländische Originalfassung in: Johan Huizinga, 1950: Verzamelde werken, vol. 7, darin: „Geschonden wereld“ (477–606, hier 434 sowie 602). Ein Hinweis auf Huizinga auch bei Wilfried Nippel, 2008: Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit, 346. Inzwischen ist neuestens, 2014, eine Übersetzung dieses Werkes von Annette Wunschel unter dem Titel „Verratene Welt“ erschienen, und zwar gemeinsam mit Huizingas früherem Werk „Im Schatten von Morgen“ unter dem gemeinsamen Buchtitel: Johan Huizinga 2014: Kultur- und zeitkritische Schriften, hg. von Thomas Macho. Die beiden sich auf „Isonomie“ beziehenden Passagen befinden sich auf den Seiten 198 und 267. Die Übersetzerin hat für „Geschonden wereld“ die freiere Übersetzung „Verratene Welt“ gewählt, um „die naheliegenden Assoziationen mit aktuellen Vergewaltigungs- und Missbrauchs-Debatten, die Huizingas Intentionen nicht treffen, zu vermeiden“, wie T. Macho in seinem Nachwort (S. 286) mitteilt. Im Nachwort wird nicht auf das „Isonomie“-Thema eingegangen. Hierzu Gerald Stourzh, 2011 (2004): „Die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“, in: Gerald Stourzh: Der Umfang der österreichischen Geschichte, 269–282.
I. Einleitung
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Thema.6 Über die Unterscheidung von Gleichheit und Gleichberechtigung wird noch zu sprechen sein. Im alten Paradigma, dem Paradigma hierarchischer Ordnungen, waren Einstufungen in hierarchisch gegliederte „ordines“, Stände, oder auch außerhalb oder unterhalb ständischer Ordnungen stehender Statusgruppen rechtens. Im neuen Paradigma, um es auf einen Satz aus dem Jahre 1789 zuzuspitzen, veränderte dieser Satz alles: „Die Menschen sind und bleiben frei geboren und an Rechten gleich“. „Les hommes sont nés et demeurent libres et égaux en droits“.7 Dieser Satz im ersten Artikel der französischen Erklärung der Menschenund Bürgerrechte, besonders mit dessen letzten drei Worten „égaux en droits“, ist sozusagen der isonome Satz schlechthin. Von diesem Satz ausgehend, hat schon vor Längerem Étienne Balibar das ausdrucksvolle Kunstwort „égaliberté“ – „Gleichfreiheit“ – geprägt.8 In einer neueren Arbeit hat Balibar darauf hingewiesen, dass die Griechen einen sehr starken Begriff von „Gleichfreiheit hatten, den sie ‚isonomia‘ nannten“.9 Ich sehe „Isonomie“ in dem von mir verwendeten Sinne als Gleichberechtigungsordnung, nahe an der „Gleichfreiheit“, aber keineswegs identisch mit ihr. Gleichberechtigung, ein Wort, das erst dank der Eignung der deutschen Sprache für zusammengesetzte Hauptwörter ermöglicht wird und das es im Englischen oder Französischen nicht gibt – dort sind jeweils zwei Worte, „equal rights“, „droits égaux“ erforderlich –, haftet an den letzten beiden Worten des genannten Satzes: „égaux en droits“. Und „isonomía“ ist eher als „Gleichberechtigungsordnung“ denn als „Gleichheitsordnung“ zu verstehen, schloss ja die Gleichberechtigung im Rahmen der athenischen Demokratie große Unterschiede wirtschaftlicher und sozialer Natur nicht aus.10 Gleichheit an Rechten und deren Entwicklung ist 6
Montesquieu: De l’Esprit des Lois, 1956 (1748), premier tome, livre II, ch. V; livre III, ch. VIII–X (classiques Garnier). 7 Vgl. Antoine de Baecque/Wolfgang Schmale/Michel Vovelle, Hg.,1988: L’an 1 des droits de l’homme, 198. Diese Formulierung scheint, soweit ich sehe, erstmals auf im Projekt von Jean-Joseph Mounier, präsentiert am 27. Juli 1789, ebd., 86, auch in einer kürzeren Fassung von Mouniers Projekt, ebd., 88. 8 Étienne Balibar, 2012: Die Proposition der Gleichfreiheit, in: Gleichfreiheit. Politische Essays, 72–120. Für die französische Fassung „La proposition de l’égaliberté“, erstmals 1989 veröff., s. Hinweise in Balibar 2012, 72. 9 Ebd., 220, in dem Kapitel: „Neue Überlegungen zur Gleichfreiheit. Zwei Lektionen“, auf Vorträge 2002 und 2003 zurückgehend; vgl. auch 238–241 (zu Herodot und Rousseau). 10 Zu „isonomía“ als „Gleichberechtigung“ vgl. bereits die Schlussbemerkung von Otto Dann, 1975: „Gleichheit“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Hg.: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, 1046, sowie die materialreiche Monografie: Otto Dann, 1980: Gleichheit und Gleichberechtigung. Das Gleichheitspostulat in der alteuropäischen Tradition
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I. Einleitung
das Thema dieser Studie über die moderne Isonomie, nicht die unvergleichlich komplexere, das gesamte Sozialleben umfassende und über die ursprüngliche Formel „égaux en droits“ hinausgehende Frage nach „faktischer“ sozialer Gleichheit und ihren möglichen Ausprägungen.11 Es ist dies eine rechtsgeschichtlich/politologische, zu einem Teil auch theologiegeschichtliche, nicht jedoch philosophische, sozialgeschichtliche oder soziologische Arbeit. Der Prozess historischer Annäherungen oder Angleichungen, der sich aus dem im Indikativ formulierten, doch als Postulat zu verstehenden Satz über die Freiheit und gleichen Rechte der Menschen12 ergab und immer wieder ergibt, war und ist vielfältig und komplex und kontrovers. Er wurde und wird von gegenläufigen Bewegungen oft riesenhaften Ausmaßes begleitet, bedroht und manchmal auch zerstört, wie etwa die im Genozid endende Zerstörung der Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung im nationalsozialistisch und faschistisch dominierten Europa gegen Mitte des 20. Jahrhunderts oder die teilweise ebenfalls genozidale Gewaltherrschaft des Kommunismus in der Sowjetunion gezeigt haben.13 Bei aller Bedeutung des Schutzes von Menschenrechten, wie er sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelt, bei aller Aktualität der Erweiterung der Sphäre der Gleichberechtigung oder eben „Isonomie“ in der Gegenwart, wie sie etwa bei den Diskussionen um die Position gleichgeschlechtlicher Partnerschaften oder um den Status von „Ausländern“ im Verhältnis zu „Staatsbürgern“ zu sehen ist, können über die Zukunft des Paradigmas der Gleichberechtigung keine Voraussagen oder Vermutungen angestellt werden. Was also im alten Paradigma als rechtens und legitim galt, die Vielfalt von Abstufungen bis zu verschiedenen Formen der Rechtlosigkeit, sollte im neuen, und nach der Völkermordkatastrophe des Nationalsozialismus Mitte des 20. Jahrhunund in Deutschland bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert, dort zu „isonomía“ sehr informativ 33–38. 11 Hierzu aus der reichen Literatur lediglich zwei Hinweise: Ulrich Beck, 2008: Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen, sowie das bedeutende Werk von Pierre Rosanvallon, 2011: La société des égaux; dt. Übers.: Rosanvallon, 2013: Die Gesellschaft der Gleichen. 12 Vgl. auch Dann 1980, 22–23. 13 Dazu u. a. Timothy Snyder, 2010: Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin. Leider gibt es keinerlei genauere Angaben über das massenhafte Blutvergießen in den „bloodlands“ gegen Ende und nach Ende des Ersten Weltkrieges (Konflikt rote gegen weiße Russen, Konflikt um die Ukraine, Pogrome in der Ukraine, russisch-polnischer Krieg). S. auch Gerald Stourzh, 1998a: Menschenrechte und Genozid, wiederveröff.in: Stourzh, 2009: Spuren einer intellektuellen Reise, 103–155, hier 139–147.
I. Einleitung
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derts erneuerten Paradigma als diskriminierend und illegitim gelten. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 hält in ihrem wichtigsten Artikel, dem Artikel 2, dem sogenannten Anti-Diskriminierungsartikel fest, jeder Mensch habe Anspruch auf die in der Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten „ohne irgendwelche Unterscheidung wie nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigem Status“. Diese Arbeit, wie ja gerade durch den Hinweis auf den Anti-Diskriminierungsartikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte illustriert, stellt das menschliche Individuum als Rechtsperson – und damit bestimmten Statusgruppen zugehörig – in den Mittelpunkt ihres Interesses. Der Begriff des Status, und zwar nicht im Sinne von Prestige-Zuordnungen, sondern als Rechtsstatus, spielt in dieser Studie eine wichtige Rolle. Was Rechtsstatus bedeutet, zeigt eine Begebenheit aus Jerusalem etwa anno 57: Paulus von Tarsus wurde von römischen Soldaten verhaftet, gefesselt und sollte gefoltert werden. Paulus wandte sich an den Unterhauptmann, der dabeistand, und fragte ihn: „Dürft ihr jemand, der das römische Bürgerrecht besitzt, geißeln, noch dazu ohne Verurteilung?“ Darauf ging der Unterhauptmann zum Oberhauptmann, meldete dies und fragte: „Was willst Du machen. Dieser Mensch ist römisch.“ Der lateinische Text ist genauer: „Hic enim homo civis Romanus est“ – „Dieser Mensch ist nämlich römischer Bürger“. Da kam der Oberhauptmann zu Paulus und fragte: „Bist Du römisch?“ Paulus antwortete mit ja. Da ließen die Soldaten von Paulus ab, und der Oberhauptmann fürchtete sich, weil er einen römischen Bürger hatte fesseln lassen.14 Das „Civis Romanus sum“ des Paulus rettete ihn nicht nur vor der Folter in Jerusalem; es verschaffte ihm auch den Hinrichtungstod durch Enthauptung in Rom, wesentlich „besser“ als der unvergleichlich grausamere Kreuzigungstod des Jesus von Nazaret.15 Die Kreuzigungsstrafe war für Inhaber des römischen Bürgerrechts grundsätzlich nicht vorgesehen. Die Kreuzigung galt nicht nur als die grausamste, sondern auch als die schimpflichste, entehrendste aller Hinrichtungsarten,
14 Apostelgeschichte 22, 22–29. Ich folge hier überwiegend der Luther-Übersetzung. 15 Das römische Bürgerrecht des Paulus ist nicht unumstritten: Wolfgang Stegemann, 1987: War der Apostel Paulus ein römischer Bürger?, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 78, 220–229. Theodor Mommsen ging vom Bürgerrecht des Paulus aus: Theodor Mommsen, 1901: Die Rechtsverhältnisse des Apostels Paulus, in: Ebd., Bd. 2, 81–96,
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I. Einleitung
gegen Hochverräter, Aufrührer und generell gegen Sklaven angewendet.16 Deshalb heißt es im Neuen Testament, Jesus „erduldete das Kreuz und achtete der Schande nicht“.17 Auch in der Gegenwart, in der sich die Gleichheit der Bürgerrechte und darüber hinaus der allgemeinen Menschenrechte grundsätzlich, wenn auch keineswegs überall in der Praxis, durchgesetzt hat, gibt es Statusgruppen: Minderjährige und Volljährige, Strafunmündige und Strafmündige, selbstbestimmte Personen und Personen unter Sachwalterschaft, Staatsbürger und Nicht-Staatsbürger, und schließlich – für diese Arbeit besonders wichtig und nicht notwendigerweise identisch mit dem vorhergehenden Unterschied – der Statusunterschied von Stimm berechtigten und Nicht-Stimmberechtigten. In dieser Studie stehen allerdings jene Statuszugehörigkeiten und Statusunterschiede im Mittelpunkt des Interesses, die im alten Paradigma der Abstufungen legitim, im neuen Paradigma in sehr unterschiedlichen und zeitlich weit auseinanderliegenden Angleichungsprozessen – oft von langer Dauer und mit schweren Konflikten behaftet! – in einen Zustand der „droits égaux“, der Gleichberechtigung, überführt wurden oder noch überführt werden. Man denke nur beispielsweise an die Unterschiede Sklaven/Freie, Leibeigene/Grundherren, Häretiker/ Rechtgläubige, Juden/Christen/Nicht-Gläubige, unehelich/ehelich Geborene („Bastarde“), Indigene/Bürger der früheren Eroberungsmächte bzw. Bürger der neuen an die Stelle der Kolonien getretenen Staaten, Frauen/Männer, Homosexuelle/Heterosexuelle etc. Auch bei den Angleichungsprozessen gab und gibt es allerdings verschiedene Bereiche der „gleichen Rechte“: Bürgerrechte in Gesetzesrang, Grundrechte als Bürger- und auch Menschenrechte in Verfassungsrang (in Europa auch auf EU-Ebene), schließlich Menschenrechte unter dem Schutz regionaler oder weltweiter völkerrechtlicher Verträge. 16 So besonders emphatisch Cicero in seiner Rede pro Rabirio. Hierzu und auch zu Ausnahmen (insbes. bei Hochverrat) Martin Hengel, 1976: Mors turpissima crucis, in: Johannes Friedrich u. a. (Hg.), 1976: Rechtfertigung. Festschrift für Ernst Käsemann, 1976, 124–184, hier 149–153. Erw. und verbesserte Fassungen: (engl.) Martin Hengel, 1977: Crucifixion, bes. 39–45; (franz.) Martin Hengel, 1981: La crucification dans l’antiquité et la folie du message de la croix. 17 Brief an die Hebräer, 12, 2. Zum entehrenden Charakter der Kreuzesstrafe zusätzlich zu Hengel, Mors turpissima crucis, Heinz-Wolfgang Kuhn, 1982: Die Kreuzesstrafe während der frühen Kaiserzeit. Ihre Wirklichkeit und Wertung in der Umwelt des Urchristentums. In: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase, Hg., 1982: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, II: Principat, Bd. 25, 1. Teilband, Religion, 648–793, insbes. der Abschnitt „Die Schändlichkeit der Kreuzesstrafe“, 758–775.
I. Einleitung
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Gegenüber dem Individuum als Rechtsperson treten Gruppenbildungen und Institutionen des öffentlichen oder privaten Lebens in dieser Arbeit deutlich zurück. Das soll nicht heißen, dass mir die tragende Rolle menschlicher Gruppenbildungen unbekannt oder unwichtig wäre. Es bedeutet allerdings, dass ich dem einzelnen homo sapiens moriturus, des um die Sicherheit seines Todes Wissenden – auch jeder Tod im Massensterben einer Schlacht, eines Erdbebens, eines Schiffbruchs ist der Tod des je Einzelnen – den Primat gegenüber anderen vorgeblichen „Ganzheiten“, mögen sie Staat oder Volk oder Nation oder Rasse oder Klasse heißen, zuspreche.18 Die Rechtsgeschichte ist übrigens besser als andere Sparten der Geschichtsforschung geeignet, die Bedeutung jeder einzelnen menschlichen Person – die Betonung liegt auf „jeder“ – darzustellen. „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte und ist daher als Person zu betrachten.“ So heißt es unübertreffbar in §16 des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches von 1811. Wenn ich von dem Menschen als Rechtsperson spreche, sehe ich ihn als Träger von Vernunftrechten ebenso wie als Träger von positiven Rechten. Das Recht, so wie der biblische Gott das Volk Israel, ruft die Menschen „bei ihrem Namen“ (Jesaja 43,1). Dies gesagt habend, glaube ich, ohne den von Hans Joas geprägten Begriff der „Sakralität der Person“ auskommen zu können. Ein zentrales Thema dieses Essays ist es, die Chance zur Einklagbarkeit erlittener Menschenrechtsverletzungen als ein hohes Gut, vielleicht das höchste Gut des Rechtsträgers Mensch, zu untersuchen. Sakralität ist aber wohl kein einklagbarer Begriff.19 Diese Schrift versucht, einen neuen öffentlich-rechtlich/politologischen Idealtypus vorzustellen, der die „beiden miteinander verschränkten Legitimationssäulen
18 Ich teile vollkommen die Kritik an den „ganzheitlichen“ Ideen Othmar Spanns in dessen Buch „Der wahre Staat“ von 1921, die mein Vater Herbert Stourzh 1938 in dem schon nach dem Anschluss unter dem Pseudonym Karl Sturzenegger in Luzern veröffentlichten Buch „Humanität und Staatsidee“ ausgesprochen hat. Spann forderte „ganzheitstrunkenen Geist“ und fand, der Einzelne sei nur als Bestandteil des Ganzen vorhanden. Othmar Spann, 1931: Der wahre Staat, 3. Aufl., 250. Das Buch von Herbert Stourzh ist wieder zugänglich in: Herbert Stourzh, 2008: Gegen den Strom. Ausgewählte Schriften gegen Rassismus, Faschismus und Nationalsozialismus 1924–1938, Gerald Stourzh, Hg., 73–176, hier 97–98. 19 Hans Joas, 2011: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Das Werk hat in den letzten Jahren zu vielen Diskusionen geführt, u.a. Hermann-Josef Große Kracht, Hg., 2014: Die moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas.
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I. Einleitung
politischer Herrschaft, Demokratie und Menschenrechte“ (Jürgen Habermas)20 unter dem Begriff der Isonomie als Gleichberechtigungsordnung miteinander verbindet. Dieser Versuch – ein Essay im eigentlichen Wortsinn – ist vielleicht kühn. Er geht bewusst nicht von Kollektivbegriffen wie dem Staat oder dem Volk oder der Nation aus, er befasst sich auch nicht mit den „intermediären“ Gewalten der Demokratie, wie den politischen Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und anderen organisierten Interessengruppen – ohne dass ich deren tatsächliche Bedeutung ignoriere! –, sondern er geht von (allen) Menschen als Trägern von – moralischen und möglichst umfassend von positiven – Rechten aus, die sich um zwei Brennpunkte sammeln: erstens um das Recht zur politischen Gestaltung – das Stimmrecht, das, wenn frei, allgemein, gleich, geheim und periodisch ausgeübt, die Demokratie bildet –, und zweitens um das Recht, aufbauend auf Rechtsschutzeinrichtungen des öffentlichen Rechts und auf internationalen Verträgen, mittels individueller Klage oder Beschwerde die Durchsetzung von Grund- und Menschenrechten zu erreichen – Menschenrechte als durchsetzungsfähiger Rechtsbestand.
20 Jürgen Habermas, 2014: Wie viel Religion verträgt der Staat?, in: Uwe Justus Wenzel, Hg., 2014: Volksherrschaft – Wunsch und Wirklichkeit, 30–36, hier 30.
II.
Isonomie in der griechischen Antike
Isonomie – ἰσoνομία oder ἰσoνομίη ist als Gleichberechtigungsordnung oder Gleichheitsordnung bezeichnet worden; sie galt innerhalb der Grenzen der Polis, und in Ausklammerung der Frauen, der Metöken21 und der Sklaven, nur in Bezug auf freie männliche Bürger. Eine Reihe von modernen Begriffen, die „gleich“ oder „Gleichheit“ mit Gesetz oder Recht verbinden, drängt sich auf: „Gleichheit vor dem Gesetz“, „Rechtsgleichheit“, „Gleichberechtigung“, „Gleiches Recht für alle“ etc. Der aus Deutschland vertriebene amerikanische Altphilologe Martin Ostwald hat geschrieben, dass „Isonomie“ mehr als jedes andere griechische Wort der modernen Vorstellung von „Rechten“ nahekomme, wie sie in den Begriffen „Menschenrechte“, „Bürgerrechte“, „Bill of Rights“ etc. zu finden sei.22 Der amerikanische Philosoph Gregory Vlastos, der ausführlich zum Begriff der Isonomie gearbeitet hat, hat gemeint, dass „ísos“ nicht nur „gleich“, sondern auch „fair“ und gerecht bedeute und sich mehr als andere griechische Wörter dem modernen englischen Sprachgebrauch von „‚just‘ and ‚morally fair‘“ annähere.23 Benachbart dem Wort „ísos“ steht das Wort ὅμοιος (hómoios), doch mit einem wichtigen Unterschied. Bezeichnenderweise sind ἰσότης (isótēs, Gleichheit) und „isonomía“ „Schlagwörter der Demokratie“; „ísos“ meint „eine quantitative Gleichheit und bezeichnet eine rechtliche Gleichstellung“.24 Dagegen dominiert in „hómoios“ der Aspekt der Artgleichheit.25 21 Freie Personen ohne Bürgerrecht fremder Herkunft oder auch freigelassene Sklaven, S. u. S. 27 22 Martin Ostwald, 1969: Nomos and the Beginnings of the Athenian Democracy, 113, Anm. 1. 23 Gregory Vlastos, 1964: ΙΣΟΝΟΜΙΑ ΠΟΛΙΤΙΚΗ (Isonomía politikḗ), in: Jürgen Mau/ Ernst Günther Schmidt, Hg.: Isonomia. Studien zur Gleichheitsvorstellung im griechischen Denken, 1–35, hier 19. 24 Carl Werner Müller, 1965: Gleiches zu Gleichem. Ein Prinzip frühgriechischen Denkens, 165, Anm. 42. 25 Ebd. eine interessante Belegstelle für „ísos“ als gleich und „hómoios“ als gleichartig bei Aristoteles, Politik, 1308a 11.
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II. Isonomie in der griechischen Antike
Allerdings bedeutete „Isonomie“ bei den Griechen auch die (gleiche) Innehabung von politischer Macht. Es handelt sich um einen politischen Begriff.26 „Isonomie“ taucht um die Wende des sechsten zum fünften Jahrhundert v. Chr. auf – zuerst, wie erwähnt, in adjektivischer Form, „isónomos“, in einem Loblied auf den (zunächst noch unvollständigen) Sturz der Tyrannenherrschaft in Athen 514.27 „Isonomía“ wird mehrfach im Zusammenhang der Reformen des Kleisthenes vor 500 verwendet.28 Nuancen und Interpretationsunterschiede bei einzelnen Belegstellen brauchen uns hier nicht näher zu beschäftigen.29 Klar ist allerdings, dass bei Herodot (ca. 484–ca. 424 v. Chr.), dessen „Historien“ um 430 bis 425 v. Chr. erschienen,30 der Begriff „Isonomie“ durchaus die Herrschaft der „Vielen“, des Volkes, meint, also das, was bei den Griechen unter dem sich schließlich durchsetzenden und auch von Herodot selbst im Buch VI verwendeten Wort „Demokratie“ verstanden wurde.31 Herodot legt das Wort „Isonomie“ dem Verteidiger der Herr26 Ostwald 1969, 112–115. 27 Es handelt sich um die Ermordung des Tyrannen Hipparch 514. In einem um 500 datierten, den Tyrannenmördern Harmodios und Aristogeiton gewidmeten Gedicht werden diese dafür gepriesen, durch den Tyrannenmord Athen „isónomos“ gemacht zu haben. De facto überlebte der Bruder Hipparchs, Hippias, und führte die Tyrannis in Athen weiter fort, bis er 510 vertrieben wurde und unter Führung des Kleisthenes ein Regime der Isonomie in Athen eingeführt wurde. Doch wurde in Athen der Tyrannenmord von 514 als Beginn der Freiheit gesehen und gefeiert. Hierzu Viktor Ehrenberg, 1965a: Das Harmodioslied, in: Ders.: Polis und Imperium, 261. Zum Harmodioslied und anderen Belegen für die frühen Nennungen von Isonomie und verwandten Begriffen vgl. Peter Frei, 1981: ΙΣΟΝΟΜΙΑ (Isonomía). Politik im Spiegel griechischer Wortbildungslehre, in: Museum helveticum, Bd. 38, 209–210. 28 Martin Ostwald, 1986: From Popular Sovereignty to the Sovereignty of Law. Law, Society and Politics in Fifth-Century Athens, 27, 50. 29 Die Literatur ist sehr umfangreich. Bereits genannt wurde Dann, 1980, 33–38; Neue Hinweise bei Kurt Raaflaub, 2004: The Discovery of Freedom in Ancient Greece, 94, sowie 310, Anm. 160; ferrner Asheri 2007, 471–473, 474–475. 30 Die Historien wurden vermutlich unter Einbeziehung früher entstandener (auch mündlich vorgetragener) Teile etwa zwischen 430 und 425 v. Chr. veröffentlicht. Die Publikationsdatierung des Herodot’schen Werks bleibt umstritten. Hinweise bei Rosalind Thomas, 2000: Herodotus in Context, 20. 31 Vgl. oben Anm. 1. An anderer Stelle verwendet Herodot das Wort „dēmos“ für Volksherrschaft, in Übersetzungen auch mit „Demokratie“ wiedergegeben: Herodot 2000, Historien III, 82; 438 u.39. Im späteren Buch VI verwendet Herodot erstmals das Wort δημοκρατια (dēmokratía) und sogar (als Erster) das modern anmutende Passivverb δημοκρατέεσϑαι (dēmokratéesthai) – wörtlich „vom Volk beherrscht werden“, „eine Demokratie haben“.
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schaft der Menge (plēthos árchon) namens Otanes in den Mund, im Rahmen einer großen, in der Literatur so genannten „Verfassungsdebatte“ über die für Persien geeignetste Verfassungsordnung von sieben persischen Granden, darunter dem im gleichen Jahr 522 v. Chr. zum Herrscher erhobenen Dareios aus dem Geschlecht der Achämeniden.32 Otanes verbindet das Lob der Isonomie mit einer vernichtenden Kritik an den Übeln der Alleinherrschaft; ein Alleinherrscher neige zur Hybris, sei niemandem verantwortlich, vergehe sich an Frauen und töte Männer ohne Gerichtsverfahren. Der Interpretation von „Isonomie“ als „no-rule“ im Unterschied zur Demokratie bei Hannah Arendt, die sich auf Herodot bezieht, kann ich nicht folgen, da die Nennung von „Isonomie“, wie gesagt, ausdrücklich als Benennung der „Herrschaft der Menge, und das heißt aller“ erfolgt.33 Auch Rousseau ist auf die Herodot’sche Verfassungsdebatte zu sprechen gekommen, und zwar in seinem „Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“. Rousseau erwähnt, dass Otanes „sich nachdrücklich für die Repu blik aussprach“. „Republik“ steht also bei Rousseau für „Isonomie“; er geht aber auf den griechischen Originalausdruck gar nicht ein. Wichtig ist ihm, wie später Arendt, der Verzicht des Otanes auf Herrschen und Beherrschtwerden.34 Herodot, 2001: Historien, hg. und übers. von Josef Feix, Bd. 2: Bücher VI–IX, 6. Aufl., Buch VI, 43/3; 792 u. 793. Auch Herodotus, 2003: The Histories, übers. v. Aubrey de Sélincourt, revidiert u. hg. von John Marincola, Penguin Classics, neuerlich revidierte Ausgabe, 374. 32 Zur Verfassungsdebatte s. auch Christopher Pelling, 2002: Speech and Action: Herodotus’ Debate on the Constitutions, in: Proceedings of the Cambridge Philological Society, Bd. 48, 123–158. Wichtig auch das Kapitel „Herodotus, Democracy and Equality“, in: Arlene W. Saxonhouse, 1996: Athenian Democracy. Modern Mythmakers and Ancient Theorists, 31–57. Von großem Interesse die Erörterung bei Balibar: Gleichfreiheit, 238–241. Vgl. auch die nachfolgende Anmerkung. 33 Hannah Arendt, 1973 (1963): On Revolution, Penguin edition, 30. Arendt bezieht sich offensichtlich auf eine spätere Stelle der „Verfassungsdebatte“, wo Otanes, nachdem sich die Einsetzung des Darius als König abzeichnet, als Kompensation für seinen Verzicht auf die Königsherrschaft für sich und seine Nachkommen das Privileg erbittet und erhält, weder irgendjemandem gehorchen noch irgendjemandem befehlen zu müssen – er also sich und seine Nachkommen aus dem Nexus von Herrschaft herausnimmt. Herodot 2000, III, 83, 2. Vgl. auch unten S.75. Zu Isonomie als πλῆϑος ἄρχον (plēthos árchon) bei Herodot, III, 80, 6, s. auch Ostwald, 2000: Oligarchia. The Development of a Constitutional Form in Ancient Greece, 17 u. 19. 34 Heinrich Meier, Hg., 1984: Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit [zweisprachig], Kritische Ausgabe des integralen Textes, zweite, durchgesehene und überarb. Aufl., Paderborn 1984, 274–275. Vgl, auch Balibar: Gleichfreiheit, 241. Der französische Kolonial- und Militärhistoriker Bernard Gainot verwendet in einer kolonialhistorischen
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Es ist plausibel dargelegt worden, dass diese Verfassungsdebatte einen fiktiven Text darstellt, der griechisches, vor allem athenisches Gedankengut aus der perikleischen und nachperikleischen Zeit, also um die Mitte und in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts enthält, und nicht im Persien des sechsten Jahrhunderts stattgefunden haben könne, genau 522, dem Jahr der Erhebung des Dareios zur Königsherrschaft, in dem gemäß Herodot diese Debatte stattfand.35 In dieser Debatte wird erstmals die bis in unsere Gegenwart genutzte Dreizahl der Herrschaftsformen genannt und diskutiert – Herrschaft der Vielen oder des Volkes, Herrschaft der Wenigen und Einzelherrschaft, uns geläufig als Dreierformel Demokratie, Aristokratie, Monarchie. In der Herodot’schen Verfassungsdebatte werden die Begriffe als Isonomie, Oligarchie (Gruppenherrschaft, noch nicht in der späteren pejorativen Bedeutung36) und Monarchie bzw. Tyrannis (neutral gebraucht) verwendet.37 In der jeweiligen Hervorhebung positiver und negativer Aspekte dieser drei Herrschaftsformen wird bereits die später von Aristoteles vorgenommene Einteilung in die drei guten und die drei negativen Herrschaftsformen angedeutet.38 Beide Begriffe, die bei den Griechen für die Herrschaft der Vielen gebraucht wurden – Isonomie etwas früher, Demokratie etwas später –, weisen einige bemerkenswerte Unterschiede auf. Mehrfach wird darauf hingewiesen, dass „Isonomie“ einen stärker wertbezogenen, „moralischen“ Ton habe als der nüchternere, mehr tatsachenbezogene Begriff der Demokratie.39 Hier ist erneut auf den schmü-
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Arbeit „republikanische Isonomie“ im Zusammenhang mit der schrittweisen Gleichstellung der farbigen Bevölkerung (1794 Abschaffung der Sklaverei) und der unter dem Direktorium erfolgten Inkorporation der Kolonien als Départements in die Französische Republik (Verfassung von 1795 bzw. Gesetz von 1798). 1802 wurden diese Maßnahmen unter Napoleon rückgängig gemacht. Bernard Gainot, 2009: The Republican Imagination and Race: The Case of the Haitian Revolution, in: Manuela Albertone/Antonino de Francesco: Rethinking the Atlantic World, 276–293, hier 284–285 (Dank an Thomas Fröschl für den Hinweis). Jochen Bleicken, 1979: Zur Entstehung der Verfassungstypologie im 5. Jahrhundert v. Chr. (Monarchie, Aristokratie, Demokratie), in: Historia, Bd. 28, Heft 2, 148–172, hier 152–153, 156. Hiervon nicht überzeugt ist Ostwald 2000, 14–15. Auch mögliche Einflüsse des Sophisten Protagoras auf Herodot – die beiden waren Zeitgenossen – sind untersucht worden. S. Lassère, 1976: Hérodote et Protagoras: le débat sur les constitutions, in: Museum Helveticum, Bd. 33, 65–84. Zuletzt Paul Cartledge, 2009: Ancient Greek Political Thought in Practice, 73. Hierzu Ostwald 2000, 18. Zur Terminologie sehr präzise ebd., 17–20. Bleicken 1979, 161. Vlastos 1964, 8, meint, dass „Isonomie“ im Unterschied zu „Demokratie“ (einem „utility
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ckenden Beisatz bei Herodot – Isonomie, „der schönste Namen von allen“ – aufmerksam zu machen. Selten kommentiert, hat in den letzten Jahren der englische Althistoriker Paul Cartledge eine überzeugende Interpretation gegeben. Dieser Beisatz habe die rhetorische Funktion, das Lob der Volksherrschaft noch stärker hervorzuheben – Herodot legt die Phrase ja dem Otanes, Verfechter der Volksherrschaft in der Debatte um die drei Herrschaftsformen, in den Mund. Der Begriff der Demokratie, Herodot bekannt und auch an anderer Stelle der Historien verwendet,40 habe ein „etymologisches Potential für eine negative Interpretation“ enthalten:41 „Demos“ habe ja nicht nur „das ganze Volk“ bedeutet, sondern habe sich auch vielfach (vor allem in den Augen der Bessergestellten) auf das mindere Volk, die niederen Klassen, die Armen, eben die Massen bezogen. Die Verbindung von „demos“ mit „krátos“ – Machtausübung – habe (vor allem für die entmachteten Aristokraten) eine negative Komponente besessen. „Isonomie“ bindet Herrschaft stärker an das „Gesetz“ und stellt daher den rechtlichen Aspekt öffentlicher Herrschaft stärker in den Vordergrund. „Demokratie“ deutet mit dem zweiten Wortteil, der vom Verb „kratein“ – „herrschen“ – abgeleitet ist, stärker auf den Machtaspekt öffentlicher Herrschaft hin. Christian Meier hat daher vom (älteren) „nomistischen“ und dem (jüngeren) „kratistischen“ Aspekt im griechischen politischen Denken gesprochen.42 Für das „nomistische“ Denken gilt, wie Meier zu Recht hervorgehoben hat, „dass die Art der Herrschenden, der Geist, in dem sie regierten, wichtiger war als ihre Zahl oder ihre Herkunft“.43 Bei Herodot kommt auch der ganz seltene Begriff „isokratía“ vor, Martin Ostwald zufolge im historischen Kontext (gegen Ende des sechsten Jahrhunderts44) als von der word“) „more of a banner than a label“ sei. 40 Herodot: Historien VI, 43. 41 Cartledge, 2009, 74. Vgl. ders., bereits 1996: „Comparatively Equal“, in: Josiah Ober/ Charles Hendrick, Hg.: Dēmokratia. A Conversation on Democracies, Ancient and Modern, 183, Anm. 24. 42 Christian Meier 1980, 244, 284 u. öfter. Auch der brasilianische Soziologe Alberto Guerreiro Ramos betont die Unterscheidung des gesetzesbezogenen Suffixes in „Isonomie“ im Gegensatz zu den herrschaftsbezogenen Suffixen in „Demokratie“ oder „Monarchie“ (von den Verben κρατεῖν (krateın), ἄρχειν (árchein) – herrschen – abgeleitet), verwendet allerdings den Begriff „Isonomie“ ausschließlich für ein von ihm entworfenes ideales Gesellschaftskonzept eines ohne Marktwirtschaft auskommenden, herrschaftsfreien und kooperativen Zusammenlebens. Albert Guerreiro Ramos, 1981: The New Science of Organizations. A Reconceptualization of the Wealth of Nations, 131–132. 43 Christian Meier 1970, 31. 44 „Isokratía“ wird einem korinthischen Sprecher auf dem ersten Treffen des Peloponnesischen Bundes 505 oder 504 in den Mund gelegt.
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Tyrannis scharf abgegrenzter gemeinsamer Nenner oligarchischer und demokratischer Herrschaftselemente zu verstehen, während es erst im fünften und vierten Jahrhundert und im Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Athen und Sparta zur deutlicheren Trennung von Demokratie und Oligarchie gekommen sei.45 Isonomie ist die Tochter eines viel älteren Begriffs, nämlich der „Eunomie“, also der „Wohlordnung“46 (im Unterschied zur „Dysnomie“). Um und nach 600, in der solonischen Zeit, ist „Eunomie“ (schon in der Odyssee und bei Hesiod genannt) gut belegt. Das „nomistische“ Denken hatte also eine alte Tradition. Nach all dem Gesagten scheint es angemessen, von Isonomie als „Gleichberechtigungsordnung“ zu sprechen, auch wenn bei den Griechen die politischen Teilhaberechte der freien Bürger und nicht die „Schutzrechte“ der Einzelperson wie in der Moderne im Vordergrund standen. Eindrucksvoll ist die Idee der allgemeinen Mitbestimmung – ohne Nennung der Worte Isonomie oder Demokratie – von einem Philosophen begründet worden, dem Sophisten Protagoras, den der österreichische Staatsrechtslehrer Adolf Menzel als ältesten Theoretiker der Demokratie bezeichnet hat.47 Protagoras hat seine Begründung in Gestalt eines Mythos vorgetragen. Prometheus habe den Göttern jene Kenntnisse gestohlen und den Menschen geschenkt, die zur physischen Lebenserhaltung nötig waren, das Feuer und (jeweils an einzelne verteilt) handwerkliche/technische Fähigkeiten und Kunstfertigkeiten. Über die Kenntnisse betreffend die politische Gemeinschaft verfügte Prometheus nicht; sie blieben in der Obhut des Zeus. Die Menschen waren jedoch von gegenseitiger Vernichtung bedroht, da ihnen die „politikē technē“, die Fähigkeit, in Gemeinschaft zu leben, fehlte.48 Zeus schickte nun den Götterboten Hermes aus, um den Menschen αἰδώς (aidṓs, Ehrfurcht, Respekt) und „díkē“ (Gerechtigkeit, gerechtes Verhalten) zu bringen. Diese Gaben sollte Hermes unter alle Menschen verteilen: „Unter alle, und alle sollen daran teilhaben; es können nämlich Städte nicht entstehen, wenn nur wenige daran teilhätten wie an anderen Fähigkeiten.“ Wenn hier von „allen“ 45 Dies ist die Interpretation von Martin Ostwald, der die von einigen Autoren behauptete Identität von Isonomie und Isokratie ablehnt. Martin Ostwald, 1973: Isokratía as a Political Concept, in: S. M. Stern u. a.: Islamic Philosophy and the Classsical Tradition, 277–291, bes. 283 und 287–288. 46 So Viktor Ehrenberg, 1965b: Eunomia, in: Ders.: Polis und Imperium. Beiträge zur alten Geschichte, 152. 47 Hierzu vorzüglich Adolf Menzel, 1910: Protagoras, der älteste Theoretiker der Demokratie, in: Zeitschrift für Politik, Bd. 3, 205–238. 48 Hier und im Folgenden nach der Übersetzung von B. Manuwald, in: Platon, 2006: Protagoras, eingeleitet, übersetzt und erläutert von Bernd Manuwald, hier 18–19 (= 322a–d).
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gesprochen wird, ist allerdings, wie aus der Verwendung des Wortes „politikós“ und den folgenden Bemerkungen des Protagoras deutlich wird, der Kreis der freien Bürger gemeint.49 Nicht zu vergessen ist eben die Tatsache, dass die freien und ob ihrer Isonomie und Demokratie auch stolzen Athener, wie sie klassisch von Thukydides in seiner Überlieferung der Totenrede des Perikles aus dem Jahr 431 v. Chr. dargestellt wurden,50 nur den obersten Teil der attischen Sozial- und Rechtsstruktur darstellten, ohne hier auf die Stellung der freien Frauen in der männlichen Welt der stimmberechtigten Bürger einzugehen. Mit geringeren Rechten ausgestattet waren die „métoikoi“ oder Metöken, die Beisassen, dauerhaft Niedergelassene ohne Bürgerrecht, oft Fremde, wenngleich selbst Griechen, aber auch freigelassene frühere Sklaven.51 Am unteren Ende standen ja die Sklaven, wie Vieh verkäuflich und vererbbar, allerdings anders als das Vieh mit der Möglichkeit der Freilassung und damit des Aufstiegs zur rechtlich fassbaren menschlichen Person ausgestattet – konkret in Athen zur Gruppe der Metöken, wenngleich oft noch mit zusätzlichen Verpflichtungen gegenüber dem früheren Herren belastet.52 In der Antike selbst und in der Überlieferung von der Antike über Hoch- und Spätmittelalter zur Neuzeit und zur Gegenwart hat sich nicht „Isonomie“, sondern der Begriff „Demokratie“ durchgesetzt.53 Dies gilt auch für die (negativ besetzte) Nennung von Demokratie bei Plato.54 Maßgeblich für die Überlieferung war vor allem die Staatsformenlehre des Aristoteles in dessen „Politik“, die seit 1260/61 in lateinischer Übersetzung vorlag, mit der Einteilung der drei „guten“ Staatsformen Monarchie, Aristokratie und „Politie“ (politeia) und den drei „entarteten“ Formen Tyrannis, Oligarchie und Demokratie. Seit der Renaissance wurde auch (etwa bei Machiavelli) auf die Staatsformenlehre des hellenistischen Historikers Polybios (ca. 49 Ebd., 19–20 (= 322d–324a, Protagoras zu Sokrates; für „jedermann“ im Orig. ἀνήρ (anēr) – Mann, bedeutet auch besonders: „ein freier Mann“ ). 50 Thukydides, 2002: Der Peloponnesische Krieg, übers. von Hans Georg Landmann, Buch II, Abs. 37, 111–112: „Mit Namen heißt sie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft“ (dēmokratía). Vgl. auch Meier 1993, 467. Isonomie (übersetzt als „staatliche Gleichberechtigung“) wird bei Thukydides als Schlagwort der Demokraten genannt. Thukydides 2002, Buch III, Abs. 82, 208. 51 Zu den Metöken vgl. u. a. Meier 1993, 309–310, sowie Nippel 2008, 34–40. 52 Hans Klees, 1998: Sklavenleben im klassischen Griechenland, 306–307. 53 In einem Sammelwerk über die antiken Grundlagen der Menschenrechte und der europäischen Identität wird der Begriff Isonomie gar nicht erwähnt. Klaus M. Girardet/Ulrich Nordmann, Hg., 2005: Menschenrechte und europäische Identität – Die antiken Grundlagen. 54 Hierzu T. A. Sinclair, 1951: A History of Greek Political Thought, 154, 161–164, 179.
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200 v. Chr.–ca. 120 v. Chr.) Bezug genommen, der Monarchie, Aristokratie und Demokratie von den korrumpierten Formen der Tyrannis, Oligarchie (Herrschaft der Wenigen) und Ochlokratie (Pöbelherrschaft, Terminus neu bei Polybios) unterschied und ausführlich eine Lehre von der Mischform monarchischer, aristokratischer und demokratischer Elemente als stabile Herrschaftsform entwickelte.55 Häufig wurde auch nur die vereinfachte Dreiteilung Monarchie, Aristokratie und Demokratie tradiert. In England wurde „Isonomy“ gelegentlich gegen Ende des 16. und im 17. Jahrhundert verwendet, im Sinne gleicher Gesetze für alle, wurde aber schrittweise von englischen Formulierungen ersetzt.56 Als letzte prägende Staatsformeneinteilung der frühen Neuzeit ist jene in Montesquieus „Vom Geist der Gesetze“ von 1748 zu nennen, die Despotien, Monarchien und Republiken, Letztere unterteilt in aristokratische und demokratische Republiken, unterschied. In den langen Jahrhunderten abgestufter politischer und sozialer Strukturen mit aristokratisch/fürstlicher bzw. monarchischer oder patrizisch/zünftischer Dominanz – allgemein als „ständische“ Strukturen bezeichnet – galt Demokratie als auf Kleinstaaten begrenzte und häufig von Instabilität heimgesuchte Staatsform. Martin Luther dozierte in einer Tischrede von 1539 über die traditionellen Staatsformen und nannte „Democratia“, „da viel vom gemeinen Mann regieren, als in der Schweiz und Ditmars“, den Dithmarschen.57 Zwei fundamentale Neueinschätzungen setzten mit Beginn des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts ein, und zwar mit der amerikanischen Revolution. Erstens wurde – allerdings nicht ohne manche begriffliche Unsicherheiten und Konfusionen – der Zusammenhang zwischen Kleinheit des Staatsgebiets und Demokratie oder „Republik“ im Sinne von demokratischer Republik zurückgewiesen, und zweitens wurde die Vereinbarkeit einer „repräsentativen“ Regierungsform mit Demokratie anerkannt. So entstand in Amerika der damals neue, heute so selbstverständlich anmutende Begriff der „repräsentativen Demokratie“, klar belegt in Aussagen Alexander Hamiltons aus den Jahren 1777 und 1788.58 55 Hierzu Kurt von Fritz, 1954: The Theory of the Mixed Constitution in Antiquity. A Critical Analysis of Polybius’ Political Ideas. 56 Mehrere Hinweise bei F. A. Hayek, 1960: The Constitution of Liberty, 164 sowie 460, Anm. 13–15. 57 D. Martin Luthers Werke (Weimarer Ausgabe), 1916: Tischreden Bd. 4, 240 (Nr. 4342). 58 Alexander Hamilton in einem Brief vom Mai 1777 und neuerlich elf Jahre später in einer die traditionelle Staatsformenlehre analysierenden Notiz für eine Rede im New Yorker Ratifikationskonvent im Juli 1788 über die Bundesverfassung. Gerald Stourzh, 1970: Alexander Hamilton and the Idea of Republican Government, 49 und 223, Anm. 36. Hamiltons
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Doch mit dem Auftauchen der repräsentativen Demokratie haben wir jenen Paradigmenwechsel erreicht, von dem ich eingangs gesprochen habe, den Paradigmenwechsel von Vorstellungen abgestufter Ordnungen zu zumindest tendenziell, mittels zahlreicher rechtlicher Angleichungen, „Isonomie“ anstrebenden Ordnungsvorstellungen – am prägnantesten zusammengefasst in jenen drei Worten „an Rechten gleich“ der französischen Erklärung von 1789. Zuvor ist jedoch auf das „alte“ Paradigma der Abstufungen einzugehen.
Äußerung von 1777, zit. bereits bei Ferdinand A. Hermens, 1958: The Representative Republic, 152–153; s. a. unten S. 60.
III.
Abstufungen. Hierarchie im Diesseits und im Jenseits
Otto Brunner war der Auffassung, dass der historische Einschnitt im 18. Jahrhundert tiefer als jener zwischen Mittelalter und Neuzeit war und auch viel mehr bedeutete als der Übergang vom „feudalen“ zum „bürgerlichen“ Weltbild. „Was hier versinkt“, so Brunner, sei „eine Welt aristokratischer Struktur und ihr Weltbild, die ‚alte Ontologie‘, der antike Kosmosgedanke“ – eine Struktur, die „durch mehr als zwei Jahrtausende geherrscht hatte“.59 Ich finde Brunners Äußerung zutreffend, aber unvollständig. Das Christentum ist in die aristokratische Struktur der Antike eingebrochen, es hat im Unterschied zu dieser zunächst die einfachen Schichten angesprochen, darunter auch viele Freigelassene,60 und es hat auch die Arbeit hochgeschätzt. Doch gab es schon ab dem zweiten Jahrhundert in der Kirche deutlich werdende Tendenzen der Hierarchisierung.61 Die Anpassung an oder Verinnerlichung von hierarchischen Denk- und Organisationsformen hat nach der Konstantinischen Wende (ab 313) und der Proklamation des Christentums zur Staatsreligion unter Theodosius I. 380 zugenommen. Dazu kam vom vierten bis sechsten Jahrhundert mit dem Eindringen neuplatonischer Vorstellungen einer abgestuften Weltordnung die „Gräzisierung“ der christlichen Lehre, von Augustinus bis Dionysius Areopagita.62 Die neuplatonisch-christliche Vorstellung von einer abgestuften Weltordnung hat den Übergang von der Spätantike zum Mittelalter und vom Mittelalter zur Frühneuzeit überdauert, nicht mehr jedoch
59 Otto Brunner, 1949: Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg, 1612–1688, 137. 60 Orlando Patterson, 1991: Freedom, vol. I: Freedom in the Making of Western Culture, Kap. 18 „Paul and his World. A Community of Urban Freedmen“, 316–324, bes. 323. 61 Sehr informativ Rolf Rilinger, 2007 (1995): Zum kaiserzeitlichen Leistungs- und Rangdenken in Staat und Kirche, in: Ders., Ordo und dignitas. Beiträge zur römischen Verfassungsund Sozialgeschichte, 181–222, bes. 220–222. 62 Ebd., 220–222. Vgl. auch unten S. 44.
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III. Abstufungen. Hierarchie im Diesseits und im Jenseits
den Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden großen Bruch zur eigentlichen Moderne, Reinhart Kosellecks berühmte „Sattelzeit“ zwischen etwa 1750 und 1850.63 Es gilt festzuhalten: „Ordo“ als abgestufte, von Gott ausgehende Weltordnung, die menschliche Sozial- und Rechtsordnung einschließend, galt im fünften und sechsten Jahrhundert n. Chr. ebenso wie im zehnten Jahrhundert64, im 13. Jahrhundert im Zeitalter der Hochscholastik65 oder in der Frühneuzeit vom 16. bis ins 18. Jahrhundert.66 Die christliche (West-)Kirche überdauerte den Zusammenbruch des Weströmischen Reiches so fest gegliedert, dass der Klerikerstand als „Vorbild aller privilegierten Stände im Abendland“ bezeichnet worden ist.67 Die Reformation mit ihrem umstürzenden Priestertum aller Gläubigen hat zwar dort, wo sie sich durchsetzte, die vielfach abgestufte kirchliche Hierarchie erschüttert,68 doch hat die enge Bindung von „Thron und Altar“ zu beiden Seiten der Trennungslinie im konfessionellen Zeitalter – noch 1685 mit dem Widerruf des Edikts von Nantes die große Protestantenaustreibung aus Frankreich! – das Weiterbestehen, ja, die Festigung der hierarchischen Strukturen befördert. Durchaus zutreffend ist außerdem betont worden, dass die Absage des Protestantismus an die „gestufte Pluralität des Mit-
63 Reinhart Koselleck, 1972: Einleitung, in: Otto Brunner/Reinhart Koselleck/Werner Conze, Hg., Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, XV. 64 Überragend: Heinrich Fichtenau, 1984: Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts, 2 Bde. 65 Wolfgang Hübener, 1977: „Malum auget decorem in universo.“ Die kosmologische Integration des Bösen in der Hochscholastik, in: Albert Zimmermann, Hg., Die Mächte des Guten und Bösen, 1–26 (Miscellanea medievalia Bd. 11). 66 Paul Münch, 1988: Grundwerte der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft? Aufriss einer vernachlässigten Thematik, in: Winfried Schulze/Helmut Gabel, Hg., Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, 53–72, hier bes. 66, 69. 67 Otto Hintze, 1970 (1931): Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung, in: Ders.: Staat und Verfassung (= Gesammelte Abhandlungen I, hg. v. Gerhard Oestreich), 174. Zur Rolle der Kirche im Übergang von Spätantike zum Frühmittelalter s. neuestens Reinhold Kaiser, 2014: Die Mittelmeerwelt und Europa in Spätantike und Frühmittelalter, 109–167 („Theologie und Kirche, Kult und Kultur“) sowie 277–339 („Christiana religio als Ordnungsmacht und Lebensform“). Von Interesse auch: Peter Brown, 2013 (2003): The Rise of Western Christendom. Triumph and Diversity, A. D. 200–1000, Tenth Anniversary Revised Edition, 72–92. 68 Zum „Gradualismus“ der mittelalterlichen Kirche s. Bernd Hamm, 1995: Einheit und Vielfalt der Reformation – oder was die Reformation zur Reformation machte, in: Bernd Hamm u. a., Hg.: Reformationstheorien, 70–71. Für den Hinweis danke ich Barbara Stollberg-Rilinger.
III. Abstufungen. Hierarchie im Diesseits und im Jenseits
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telalters“ nur „dem kirchlich-religiösen Bereich“ galt, nicht aber der sozialen und politischen Hierarchisierung der Ständegesellschaften in der Frühen Neuzeit.69 Definitionen für das Wesen ständischer oder – allgemeiner gesprochen – ab gestufter oder hierarchischer Ordnungen sind zahlreich. Ich greife eine Definition heraus, die ich als besonders treffend ansehe und die übrigens nicht in Hinblick auf mittelalterlich-frühneuzeitliche Strukturen, sondern in Hinblick auf die griechisch-römische Antike gemacht wurde. Sie stammt vom Althistoriker Moses Finley und lautet im englischen Original: „An order or estate is a juridically defined group within a population, possessing formalized privileges and disabilities in one or more fields of activity, governmental, military, legal, economic, religious, marital, and standing in a hierarchical relation to other orders.“70 Zu betonen ist Finleys Hinweis auf die „hierarchische Beziehung“ der Stände untereinander, die eine wie immer geartete übergreifende Gesamtordnung voraussetzt. Ich werde darauf zurückkommen. Finleys Definition ist wesentlich schlüssiger als die oft zitierte, von mir jedoch kritisch gesehene Begriffsbestimmung Max Webers, der die „soziale Ehre“ als Schlüssel zur „ständischen Lage“ bezeichnet.71 Weiters sagt Weber, dass die „ständische Ehre ihren Ausdruck normalerweise vor allem in der Zumutung einer speziell gearteten Lebensführung an jeden, der dem Kreise angehören will“, findet. Von „Wollen“ kann aber keine Rede sein, wenn Weber an anderer Stelle des gleichen Textes die Sklaverei als „Stand“ bezeichnet.72 Dazu kommt, dass abgesehen vom „geistlichen Stand“ nicht das Wollen, sondern das Hineingeborensein die häufigste Ursache der Zugehörigkeit zu einem Stand war, den aus eigenem Willen zu verlassen oft nicht möglich war. Finley legt hingegen zutreffend die Betonung auf „Stand“ als „rechtlich definierter“ Gruppe. 73 69 Ebd., 87. 70 Moses Finley, 1999 (1973): The Ancient Economy, updated edition with a foreword by Ian Morris, 45 (Kursivsetzung im Original). Die Übersetzung dieser Stelle in der deutschen Ausgabe, obgleich autorisiert, ist fehlerhaft (Moses Finley, 1977: Die antike Wirtschaft, dtv-Ausgabe, 43). 71 Max Weber, 2001 (1921/22): Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass, Teilband I: Gemeinschaften, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Michael Mayer (= Max-Weber-Gesamtausgabe, im Auftrage der Kommission für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Horst Baier et al., Abteilung I, Schriften und Reden, Bd. 22 I, Abschnitt „Klassen“, „Stände“ und „Parteien“), 259. 72 Ebd. 260. 73 Einen hervorragenden, eigentlich klassisch zu nennenden Gesamtüberblick über die Ent-
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III. Abstufungen. Hierarchie im Diesseits und im Jenseits
Den Blick in die alte Welt der abgestuften Ordnungen werfe ich ausgehend von drei Stellen aus Alexis de Tocquevilles „Über die Demokratie in Amerika“, dem zweiten Band von 1840. Es ist ein Band, der über amerikanische Themen weit hinausgeht und ein Meisterwerk des politischen und soziologischen Denkens ist, vergleichbar mit Montesquieus „De l’Esprit des Lois“.74 Tocqueville nennt die alte, vergehende Ordnung einfach „Aristokratie“, die neue, erst werdende einfach „Demokratie“, und er vergleicht und kontrastiert diese beiden Ordnungen mehrfach, wobei die Darstellung dieser Ordnungen durchaus als „idealtypisch“ im Sinne Max Webers zu sehen ist. Erstes Beispiel: Ein Kapitel handelt davon, „Wie die Demokratie das Verhältnis zwischen Diener und Herren wandelt“. In der Aristokratie, so Tocqueville, wird der Arme von Kindheit an „mit der Vorstellung vom Befohlenwerden vertraut. Wohin immer er seine Blicke wendet, alsbald gewahrt er das Bild der Hierarchie und das Zeichen des Gehorsams“.75 Mit dem Wort von der Hierarchie hat Tocqueville das Schlüsselwort des alten Paradigmas ausgesprochen. Zugleich liefert Tocqueville bemerkenswerte Einsichten in das Verhältnis von Herr und Diener: „Obwohl Herr und Diener in der Aristokratie keine natürliche Ähnlichkeit aufweisen, obgleich Vermögen, Erziehung, Ansichten, Rechte sie im Gegenteil auf der Stufenleiter der Wesen [sur l‘échelle des êtres] durch einen riesigen Abstand trennen, so bindet sie die Zeit zuletzt zueinander.“76 Der Diener, so ist hinzuzufügen, gehört der Personengruppe der „Domestiken“ an, der „domesticité“, die im Rahmen der alten Struktur des „ganzen Hauses“ – Domestik leitet sich ja von „domus“ ab – ohne eigenen Willen, weil vom Willen des Herren abhängig, betrachtet wurde und sogar noch während der ganzen französischen Revolution vom Stimmrecht ausgeschlossen war.77
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wicklung und Bedeutung von „Stand“ in der Antike und im Mittelalter hat der wichtigste deutsche Ständeforscher der letzten Jahrzehnte, Otto Gerhard Oexle, vorgelegt: „Stand im lateinischen Europa“, in: Otto Gerhard Oexle, 2011 (1990): Die Wirklichkeit und das Wissen, hg. v. Andrea von Hülsen-Esch u. a., 287–399 (ursprünglich veröffentlicht als Teil des Artikels „Stand, Klasse“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhard Koselleck, Hg.: Historische Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6). Der erste Band von Tocquevilles „De la démocratie en Amérique“ erschien 1835, der zweite Band 1840. Beste deutsche Übersetzung von Hans Zbinden, 1987: Alexis de Tocqueville. Über die Demokratie in Amerika, 2 Bände. Tocqueville/Zbinden 1987, Bd. II, Teil III, Kap.5, 263–275, hier 265. Ebd., 266 (meine Hervorhebung). Zbinden übersetzt „échelle des êtres“ vereinfachend mit „menschlicher“ Stufenleiter. Es handelt sich aber um die neuplatonische Stufenleiter aller Wesen. Hierzu s. unten S. 43–45. Hierzu Pierre Rosanvallon, 2001 (1992): Le sacre du citoyen, 155–169.
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Auch in der Gesellschaftsform der Demokratie, so Tocqueville, gibt es Herren und Diener. Sie sind aber nunmehr, wie Tocqueville in Amerika gesehen hatte, durch ein anderes, nämlich ein jederzeit lösbares Vertragsverhältnis miteinander verbunden. In der Gesellschaftsform der Aristokratie ist der Herr aus der Perspektive des Dieners „ein anderer Mensch“. In der Gesellschaftsform der Demokratie ist es ganz anders: „Die gesellschaftliche Gleichheit der Bedingungen macht aus dem Diener und dem Herrn neue Wesen...“,78 und in der Demokratie „kann der Diener jederzeit Herr werden, und er strebt danach, es zu werden. Er ist also kein anderer Mensch als der Herr“.79 Zweites Beispiel: Tocqueville beschreibt den mentalen Abgrund zwischen Aristokratie und den „einfachen Leuten“ anhand eines grausigen Vorgangs in der Bretagne im Jahre 1675. Damals erhoben sich die „niederen Stände der Bretagne“ gegen eine neue Steuer. Diese aufrührerischen Bewegungen, so Tocqueville, wurden mit beispielloser Grausamkeit unterdrückt. Er zitiert aus einem Brief der Marquise de Sévigné, einer der großen und schon zu Lebzeiten berühmten Briefschreiberinnen der französischen Literatur. An ihre Tochter in der Provence schrieb sie neben diversen Kleinigkeiten über die Strafaktionen, Austreibung der ganzen Bevölkerung einer Straße einschließlich schwangerer Frauen, Kinder und Greise, dann Hinrichtungen durch Rädern und Hängen. Sie fügt hinzu, die Bretagne sei für andere Provinzen ein schönes Beispiel, vor allem für die Achtung von Statthaltern und Statthalterinnen – ihre Tochter war mit dem Gouverneur der Provence verheiratet – und dafür, dass man keine Steine in deren Garten werfen soll. Tocqueville betont, Mme. de Sévigné sei kein selbstsüchtiges oder rohes Geschöpf gewesen, sie habe auch ihre Lehnsleute und Diener mit Güte und Nachsicht behandelt. Aber: „Mme. de Sévigné hatte keinen klaren Begriff davon, was Leiden bedeutet, wenn man kein Edelmann war.“80 Was wir als hierarchische Struktur bezeichnen, was Tocqueville selbst sogar als die Unterschiede von „Kasten“ bezeichnete, bedeutete für ihn, dass jede Kaste „ihre Ansichten, ihre Gefühle, ihre Rechte, ihre Sitten, ihr Sonderdasein“ hatte. Kaum fühlten sich die Menschen „der gleichen Menschheit zugehörig“.81 Im Vergleich zwischen aristokratischer und demokratischer Gesellschaftsform meint Tocqueville, sie seien „wie zwei verschiedene Menschheiten“ – „comme deux humanités distinctes“, deren jede „ihre besonderen Vorzüge und Nachteile, ihr Gutes und Schlechtes hat, das ihr eigentümlich ist“.82 78 79 80 81 82
Tocqueville/Zbinden 1987, Bd. 2, Teil III, Kap. 5, 268. Ebd., 269 (meine Hervorhebung). Ebd., Teil III, Kap. 1, 246–247. Ebd., 244. Ebd., Teil IV, Kap. 8, 485. Ich verweise auf zwei meiner Aufsätze in französischer und engli-
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Ich will nicht verabsäumen, darauf hinzuweisen, dass Tocqueville den Aufbau einer neuen Aristokratie aus der Demokratie heraus bereits erkennt, nämlich einer Aristokratie der Industrieherren, sie jedoch als Ausnahme ansieht. Dennoch müssten die Freunde der Demokratie ihre Blicke mit Besorgnis ständig dorthin richten; falls nämlich „die dauernde Ungleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen und die Aristokratie jemals von neuem in die Welt eindringen, so lasse sich voraussagen, dass sie durch dieses Tor hereinkommen werden“.83 Liest man dieses Kapitel im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, ist man wohl eher versucht, nicht an die Fabriksherren, sondern an die „Finanzherren“ der Gegenwart zu denken. Nun eine dritte und letzte Stelle aus Tocqueville, die wichtigste. In einem sehr kurzen Kapitel „Über den Individualismus in den demokratischen Ländern“ beschreibt er den Individualismus als neues Phänomen, dem er mit Bedenken gegenübersteht. Der Individualismus zerstöre die Solidarität, die es innerhalb der einzelnen „Klassen“ gebe – er spricht hier nicht von Kasten, meint jedoch in beiden Fällen die verschiedenen Statusgruppen der „ständischen“ Welt. Das Individuum ziehe sich auf sich selbst und seine Familie zurück. Der Individualismus sei demokratischen Ursprungs, „und er droht sich in dem Maß zu entfalten, in dem sich die gesellschaftlichen Konditionen egalisieren“ – „dans laquelle les conditions s’égalisent“. Ich folge hier nicht der freieren deutschen Übersetzung, sondern übersetze wörtlich, weil das Verbum „egalisieren“ ein sehr erhellendes Wort für jenen Prozess ist, der zur modernen Isonomie führt. Der wichtigste Satz lautet: „Die Aristokratie bildete aus allen Bürgern eine lange Kette, die vom Bauern bis zum König hinaufreichte; die Demokratie zerbricht die Kette und sondert jeden Ring für sich ab“ – „la démocratie brise la chaîne et met chaque anneau à part“.84 Wenn ich so ausführlich auf die hierarchische Struktur dessen eingehe, was Tocqueville einfach als „Aristokratie“ bezeichnet, so deshalb, weil ich seinem Gegensatzpaar Aristokratie/Demokratie ein anderes zur Seite stellen möchte, nämlich das Gegensatzpaar Hierarchie/Isonomie. Daher liegt mir daran, vor der Rückkehr zur „Isonomie“ noch einiges zur Verdeutlichung von „Hierarchie“ zu sagen. Ich möchte gerne meine Dankesschuld an scher Sprache, die nicht in deutscher Übersetzung vorliegen: Gerald Stourzh, 2005: Penser l’égalité. Cinq notions d’égalité chez Tocqueville, in: Droits. Revue française de théorie, de philosophie et de culture juridiques, Nr. 41, 185–198; ders., 2006: Tocqueville’s Understanding of „Conditions of Equality“ and „Conditions of Inequality“, in: Svetozar Minkov, Hg.: Enlightening Revolutions. Essays in Honor of Ralph Lerner, 259–280. 83 Tocqueville/Zbinden 1987, Bd. 2, Teil II, Kap. 20, 235–240. 84 Tocqueville/Zbinden 1987, Bd. 2, Teil II, Kap. 2, 147–150.
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Louis Dumont und dessen berühmtes Werk über die indische Kastengesellschaft mit dem Titel „Homo hierarchicus“ ausdrücken, dem er später ein Buch über die moderne westliche Welt, „Homo aequalis“, folgen ließ. Dumont hat in „Homo hierarchicus“ dem gerade zitierten Tocqueville-Kapitel über den Individualismus einen zentralen Platz zum Verständnis des Kontrastes zwischen hierarchischer und moderner Gesellschaft zugeschrieben.85 Tocqueville bietet uns mehrere Anknüpfungspunkte, um einige Aspekte des „alten“ Paradigmas zu kommentieren. Nur einige Stichworte oder Themen zur ständischen Struktur sollen exemplarisch herausgegriffen werden. Das Verhältnis von Herr und Diener lässt sich ausweiten zum Hinweis auf verschiedene Varianten der – vertikalen – Zweierbeziehung „Herr und Knecht“: von „Herr und Sklave“ zu „Leibherr – Leibeigener“ bis „Grundherr – Höriger oder Grunduntertan“ etc. Nicht zu vergessen ist der Geschlechteraspekt: Herr und Sklavin oder Herr und Magd, aber auch Herrin und Sklave oder Herrin und Magd. Zusammenfassend: „Herr und Knecht“ ist zur Sammelbezeichnung dieser Beziehungsformen geworden. Ein hervorragendes Werk des Leipziger Historikers Hartmut Zwahr, „Herr und Knecht – Figurenpaare in der Geschichte“, führt durch viele Jahrhunderte.86 Hegel hat in seiner „Phänomenologie des Geistes“ eigens „Herrschaft und Knechtschaft“ thematisiert und damit unzählige Kommentare hervorgerufen.87 Hinzuzufügen ist jedoch, dass während der Dominanz des hierarchischen Paradigmas denkwürdige Ausbrüche ursprünglicher Gleichheit erfolgten. An erster Stelle ist der Sachsenspiegel des Eike von Repgow zu nennen, entstanden um 1230. Im Landrecht des Sachsenspiegels beruft sich der Verfasser auf die biblische Genesis 85 Louis Dumont, 1966 : Homo hierarchicus. Le système des castes et ses implications; dt. Übers. 1976: Gesellschaft in Indien: die Soziologie des Kastenwesens. Louis Dumont, 1977: Homo aequalis. Genèse et épanouissement de l’idéologie économique. 86 Hartmut Zwahr, 1990: Herr und Knecht. Figurenpaare in der Geschichte. 87 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1980: Phänomenologie des Geistes, Wolfgang Bonsiepen/ Reinhard Heede, Hg., (= Gesammelte Werke, hg. v. d. Rheinisch-Westfälischen Akademie d. Wissenschaften i. Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bd. 9), IV. A, „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseyns; Herrschafft und Knechtschafft“, 109–116, bes. 112–116. Von großem Interesse: Hans Mayer, 1971: Herrschaft und Knechtschaft. Hegels Deutung, ihre literarischen Ursprünge und Folgen, in: Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft 15, 251–279. Bibliografische Hinweise über die in Frankreich von Alexandre Kojève ausgelösten Diskussionen und Kommentare oder die in Deutschland besonders von Werner Becker, Hans Heinz Holz oder Axel Honneth vorgelegten Studien gehen über den Rahmen dieser Studie hinaus und unterbleiben daher.
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und die Erschaffung des Menschen als Ebenbild Gottes. Er könne es mit seinem Verstande nicht für wahr halten, dass jemand (von Natur) einem anderen gehören solle.88 Das bekannte Sprichwort „Als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann?“ ist erstmals in englischer Sprache für 1381 belegt: „When Adam delved and Eve span, who was then the gentleman?“ Dies geschah in einer Predigt des radikalen Geistlichen John Ball während der Bauernrevolte dieses Jahres. Ball wurde am 15. Juli 1381 auf grässliche Weise hingerichtet. Gegen Ende des 14. und vielfach im 15. Jahrhundert finden sich Variationen dieses Satzes.89 Von großer Bedeutung sind die Zwölf Artikel der oberschwäbischen Bauernschaft, beschlossen in Memmingen im März 1525, dem Bauernkrieg unmittelbar vorhergehend und ihn auslösend. Im dritten Artikel, einem „Schlüsseltext aller Freiheitsdebatten“90, protestierten die Bauern gegen ihren Status als „Eigenleute“ (Leibeigene), und reklamierten ihre Freiheit, in Ansehung dessen, „dass Christus alle mit seinem kostbarlichen Blutvergießen erlöst und erkauft hat, den Hirten gleich wie den Höchsten, keinen ausgenommen. Darum erfindet sich mit der [Heiligen] Schrift, dass wir frei sind und sein wollen“.91 Ein die Bedeutung der Zwölf Artikel besonders stark hervorhebender Autor, Peter Blickle, hat geschrieben: „Der Freiheitsbegriff der oberschwäbischen Bauern ist ein solcher, der Statusmerkmale für alle Menschen, zumindest alle Christen, für unabdingbar erklärt – Freizügigkeit, Ehefreiheit und freie Verfügung über den Ertrag der Arbeit am Ende des Lebens.“92 Die Worte „für alle Menschen, zumindest alle Christen“ bedürfen vielleicht doch des Hinweises, dass der Text insgesamt so deutlich auf dem Evangelium und vor allem auf dem Erlösungstod Christi begründet ist, dass ich nicht sicher bin, ob er wohl die gleiche Freiheit aller Nichtchristen, etwa der Juden, mit eingeschlossen hat.93 Christenrechte und Menschenrechte sind zwei verschiedene 88 Eike von Repgow, 1984: Der Sachsenspiegel, hg. v. Claus Dieter Schott, 189–191 (Landrecht, III, 42). 89 Thesaurus proverbiarum medii aevi, 1995: Bd. 1, 32, unter der Rubrik „Adel, 4.1. Ursprünglich (von Adam und Eva her) sind alle Menschen standesgleich.“ 90 Peter Blickle, 2003: Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, 90. 91 Originaltext zit. ebd. 92 Ebd., 91. 93 Die berühmte Paulus-Stelle aus dem Brief an die Galater, der die traditionellen Schranken zwischen dem Juden und dem Griechen, zwischen dem Sklaven und dem Freien, zwischen Mann und Frau niederriss, betonte die Einheit „in Christo Jesu“ und verwies damit auf die neuen Schranken zwischen Christen und Nichtchristen (Gal. 3, 28). Die Taufe sollte sich als ganz starke Barriere zwischen Getauften und Nichtgetauften erweisen, was ja im
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Dinge.94 Es gibt allerdings ein Dokument aus dem Bauernkrieg, wonach aus göttlichen und kaiserlichen Rechten niemandem, er sei „Türke, Heide, Jude, Mörder, Dieb oder welchen Namen immer er haben mag“, das Recht versagt werden soll.95 Tocqueville hat in dem schon genannten Kapitel über den Individualismus die vom „Bauern zum König“ reichende Kette der ständisch geordneten Sozial- und Rechtsordnung angesprochen. Ich nenne ein Stichwort, das sich nach der Lektüre von Tocquevilles Texten aufdrängt: „Ebenbürtigkeit“ – nachzuweisen durch die sogenannte „Ahnenprobe“.96 Zwei Hinweise: die Satisfaktionsfähigkeit beim Duell und die ebenbürtige Ehe. Ein Beispiel zum Duell: Die Affäre Voltaire/de Rohan von 1726. Der bürgerliche Voltaire und ein junger Aristokrat, der Chevalier de Rohan, hatten sich gegenseitig durch spöttische Bemerkungen verletzt und verletzt gefühlt. De Rohan ließ Voltaire durch seine Bediensteten verprügeln. Voltaire forderte daraufhin Chevalier de Rohan zum Duell auf, was dieser wegen mangelnder Ebenbürtigkeit ablehnte. Ergebnis: Voltaire wurde durch den Einfluss der Rohans bei Hof für drei Wochen in die Bastille gesteckt und ging danach nach England. Zur ebenbürtigen Ehe: Ich erinnere an die bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Probleme bei unebenbürtigen Ehen. Als Beispiele seien genannt: Die Ehen zwischen Ferdinand II. von Tirol und der Augsburgerin Philippine Welser im 16. Jahrhundert, zwischen Erzherzog Johann von Österreich und der Ausseer Postmeisterstochter Anna Plochl im 19. Jahrhundert oder zwischen dem Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand und Gräfin Sophie Chotek zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In allen Fällen zogen die morganatischen Ehen Problem der ungetauft verstorbenen Kleinkinder, denen die Möglichkeit eines Platzes im Himmel verwehrt war (zuerst bei Augustinus im obersten Platz der Hölle, später im „limbus puerorum“ angesiedelt), eine traurige Rolle spielte. Bei seiner Zusammenfassung des christlichen Gleichheitsdenkens berücksichtigt Otto Dann nicht die Kluft zwischen Getauften und Nichtgetauften und auch nicht, zumindest seit Augustins Prädestinationslehre und deren gewaltigen Auswirkungen, den Unterschied zwischen den der Seligkeit und den der Verdammnis bestimmten Menschen. Dann 1980, 58–59. 94 Blickle 2003, 91. 95 Im Originaltext: „diewil us gottlichen und kaiserlichen Rechten das Recht jemant, er si Tirk, Haid, Jud, Morder, Dieb oder wie der Namen haben mag, nit versagt werden soll...“ Beschwerdeartikel der Württembergischen Landschaft, Mai 1525, in: Günther Franz, Hg., 1963: Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, 427. Hinweis bei Schmale 1997, 283. Ergänzend verweise ich auf meine Hinweise zu „Reservoirs of Equality“ im Zeitalter der Abstufungen in Stourzh 2007 (1996a), 280–289. 96 Elizabeth Harding/Michael Hecht, Hg., 2011: Die Ahnenprobe in der Vormoderne. Selektion – Initiation – Repräsentation.
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Rangerhöhungen der Ehegattinnen nach sich, wenngleich nicht bis zum Rang des Ehegatten. Nicht zu vergessen ist, was sich am unteren Ende oder auch unterhalb der ständischen Ordnung abspielte. Rangkonflikte gab es bis in die Dörfer. Der Kampf um den „Platz in der Kirche“ wurde zwischen Bauern, Häuslern und Tagelöhnern geführt.97 Noch eine andere Dimension erreichen wir, wenn wir die „unehrlichen“, aus der ehrbaren Gesellschaft ausgegrenzten Berufe in Betracht ziehen. Die frühe Neuzeit ist als „Blütezeit des Unehrlichkeitswesens“ bezeichnet worden.98 Zu den unehrlichen Berufen zählten, besonders von der Kirche verdammt, die „Komödianten“. Ein berühmtes Beispiel: das Begräbnis Molières 1673.99 Molière hatte seiner Profession als Komödiant nie abgeschworen. Der zuständige Pfarrer verweigerte Molière daher ein Begräbnis; es bedurfte angeblich der Intervention Ludwigs XIV., und der Erzbischof von Paris ordnete ein kirchliches Begräbnis an, aber ohne Feierlichkeiten und zu nächtlicher Stunde. Im Bereich des Eherechts ist an die Heiratsbeschränkungen oder Heiratsverbote zu erinnern, deren Opfer die Töchter aus Familien „unehrlicher“ Berufe wie etwa der Scharfrichter waren.100 Insgesamt gab es allerdings auch in der abgestuften Rechts- und Sozialordnung der „société des ordres“ Chancen der vertikalen Mobilität.101 Abgesehen von den Möglichkeiten, die der Eintritt in den geistlichen Stand eröffnen konnte, wären etwa der Aufstieg bürgerlicher Juristen, die sich als Räte der Herrscher unentbehrlich gemacht hatten, das (innerhalb bestimmter Grenzen) mögliche „Hinaufheiraten“ oder die Ämterkäuflichkeit in Frankreich zu nennen. Auch ist zu bedenken, dass es innerhalb der abgestuften Ordnungen immer wieder – wie sich übrigens aus dem Bild der Stufe ergibt – Ebenen der Gleichbe97 Winfried Schulze, 1988: Die ständische Gesellschaft des 16./17 Jahrhunderts als Problem von Statik und Dynamik, in: Ders. mit Helmut Gabel, Hg., 1988: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, 1–17, hier 16, zit. nach Jan Peters, 1985: Der Platz in der Kirche. Über soziales Rangdenken im Spätfeudalismus, in: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 28 (N. F. 13), 77–106. 98 Rainer G. Schöller, 1973: Der gemeine Hirte, 170, zit. bei Ernst Schubert, 1988: Mobilität ohne Chance. Die Ausgrenzung des fahrenden Volkes, in: Schulze/Gabel 1988, 113–163, hier 123; bei Schubert, 118–124, eine vorzügliche systematische Übersicht über die „Unehrlichkeit“. 99 Alfred Simon, 1995: Molière ou la vie de Jean-Baptiste Poquelin, 499–500. 100 Andreas Deutsch, 2001: Das schwere Schicksal der Henker – zur privaten Seite eines grausamen Handwerks, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, 118. Bd., 420–437, hier bes. 431–432. 101 Hierzu vorzüglich der bereits genannte Sammelband von Schulze/Gabel, 1988.
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rechtigung gab. Ein amerikanischer Theoretiker hat von „segmentierten Gleichheiten“ – „segmental equalities“ – gesprochen, die es im Rahmen hierarchischer Autoritätssysteme gebe.102 Zu den wichtigsten zählten wohl seit der christlichen Antike die monastischen Gemeinschaften und, später einsetzend, das mittelalterliche, in sich wieder hierarchisch gegliederte Städtewesen.103 Eine großartige Symbolik des Städtewesens bietet sich im „Buon Governo“-Fresko Ambrogio Lorenzettis im Palazzo Publico von Siena dar (1338/39). Die Bürger der Stadt – alle von gleicher Größe! – halten die Schnur der Gerechtigkeit, die ihnen die allegorische Figur der Concordia gibt und die sie ihrerseits von Justitia empfangen hat; am anderen Ende der Bürgerschar ist die Schnur am Schwert der als thronende Herrscherfigur allegorisierten Comune di Siena befestigt. Doch zurück zur Kette vom Bauern bis zum König: Die klassische, dem Range nach abgestufte Gliederung der oratores, bellatores und laboratores104 war vom Hochmittelalter bis ins 18. Jahrhundert trotz aller terminologischen Veränderungen fest verankert, wie an den drei Ständen der französischen Ständeordnung besonders klar zu sehen ist,105 einschließlich zahlreicher Untergliederungen, übrigens auch im städtischen Bereich, wie etwa die Rangordnung der Zünfte oder die Symbolik der Kleiderordnungen zeigen.106 Diese Gliederung beruhte ja auf älteren Grundlagen, 102 „Indeed, a major example of segmentation is provided by hierarchical systems of power and authority, in which each tier is explicitely subordinated to the tier above, but is equal within its membership.“ Douglas Rae, 1989: Equalities, 2. Aufl., 30. 103 Von großem Interesse: Barbara Frenz, 2000: Gleichheitsdenken in deutschen Städten des 12. bis 15. Jahrhunderts; ferner Gerhard Dilcher, 1996: Bürgerrecht und Stadtverfassung im europäischen Mittelalter; Otto Gerhard Oexle, 1996: Gilde und Kommune. Über die Entstehung von „Einung“ und „Gemeinde“ als Grundformen des Zusammenlebens in Europa, in: Peter Blickle, Hg., 1996: Theorien kommunaler Ordnung in Europa, 75–97. 104 Klassisch ist Georges Duby, 1978: Les trois ordres, ou l’imaginaire du féodalisme; dt. Ausg., 1981: Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus. S. auch, unabhängig von Duby, Otto Gerhard Oexle, 1978: Die funktionale Dreiteilung der Gesellschaft bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit, in: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 12, 1–54. 105 Hierzu hervorragend: Otto Gerhard Oexle, 1998: Die funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters, in: Schulze, Hg.: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, 19–51. Diese Studie greift weit in die Frühe Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert hinein. 106 Detailreich: Liselotte Eisenbart, 1962: Kleiderordnungen der deutschen Städte zwischen 1350 und 1700. Die Bedeutung der Kleiderordnungen für die stadtständischen Gliederungen vorzüglich zusammenfassend: Jürgen Kocka, 1990: Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800, 112–115.
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wie man in dem ganz wunderbaren Buch „Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts“ von Heinrich Fichtenau, einem der großen Werke der Mediävistik im 20. Jahrhundert, nachlesen kann. Sein Kapitel „Ordnung als Rangordnung“ bietet mit der – bei Tocqueville beiseitegelassenen – Einbeziehung der kirchlichen Ordnungen einschließlich der durch die Kirche vermittelten römischen Rangvorstellungen eine großartige Einführung in den gegliederten Kosmos des lateinischen Europa.107 Zur Darstellung der Gliederung der sozialen Welt wurden immer wieder Körpermetaphern herangezogen, die sich auf eine bekannte Bibelstelle, den ersten Brief des Paulus an die Korinther (Kap. 12, 12-31) berufen konnten. Von Interesse ist, dass auch die unteren, die „dienenden“ Stände dank der Körpermetapher ihren Platz in der Sozialordnung fanden: als „pedes rei publicae“, als „Füße des Staates“.108 Allerdings ist hier ein Einschub erforderlich: England. In England gab es „eine Vermischung der Stände“, die sich „sonst nirgendwo“ findet. Sie beruhte vor allem darauf, dass der niedere Adel in England „früh den kriegerischen und feudalen Charakter abgestreift und sich weitgehend mit den wohlhabenden Elementen der nicht ritterlichen Freisassen und des städtischen Bürgertums vermischt hat“.109 Sie waren gemeinsam im „Lower House“ des englischen Parlaments vertreten, während die beiden oberen Stände, die hohe Geistlichkeit und der Hochadel, im „Upper House“ versammelt waren. Diese breite Vertretung sollte dem Unterhaus schon ab der frühen Mitte des 17. Jahrhunderts eine dominante Stellung bescheren. Auf 107 Fichtenau 1984, 11–47. Zur frühzeitigen Entwicklung hierarchischer Strukturen in der christlichen Kirche – aus unterschiedlichen, teils religiösen, teils historischen Gründen, s. u. a. Rilinger 2007 (1995); Otto Gerhard Oexle, 1984: Tria genera hominum. Zur Geschichte eines Deutungsschemas der sozialen Wirklichkeit in Antike und Mittelalter, in: Lutz Fenske et al.: Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein, 483–500 (zur Entstehung der Dreiheit Laien – Klerus – Mönchstum); Bernhard Jussen, 2000: Der Name der Witwe. Erkundigungen zur Semantik der mittelalterlichen Bußkultur, bes. 61–80 zur Entwicklung des auf Hieronymus zurückgehenden hierarchischen Dreierschemas der „moralischen Klassifikation“: an höchster Stelle virginitas, an zweiter Stelle viduitas und erst an dritter Stelle die Ehe (nuptiae). 108 Hierzu Tilman Struve, 1978: Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter, bes. 130–131; ders., 1983: Pedes rei publicae. Die dienenden Stände im Verständnis des Mittelalters, in: Historische Zeitschrift, Bd. 236, 1–48, hier 37, Hinweis darauf, dass im „Policraticus“ des John of Salisbury (1159) das seinen Untertanen seinen Schutz angedeihende Staatswesen gleichsam „beschuht“ sei. 109 Otto Hintze, 1962a (1930): Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes, in: Ders.: Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hg. v. Gerhard Oestreich, 2. erw. Aufl., 128.
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die weiteren Folgen dieser englischen Sonderentwicklung, auch für die englischen Kolonien in Amerika, wird im nächsten Kapitel zurückzukommen sein. Ein letztes Mal zurück zu Tocquevilles Kette „vom Bauern zum König“: Sie führt uns noch weiter. Sie ist lediglich Teil einer viel längeren Kette, der „großen Kette der Wesen“ oder der „großen Kette des Seins“ – „The Great Chain of Being“ –, wie ihr wichtigster Erforscher, Arthur Lovejoy, seine Vorlesungen an der Harvard University 1933 und sein darauffolgendes Buch von 1936 benannt hat.110 Alexander Popes „Essay on Man“ von 1733–35, mit vielen Variationen das Thema der „vast chain of being“ ausführend, bietet die bekannteste und literarisch ansprechend ste Form einer fast eineinhalb Jahrtausende früher entwickelten Denkform zur Erklärung der Weltordnung.111 Neuplatonischen Ursprungs, auf den im dritten Jahrhundert lebenden Platoniker Plotin zurückgehend, bedeutete die Kette den ununterbrochenen, aber hierarchisch absteigenden und wieder aufsteigenden Zusammenhang aller intelligiblen und vorstellbaren geistigen Wesen, aller Naturwesen – belebt, wie der Mensch, oder auch unbelebt, nicht nur mit dem kleinsten Wurm, sondern auch mit dem kleinsten Stein oder Sandkorn – unterhalb eines unerkennbaren obersten „Einen“, des platonischen Gottes. „Et lapis est“ – „Auch der Stein ist“, hat Augustinus geschrieben.112 In der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts rezipierte und christianisierte Augustinus die Plotin’schen Ideen, an die Stelle des höchsten „Einen“ trat der christliche Gott.113 Die Welt wird als „Stufenreich“ begriffen, „gradibus ordinare“, die Welt in Stufen ordnen – so wird die göttliche Schöpfungstätigkeit gesehen.114 In der abgestuften Seinsordnung „gewinnt auch das Böse keinen eigenen ontologischen Stand; es ist nur im freien Handeln des Menschen durch Abwendung von dem, was in ihm jeweils verwirklicht wer-
110 Arthur O. Lovejoy, 1936: The Great Chain of Being: dt. Übers. (sehr spät erfolgend!) 1993: Die große Kette der Wesen. Douglas Rae 1989, 159, Anm. 21 weist auf den Zusammenhang dieser „great chain of being“ und dem von ihm entwickelten System der „segmented equalities“ hin. Lovejoys Werk ist in der bereits genannten Arbeit von Oexle 1988, „Stand“ im lateinischen Europa, soweit ich sehe, nicht rezipiert. 111 Alexander Pope, 1950 (1734): An Essay on Man, „Twickenham edition“, bearb. v. Maynard Mack, (Nachdruck 1993), bes. Epistle I, section VIII („vast chain of being“, Zeile 235, 44). 112 Augustinus, 1962: De libero arbitrio, II, 22 [iii,7], in: Augustinus, Theologische Frühschriften, lat.-dt. Ausgabe, übers. u. erläutert von Wilhelm Thimme, 116. 113 Vgl. hierzu Dann 1980, 57. 114 Zur Verbindung der neuplatonischen (Plotin’schen) und christlichen Vorstellungen vorzüglich Josef Rief, 1962: Der Ordobegriff des jungen Augustinus, hier 132, sowie Werner Beierwaltes, 1998: Platonismus im Christentum, bes. 52–53.
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den soll, denkbar und ermöglicht“.115 Es ist dies die am längsten, weit bis ins 18. Jahrhundert und in der Schultheologie länger wirkende Theodizee der christlichen Welt geworden. Wiederum mehr als hundert Jahre später, um 500, griff ein bis heute nicht identifizierter griechisch schreibender Schriftsteller die neuplatonische Idee des abgestuften, aber nunmehr unter der Herrschaft des christlichen Gottes stehenden Universums neuerlich auf. Dieser Schriftsteller nannte sich Dionysius Areopagita und gab vor, jener Athener und Zeitgenosse des heiligen Paulus zu sein, von dem in der Apostelgeschichte berichtet wird, er habe sich, nachdem er die Rede des Paulus auf dem Areopag in Athen gehört hatte, den Christen angeschlossen. Erst im 15. Jahrhundert hat Lorenzo Valla die Fälschung der Zeitangaben entdeckt, und man spricht seither vom „Pseudo-Dionysius“. Dieser ist der Erfinder des Wortes „Hierarchie“. Zusammengesetzt aus den Worten „hierós“ – heilig“ und „archḗ – Herrschaft“ bezieht sich Hierarchie im irdischen Bereich der christlichen Gemeinde in absteigender Stufung auf die Dreiheit von Sakramenten (als Gegenwart des Göttlichen), den Bischof als Leiter der Gemeinde und Verwalter der himmlischen Güter und die Laien. Im himmlischen Bereich handelt es sich in erster Linie um die Rangstufen der neun verschiedenen Chöre der Engel, die zu Untergruppen von je drei zusammengefasst sind.116 Gut 800 Jahre später nennt Dante in der Göttlichen Komödie, im Canto 29 des „paradiso“, Dionysius als Quelle für seine Rangordnung der neun Engelschöre.117 Ein interessanter Vergleich der Hierarchie der neun Engelschöre (unter ausdrücklichem Bezug auf Dionysius) mit rangmäßig abgestuften weltlichen Funktionsträ115 Beierwaltes 1998, 52. 116 Pseudo-Dionysius Areopagita, 1986: Über die himmlische Hierarchie. Über die kirchliche Hierarchie. Eingeleitet, übers. und mit Anmerkungen versehen von Günter Heil; s. a. Paul Rorem, 1993: Pseudo-Dionysius. A Commentary on the Texts and an Introduction to their Influence, bes. 57–58. Aus der zahlreichen Literatur insbes.: Ronald F. Hathaway, 1969: Hierarchy and the Definition of Order in the Letters of Pseudo-Dionysius. Hathaway betont stark die neuplatonische Herkunft der Vorstellungen des Dionysius. Vorzüglich zusammenfassend Rilinger 2007 (1995), 220–222. Auf die enorme Bedeutung des Dionysius im Mittelalter verweist Oexle 2011, 317. Im neunten Jahrhundert wurde durch den irischen Gelehrten Johannes (Scottus) Eriugena, der die Übersetzung des Werks des Dionysius ins Lateinische neu bearbeitete, „dem mittelalterlichen Westen das neuplatonisch-mystische, spekulative Denken vermittelt“. Kaiser 2014, 319–320. 117 Dante, Paradiso, Canto 28, Zeilen 97–126 sowie 130–135. Verwendet wurden: Dante, 2011: Commedia, in deutscher Prosa von Kurt Flasch, 3. Aufl., sowie Dante Alighieri, 1956: Die göttliche Komödie, italienisch und deutsch, übertragen von August Vezin. S. ferner den Kommentar in: Kurt Flasch, 2011: Einladung, Dante zu lesen, 3. Aufl., 134, 139, 210.
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gern im Dienst eines Königs findet sich, nur wenige Jahrzehnte vor Dante, in der „Legenda aurea“ des Dominikaners Jacobus de Voragine.118 In der Gegenwart sind die neun Chöre der Engel in weite Ferne gerückt; in Wien gibt es allerdings die Kirche am Hof „Zu den neun Chören der Engel“. Nahe Thörl-Maglern in Kärnten vor der italienischen Grenze bei Tarvis steht die Pfarrkirche St. Andrä von Thörl mit einem grandiosen Fresko des Meisters Thomas von Villach aus dem späten 15. Jahrhundert. Der gekreuzigte Christus, ihm zur Rechten das Paradies, ihm zur Linken die Hölle schließt mit dem zu einer Hand verwandelten oberen Kreuzesbalken das Tor zum himmlischen Jerusalem und zu den neun Chören der Engel auf.119 Thomas von Aquin hat in seiner Summa theologica von den Abstufungen (gradus) der Schau Gottes im Himmel gesprochen: „Die höchste Wahrheit wird von allen Seligen in verschiedenen Stufen geschaut“ – der größten Gottesliebe im irdischen Leben und dem größten Verdienst (im Glauben) werde der höchste Lohn zuteil.120 Dantes Göttliche Komödie hat bekanntlich einen streng symmetrischen dreiteiligen Aufbau – Inferno, Purgatorio und Paradiso, stufenmäßig in Kreise oder Sphären geteilt. Abstufungen bestimmen also auch die Struktur des Jenseits. Es gab ja die Mehrzahl von übereinandergelagerten Himmelsschalen, die schon bei Aristoteles zu finden sind. Die Mehrzahl der Himmel ist uns ganz fremd geworden, außer in der Rede vom „siebenten Himmel“; es gab sie in verschiedenen Varianten. Ein englischer Pfarrer in Kent hat im Jahr 1543 von drei Himmeln gesprochen, einen für die Großen, einen für Leute mit knapp bemessenen Mitteln und einen für die sehr Armen.121 Noch heute wird in manchen Sprachen im Vaterunser von 118 Jacobus de Voragine, 1993: Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz, 11. Aufl., 746. S. auch Michel Vovelle, 1983: La mort et l’occident de 1300 à nos jours, 61. 119 Hiezu s. bereits Stourzh, „Menschenrechte und Genozid“, in: Ders., 2009: Spuren einer intellektuellen Reise, 118 (mit Schwarz-weiß-Aufnahme 119). Ausführlich Friedrich Zauner, 1980: Das Hierarchienbild der Gotik. Thomas von Villachs Fresko in Thörl. 120 „Quia summa veritas ab omnibus beatis secundum diversos gradus conspicitur“ (meine Hervorhebung). Thomas von Aquin, 1952: Summa theologiae, Petrus Caravello, Hg.: Pars prima, quaestio LXII, articulus 9 (I, 62:9), edizione Marietti, Bd. 1, 304. Zu dieser Stelle: Bernhard Lang/Colleen McDannell, 1996: Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens, 130. S. auch David E. Luscombe, 1988: Thomas Aquinas and Conceptions of Hierarchy in the Thirteenth Century, in: Albert Zimmermann, Hg.: Thomas von Aquin. Werk und Wirkung im Licht neuerer Forschungen, 261–277, bes. 271. 121 Keith Thomas, 1971: Religion and the Decline of Magic, 152.
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„den Himmeln“ gesprochen – im Griechischen, Lateinischen, Italienischen und Französischen („Notre père qui es aux cieux“!). Der schweizerische Historiker Richard Feller hat in seiner Geschichte der Stadt Bern geschrieben, in der Vormoderne sei der Einzelne „vom Erwerb des täglichen Brots und des ewigen Heils so beansprucht“ gewesen, „dass er politische Rechte nicht vermisste“.122 Man muss wohl hinzufügen: mit dem Erwerb des ewigen Lebens oder eben dessen Nicht-Erwerb, nämlich mit der Sorge um die ewige Verdammnis.123 Der französische Historiker Pierre Chaunu hat bemerkt, dass im europäischen Mittelalter die Todesangst weniger real gewesen sei als die Angst vor der ewigen Verdammnis.124 In meiner Gegenüberstellung von neuem und altem Paradigma kommt es mir darauf an, Folgendes hervorzuheben: Wie eine Rückbesinnung auf Dante zeigt, war das in Stufungen vorgestellte Jenseits viel farbiger und vielfältiger, auch viel bevölkerter, als es, wie ich vermute, in den meisten Vorstellungen seit dem späteren 19. Jahrhundert und besonders im 20. und 21. Jahrhundert aussieht. Über „Klassen und Hierarchien im Jenseits“ hat der österreichische Historiker Peter Dinzelbacher einen hervorragenden Überblick vorgelegt. Von besonderem Interesse ist eine – seltene – Höllenhierarchie in drei Abstufungen, die im tiefsten Bereich die sündigen Christen – die ja Verrat an der ihnen gewährten Offenbarung Gottes geübt hatten! –, im mittleren Bereich die Juden und im obersten Bereich die Heiden zeigt.125 Die Vielzahl und Vielfalt der Geistwesen zwischen Gott und den Menschen, der Engel, aber auch zwischen dem Teufel und den Menschen, der Dämonen, sind inzwischen verblasst. Gleiches gilt vom Fegefeuer, aber vor zwei Jahrhunderten war es anders. Ich bin von einer Quel122 Richard Feller, 1953: Geschichte Berns, Bd. II, 18. 123 Einen hervorragenden Überblick bietet Peter Jezler, Hg., 1994: Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter. Katalog der Ausstellung des Schweizerischen Landesmuseums Zürich. 124 Erwähnt bei Alois Hahn, 2002: Tod und Sterben in soziologischer Sicht, in: Jan Assmann/ Rolf Trauzettel, Hg.: Tod, Jenseits und Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie, 64. Vgl. Pierre Chaunu, 1978: La mort à Paris. XVIe, XVIIe et XVIIIe siècles, 137 sowie 141. Chaunu, darin Ariès folgend, betont die Zunahme des Weltgerichtsthemas und des richtenden Christus in der Ikonografie seit dem 13. Jahrhundert, ebd. 118. Umfangreiches auch ikonografisches Material findet sich bei Peter Dinzelbacher, 1996: Angst im Mittelalter. Teufels-, Todes- und Gotteserfahrung; Mentalitätsgeschichte und Ikonographie. Erstaunlicherweise ganz ausgeklammert ist das Thema der Höllenangst in dem rezenten Buch von Karl Brunner, 2012: Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters. 125 Peter Dinzelbacher, 1979: Klassen und Hierarchien im Jenseits, in: Albert Zimmermann, Hg.: Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters (Miscellanea medievalia, Bd. 12), 1. Halbband, 20–40, hier 32.
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Abbildung 1: Verdammte, einschließlich eines Königs, eines Bischofs und eines Mönchs, die nach dem Jüngesten Gericht in die Hölle gezogen werden. Nordtor der Kathedrale von Reims, etwa 1220– 1230.
le, die auf das Fegefeuer Bezug nimmt, beeindruckt. Andreas Hofer hat wenige Stunden vor seiner Hinrichtung in Mantua am 20. Februar 1810 seinen letzten Brief an seinen Freund Vinzenz von Pühler geschrieben. Darin bat er, „alle hier noch lebenden guten Freunde sollen für mich bitten und mir aus den heißen Flammen helfen, wenn ich noch im Fegefeuer büßen muss.“126 Wie ein Blick in Dantes Inferno zeigt, hatten dort viele in dieser Welt hochmögende Personen, von Kaisern und Päpsten angefangen, einen Platz zugewiesen bekommen. Auch Darstellungen des Jüngsten Gerichts oder der Hölle in der bildenden Kunst zeigen das Leiden ehemals Großer und Mächtiger. Unsere Illustration zeigt ein Relief über dem Nord-Tor der Kathedrale von Reims mit einem König, einem Bischof und einem Mönch auf dem Weg in die Hölle. Die Umkehr oder zumindest Teilumkehr der ständischen Ordnung im Jenseits mag manchen in diesem Leben malträtierten Menschen eine Genugtuung gewesen sein.127 126 Karl Paulin, 1996: Andreas Hofer, 105 (im tirolerischen Original, 104). 127 Da in zahlreichen Höllendarstellungen die Verdammten nackt sind, sind Kennzeichen
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Ein gewaltiges, seit Augustinus und in der frühen Neuzeit nochmals aktualisiertes Thema war jenes der „massa perditionis“ oder „massa damnationis“. Das Bibelwort „viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt“ wog schwer, insbesondere seit Augustinus ab der Mitte seines Lebens eine ausschließlich auf göttliche Prädestination gestützte „Gnadenlehre“ – eigentlich eine „Sündenlehre“ – ent wickelte. Augustinus (354–430) hat sich erst ab 396/97 mit seiner Schrift „De diversis quaestionibus ad Simplicianum“ einer starren Prädestinationslehre zugewendet, wonach die Seligkeit (für wenige) und die Verdammnis (für viele) ausschließlich vom unerforschlichen Ratschluss Gottes abhingen. 128 Die an die zwei Jahrhunderte ältere Vorstellung des griechischen Kirchenvaters Origenes von der „Apokatástasis tōn pántōn“, der schließlichen Reinigung und Erlösung aller, auch der Höllenbewohner, wurde 543 und später als häretisch verurteilt.129 Augustinus wandte sich ab etwa 396/97 der Lehre zu, dass die Mehrzahl aller Menschen (ja sogar der Christen) der ewigen Verdammnis anheimfalle und nur eine kleine Schar der Auserwählten der ewigen Seligkeit teilhaftig werde. Diese Lehre hat aus der Liebesreligion des Christentums durch Jahrhunderte eine Religion der Angst gemacht. Ich entnehme einer rezenten Einführung in die christliche Eschatologie die Schlussfolständischer Zuordnungen nicht so häufig zu finden. Diese Illustration findet sich auch in: Robert Hughes, 1968: Heaven and Hell in Western Art, 187. Ein ähnliches Motiv im Relief des Weltgerichts im Bamberger Dom, in: Jezler 1994, 13. Allerdings sind nackte Verdammte manchmal an einer Kopfbedeckung oder an Tonsuren zu erkennen. 128 Hierzu insbesondere: Kurt Flasch, 1995: Logik des Schreckens. Augustinus von Hippos De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2, 2. verbesserte Aufl. mit Nachwort; ders., 2003: Augustin. Einführung in sein Denken, 3. bibliografisch erg. Aufl. Vorzüglich das der Schrift „Ad Simplicianum“ gewidmete Kapitel in: Alberto Pincherle, 1988 (1980): Vita di Sant’Agostino, 154–163. S. auch Hermann Häring, 1979: Die Macht des Bösen. Das Erbe Augustins, bes. 200, 212–213. Peter Brown ist weniger kritisch als Flasch mit Bezug auf Augustins Prädestinationslehre; die „massa damnata“ wird nicht thematisiert. Ich kann mich seiner Ansicht nicht anschließen. Peter Brown, 2000: Augustin of Hippo. A Biography. New Edition with an Epilogue, 146–148 sowie bes. 497, 517. 129 Zu Origenes (ca. 185/86–253/54) v. a. Christoph Markschies, 2007: Origenes und sein Erbe. Gesammelte Studien. Zu Vorläufern und Nachfolgern vgl. Herbert Vorgrimler, 1993: Geschichte der Hölle, 95–99; zur „Apokatástasis“ mit zahlreichen Hinweisen s. Alfons Fürst, 2011: Von Origenes und Hieronymus zu Augustinus. Studien zur antiken Theologiegeschichte, 144–146, 166–176; zur Verurteilung des Glaubens an eine Nicht-Ewigkeit der Höllenstrafen erstmals durch ein Edikt Justinians (darin das 9. Anathema), das 543 von der Synode von Konstantinopel bestätigt wurde, und weiteren Verurteilungen durch vier ökumenische Konzilien bis ins neunte Jahrhundert: Chaunu 1978, 127. Zu einer Wiederaufnahme der Apokatástasis-Lehre an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert s. u., Anm. 148.
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gerung für das Mittelalter: „Das Heil ist die außerordentliche Gnade Gottes, die Hölle das gewöhnliche Schicksal. Die Höllenangst wird damit zur dominierenden Existenzerfahrung.“130 Ein berühmtes Gemälde, das sogenannte „Danziger Jüngste Gericht“ des Hans Memling (entstanden um 1467–1471), zeigt, von Johannes Fried eindrücklich beschrieben,131 wie sich „die wenigen Geretteten“ dem Paradies zuwenden, während die „Masse der Verdammten“ in die ewige Verdammnis stürzt. Die Höllenangst begann sich im Laufe des zwölften Jahrhunderts zu intensivieren und erreichte im 14. Jahrhundert, dem schrecklichen Jahrhundert der Pest und der Pogrome,132 einen Höhepunkt, ging jedoch über das 14. und 15. Jahrhundert – trotz der großartigen, aber doch an eine Elite gebundenen Bewegungen der Renaissance und des Humanismus – in die ersten beiden frühneuzeitlichen Jahrhunderte über, die Jahrhunderte der Konfessionalisierung und der Religionskriege; auch, so sei hinzugefügt, in das Zeitalter der Judenaustreibung in Spanien (1492) und der von der Inquisition betriebenen Verfolgung der „conversos“, der zwangs- und angstgetauften Juden und Muslime (zeitverschoben auch in Portugal). Auch in Luthers Schriften ist die „massa perditionis“ präsent. In der gegen Erasmus gerichteten Schrift De servo arbitrio (Vom unfreien Willen) schreibt Luther, es sei „die höchste Stufe des Glaubens, zu glauben, dass der, welcher so wenige rettet 130 Johanna Rahner, 2010: Einführung in die christliche Eschatologie, 272. Der Prediger Johannes Herolt (gest. 1468) berechnete, dass auf 30.000 Tote nur zwei Selige und drei Kandidaten für das Fegefeuer zu zählen sind. Die restlichen 29.995 fahren zur Hölle. Ebd., 272, Anm. 5. Zur massa perditionis vor allem Jean Delumeau, 1983: Le péché et la peur (Neuaufl.1994), Kap. 9, „La masse de perdition et le système du péché“, 315–338. Zur Ungewissheit des Heils und der Wahrscheinlichkeit der Verdammnis mit daraus folgenden Bemühungen zur Milderung, wie Fürbittengebete für Verstorbene und die (langsame) Entstehung des Fegefeuerglaubens: Philippe Ariès, 2005: Geschichte des Todes, 11. Aufl. 196–197. Zur Steigerung der Höllenangst vor allem im 14. und 15. Jahrhundert, fortdauernd bis ins 17. Jahrhundert trotz der „entlastenden“ Funktion des Fegefeuers s.besonders Vovelle 1983, 133 ff. Vovelle spricht von einer „Pastoral der Angst“ (ebd., 146 und 313). Die Reformation nimmt den Protestanten, vor allem den der Prädestinationslehre verpflichteten Calvinisten (vgl. ebd. 307) zwei „mildernde“ Instrumente des Katholizismus: das Fegefeuer und die Interzession der Muttergottes (Schutzmantelmadonna!). Zur ganz wichtigen Rolle der Muttergottes als Fürsprecherin s. Jean Delumeau, 1989: Rassurer et protéger. 131 Johannes Fried, 2008: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur, 471 (auf S. 470 eine Abbildung des Memling-Altars). 132 Hierzu Barbara Tuchmann, 1987: Der ferne Spiegel – das dramatische 14. Jahrhundert (engl. Ausg., 1978: „A Distant Mirror“); zur Höllenangst ebd. 46–47: „Im Mittelalter bezweifelte niemand, dass die Mehrheit der Menschen auf ewig verdammt sei.“ Für den Hinweis danke ich Helene Maimann.
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und so viele verdammt, gnädig ist“.133 Noch bis ins späte 18. Jahrhundert gibt es Äußerungen von katholischen Theologen und Geistlichen, die die Überlieferung der massa perditionis bejahen, manche selbst voller Verzweiflung und Angst.134 Erstmals wagt es ein italienischer Jesuit, Giuseppe Gravina, im Jahr 1762 einen Text zu schreiben, wonach der größere Teil der Menschheit gerettet werden wird. Die Publikation wurde 1772 von der Index-Congregation verurteilt.135 Ein großer Theologe des 20. Jahrhunderts, Karl Rahner, hat nach dem II. Vaticanum rückblickend bitter Augustinus kritisiert: „Augustinus hat eine Betrachtung der Weltgeschichte inauguriert und sie die Christenheit gelehrt, in der aus der Unbegreiflichkeit der Verfügung Gottes heraus die Weltgeschichte die Geschichte der ‚massa damnata‘ blieb, aus der letztlich nur wenige durch eine selten gegebene Auserwählungsgnade gerettet wurden.“136 Wieder aus Jenseitsvorstellungen und die gesamte Weltordnung betreffenden Reflexionen ins Diesseits zurückkehrend, zeigt sich, wie sehr dieses vom 14. bis ins 17. und teilweise noch ins 18. Jahrhundert von Dämonen, Hexern und Hexen bevölkert war. Der Glaube an Satan und seine Handlanger, die Dämonen, war keineswegs auf die Angst vor der Verdammnis im Jenseits beschränkt, die Angst bezog sich auch auf Satan und seine Handlanger im Diesseits. Der französische Kirchenhistoriker Jean Delumeau hat 1978 ein zweibändiges Werk unter dem Titel „De la peur en occident (XIVe à XVIIIe siècles)“ veröffentlicht, das 1985 in deutscher Übersetzung erschienen ist: „Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts“. Delumeau schreibt: „Eine unglaubliche Furcht vor dem Teufel begleitete die Heraufkunft der Moderne in Westeuropa“.137 Und er betont: „Die gewalttätigen Auseinandersetzungen, die Europa in den ersten Jahrhunderten der Moderne mit Blut besudelten, entsprachen 133 Angaben zur „massa perditionis“ bei Gerhard Ebeling, 1997: Luthers Seelsorge, 482. Für den Hinweis danke ich Michael Bünker. Zitat aus „De servo arbitrio“ („... qui tam paucos salvat, tam multos damnat“): Martin Luther, 1908: Werke, Weimarer Ausgabe, Bd. 18, 633. Übersetzung bei: Werner Otto, 1998: Verborgene Gerechtigkeit, 254 134 Delumeau 1983, 319 (Bischof von Vence 1788). 135 Ebd., 320. Gravina fügte als Herausgeber eines 1762 posthum veröffentlichten Werkes seines älteren Mitbruders Benedetto Plazza „Dissertatio anagogica, theologica, paeranetica de paradiso“ eine Einleitung und mehrere Kapitel hinzu, darunter auch „De Electorum Hominum Numero respectu Hominum Reproborum“ (= Pars III, Caput V, 519–694). 136 Karl Rahner, 2013: Die bleibende Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils, in: Karl Rahner: Sämtliche Werke, Bd. 21/2, 966–967. 137 Jean Delumeau. 1985: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, 2 Bände, Bd. 2, 358.
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dem Ausmaß einer Angst, die man damals vor dem Teufel, seinen Agenten und seinen Schachzügen empfand.“138 Im Jahr 1580 veröffentlichte Jean Bodin, einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Neuzeit, der Begründer der Souveränitätslehre, sein Buch „De la démonomanie des sorciers“. Es erreichte in 20 Jahren 20 Auflagen und wurde in vier Sprachen übersetzt.139 Ein Mann mit hervorragendem Intellekt wie Bodin war bedingungsloser Anhänger des Dämonen- und Hexenglaubens; es ist gezeigt worden, wie sehr dieser Glaube mit Bodins Einbindung in die bereits besprochene neuplatonische und mit Augustinus christianisierte Vorstellung der „großen Kette des Seins“ zusammenhängt, in der das Böse Teil der vom höchsten Wesen – von Gott – geschaffenen „guten“ Weltordnung ist. Sprachlich beinahe identische Darstellungen dieser abgestuften, die Notwendigkeit des Bösen einschließenden Weltordnung finden sich sowohl am Ende der „Six livres de la république“ als auch zu Beginn der „démonomanie des sorciers“.140 Die besondere Bedeutung des „Bösen“ von der Mitte des 15. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hängt eng mit einer intensivierten Augustinus-Rezeption in diesen Jahrhunderten zusammen, sie sind als „Augustinian moment“ in der europäischen Geschichte bezeichnet worden, ja, man hat vom „augustinischen Europa“ dieser Jahrhunderte gesprochen, vor und auch nach der Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts.141 Ein bedeutender Autor, Charles Taylor, hat gar von der „hyper-augustinian position“ im postreformatorischen katholischen und protestantischen (besonders calvinischen) Bereich gesprochen, der zufolge nur eine kleine Minderheit gerettet werde.142 Die Frage stellt sich: Warum „hyper-augustinian“? „Augustinian“ genügt.143 Doch zurück zu den zeitgenössisch beschriebenen Handlangern des Bösen. Wo fanden sich die Handlanger Satans? Die Titel dreier Kapitel in Delumeaus Werk erschrecken: „Die Agenten Satans I: Götzendiener und Muselmanen. Die Agenten Satans II: Der Jude, das absolut Böse. Die Agenten Satans III: Die Frau.“ Zum letzten Punkt zwei Äußerungen Jean Bodins: Die Frau ist „der Pfeil Satans“ und „die Wächterin der Hölle“.144 Das Quellenmaterial Delumeaus ist reichhaltig, viele 138 Ebd., 386. 139 Von großem Interesse das Kapitel „Bodin’s Political Demonology“ in dem bedeutenden Werk von Stuart Clark, 1997: Thinking with Demons. The Idea of Witchcraft in Early Modern Europe, 668–682. 140 Ebd., 677. 141 A. D. Wright, 2005: The Counter-Reformation. Catholic Europe and the Non-Christian World, 3–11, hier bes. 5. u. 6. 142 Charles Taylor, 2007: A Secular Age, 105. Vgl. ebd. 227. 143 Ebd., 231. 144 Delumeau 1985, 387–510, Zitate 493.
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Fakten, vor allem den Anti-Judaismus und den Hexenwahn betreffend, sind wohlbekannt. Hervorheben möchte ich lediglich die Idee des „Teufelspaktes“, also des freiwilligen Vertrags eines Menschen mit dem Teufel, dessen angebliches Vorhandensein den der Hexerei Angeklagten immer wieder durch die Folter herausgepresst wurde. Die Willfährigkeit juristischer Fakultäten bei Gutachten zum Verbrechen der Zauberei, fallweise noch bis ins 18. Jahrhundert reichend, ist ein übles Kapitel der Rechtsgeschichte. Einschlägige Gutachten der Universitäten Tübingen und Helmstedt aus den Jahren 1713 und 1714 liegen vor; noch ein Jahrzehnt später verkündete der Hallenser Jurist Johann Gottlieb Heineccius, ganz im Gegensatz zu seinem den Hexenwahn unentwegt bekämpfenden Kollegen Christian Thomasius, dass das Bündnis mit dem Teufel mit der Strafe des Lebendig-Verbranntwerdens zu bestrafen sei.145 Doch sei auch an einen frühzeitigen Bekämpfer der Hexenverfolgungen erinnert, den Arzt Johann Weyer (1515 oder 1516–1588), der in seinem Werk „De praestigiis daemonium“ (Vom Blendwerk der Dämonen, 1563) vor allem die Nichtigkeit von vorgeblichen Teufelspakten darlegte.146 Die letzten Hexenprozesse fanden 1775 in Kempten (Hinrichtung ausgesetzt), 1782 im Kanton Glarus und 1793 in Posen statt (Hinrichtungen stattgefunden).147 Erst nach dem Abbau eines Meinungsklimas, in dem Teufelspakte Gegenstand von Strafverfahren sein konnten – auch die Hexenprozesse von Salem fanden erst 1692 statt!–-, ja, überhaupt mit dem Abklingen des Glaubens an die Zweiteilung der Menschen in ewig Selige und ewig Verdammte148 – also erst nach dem Durch145 Georg Schwaiger, 1999: Das Ende der Hexenprozesse im Zeitalter der Aufklärung, in: Ders., Hg.: Teufelsglaube und Hexenprozesse, 4. Aufl., 164–165. 146 Zu Weyer mehrere Beiträge in: Hartmut Lehmann/Otto Ulbricht, Hg., 1992: Vom Unfug des Hexen-Processes. Gegner der Hexenverfolgungen von Johann Weyer bis Friedrich Spee; darin insbesondere H. C. Erik Midelfort: Johann Weyer in medizinischer, theologischer und rechtsgeschichtlicher Hinsicht, 53–64. 147 Schwaiger 1999, 176–178. 148 Vgl. D. P. Walker, 1964: The Decline of Hell, sowie das hervorragende Werk von Heinz D. Kittsteiner, 1991: Die Entstehung des modernen Gewissens, insbesondere der Abschnitt „Die Abschaffung der Hölle“, 101–156. Kittsteiner zeigt u. a., wie eine Wiederbelebung der Apokatástasis-Lehre des Origenes Anfang des 18. Jahrhunderts zur Widerlegung der Lehre der ewigen Verdammnis und der „massa damnata“ herangezogen wurde. Aus dieser Lehre würde nämlich folgen, wie der Pietist Johann Wilhelm Petersen 1710 schrieb (Originalschreibweise beibehalten), dass das Böse ,,nach der gemeinen Lehre von der unendlichen Verdammnis eben so starck, und mächtig wäre als das Gute, ja daß es stärker wäre, als Christus, weil mehr in der Verdammnis blieben, als durch ihn wären wiedergebracht worden“. Zit. bei Kittsteiner, 1991, 138, aus dem dreibändigen Werk von Johann Wilhelm Petersen: Mystḗrion apokatastáseōs pántōn, Offenbach 1700–1710, 3. Bd., 211. In den Nie-
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bruch der Aufklärung – war es vorstellbar, in der politischen Praxis jene Erweiterung menschlicher Selbstbestimmung ins Werk zu setzen, wie sie im Postulat der konstituierenden Gewalt des Volkes, in den Erklärungen allgemeiner Menschenrechte und im Prozess der Verfassungsgebungen in den amerikanischen Staaten und dann in Frankreich zum Ausdruck kam. Das Halbjahrhundert von etwa 1740 bis etwa 1790, auf dem europäischen Kontinent also das Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, verzeichnet etliche Ereignisse mit hohem Symbolwert, einige die Fortdauer des „ancien régime“ dokumentierend, andere das Heraufkommen von „Neuem“ ankündigend. Zu ersteren zählen zwei Hinrichtungen in Frankreich: 1757 die Hinrichtung des Königsattentäters Robert Damiens, die in ihrer Grausamkeit der Hinrichtung des Mörders Heinrichs IV., Ravaillac, 1610, entsprach und in der Darstellung von Michel Foucault weltberühmt geworden ist.149 Fünf Jahre später, 1762, führte der noch unentschärfte Konfessionskonflikt zur ebenfalls grausamen Hinrichtung des Protestanten Jean Calas in Toulouse, die aber nun ihrerseits Anlass für Voltaires „Traktat über die Toleranz“ von 1763, einer klassischen Schrift der Aufklärung, war.150 Und „Neues“ hatte schon früher eingesetzt. 1740 hatte Friedrich II. von Preußen die Folter, wenngleich zunächst noch mit einigen Ausnahmen, abgeschafft. Zwei bedeutende Schriften gegen die Folter erschienen 1764 bzw. 1775: Cesare Beccarias „Dei delitti e delle pene“ – „Über Verbrechen und Strafen“, sowie „Über die Abschaffung der Tortur“ des Österreichers Josef von Sonnenfels. 1776 wurde die Folter in Österreich abgeschafft; in Frankreich erfolgte ihre Abschaffung in zwei Stufen 1780 und 1788,151 Die Entschärfung konfessioneller Diskriminierungen ist in den Achtziger Jahren spürbar, in Österreich (Toleranzpatente Josefs II. 1781 für Protestanten und Orthodoxe, 1782 für Juden) und in Frankreich (Toleranzedikt von Versailles 1787 für Protestanten und Juden, für letztere in Lothringen und Elsaß nicht durchgeführt). Doch der eigentliche Durchbruch zur politisch-rechtlichen Moderne erfolgt mit den Paukenschlägen der amerikanischen und der französischen Revolution, 1776 und 1789.
derlanden führte der reformierte Geistliche und Cartesianer Balthasar Bekker unter vielen Drangsalen einen leidenschaftlichen Kampf gegen den Höllenglauben in dem Buch „De Betoverde Weereld“ (Amsterdam 1691); dt. Übers. „Die Bezauberte Welt, oder eine gründliche Untersuchung des allgemeinen Aberglaubens“, Amsterdam 1693. Hierzu: Jonathan Israel, 1995: The Dutch Republic. Its Rise, Greatness and Fall 1477–1806, 925–931. 149 Michel Foucault, 1975: Surveiller et punir. Naissance de la prison, 9-11. 150 Lynn Hunt, 2007: Inventing Human Rights, 70–75. 151 Zur Abschaffung der Folter wichtig Joas 2011, 73 u. ö., zu Beccaria ebd. 65-72.
IV.
Angleichungen. Wege zur modernen Isonomie
Der Beginn der politisch-rechtlichen Moderne, der Beginn dessen, was ich als Entwicklung zur Isonomie betrachte, zu isonomen Formen des Regierens und des individuellen Rechtsschutzes, ist symbolisch mit zwei rhetorisch mitreißenden und einen ungeheuren Erfolg erringenden Schriften zu markieren: in Nordamerika Tom Paines „Common Sense“ von 1776 und in Frankreich Emmanuel Sieyes’ „Was ist der dritte Stand – Qu’est-ce que le Tiers État?“ von 1789. Beide wurden zu Beginn des jeweiligen Revolutionsjahres veröffentlicht. Bei Paine steht der Ruf nach Unabhängigkeit und nach einer „kontinentalen“ und republikanischen Verfassung im Vordergrund, und er zeichnet ein grandioses Bild der Verfassungsproklamation. Die Verfassung – „charter“ – möge auf das Wort Gottes, die Bibel, gelegt werden. Auf beide sei eine Krone zu setzen, sodass die Welt wissen möge, dass, sofern die Amerikaner eine Monarchie billigen, in Amerika „das Recht König sei“ („that in America the LAW IS KING.“).152 In Frankreich, in der noch in drei Ständen organisierten Monarchie, proklamiert Sieyes die Souveränität der Nation, repräsentiert durch den Dritten Stand. „Was ist der Dritte Stand?“, fragt Sieyes und antwortet: „Nichts.“ – „Was soll er werden?“ – „Alles“.153 In Amerika wie in Frankreich stehen am Beginn der politischen Moderne zwei Themen im Vordergrund: 152 Thomas Paine, 1944 (1776), hier zit. nach der Edition von Harry Hayden Clark: Thomas Paine, Representative Selections, with Introduction, Bibliography and Notes, 3–44, hier 32–33. Man lese die mitreißenden Sätze: „Freedom hath been hunted round the globe. Asia and Africa have long expelled her. Europe regards her like a stranger, and England hath given her warning to depart. O receive the fugitive, and prepare in time an asylum for mankind.“ Ebd., 34. 153 Emmanuel Sieyes, 1970 (1789): Qu’est-ce que le Tiers État?, kritische Ausgabe, hg. von Roberto Zapperi. Der Name Sieyes wird richtig(er) ohne Akzent geschrieben. Albert Mathiez, 1925: L’orthographe du nom de Sieyes, in: Annales historiques de la Révolution française, Bd. 2, 487.
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Erstens: Die verfassunggebende Macht des Volkes – „the constituent power of the people“, „le pouvoir constituant“ der Nation154 – und zweitens: die Menschenund Bürgerrechte.155 In Amerika ist die republikanische Verfassungsgebung, abgesehen vom Krieg, das zentrale Thema der Jahre ab 1776 gewesen, wenn auch, mit einer religiös ganz anderen Situation, weniger emotionell als in Frankreich. Verstärkt wurde der amerikanische Verfassungsdiskurs durch die große Zahl der neu entstandenen Verfassungen zwischen 1776 und 1788 in elf von 13 Einzelstaaten156 und abschließend die Bundesverfassung 1787/88 mit umfangreichen Ratifikationsdebatten und auch aufgrund der Neuheit des Begriffs Republik. Leopold von Ranke hat in einem seiner historischen Vorträge für König Maximilian II. von Bayern im Jahre 1854 die Neuheit dessen, was in Nordamerika geschah, in diese Worte gekleidet: „Dadurch, dass die Nordamerikaner abfallend von dem in England gültigen konstitutionellen Prinzip eine neue Republik schufen, welche auf dem individuellen Rechte jedes einzelnen beruht, kam eine neue Macht in die Welt, denn die Ideen greifen alsdann am schnellsten um sich, wenn sie eine bestimmte, ihnen entsprechende Repräsentation gefunden haben. So kam in diese romanisch-germanische Welt die republikanische Tendenz.“157 In Frankreich hingegen führte der Durchbruch der Souveränität der Nation zunächst „nur“ zur Umwandlung der absoluten in eine konstitutionelle Monarchie, die erst 1792 von der sich zunehmend bis zur Hinrichtung des Königs radikalisierenden Republik abgelöst wurde. 158 154 Die „constituent power of the people“ ist das Hauptthema des weiterhin bedeutenden Werks von Robert R. Palmer, 1959 u. 1964: The Age of Democratic Revolution. A Political History of Europe and America 1760–1800, Bd. 1: The Challenge, und Bd. 2: The Struggle. Bd. 1 liegt auch in deutscher Übersetzung vor, 1970: Das Zeitalter der demokratischen Revolution. 155 Eine vorzügliche Überblicksdarstellung der amerikanischen und der französischen Revolution findet sich bei Heinrich August Winkler, 2009: Geschichte des Westens, Bd. I, Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, 259–310 sowie 315–367. Zu Winklers Werk s. unten, S. 64. 156 Hierzu das Werk meines früh verstorbenen Schülers Willi Paul Adams, 2001: The First American State Constitutions. Expanded Edition. Das Buch erschien zunächst in deutscher Sprache 1973 unter dem Titel: Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. 157 Leopold von Ranke, 1971: Über die Epochen der neueren Geschichte. Vorträge dem Könige Maximilian II. von Bayern gehalten, historisch-kritische Ausgabe, Theodor Schieder/ Helmut Berding, Hg., 415 (19. Vortrag vom 13. Oktober 1854; meine Hervorhebung). 158 Vgl. neuestens: Jonathan Israel, 2014: Revolutionary Ideas. An Intellectual History of the French Revolution from the Rights of Man to Robespierre.
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Wolfgang Schmale hat in einer brillanten Arbeit schon vor mehreren Jahren159 und neuerlich wieder in seinem Buch über das 18. Jahrhundert im Kapitel „Die Suche nach dem anderen Gott“ vielfältige Säkularisierungstendenzen im vorrevolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts untersucht und gezeigt, wie schrittweise eine Verlegung der „Suche nach existentieller Sicherheit und weltlichem Diesseits“ stattfand und wie zunehmend insbesondere das Streben nach einer „Verfassung“ einen immer zentraleren Platz in Publikationen, Diskussionen, Wünschen, Hoffnungen und Forderungen einnahm, ein Streben, das 1789 zu einem wahren „Verfassungsfieber“ – ein zeitgenössischer Ausdruck – führte. Im Zuge der Zivilkonstitution des Klerus 1790/91 und noch mehr der Entchristianisierung der Jahre 1793/94 erfolgte, wie Schmale sagt, geradezu eine Sakralisierung des Verfassungsdiskurses.160 Gleichwohl sollen christliche, ja geistliche Revolutionäre nicht ungenannt bleiben, wie Abbé Henri Grégoire, leidenschaftlicher Befürworter der Judenemanzipation und der Sklavenemanzipation. Weniger bekannt ist Claude Fauchet, der fünf Tage nach Annahme der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte predigte, dass die Gottheit durch den Menschen Jesus Christus Mitbürgerin der Menschheit sei! Bei anderer Gelegenheit sagte er, Jesus Christus sei für die Demokratie der Welt gestorben; die Aristokratie habe den Sohn Gottes gekreuzigt. Fauchet, für kurze Zeit konstitutioneller Bischof des Calvados, starb 1793 auf dem Schafott.161 Zum Hintergrund der Rechteerklärungen in Nordamerika einerseits, in Frankreich andererseits ist Folgendes zu bedenken:162 In Nordamerika gab es die aus dem englischen Mutterland übernommene Tradition der „Rights of Englishmen“. Diese gehen zwar nicht, wie es der Mythos will, auf die de facto an den Adel gerichtete Magna Charta von 1215 zurück, doch im 159 Wolfgang Schmale, 1988: Entchristianisierung, Revolution und Verfassung. Zur Mentalitätsgeschichte der Verfassung in Frankreich 1715–1794. 160 Wolfgang Schmale, 2012: Das 18. Jahrhundert, Kap.5, „Die Suche nach dem anderen Gott“, 241–288, insbes. 276–288. Ich verweise auch auf das frühere Werk von Wolfgang Schmale, 1997: Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der frühen Neuzeit. Ein deutsch-französisches Paradigma. 161 Zitate bei: Karl Dietrich Erdmann, 1949: Volkssouveränität und Kirche, 188. 162 Ich beziehe mich hier auf eine ausführlichere Darstellung im Kapitel „Zur Konstitutionalisierung der Individualrechte in der Amerikanischen und Französischen Revolution“, in: Stourzh 1989, 155–174. Ferner ders.: Constitution: Changing Meanings of the Term from the Early Seventeenth to the Late Eighteenth Century (1988) sowie Liberal Democracy as a Culture of Rights: England, the United States and Continental Europe (2000), beide wiederveröff. in: Ders., 2007: From Vienna to Chicago and Back, 80–99, 304–334.
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Lauf der Auseinandersetzungen zwischen dem Unterhaus und der Krone im 17. Jahrhundert wurde das Unterhaus immer wieder zum Sprecher der „Rechte der Engländer“, etwa in der „Petition of Right“ von 1628. Auch die Publizistik ab der Mitte des 17. Jahrhunderts betonte diese Rechte, besonders deutlich in dem 1669 erschienenen Werk „Angliae Notitia“ von Edward Chamberlayne, der acht „hereditary fundamental Liberties and Properties“ der Commons von England – noch zeigt die Formulierung eine ständische Sprache! – aufzählte. Im 18. Jahrhundert war die Stellung der „Commons“ so stark geworden, dass 1765 der bekannteste Jurist des Landes, William Blackstone, das erste Buch seiner „Commentaries on the Laws of England“ mit einem Kapitel „Of the absolute Rights of Individuals“ beginnen konnte, vor den Kapiteln über das Parlament und den König! Blackstone wurde nachweislich in Amerika sehr viel gelesen.163 In Amerika selbst hatte es noch zur Kolonialzeit manche Kataloge von Rechten gegeben, besonders eindrucksvoll die „fundamental laws“ der Kolonie von West New Jersey von 1677.164 Auch noch knapp vor dem Bruch mit dem Mutterland, 1774, formulierten die Amerikaner eine „Declaration of Rights“, die sich bewusst an die englische „Bill of Rights“ – offiziell „Declaration of Rights“ – von 1689 anlehnte. Die längste Zeit argumentierten die Amerikaner als Inhaber der „Rights of Englishmen“. Der Sprung ins Naturrecht erfolgte spät und aus durchaus pragmatischen Gründen. Mit der Entscheidung zur Unabhängigkeit erlosch die Möglichkeit, sich auf die Rechte der Engländer zu berufen. Und die Philosophen des Naturrechts wie Locke, aber auch andere wie Vattel und Burlamaqui, waren den Amerikanern durchaus bekannt. Die nach dem Bruch mit England beschlossenen Rechte-Erklärungen, deren erste in Virginia am 12. Juni 1776 beschlossen wurde, enthielten nach naturrechtlichen Präambeln zahlreiche Rechte, welche die Amerikaner lange als Rechte der Engländer besessen oder reklamiert hatten. Sie kodifizierten, nunmehr überwiegend auf der neuen Ebene von höherrangigen Verfassungen (in Virginia wurden Erklärung und Verfassung noch auf der Ebene gewöhnlicher Gesetze beschlossen), vielfach bereits vorhandenes Recht.165 163 Zu Blackstone s. meine Arbeit: William Blackstone, Teacher of Revolution (1965), wiederveröff. in: Stourzh 1989, 137–153. 164 Hierzu ausführlich Gerald Stourzh, 1981: Grundrechte zwischen Common Law und Verfassung, wiederveröff. in: Stourzh 1989, 75–89, hier 87–88. Der amerikanische Historiker Julian Boyd hat zu Recht dieses Dokument als „first expression of fundamental law in the sense of the constitutions adopted by the American states a century later“ bezeichnet. Julian Boyd, Hg., 1964: Fundamental Laws and Constitutions of New Jersey, 13. 165 Zum Thema „höherrangiger“ Rechte vgl. unten Abschnitt B 3 über die Entwicklung der Grundrechte.
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In Frankreich lagen die Dinge anders. Rechteerklärungen des Dritten Standes hatte es nicht gegeben. Wenn Rechte reklamiert wurden, waren es jene der gegen den königlichen Absolutismus protestierenden, aber selbst im Rahmen des ständischen Denkens fixierten „Parlements“.166 Weit verbreitet waren in den Jahrzehnten der Aufklärung vor 1789 Ideen einer allgemeinen, wenn auch eher abstrakten „Gleichheit“, insbesondere im Freimaurertum167 sowie bei den von Spinozas Idee der Volkssouveränität inspirierten radikalen Aufklärern wie d’Holbach.168 Die Aktualität des Themas wurde 1755 in Rousseaus „Diskurs über die Ursprünge und Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ dokumentiert.169 Nach 1776 spielten allerdings die Rechteerklärungen der amerikanischen Einzelstaaten, die zwischen 1776 und 1780 beschlossen wurden, auch in Frankreich eine Rolle. Ab 1777 erschienen französische Übersetzungen; die wichtigste Sammlung war 1783 die von Benjamin Franklin und dem Duc de La Rochefoucauld vorbereitete Publikation „Constitutions des Treize États de l’Amérique“; sie beruhte auf einer offiziellen, 1781 im Auftrag des Kongresses der Vereinigten Staaten in Philadelphia veröffentlichen Sammlung. Vergleiche zwischen den amerikanischen Dokumenten und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 erschienen schon frühzeitig. Ohne auf die berühmt gewordene Polemik zu Anfang des 20. Jahrhunderts zwischen Georg Jellinek, der sich für den Einfluss der amerikanischen Texte auf den französischen Text, und Emile Boutmy, der sich energisch dagegen aussprach, einzugehen, möchte ich zusammenfassend zwei Punkte betonen: Erstens gibt es mehrere formale Ähnlichkeiten zwischen der Virginia Erklärung und der französischen Erklärung.170 Zweitens ist aber auf einen ganz wichtigen Unterschied aufmerksam zu machen: Während die amerikani166 Charakteristisch die Erklärung des Parlement de Paris vom März 1776, zit. bei Stourzh, 2007 (1996), 278. 167 Materialreich Artur Greive: Die Entstehung der französischen Revolutionsparole „Liberté, Égalité, Fraternité“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 43, 1969, 726–751. 168 Nunmehr sehr materialreich Jonathan Israel, 2011: Democratic Enlightenment: Philosophy, Revolution and Human Rights, 1750–1790. Israels stark von Spinozas Lehre von der Volkssouveränität und ihrer Wirkung ausgehende Interpretation ist nicht ohne Kritik geblieben: Vgl. insbesondere im Internet vier kritische Stellungnahmen (u. a. von Keith Baker) und Israels Antwort an seine Kritiker in: H-France Forum, vol. 9, issue 1 (2014), Nr. 1–5. 169 Zweisprachige Edition: Heinrich Meier 1984. 170 Darauf hat besonders Robert R. Palmer aufmerksam gemacht: Palmer 1959, Appendix IV, 518–521.
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schen Erklärungen, wie schon gesagt, Festschreibungen bereits vorhandener Rechte enthielten, gab die französische Erklärung – in einem Augenblick des vollständigen Bruchs mit der Vergangenheit und in die Zukunft blickend – Aufträge an den Gesetzgeber. Es ist auffallend, wie häufig die französische Erklärung ankündigt, was alles „la loi“ als Ausdruck der „volonté générale“ (Art. 6) regeln werde. Die Artikel 4, 5, 7, 8, 9, 10 und 11, also nicht weniger als sieben Artikel, enthalten derartige Aufträge. Der zukünftige Primat des Gesetzgebers – auch gegenüber der Verfassung, weit bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts – ist darin bereits angelegt. Deshalb ist ja in Frankreich auch lange die Verfassungsgerichtsbarkeit abgelehnt worden; die Einführung des Verfassungsrates (Conseil constitutionnel) in der Verfassung von 1958 ist ein erster, noch eher zaghafter Versuch gewesen, den Primat der Gesetzgebung gegenüber der Verfassung einzudämmen; weitere Entwicklungen, über die noch berichtet werden wird, sind viel jüngeren Datums. „Demokratie“ ist nicht das Schlüsselwort der 1770er- bis 1790er-Jahre, obgleich es in Amerika eine größere Rolle spielt als in Frankreich, und in Amerika wurde ja, wie bereits erwähnt, der Begriff der repräsentativen Demokratie geprägt. Alexander Hamilton hat ihn bereits 1777 in Bezug auf den Staat New York genannt171 und neuerlich elf Jahre später in einem ausführlichen Konzept über Staatsformen in Vorbereitung einer Rede vor dem Ratifizierungskonvent für die neue Bundesverfassung in New York.172 Anders als Hamilton unterschied James Madison in dem berühmten „Nr. 10“-Essay der Artikelsammlung „The Federalist“ scharf zwischen (direkter) Demokratie, „pure democracy“, und „repräsentativer Republik“. Ja, für Madison war geradezu die Definition einer Republik „a Government in which the scheme of representation takes place“.173 Madisons Unterscheidung ist aber vereinzelt geblieben. Auch Jefferson sprach ausdrücklich über „this new principle of representative democracy“.174 171 „But a representative democracy, where the right of election is well secured and regulated & the exercise of the legislative, executive and judiciary authority is vested in select persons, chosen really and not nominally by the people, will in my opinion be most likely to be happy, regular and durable.“ Brief an Gouverneur Morris, 19. Mai 1777, in: Alexander Hamilton, 1961: The Papers of Alexander Hamilton, Harold C. Syrett, Hg., Bd. I, 255. 172 Stourzh 1970, 49 und 223, Anm. 36. Vollständiger Text von Hamiltons Notizen vom Juli 1788 in: Alexander Hamilton, 1962b: The Papers of Alexander Hamilton, Harold C. Syrett, Hg., Bd. V, 149–151. 173 Alexander Hamilton, James Madison, John Jay, 1961 (1788): The Federalist, Jacob E. Cooke, Hg., 61–62. 174 Zit. bei Peter Graf Kielmannsegg, 2013: Die Grammatik der Freiheit. Acht Versuche über den demokratischen Verfassungsstaat, 44.
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In Frankreich hat Emmanuel Sieyes schon frühzeitig, in den Siebzigerjahren, über ein „gouvernement par procuration“, das er ausdrücklich auch als „représentatif“ bezeichnete, geschrieben und später immer wieder den repräsentativen Charakter der ersten französischen Revolutionsverfassung betont.175 Doch hatte diese ja noch eine monarchische Komponente. Thomas Paine machte sich in Polemik gegen Sieyes und noch vor dem Fall der Monarchie in Teil II seines berühmten Werkes „The Rights of Man“ (Februar 1792) zum Anwalt der republikanischen repräsentativen Demokratie.176 Das dominierende Schlagwort im revolutionären Frankreich nach dem Fall der Monarchie war aber Republik, nicht Demokratie. Doch in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts konnte Alexis de Tocqueville die moderne Gesellschaft des Westens, wie sie sich in Nordamerika früher als in Europa herauszubilden begann, einfach als „Demokratie“ bezeichnen. Die Übertragung des Begriffs Demokratie von politischen auf soziale Phänomene zeigt sich bereits in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts in Frankreich, wobei trotz Monarchie und extrem eingegrenztem Wahlrecht die nachständische Gleichheits orientierung des bürgerlichen Rechts – mit nicht geringen Ausnahmen! – eine Rolle spielte. Zu diesen Ausnahmen zählte der mindere Status vor allem der verheirateten Frau, der „Domestiken“ und auch der Lohnarbeiter. Der Code civil (Code Napoléon) von 1804 behandelte den Arbeitgeber besser als den Arbeitnehmer. Er sah nämlich vor, dass bei Lohndisputen dem Meister – nicht jedoch dem von ihm Entlohnten! – aufgrund seiner Aussage an Eides statt bezüglich Lohnhöhe, Lohnauszahlung und Vorschüssen Glauben geschenkt werde (Art. 1781 des Code civil). Erst 1868 wurde dieser Artikel per Gesetz als gleichheitswidrig aufgehoben.177 Unbeschadet dieser Ausnahmen meinte 1822 der liberale, der Gruppe der „doctrinaires“ angehörende Pierre-Paul Royer-Collard, „die Gleichheit der Rechte (welche die Wahrheit der Demokratie darstellt)“ habe sich durchgesetzt.178 Der französische 175 Hierzu insbesondere Hasso Hofmann, 2003: Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. 4. Aufl. mit einer neuen Einleitung, 406–409, sowie Pasquale Pasquino, 1998: Sieyes et l’invention de la constitution en France, 35–52, Abdruck des Textes „gouvernement par procuration“ ebd. 163. 176 Zu Teil II der „Rights of Man“ Dolf Sternberger, 1971: Die Erfindung der „Repräsentativen Demokratie“. Eine Untersuchung von Thomas Paines Verfassungs-Ideen, in: Ders.: Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, 59–81. „Erfinder“ der repräsentativen Demokratie war Paine allerdings nicht (s. o.). 177 Institut Supérieur du Travail, Internet-Aussendung, 29. 3. 2004, „Le maître est cru sur son affirmation...“, http://istravail.com/article186.html, abgerufen am 22. 12. 2013, weitere Hinweise bei Stourzh 1989 (1986b), 343, Anm. 40. 178 Hierzu Rosanvallon, 1995: The History of the Word „Democracy“ in France, in: Journal of Democracy, Bd. 6, Nr. 4, 140–154, hier 149.
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Historiker François Furet hat festgestellt, die „bürgerliche Gleichheit“ habe den wesentlichen Inhalt von Tocquevilles Definition der Demokratie bedeutet.179 Hier ist eine wichtige Erwägung anzustellen: Der Individualismus, von Tocqueville, wie bereits erwähnt, ausdrücklich als Ergebnis der Demokratie bezeichnet, hat einen Januskopf. Auf der einen Seite sagt Tocqueville, dass die Demokratie die Zahl derer, denen man Sympathie entgegenbringe, außerordentlich vergrößert habe. Sympathie sei ein demokratisches Wort, hat er einmal notiert; wirkliche Sympathie habe man nur für die einander Ähnlichen und Gleichen.180 Daraus lässt sich ein gewisses Gemeinsamkeitsbewusstsein ableiten, als Bürger und Bürgerinnen an einer Demokratie teilzuhaben. Demokratiepolitische Vorstellungen, wie sie in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als „republikanische“ Verfassungstheorie181 oder auch „kommunitaristische“ politische Theorie entwickelt wurden, kommen einem solchen demokratischen Gemeinsamkeitsbewusstsein entgegen.182 Auf der anderen Seite hat aber Tocqueville bemerkt, dass der Individualismus die Menschen in eine gewisse Isolation treibe, sie selbstbezogener mache. Dazu komme, dass in der Demokratie die Menschen „die störenden Vorrechte einiger ihrer Mitmenschen abgeschafft“ haben, sie dafür aber „der Konkurrenz aller“ – „la concurrence de tous“ – begegnen. „So demokratisch die sozialen Verhältnisse und die politische Verfassung eines Volkes auch sein mögen“, könne man damit rechnen, „dass jeder Bürger in seiner Nähe stets einige Punkte erblicken wird, die ihn überragen, und man kann voraussehen, dass er seine Blicke hartnäckig einzig nach dieser Seite richten wird.“183 Damit hat Tocqueville nicht nur in wenigen Sätzen eine Theorie des Neides entwickelt, der ja manchmal als charakteristische demokratische Eigenschaft bezeichnet wird. Er öffnet auch die – psychologische – Türe zum Verständnis der Konkurrenzkämpfe im Kapitalismus. Die Ambivalenz zwischen 179 Hinweis bei Gerald Stourzh, 2005: Penser l’égalité. Cinq notions d’égalité chez Tocqueville. In: Droits. Revue française de théorie, de philosophie et de culture juridiques, Nr. 41, 185– 198, hier 189. Vgl. vor allem das Kapitel III/1: „Wie mit dem gesellschaftlichen Ausgleich die Sitten sanfter werden“, in: Tocqueville/Zbinden 1987, Bd. II, 243–249. 180 Ebd. 181 Zu nennen ist der amerikanische Jurist Frank Michelman, dessen Schriften beträchtlichen Einfluss auf Habermas ausgeübt haben. Vgl. Jürgen Habermas, 1994: Faktizität und Geltung. 4., erw. Aufl., 325 und öfter. 182 Zu nennen sind u. a. die Schriften von Charles Taylor oder Michael Walzer; vgl. Habermas 1994, 640–641, 657–658. 183 Tocqueville/Zbinden 1987, Bd. II, Kap. II/13: „Weshalb die Amerikaner inmitten ihres Wohlstandes so ruhelos sind“, 203–204. Zbinden übersetzt „concurrence“ mit „Wettstreit“, ich habe hier „Konkurrenz“ gesetzt.
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gemeinschaftsfördernden und konkurrenzfördernden Tendenzen des Individualismus in der modernen Demokratie hat Tocqueville nicht aufgelöst. Obgleich Tocqueville den Individualismus aus der Demokratie entstehen lässt, ist sich Tocqueville der Bedeutung der christlichen Botschaft für die Idee der Gleichheit der Menschen sehr bewusst gewesen.Er hat empört gegen die rassistischen Ideen des ihm persönlich bekannten Arthur de Gobineau Stellung genommen. „Das Christentum, das alle Menschen vor Gott gleich werden ließ, wird sich nicht dagegen sträuben, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleich werden.“ Mit Recht ist gesagt worden, das große Projekt Tocquevilles sei es gewesen, in Frankreich die Religion und die Werte von 1789 zu verbinden.184
A. Adjektivische Demokratiebegriffe Der Ausbreitung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts für Männer noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dessen allgemeine Durchsetzung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einschließlich der geheimen Stimmabgabe zumindest in Europa und Amerika folgte die Einführung des Frauenwahlrechts. Bereits im 19. Jahrhundert gab es, auf lokaler Ebene und teilweise, etwa im österreichischen Teil der Habsburgermonarchie auf Ebene der Kronländer, Beispiele von Frauenwahlrecht, das mit Vermögensqualifikationen, in seltenen Fällen auch mit Bildungsqualifikationen verbunden war.185 Auf nationaler Ebene erfolgte der Durchbruch des Frauenwahlrechts in den westlichen Ländern überwiegend in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (mit wenigen Ausnahmen wie der Schweiz 1971186 und Liechtenstein 1984). In Asien und Afrika erfolgte die gleichzeitige Einführung des Männerund Frauenwahlrechts in vielen Ländern erst mit der Erringung der Unabhängigkeit im Zuge der Entkolonialisierung ab 1947, vielfach erst in den Sechzigerjahren. Der Zusammenbruch der großen Monarchien mit Ende des Ersten Weltkrieges (der zur kurzen Blüte der „Rätedemokratien“ führte) und vor allem der Zu184 Tocqueville/Zbinden 1987, Bd. I, Einleitung, 22. Ich habe dieses Thema ausführlicher in meiner Arbeit „Penser l‘égalité. Cinq notions d‘égalité chez Tocqueville“ (Stourzh 2005), 194-196, behandelt. 185 Birgitta Bader-Zaar, 2014: Rethinking Women’s Suffrage in the Nineteenth Century: Local Government and Entanglements of Property and Gender in the Austrian Half of the Habsburg Monarchy, Sweden and the United Kingdom, in: Kelly L. Grotke/Markus J. Prutsch, Hg.: Constitutionalism, Legitimacy and Power. Nineteenth-Century Experiences, 107–126. 186 Auf Kantonalebene führte Appenzell-Innerrhoden als letzter Kanton das Frauenwahlrecht 1990 ein; es ist bemerkenswert, dass gerade die alten „demokratischen“ Bauernkantone das Frauenwahlrecht spät einführten.
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sammenbruch von Faschismus und Nationalsozialismus 1945 haben mit wenigen Ausnahmen weltweit zur Anerkennung der Demokratie als legitimer Staatsform geführt. Das Bestreben sehr unterschiedlicher politischer Systeme, sich auf die Legitimationsbasis der „Volksherrschaft“ zu berufen, wurde im 20. Jahrhundert so stark, dass auch Regime, die ohne Zweifel diktatorischen Charakter trugen, sich als Demokratien bezeichneten. Der faschistische Philosoph Giovanni Gentile schrieb 1927, der faschistische Staat sei „ein Volksstaat und als solcher der demokratische Staat par excellence“.187 Joseph Goebbels bezeichnete im Oktober 1933 das zur Herrschaft gekommene NS-System als „veredelte Demokratie“.188 Die nach dem Zweiten Weltkrieg dem Kommunismus unterworfenen Staaten Ost- und Südosteuropas nannten sich bekanntlich „Volksdemokratien“. Die Bezeichnung oder Selbstbezeichnung von politischen Systemen sehr unterschiedlicher Art189 als Demokratie trug dazu bei, die zunächst in Westeuropa und Nordamerika entwickelten Demokratien genauer zu kennzeichnen.190 Der Begriff „westliche Demokratie“ prosperierte vor allem zur Zeit des Ost-West-Gegensatzes bis zur Wende von 1989/91 und verblasste danach. Doch mag er durch die sehr starke Betonung, die der bedeutende deutsche Historiker Heinrich August Winkler der Geschichte und dem „normativen Projekt“ des Westens zukommen lässt, zumindest im deutschsprachigen Raum wieder an Relevanz gewinnen.191 Das Bestreben, Demokratie als „Volksherrschaft“ mit anderen, wichtigen Elementen der modernen Entwicklung zu verknüpfen, hat immer weiter dazu geführt, „Demokratie“ mit bestimmten zusätzlichen Qualifikationen auszustatten. „Liberale“ Demokratie ist wohl die häufigste und vor allem im angloamerikanischen Raum vorherrschen187 Aus einem Artikel für die amerikanische Zeitschrift „Foreign Affairs“, zit. bei Jan-Werner Müller, 2013: Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, 180 (englische Fassung, 2011: Contesting Democracy. Political Ideas in Twentieth-Century Europe). 188 Am 28. September 1933 auf einem Presseempfang in Genf. Mehrfach abrufbar im Internet. 189 So hat der kanadische, marxistisch orientierte Politologe C. B. Macpherson drei Arten der Demokratie unterschieden: Die liberale Demokratie, die nicht-liberale Demokratie/Variante kommunistische Demokratie, und die nicht-liberale Demokratie/Variante Demokratie der unterentwickelten Länder. C. B. Macpherson, 1967: Drei Formen der Demokratie. 190 Pierre Rosanvallon hat zutreffend bemerkt: „There is scarcely another word in political usage whose practical definition is subject to a greater number of variations. Hence the continual tendency to prop it up with some adjective or other“, Rosanvallon, 1995, 153. 191 Heinrich August Winkler, 2009–2015: Geschichte des Westens. Bd. 1, 2009: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert; Bd. 2, 2011: Die Zeit der Weltkriege 1914– 1945; Bd. 3, 2014: Vom Kalten Krieg zum Mauerfall; Bd. 4, 2015: Die Zeit der Gegenwart. Zum „normativen Projekt“, Bd. 1, 13, 21–24, sowie Bd. 4, 579–611.
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de nähere Charakterisierung.192 „Liberal“ ist allerdings ebenfalls ein mehrdeutiges und unterschiedlichen Interpretationen ausgesetztes Wort. Der „liberalen“ Demokratie wurde in einem sehr interessanten Werk 2003 die „illiberal democracy“ gegenübergestellt. Der Autor, Fareed Zakaria, hat anhand der Entwicklung Russlands von Jelzin zu Putin den Typ der populären Autokraten dargestellt, die ihre Länder, wie etwa auch ein Chávez in Venezuela, mit einer Verbindung aus Wahlen und Autoritarismus regierten oder regieren.193 Die Kombination von autoritärer Regierung und Wahlen – manchmal mit Zulassung mehrerer Parteien und Kandidaten, manchmal mit Wahlen als bloßen Bestätigungsritualen – ist von Russland angefangen bis zu asiatischen, afrikanischen und manchen lateinamerikanischen Staaten recht häufig geworden, wobei in vielen Fällen eine Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung durchaus gegeben ist. Es ist fraglich, unter welchen Voraussetzungen derartige „Hybridregime“ noch als mit welchem Adjektiv auch immer bedachte Demokratien durchgehen können. Die Diskussion ist im Fluß. Eine deutsche Forschergruppe hat den von Wolfgang Merkel geprägten Begriff der „defekten Demokratie“ untersucht und die „illiberale Demokratie“ als einen von mehreren Typen der defekten Demokratie eingeordnet.194 Der Begriff „illiberale Demokratie“ hat neuestens besondere Aktualität erhalten, da der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán im Juli 2014 in einem Vortrag vor Auslandsungarn in Rumänien sich ausdrücklich zur „illiberalen Demokratie“ im Gegensatz zur „liberalen“ Demokratie bekannt hat, allerdings hinzufügend, dass dies mit der „Idee der Freiheit“ nicht unvereinbar sei.195 Oft und zutreffend wird die liberale Demokratie als „pluralistische“ Demokratie angesehen, die eine Mehrzahl von Überzeugungen, von Parteien und eben auch von Minderheiten berücksichtigt.196 Ein enger Zusammenhang wurde zwischen liberaler 192 So auch neuestens in dem ausgezeichneten, bereits zitierten Buch von Jan-Werner Müller über das demokratische Zeitalter. 193 Fareed Zakaria, 2003: The Future of Freedom. Illiberal Democracy at Home and Abroad, bes. 89–91. Die deutsche Übersetzung 2007 unter dem Titel „Das Ende der Freiheit?“ verwendet in nicht präziser Übersetzung die Begriffe „freie“ und „unfreie“ Demokratie. 194 Zu „Hybridregime“ und „illiberaler Demokratie“ kritisch Kielmannsegg 2013, 221–222. Zur „defekten Demokratie“ Wolfgang Merkel/Hans-Jürgen Puhle/Aurel Croissant/Claudia Eicher/Peter Thiery, 2003: Defekte Demokratie. Band 1: Theorie, dort zur illiberalen Demokratie 261–276. 195 Vortrag am 26. Juli 2014 vor der 25. Sommeruniversität in Băile Tuşnad (Tusnádfürdő), Rumänien. Vollständige deutsche Übersetzung abrufbar im Internet in der Internetzeitschrift „Pusztaranger“, Ausgabe 1. August 2014 (abgerufen am 31.12. 2014). 196 Zu den eindrucksvollsten Begründungen eines pluralistischen politischen Systems zählt James Madisons Aufsatz Nr. 10 in „The Federalist“. Siehe auch S. 60.
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Demokratie und dem kapitalistischen Wirtschaftssystem – und der mit diesem eng verbundenen politischen Theorie des „Besitzindividualismus“ – gesehen.197 Hier ist Vorsicht geboten, denn kapitalistische Wirtschaftssysteme sind auch in nicht- demokratischen politischen Systemen funktionsfähig gewesen, wie im NS-System.198 Andererseits wurde gerade in Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis in die Gegenwart unter dem Stichwort „Soziale Marktwirtschaft“ die Vereinbarkeit von liberaler Demokratie mit sozialpolitischer Gesetzgebung einschließlich redistributiver Steuerpolitik und öffentlicher Serviceleistungen unter Beweis gestellt.199 Darüber hinaus spricht die liberale Demokratie die besondere Stellung des freien Individuums in der modernen (westlichen) Gesellschaftsordnung an.200 In starkem Gegensatz zur liberalen und pluralistischen Demokratieauffassung steht die auf Jean-Jacques Rousseau zurückgehende Demokratie-Interpretation, die ihren Ausgangspunkt in der Einheitlichkeit oder Einheit der „volonté générale“, des Volkswillens, sieht, prinzipiell die Einheit von souveräner (gesetzgebender) und magistratischer (ausführender) Gewalt des Volkes postuliert und daher die Idee der Repräsentation ablehnt. Rousseau – und nach ihm Sieyes – gehen überdies vom vollkommen autonomen, keinerlei Bindung (etwa durch vorpositive Individualrechte) unterworfenen, freien Willen der Nation oder des Volkes aus.201 Die „rousseauistische“ Traditionslinie hat in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts zwei politisch gar nicht übereinstimmende Gelehrte wie Carl Schmitt und Gerhard Leibholz nachhaltig beeinflusst und in den Siebzigerjahren im Begriff der „identitären“ Demokratie einen starken Widerhall gefunden.202 Zu den frühen 197 Der Begriff „Possessive Individualism“ ist eine Wortprägung von C. B. Macpherson, 1964: The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke; dt. Ausg., 1967: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke. S. auch das bereits genannte Buch von Macpherson: Drei Formen der Demokratie. 198 Hierzu eindrücklich Ernst Fraenkel, 1974: Der Doppelstaat (zu diesem Werk auch unten S. 92). 199 Vgl. Peter Pulzer, 2011: Experiencing the Twentieth Century (Phillips Lecture, New School for Social Research, New York), 27. 200 Ebd., 28. 201 Hierzu aussagekräftig Werner Kägi, 1953: Rechtsstaat und Demokratie (Antinomie und Synthese). In: Max Imboden u. a., Hg.; Demokratie und Rechtsstaat. Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, 107–142. 202 Grundlegend zum Gegensatz von Lehren der repräsentativen und der identitätsorientierten Demokratie Wolfgang Mantl, 1975: Repräsentation und Identität. Demokratie im Konflikt. Ein Beitrag zur modernen Staatsformenlehre; zu Schmitt insbes. 121–149, zu Leibholz insbes. 149–188, zur Renaissance der Identitäts-Lehren in den Sechziger- und Siebzigerjahren 202–221. „Identitäre“ Demokratie befürwortet u. a. Helga Grebing, 1972: Volksrepräsentation und identitäre Demokratie, Politische Vierteljahresschrift, 13. Jg., 162–180.
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und heftigen Kritikern dieser Traditionslinie zählt Werner Kägi, der ausdrücklich von einer „dezisionistisch-totalitären Auffassung der Demokratie“ gesprochen und demgegenüber als „Richtnorm für das Rechtsdenken den demokratischen Rechtsstaat“ postuliert hat.203 Rousseaus Theorie der „volonté générale“ und der Demokratie ist von einem Befürworter der „liberalen“ Demokratie, Jacob Talmon, ebenfalls in starken Worten, als „totalitäre Demokratie“ angegriffen worden.204 So wirkungsmächtig die „identitäre“ Idee der Demokratie gewesen ist oder vielleicht noch ist, kann auch ich ihr nicht zustimmen. Carl Schmitt hat Demokratie wie folgt definiert: „Demokratie (als Staatsform wie als Regierungs- oder Gesetzgebungsform) ist Identität von Herrscher und Beherrschten, Regierenden und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden.“205 Dem ist entgegenzuhalten, dass es nie eine solche Identität gegeben hat und auch nicht geben kann. Zumindest Kinder, aus Altersgründen noch nicht mit dem Stimmrecht ausgestattete Personen (das Alter schwankte und schwankt ja stark, etwa vom 24. bis hinunter zum 16. Lebensjahr!), Personen unter Sachwalterschaft sind nie Herrscher, immer Beherrschte; das Stimmrecht von Strafgefangenen ist höchst unterschiedlich geregelt und laufend Gegenstand von Kontroversen. Dazu kommt, in einem Zeitalter immenser Migrationsströme, die sehr hohe Zahl residierender, aber nicht stimmberechtigter Ausländer. Historisch gesehen gab es ja noch ganz andere Abgrenzungen zwischen Herrschern und Beherrschten in (zumindest sogenannten) Demokratien. Man denke an die Kolonialherrschaft, etwa Frankreichs (allg. Männerwahlrecht seit 1848), aber auch anderer Staaten, im Jahrhundert 1860/1960. Am krassesten hat Begrenzungen der Demokratie einmal Hans Kelsen ausgedrückt: „Was gehört eigentlich zum Volk? … Indem man in den meisten Demokratien Kinder, Geistes kranke, Verbrecher, Ausländer, Frauen, Sklaven – je nach dem Standpunkte der Welt- und Lebensanschauung alle oder nur einige dieser Kategorien – von der politischen Berechtigung ausschloss, beschränkte man das ‚Volk‘ im politischen Sinne auf einen verhältnismäßig kleinen Teil jener Menschenmenge, die ethnographisch als Volk angesprochen werden muss.“206 “We, the People ...“ – der stolze Beginn der Präambel zur amerikanischen Bundesverfassung von 1787/88 muss viel kritischer gesehen werden, wenn wir bedenken, dass jene, die sich derart als „Volk“ der Vereinigten Staaten betrachteten, lediglich die Stimmbürger der Vereinigten Staaten waren, weit weniger als die Hälfte der 203 Kägi 1953, 108, 141. 204 J. L. Talmon, 1961: Die Ursprünge der totalitären Demokratie, bes. Kap. 3, 34–45. 205 Carl Schmitt, 1965 (1928): Verfassungslehre 4. unveränd. Aufl., 234. 206 Hans Kelsen, 1921: Vom Wesen und Wert der Demokratie, 1. Aufl., 31–32.
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– und nur der erwachsenen – Bewohner der USA. Alle Frauen, alle Sklaven und farbigen Einwohner, alle indianischen Ureinwohner, auch die große Zahl europäischer Einwanderer vor ihrer Einbürgerung waren vom „Volk“ ausgeschlossen. Im Sklavenstaat Virginia bezeichnete 1788 ein späterer oberster Bundesrichter der Vereinigten Staaten, John Marshall, die USA als „well-regulated democracy“.207 Demokratie wurde und wird, damit durchaus der aus der Antike überlieferten Tradition entsprechend, auf Regime angewendet, in welchen die Mehrheit der Bevölkerung, zunächst besonders aus Sklaven und Frauen, nach Abschaffung der Sklaverei überwiegend aus dem weiblichen Teil der Bevölkerung bestehend, nicht zu den Stimmbürgern zählte. Schon 1791 hat die Französin Olympe de Gouges, leidenschaftliche Befürworterin der Frauenrechte, geschrieben, dass die Verfassung null und nichtig („nulle“) sei, wenn die Mehrheit der Individuen, die die Nation bilden, nicht an ihrer Gestaltung mitgewirkt habe.208 Ich schlage vor, derartige Regime – und das heißt vor Einführung des Frauenstimmrechts auch die westeuropäischen und nordamerikanischen Staaten – als partielle Demokratien zu bezeichnen. Neuere kritische Studien zur Entwicklung der Demokratie in den letzten zwei Jahrzehnten und in der Gegenwart haben wieder neue adjektivische Präzisierungen zum Wort Demokratie hinzugefügt. „Deliberative Demokratie“ ist ein von Jürgen Habermas aus der amerikanischen Demokratiedebatte209 übernommener Begriff, der zu umfangreichen Diskussionen geführt hat.210 Ich finde, dass die rationale und im Grunde konsensorientierte Vorstellung der deliberativen Demokratie das agonale, den Wettbewerb im Kampf um die Mehrheit voranstellende Element der demokratischen Auseinandersetzung unterschätzt, wie es, wiewohl einseitig, im 207 John Marshall im Verfassungsratifikationskonvent von Virginia Juni 1788, zit. in Stourzh 1970, 226, Anm. 58. 208 Olympe de Gouges: „Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne“ vom 7. September 1791, Art. 16. Ich folge der sorgfältigen Analyse dieses Textes, der ja eine bewusste Gegenposition zur Allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 darstellte, von Ludwig Adamovich, 2013: Olympe de Gouges und die Menschenrechte, in: Clemens Jabloner u. a., Hg.: Gedenkschrift Robert Walter, 1–9, hier 8–9. Zu Olympe de Gouges s. auch unten S. 95. 209 Erstmals vorgetragen von Joseph Bessette, 1980: Deliberative Democracy: The Majority Principle in Republican Government, in: Robert A. Goldwin/William A. Schambra, Hg.: How Democratic is the Constitution?, 102–116. 210 Jürgen Habermas, 1992: Drei normative Modelle der Demokratie: Zum Begriff deliberativer Politik, in: Herfried Münkler, Hg.; Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie, 11–24. Vor allem jedoch die ebenfalls 1992 erstveröff. Rechtsphilosophie Habermas’: Faktizität und Geltung; hier verwendet erw. 4. Aufl. (= Habermas 1994), bes. Kap. VII, 349–398.
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Mittelpunkt von Joseph Schumpeters Demokratietheorie steht.211 Kritisch wurde auch bemerkt, dass die Idee stärkerer „deliberativer“ Bürgerdiskussionen und Versammlungen neben den politischen Parteien – also eine Art „Doppelrepräsentation“ – den Nachteil habe, gegenüber den in den Prozess von Wahl und Repräsentation direkt involvierten Personen oder Gruppierungen „nachrangig“ zu sein.212 Nicht weit entfernt von der deliberativen Demokratie im Sinne einer Ergänzung der auf das Wahl- oder Stimmrechtsthema konzentrierten Demokratieauffassung ist die „contestatory democracy“, entwickelt vom irischen, lange in Australien und den USA tätigen Philosophen Philip Pettit. Das Wort „contestatory“ ist schwierig zu übersetzen, am ehesten mit „anfechtend“ oder „bestreitend“. Die „bestreitende“ Demokratie von Philip Pettit ist sicher kämpferischer angelegt als die deliberative Demokratie. Die „elective-cum-contestatory democracy“ bestreitet das Monopol der elektoralen Entscheidung in der Demokratie und will damit ganz bewusst die Position von Minderheiten schützen. Die normalen Mehrheitsentscheidungen sollen grundsätzlich „hinterfragt“ oder kontrolliert werden, sei es mit bereits bestehenden Institutionen, wie Mehrkammersystem, Gewaltenteilung oder auch „judicial review“, also Verfassungsgerichtsbarkeit, oder auch mit noch zu schaffenden Institutionen, die nicht nur nachträglich, sondern vor der Gesetzgebung zu Wort kommen sollen. Pettit bejaht das Vorhandensein von Individualrechten, die dem Mehrheitsentscheid entzogen sein sollen („counter-majoritarian rights“), doch ist sein eigentliches Anliegen das Zusammenleben mit Minderheiten unterschiedlicher, unter Umständen tief gehender Verschiedenheit im Verhältnis zur Mehrheitsbevölkerung.213 Weitere adjektivische Qualifizierungen der Demokratie aus den letzten Jahren sind etwa „monitory democracy“ im Sinne von kontrollierter oder mit Kontrolle begleiteter Demokratie im Werk des englischen Politologen John Keane „The Life and Death of Democracy“ von 2009 , 214 die „unparteiische Demokratie“ in rezenten Schriften des französischen Politologen Pierre Rosanvallon – sein letztes und wohl 211 Joseph A. Schumpeter, 1950 (1942): Capitalism, Socialism and Democracy , 3. Aufl., Kap. XXII, 269–283. 212 Kielmannsegg 2013, 265–266. Kritisch zur deliberativen Demokratie auch Henning Ottmann, 2006: Liberale, republikanische, deliberative Demokratie, in: Synthesis philosophica (Zagreb), Bd. 21 (Nr. 42, 2), 315–325, abrufbar im Internet. 213 Philip Pettit, 2000a: Minority Claims under Two Conceptions of Democracy, in: Duncan Ivison u. a., Hg.: Political Theory and the Rights of Indigenous Peoples, 199–215, hier bes. 203–204; auch ders., 2000b: Democracy, Electoral and Contestatory, in: Nomos, Bd. 42, 2000, 105–44. 214 John Keane, 2009: The Life and Death of Democracy, bes. Teil III.
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bedeutendstes Werk „Die Gesellschaft der Gleichen“ enthält eine grundlegende Kritik der gegenwärtigen Demokratie, die er zwar als erfolgreiches politisches System, jedoch als bedrohte Gesellschaftsform ansieht.215. Weiters zu nennen wäre das Buch der französischen Philosophin und Politologin Catherine Colliot-Thélène „La démocratie sans demos“ – „Demokratie ohne Demos“ – von 2010, das besonders die durch internationale, transnationale und globale Entwicklungen entstandenen Probleme der Demokratie zur Diskussion stellt.216 Unbehagen über eine zu weitgehende Verrechtlichung durch die transnationalen Institutionen des Menschenrechtsschutzes und damit Entfernung von der Demokratie findet sich in dem Buch der Schweizerin Gret Haller „Menschenrechte ohne Demokratie?“217 2004 hat der englische Politologe Colin Crouch das verbreitete Schlagwort von der „Postdemokratie“ geprägt,218 das allerdings erst jüngst deutlicher Kritik ausgesetzt wurde, und zwar mit dem Argument, die Diagnose „Postdemokratie“ lege den defätistischen Gedanken nahe, „das politische System in seiner jetzigen Form sei ja ohnehin keine Demokratie mehr“, und eine derartige Resignation könnte den Weg in ein wirklich autoritäres System ebnen.219 Diese Liste ist natürlich keineswegs vollständig. Soll die Verbindung von Demokratie mit den Traditionen des Rechts- und des Verfassungsstaats betont werden, so wird, besonders häufig im deutschsprachigen Raum, von rechtsstaatlicher oder verfassungsstaatlicher Demokratie gesprochen – auch im Englischen kommt „constitutional democracy“ vor220 – und nicht selten in Umkehr von Haupt- und Eigenschaftswort auch vom „demokratischen Rechtsstaat“221 oder vom „demokratischen Verfassungsstaat“222. In Hinblick auf die verfassungsrechtlich geschützte Rolle der Individualrechte als Grundrechte, eine Entwicklung, die mit der Renaissance des Grund- und Menschenrechtsdiskurses nach dem Zweiten Weltkrieg sehr zunahm, ist der sinnvolle Begriff „Grundrechts215 Pierre Rosanvallon 2011; dt. Ausg. 2013. 216 Catherine Colliot-Thélène, 2010 : La démocratie sans demos; dt. Ausg., 2011: Demokratie ohne Volk. 217 Gret Haller, 2012: Menschenrechte ohne Demokratie? 218 Colin Crouch, 2004: Post-democracy; dt. Ausg., 2008: Postdemokratie. 219 Dies ist die Kritik von Jan-Werner Müller, 2014: „Postdemokratie? Karriere und Gehalt eines politischen Schlagwortes“, in: Uwe Justus Wenzel: Volksherrschaft – Wunsch und Wirklichkeit, 124–127. 220 Etwa in dem bedeutenden Buch des amerikanischen Juristen Frank I. Michelman, 1999: Brennan and Democracy. 221 Vgl. Kägi 1953, bes. 141. 222 Der letztgenannte Begriff ist zentral bei Kielmannsegg, 2013, mit dem Untertitel „Acht Versuche über den demokratischen Verfassungsstaat“.
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demokratie“ eingeführt worden. Er stammt von dem deutschen Juristen Wolfgang Fikentscher223 und ist auch von mir mehrfach übernommen worden.224 Eine Breitenwirkung hat er nicht erzielt, doch gibt es seit 2003. mit kurzen Hinweisen auf mein Buch von 1989, das Werk des Philosophen Wolfgang M. Schröder, „Grundrechtsdemokratie als Raison offener Staaten“.225 Mehrfach haben sich Doppelformeln eingebürgert, die deutlicher als die „adjektivischen“ Ergänzungen des Demokratiebegriffs unterschiedliche Funktionsbereiche, auch unterschiedliche Entwicklungsstränge und unterschiedliche Gruppen von Individualrechten sichtbar machen. Ich habe schon 1977 „participation and protection“ – „Teilhabe und Schutz“ als die zwei Säulen des Verfassungsstaates bezeichnet.226 Die Doppelform „Demokratie und Verfassungsstaat“, etwa von Graf Kielmannsegg verwendet, zeigt auf, dass Demokratie, auch mit verschiedenen Adjektiven versehen, nicht alles adäquat ausdrückt, was zum Verständnis jener politischen Lebensform zählt, die in den meisten Staaten Europas und in vielen Ländern der ganzen Welt als erstrebenswert oder vielfach auch als verwirklicht gilt. 227 223 Wolfgang Fikentscher, 1975–1977: Methoden des Rechts, 5 Bände, hier bes. Bd. 4, 510, 615, 617f., 625. 224 Ich habe diesen Begriff erstmals angewendet in: Gerald Stourzh, 1987: Die Begründung der Menschenrechte im englischen und amerikanischen Verfassungsdenken des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde/Robert Spaemann, Hg.: Menschenrechte und Menschenwürde, 89; ferner als Titel meines Buches „Wege zur Grundrechtsdemokratie“ (1989) sowie in: Gerald Stourzh, 2011 (1991): Verfassungsgerichtsbarkeit und Grundrechtsdemokratie – die historischen Wurzeln, in: Gerald Stourzh, 2011: Der Umfang der österreichischen Geschichte, 157–179. 225 Wolfgang M. Schröder, 2003: Grundrechtsdemokratie als Raison offener Staaten. Für Schröder steht „Grundrechtsdemokratie“ für „grundrechtsstaatliche“ Demokratie, und er meint, ich hätte „abkürzend“ von Grundrechtsdemokratie“ gesprochen (ebd., 17; auch 117); ich betrachte allerdings den Begriff „Grundrechtsdemokratie“ in keiner Weise als Abkürzung. Auf den Präger des Begriffs „Grundrechtsdemokratie“, Wolfgang Fikentscher, geht Schröder überhaupt nicht ein. Das Wort „grundrechtsstaatlich“ vermengt Rechtsstaatlichkeit, die es ja auch ohne Grundrechtsschutz gegeben hat, mit der speziellen Rolle von Grundrechten als Teil des höherrangigen Verfassungsrechts (dazu unten S. 110–113). Ich spreche von „Grundrechtsdemokratie“ in Hinblick auf die besondere Bedeutung der Grundrechtsbeschwerde oder Verfassungsbeschwerde. 226 Gerald Stourzh, 1977a: The American Revolution, Modern Constitutionalism, and the Protection of Human Rights, in: K. T. Thompson u. a., Hg.: Truth and Tragedy. A Tribute to Hans J. Morgenthau, 172. 227 Hierzu gibt es in den USA m. E. nicht unproblematische jährliche „Messungen“ der Demokratie auf der ganzen Welt, insbesondere des „Freedom House“ und anderer Organisationen. Einen neuen Überblick solcher Messungen bietet Larry Diamond, 2015: Facing Up
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Der demokratische Verfassungsstaat, so Kielsmannsegg, ist Ausdruck einer glücklichen Ehe, eben zwischen Demokratie und Verfassungsstaat. Doch was für jede Ehe gelte, gelte auch für diese. „Es gibt nicht nur Harmonie, sondern es gibt auch Spannungen.“ Es müsse der demokratische Verfassungsstaat als „Symbiose zweier verschiedener Grundprinzipien verstanden werden, zwischen denen keine prästabilisierte Harmonie herrscht.“228 Die Doppelformel „Demokratie und Verfassungsstaat“ ist keineswegs unrichtig, doch geht sie nicht weit genug. Der Verfassungsstaat dient dem höchsten Ziel, die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte (oder, wie im deutschen Grundgesetz explizit gesagt, Menschenrechte) der seiner Kompetenz unterliegenden Personen zu schützen. Diesem Ziel dienen ja die vor allem seit Mitte des 20. Jahrhunderts vom Verfassungsstaat vorangetriebenen Verfahren der Verfassungsbeschwerde oder Individualbeschwerde in Bezug auf Grundrechtsverletzungen. Aber noch ein Zweites: Der Schutz der Grundrechte oder der Menschenrechte, wie sie vor allem in internationalen Verträgen genannt werden, geht über die einzelnen Staaten hinaus; theoretisch betrifft er die UN-Mitglieder weltweit, soweit sie den entsprechenden Erklärungen zugestimmt bzw. die entsprechenden Konventionen ratifiziert haben, in der Praxis bestimmte Regionen, vor allem Europa und Lateinamerika (hierzu unten S. 123ff.). Es ist daher legitim, die Doppelformel „Demokratie und Verfassungsstaat“ einerseits zuzuspitzen, indem nicht der ganze Verfassungsstaat, sondern der Kernbereich „Grund- und Menschenrechtsschutz“ herausgenommen wird, andererseits aber diese Formel auch auszuweiten, insofern sie nun über den Verfassungsstaat hinaus in die internationalen Dimensionen des Menschenrechtsschutzes hineinreicht. Hier erinnere ich an die in der Einleitung genannte Formel von Jürgen Habermas von den „beiden miteinander verschränkten Legitimationssäulen politischer Herrschaft, Demokratie und Menschenrechte“. Auch Habermas hat sich intensiv mit der Doppelformel „demokratischer Rechtsstaat“ beschäftigt.229 Die beiden Komponenten werden nicht immer identisch formuliert, bisweilen „Rechtsstaat und Demokratie“, bisweilen „Menschen-
to the Democratic Recession, in: Journal of Democracy, Bd. 26, Nr. 1, 141–155. Das gesamte Heft ist der Frage: „Is Democracy in Decline?“ gewidmet. 228 Kielmannsegg, 2013: Grammatik der Freiheit, 145. 229 Vgl. vor allem: Jürgen Habermas, 1994 (1992): Faktizität und Geltung, 4. Aufl.; ders., 2009a (1996): Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie sowie ders., 2009b (2001): Der demokratische Rechtsstaat – eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?, in: Jürgen Habermas, Politische Theorie (= Philosophische Texte. Studienausgabe in fünf Bänden, Bd. 4), 140–153 bzw. 154–175.
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rechte und Volkssouveränität“ oder eben auch „Menschenrechte und Demokratie“. Es geht Habermas besonders (im juristischen Bereich)230 um den inneren Zusammenhang zweier „gleichursprünglicher“ Formen von Autonomie: „Die private Autonomie gleichberechtigter Bürger kann nur im Gleichschritt mit der Aktivierung ihrer staatsbürgerlichen Autonomie gesichert werden.“231 Im Bereich der privaten Autonomie (Selbstverwirklichung) finden sich die – worauf Habermas zu Recht großen Wert legt – allenfalls einklagbaren subjektiven Rechte,232 insbesondere die Grund- und Menschenrechte; der öffentlichen Autonomie (Selbstbestimmung) ist der Bereich der Volkssouveränität affin. 233 Der von Habermas genannte „Gleichschritt“ von „privater“ und „öffentlicher“ Autonomie ist historisch gesehen problematisch: Es gab 1789 dank der Unterscheidung von „Aktivbürgern“ und „Passivbürgern“234 die Vorstellung, dass zwar alle Bürger (und Bürgerinnen) das Recht auf den Schutz der Gesetze genießen, aber nur den Aktivbürgern das Recht zur Teilhabe an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten (Stimmrecht) zustehe. Sieyes’ Unterscheidung von Aktiv- und Passivbürgern hat ja vier Jahre später ein Echo in Kants Unterscheidung von Bürgern (mit „Selbstständigkeit“ und daher als Staatsbürger mit Stimmrecht ausgestattet) und bloßen „Schutzgenossen“ gefunden. Zu Letzteren zählt Kant neben Kind und Weib jene, die kein „Eigentum“ hätten. Als Beispiele werden Hausbediente, Ladendiener, Taglöhner, Friseure genannt; all diese sind „nicht Staatsglieder“.235 Es verwundert, dass an einer zentralen Stelle von Habermas’ Rechtsphilosophie „der von Rousseau und Kant entfaltete demokratische Gedanke“ angesprochen wird und davon die Rede ist, dass „den am Gesetzgebungsprozess Beteiligten“ zugemutet werden muss, „aus der Rolle privater Rechtssubjekte herauszutreten und mit ihrer Staatsbürgerrolle die Perspektive von Mitgliedern einer frei assoziierten Rechtsgemeinschaft zu übernehmen“, ohne in irgendeiner Weise auf Kants Ausschluss der Mehrheit der Bevölkerung aus der Zahl der „Staatsglieder“ und Bürger Bezug zu nehmen.236 230 231 232 233 234 235
Habermas 2009a, 145. Habermas 2009a, 153. Habermas 1994, 117. Habermas 1994, 129. Hierzu unten S. 131. Immanuel Kant, 1998 (1793): Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, (u. a.) in: Kant, 1998: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, 150–151. Kant fügt in einer Anmerkung hinzu: „Es ist, ich gestehe es, etwas schwer, die Erfordernis zu bestimmen, um auf den Stand eines Menschen, der sein eigener Herr ist, Anspruch machen zu können.“ 236 Habermas 1994, 49–50 (Hervorhebung der Worte „demokratischer Gedanke“ im Original!).
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Habermas’ Autonomie-Begriff ist auch, wie ein Kritiker überzeugend dargelegt hat, jenseits des gewissermaßen geschlossenen Systems der gegenseitigen Einwirkung von privater und öffentlicher Autonomie237, von vorgelagerten vernunftrechtlichen Festlegungen stärker geprägt, als dies Habermas zugesteht.238 Habermas spricht mehrfach vom „intrinsischen“ Wert der „klassischen“ Menschenrechte.239 Festzuhalten ist jedenfalls, dass bei Habermas die Begriffspaare private/öffentliche Autonomie und „Menschenrechte und Volkssouveränität“ bzw. „Menschenrechte und Demokratie“, wenn auch nicht „linear“,240 so doch ganz eng einander zugeordnet sind. Das letztgenannte Begriffspaar unter dem gemeinsamen Namen „Isonomie“ als Gleichberechtigungsordnung miteinander zu verbinden, ist ja das Ziel dieser Schrift.
B. Die sechs Komponenten der modernen Isonomie Es scheint mir wesentlich, Demokratie im eigentlichen politischen und rechtlichen Sinn als Instrumentarium des Grundrechts auf politische Teilhabe – nicht als gesamtgesellschaftliches System – unter Verzicht auf alle adjektivischen Zutaten, mit Ausnahme der prozeduralen Qualifikationen „repräsentativ“ oder „direkt“ („plebiszitär“), als eine tragende Komponente der Isonomie zu bezeichnen. Ihr isonomer Charakter ist durch das Vorhandensein des allgemeinen, gleichen, freien, geheimen und periodischen Männer- und Frauen-Stimmrechts gegeben. Bestätigungen alternativ loser Vorentscheidungen durch Pseudo-Abstimmungen oder Pseudo-Wahlen zählen nicht dazu.241 Demokratie in diesem Sinne ist aber nur eine von mehreren isonomen Komponenten oder gewissermaßen einer von mehreren „Bausteinen“ der Isonomie. Jene im späten 18. Jahrhundert einsetzende, jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen gewissen Abschluss findende poli237 Besonders deutlich in Habermas 1994, 669–670. 238 Thomas Kupka, 1994: Jürgen Habermas’ diskurstheoretische Reformulierung des klassischen Vernunftrechts, in: Kritische Justiz, Bd. 27, 461–469. 239 Habermas 2009a, 148; Habermas 2009b, 161. Vgl. auch: Jürgen Habermas 2005 (1998): Zur Legitimation durch Menschenrechte, in: Ders.: Die postnationale Konstellation, 170–192, hier 176. 240 Habermas 1994, 129: Die beiden Begriffspaare Selbstbestimmung (öffentliche Autonomie) und Selbstverwirklichung (private Autonomie) bzw. Menschenrechte und Volkssouveränität lassen sich „nicht einfach linear zuordnen“, doch bestünden „zwischen den beiden Begriffspaaren Affinitäten, die mehr oder weniger stark betont werden können“. Im Habermas’schen Werk finde ich diese Affinitäten ganz stark ausgeprägt. 241 Hierzu vorzüglich John Keane, 2015: Die neuen Despotien, in: Merkur, 69. Jg., Heft 790, März 2015, 18-31.
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tisch-rechtliche Ordnungsform, die ich als moderne Isonomie bezeichne, stellt im Idealfall ein Ensemble aus zumindest sechs Komponenten dar, deren Geschichte durchaus unterschiedlich und ungleichzeitig verlief. Es scheint, wie schon gesagt, sinnvoll, auch einzelne der jetzt zu nennenden sechs Komponenten als „isonome“ Komponenten dieser politisch-rechtlichen Ordnung zu bezeichnen. Sie sind: 1. Die allgemeine Rechtsfähigkeit. 2. Die Gleichheit vor dem Gesetz, besonders die persönliche Rechtsgleichheit. 3. Die Entwicklung von „Grundrechten“. 4. Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit und besonders der Individualbeschwerde zur Garantie dieser Grundrechte. 5. Die Internationalisierung von Grundrechten als Menschenrechte. 6. Die Demokratie als Verwirklichung des Grundrechts auf Teilhabe an der politischen Gestaltung. 1. Die allgemeine Rechtsfähigkeit Am klarsten, und mit Nennung daraus folgender Konsequenzen, kommt die allgemeine Rechtsfähigkeit aller Menschen im bereits in der Einleitung genannten österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811 zum Ausdruck: § 16: „Jeder Mensch hat angeborne, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte und ist daher als eine Person zu betrachten. Sklaverei oder Leibeigenschaft und die Ausübung einer sich darauf beziehenden Macht wird in diesen Ländern nicht gestattet.“ § 18: „Jedermann ist unter den von den Gesetzen vorgeschriebenen Bedingungen fähig, Rechte zu erwerben.“ Die Bedeutung der allgemeinen Rechtsfähigkeit – hier ist nicht von „Bürgern“, sondern von „jedem Menschen“, von „jedermann“ die Rede! – kann nicht überschätzt werden.242 Sie bedeutet das, was Hannah Arendt als „einziges“ Menschenrecht bezeichnet hat – ich möchte es als erstes und grundlegendes Menschenrecht bezeichnen: das Recht, Rechte zu haben.243 Sehr klar wird dies im Deutschen Idealismus bei Fichte ausgesprochen, der „die Möglichkeit, sich Rechte zu erwerben“, 242 Eine hervorragende ältere Darstellung, meines Wissens in der neueren Literatur nicht übertroffen, stammt von dem aus Czernowitz in der Bukowina gebürtigen und an der Universität Czernowitz lehrenden Römischrechtler und Rechtssoziologen Eugen Ehrlich, 1909: Die Rechtsfähigkeit. 243 Hannah Arendt, 1949: Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, in: Die Wandlung, 4. Jg., 754–770. Im Internet abrufbar unter: http://www.hannaharendt.net
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also die Rechtsfähigkeit, als das ursprüngliche „Menschenrecht, das allen Rechtsverträgen vorausgeht und allein sie möglich macht“, bezeichnet.244 Noch in der frühen Neuzeit gab es eine Personengruppe, die „in entscheidender Schlechterstellung gegenüber anderen Vaganten“ ausdrücklich als vogelfrei erklärt wurde – die „Zigeuner“ (Sinti und Roma). Sie wurden vom Freiburger Reichstag 1498 (und in weiterer Folge in vielen Territorien) des Reiches verwiesen und galten als Geächtete (nach Verstreichen einer Ausweisungsfrist) als vogelfrei.245 Einen Vogelfreien zu töten, galt nicht als strafwürdig. Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts (in Frankreich erst 1854 abgeschafft) reichte die bei Kapitalverbrechen angewandte verschärfende Strafe der mors civilis, des „bürgerlichen Todes“. Dem damit Bestraften wurde jede Rechtsfähigkeit aberkannt, seine Ehe galt als aufgelöst, er war nicht mehr in der Lage, Eigentum zu besitzen oder zu vererben. Obgleich physisch noch am Leben, galt er rechtlich als tot. Auch im „Klostertod“ wurde – noch 1794 in das Allgemeine Preußische Landrecht übernommen – dem Mönch oder der Nonne jede weltliche Rechtsfähigkeit aberkannt, allfälliges Vermögen wurde den Erben übertragen. Die wichtigste und zahlenmäßig weitaus bedeutendste Transformation zur allgemeinen Rechtsfähigkeit war jedoch jene der Sklaven – rechtlich als Sache betrachtet, daher auch verkäuflich oder vererbbar. Diese Transformation ist das klassische Beispiel für die Bedeutung der allgemeinen Rechtsfähigkeit. Schon vom Römischen Recht ist gesagt worden: Die formgerechte manumissio (Freilassung) verwandelte den Sklaven „aus einem Objekt in ein Subjekt von Rechten: die fundamentalste Metamorphose, die sich denken läßt“.246 Dies bedeutete noch keineswegs die Angleichung zu Bürgern gleichen Rechts. Deshalb musste in den USA nach dem 13. Verfassungszusatz (amendment) von 1865, der die Sklaverei für die ganze Union abschaffte, aber nicht verhindern konn244 Zit. bei Wilhelm Metzger, 1917: Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des deutschen Idealismus, 164, aus: Johann Gottlieb Fichte, 1796: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Zweiter Anhang des Naturrechts. Grundriss des Völker- und Weltbürgerrechts, § 22. In: Johann Gottlieb Fichte, 1845: Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke, J. H. Fichte, Hg., 3. Bd., 384. 245 Ernst Schubert, 1988: Mobilität ohne Chance. Die Ausgrenzung des fahrenden Volkes, in: Schulze 1988, 132. 246 Meine Hervorhebung. Diese wunderbaren Worte stammen von dem Römischrechtler Ernst Levy, 1961: „Libertas und Civitas“, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung, Bd. 78, 142–172, hier 145. Moses Finley, 1998: Ancient Slavery and Modern Ideology, erw. Ausgabe, 165, zitiert diese Worte und fügt hinzu: „He was now a human being, unequivocally.“
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Abbildung 2. Sklave mit Kette. Kamee, 1787. Wahrzeichen der 1787 gegründeten britischen Gesellschaft für die Verwirklichung der Abschaffung des Sklavenhandels. Entworfen von John Flaxman, hergestellt von dem Keramik-Hersteller Josiah Wedgwood. Vielfach abgebildet. Original im Wedgwood Museum, Barlaston, England. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Trustees of The Wedgewood Museum, Barlaston, Staffordshire, England.
Abbildung 3: Sklavin mit Kette, Zeichner unbekannt, erstmals 1826 nachweisbar in der Publikation einer Sklavenbefreiungsgesellschaft von Frauen in Birmingham, England, hier Druck aus 1845.
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te, dass in den Südstaaten sehr schnell neue Gesetze für Afroamerikaner als Bürger minderen Rechts entstanden, 1868 der 14. Verfassungszusatz beschlossen werden, der die Rechtsgleichheit aller Personen unter amerikanischer Jurisdiktion zumindest auf dem Papier festlegte.247 Bis in die noch sehr nahe Vergangenheit – 1994 – ist das „Apartheid“-Regime der Südafrikanischen Union zwar von der theoretischen Rechtsfähigkeit aller Einwohner, aber eingebettet in einem System schwerster Benachteiligungen von Minderberechtigten, ganz besonders der schwarzafrikanischen Bevölkerung, gegenüber den privilegierten Weißen ausgegangen. Erst die 1990 vom südafrikanischen Präsidenten Frederik de Klerk veranlasste Freilassung von Nelson Mandela nach 27-jähriger Haft führte 1994 zur Aufhebung der Apartheid, zu den ersten freien und gleichen Wahlen in Südafrika im April 1994 und zur Wahl Mandelas zum Staatspräsidenten in Nachfolge de Klerks im Mai 1994.248 Es ist erstaunlich, dass die erste berühmt gewordene Erklärung der Menschenrechte, die „Virginia Erklärung der Rechte“ von 1776 mit ihrem großartigen Beginn, dass alle Menschen von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig seien, aus einem Sklavenstaat mit zahlreichen rechtlosen Menschen kam. Nur mit beträchtlicher Sophistik, um nicht zu sagen Heuchelei, kam der Text zustande, den wir kennen. Er sprach nämlich vom „Eintritt in den Status einer Gesellschaft“, und es wurde (stillschweigend) argumentiert, dass Sklaven gar nicht „constituent members“ einer staatlich organisierten Gesellschaft sein könnten.249 Insofern führten Virginia und die anderen Sklavenstaaten der USA – und bis zur bundesstaatlichen Abschaffung der Sklaverei die USA überhaupt – das Erbe der antiken Demokratie weiter. Nicht der historischen Überlieferung, wohl aber der Logik entsprach es besser, wenn das Österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811, wie 247 „...nor shall any State.... deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws.“ Es ist dies, nach heutiger Terminologie, der „Gleichheitssatz“ der amerikanischen Bundesverfassung. - Zur Abschaffung von Sklavenhandel und Sklaverei im atlantischen Raum und besonders in den US und zur sogenannten Abolitionsbewegung in England und Nordamerika existiert eine unübersehbare Literatur. Ich verweise auf das Lebenswerk eines hervorragenden Kenners der Materie, des Amerikaners David Brion Davis und greife aus dessen zahlreichen Veröffentlichungen folgenden Titel heraus: David Brion Davis, 2006: Inhuman Bondage. The Rise and Fall of Slavery in the New World. 248 Hierzu: Christoph Sodemann, 1986: Die Gesetze der Apartheid; vor allem Nelson Mandela, 1994: Walk to Freedom. The Autobiography of Nelson Mandela; dt. Übers., 1997: Der lange Weg zur Freiheit. Autobiographie; neuestens Saul Dubow, 2014: Apartheid, 19481994. 249 Gerald Stourzh, 1989: Zur Konstitutionalisierung der Individualrechte in der Amerikanischen und Französischen Revolution, in: Stourzh 1989, 159.
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zu Beginn des Abschnitts gezeigt, in ein und demselben Paragrafen die Rechtsfähigkeit aller Menschen und die Abschaffung bzw. Nichtzulassung der Sklaverei auf österreichischem Territorium ( in einer späteren Verfügung ausdrücklich auch auf österreichischen Schiffen) erklärte. Zusammenfassend: Die Anerkennung „jedermanns“ – der Begriff schließt jede Frau ein – als Person, d. h. als Träger von Rechten, als „Rechtssubjekt“, ist von – ich wage zu sagen – ungeheurer Bedeutung. Warum? Rechtssubjekt ist „derjenige, der in seinem Interesse die Rechtsordnung in Bewegung setzen kann“. „Die Rechtsordnung in Bewegung setzen“– die Worte stammen von Georg Jellinek250 –, das ist, wie immer dieses „in Bewegung setzen“ aussieht, ein gewaltiges Recht, das der einzelnen Rechtsperson zusteht, ob als Vertragspartner oder Zivilkläger im bürgerlichen Recht, oder im öffentlichen Recht von der Strafanzeige oder Beschwerde bei einer Behörde bis zur Verfassungsklage bei Verfassungsgerichtshöfen oder in Europa sogar bis zur Individualbeschwerde beim Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Ich werde darauf noch zurückkommen. 2. Gleichheit vor dem Gesetz – Persönliche Rechtsgleichheit Alle Menschen seien „an Rechten gleich“, so heißt es, wie bereits in der Einleitung gesagt, im ersten Artikel der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Im sechsten Artikel lesen wir, dass in den Augen des Gesetzes „alle Bürger gleich“ seien. Der Unterschied von „Menschen“ und „Bürgern“ ist wichtig. Nur Bürger haben das Recht, direkt oder indirekt an der Rechtsbildung teilzunehmen. Denn das Gesetz ist zwar Ausdruck des allgemeinen Willens, aber des allgemeinen Willens der Nation, der Volkssouveränität. Die doppelte Herkunft der modernen Gleichberechtigungsvorstellungen, die menschenrechtliche und die staatsbürgerliche, kommt in ein und demselben Dokument deutlich zum Ausdruck. Beide hatten einen gemeinsamen Feind, die hierarchisch geordnete Welt des ancien régime. In der Rhetorik vermengten sich die beiden Herkunftsbereiche zunächst häufig. Je mehr es allerdings um konkrete rechtliche Egalisierungs- oder Emanzipationsschritte ging, desto mehr setzte sich die staatsbürgerliche Gleichheit im Sinne von Rechtsgleichheit oder Gleichberechtigung durch. Der Begriff des Bürgers oder Staatsbürgers, dessen Gleichheit vor dem Gesetz ab 1789 immer wieder beschworen wurde (wenngleich die Entwicklung in anderen 250 Georg Jellinek, 1966 (1900): Allgemeine Staatslehre, Nachdruck der 3. Aufl. 1913, nach dem Tod Georg Jellineks von seinem Sohn Walter Jellinek bearbeitet, 418 (meine Hervorhebung).
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Staaten zeitverschoben verlief ), hatte mehrere Wurzeln. Die ältesten waren die aus der Antike kommenden Überlieferungen; die aristotelische Tradition betrachtete den „polítēs“ als Träger der „pólis“, des Stadtstaates; im Mittelpunkt der römischrechtlichen Tradition stand der „civis“ als Adressat des römischen Rechts, wobei allerdings die Rezeption des römischen (justinianischen) Privatrechts im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten den weitesten Umfang hatte.251 Eine weitere Wurzel, eine komplexe Entwicklung stark vereinfachend, ist der vom Adel einerseits, von der (freien oder nicht-freien) Landbevölkerung andererseits unterschiedene Begriff des Stadtbürgers, der selbst wieder verschiedene Differenzierungen erfuhr (ratsfähiger oder nicht-ratsfähiger Bürger) und auch von dem nicht das Bürgerrecht besitzenden Inwohner (incola) zu unterscheiden war. Aus dem Begriff des Stadtbürgers sollte sich auch, in Weiterentwicklung des französischen Wortes „bourgeois“ im Unterschied zu dem von „civis“ abstammenden „citoyen“, der Wirtschaftsbürger als Träger einer sozialökonomischen Schicht oder, in der Interpretation von Karl Marx,252 als Mitglied der Klasse der Bourgeoisie ausdifferenzieren.253 Das Adjektiv „bürgerlich“ ist juristisch auf den Bereich des Privatrechts bezogen.254 Im allgemeinen Sprachgebrauch wurde „bürgerlich“ zunehmend auf Bürger und Bürgertum im sozioökonomischen Sinn angewendet; es ist meilenweit vom Staatsbürger oder Stimmbürger entfernt. Der „Staatsbürger“, der etwa ab 1791 häufig in der deutschen Sprache auftauchte, aber von manchen als Pleonasmus kritisiert wurde – man sagt ja auch nicht „Wasserfisch“, ätzte Klopstock 1794255 –, hatte jedoch als direkten Vorläufer ein ganz anderes Wort – nämlich den „Untertan“. 256 Mit der Zunahme obrigkeitlicher und schließlich monarchischer Zugriffsrechte gewann 251 Franz Wieacker, 1967: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit 2. neu bearb. Aufl., 137–138. 252 Sehr differenziert ist die ausführliche Darstellung von Manfred Riedel, 1972: Bürger, Staatsbürger, Bürgertum, in: Brunner/Conze/Koselleck 1972 (Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1), 672–725. Zu Marx ebd., 716-718. 253 Zu den Themen Bürger, bürgerlich, Bürgerlichkeit vgl. zahlreiche Materialien bei Dieter Grimm, 1987: Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, insbes. Kap. 1, Bürgerlichkeit im Recht, 11-50, sowie Kap. 6, Soziale, wirtschaftliche und politische Voraussetzungen der Vertragsfreiheit, 165-191. 254 Beispiele: Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten Deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie (1811) (unbeschadet der einer Menschenrechtserklärung entsprechenden §§ 16 und 18); Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) für das Deutsche Reich (1896). 255 Riedel 1972, 692. 256 Viel Material in dem begriffsgeschichtlich vorzüglichen Werk von Rolf Grawert, 1973: Staat und Staatsangehörigkeit. Verfassungsgeschichtliche Untersuchungen zur Entstehung der Staatsangehörigkeit.
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dieser Kontrastbegriff zur Obrigkeit an Bedeutung. Er ergab im monarchischen Absolutismus auch unter Beibehaltung ständischer Strukturen eine Art von Gleichheit.257 Dem Begriff „Untertan“ entsprach im Französischen „sujet“ und im Englischen „subject“. Im Herrschaftsbereich der britischen Krone wurde der Begriff „subject“ erst im 20. Jahrhundert schrittweise durch „citizen“ ersetzt.258 Hingegen erfolgte in Frankreich 1789 der Sprung vom „sujet“ zum „citoyen“ plötzlich, und er dominierte die französischen Verfassungen von 1791, 1793 und 1795. Die Grundrechtserklärungen des 19. und auch noch des frühen 20. Jahrhunderts sprachen durchgehend von der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz. Die Charte von 1814 besagt: „Les Français sont égaux devant la loi“; ähnlich die belgische Verfassung von 1831: „Les Belges sont égaux devant la loi“, ähnlich die deutsche, nie in Kraft getretene Verfassung von 1849: „Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich.“ Ganz ähnlich die Weimarer Verfassung von 1919: „Alle Deutschen sind vor dem Gesetze gleich.“ Der große Sprung gelingt erst 1949, nach der Katastrophe des Nationalsozialismus, im Bonner Grundgesetz: „Alle Menschen sind vor dem Gesetze gleich“ (Art. 3).259 Der Schutz von Menschenrechten im Bonner Grundgesetz geht so weit, dass Artikel 1, der die Menschenwürde für unantastbar erklärt und das Bekenntnis des deutschen Volkes zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten enthält, der Änderung selbst durch den Verfassungsgesetzgeber entzogen ist.260 Zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichheit vor dem Gesetz zählte auch die Entwicklung der Gerichtsorganisation zu standesunspezifischen Gerichten, für jedermann zuständig und von jedermann anzurufen. Zu dieser Angleichung der Gerichtsorgsanisation gehörte etwa die Abschaffung der Gutsgerichtsbarkeit. Die in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich verlaufende Entwicklung der Gerichtsorganisation kann allerdings hier nicht referiert werden. Die Berufung auf die Gleichheit vor dem Gesetz, moderner die „Gleichheit im Recht“,261 häufig einfach als „Gleichheitssatz“ bezeichnet, hat ihre größte Bedeutung nicht etwa mit der „Konstitutionalisierung“ der Individualrechte erhalten, sondern erst mit der Möglichkeit, Verletzungen des verfassungsmäßig garantierten Gleichbehandlungsrechts – denn darum handelt es sich ja – vor Gericht einkla257 Riedel 1972, 689. 258 Britischer „Nationality Act“ von 1948 sowie von 1981. 259 Die entsprechenden Verfassungsbestimmungen sind gut einsehbar in: Dieter Gosewinkel/ Johannes Masing, Hg., 2006: Die Verfassungen in Europa 1789–1949. 260 Zu den „Ewigkeitsklauseln“ der deutsche Bundesverfassung ausführlicher unten, S. 142–143. 261 Simon Kempny/Philipp Reimer, 2014: Die Gleichheitssätze, Vorwort.
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gen zu können. Diese Möglichkeit, eben die Verfassungsbeschwerde, hat sich bekanntlich zunächst in den Vereinigten Staaten eröffnet, in Europa nach dem Ersten Weltkrieg in Österreich, nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in Italien und der Bundesrepublik Deutschland und dann in vielen anderen Ländern (siehe unten Punkt 4). Mit der Judikatur zum Gleichheitssatz hat sich dieser im letzten Halbjahrhundert zu einem der wichtigsten, wenn nicht dem wichtigsten angerufenen Grundrecht entwickelt.262 Der deutsche Verfassungsrechtler Gerhard Leibholz hat schon in den frühen Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts den Gleichheitssatz als „wohl das meistzitierte Grundrecht“ bezeichnet.263 Von Leibholz, der ja der Gleichheit vor dem Gesetz eine Monografie gewidmet hat, stammt die wichtige Beobachtung, dass dem Gleichheitsprinzip die Tendenz innewohne, sich selbst zu radikalisieren; er führte diese Tendenz auf die abstrakte Grundlage der Idee der Gleichheit zurück.264 Hier soll nur auf den für den historischen Ursprung der Gleichheit vor dem Gesetz wichtigsten Faktor Bezug genommen werden: die rechtliche Gleichstellung (oder Annäherung an Gleichstellung) von Statusgruppen. Bei diesem Angleichungsprozess handelte es sich um den Abbau von Privilegierungen einerseits, von Diskriminierungen andererseits. Inhaber von Privilegien waren der Adel, das Stadtpatriziat, der (hohe) Klerus. Manche Adelsprivilegien wirkten bis 1918.265 Die Weiterführung von Adelstiteln als Teil des Namens in einer Reihe von Ländern (u. a. in der Bundesrepublik Deutschland, nicht jedoch in Österreich) bedeutet nicht die Beibehaltung rechtlicher Privilegien. Im Überblick über die Angleichung von Statusgruppen ist die ursprüngliche Privilegierung einzelner Konfessionen als Monopolreligion oder zumindest als Staatsreligion und der Kampf um Gewissensfreiheit und die Gleichberechtigung zunächst gar nicht zugelassener oder starken Beschränkungen unterworfener Konfessionen zu nennen. Etliche der Angleichungsbewegungen vom späten 18. bis ins 20. Jahrhundert sind unter dem Motto der „Emanzipation“ bekannt geworden – Sklavenemanzipation, Judenemanzipation, Frauenemanzipation –, andere unter dem Titel der „Befreiung“ – die Bauernbefreiung. Zur im vorhergehenden Abschnitt besprochenen Sklavenemanzipation 262 Für Österreich, aber auch darüber hinaus grundlegend, Magdalena Pöschl, 2008: Gleichheit vor dem Gesetz; zur persönlichen Rechtsgleichheit ebd. 315–320. 263 In einem Diskussionsbeitrag zu einem Symposion über den Gleichheitssatz anlässlich seines 80. Geburtstags: Christoph Link, Hg., 1982: Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, 90. 264 Gerhard Leibholz, 1959 (1923): Die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. Aufl., 25. 265 Die Abschaffung des Adels in Deutschland und Österreich erfolgte nach dem Ersten Weltkrieg, wobei in Deutschland die Beibehaltung adliger Titel als Bestandteil des Namens gestattet wurde, in Österreich jedoch nicht und die Beibehaltung sogar strafbar ist.
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hinzuzufügen ist der Kampf der befreiten Afroamerikaner um Gleichberechtigung und Aufhebung der in den USA viele Jahrzehnte lang praktizierten „racial segregation“ oder Rassentrennung. Diese Trennung ist 1896 sogar vom US Supreme Court als kompatibel mit dem Gleichheitssatz erklärt worden. Allerdings gab es ein Gegenvotum („dissenting opinion“) des Richters John Marshall Harlan, das ein denkwürdiges Dokument des Protests gegen die Herabwürdigung der afro amerikanischen Bevölkerung durch die „Separate but Equal“-Doktrin der Gerichtsmehrheit darstellt,266 aber erst 1954 ist die „Separate but Equal“-Formel und damit die Rassentrennung vom Supreme Court als verfassungswidrig erkannt worden.267 Als neueste Bewegung in der Reihe der rechtliche Gleichstellung anstrebenden Statusgruppen sind die Personen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung zu nennen.268 Die durch Jahrhunderte mit zunächst schweren Strafen (ebenso wie kirchlichen Sanktionen) belegte Ausübung der Homosexualität, vor allem der männlichen Homosexualität, wich im Laufe des 20. Jahrhunderts zunächst nur langsam der Straflosigkeit. Seit den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts hat der Angleichungsprozess zunehmend an Bedeutung und auch Schnelligkeit gewonnen.269 Es folgten erfolgreiche Bemühungen um die Herabsetzung des Alters für gesetzlich zugelassene gleichgeschlechtliche Beziehungen. Der nächste Schritt war die Forderung nach amtlich bestätigten „Verpartnerungen“, nach der Zulassung von Adoptionen und schließlich die Eheschließung. Die Heirat gleichgeschlechtlicher Paare wurde erstmals 2001 in den Niederlanden gestattet. Wichtige Marksteine sind 2013 die Zulassung gleichgeschlechtlicher Eheschließungen in Frankreich sowie im Mai 2015 in Irland die Zulassung gleichgeschlechtlicher Eheschließungen nach einer durch Volksabstimmung mit 62 % gebilligten Verfassungsänderung. Von besonderer Relevanz jüngsten Datums ist die bundesverfassungsmäßige Anerkennung gleichgeschlechtlicher Eheschließungen in den USA unter Berufung auf den Gleichheitssatz des 14. Verfassungszusatzes im Urteil des Supreme Court vom 26. Juni 2015 im Fall Obergefell v. Hodges. Das Urteil, 266 U.S. Supreme Court, Fall Plessy v. Ferguson, 1896. Dazu vorzüglich Andrew Kull: The Color-Blind Constitution, Cambridge, Mass. 1992, 113–130. 267 U.S. Supreme Court, Fall Brown vs. Board of Education of Topeka, Kansas 1954. Dazu ebenfalls Kull, Color-Blind Constitution, 151–163. 268 Reichhaltiges historisches Material bietet der Sammelband Martin Duberman/Martha Vicinus/George Chauncey Jr., Hg., 1990: Hidden from History. Reclaiming the Gay and Lesbian Past. 269 In den 90er Jahren entstand in den USA die Bezeichnung GLBT (Gay, Lesbian, Bisexual, Transgender – die Reihenfolge variiert manchmal) für gemeinsame Bestrebungen der genannten Gruppen für rechtliche und soziale Angleichung.
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mit einer knappen Mehrheit von 5:4 Stimmen entschieden, wird von teilweise sehr scharfen Minderheitsvoten begleitet. In einem Votum des Richters Scalia wird wörtlich von einem „judicial Putsch“ der Mehrheit gesprochen, doch ragt ein Satz des Gerichtsurteils (verfasst vom Richter Anthony Kennedy) hervor, der die Bedeutung der individuellen Verfassungsbeschwerde – auf die ich noch ausführlicher zu sprechen kommen werde – thematisiert: „An individual can invoke a right to constitutional protection when he or she is harmed, even if the broader public disagrees and even if the legislature refuses to act.“270 Erst unter dem neuen Paradigma der Isonomie bürgerte sich für Statusgruppen minderen Rechts der Begriff der „Diskriminierung“ im pejorativen Sinne ein – zunächst im Zusammenhang mit dem minderen Status der befreiten Sklaven in den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.271 „Diskriminierung“ im pejorativen Sinne ist jedenfalls ein Begriff, der im alten Paradigma der hierarchischen Ordnung seines Sinnes entbehrte und noch nicht existierte. Nur zu einigen dieser Angleichungsprozesse sollen Anmerkungen gemacht werden. Eine Vollständigkeit und Systematik anstrebende Darstellung würde den Rahmen dieses Essays sprengen. a) Bauernbefreiung. Der Übergang unfreier europäischer Bauern von einer mehrfachen – sei es an die Person, sei es an das Land eines „Herren“ gegebenen – Bindung zum Status eines freien Staatsbürgers mit freien Optionen der Eheschließung, der Bewegungsfreiheit, der Dispositionsfreiheit über Verkauf oder Kauf von Land ist ohne Zweifel eine der gewaltigsten Veränderungen, die sich in den knappen hundert Jahren von der ersten Bauernbefreiung in Savoyen (1772) bis zur letzten im Russischen Reich (1861) zugetragen haben. Reformfreudige Fürsten, verbesserungsbereite Grundherren, neue Feldfrüchte, neue Techniken, Adlige, die an profitablen Produktionen interessiert waren und die wirtschaftlichen Schwächen der erbuntertänigen Bauernwirtschaft beklagten, unzufriedene und manchmal rebellierende Bauern, die neuen und Unruhe stiftenden Ideen der Gleichheit der Menschen, die als ungerecht empfundenen Adelsprivilegien – all das zählt zu der Gemengelage, aus der sich die Bauernbefreiung entwickelte.272 Vom Standpunkt 270 Französisches Gesetz vom 17. Mai 2013. U. S. Supreme Court, Fall Obergefell et al. v. Hodges et al., entschieden am 26. Juni 2015; „Syllabus“ im Internet abrufbar. Zur Zeit dieses Urteils war die „same-sex marriage“ noch in 13 Einzelstaaten der USA verboten (darauf beziehen sich die Wortes des Zitats „even if the legislature refuses to act“). 271 Die Entwicklung des Sprachgebrauchs in den USA ist eingehend dargestellt bei Tilmann Altwicker, 2011: Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, 103–107. 272 Blum, Jerome, 1978: The End of the Old Order in Rural Europe, 357. Es ist dies ein klas-
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nicht der Wirtschafts-, sondern der politischen Geschichte gesehen ist es bemerkenswert, dass mit Ausnahme der Stadtrepublik Solothurn, Frankreichs und der dem revolutionären Frankreich so nahen Helvetischen Republik alle Bauernbefreiungen in Europa das Werk des aufgeklärten monarchischen Absolutismus waren. Sicher, der Beschluss der französischen Nationalversammlung in der berühmten Nacht des 4. zum 5. August 1789: „Die Nationalversammlung zerstört vollkommen das feudale Regime“ („L’Assemblée nationale détruit entièrement le régime féodal“) war ein Donnerschlag, der der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte drei Wochen später nahekommt. Doch hat die plötzliche Abschaffung der Feudalität in Frankreich die Reformbestrebungen im übrigen, absolutistisch regierten Europa eher gebremst. Die Ausgangslage war ein Geflecht von vielfältigen Einschränkungen der persönlichen Freiheit und Verpflichtungen mit großen regionalen Unterschieden im Einzelnen; auch wog die persönliche Bindung an die Herrschaft (Leibeigenschaft) schwerer als die bloße Grunduntertänigkeit; wo Grundherrschaft und Leibherrschaft inklusive Gerichtsherrschaft zusammenfielen, wie in der nordostdeutschen Gutsherrschaft – sie ist als eine „verschärfte Form der Grundherrschaft“ bezeichnet worden, war die Lage der Unfreien dem stärksten Druck ausgesetzt.273 Unbeschadet regionaler Unterschiede können die wichtigsten Freiheitsbeschränkungen und Verpflichtungen wie folgt benannt werden: Eheschließung nur mit herrschaftlicher Erlaubnis und allenfalls gegen Abgaben; Beschränkungen des Erbrechts; Todfallsansprüche der Herrschaft; Beschränkung der Bewegungsfreiheit, allenfalls Erleichterungen gegen Abgaben; Gesindezwang für minderjährige Kinder; Leistungen für die Herrschaft durch unbezahlte Arbeitszeit (Frondienste) und/oder finanzielle Abgaben; fallweise Umwandlung physischer Dienste in finanzielle Abgaben; polizeiliche sowie strafrechtliche Kompetenzen der Herrschaft, einschließlich Züchtigungsrecht. Ein grauenhaftes Detailbild der Leibeigenschaft hat Ernst Moritz Arndt von der schwedisch-pommerschen Insel Rügen im 18. Jahrhundert gezeichnet und Peter Blickle analysiert: „Die geschätzte Fruchtbarkeit einer Frau konnte den Ausschlag geben, ob ihr der herrschaftliche Heiratskonsens erteilt wurde oder nicht. Wurden Güter zum Kauf angeboten, erstellte man Inventare, in denen, will man Ernst Moritz Arndts Bericht Glauben schenken, die Leibeigenen ‚wie Ochsen und Pferde‘ sisches Werk, dem ich viel verdanke. Das Buch von Karl H. Schneider, 2010: Geschichte der Bauernbefreiung, ist enttäuschend, da es sich auf Deutschland in den Grenzen von 1871 beschränkt und Österreich, aber auch Frankreich oder Russland auslässt. 273 Kocka 1990, 57; der Abschnitt „Grundherrschaft – Gutsherrschaft“ (53–58) bietet eine vorzügliche Zusammenfassung.
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nach Alter und Leistungskraft aufgezeichnet und angeschlagen wurden.“274 Ein Jahr vor der Französischen Revolution wird von einem „wahren Negerhandel“ in Rügen berichtet.275 Vor allem landlose Unfreie aus der untersten bäuerlichen Schicht waren, offenbar mit einem Höhepunkt im 18. Jahrhundert, in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa Verkaufsobjekte.276 Vor 1789 hatte es bereits Bauernbefreiungsaktionen in Savoyen (1771), Baden (1783), im schweizerischen Kanton Solothurn (1785) und in Dänemark (1788) gegeben sowie 1781 die erste Hälfte einer sich in zwei Teile – im Abstand von 67 Jahren – spaltenden Bauernbefreiung in der Habsburgermonarchie. Kaiser Joseph II. schaffte mit Patent vom 1. November 1781 die Leibeigenschaft ab, ließ allerdings die Grunduntertänigkeit weiter in Geltung; jeder Untertan hatte fortab das Recht, sich gegen bloße Anzeige zu verehelichen und unter Beobachtung der Bestimmungen für die militärische Meldepflicht von der Herrschaft wegzuziehen. Die Untertanen waren frei, nach ihrem Willen Handwerke zur erlernen, und hatten außer den in einigen Kronländern bestehenden „Waisendiensten“ keine Hofdienste mehr zu leisten. Der Grundherr blieb aber Patrimonialgerichtsherr und besorgte auch weiterhin die öffentliche Verwaltung in erster Instanz. Im Revolutions-Reichstag von 1848 stellte der Abgeordnete Hans Kudlich im Juli 1848 den Antrag zur Aufhebung des bäuerlichen Untertänigkeitsverhältnisses, der etwa einen Monat später zu einem Beschluss des Reichstags erhoben wurde und am 7. September zum kaiserlichen Patent über die Aufhebung des Untertänigkeitsverhältnisses führte. Die liberale österreichische Verfassung von 1867 erklärt in Artikel 7 ihres Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger: „Jeder Untertänigkeits- und Hörigkeitsverband ist für immer aufgehoben.“277 In Preußen wurde die Bauernbefreiung 1807 proklamiert und für das Jahr 1810 in berühmten Worten in Geltung gesetzt: „Mit dem Martini-Tage Eintausend Achthundert und Zehn hört alle Gut-Untertänigkeit in Unseren sämtlichen Staaten auf. Nach dem Martini-Tage 1810 gibt es nur freie Leute...“278 Es können hier nicht weitere Befreiungsmaßnahmen in anderen Staaten aufge274 Blickle 2003, 128. Die Leibeigenschaft in Rügen wurde 1806 vom schwedischen König abgeschafft. 275 Ebd., 129. 276 Blum 1978, 41. Zur Unterscheidung der bäuerlichen Bevölkerung in Bauern (Vollbauern, wenngleich unfrei), Kleinbauern bzw. Landarme und Landlose prägnant Kocka 1990, 87–91. 277 Zu Österreich: Gustav Marchet, Artikel „Grundentlastung“ im Abschnitt „Agrarverfassung“, in: Ernst Mischler/Joseph Ulbrich, Hg., 1905: Österreichisches Staatswörterbuch, Bd. I, 58–65. 278 Schneider 2010, 113; zur preußischen Reform insgesamt ebd. 99–124.
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zählt werden Verallgemeinernd ist zu sagen: Die Befreiungsmaßnahmen können eingeteilt werden einerseits in entschädigungsfrei aufgehobene Beschränkungen und andererseits gegen Entschädigungsleistungen aufgehobene Verpflichtungen, wobei jeweils staatliche Zuschüsse geleistet wurden. Die Regelung der Entschädigungsleistungen zog sich oft durch lange Jahre hin. Lediglich im revolutionären Frankreich hat nach vier Jahren der Nationalkonvent alle Entschädigungsforderungen aufgehoben und die Verbrennung aller Anspruchsberechtigungen ausgesprochen. Als letzter Staat hat bekanntlich das Russische Reich 1861 die Bauernbefreiung mit dem Kernpunkt der Abschaffung der Leibeigenschaft durchgeführt.279 Die ungeheuren sozialen Folgen der europäischen Bauernbefreiung können hier nur erwähnt, nicht näher besprochen werden. Zu den wichtigsten, weil schwierigsten Folgen zählte der Beginn des verstärkten Zuzugs in die Städte und die Umwandlung von Teilen der ländlichen Unterschichten in städtische Arbeiterschichten im Zuge der Entwicklung des Industriekapitalismus, der starke Bevölkerungsanstieg280 und der Anstieg der Auswanderung nach Übersee, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis zum Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreichte. b) Duldungs- und Gleichstellungsprozesse im konfessionellen Bereich. Auf die langwierigen und in den europäischen Ländern ganz unterschiedlichen Prozesse von der Ausrottung und Verfolgung religiöser, auch christlicher Minderheiten im Mittelalter (Albigenser, Waldenser) zur Duldung bestimmter Minderheiten im Laufe der Frühneuzeit, vielfach erst im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus im 18. Jahrhundert, ist kurz hinzuweisen. Neuerdings hat man die nicht systematisierbare Vielfalt der unterschiedlichen Entwicklungen in den Ländern Europas in der Frühneuzeit stark betont.281 Einerseits ist an die relativ frühe und vor allem dauerhafte Etablierung konfessioneller Toleranz in den Niederlanden282 oder an 279 Bereits 1816, 1817 und 1819 war eine Abschaffung der Leibeigenschaft im Baltikum, damals Estland, Kurland und Livland, erfolgt, ohne den Befreiten Land zu überlassen. Eine vergleichende Studie der russischen Leibeigenschaft und der nordamerikanischen Sklaverei liegt vor in: Peter Kolchin, 1987: Unfree Labor. American Slavery and Russian Serfdom. Sehr informativ Jan Kusber, 2003: Leibeigenschaft im Rußland der Frühen Neuzeit. Aspekte der rechtlichen Lage und der sozialen Praxis, in: Jan Klußmann, Hg., Leibeigenschaft. Bäuerliche Unfreiheit in der frühen Neuzeit, 135-154. 280 Blum 1978, 418-419. 281 Benjamin J. Kaplan, 2007: Divided by Faith. Religious Conflict and the Practice of Toleration in Early Modern Europe. 282 M.E.H.N. Mout, 1997: Limits and Debates: A Comparative View of Dutch Toleration in the Sixteenth and Early Seventeenth Centuries, in: C. Berkvens-Stevelinck u. a., Hg.: The Emergence of Toleration in the Dutch Republic, 37–47.
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die Ausnahmesituation im Großfürstentum Siebenbürgen zu denken, in dem vier privilegierte Konfessionen nebeneinander – Lutheraner, Calviner, römische Katholiken und Unitarier (!)283 – neben der nicht-privilegierten Bauernreligion der Griechisch-Orthodoxen existierten. Andererseits ist etwa der Rückfall vom Duldungs-Kompromiss des Edikts von Nantes unter Heinrich IV. (1598) zur grausamen Protestantenaustreibung und Verfolgung unter Ludwig XIV. (Revokation des Edikts von Nantes 1685) zu nennen. Späte Protestantenaustreibungen aus dem Fürsterzbistum Salzburg (1731/32) und aus dem habsburgischen Tirol (Zillertal noch 1837!) ebenso wie die von Maria Theresia angeordnete Judenaustreibung aus Prag und ganz Böhmen 1744/45 284 (erst 1748 zurückgenommen!) illustrieren die ganz uneinheitlichen Entwicklungen. Unter den Theoretikern der religiösen Toleranz und der Gewissensfreiheit ist vor allem auf den Savoyarden Sebastian Castellio (1515–1563) hinzuweisen, der in Reaktion auf die von Calvin durchgesetzte Hinrichtung des zum Häretiker erklärten Michel Servet (Servetius) in Genf leidenschaftlich die Tötung von Häretikern bekämpfte.285 In den Niederlanden ist, auch noch im späten 16. Jahrhundert, der Wilhelm von Oranien nahestehende Dirck Volkertszoon Coornhert zu nennen, der in zwei Werken 1582 und 1589 die Gewissensfreiheit gegen die Katholiken und vor allem gegen die calvinistische Orthodoxie verfocht.286 Auf einer anderen Ebene liegt die vollständige Abschaffung der Staatsreligion – der „established church“ – und damit die vollständige Trennung von Staat und Konfession und die Gleichstellung aller Konfessionen. Hier ging Nordamerika voran. Roger Williams (1603–1683), in London geboren und in Cambridge ausgebildet, ging als Dreißigjähriger nach Massachusetts und gründete nach schweren Konflikten mit den eng verwobenen kirchlichen und staatlichen Autoritäten die Ansiedlung Providence Plantation, in deren Statut von 1640 „Liberty of Conscience“ ausdrücklich genannt wurde.287 Williams verfocht den Grundsatz einer „wall 283 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts kam es zusätzlich zur Schaffung einer eigenen griechisch-unierten, den Papst anerkennenden Kirche. 284 Anna Maria Drabek, 1984: Das Judentum der böhmischen Länder vor der Emanzipation, in: Anna M. Drabek/Mordechai Eliav/Gerald Stourzh, Hg.: Prag – Czernowitz – Jerusalem (= Studia Judaica Austriaca, Bd. X), 5–30, hier 22–28. 285 Hans R. Guggisberg, 1997: Sebastian Castellio 1515–1563. Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz im konfessionellen Zeitalter; sehr informativ Hans R. Guggisberg, Hg. (m. Einleitung), 1984: Religiöse Toleranz. Dokumente zur Geschichte einer Forderung. 286 Martin van Gelderen, 1992: The Political Thought of the Dutch Revolt 1555–1590, 243–256. 287 Plantation Agreement at Providence, 27. August 1640, in: Henry Steele Commager, 1963: Documents of American History, 7. Aufl., 24–25. Providence schloss sich mit anderen
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of separation“, einer Mauer der Trennung von weltlichen und geistlichen Angelegenheiten. Der Grundsatz der Gewissensfreiheit galt ihm auch für Nichtchristen. Seine Überzeugungen hat er in dem Buch „Die blutige Lehre der Verfolgung wegen Gewissensgründen“ niedergelegt.288 Für Georg Jellinek gilt Roger Williams als Gründerfigur in der modernen Geschichte der Menschenrechte.289 1786 beschloss Virginia die Abschaffung der Staatskirche. In diesem Jahr wurde das von Thomas Jefferson verfasste, naturrechtlich begründete „Statute of Religious Freedom“ beschlossen, das die Stellung der anglikanischen Kirche als Staatskirche abschaffte. Auf dieses großartig formulierte Gesetz werde ich noch zurückkommen.290 1791 legte der Erste Zusatz zur Bundesverfassung fest, dass der Kongress keinerlei Gesetz zur Festlegung einer Staatsreligion oder zum Verbot freier Religionsausübung beschließen dürfe. In diese Gleichstellung waren auch die Juden eingeschlossen, wie ein eindrucksvoller Brief des Präsidenten George Washington an die jüdische Gemeinde von Newport, Rhode Island, aus dem Jahr 1790 bezeugt.291 Der Staat Virginia und ab 1791 der Gesamtstaat USA292 können daher als die ersten wirklich säkularisierten Staaten der Neuzeit angesehen werden.293 Nachdem die französischen Protestanten noch 1787 – vor Ausbruch der Revolution – ein Toleranzedikt erhalten hatten, wurde die Religionsfreiheit in Artikel 10 der Erklärung von 1789 und in der Verfassung von 1791 festgehalten. 1790 wurde den Nachkommen der exilierten Protestanten das französische Bürgerrecht verliehen. Mit dem Versuch einer „Verstaatlichung“ des katholischen Klerus mit der „constitution civile du clergé“ 1790 begann eine ebenso wechselhafte wie konfliktreiche Entwicklung, die erst 1905 mit der vollständigen Trennung von Staat und Kirche ihr Ende fand. Die Emanzipation der französischen Juden 1789–1791 war Teil der Gleichberechtigungstendenz der französischen Revolution, wie der Titel eines der bekanntesten rezenten Werke zu diesem Thema besagt: „Libres et Siedlungen 1644 zur Kolonie „Rhode Island and Providence Plantation“ zusammen und erhielt ein Patent der Regierung in London. In der ganzen Kolonie herrschte Gewissensfreiheit, und in Newport siedelten sich auch Juden an. 288 Roger Williams, 1644: The Bloudy Tenent of Persecution for Cause of Conscience. 289 Georg Jellinek, 1895: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte. 290 Umfassend informiert der vorzügliche Sammelband: Merrill Peterson/Robert Vaughan, Hg., 1988: The Virginia Statue of Religious Freedom. Its Evolution and Consequences in American History. Siehe auch unten S. 141. 291 Brief vom 18. August 1790, zit. in Stourzh 2007, 285. 292 USA: Erster Verfassungszusatz zur Bundesverfassung, in Kraft getreten 1791. 293 In den anderen Einzelstaaten der Union erfolgte die Abschaffung der privilegierten („established“) Konfessionen über einen größeren Zeitraum.
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égaux“.294 Für England ist die seit dem 16. Jahrhundert bestehende Ächtung der römisch-katholischen Kirche in einer Reihe von „Catholic Relief Acts“ 1778, 1791 und vor allem 1829 („Catholic emancipation“) zu Ende gekommen.295 Zu einer „kopernikanischen Wende“ in der katholischen Kirche, nämlich der Anerkennung der Religionsfreiheit, kam es erst im 20. Jahrhundert, vorbereitet durch die Menschenrechtsenzyklika „Pacem in terris“ Johannes XXIII. 1963, mit der Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“, beschlossen in der letzten Sitzung des II. Vatikanums am 7. Dezember 1965.296 c) Judenemanzipation und erneute Entrechtung. Im Jahre 1781 erschien in Berlin der erste Band des Buches von Christian Konrad Wilhelm Dohm, „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“. Das Buch hatte seinen Ursprung in einem Ersuchen des Vorsitzenden der „jüdischen Nation“ im Osten Frankreichs an Moses Mendelssohn in Berlin. Er bat Mendelssohn, damals schon eine der berühmtesten Persönlichkeiten der europäischen Aufklärung, um eine Replik auf die antijüdische Streitschrift eines gewissen Jean-François Hell.297 Mendelssohn gab die Aufgabe an einen preußischen Beamten und Schriftsteller, eben Dohm, weiter. Der Schlüsselsatz in Dohms Buch lautet: „Der Jude ist noch mehr Mensch als Jude, und wie wäre es möglich, dass er einen Staat nicht lieben sollte, in dem er ein freyes Eigentum erwerben, und desselben frei geniessen könnte, wo seine Abgaben nicht grösser als die anderer Bürger wären, und wo auch von ihm Ehre und Achtung erworben werden könnte! Warum sollte er Menschen hassen, die keine kränkenden Vorrechte mehr von ihm scheiden, mit denen er gleiche Rechte und gleiche Pflichten hätte?“ Es ist dies ein Satz, in dem die Hoffnung auf Gleichberechtigung, eben auf Isonomie, so klar zum Ausdruck kommt wie selten. Das Buch wurde schon 1782 ins
294 Robert Badinter, 1989: Libres et égaux... L’émancipation des Juifs 1789–1791. 295 Für die Entwicklung in Europa ist nunmehr hinzuweisen auf Rudolf Schlögl, 2013: Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750–1850. 296 Als „kopernikanische Wende“ wurde die Erklärung zur Religionsfreiheit immer wieder von Ernst-Wolfgang Böckenförde bezeichnet. Zur Erklärung insbesondere: Ernst-Wolfgang Böckenförde, 2003: Einleitung zur Textausgabe der ‚Erklärung über die Religionsfreiheit‘, in: Ders.: Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte, 1. Aufl., 231–246. Nunmehr vgl. auch Karl Gabriel/Christian Spieß/Katja Winkler, Hg., 2013: Die Anerkennung der Religionsfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil. 297 Es handelte sich um die sogenannte „affaire des fausses quittances“. Für Details vgl. Badinter 1989, 32–33, 63–64.
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Französische übersetzt.298 Die rechtliche Gleichstellung der Juden in Frankreich erfolgte erst am letzten Tag der konstituierenden Nationalversammlung Ende September 1791, während gleichzeitig das Andauern der Sklaverei in den Kolonien bestätigt wurde.299 „Man muss den Juden als Nation alles verwehren, und man muss den Juden als Individuen alles gewähren.“ Dieser in der Konstituante gesprochene Satz300 stellte die Weichen in Richtung Assimilation und sollte zum Leitbild der rechtlichen Angleichung in Westeuropa werden. Einige Eckdaten der Angleichung in West- und Mitteleuropa sind: zunächst Ausweitung des französischen Vorbilds, Preußisches Judenedikt von 1812, das den Juden in den altpreußischen Gebieten das Staatsbürgerrecht verlieh, diverse Rücknahmen im Deutschen Bund, dann ein neuer Gleichstellungsschub während der Revolution von 1848, gefolgt von Rücknahmen in den 1850er-Jahren, schließlich endgültiger Durchbruch in England 1858, in Österreich und in Ungarn 1867, im Norddeutschen Bund 1869 und im neuen Deutschen Reich 1871.301 Es geht hier weder um die Geschichte der Assimilation noch um jene des ab den 1870er-Jahren erstarkenden Antisemitismus, sondern darum zu zeigen, wie eine bedeutende Angleichungsbewegung durch den Nationalsozialismus (und seine Verbündeten) vollständig abgebaut und in ihr Gegenteil verwandelt werden konnte. Im November 1935 wurde den nach den Nürnberger Gesetzen vom gleichen Jahre als Juden bezeichneten Personen das demokratische Stimmrecht aberkannt. Ein Urteil des Reichsgerichts im Jahre 1936 zeigt exemplarisch, wie schnell und wie weit sich NS-Juristen vom Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit vor dem Gesetz entfernen konnten. Die deutsche Filmgesellschaft UFA und eine schweizerische Gesellschaft schlossen im Februar 1933 einen Vertrag, wonach der UFA alle Rechte, besonders das Verfilmungsrecht, an einem Werk (Drehbuch) des Regisseurs Erik Charell übertragen 298 Christian Konrad Wilhelm Dohm, 1973 (1781–83): Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, 2 Bde., Berlin und Stettin 1781–83, I, 28 (Neudruck in einem Band); frz. Ausg., 1984 (1782): De la réforme politique des Juifs, 1782, Neuausgabe (mit einem Vorwort von D. Bourel). Zu Dohm vgl. auch: Klaus L. Berghahn, 2000: Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung, Kap. 7, „Eine Denkschrift für aufgeklärte Monarchen“, 127–149. 299 Badinter 1989, 196–203. 300 Der Abgeordnete Clermont-Tonnerre im Dezember 1789, zit. bei Badinter 1989, 137. 301 Der beste Überblick findet sich bei Friedrich Battenberg, 2010: Judenemanzipation im 18. und 19. Jahrhundert. Europäische Geschichte Online (EGO), hg. v. Institut für Europäische Geschichte Mainz, ersch. am 3. 12. 2010, URL (18. 10. 2013): http://www.ieg-ego.eu/ battenbergf-2010-de
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wurden. Die UFA könne vom Vertrag zurücktreten, wenn die Regietätigkeit Charells „wegen Tod, Krankheit oder ähnlichem Grund“ undurchführbar werde. Charell war Jude. Im April 1933 trat die UFA vom Vertrag zurück mit der Begründung, Charell sei nicht in der Lage, seine Regietätigkeit bei der UFA auszuüben, und klagte die schweizerische Gesellschaft auf Herausgabe einer bereits überwiesenen 1. Rate. Der UFA wurde in allen Instanzen Recht gegeben, und das Reichsgericht begründete sein Urteil wie folgt: Die frühere liberale „Vorstellung vom Rechtsinhalte der Persönlichkeit machte unter den Wesen mit Menschenantlitz keine grundsätzlichen Wertunterschiede nach der Gleichheit oder Verschiedenheit des Blutes; sie lehnte deshalb eine rechtliche Gliederung und Abstufung der Menschen nach Rassegesichtspunkten ab“. Der NS-Weltanschauung dagegen entspreche es, nur Deutschstämmige als „rechtlich vollgültig“ zu behandeln. Damit würden „grundsätzliche Abgrenzungen des früheren Fremdenrechtes erneuert und Gedanken wiederaufgenommen, die vormals durch die Unterscheidung zwischen voll Rechtsfähigen und Personen minderen Rechts anerkannt waren“. Den Grad „völliger Rechtlosigkeit“ habe man ehedem, „weil die rechtliche Persönlichkeit ganz zerstört sei“, dem „leiblichen Tode“ gleichgestellt; die Gebilde des „bürgerlichen Todes“ oder des „Klostertodes“ hätten ihre Namen aus dieser Vergleichung empfangen. Wenn der Vertrag „Krankheit, Tod oder ähnlichen Grund“ nenne, so sei „unbedenklich eine aus gesetzlich anerkannten rassepolitischen Gesichtspunkten eingetretene Änderung in der rechtlichen Geltung der Persönlichkeit dem gleichzuachten, sofern sie die Durchführung der Regietätigkeit .... hindert, wie Tod oder Krankheit es täten ...“ 302 Im Herbst 1938, noch vor dem Novemberpogrom, folgte die Äußerung eines Juristen, des Obersten Parteirichters Walter Buch, veröffentlicht in einer juristischen Zeitschrift: „Der Jude ist kein Mensch.“303
302 Meine Hervorhebungen. Urteil des Reichsgerichts vom 27. Juni 1936, zit. nach Juristische Wochenschrift, 65. Jg. 1936, 2529–2531, hier 2530. Ich korrigiere frühere Hinweise, einer irrtümlichen Vorlage folgend, auf einen „Roman“ Charells; es handelte sich um ein Drehbuch. Ich verdanke die Kenntnis dieses Urteils dem ganz bedeutenden Werk von Ernst Fraenkel, 1974: Der Doppelstaat, hier 126–127. Der Sachverhalt wird bei Fraenkel irrtümlich dargestellt. Es gab nicht einen, sondern zwei Verträge: einen „Regievertrag“ zwischen der UFA und Charell, der im Juni 1933 in einem schiedsgerichtlichen Verfahren gelöst wurde, und einen „Manuskriptvertrag“ zwischen den zwei Gesellschaften; nur letzterer ist Gegenstand des Reichsgerichtsurteils von 1936. 303 Walter Buch, 1938: Des nationalsozialistischen Menschen Ehre und Ehrenschutz, in: Deutsche Justiz. Rechtspflege und Rechtspolitik. Amtliches Blatt der deutschen Rechtspflege, 100. Jg., Ausgabe A, Nr. 42, 21. Oktober 1938, 1660.
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Die dem Novemberpogrom von 1938 folgenden „Stufen der Ausgrenzung“ mit dem besonderen Wendepunkt der Einführung des „Judensterns“ im Herbst 1941 und den ab Sommer 1941 einsetzenden Massentötungen (zunächst in der eroberten Ukraine)304 und bald darauffolgenden Massendeportationen werden hier nicht nachgezeichnet.305 Festgehalten sei jedoch die der willkürlichen Entrechtung und Vernichtung von Millionen von Juden nachhinkende „Dreizehnte Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 1. Juli 1943, die lapidar feststellt: „Strafbare Handlungen von Juden werden von der Polizei geahndet.“ Damit war die „Rückabwicklung“ der Judenemanzipation abgeschlossen. Das Recht auf den gesetzlichen Richter, eines der zentralen Grundrechte des Rechtsstaates, bereits seit Jahren zehntausendfach umgangen von der Gestapo, war nun auch formell erloschen.306 d) Zur Gleichberechtigung der Frau. „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“ – so heißt es in Schillers „Ode an die Freude“. Bald folgt die Zeile „Brüder – überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“. Gibt es einen besseren Beweis als Schillers Zeilen für die „Männlichkeit“ der überlieferten Sprache? Auch in der Trias der französischen Revolution ist von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ die Rede. Die nachgeordnete Position der Frau im Zeitalter der ständischen Ordnung ist oft kommentiert worden – die herausragende Ausnahme, nämlich die zur Erhaltung der dynastischen Erbfolge in Herrscherfamilien in manchen Ländern – England, aber nicht Frankreich – gestattete weibliche Erbfolge, ist es ebenfalls.307 Auch einer anderen herrschaftlichen Funktion ist zu gedenken, jener der Äbtissin – von großer Bedeutung in Epochen, in welchen 304 Die erste, eine fünfstellige Zahl aufweisende Massentötung von Juden (darunter zahlreiche Juden aus der von Ungarn in Besitz genommenen Karpatho-Ukraine, die von ungarischer Seite in den Osten vertrieben wurden) fand von 26. bis 29. August 1941 bei Kamenets-Podilskiy in Podolien (Ukraine) statt. Es wurden etwa 23.600 Juden erschossen. Snyder 2010, 199–200. 305 Ich verweise auf Konrad Kwiet, 1996: Nach dem Pogrom: Stufen der Ausgrenzung, in: Wolfgang Benz, Hg.: Die Juden in Deutschland 1933–1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, 4. unveränd. Aufl., 545–659. 306 Noch mit Datum 5. Juni 1943 gab es einen Strafprozess in Breslau gegen zwei junge jüdische Frauen. Die beiden Frauen (Geschwister) wurden zu Gefängnis- bzw. Zuchthausstrafen verurteilt und dort auch eingewiesen, jedoch nach wenigen Monaten der Gestapo übergeben. Sie überlebten Auschwitz und Bergen-Belsen. Darüber berichtet eine der Verurteilten, Anita Lasker-Wallfisch, 2009 (1997): Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz. Erinnerungen, 10. Aufl., 83. 307 Hierzu Gerhard Dilcher, 1997: Die Ordnung der Ungleichheit. Haus, Stand und Geschlecht, in: Ute Gerhard, Hg.: Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 55–72.
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Nonnenklöster für unverheiratete oder verwitwete Frauen die besten Chancen für Zuflucht und Schutz boten.308 Die Rhetorik der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte hat die Stellung der Frau neu zur Disposition gestellt. An der nachgeordneten Position der Frau, die überwiegend als „anders“ gesehen wurde – stärker der „Natur“ zugewandt309 –, änderte sich bekanntlich zunächst nichts. Ich sehe allerdings nicht bloß „die Natur“, sondern das Weiterwirken der aus der Antike bis ins 20. Jahrhundert wirkenden oder nachwirkenden Rechtsfigur des „pater familias“ im Hintergrund. „Eine grundlegende Neuorientierung im Sinne der Gleichberechtigung von Mann und Frau (im Ehe- und Familienrecht) brachte erst die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.“310 Die Langlebigkeit der ebenfalls dem „ganzen Haus“ zugeordneten minderen Rechtsstellung der „Domestiken“ (weit über die Revolution hinaus, mit einer kurzen Ausnahme der Abschaffung in der Verfassung von 1792, teilweise bis ins 20. Jahrhundert)311 deutet ebenfalls in diese Richtung.312 Die Frauenemanzipation ist eine „nachständische“ Entwicklung im Laufe des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts. Doch gab es Maßnahmen, die der Französischen Revolution entsprangen, wie etwa die sehr liberale Zivilscheidung von 1792, die u. a. das gegenseitige Einverständnis als einen Scheidungsgrund normierte, allerdings bald wieder unter Napoleon eingeengt, 1816 ganz abgeschafft und erst 1884 wieder eingeführt wurde.313 Die Mehrzahl der eingereichten Scheidungsklagen nach dem Gesetz von 1792, etwa zwei Drittel bis drei Viertel, ging von Frauen aus.314 Vor allem gab es zur Revolutionszeit Frauen und Männer, die die Menschen- und Bürgerrechtserklärung ernst nahmen. An erster Stelle ist der Marquis de Condorcet zu nennen, der 1790 seinen Essay über die Aufnahme der Frauen in das Bürgerrecht – „De l’admission des femmes au droit de cité“ – veröffentlichte. Auch seine Frau, Sophie de Condorcet, war feministisch engagiert.315 Zu Recht am berühmtesten ist die bereits erwähnte Erklärung der „Rechte 308 Hierzu im gleichen Band Heide Wunder: Herrschaft und öffentliches Handeln von Frauen in der Gesellschaft der frühen Neuzeit, ebd., 27–54. 309 Hierzu Rosanvallon 2001, 169–189. 310 Barbara Dölemeyer, 1997: Frau und Familie im Privatrecht des 19. Jahrhunderts, in: Ute Gerhard, 1997, 633–658, hier 658. 311 Erst 1930 wurde den „domestiques“ in Frankreich das Recht, zu Geschworenen bestellt zu werden, gegeben. Rosanvallon 2001, 548. 312 Claude Petitfrère, 1988: Liberté, égalité, domesticité, in: Michel Vovelle, Hg.: Les droits de l’homme et la conquête des libertés, 248–256. 313 Roderick Phillips, 1988: Putting asunder. A history of divorce in Western society, 256–276. 314 Ebd., 260–262. 315 Israel 2014, 122–123.
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der Frau und Bürgerin“, Mittelpunkt der Schrift „Les droits de la femme“ – „Die Rechte der Frau“ – von Olympe de Gouges. Olympe de Gouges veröffentlichte diese an die Königin Marie Antoinette gerichtete Schrift im Oktober 1791 mit der bewusst die Erklärung von 1789 Artikel für Artikel umformulierenden „Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin“. Wichtig ist, die in der französischen Sprache vorhandene Doppelbedeutung des Wortes „l’homme“ für „Mensch“ und für „Mann“ zu bedenken; während die Erklärung von 1789 „l’homme“ im Sinne von „Mensch“ verwendete, ist für de Gouges „l’homme“ stets der Mann.316 De Gouges, auch im Kampf um die Abschaffung der Sklaverei aktiv, starb 1793 auf dem Schafott. Ähnlich wie de Gouges die französische Erklärung als Muster nahm, um den logischen Widersinn einer männlichen Menschenrechtserklärung darzulegen, haben mehr als ein halbes Jahrhundert später amerikanische Frauen in der Erklärung von Seneca Falls vom Juli 1848 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung als Leitbild verwendet.317 Doch will ich auf eine höchst originelle Begründung der gleichberechtigten und politischen Rechtsfähigkeit der Frau aufmerksam machen, über die Pierre Rosanvallon berichtet hat. 1793 hat ein Abgeordneter aus dem Norden, Pierre Guyomar, im republikanischen Verfassungskonvent mit Hinweis auf die Doppelbedeutung des französischen Wortes „l’homme“ – „Mann“ und „Mensch“ – argumentiert, dass die „droits de l’homme“ den Menschen und nicht den Mann betreffen. Er schlägt deshalb vor, von den Rechten des „Individuums“ [meine Hervorhebung] zu sprechen. Dieses Wort bezeichne am genauesten „Menschen jedes Geschlechts, jedes Alters“ usw. In der Demokratie seien beide, Männer und Frauen, Mitglieder des Souveräns. Solange nur die Männer einen (politischen) Stand (corps) bilden, sind die Frauen „die Heloten der Republik“.318 Nicht ungenannt sollen zwei Wer316 Darauf verweist besonders Adamovich 2013. Zu Condorcet und Olympe de Gouges vgl. Joan B. Landes, 1988: Women and the Public Sphere in the Age of the French Revolution, 112–117, 124–127. Eine Gegenüberstellung der „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ (1791) und der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ (1789) bei Ute Gerhard, 1990: Gleichheit ohne Angleichung. Frauen im Recht, 263–269. Eine genau recherchierte historische Studie ist jene von Karl Heinz Burmeister, 1999: Olympe de Gouges. Die Rechte der Frau 1791, der die gesamte Schrift über die Rechte der Frau einschließlich der Rechteerklärung im französischen Original und in deutscher Übersetzung veröffentlicht. 317 Text der Seneca-Falls-Erklärung u. a. in Henry Steele Commager, Hg., 1963: Documents of American History, 7. Aufl., vol. 1, 317–318. 318 Pierre Guyomar: Le Partisan de l’égalité politique entre les individus, ou Problème très important de l’égalité en droits et de l’inégalité en fait, Paris 1793 (= dritter Annex zur Sitzung des Verfassungskonvents vom 29. April 1793, Archives Parlementaires, vol. LXIII, 591–599), zit. bei Rosanvallon 2001, 181–182; vgl. Israel 2014, 361–362.
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ke zur Gleichberechtigung der Frau aus dem Revolutionsjahr 1792 bleiben: Die englische Vorkämpferin der Frauenrechte, Mary Wollstonecraft (1759–1795) veröffentlichte ihr Werk zur Gleichberechtigung der Frau: „A Vindication of the Rights of Woman“ – „Eine Rechtfertigung der Rechte der Frau“.319 Im gleichen Jahr erschien in Berlin „Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber“ des preußischen Beamten und zeitweisen Bürgermeisters von Königsberg, Theodor Gottlieb von Hippel, ein Buch, das im Titel genau dem bereits genannten Werk eines anderen preußischen Beamten, Christian Konrad Wilhelm Dohms „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ nachgezeichnet war.320 Hippel war mit Kant befreundet, doch hat sich Kant offensichtlich Hippels Befürwortung der politischen Rechte der Frau nicht angeschlossen.321 Hippel kritisierte die Französische Revolution, die den Frauen keine politische Berechtigung zusprach; Hippel fand übrigens Frauen für die richterliche Tätigkeit besonders geeignet.322 Die politische Berechtigung der Frauen ist bekanntlich eine Angleichungsbewegung nicht des 19., sondern des 20. Jahrhunderts gewesen, wobei der Erste Weltkrieg als wichtiger Katalysator gewirkt hat.323 Angleichungen der Rechte der Frau im bürgerlichen Recht (vor allem Eherecht) sind teilweise noch später erfolgt als die politische Angleichung. In der Bundesrepublik Deutschland war vom Grundgesetz vorgesehen, dass Angleichungen im Familienrecht bis März 1953 erfolgen sollten. Der Termin verstrich, und das sogenannte Gleichberechtigungsgesetz trat erst am 1. Juli 1958 in Kraft. Das Recht des Ehemannes, ein Dienstverhältnis seiner Frau fristlos zu kündigen, wurde aufgehoben. Volle Gleichberechtigung wurde aber erst mit dem Ehereformgesetz von 1977 erreicht, nämlich der Ersatz der Aufgabenteilung in der Ehe durch das Partnerschaftsprinzip; auch die Erwerbstätigkeit der Frau ohne Einverständnis des Mannes wurde erst mit diesem Gesetz
319 Mary Wollstonecraft, 1992 (1792): A Vindication of the Rights of Woman, Miriam Brody, Hg. (Penguin Classics). 320 Theodor Gottlieb von Hippel, 1981 (1792): Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (Nachdruck der Ausgabe 1828; die Erstveröffentlichung erfolgte anonym). Die Erstausgabe 1792 ist im Internet abrufbar. 321 Zum Verhältnis Hippel–Kant (persönlich und theoretisch) ausführlich Ursula Pia Jauch, 1988: Immanuel Kant zur Geschlechterdifferenz, Kap. 8, 203–236. 322 Ebd., 213, 216. 323 Birgitta Bader-Zaar, 2009: Women’s Suffrage and War. World War I and Political Reform in a Comparative Perspective, in: Irma Sukunen/Seija-Leena Nevala-Nurmi/Pirjo Markkola, Hg.: Suffrage, Gender and Citizenship. International Perspectives on Parliamentary Reforms, 193–218.
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ermöglicht.324 In Österreich erfolgten Reformen sukzessive in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts. Am wichtigsten war das Bundesgesetz über die Neuordnung der persönlichen Rechtswirkungen der Ehe von 1975; die Stellung des Ehemannes als Oberhaupt der Familie wurde abgeschafft und die Gleichberechtigung der Frau in der ehelichen Gemeinschaft festgelegt. Es fiel auch das Recht des Ehemannes, die Berufstätigkeit der Ehefrau zu untersagen. Hausarbeit wurde als gleichwertiger Beitrag zum Unterhalt der Familie anerkannt.325 Im angloamerikanischen Bereich, d. h. in den Ländern der Common-law-Tradition, gab es das aus der normannischen Tradition stammende Recht der „coverture“, das die verheiratete Frau vollständig den Rechten des Ehemannes unterordnete, ihr jede Möglichkeit, Eigentum zu besitzen oder Verträge einzugehen nahm; daher auch die Bezeichnung „feme covert“, während die unverheiratete Frau, „feme sole“, über das Recht verfügte, Eigentum zu besitzen und Verträge abzuschließen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist es sowohl in England als auch in zahlreichen Einzelstaaten der Vereinigten Staaten – das Eherecht ist nicht bundesrechtlich, sondern einzelstaatlich geregelt – zum schrittweisen Abbau der „coverture“ gekommen. Manche Reste sind in einigen Staaten der USA noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts verblieben. Im Jahr 1966 anerkannte der Supreme Court das noch vorhandene „Coverture“-Recht im Staat Texas (das bald danach abgeschafft wurde) trotz des persönlichen „distaste“ der Richter gegenüber dieser „obsoleten“ Institution. Ein Minderheitsvotum des Richters Hugo Black geißelte die „coverture“ als „archaic remnant of a primitive caste system“.326 In der Gegenwart ist die Benachteiligung/Diskriminierung von Frauen in den westlichen Gesellschaften vor allem mit dem Berufsleben verbunden. Dazu im nächsten Abschnitt mehr.327 e) Positive Diskriminierung. Zur Gleichstellungsfrage gesellt sich, wenn auch erst in den letzten Jahrzehnten theoretisch reflektiert, die Problematik positiver 324 Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14. Juni 1976, in Kraft seit 1. Juli 1977. 325 Bundesgesetz über die Neuordnung der persönlichen Rechtswirkungen der Ehe, BGBl. 412 aus 1975. 326 Rechtsfall des Supreme Court U. S. v. Yazell, 382.U.S. 341 (1966). 327 Aus der unübersehbar gewordenen Literatur möchte ich folgende Titel zur Einführung und zum Überblick herausgreifen: den bereits in den Anmerkungen 307, 308 u. 310 genannten von Ute Gerhard hg. Sammelband „Frauen in der Geschichte des Rechts“, 1997; zwei Bände von Gerda Lerner, 1995: Frauen finden ihre Vergangenheit. Grundlagen der Frauengeschichte; Gerda Lerner, 1998: Die Entstehung des feministischen Bewußtseins. Vom Mittelalter bis zur ersten Frauenbewegung; Joan Hoff, 1991: Law, Gender, and Injustice. A Legal History of U. S. Women.
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Maßnahmen, um einen schwächeren und benachteiligten Bevölkerungsteil begünstigteren Gruppen anzugleichen oder zumindest benachteiligende Unterschiede möglichst zu reduzieren. Derartige Maßnahmen, einmal sehr zutreffend als „Angleichungsförderung“328 bezeichnet und in den USA am besten unter dem Namen „Affirmative Action“ bekannt, werden inzwischen allgemein unter dem Begriff „positive Diskriminierung“ (manchmal auch „Positivdiskriminierung“) subsumiert. Auch der Begriff „reverse discrimination“, also „umgekehrte“ Diskriminierung, ist verwendet worden.329 Obgleich nur sehr selten, soweit ich sehe, unter der Rubrik „positive Diskriminierung“ besprochen, ist wohl die Steuerprogression die am weitesten verbreitete Form der politisch bewusst verfolgten und in Gesetzesform gegossenen Schritte zur Reduzierung der Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsteile.330 Die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts hat die Steuerprogression auch folgerichtig mit dem Gleichheitssatz begründet. In einem Urteil aus dem Jahr 1958 heißt es ausdrücklich, dass „im Bereich des Steuerrechts eine formale Gleichbehandlung von Reich und Arm durch Anwendung desselben Steuersatzes dem Gleichheitssatz widersprechen“ würde. Das Bundesverfassungsgericht fügte hinzu: „Hier verlangt die Gerechtigkeit, dass im Sinne der verhältnismäßigen Gleichheit der wirtschaftlich Leistungsfähigere einen höheren Prozentsatz seiner Einnahmen zu zahlen hat als der wirtschaftlich Schwächere.“331 Ein wichtiges Kapitel der positiven Diskriminierung ist die sogenannte „Affir328 So Paul Kirchhof im Abschnitt „Die Gleichberechtigung von Mann und Frau“, in: Paul Kirchhof, 1996: Die Verschiedenheit der Menschen und die Gleichheit vor dem Gesetz, Privatdruck der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 51–59. 329 Etwa von Ronald Dworkin, 1978: Taking Rights Seriously (erw. Ausg.), Kap. 9 „Reverse Discrimination“; dt. Übers. der erw. Ausg., 1984: Bürgerrechte ernstgenommen, Kap. 9, 364–389. Dworkin ist Befürworter der Affirmative Action in den USA; hierzu auch Ronald Dworkin, 2000: Sovereign Virtue, 386–426. 330 Ein Hinweis auf die Steuerprogression findet sich im Separatvotum eines Mitglieds des Supreme Court der USA, des Richters Blackmun, in einem berühmten, die Verfassungsmäßigkeit der bevorzugten Zulassung von Minderheits-Angehörigen (afroamerikanisch, hispanoamerikanisch, indianisch-amerikanisch u. a.) zu amerikanischen Universitäten betreffenden Fall aus dem Jahre 1978. Hierzu Gerald Stourzh, 2002: Gleichheitsgebot und Benachteiligtenförderung. Der Fall Regents of the University of California v. Bakke vor dem US Supreme Court, 1978, in: B.-Ch. Funk et al., Hg.: Der Rechtsstaat vor neuen Herausforderungen. Festschrift für Ludwig Adamovich zum 70. Geburtstag, 773–789, hier 789. 331 Sog. 1. Parteispendenurteil des Bundesverfassungsgerichts, 24. Juni 1958, Entscheidungen des Bundesverfassunsgerichts 8, 51–1, B–IV, Randnr. 70.
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mative Action“-Politik in den USA seit den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts, vor allem zur sozialen Angleichung der afroamerikanischen Bevölkerung und anderer benachteiligter Bevölkerungsteile, u. a. auch der Hispanoamerikaner, aber auch der weiblichen Bevölkerung. Der wichtigste Aktionsplatz der Affirmative Action ist die Zulassungspolitik zu den amerikanischen Universitäten geworden. In Hinblick auf die strikt begrenzten Zulassungszahlen kam es durch Einführung von Quoten für Angehörige benachteiligter Gruppen zur Benachteiligung von höher qualifizierten Kandidaten der grundsätzlich begünstigteren Bevölkerungsteile. Unter mehreren Höchstgerichtsurteilen ist ein Fall aus dem Jahr 1978, der „Bakke“-Fall, von besonderem Interesse. Der Streitfall (von der Medizinischen Fakultät der University of California ausgehend), in dessen Mittelpunkt das Gleichheitsgebot der amerikanischen Bundesverfassung stand, endete mit einem Kompromiss, der strengere Regeln für die Begünstigung der Minderheit, aber noch keine Abschaffung der Affirmative Action vorsah, und dem klagenden Bürger norwegischer Herkunft gleichwohl die Aufnahme als Studierendem ermöglichte. Eines der nachdenklichsten Voten stammte von Richter Harry Blackmun, der die Begünstigung der Afroamerikaner als vorübergehend erforderlich, als „transitional inequality“ befürwortete. Der Rassismus in Amerika zwinge dazu, den Faktor „Rasse“ zu berücksichtigen: Um einige Personen [der afroamerikanischen Minderheit, d. V.] „gleich“ zu behandeln, müsse man sie „unterschiedlich“ behandeln.332 Nunmehr ist im April 2014 die „Affirmative Action“-Politik durch ein mit sechs gegen zwei Stimmen getroffenes Urteil des Supreme Court verworfen worden. Die konservative Mehrheit des Gerichtshofs hat eine Verfassungsänderung des Staates Michigan, mit der „race-sensitive“ Zulassungen zu den öffentlichen Universitäten Staates als unzulässig erklärt wurden, für bundesverfassungskonform erklärt. Die liberale Minderheit von zwei Richterinnen am Supreme Court hat dagegen ein leidenschaftliches Minderheitsvotum eingelegt.333 Verfasserin ist das einzige hispanoamerikanische Mitglied des Supreme Court, Sonia Sotomayor. Sotomayor, puertoricanischer Herkunft, die selbst ihr Studium an zwei amerikanischen Spitzenuniversitäten (Princeton und Yale) einem „Affirmative Action“-Programm verdankt und aus sehr beengten sozialen Verhältnissen kommt,334 hat den Primat des Schutzes von Minderheitsrechten vor dem Mehrheitsentscheid verteidigt: „The majority 332 Stourzh 2002, 789. 333 Die dritte weibliche Richterin am Höchstgericht, Elena Kagan, nahm an diesem Fall nicht teil. 334 Hierzu die Autobiografie von Sonia Sotomayor, My Beloved World, New York 2013; dt. Übers.: Meine geliebte Welt, München 2014.
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may not suppress the minority’s right to participate on equal terms in the political process.“ Selten ist der immerwährende Konflikt zwischen Mehrheitswillen und Minderheitsrechten so grundsätzlich und klar ausgetragen worden wie in diesem Streitfall.335 Was in den USA unter dem Namen Affirmative Action in erster Linie zur Besserstellung der Bürger afroamerikanischer Herkunft gedacht war, ist zwar auch in Amerika, aber besonders in Europa, Frauen im Berufsleben zugutegekommen. Diese früher vielleicht aussagekräftiger als „Angleichungsförderung“ bezeichnete, nunmehr allgemein positive Diskriminierung genannte Politik wird auch verfassungs- und europarechtlich als Teil der Gleichheitsgarantien betrachtet. Artikel 3, Absatz 2. des deutschen Grundgesetzes lautete ursprünglich: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ 1994 wurde im Zuge einer Verfassungsreform ein zweiter Satz hinzugefügt, die die Angleichungsförderung/Positivdiskriminierung ausdrücklich verfassungsrechtlich verankert: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung von Nachteilen hin.“ In der österreichischen Bundesverfassung gibt es seit 1998 ein Bekenntnis zur „tatsächlichen“ Gleichstellung von Mann und Frau mit dem Zusatz: „Maßnahmen zur Förderung der faktischen Gleichstellung von Frauen und Männern insbesondere durch Beseitigung tatsächlicher Ungleichheiten sind zulässig.“336 Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union hat einen eigenen Titel III über „Gleichheit“. Dessen Artikel 23, Gleichheit von Frauen und Männern, lautet: „Die Gleichheit von Frauen und Männern ist in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen. Der Grundsatz der Gleichheit steht der Beibehaltung oder Einführung spezifischer Vergünstigungen für das unterrepräsentierte Geschlecht nicht entgegen.“ Der Artikel erhebt einen „umfassenden Geltungsanspruch“ für die Geschlechtergleichheit.337 Dieser Artikel wird als die modernste Formulierung des Gebots der Gleichheit von Männern und Frauen bezeichnet.338 Im Sinne mehrerer EU-Richtlinien zur 335 U. S.Supreme Court, Schuette v. Coalition to Defend Affirmative Action (BAMN), 22. April 2014. „Syllabus“, im Internet abrufbar. 336 Art. 7 (2), Bundesverfassungsgesetz. Ich danke Ludwig Adamovich für diesen und etliche weitere Hinweise. 337 Text mit Kommentar in: Jürgen Meyer, Hg., 2014: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl., 418–427. 338 Ebd., 424.
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Festigung der Gleichberechtigung der Frau hat der Europäische Gerichtshof zahlreiche Urteile zugunsten der Gleichbehandlung der Frau gefällt. Nur zwei Entscheide seien hier genannt: Mit Urteil vom 11. Jänner 2000 hat der Europäische Gerichtshof zugunsten einer Klägerin entschieden, die sich durch die Abweisung einer Bewerbung als Elektronikerin zur Instandsetzung von Waffen bei der Bundeswehr in ihrem Recht auf Gleichbehandlung verletzt fühlte.339 Die Bundeswehr stützte ihre Ablehnung auf den damals geltenden Artikel 12a, Absatz 4 GG, dass Frauen „auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten“ dürfen (auch Soldatengesetz § 1 Abs. 2). Der EuGH entschied, dass diese Bestimmung der EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen (76/207/EG) widerspreche. Das Grundgesetz (Art. 12 a Abs.4) musste mit Gesetz vom 19. Dezember 2000 geändert werden. Das Grundgesetz sieht nun zwar vor, dass Frauen „auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden“ können, Berufssoldatinnen können jedoch seither an Waffen ausgebildet werden, und die Zahl an Soldatinnen hat seither stark zugenommen.340 In einem aus Belgien kommenden Fall aus dem Jahr 2011 hat der EuGH geurteilt, dass bei Versicherungsverträgen die Berücksichtigung des Geschlechts als Risikofaktor eine Diskriminierung der Frau darstellt und dass ab Dezember 2012 die Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen anzuwenden ist.341 f ) Indigene. Die koloniale Situation, so wurde zutreffend geschrieben, ist „der unverwechselbare Komplex von Herrschaft, Ausbeutung und Kulturkonflikt in ethnisch heterogenen politischen Gebilden, die durch Einwirkung von außen entstanden“ sind.342 Es wäre wohl, um das Gesamtbild noch hässlicher zu machen, ausdrücklich der Aspekt physischer Gewaltanwendung zu nennen.343 Es geht nicht bloß um Ersteroberungen wie in Mexiko oder Peru, sondern auch später. Dazu zählt die Verschleppung der Sklaven – verschleppte Indigene, welchen die Einbettung in die Gemeinschaft ihrer Stammes- und Sprachgenossen genommen wurde344 – sowie deren Einsatz als Zwangsarbeiter in der kapitalistischen Planta339 340 341 342
Rechtssache C – 285/98, Tanja Kreil v. Bundesrepublik Deutschland, Urteil vom 11. 1. 2000. Die Klägerin Tanja Kreil hat übrigens den Dienst in der Bundeswehr nicht angetreten. Rechtssache C – 236/09, 1. März 2011. Jürgen Osterhammel/Jan C. Jansen, 2012 (1995): Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. 7., vollständig überarb. und aktualis. Aufl., 30. 343 Hierzu neuestens auch: Hans Joas, 2015: Sind die Menschenrechte westlich?, Kap. „Folter und Kolonialismus“, 55-67. 344 Zur mentalen Verfasstheit von Sklaven verweise ich auf das bedeutende Werk des aus Jamaica stammenden afroamerikanischen Harvard-Professors für Soziologie, Orlando Patterson, 1982: Slavery and Social Death.
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genwirtschaft in Brasilien, der Karibik und den Südstaaten der USA.345 Dazu zählt fallweise die Ausrottung ganzer Stämme, wie der Herero in Deutsch-Südwestafrika 1904,346 und dazu zählen auch die Folgen unkontrollierter Herrschaft wie im Kongo-Staat des Königs Leopold II. von Belgien (1885–1908) im Zuge der Kautschuk-Gewinnung – im „Herz der Finsternis“ (Joseph Conrad).347 Dazu zählen die immer wiederkehrenden Vertreibungen bei Ausbreitung der Landnahme weißer Siedler von den USA bis Australien. In den USA wurde den im Lande geborenen Indianern generell erst 1924 das Unionsbürgerrecht verliehen. In Australien hob 1967 eine Verfassungsänderung, die durch eine Volksabstimmung mit 90% Ja-Stimmen gebilligt wurde, den Sonderstatus von Indigenen („Aborigines) auf und schloss sie erstmals in die nationalen Volkszählungen ein.348 – In diesem Essay sollen nur zwei Beispiele genannt werden, die mit der Thematik dieses Essays in engem Zusammenhang stehen: die Erweiterung des alteuropäischen Grundmusters der abgestuften Sozial- und Rechtsordnung im spanischen Herrschaftsraum in Mittel- und Südamerika; und das Spannungsverhältnis zwischen Kolonialherrschaft und demokratischen Gleichberechtigungsideen in Frankreich seit der Französischen Revolution. Nur im spanischen Kolonialreich, so ist betont worden, seien nach der Conquista die Indigenen im Aufbauprozess der die Institutionen und Bauwerke Spaniens und seiner Kirche duplizierenden Vizekönigreiche Neu-Spanien und Neu-Kastilien (später Peru) verwendet worden, etwa bei dem Bau zahlloser Kirchen, Klöster und weltlicher Verwaltungspaläste, während sie außerhalb Hispano-Aamerikas marginalisiert, ausgeschlossen oder ausgerottet wurden.349 Es gab einen indianischen Häuptlingsadel, die Kaziken, der rechtlich dem spanischen Hidalgo gleichgestellt war und von den Spaniern zur Beherrschung der einfachen Indianer eingesetzt wurde.350 Trotz der berühmten Kritik der Dominikaner, besonders des Bartolomé de Las Casas, trotz verschiedener Bemühungen der Kirche und der Krone ist es nur 345 Hierzu der Abschnitt „Plantagenwirtschaft und Sklaverei“, in: Kocka 2014, 55–59. 346 Hierzu mehrere Beiträge in dem Sammelband von A. Dirk Moses, Hg., 2008: Empire, Colony, Genocide. Conquest, Occupation and Subaltern Resistance in World History. 347 Hierzu Adam Hochschild, 2012 (2000): Schatten über dem Kongo, 9. um ein Nachwort erw. Aufl. 348 Erst 2007 (!) beschlossen die Vereinten Nationen die „United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples“ . Text im Internet abrufbar. 349 Serge Gruzinski, 2002: La pensée métisse. Hier verwendet die englische Übersetzung, 2002: The Mestizo Mind, 62–63. 350 Hierzu Wolfgang Reinhard, 2008: Kleine Geschichte des Kolonialismus, 2. vollständig überarb. und erw. Aufl., 85.
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sehr langsam zu einer Milderung der brutalen Praktiken des 16. und auch noch des 17. Jahrhunderts gekommen. Jedenfalls entwickelte sich in Spanisch-Amerika, auch durch den wachsenden Zuzug von Indios in die Städte und im Unterschied zu Brasilien mit seiner wesentlich größeren Zahl von afrikanischen Sklaven einerseits und zu Nordamerika andererseits, die Herausbildung der Mestizen, also die Vermischung von Weißen und Indigenen, mit zahlreichen Vermischungen unterschiedlicher Grade der bereits gemischten Bevölkerungsgruppe, auch mit Beimischung eines afrikanischen Anteils. Die Zahl und die Art der Vermischungen hat im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert zur Ausbildung eines hierarchischen Systems abgestufter „castas“ geführt, das übrigens häufig bildlich dargestellt wurde. Die „Casta“-Gemälde enthielten jeweils 16 hierarchisch abgestufte Darstellungen von (gemischten) Paaren mit einem Kind. 351 Die hierarchische Struktur Neu-Spaniens kommt in einer Quelle aus dem Jahr 1752, dem Gutachten eines Juristen in Mexiko, zum Ausdruck, in dem die Frage besprochen wird, ob ein Mann, der ein Mädchen unter dem Versprechen der Heirat verführt hat, rechtlich zu dieser Heirat verpflichtet werden könne. Der Jurist führte aus: Wenn das verführte Mädchen einem inferioren Status angehört, sodass sie der Familie des Mannes größere Unehre antäte, wenn er sie heiratete, als es die Unehre wäre, verführt und unverheiratet zu bleiben, dann müsse er sie nicht heiraten. Als Beispiel wird angeführt: Wenn etwa ein Herzog, Graf, Marquis oder ein Edelmann von bekanntem Adel ein Mulatten-Mädchen, eine china, eine coyota, die Tochter eines Scharfrichters, eines Fleischhauers oder eines Gerbers verführte, müsse er sie nicht heiraten. Eine coyota galt als Tochter eines Mestizen und einer Indianerin (oder umgekehrt); eine china galt als Tochter eines Mulatten und einer afrikanischen Mutter (oder umgekehrt), wobei allerdings die Zuordnung einzelner Bezeichnungen der Vermischung vor allem in den niederen Rängen durchaus (etwa regional) variierte. Diese Aufzählung als minder, ja, teilweise als „unehrlich“ geltender Stände ist umso interessanter, als sie sowohl Berufsstände, die in Europa als „unehrlich“ galten, nennt, wie etwa Scharfrichter oder (wegen ihrer Berührung von totem Getier) Fleischhauer oder Gerber, als auch Personen, die verschiedenen Gruppen (castas) von miteinander vermischten Mexikanern angehören, wobei Afrikaner oder von Afrikanern abstammenden Personen als „unehrlich“ galten. Eine solche Heirat, so das juristische Gutachten weiter, würde eine noble Familie entehren und etwas zerstören, das dem ganzen Staat Glanz und Ehre gibt. Wenn hingegen das verführte Mädchen von nicht sehr bemerkenswerter Ungleichheit 351 Hierzu eine Monografie mit reichem Bildmaterial: Ilona Katzew, 2004: Casta Painting. Images of Race in Eighteenth-Century Mexico.
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Abbildung 4: Ignacio Maria Barreda, Las castas mexicanas, Öl auf Leinwand, 1777, Real Academia Española, Madrid.
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sei, dann müsse der Verführer dem Mädchen entweder eine Ausstattung gewähren oder, falls sie diese nicht annimmt, zur Eheschließung verpflichtet werden.352 Diese Quelle zeigt deutlich die Erweiterung der europäischen abgestuften Standesordnung um das Element der Hautfarbe. Die schließlich – eigentlich erst mit dem 18. Jahrhundert – erreichte relativ konsolidierte Lage der Indigenen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich – mit Ausnahme des Häuptlingsadels – um eine Konsolidierung in größter Armut, sei es als Landarbeiter oder in den Städten, handelte. Alexander von Humboldt hat eine außerordentlich eindrucksvolle Schilderung Mexikos um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert aus eigener Wahrnehmung gegeben; er bereiste Mexiko von März 1803 bis März 1804. Er ist zum Schluss gekommen, Mexiko sei „das eigentliche Land der Ungleichheit; denn nirgends ist sie in Verteilung der Glücksgüter, der Zivilisation, des Anbaus und der Bevölkerung größer als hier“. Durch Humboldts Darstellung weht der Geist der Aufklärung und der Französischen Revolution, wenn er schreibt: „Die Zivilbeamten, welche jede Neuerung verabscheuen, und die Kreolen, die Landeigentümer sind und meist ihren Vorteil dabei finden, wenn der Feldarbeiter in Erniedrigung und Elend hingehalten wird, behaupten, dass man nichts bei den Eingeborenen verändern dürfe, weil die Weißen, sobald man ihnen mehr Freiheit gestatten würde, alles von der Rachsucht und der Anmaßung der indianischen Rasse zu fürchten hätten. Allein diese Sprache hört man überall, wo es darauf ankommt, die Bauern Menschen- und Bürgerrechte genießen zu lassen, und ich habe in Mexico, Peru und in Neu-Granada alles das wiederholen hören, was man in verschiedenen Teilen von Deutschland, in Polen, Livland und Russland gegen die Aufhebung der Leibeigenschaft zu sagen pflegt.“ 353 Nun zur französischen Entwicklung ab 1789. Frankreich besaß zur Zeit der Revolution nur wenige Kolonien, in den Antillen Guadeloupe, Martinique, Saint-Domingue (das spätere Haiti), dann Guyana und im Indischen Ozean die 352 „Dictamen de Dr. Tembra“ (Madrid, Biblioteca National, Manuscritos de America), erstmals in englischer Übersetzung veröffentlicht von Verena Martinez-Alier (publiziert auch unter dem Namen Stolcke), 1972: Elopement and Seduction in Nineteenth-Century Cuba, in: Past and Present, Nr. 55, 91–129, hier 91. Auch zit. bei Stourzh 1996: Equal Rights: Equalizing the Individual’s Status and the Breakthrough of the Modern Liberal State, wiederveröff. in Stourzh 2007, 276. 353 Alexander von Humboldt 1991 (1809): Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neu-Spanien..., Bd. 1, Buch II in: Alexander von Humboldt, 1991: Mexico-Werk. Politische Ideen zu Mexico. Mexicanische Landeskunde, (=Alexander von Humboldt, Studienausgabe, Hanno Beck, Hg., Bd. IV), hier 189–190 und 198 (Hervorhebung von mir). Die Originalausgabe von Humboldts Buch ist französisch und erschien in Paris 1811.
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Insel Réunion. Im Zuge der Revolution wurde 1792 freien Farbigen das französische Bürgerrecht verliehen, 1794 wurde nach heftigen Auseinandersetzungen – Revolutionsprinzipien kontra Interessen der Plantagen- und Sklavenbesitzer – die Sklaverei abgeschafft; 1798 wurde allen Farbigen oder gemischten Personen das Bürgerrecht unter bestimmten Voraussetzungen verliehen. Unter Napoleon gab es Rückschritte, vor allem die Wiedereinführung der Sklaverei 1802. Während des „Bürgerkönigtums“ wurde 1833 die Gleichheit aller freien Farbigen wiederhergestellt, und es wurden ihnen die allgemeinen Bürgerrechte einschließlich des (damals noch sehr eingeschränkten) Wahlrechts verliehen. Das Revolutionsjahr 1848 brachte sowohl die endgültige Abschaffung der Sklaverei als auch die Einführung des allgemeinen gleichen Männerwahlrechts für französische Bürger. Inzwischen hatte jedoch die Schaffung des „zweiten“ französischen Kolonialreiches mit der Besetzung von Algier 1830 und der Annexion Algeriens 1834 begonnen. Schon anlässlich der Besetzung von Algier hatte Frankreich den Einwohnern die Achtung ihrer Freiheit und ihrer Religion (ganz überwiegend muslimisch, teilweise jüdisch) zugesagt, diese aber damit außerhalb der Geltung des Code civil und des französischen Bürgerrechts gestellt. Damit begannen Kontroversen um den Rechtsstatus der indigenen Algerier, die 1862 bzw. endgültig 1864 mit einem folgenschweren Gerichtsurteil entschieden wurden: Die indigenen Einwohner Algeriens wären zwar „ressortissants français“ – Zugehörige oder Angehörige des französischen Staates –, aber nicht „Français de France“, d. h. französische Bürger, sondern französische „sujets“, also Untertanen. Von da an, bis 1946, wird der Gegensatz zwischen Bürger – „citoyen“ – und Untertan – „sujet“ – zur wichtigsten Quelle der rechtlichen Ungleichheit im rasant wachsenden französischen Kolonialreich, seit 1870 unter der Herrschaft der demokratischen Dritten Republik. 1881 wurde per Gesetz der „Code de l’Indigénat“ zunächst für Algerien beschlossen, von rückblickender Kritik als „juristisches Monstrum“ verdammt.354 Er sah Administrativstrafen einschließlich administrativer Inhaftierung, Geldstrafen mit der Möglichkeit der Umwandlung in Zwangsarbeit vor, von der häufig Gebrauch gemacht wurde. Berufungsmöglichkeit gab es keine. Zwangsarbeit wurde auch aus anderen Begründungen abgeleitet und spielt in den afrikanischen Kolonien eine große Rolle. Abgeschafft wurde die Zwangsarbeit erst 1946.355 Ab 1919 und neuerlich 1927 wurde der Indigenatskodex für Teile der Bevölkerung abgeschafft,
354 Olivier Le Cour Grandmaison, 2010: De l’indigénat – Anatomie d’un monstre juridique: Le droit colonial en Algérie et dans l’Empire français, 7–12. 355 Sog. Loi Houphouët-Boigny, 11. April 1946.
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endgültig jedoch erst 1944.356 Nach 1881 wurde der Indigenatskodex schrittweise in verschiedenen Varianten auf die Gesamtheit des französischen Kolonialreiches ausgedehnt. Zwangsarbeit, aus verschiedenen Begründungen abgeleitet, spielte vor allem in den Kolonien in Afrika eine große Rolle. Individuelle Einbürgerungen von „sujets“ wurden sehr restriktiv gehandhabt. Ein besonderes Problem ergab sich für eine nicht geringe Gruppe „gemischter“ Personen: uneheliche Kinder indigener Frauen und französischer Männer, häufig Soldaten, Männer mit vorübergehendem Aufenthalt, deren Identität oft unbekannt war. Diese Kinder waren, dem Status der Mutter folgend, „sujets“, Untertane, wenngleich ihre verschwundenen Väter „citoyens“, französische Staatsbürger, waren. Die französische Kolonialverwaltung bemühte sich seit der Jahrhundertwende zunehmend, diese Kinder in schwierigen Verfahren an den besseren Status der Väter anzugleichen.357 Die Ungleichheit von Franzosen und Indigenen wurde auch in der Organisation kolonialer Vertretungskörperschaften zum Ausdruck gebracht, im System der „doppelten Kollegien“ oder „zwei Kollegien“ (deux collèges): ein „collège“, von den Staatsbürgern der Republik gewählt, das zweite die ungleich größere Zahl der Indigenen vertretend. Das System der zwei Kollegien galt ab 1944 auch in Algerien. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es 1946 erbitterte Diskussionen um die Abschaffung dieses diskriminierenden Systems, das jedoch zuungunsten der Indigenen verlängert und erst 1956 (in Algerien sogar erst 1958) abgeschafft wurde.358 Die Kolonialherrschaft der Dritten Republik stand ideologisch weitgehend unter dem Vorzeichen der „mission civilisatrice“ Frankreichs, der (schließlichen) Assimilation der Indigenen an die französische Kultur. Die Idee einer länger andauernden „Vormundschaft“ wurde, wie übrigens auch in anderen Kolonialherrschaften, mehrfach angesprochen.359 Doch gab es im Zeitalter des Sozialdarwinismus 356 „Statut juridique des indigènes d’Algérie“, Eintragung in der französischen Wikipedia-Ausgabe, Stand 18. März 2015, abgerufen am 26. März 2015, mit sehr ausführlichen Literaturund Quellenangaben. 357 Hierzu das vorzügliche Werk von Emmanuelle Saada, 2007: Les enfants de la colonie. Les métis de l’Empire français entre sujétion et citoyenneté. Die Arbeit stützt sich besonders auf Quellen für Indochina. 358 Zu diesen Auseinandersetzungen ausführlich Frederick Cooper, 2014: Citizenship between Empire and Nation, 114–117, 134–145 und öfter. 359 Hierzu Martin Deming Lewis, 1962: One Hundred Million Frenchmen: The „Assimilation“ Theory in French Colonial Policy, in: Comparative Studies in Society and History, Bd. 4, 129–153. Nicht auf den französischen Kolonialismus beschränkt vgl. Jürgen Osterhammel, 2005: „The Great Work of Uplifting Mankind“. Zivilisierungsmission und Moderne, in: Boris Barth/Jürgen Osterhammel, Hg., Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbes-
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auch militante Gegenstimmen, u. a. des Ethnologen und Psychologen Gustave Le Bon.360 1910 veröffentlichte der französische Diplomat Jules Harmand ein Buch über „Herrschaft und Kolonisierung“, in dem er die Unvereinbarkeit von Demokratie und Kolonialherrschaft mit seltener Deutlichkeit auf den Punkt brachte, aber ebenfalls sozialdarwinistisch mit dem „universalen Gesetz des Lebenskampfes“ argumentierte. Er gab zu, dass Expansion durch Eroberung für das Gewissen der Demokratien besonders ungerecht und beunruhigend sei, da sie zu einem „ipso facto aristokratischen Regime“ führe. Frankreich habe versucht, dieses Paradox durch die Assimilierung zu lösen, die auf dem Glauben an die Gleichheit aller Menschen und ihre rapide Perfektibilität beruhe. Die Zeit sei gekommen, diese utopische Idee durch realistischere Konzeptionen zu ersetzen.361 Mit dem Sieg der westlichen Demokratien im Zweiten Weltkrieg ergab sich für Frankreich die Notwendigkeit, den ungestümer werdenden Forderungen der dominierten Bevölkerungen entgegenzukommen. 1946 wurde „allen Angehörigen“ (ressortissants) der Übersee-Territorien die Qualität als Bürger (citoyens) verliehen und damit die unselige Trennung von Untertan und Bürger beseitigt.362 Die französische Verfassung vom 27. Oktober 1946 übernahm diesen Gesetzesartikel.363 Sie begründete auch die „Französische Union“, bestehend einerseits aus der französischen Republik einschließlich ihrer überseeischen Departments und Gebiete, andererseits aus angeschlossenen Gebieten und Staaten. Zu den Letzteren zählten Vietnam, Kambodscha, Laos, Marokko und Tunesien. Alle diese fünf Staaten haben die Union zwischen 1955 und 1957 verlassen.364 Die Union wurde 1958 mit der neuen französischen Verfassung (sog. De-Gaulle-Verfassung) in die „Communauté françaiserung seit dem 18. Jahrhundert, 363-425; dort zur französischen „mission civilisatrice“ 369 u. 372. 360 Etwa anlässlich eines „Internationalen Kolonialkongresses“ in Paris 1889, Lewis 1962, 137– 38. 361 Jules Harmand, 1910: Domination et colonisation, bes. 152–53, 155–156, zit. bei Lewis 1962, 148. Das Buch Harmands ist im Internet abrufbar. Vgl. auch den Text eines hohen Beamten im Kolonialministerium von 1926, M. Tesseron, zit. bei Saada 2007, 122. Neuestens siehe, mit zahlreichen Literaturhinweisen, Olivier Beaud, 2015: L’Empire et l’empire colonial dans la doctrine publiciste franÇaise de la IIIe République, in: Jus Politicum, Nr. 14, im Internet abrufbar unter: http://juspoliticum.com/L-Empire-et-l-empire-colonial-dans.html. 362 Sog. Loi Lamine Guèye (afrikanischer Abgeordneter aus dem Senegal), 7. Mai 1946. Cooper 2014, 88. Zur Person dieses Juristen und Sozialisten, der 1945 das Frauenwahlrecht im Senegal durchsetzte, ebd. 46–49. 363 Art. 80. Gosewinkel/Masing 2006, 370. 364 Der Vietnam-Krieg (1946–1954) und der Algerien-Krieg (1954–1962) werden hier nicht behandelt.
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se“ umgewandelt, die den bisherigen „überseeischen Gebieten“ die Möglichkeit bot, sich als Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zu konstituieren. Ein Gebiet, Französisch Guinea, ist nicht beigetreten, sondern hat schon 1958 seine Unabhängigkeit erklärt. Weitere elf Gebiete haben sich als Mitgliedstaaten konstituiert, jedoch schon im Laufe des Jahres 1960 ihre Unabhängigkeit deklariert. De facto existierte die „Communauté“ seit Ende 1960 nicht mehr, jedoch wurde sie erst 1995 aus der Verfassung entfernt. Unbeschadet der Verleihung des allgemeinen Bürgerrechts von 1946 konnten Gebilde wie die Union, aber auch die Communauté, nie den Vorrang Frankreichs abschütteln. Geradezu grotesk ist es, dass die „Communauté“ als Symbole die Marseillaise, die Trikolore und den Feiertag des 14. Juli übernahm!365 So konnte keine Gleichberechtigung erzielt werden. Als Alternative zu wie immer auch schrittweise mit Autonomien ausgestatteten früheren Kolonialreichen konnten nur unabhängige Staaten, nach Völkerrecht gleichberechtigt, infrage kommen. g) Staatsbürger und Ausländer. Zunächst sei festgehalten, dass es seit dem Aufkommen des modernen Verfassungsstaates sogar bei den Grundrechten die sogenannten „Jedermannsrechte“ gibt, die nicht an den Status des Staatsbürgers gebunden sind. Paradoxerweise enthält etwa das noch geltende österreichische „Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger“ von 1867 zahlreiche Jedermannsrechte, die eben nicht nur den Staatsbürgern zustanden und zustehen, wie etwa die Unverletzlichkeit des Eigentums, die persönliche Freiheit , die Glaubens- und Gewissensfreiheit u.a.m.366 Auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist zwischen Jedermannsrechten und „Deutschenrechten“ zu unterscheiden.367 In der gegenwärtigen Epoche weltweiter Migrantenströme steht der Status der Ausländer, insbesondere der Flüchtlinge und Asylsuchenden, aber auch der illegalen Einwanderer wie in den USA, im Vordergrund der Diskussion. Es geht vor allem um drei Probleme, um die in Politik und Literatur konfliktreiche Auseinandersetzungen stattfinden. Zunächst das Problem der Regularisierung der als Asylwerber oder auch illegal in ein Land gekommenen Personen. „No human is illegal.“368 Dann das Problem der Einbürgerung, gekoppelt mit dem Problem der 365 Dekret veröffentlicht in: Journal officiel de la République française, 17. Februar 1959, 2051; Eintragung „Communauté française (Cinquième République)“ französische Wikipedia-Ausgabe, abgerufen am 29. 3. 2015. 366 Ludwig Adamovich/Bernd-Christian Funk/Gerhard Holzinger/Stefan Leo Frank, 2015 (2003): Österreichisches Staatsrecht, Bd. 3: Grundrechte, 2. Aufl., 20. 367 Angelika Siehr, 2001: Die Deutschenrechte des Grundgesetzes. Bürgerrechte im Spannungsfeld von Menschenrechtsidee und Staatsmitgliedschaft. 368 Parole des „Immigrant Workers’ Freedom Ride“ in Queens, NY, 4. Oktober 2003; Motto des Werkes von Seyla Benhabib, 2004: The Rights of Others. Aliens, Residents and Citizens.
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Doppelstaatsbürgerschaft. Letztere wird von Juristen und Staatenvertretern meist kritisch gesehen, von Vertretern der Zivilgesellschaft eher positiv. Schließlich geht es um die Stimmberechtigung der nicht das Staatsbürgerrecht besitzenden Wohnbevölkerung. Die Stellungnahmen variieren von konservativ – etwa unter dem Titel „Abschied der Demokratie vom Demos“369 – zu liberal und ausländerfreundlich, etwa in den Schriften von Rainer Bauböck, Étienne Balibar und Seyla Benhabib.370 In der wissenschaftlichen Diskussion überwiegen die ausländerfreundlichen Stellungnahmen deutlich; Stimmungen in der Öffentlichkeit sind zur Zeit des Schreibens dieser Zeilen wohl eher in restriktiver Richtung zu orten. 3. Die Entwicklung der Grundrechte371 Die Hervorhebung von „fundamentalen Rechten“ spielt in Europa seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine größere Rolle, zunächst in den französischen konfessionellen Konflikten der 1570er-Jahre. Der protestantenfreundliche Publizist Innocent Gentillet hat drei Fundamentalgesetze der französischen Monarchie genannt: die lex salica (steht für Ausschluss der weiblichen Thronfolge in Frankreich, die de facto viel später, Mitte des 14. Jahrhunderts, verankert wurde.), zweitens die Unveräußerlichkeit des Kronguts, und drittens die Existenz der drei Stände; der letztgenannte Punkt war ihm am wichtigstern.372 Anfang des 17. Jahrhunderts fand König Jakob I. von England (gleichzeitig Jakob VI. von Schottland), dass man in Schottland jene Gesetze als „fundamental laws“ bezeichne, mittels derer „Konfusion vermieden“ werde („whereby confusion is avoided“), d. h. die Regelung der Thronfolge. Thronfolgeordnungen können ja in der Tat „Grundgesetze“ von Monarchien genannt werden, man denke etwa an die Pragmatische Sanktion des Habsburgerreiches Anfang des 18. Jahrhunderts. Im England des 17. Jahrhunderts lagen die Dinge etwas anders. Im Unterschied zu Schottland, so sagte 369 Josef Isensee, 1989: Abschied der Demokratie vom Demos. Ausländerwahlrecht als Identitätsfrage für Volk, Demokratie und Verfassung, in: Dieter Schwab et al., Hg.: Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift für Paul Mikat, 705–740. 370 Rainer Bauböck, 1994: Transnational Citizenship. Membership and Rights in International Migration; Etienne Balibar, 1992 (1982): Les Frontières de la démocratie; ders., 2005: Europe – Constitution – Frontière; Seyla Benhabib 2004. 371 Für diesem kurzen Abschnitt ziehe ich Materialien aus früheren Arbeiten heran, in welchen ich die Entwicklung der Konstitutionalisierung von Individualrechten ausführlich dargelegt habe, und zwar insbesondere (s. Bibliografie II) Stourzh 1974, Stourzh 1975, Stourzh 1981, Stourzh 1995, und Stourzh 1999a. 372 Stourzh 1995, 17.
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J akob I., gebe es das „common law“, das zuständig sei „for the fundamental lawes of this Kingdome“, einerseits die Prärogative des Königs betreffend, andererseits das Eigentum der Untertanen („the possessions of the Subjects“), entweder in Beziehung zwischen dem König und einem seiner Untertanen oder zwischen diesen selbst „in the points of meum et tuum“. Hier tauchen die Rechte des einzelnen Untertans, des Individuums, und zwar die Eigentumsrechte, als Teil der Fundamentalgesetze Englands auf. Der Begriff „fundamental laws“ oder „fundamental liberties“ findet sich immer wieder im England des 17. Jahrhunderts , und zwar in Bezug auf die Rechte der „frei geborenen Engländer (freeborne Englishmen“), ganz besonders auch auf das Recht des Schutzes vor willkürlicher Verhaftung („Habeas Corpus“-Gesetz von 1679).373 Im 18. Jahrhundert hat William Blackstone in seinen berühmten „Commentaries on the Laws of England“ die ganze Verfassungsordnung auf die Grundlage der Rechte der Person gestellt. Ich habe daher von einer Fundamentalisierung der Individualrechte in England gesprochen, die allerdings, und das ist wichtig, nicht zu einer formellen Höherrangigkeit dieser Rechte geführt hat. Das „Habeas Corpus“-Gesetz von 1679 war genauso wie die „Bill of Rights“ (eigentlich „Declaration of Rights“) ein einfaches Gesetz; es ist mehrfach, und einmal sogar sieben Jahre hindurch (1794–1801), suspendiert worden. In England gab und gibt es keine Dissoziierung zwischen einfachen und höherrangigen Gesetzen. Eine solche Dissoziierung entwickelte sich aber sehr wohl in Ansätzen schon in der Kolonialzeit in Nordamerika, besonders deutlich, wie bereits erwähnt, im Rahmen des Gründungsdokuments der Kolonie West New Jersey von 1676. Ein besonderer Teil des Gründungsdokuments („Concessions and Agreements“) trägt den Titel „Charter or fundamental laws of West New Jersey agreed upon“, in dem eindeutig die Unterordnung der „Legislative Assembly“ unter diese Fundamentalartikel festgestellt und das Verbot, Gesetze im Widerspruch zu diesen Fundamentalartikeln zu beschließen, ausgesprochen wird. Gebote und Verbote für die „gesetzgebende“ Versammlung! Man bedenke den enormen Gegensatz zum Begriff des Gesetzes bei Hobbes oder Rousseau! Hier wird der Beginn einer Tradition deutlich, die sich nach der Unabhängigkeit fortsetzte und im ersten Verfassungszusatz (First Amendment) der amerikanischen Bundesverfassung besonders stark zum Ausdruck kommt: Dort wird dem Bundesgesetzgeber verboten, die Einrichtung einer Staatsreligion oder das Verbot der freien Religionsausübung zu beschließen; das Verbot betrifft ferner die Einschränkung der Rede- und Pressefreiheit, des Versammlungs- und des Petitionsrechts. Wichtig ist
373 Hierzu Stourzh 1981, wiederabgedruckt in Stourzh 1989, 75–89.
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der kurze Zeitraum zwischen 1776 und 1780, in dem sich (mit zwei Ausnahmen) die Einzelstaaten ihre Verfassungen gaben und überwiegend mit Katalogen von Individualrechten ausstatteten – wobei der erste und berühmteste Katalog, die Erklärung der Rechte von Virginia, noch getrennt von der Verfassung als gewöhnliches Gesetz beschlossen wurde. Seit diesen Einzelstaatsverfassungen (besonders ausgefeilt jene von Massachusetts) kann man, erstmals in der westlichen Geschichte, von Verfassungen mit einem Grundrechts- und einem Organisationsteil sprechen. Im Dezember 1787 hat ein nicht eindeutig identifizierter amerikanischer Autor eine Stufenordnung der Rechte verfasst, die ob ihrer Genauigkeit an den Erfinder der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung, den Schüler und Freund Hans Kelsens, Adolf Merkl, denken lässt (auch wenn für Kelsen oder Merkl das hier an erster Stelle genannte Naturrecht ausschied): „An Rechten gib es einige, die natürlich und unveräußerlich sind, und die nicht einmal das Volk den Individuen wegnehmen kann. Einige [Rechte] sind verfassungsmäßig oder grundlegend; diese können durch einfache Gesetze weder abgeändert noch abgeschafft werden; aber das Volk, durch ausdrückliche Akte, kann sie abändern oder abschaffen. Diese [Rechte], wie etwa die Geschworenengerichtsbarkeit oder die Wohltaten des habeas corpus, können Individuen in Anspruch nehmen im Rahmen der feierlichen Verträge des Volkes als Verfassungen, oder zumindest im Rahmen von Gesetzen, die durch langen Gebrauch durch die gewöhnliche Gesetzgebung nicht widerrufen werden können [wohl ein Hinweis auf die Magna Charta] – und einige [Rechte] sind gewöhnliche oder nur gesetzliche Rechte, das heißt jene, die Individuen im Rahmen von Gesetzen in Anspruch nehmen, die die gewöhnliche gesetzgebende Versammlung nach ihrem Belieben abändern oder abschaffen darf.“374 In Europa wird die erste Verfassung dieses Typs die französische Verfassung von 1791 sein. Diese Verfassungen waren also höherrangig im Sinne erschwerter Beschluss374 „Letters from the Federal Farmer“, in: Herbert J. Storing, Hg.: The Complete Anti-Federalist, 7 Bände, hier Bd. 2, 261 (Letter 6). Meine Übersetzung. Die Autorschaft wird neuestens dem New Yorker Melancton Smith zugeschrieben, einem Gegner der Bundesverfassung. Der Originaltext: „Of rights, some are natural and unalienable, of which even the people cannot deprive individuals: Some are constitutional or fundamental; these cannot be altered or abolished by the ordinary laws; but the people, by express acts, may alter or abolish them - These, such as the trial by jury, the benefits of the writ of habeas corpus, &c. individuals claim under the solemn compacts of the people, as constitutions, or at least under laws so strengthened by long usage as not to be repealable by the ordinary legislature – and some are common or mere legal rights, that is, such as individuals claim under laws which the ordinary legislature may alter or abolish at pleasure.“ Zit auch in Stourzh 1999a, wiederveröff. in Stourzh 2007, 321. Diese Arbeit liegt nur in englischer Sprache vor.
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fassungs- und Abänderungsverfahren. Die Verankerung von Individualrechten in Verfassungen habe ich als Konstitutionalisierung der Individualrechte bezeichnet.375 Dank der Verankerung individueller Rechte im höherrangigen Verfassungsrecht ist es sinnvoll, diese Rechte als Grundrechte zu bezeichnen, wie es sich ja seit Langem weitgehend, vor allem in der juristischen Terminologie, durchgesetzt hat. 376 Die Ausstattung der Person mit gegenüber den „gewöhnlichen“ Gesetzen höherrangigen „Grundrechten“ zählt also seit dem späten 18. Jahrhundert und bis in die Gegenwart reichend, zum Prozess der Verfassungsgebung. Zu solchen in der Verfassung verankerten Rechten zählte auch bald und zunehmend häufiger die Gleichheit vor dem Gesetz, wie die vorhin zitierten Beispiele aus Deutschland zeigen. Waren Grundrechtsbestimmungen in Verfassungen zunächst Einladungen an den Gesetzgeber, diese Rechte in seiner Gesetzgebung zu beachten oder auch zu fördern, beginnt die große, schließlich überragende Bedeutung der Grundrechte in dem Augenblick, in dem sie einklagbar werden. Dies begann frühzeitig in den Vereinigten Staaten, viel später in Europa und anderen Teilen der Welt. Davon handelt der nächste Abschnitt. 4. Der Grundrechtsschutz als Teil der Verfassungsgerichtsbarkeit „Inter legislatorem et populum nullus in terris est judex“ – „Zwischen dem Gesetzgeber und dem Volk gibt es keinen Richter auf Erden“ – so schrieb John Locke 1689. Lockes Antwort auf die Frage „Quis erit inter eos judex?“ – „Wer wird Richter zwischen ihnen sein?“ lautete: „Solus Deus“ – „Gott allein“.377 Dies bedeutete: Gottesgericht – also Kampf. Mit dem Auseinandertreten von Gesetzgebung und Verfassung, besonders klar zu verfolgen zwischen 1776 und 1789 in den Vereinigten Staaten, zeichnete sich die Möglichkeit ab, einen weltlichen „Richter“ zwischen dem Gesetzgeber und dem Volk zu finden, Richter nämlich, die befugt wären, Gesetze am Maßstab des „höheren“ Volkswillens, an der Verfassung zu messen. Dieser Prozess setzte tatsächlich in den Achtzigerjahren des 18. Jahrhunderts in einigen amerikanischen Einzelstaaten ein, insbesondere im Staate North Carolina. Die or375 Die Gegenüberstellung von Fundamentalisierung und Konstitutionalisierung habe ich bereits 1975 in der Erstfassung meines Aufsatzes „Vom aristotelischen zum liberalen Verfassungsbegriff“ (Stourzh 1975, 118) vorgeschlagen. Wiederabgedruckt in erweiterter Fassung in Stourzh 1989, 29. 376 Ich teile daher nicht den allgemeineren und nicht an juristischen Kriterien orientierten Begriff von Grundrechten, wie er von Schmale 1997, 95, als Arbeitsbegriff definiert wird. 377 Mario Montuori, Hg., 1963: John Locke, Epistola de tolerantia (1689), 1963, 86.
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dentliche Gerichtsbarkeit sah sich befugt, diese Messung von Gesetzen am Maßstab des „höheren“ Volkswillens, der Verfassung, zu messen. Damit ist eigentlich an die Stelle des bei Locke noch vorausgesetzten Widerstandsrechts – denn Gott als Richter bedeutet den Widerstand! – die Verfassungsgerichtsbarkeit zu setzen.378 Die Bundesgerichtsbarkeit der USA machte sich diese Auffassung zu eigen, und so kam es zu dem berühmten Rechtsfall Marbury v. Madison von 1803, der als Begründung des „judicial review“, des richterlichen Prüfungsrechts der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit von Gesetzen angesehen wird. Auch im revolutionären Frankreich gab es ein Auseinandertreten von Verfassung und Gesetzgebung, und der brillante Intellekt vom Emmanuel Sieyes führte ihn 1795 (an III) zur Konzeption eines „jury constitutionnaire“ (im Französischen maskulin) mit dem Recht, Gesetze als „inconstitutionnel“ zu erklären und damit aufzuheben, doch war ihm kein Erfolg beschieden. Sieyes’ Antrag im Verfassungskonvent des Jahres III wurde einstimmig abgelehnt. Gerade im Rahmen dieses Essays ist es allerdings von großem Interesse, dass Sieyes in seinem Projekt der Individualbeschwerde Platz gab. Beschwerden an die Verfassungsjury, die übrigens nicht aus Berufsrichtern, sondern aus 106 ehemaligen Abgeordneten bestehen sollte, konnten nicht nur von den beiden Kammern des geplanten Parlaments (Conseil des Anciens, Conseil des 500), sondern auch von „citoyens au nom individuel“ – von Bürgern im eigenen Namen – vorgebracht werden!379 Über neueste Entwicklungen im 21. Jahrhundert wird noch zu berichten sein. Zum Auseinandertreten von Gesetz und Verfassung kam, zunächst in Amerika, das Einfügen von Rechten der Individuen in den Verfassungstext, wie bereits im vorhergehenden Abschnitt erwähnt. Mit der Wahrnehmung des „judicial review“ konnte es daher auch zur Anwendung dieses Prüfungsrechts auf Individualrechte in Verfassungsrang kommen, und vor allem in den Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg, das ganze 20. Jahrhundert hindurch und bis in die Gegenwart gaben und geben immer wieder Artikel der ersten zehn Amendments sowie das 1868 in Kraft getretene 14. Amendment (Gleichheitssatz, siehe S. 79ff.) Anlass für verfassungsgerichtliche Urteile des Supreme Court. In Europa waren Grundrechte als Bestandteil einer Verfassung zunächst Richtlinien für den Gesetzgeber, in seiner Gesetzgebung die Grundrechte zu re378 Ich beziehe mich hier auf Stourzh, 1989 (1974): Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit: Zum Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert, in: Stourzh 1989, 37–74, hier 73. 379 Hierzu bereits ebd., 71, nunmehr ausführlich Pasquino 1998, 93–97; Text von Sieyes’ Antrag „du jury constitutionnaire“, ebd. 193–196; Individualbeschwerde in Art. VI, 194.
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spektieren, solange die Verletzung von Grundrechten nicht einklagbar war. In Europa setzte diese Entwicklung erst viel später und mit anderen institutionellen Formen als in Amerika ein, in ersten, allerdings auf dem Papier gebliebenen Ansätzen während der Revolution von 1848/49. Die wichtigste Vorform der in der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 erstmals verankerten Verfassungsbeschwerde war die Bestimmung der bayerischen Verfassung von 1818, wonach den Staatsbürgern das Recht gewährt wurde, „Beschwerden über Verletzung der constitutionellen Rechte an die Stände-Versammlung“ zu bringen.380 Die Reichsverfassung der Frankfurter Paulskirche setzte fest, dass „Klagen deutscher Staatsbürger wegen Verletzung der durch die Reichsverfassung ihnen gewährten Rechte“ vom Reichsgericht zu entscheiden wären.381 Der sogenannte „Kremsierer Verfassungsentwurf“ für das Kaisertum Österreich von 1848/49 sah vor, dass das Oberste Reichsgericht in einziger Instanz das Richteramt „bei Klagen auf Genugtuung wegen Verletzung konstitutioneller Rechte durch Amtshandlungen der Staatsbediensteten“ auszuüben habe.382 In Deutschland ist das verfassungspolitische Erbe der Revolution von 1848/40 erst Jahrzehnte später aufgenommen worden, in wichtigen Teilen in der Weimarer Verfassung, aber gerade die individuelle Verfassungsbeschwerde wieder aufnehmend erst mit dem Bonner Grundgesetz und der Schaffung des Bundesverfassungsgerichts. Andererseits ist in Österreich bereits 1867 in einer bestimmten historischen Konstellation – Schaffung einer liberalen Verfassung im Zusammenhang mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich – die individuelle Verfassungsbeschwerde verankert worden. Im Staatsgrundgesetz über die Einsetzung eines Reichsgerichts von 1867 wurde diesem die Kompetenz „über Beschwerden der Staatsbürger wegen Verletzung der ihnen durch die Verfassung gewährleisteten politischen Rechte“ (nach Erschöpfung des Verwaltungsweges) zugewiesen;383 allerdings hatten die Urteile des Reichsgerichts keine kassatorische, sondern bloß deklaratorische Wirkung. Mit der Individualbeschwerde beim Reichsgericht, dem 1869 gegründeten Vorläufer des Verfassungsgerichts380 Titel VII, § 21. Hierzu Max Seydel, 1885: Bayerisches Staatsrecht, 2. Bd., 30–56. Hierzu und zum Folgenden bereits: Gerald Stourzh: Verfassungsgerichtsbarkeit und Grundrechtsdemokratie – die historischen Wurzeln (1991), wiederveröff. in: Ders., 2011: Der Umfang der österreichischen Geschichte, 157–179, bes. 168–170. 381 § 126 g der Frankfurter Reichsverfassung. Zur Verankerung dieser Beschwerdemöglichkeit u. a. Hans Joachim Faller, 1974: Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Frankfurter Nationalversammlung, in: Festschrift für Willi Geiger, 827–855. 382 § 140, Abs. 1. Edmund Bernatzik, Hg., 1911: Die österreichischen Verfassungsgesetze, 2. Aufl., 129. 383 Art. 3b des Staatsgrundgesetzes über die Einsetzung eines Reichsgerichtes, ebd., 428.
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hofs, hat Österreich – d. h. der nicht-ungarische Teil der Österreichisch-ungarischen Monarchie – eine Überlieferung der Revolution von 1848 aufgenommen und eine Vorreiterrolle in Europa eingenommen.384 Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zur Gründung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, der auch Individualbeschwerden wegen Verletzung verfassungsmäßig gewährter Rechte vorsah,385 und zur Gründung des tschechoslowakischen Verfassungsgerichtshofs mit geringeren Kompetenzen und ohne Individualbeschwerde.386 Der eigentliche Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit – und der Verfassungsbeschwerde – setzte erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein, beginnend, wie schon erwähnt, in Italien (Verfassung 1947), der Bundesrepublik Deutschland (Grundgesetz 1949) und in vielen anderen Ländern.387 Mit Stand 2014 gibt es in Europa, einschließlich der drei transkaukasischen Staaten, 32 Verfassungsgerichtshöfe; hinzu kommen der einem Verfassungsgerichtshof immer ähnlicher werdende Conseil constitutionnel in Frankreich sowie acht Oberste Gerichtshöfe, die auch für verfassungsgerichtliche Agenden zuständig sind. Seit 1972 gibt es die „Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichtshöfe, mit – Stand Mai 2014 – 41 Vollmitgliedern und einem assoziierten Mitglied (Belarus).388 Der Verfassungsgerichtshof der Republik Kosovo ist (noch) nicht Mitglied. Seit 2009 gibt es eine „Weltkonferenz der Verfassungsgerichtsbarkeit“ („World Conference on Constitutional Justice“), die mit Stand März 2015 95 Verfassungsgerichte bzw. „gleichwertige Organe“ umfasst. Diese Weltkonferenz fördert, gemäß ihren Statuten, „die 384 Hierzu ausführlich Gerald Stourzh, 1985: Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848–1918. 385 In Österreich genannt „Individualanfechtung“ oder „Individualantrag“. Bundes-Verfassungsgesetz, Art. 140 (Anfechtung der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen), Art. 139 (Anfechtung der Gesetzeswidrigkeit von Verordnungen). 386 Der erste Verfassungsgerichtshof war der deutschösterreichische Verfassungsgerichtshof, errichtet mit Gesetz vom 25. Jänner 1919, in veränderter Form festgelegt in der österreichischen Bundesverfassung von 1. Oktober 1920 (in beiden Fällen starker Einfluss Hans Kelsens); weitere Änderungen durch die Verfassungsnovelle 1929. Umfassend: Kurt Heller, 2010: Der Verfassungsgerichtshof: die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart. Zum mit Gesetz vom 9. Februar 1920 gegründeten Verfassungsgerichtshof der Tschechoslowakei s. Jana Osterkamp, 2009: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechoslowakei (1920–1939): Verfassungsidee – Demokratieverständnis – Nationalitätenproblem. 387 Für Italien und die Bundesrepublik Deutschland s. Gosewinkel/Masing 2006, 1402–1403 (Art.134–137 ital. Verfassung), 853–854 (Art. 93 u. 94 Grundgesetz). 388 Zahlreiche Unterlagen unter dem Stichwort „Conference of European Constitutional Courts“ sind im Internet abrufbar.
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Verfassungsgerichtsbarkeit – im Sinne der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit, einschließlich der Rechtsprechung im Bereich der Menschenrechte – als wesentliches Element für die Demokratie, die Einhaltung der Menschenrechte und den Rechtsstaat“. Die Obersten Gerichtshöfe der USA, des Vereinigten Königreichs, Kanadas, Indiens, Australiens und Chinas gehören der Weltkonferenz nicht an, sehr wohl jedoch (beispielsweise) die entsprechenden Gerichtshöfe oder Räte Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, Frankreichs, Brasiliens oder Russlands.389 In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Verfassungsbeschwerde – so der offizielle Name der Individualbeschwerde im deutschen Verfassungsrecht – nach Vorläufern in einigen Bundesländern im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht von 1951 (§ 90) verankert. „Jedermann“ könne mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem in sechs anderen Artikeln des Grundgesetzes verankerten grundrechtsaffinen Rechten verletzt zu sein, die Verfassungsbeschwerde erheben. Erst 1969 wurde die Verfassungsbeschwerde in Verfassungsrang erhoben, und zwar in dem neu hinzugefügten Absatz 4a des Artikels 93 des Grundgesetzes. Die Verfassungsbeschwerde hat eine höchst erfolgreiche Entwicklung genommen, mehr als 95 Prozent aller das Bundesverfassungsgericht erreichenden Beschwerden sind Verfassungsbeschwerden. Das Bundesverfassungsgericht erfreut sich mehr als 60 Jahre nach seiner Gründung des größten Respekts unter allen höchsten Bundesbehörden. Dies ist – für einen Gerichtshof – ein bemerkenswertes Phänomen.390 In Frankreich nimmt – oder nahm – der mit der Verfassung von 1958 eingerichtete Conseil constitutionnel eine Sonderstellung ein. Zunächst scheiterte eine Initiative des Präsidenten Mitterand im Jahre 1989, die Individualbeschwerde vor dem Conseil constitutionnel einzuführen.391 Jedoch gibt es seit der Verfassungsreform von 2008 eine – begrenzte – Form der Individualbeschwerde im Zuge von laufenden Prozessen, deren Vorlage an den Conseil constitutionnel der „filtration“ durch den Conseil d’État oder die Cour de cassation bedarf – die sogenannte „question prioritaire de constitutionnalité“. Diese wichtige Neuerung, die erstmals in Frankreich eine Kontrolle a posteriori der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen ermöglicht, ist mit 1. März 2010 in Kraft getreten. Im Bericht einer Kommission 389 Zahlreiche Unterlagen unter dem Stichwort „World Conference on Constitutional Justice“ sind im Internet abrufbar. 390 S. u. a. Matthias Jestaedt, 2011: Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist. In: Ders., u. a., Hg.: Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 77–157. 391 Projet de loi constitutionelle, 29. März 1990, Assemblée nationale, Drucksache No. 1203.
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der Assemblée nationale vom März 2013 ist die Einführung dieser Verfassungsbeschwerde sehr positiv begrüßt worden. Von einer „révolution juridique“ ist die Rede und auch davon, dass der Conseil constitutionnel de facto bereits ein Verfassungsgerichtshof geworden sei. Der Berichterstatter betont: „Les justiciables se sont reappropriés la norme suprême nationale“ („Die Rechtsunterworfenen haben die höchste nationale Norm wieder in Besitz genommen“).392 Es bleibt das Problem England, genauer „United Kingdom“. England verfügt über alte Rechteerklärungen, am berühmtesten die Bill of Rights von 1689. Doch England kennt nicht den Unterschied von einfachen Gesetzen und höherrangigen Verfassungen und kennt daher auch keine Verfassungsgerichtsbarkeit. Vorschläge für die Einführung einer höherrangigen Bill of Rights sind in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach gemacht worden, und das Projekt ist weiter aktuell. In der Zwischenzeit ist allerdings durch den Beitritt Englands zur Europäischen Menschenrechtskonvention eine Art „subsidiäre“ Grundrechtserklärung geschaffen worden, und mit dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg eine Art subsidiäres Höchstgericht für Menschenrechte. Dies hat zu vielfachen juristischen Schwierigkeiten und Konflikten Anlass gegeben. 1997 verkündete die Queen als Teil des Programms der neuen Labour Regierung, dass die Europäische Menschenrechtskonvention in britisches Recht „inkorporiert“ werde. Das geschah mit dem Human Rights Act von 1998, in Kraft getreten am 2. Oktober 2000. Dort ist vorgesehen, dass die öffentlichen Instanzen die Europäische Konvention zu beachten haben, es sei denn, ein Parlamentsgesetz stehe dazu in Widerspruch. Personen, die sich durch Nichtbeachtung einer Konventionsbestimmung seitens britischer Behörden oder Gerichte in ihren Rechten verletzt fühlen, können im Rahmen der ordentlichen Gerichtsbarkeit Klage führen. Wenn eine Unvereinbarkeit zwischen einer Konventionsbestimmung und britischem Recht gerichtlich festgestellt wird, geben die Gerichte – seit 2009 auch der neu errichtete Supreme Court of the United Kingdom – eine „declaration of incompatibility“ ab. Eine derartige Erklärung kann auch dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mitgeteilt werden, um diesem
392 Art. 61-1 sowie Art. 62 der Verfassung gemäß Verfassungsreform vom 23. Juli 2008. Hierzu ausgezeichneter Beitrag „question prioritaire de constitutionnalité“ in Wikipedia (franz. Ausgabe). Im Internet ist der komplette Text des Berichts Nr. 842 der „Commission des lois constitutionelles, de la législation et de l’administration générale de la République“ vom 27. März 2013 (Vorsitz Abgeordneter Jean-Jacques Urvoas) publiziert: http://www. assemblee-nationale.fr/14/rap/-info/io842.asp. Der frühere Justizminister Robert Badinter hat schon anlässlich der Verfassungsberatungen im Jahr 2008 die Umwandlung des Conseil constitutionnel in einen Verfassungsgerichtshof gewünscht (Hinweis ebd.).
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für zukünftige Fälle eine Berücksichtigung der britischen Rechtsansicht zu ermöglichen. Dies ist bereits in einigen Fällen geschehen, sodass eine öffentliche Erklärung des Supreme Court of the United Kingdom von einem „Dialog“ zwischen den beiden Gerichtshöfen spricht.393 Das letzte Wort, ob einer Rechtsansicht des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs durch eine britische Rechtsänderung zu folgen ist, bleibt jedoch bei der Regierung bzw. dem Parlament.394
5. Die Internationalisierung von Grundrechten als Menschenrechte
Die massenhaft schwere Verletzung von Menschenrechten, vor allem durch den Nationalsozialismus, führte nach 1945 zu einer Renaissance des Menschenrechtsdiskurses, der wichtigsten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Nun sollten die Achtung und der Schutz der Rechte aller Menschen von der Begrenzung auf einzelne Staaten und deren „Grundrechtsschutz“ auf eine höhere Ebene, auf die internationale, völkerrechtlich geschützte Ebene, gehoben werden. Dieses Netz des internationalen oder auch übernationalen Menschenrechtsschutzes wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gespannt.395 Die neue Entwicklung setzte 1948 mit der Anti-Genozid-Konvention (UN-Völkermordkonvention) und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen ein.396 Die Anti-Genozid-Konvention vom 9. November 1948 ist vor allem dem Einsatz des polnisch-jüdischen, in die USA geflohenen Juristen Raphael Lemkin zu 393 „The Supreme Court and Europe“. Die öffentliche Stellungnahme des Supreme Court of the United Kingdom (mit Hinweisen auf die betreffenden Fälle) ist im Internet abrufbar unter https://www.supremecourt.uk/about/the-supreme-court-and-europe.html (abgerufen am 23. 2. 2015). 394 „Although a declaration of incompatibility does not place any legal obligation on the government to amend or repeal legislation, it sends a clear message to legislators that they should change the law to make it compatible with the human rights set out in the Convention“. Ebd. Vgl. auch Alexander Horne/Vaughne Miller, 2014/11/06: Parliamentary Sovereignty and the European Convention on Human Rights. House of Commons Library blog „Second Reading“, im Internet abrufbar unter http://commonslibraryblog.com/2014/11/06/ parliamentary-sovereignty-and-the-european-convention-on-human-rights (abgerufen am 23. 2. 2015). Ich danke Sonja Puntscher Riekmann für den Hinweis. 395 Das weitaus umfassendste neue Werk zur Geschichte der Menschenrechte im internationalen Bereich seit 1945 ist nun Jan Eckel, 2014: Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern. Einen kurzen Überblick aus völkerrechtlicher Sicht bietet Kate Parlett, 2011: The Individual in the International Legal System. Continuity and Change in International Law. 396 Theoretisch grundlegend ist: Altwicker 2011.
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verdanken, der den Begriff „Genozid“ prägte und ihm mit seinem Buch „Axis Rule in Occupied Europe“ von 1944 zu weiter Verbreitung verhalf.397 Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, von der UN-Generalversammlung am 10. November 1948 beschlossen, ist, obgleich kein völkerrechtlicher Vertrag, bis in die Gegenwart das wichtigste Dokument der internationalen Menschenrechte geblieben.398 Ihre öffentliche Bedeutung kann nur mit jener der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 verglichen werden. Artikel 1, Satz 1 der UN-Erklärung von 1948 lautet: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Die Ähnlichkeit zu dem bereits in der Einleitung genannten ersten Satz des ersten Artikels der französischen Erklärung von 1789 springt in die Augen.399 Damit anerkennt auch das wichtigste Menschenrechtsdokument des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart das Vorhandensein vorpositiver Rechte, dem Menschen „inhärent“ – „innewohnend“. Sehr zutreffend ist gesagt worden, dass die Erklärung vom „inherence view of human rights“ getragen werde.400 Mehrfache Vorschläge, die Begründung religiös zu untermauern, oder auch nur mit dem Hinweis auf die „Natur“ des Menschen, scheiterten. Die Deklaration wird zutreffend als ein „säkulares“ Dokument betrachtet.401 Auf die zentrale Bedeutung des Artikels 2, des „Antidiskriminierungsparagrafen“, habe ich bereits hingewiesen.402 Dass es sich bei den in der Erklärung genannten Rechten um vorpositive Rechte handle und nicht um positives Recht, war allen Teilnehmern an der Gestaltung des Textes klar.403 Man hat gesagt, die Erklärung habe sich „in der allgemeinen rechtlichen Beurteilung von einer unver397 Raphael Lemkin, 1944: Axis Rule in Occupied Europe: Laws of Occupation, Analysis of Government, Proposals for Redress, bes. Kap. IX, „Genocide“, 79–95. Sehr präzise hierzu Winkler, 2014 (Bd. III), 135–137; auführlich Anson Rabinbach, 2005: The Challenge of the Unprecedented – Raphael Lemkin and the Concept of Genocide, in: Simon Dubnow Institute Yearbook, Bd. 4, 397–420. 398 Zur Entstehung der Erklärung vorzüglich Johannes Morsink, 1999: The Universal Declaration of Human Rights. Origins, Drafting, and Intent; im Überblick Winkler 2014 (Bd. III), 131–135. 399 Vgl. oben S. 15. 400 Morsink 1999, 290–296. 401 Morsink 1999, 284–290, hier 290. 402 Oben S. 17. Sehr ausführlich zur Entstehung dieses Artikels: Morsink 1999, 92–116. Auch Art. 7 enthält ein ausdrückliches Diskriminierungsverbot in Zusammenhang mit der Gleichheit vor dem Gesetz. Eine Analyse des Art. 2 bietet: Sigrun Skogly, 1999: Article 2, in: Gudmundur Alfredsson/Asbjørn Eide, Hg.: The Universal Declaration of Human Rights. A Common Standard of Achievement, 75–81. 403 Morsink 1999, 295.
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bindlichen Empfehlung zu einem Menschenrechtskatalog mit teilweiser völkerrechtlicher Verbindlichkeit gewandelt“,404 doch ist die Frage der Verbindlichkeit umstritten. Bei der Annahme der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die UN-Generalversammlung am 10. Dezember 1948 durch 48 Staaten in Paris gab es keine Gegenstimmen, jedoch acht Enthaltungen: die sechs kommunistischen Staaten, obwohl deren Vertreter aktiv am Redaktionsprozess teilgenommen hatten, Saudi-Arabien, vor allem in Hinblick auf muslimische Heiratsbeschränkungen und auf die Nichtakzeptanz des in der Erklärung verankerten Rechts auf freien Religionswechsel, und Südafrika in Hinblick auf das Apartheid-Regime und im Vorwissen, dass die Erklärung gegen das Apartheid-Regime verwendet werden würde.405 Vor einem Überblick über menschenrechtsrelevante UN-Verträge – im Unterschied zu Erklärungen – soll ein chronologischer Sprung von 1948 ins Jahr 1993 gemacht werden. In diesem Jahr fand in Wien die UN-Weltkonferenz über Menschenrechte statt. Sie ist insbesondere deshalb erwähnenswert, weil das Abschlussdokument, die „Vienna Declaration and Programme of Action“, per Akklamation von 171 Staaten ohne Gegenstimmen angenommen wurde. Das ist ein Vielfaches der Zahl jener Staaten, die 1948 in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte annahmen. Die Mehrzahl der in Wien vertretenen Staaten existierte 1948 noch gar nicht; dazwischen lag die große Zeit der Dekolonisation. Das bedeutet, dass der Wiener Text, der selbstverständlich betont, dass alle Menschenrechte universell, unteilbar und gegenseitig miteinander verbunden (interdependent) sind, von einer nunmehr großen Mehrheit nicht-westlicher Staaten angenommen wurde.406 Wie immer und von wem immer die Menschenrechte als ein „westliches“ Produkt angegriffen oder infrage gestellt werden – das Wiener Dokument stützt sich auf einen weltweiten Konsens. Und nun zu den auf die Menschenrechtserklärung von 1948 folgenden wichtigsten UN-Vertragsinstrumenten:
404 Thomas Buergenthal/Daniel Thürer 2010: Menschenrechte. Ideale, Instrumente, Institutionen, 31. 405 Zu den Gründen der Enthaltung ausführlich Morsink, 21–28. Zwei Staaten, Honduras und der Jemen, stimmten nicht ab. 406 Punkt 5 der Vienna Declaration. Der Text ist mehrfach im Internet abrufbar. Es gibt umfangreiches Vorbereitungsmaterial für die Wiener Konferenz, beraten auf regionalen Vorkonferenzen, ebenfalls im Internet abrufbar.
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1966 wurden die zwei internationalen Pakte – über bürgerliche und politische Rechte407 sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – beschlossen.408, die beide 1976 in Kraft traten An weiteren UN-Konventionen sind vor allem zu nennen: Die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1965, in Kraft getreten 1969. Die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW) von 1979, in Kraft getreten 1981. Die UN-Konvention gegen die Folter von 1984, in Kraft getreten 1987, die u. a. die Bestellung eines für sechs Jahre gewählten Spezial-Berichterstatters vorsieht, dem Zutritt zu den Gefängnissen der Unterzeichnerstaaten zu gestatten ist, zunächst mit Erlaubnis der betreffenden Staaten; nach einem Zusatzprotokoll von 2002 (in Kraft seit 2006) kann sich ein Staat auch verpflichten, unangemeldete Gefängnisbesuche zu akzeptieren.409 Die UN-Konvention über die Rechte des Kindes, von 1989, in Kraft getreten 1990. Die UN-Konvention zum Schutz der Rechte der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen von 1990, in Kraft getreten 2003; kein westlicher Indu strie- oder Einwandererstaat ist allerdings Mitglied dieser Konvention. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006, in Kraft getreten 2008. Sechs UN-Pakte bzw. Konventionen bzw. deren entsprechende Zusatz-Protokolle sehen die Möglichkeit von Individualbeschwerden vor, wenn auch nicht gerichtsförmig, sondern mittels Prüfung in Ausschüssen, und zwar der Pakt über bürgerliche und politische Rechte, seit 2013 auch der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die Anti-Folterkonvention, die Konvention gegen Rassendiskriminierung, die Konvention gegen die Diskriminierung der Frau und die Konvention zum Schutz der Rechte der Wanderarbeiter. Im UN-Bereich ist schließlich der UN-Menschenrechtsrat zu nennen, der 2006 als Nachfolger der diskreditierten UN-Menschenrechtskommission geschaffen wur407 Zu diesem s. insbes. Manfred Nowak, 2005: U.N. Covenant on Civil and Political Rights, CCPR Commentary, 2. rev. Aufl. Mit Stand 21. März 2015 haben 168 Staaten diesen Pakt ratifiziert oder sind ihm beigetreten. China hat nicht ratifiziert, wohl aber die USA. 408 Mit Stand vom 21. März 2015 haben 164 Staaten diesen Pakt ratifiziert oder sind ihm beigetreten. Die USA haben nicht ratifiziert, wohl aber China. 409 S. u. a das Buch des von 2004 bis 2010 tätigen UN-Berichterstatters Prof. Manfred Nowak, 2012: Folter. Die Alltäglichkeit des Unfassbaren.
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de, dem jeweils 47 Mitgliedstaaten für die Dauer von drei Jahren angehören. Auch der Rat ist vielfach unter Kritik geraten, da unter seinen Mitgliedern die Zahl jener überwiegt, die einem strengen Menschenrechtsschutz skeptisch gegenüberstehen und fallweise miteinander Allianzen zur Bemäntelung eigenen Fehlverhaltens eingehen.410 Positiv ist das 1993 geschaffene Amt des UN-Hochkommissars für Menschenrechte aufgenommen worden, auch in Hinblick auf seine Besetzung durch bedeutende Persönlichkeiten wie die Irin Mary Robinson (1997–2002), die Kanadierin Louise Arbour (2004–2008) oder die Südafrikanerin Navanethem Pillay (2008–2014). Auch die Verfolgung von menschenrechtsrelevanten Straftaten, Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (eigentlich „humanity“) ist institutionalisiert worden. Nach dem Vorbild des Nürnberger Tribunals kam es Jahrzehnte später zu den UN-Tribunalen betreffend das ehemalige Jugoslawien (1993) und Ruanda (1995). Der Internationale Strafgerichtshof (an dem sich übrigens die USA nicht beteiligen) nahm seine Tätigkeit 2002 auf. Unabhängig von den Vereinten Nationen gibt es regionale Menschenrechtsschutzsysteme mit unterschiedlichen Durchsetzungsmöglichkeiten. Schon im Frühjahr 1948 wurde auf einer Konferenz in Bogotá gleichzeitig mit der Charta der Organisation der amerikanischen Staaten (OAS), der alle 35 amerikanische Staaten angehören, die Amerikanische Erklärung der Rechte und Pflichten des Menschen angenommen – mit Datum vom 2. Mai 1948 sechs Monate vor der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom November 1948.411 1960 wurde die Interamerikanische Menschenrechtskommission mit Sitz in Washington gegründet. Seit 1966 konnte sie Individualbeschwerden in begrenztem Umfang entgegennehmen, seit 1978 Beschwerden zu allen in der Deklaration von 1948 genannten Rechten. Dies geschah im Rahmen der schon 1969 unterzeichneten, jedoch erst 1978 in Kraft getretenen Amerikanischen Menschenrechtskonvention. Dieser Konvention sind 25 der 35 amerikanischen Staaten beigetreten, nicht jedoch die USA und Kanada.412 In ihrem Rahmen 1979 wurde auch der Interamerikanische Gerichtshof der Menschenrechte mit Sitz in San José, Costa Rica, gegründet. Seine Richter werden von den Vertragsstaaten der Konvention gewählt, können aber
410 Vgl. u. a. Interview des bereits genannten UN-Sonderberichterstatters für Folter, Manfred Nowak, „Menschenrechtsschutz der UNO in großer Krise“, in: Der Standard, 22. 10. 2010. 411 Hierzu und zum Folgenden vorzüglich Thomas Buergenthal/Daniel Thürer, 2010: Menschenrechte. Ideale, Instrumente, Institutionen, § 21 über das interamerikanische Menschenrechtssystem, 297–318. 412 1998 sind Trinidad and Tobago, 2012 Venezuela wieder ausgetreten.
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auch aus den anderen amerikanischen Staaten kommen.413 Individualbeschwerden sind im interamerikanischen Menschenrechtsschutzsystem in eher großzügiger Weise vorgesehen, wobei die Menschenrechtskommission gewissermaßen als erste, der Gerichtshof als zweite Instanz agiert.414 Im Unterschied zur Europäischen Menschenrechtskonvention (s. u.), der die amerikanische vielfach nachgebildet ist, werden nicht nur Opfern von Menschenrechtsverletzungen, sondern wird jeder Person, Personengruppe oder bestimmten NGOs das Beschwerderecht eingeräumt.415 In Afrika ist seit 1986 die „Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker“ in Kraft; sie ist im Rahmen der Organisation für die Afrikanische Einheit (seit 2002 Afrikanische Union) entstanden.416 Sie orientiert sich inhaltlich stärker an den beiden UN-Menschenrechtspakten als an der europäischen oder amerikanischen Menschenrechtskonvention. Unter Berücksichtigung eigener afrikanischer Traditionen enthält sie auch einen Pflichtenkatalog sowie einige Kollektivrechte, „Rechte der Völker“, u. a. das Selbstbestimmungsrecht, das Recht der Verfügung über eigene Ressourcen und Bodenschätze sowie das Recht auf eigene Entwicklung. Es gibt eine Kommission und einen 2004 gegründeten, seit 2006 tätigen Afrikanischen Gerichtshof der Menschenrechte. Sowohl bei der Kommission als auch beim Gerichtshof können Individualbeschwerden eingebracht werden, und zwar nicht bloß seitens der Opfer von Menschenrechtsverletzungen, sondern auch von anderen Personen und NGOs; bei direkt beim Gerichtshof eingebrachten Beschwerden muss der betroffene Staat seine Zustimmung zur Zuständigkeit des Gerichtshofs in den betreffenden Fällen erklären – eine starke Restriktion. Der Gerichtshof kann in Urteilen konkrete Maßnahmen zur Beseitigung eines Missstandes anweisen, die Umsetzung erfolgt durch den betroffenen Staat, im Falle der Nichtumsetzung kann der Gerichtshof dies durch seine öffentlichen Aktivitätsberichte bekanntmachen; die Publizität könnte sich als wirksames Sanktionsmittel erweisen.417
413 So war Thomas Buergenthal aus den USA 1979–1991 Richter am Interamerikanischen Gerichtshof. Buergenthal, geb. 1934, hat als Kind das KZ Auschwitz überlebt. Vgl. seine Autobiografie: Thomas Buergenthal, 2007: Ein Glückskind. 414 Buergenthal/Thürer 2010, 311. 415 Buergenthal/Thürer 2010, 310; Hinweis auf die Kritik an praktischer Wirksamkeit und Reformbedürftigkeit des Systems bei Manfred Nowak, 2002: Einführung in das internationale Menschenrechtssystem, 217f. 416 Zum Folgenden Buergenthal/Thürer 2010: § 22, Das afrikanische Menschenrechtssystem, 319–336. 417 So Buergenthal/Thürer 2010, 335.
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Auch im arabischen Raum gab es Initiativen. Die Kairoer Erklärung der Menschenrechte vom 5. August 1990 räumte allerdings der Scharia stets den Vorrang vor allen anderen Rechteerklärungen ein. Wichtiger ist die Arabische Charta der Menschenrechte, die 1994 vom Rat der Arabischen Liga verabschiedet wurde, allerdings nie in Kraft trat. Eine überarbeitete und erweiterte Fassung wurde 2004 von der Arabischen Liga beschlossen, die am 15. März 2008 in Kraft trat, die aber gleichfalls auf die Scharia verweist. Seit 2009 gibt es zur Überprüfung der Umsetzung ein Arab Human Rights Committee, es ist aber weder ein Menschenrechtsgerichtshof noch eine Individualbeschwerde vorgesehen. In der Präambel werden Rassismus und Zionismus als Verletzung der Menschenrechte verworfen. Es gibt einige Anklänge an Menschenrechtsdokumente der Vereinten Nationen, etwa die Garantie aller in dieser Charta anerkannten Rechte ohne Unterschied aufgrund von Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, Meinung, Gedanken, nationaler oder sozialer Herkunft, Eigentum, Geburt oder physischer oder mentaler Behinderung. Artikel 3, Absatz 3 statuiert, dass „Männer und Frauen gleich in menschlicher Würde, in Rechten und in Pflichten“ sind, „innerhalb des Rahmens der positiven Diskriminierung, errichtet zugunsten der Frauen durch die Islamische Scharia und andere göttliche Gesetze, Gesetzgebung oder internationale Instrumente (Abkommen)“.418 An der Spitze regionaler Systeme steht ohne Zweifel die Europäische Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950, die seit 1953 in Kraft ist und ganz besondere praktische Bedeutung erlangt hat. Das Rechtsschutzsystem des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte reicht nach der Ausweitung als Folge der „Wende“ von 1989/91 von Reykjavík bis Baku, von Dublin bis Wladiwostok und betrifft etwa 800 Millionen Menschen – das ist, trotz aller Schwierigkeiten, vor allem mit Russland, eine ungeheure Dimension. Die enormen Dimensionen dieses Rechtsschutzsystems sind, sowohl was die geografische Ausbreitung als auch die Zahl der in Straßburg eintreffenden Beschwerden betrifft, viel zu wenig ins Bewusstsein gedrungen, auch wenn „Straßburg“, was Beschwerdefälle aus dem eigenen Land anbelangt, etwa in Österreich oder Deutschland durchaus zur Selbstverständlichkeit geworden ist. In Österreich 418 Ich folge hier der englischen Übersetzung der Arabischen Charta, veröff. in: Boston University International Law Journal, Bd. 24, Herbst 2006, Nr. 2, 147–164, mit einer Einleitung von Dr. Mohammed Amin Al-Midani (im Internet abrufbar). Weitere Informationen unter dem Stichwort „Arabische Charta der Menschenrechte“ auf der schweizerischen Internetplattform www.humanrights.ch, deren umfangreiche und sachliche Information zu Menschenrechtsfragen vorzüglich ist.
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Abbildung 5: Gebäude des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Straßburg, nach Entwurf des britischen Architekten Richard Rogers 1995 fertiggestellt. Foto: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:European_Court_of_Human_Rights.jpg#/media/File:European_Court_of_Human_Rights.jpg
steht die Europäische Menschenrechtskonvention seit 1964 in Verfassungsrang419 und bildet daher mit und neben dem aus 1867 stammenden Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger einen Grundrechtskatalog für Österreich, da bei der Entstehung der gegenwärtig geltenden Bundesverfassung von 1920 kein Grundrechtskatalog zustande kam. In Deutschland steht die Europäische Menschenrechtskonvention nicht in Verfassungsrang, doch hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die deutsche Gerichtsbarkeit zur „Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte“ verpflichtet sei.420 In Norwegen gilt seit 1999, dass die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (und einigen anderen menschenrechtsrelevanten internationalen Konventionen) allen anderen Gesetzen übergeordnet sind.421 Jedenfalls ist der Feststellung zuzustimmen, das Straßburger System habe sich zum „most remarkable mechanism for the international protection of human rights which has ever existed“ entwickelt.422 419 Bundesverfassungsgesetz vom 4. März 1964, BGBl. 59/1964. 420 Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Oktober 2004, Fall Görgülü. 421 Gesetz in Bezug auf die Stärkung des Status der Menschenrechte im norwegischen Recht vom 21. Mai 1999, in englischer und deutscher Übersetzung abrufbar im Internet. 422 A. W. Brian Simpson, im Vorwort zu Ed Bates, 2010: The Evolution of the European Con-
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Die Wirksamkeit der Europäischen Menschenrechtskonvention423 lässt sich in zwei große Abschnitte teilen – vor 1998 und seit 1998.424 Bis 1998 war dem Gerichtshof, 1959 gegründet und bis 1998 von nicht-hauptberuflichen Richtern besetzt, die Europäische Menschenrechtskommission vorangestellt, die Fallprüfungen und Berichte erstellte und nur relativ wenige Fälle an den Gerichtshof zur Entscheidung weitergab. Die in den Neunzigerjahren anschwellende Zahl von Individualbeschwerden und die große Zahl neuer Mitglieder aus Osteuropa nach dem Zerfall des Sowjetsystems führte 1998 zu einer großen Reform. Die Kommission wurde aufgelöst, dafür der Gerichtshof mit hauptamtlichen Richtern besetzt – je einem aus den nunmehr 47 Mitgliedstaaten . Die Zulassung der Individualbeschwerde lag bis 1998 im Belieben der Mitglieder. Die Bundesrepublik Deutschland hatte 1955, England erst 1966, Frankreich gar erst 1981 der Individualbeschwerde zugestimmt.425 Seit 1998 muss jeder Mitgliedstaat die Individualbeschwerde anerkennen. Von 1959 bis einschließlich 2013 hat der Gerichtshof etwa 17.000 Urteile gefällt. Fast die Hälfte der Urteile betraf fünf Staaten: Türkei (17,75 %), Italien (13,45 %), Russland (8,75 %), Polen (6,18 %), Rumänien (6,08 %). Im Jahr 2014 gab es 891 Urteile, davon entfiel etwa ein Drittel auf drei Staaten: Russland
vention on Human Rights. In seinem eigenen Buch: A. W. Brian Simpson, 2001: Human Rights and the End of Empire. Britain and the Genesis of the European Convention, 3, nennt Simpson das Straßburger System „the pre-eminent system of international human rights protection which exists anywhere in the world“. Die „welthistorische Bedeutung“ der Straßburger Konvention betont Heribert Prantl, 2013: Europas Rechtskraft, Süddeutsche Zeitung, 3. September 2013, 11. 423 Zur Einführung: Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, 2012: Europäische Menschenrechtskonvention. Ein Studienbuch, 5. Aufl.. Sehr inhaltsreich die über 1.600 Seiten umfassende Festschrift für den langjährigen Präsidenten des Gerichtshofs, Luzius Wildhaber. Stephan Breitenmoser u. a., 2007: Human Rights, Democracy and the Rule of Law – Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat – Droits de l’homme, démocratie et État de droit. Liber amicorum Luzius Wildhaber. Ferner: Luzius Wildhaber, 2002: Demokratie und Menschenrechte. Mit dem 12. Zusatzprotokoll vom Jahre 2000 wurde der Konvention in Ergänzung ihres Art. 14 ein allgemeines Diskriminierungsverbot hinzugefügt. Das Protokoll trat 2005 in Kraft, doch haben es u.a. Deutschland, Österreich, Russland nicht ratifiziert; die Schweiz, Frankreich und Großbritannien haben weder unterschrieben noch ratifiziert. (Stand 26. 2. 2015). Vgl. auch Grabenwarter/Pabel 2012, § 26, „Gleichheitsgrundrechte“. 424 Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls. 425 Frankreich hat die Konvention erst 21 Jahre nach ihrem Inkrafttreten, nämlich 1974, ratifiziert
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(129 Urteile), Türkei (101 Urteile) und Rumänien (87 Urteile). 426 Allerdings droht der Gerichtshof Opfer seines eigenen Erfolges zu werden; der Höchststand nicht erledigter anhängiger Verfahren wurde im August 2011 mit 160.200 Verfahren erreicht; seitdem hat sich die Situation auch durch die Einführung neuer prozeduraler Handhaben deutlich entschärft. Weitere Reformen werden nötig sein, und der Gerichtshof hat nicht nur Freunde unter den Mitgliedstaaten.427 Zwei weitere Einrichtungen des Europarates sind für uns relevant: Die Sozialcharta des Europarats von 1961, seit 1965 in Kraft, 1996 revidiert und in revidierter Form seit 1999 in Kraft, beinhaltet in ihrer revidierten Form 31 soziale Rechte und Grundsätze. Sie ist 1995 mit einem neuartigen kollektiven Beschwerdeverfahren ausgestattet worden, das seit 1998 in Kraft ist.428 Internationale Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, andere NGOs mit Beraterstatus beim Europarat und vor allem nationale Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen des Staates, gegen den sich eine Beschwerde richtet, können vor dem Europarat Beschwerde wegen Verletzung der in der Sozialcharta verankerten Rechte erheben; diese Beschwerden werden vom Europäischen Ausschuss für soziale Rechte, einem Expertengremium des Europarats, behandelt. Eine bemerkenswerte Institution ist die 1990 gegründete „Europäische Kommission für Demokratie durch Recht“, besser bekannt als die „Venedig-Kommission“ wegen des Ortes ihrer Plenarsitzungen. Ihre Hauptaufgabe ist die Erteilung juristischen, überwiegend verfassungsrechtlichen Rates in den Bereichen demokratische Institutionen und Grund- und Menschenrechte, Verfassungsgerichtsbarkeit und gewöhnliche Gerichtsbarkeit, Wahlen, Referenden und politische Parteien. Eine besondere Rolle fiel der Kommission in den Jahren nach der „Wende“ beim Übergang zur Rechtsstaatlichkeit in Ost- und Südosteuropa zu, einschließlich intensiver Beratungstätigkeit während der Entstehung neuer Verfassungen. Die Kommissi426 Neueste Angaben finden sich in zwei im Internet abrufbaren Dokumenten des Menschenrechtsgerichtshofs: ECHR, Overview 1959-2013, Februar 2014, sowie: The ECHR in facts & figures 2014, Februar 2015. Siehe auch Angaben in: Matthias Prinz, 2013: Artikel 29 bis 51 EMRK: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, in: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Hg.: Vom Recht auf Menschenwürde. 60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention, 264. 427 Etwa Russland (ebd., 265–66), aber auch Großbritannien. 428 Zusatzprotokoll zur Europäischen Sozialcharta über Kollektivbeschwerden vom 9. November 1995, in Kraft getreten am 1. Juli 1998. 13 Staaten haben bisher (Stand 16. 3. 2015) ratifiziert, darunter Frankreich, Belgien, Niederlande, Norwegen, Schweden, Finnland, nicht jedoch Deutschland und Österreich. Die Schweiz und Großbritannien haben weder unterschrieben noch ratifiziert (Text abrufbar im Internet).
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on hat ihre Expertise auch interessierten Nicht-Mitgliedstaaten des Europarats zur Verfügung gestellt, es gibt zwölf außereuropäische Mitgliedstaaten der Kommission, einschließlich der USA und mehrerer lateinamerikanischer Staaten. Die Kommission ist initiativ bei der Gründung der bereits genannten Weltkonferenz der Verfassungsgerichtsbarkeit tätig gewesen.429 In der Europäischen Union ist der Schutz der Menschenrechte mehrfach verankert: zunächst mit der Europäischen Charta der Grundrechte.430 In Österreich können die in der Charta verankerten Rechte seit einem Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom Jahre 2012 als verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte mit Individualbeschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof geltend gemacht werden.431 Hinzuweisen ist ferner auf die menschenrechtsrelevante Judikatur des Europäischen Gerichtshofs,432 die im Lissaboner Vertrag verankerte Absichtserklärung der Union, der Straßburger Menschenrechtskonvention beizutreten (die inzwischen – Stand März 2015 – nicht mehr zur Durchführung gelangen dürfte), und die Nennung eines „Katalogs der Werte“ in Artikel 2 des Lissaboner Vertrags. Diese Werte sind: „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Personen, die Minderheiten angehören.“ Der Vertragstext fährt fort: „Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Dazu kommt, dass in Artikel 7 des Lissaboner Vertrags ein Verfahren zum Schutz dieser Werte verankert ist. Von Interesse ist, dass „Demokratie“ einer von sechs genannten „Werten“ ist; alle gemeinsam könnte man füglich als „isonome“ Werte bezeichnen. Mit dem dazugehörenden Rechtsschutzsystem kann man wohl von einem „isonomen“ System, einer Isono429 Zahlreiche Materialien abrufbar im Internet unter Europarat – Venedig-Kommission. 430 Hierzu vor allem Jürgen Meyer, Hg., 2014: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. Die Europäische Charta spricht bewusst von „Grundrechten“, nicht Menschenrechten, verwendet also einen innerstaatlichen Begriff, um den Integrationscharakter der EU zu betonen. Die Charta gilt ausschließlich bei Durchführung des Rechts der Union. Hierzu Ludwig Adamovich, 2012: Das österreichische Verfassungsverständnis und die Menschenrechte, in: Ders., Ausgewählte Werke, hg. v. Verfassungsgerichtshof, 377. 431 Österr. Verfassungsgerichtshof, Urteil vom 14. März 2012 (Sammlung der Urteile des Verfassungsgerichtshofs 19.632/2012). Hierzu: Verfassungsgerichtshof der Republik Österreich, Landesbericht für den XVI. Kongress der Europäischen Verfassungsgerichte Wien, Mai 2014, Punkt I.2.b. Abrufbar im Internet unter „XVI. Kongress der Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichtshöfe“. Ich danke Ludwig Adamovich für den Hinweis. 432 Insbesondere zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern, s. o. S. 100–101.
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mie sprechen. Aktuell sind die beiden genannten Artikel des EU-Vertrags im Zusammenhang mit dem Abbau rechtsstaatlicher Vorkehrungen in Ungarn, obgleich die allfällige Durchführung eines Verfahrens nach Artikel 7, das bis zum Entzug des Stimmrechts gehen kann, als gewissermaßen „schweres Geschütz“ angesehen wird und deshalb auch „mildere“ Optionen zur Wahrung der Grundwerte des Europäischen Vertrags zur Diskussion gestellt werden.433 Für EU-Europa ist durch die vielfältigen Vernetzungen von Grund- und Menschenrechtsschutz zwischen den nationalen Rechtsschutzeinrichtungen, der vielfachen Rezeption – sei es der gesamten Europäischen Menschenrechtskonvention oder einzelner Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs und dem EU-Recht – zu einer weltweit einzigartigen isonomen, also gleichberechtigungsorientierten Struktur dessen gekommen, was man häufig als „ordre public européen“ oder als „europäische Menschenrechtsverfassung“ bezeichnet.434 6. Die Demokratie Schließlich, zurückkehrend zu dem zur Demokratie bereits Gesagten, aber nun ausdrücklich zur Demokratie als „isonomem“ Element: Ich spreche hier von der politischen Demokratie als politischer Teilhabe und dem dafür erforderlichen Instrumentarium, nicht von der Demokratie als egalitärer Gesellschaftsform. Der unverzichtbare Kern jeder Demokratie ist die politische Willensbildung auf Grundlage des allgemeinen, gleichen, geheimen und mit der Garantie der Periodizität versehenen Männer- und Frauen-Wahlrechts (repräsentative Demokratie) bzw. Stimmrechts in Sachfragen (direkte Demokratie). Ein Blick auf die Demokratien der Gegenwart zeigt, dass Elemente der Wahl- und der Abstimmungsdemokratie auch in ein und demselben Verfassungssystem in unterschiedlicher Weise kombiniert werden können – man vergleiche etwa die Schweiz und Österreich.435 Die nachträgliche Bestätigung eines bereits hergestellten Fait accompli durch Pseudo-Wahlen oder Pseudo-Abstimmungen zählt nicht zur Demokratie. Das allgemeine, gleiche und geheime Wahl- und Stimmrecht, das unabhängig von wirt433 Vorzüglich die über den Anlassfall weit hinausgehenden Analysen und Vorschläge von Jan-Werner Müller, 2013b: Wo Europa endet. Ungarn, Brüssel und das Schicksal der liberalen Demokratie, bes. 49–64. 434 Grabenwarter/Pabel 2012, 6. 435 Einen Überblick bietet Dieter Nohlen, 2007: Wahlrecht und Parteiensysteme, 5. Aufl. Ein grundlegendes und exemplarisches Werk ist das schon genannte Buch von Pierre Rosanvallon, 1992: Le sacre du citoyen (Taschenbuchausgabe 2001).
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schaftlicher oder sozialer Position, unabhängig von Bildungsstand und Intelligenz, unabhängig von persönlichem Interesse oder Desinteresse an der Politik allen Stimmberechtigten zusteht, ist Ausdruck einer grundlegenden Gleichwertigkeit („équivalence“) der Menschen jenseits aller individuellen Unterschiede, wie Pierre Rosanvallon betont hat.436 „Ist es vernünftig, die Stimme eines Rothschild oder eines Thiers [französischer Staatsmann um 1870] der Stimme eines Straßenkehrers gleichzusetzen?“, fragte ein Journalist den Politiker Georges Clemenceau im Jahre 1871. Die Antwort war: „Das Prinzip des allgemeinen Stimmrechts erlaubt keinen Kompromiss. Es gibt das gleiche Recht dem Gelehrten und dem Unwissenden: Es gibt das Recht auf Grund des Naturrechts.“437 Clemenceaus Verweis auf das Naturrecht lässt an Robespierres berühmten Satz denken: „L’homme est citoyen par la nature“ – „Der Mensch ist von Natur aus Bürger.“ 438 Hinzuzufügen ist allerdings, dass die Mehrzahl der Revolutionäre von 1789 einen deutlichen Unterschied zwischen „Aktivbürgern“ und „Passivbürgern“ zogen, wie es Sieyes schon im Juli 1789, wenige Wochen vor der Verkündung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte formulierte. 439 Zu diesen zählten Kinder, Ausländer, jene, „die nichts zur Erhaltung der öffentlichen Einrichtungen beizutragen haben“ und „zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ – „du moins dans l’état actuel“ – die Frauen. 440 Dieser Zusatz, wenig kommentiert, ist bemerkenswert, zeigt er doch, dass Sieyes von einem grundsätzlichen Ausschluss der Frauen von den politischen Rechten aufgrund ihrer anderen „Natur“ weit entfernt war. Die „Gleichwertigkeit“ aller Menschen, zumindest aller Bürger, im allgemeinen Stimmrecht konnte doch erst am Schlusspunkt einer Entwicklung stehen, in der sich das Wahl- oder Stimmrecht – beides wird zutreffend im Französischen wie im Englischen mit nur einem Wort, „suffrage“ (von lat. suffragium), bezeichnet – vom gleichen Männerwahlrecht zum freien, weil geheimen Wahlrecht, in einem weiteren Schritt zur Einbeziehung der Frauen und schließlich mit der immer weiter gehenden Senkung des Wahlalters zum allgemeinen, gleichen, geheimen, periodischen Stimmrecht der sehr großen Mehrzahl aller Bürger und Bürgerinnen gewan-
436 Rosanvallon 2001, bes. 15–17, 21. 437 Berichtet ebd., 16–17. 438 Rede am 23. Oktober 1790 in der Nationalversammlung gegen die Beschränkungen des (Männer-)Stimmrechts. Marc Bouloiseau/George Lefebvre/Albert Soboul, Hg., 1950: Oeuvres de Maximilien Robespierre, Bd. VI, Discours 1789/90, 553 u. 554. 439 Text in de Baecque/Schmale/Vovelle 1988, 76 (Sieyes, Préliminaire de la constitution, in der Konstituante am 20. und 21. Juli 1789 von Sieyes verlesen, ebd. 71–78.). 440 Ebd., 76.
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delt hat. Diese Gleichwertigkeit wurde bewusst aufgehoben nach der Machtergreifung totalitärer Systeme. So hat die Verfassung Sowjetrusslands vom Juli 1918 den „ausbeutenden“ Bevölkerungsgruppen (auch orthodoxen Priestern) das Wahlrecht entzogen. Die Wiederherstellung des allgemeinen Wahlrechts in der sogenannten „Stalin-Verfassung“ von 1936 war in Hinblick auf die inzwischen etablierte vollständige Diktatur bedeutungslos.441 Nach der NS-Machtergreifung in Deutschland wurde im November 1935 allen Personen, die „Juden“ im Sinne der Nürnberger Gesetze vom September 1935 waren, das Stimmrecht entzogen.442 „Demokratie“ im Sinne der „équivalence“ der Stimmberechtigten wurde und wird, wie bereits erwähnt, auch für politische Ordnungen verwendet, die diesen Namen nur partiell verdienen, weshalb ich in solchen Fällen, wie bereits gesagt, von partiellen Demokratien spreche.443 Die Ausübung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahl- oder Stimmrechts der Männer und Frauen und die sich daraus ergebenden Mehrheitsentscheide sind und bleiben daher Eckpunkte der Demokratie im eigentlichen Sinne.444 Ausgehend von der klassischen Mehrheit von 50plus, theoretisch bis hundert Prozent ansteigend, sind immer wieder „qualifizierte“ Mehrheiten gesucht und gefunden worden, um aus guten Gründen größere Mehrheiten zu sichern. Zu diesen Gründen gehören vor allem zwei: Grundlegende Entscheidungen sollen möglichst große Teile der Stimmberechtigten zustimmend einbeziehen; dies gilt insbesondere für Verfassungsbeschlüsse und Verfassungsänderungen, wobei die Palette von erschwerten Mehrheitsbeschlüssen – von „leicht“ änderbaren Verfassungen oder Verfassungsbestimmungen zu „schwer“ änderbaren – sehr vielfältig ist.445 Zweitens handelt es sich bei erschwerten Mehrheitsbeschlüssen häufig um den bewussten Schutz von (größeren) Minderheiten. Das schwierigste Problem stellen die „strukturellen“ Minderheiten dar, Minderheiten, die – überwiegend aufgrund ethnischer oder religiöser Unterscheidung von der Mehrheitsbevölkerung – keine Möglichkeit haben, je selbst zur Mehrheit zu werden. Diesem Problem hat Georg Jellinek seine kurze, auf einem Vortrag in Wien beruhende Schrift „Das Recht der Minoritäten“ gewidmet, vor dem konkre441 Manfred Hildermeier, 1998: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, 133. 442 Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935. 443 Vgl. oben S. 68. 444 Hierzu neuestens das informative, wenn auch zeitweise polemische Werk von Egon Flaig, 2013a: Die Mehrheitsentscheidung, sowie ders., Hg., 2013b: Genesis und Dynamiken der Mehrheitsentscheidung. 445 Hierzu informativ Leslie Wolf-Phillips, 1972: Comparative Constitutions.
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ten Hintergrund der, wie er es sah, Bedrohung der deutschsprachigen Minderheit im österreichischen Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie.446 Jellinek verwies u. a. auf die ingeniöse Methode zum Schutz einer großen Minderheit, d. h. de facto des Veto-Rechts einer Minderheit, wie sie John C. Calhoun mit seiner Lehre von der „concurrent majority“ zum Schutz der amerikanischen Sklavenstaaten vor dem Sezessionskrieg vorgeschlagen hat. „Concurrent“ majority bezog sich auf eine obligatorische Zustimmung der Einzelstaatslegislativen zur Gesetzgebung des Bundes. Jellinek nannte schließlich als Vorbild für Österreich die „amicabilis compositio“ zwischen den protestantischen und katholischen Teilen des Reichstags des Heiligen Römischen Reiches nach dem Westfälischen Frieden von 1648. Optionen der Wahlrechtsgestaltung können ebenso in Betracht gezogen werden wie föderalistische Konstruktionen. Probleme der Rechtsstellung von strukturellen Minderheiten spielen auch eine beträchtliche Rolle in überseeischen Staaten, in welchen Teile der Urbevölkerungen überleben, und sie wird besonders in Kanada, Australien und Neuseeland intensiv diskutiert.447 Letzten Endes können unterschiedliche Überzeugungen zwischen Mehrheit und struktureller Minderheit nur im Wege von Verhandlungen und Vereinbarungen gelöst werden. Fragen der Wahlrechtsgestaltung – Persönlichkeitswahlrecht, Listenwahlrecht oder wie immer geartete Kombinationen, Wahlkreiseinteilungen etc. – sind zweitrangig gegenüber der Existenz des allgemeinen, gleichen Wahl- und Stimmrechts.448 Auch die sicherlich höchst wichtige Frage der politischen Parteien in der, wie ja oft gesagt wird, „parteienstaatlichen“ Demokratie rangiert erst nach der allgemeinen, gleichen, geheimen Stimmberechtigung selbst. Vom Primat der allgemeinen Wahlberechtigung her gesehen ist allerdings das Phänomen sinkender 446 Georg Jellinek, 1898: Das Recht der Minoritäten. Flaig hat in dem oben erwähnten Werk „Die Mehrheitsentscheidung“ (480, 502) zwar Jellineks Schrift genannt, dessen dort vorgelegten Vorschläge zur Problematik struktureller Minderheiten aber keineswegs thematisiert. Zu dieser Problematik Gerald Stourzh, 2000b: Verfassung und Verfassungswirklichkeit Altösterreichs in den Schriften Georg Jellineks, in: Stanley Paulson/Martin Schulte, Hg.: Georg Jellinek – Beiträge zu Leben und Werk, 247–260, hier 259–260. 447 Der kanadische Autor Will Kymlicka hat die „klassische“ Theorie der liberalen Demokratie (etwa auch bei Dworkin oder Rawls) dafür kritisiert, dass sie viel zu häufig von einer homogenen Bürgerschaft des demokratischen Staates ausgehe. Er hat sich leider mit der innovativen Literatur zum österreichischen Nationalitätenrecht um 1900 gar nicht befasst; der Name des originellsten Autors, Karl Renner, wird gar nicht, Otto Bauer einmal genannt, aber nicht diskutiert. Will Kymlicka, 1995: Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights. Vgl. auch Pettit 2000a, bes. 211–215. 448 Rosanvallon 2001, 21.
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Wahlbeteiligung (im Unterschied zur legitimen, aber selten verwendeten Abgabe „weißer“ Stimmzettel) kritisch zu bewerten. Diese Tendenz mag zahlreiche Quellen haben: Die zunehmende Individualisierung im Sinne einer mentalen „Privatisierung“, auch die Ökonomisierung der Gesellschaft und die damit verbundene Abwertung, auch Schrumpfung des politischen Raumes, etwa durch die Auslagerung früher „hoheitlicher“ Aufgaben an Private (sehr problematisch im Sicherheitsbereich).449 Der „Bürgersinn“ ist wohl zurückgegangen,450 die ihn vielfach ersetzenden „NGOs“ engagieren sich häufig in grenzüberschreitenden Anliegen (was keineswegs negativ gemeint ist). Auch Bevölkerungsveränderungen durch große Migrationsströme mögen zur genannten Tendenz beigetragen haben. Was immer ihre Gründe sind, sie ist kritisch zu sehen. Zwei Kommentare zum „gleichen“ und zum „geheimen“ Stimmrecht. Die Einführung des gleichen (zunächst Männer-)Wahlrechts seit der Mitte des 19. und in den Anfängen des 20. Jahrhunderts ist eines der zwei wichtigen und erfolgreichen Instrumente in den Händen der Industriearbeiterschaft, besonders der Sozialdemokratie, gewesen. Das zweite große Instrument, um die „Einbürgerung des Proletairs“, das „große, der Sozietät dermalen vorliegende Problem“ zu lösen, wie sich 1835 Franz von Baader in etwas altertümlicher Sprache ausdrückte,451 war der lange währende Kampf der Arbeiterschaft um Koalitionsfreiheit, Bildung von Gewerkschaften und um Kollektivverhandlungen im Lohnbereich, die schließlich zum Kollektivvertragswesen (Tarifvertragswesen) führten. Die Weimarer Verfassung von 1919 hat sogar die verfassungsmäßige Garantie der Koalitionsfreiheit enthalten.452 Die Tarifverträge bedeuteten die „Anerkennung der Gleichberechtigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“, ist 1908 mit Recht gesagt worden.453 Gemeinsam haben die Gleichheit des Wahlrechts, die Koalitionsfreiheit und die hier nicht behandelte Einführung der Sozialversicherung die Voraussetzungen für die Errichtung der sozialen Marktwirtschaft in Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffen. 449 Von Interesse ist der Sammelband von Martin Hochhuth, Hg., 2012: Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen. Die Privatisierung existenzieller Infrastrukturen. 450 Das neuestens in Österreich zu beobachtende Wachstum von öffentlichen Petitionen und Anträgen für Volksbegehren scheint allerdings in die entgegengesetzte Richtung zu deuten 451 Franz von Baader, Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät in betreff ihres Auskommens, sowohl in materieller als intellektueller Hinsicht, aus dem Standpunkte des Rechts betrachtet (München 1835), zit. bei Gerald Stourzh: Zur Institutionengeschichte der Arbeitsbeziehungen und der sozialen Sicherung, in: Ders.: Wege zur Grundrechtsdemokratie ( = Stourzh 1989), 337. 452 Art. 159 der Weimarer Reichsverfassung, zit. ebd. 344. 453 Der deutsche Zentrumsabgeordnete Kornelius Trimborn, zit. ebd., 346.
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Zum geheimen Wahlrecht: Wirklich „freie“ Wahlen sind erst mit der Einführung der geheimen Stimmabgabe möglich geworden. Die geheime Stimmabgabe in der Wahlzelle – erst eine Errungenschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts454 – symbolisiert den wichtigsten Aspekt des Wahl- oder Stimmrechts: die Alternative zur Gewalt, zur Drohung oder Ausübung von Gewalt, ja, letzten Endes zum Tod durch Waffengewalt zur Erreichung politischer Ziele. Dies hat niemand eindrucksvoller dargelegt als der Schriftsteller Elias Canetti in seinem großen Werk „Masse und Macht“. In Wahlkämpfen, schreibt Canetti, sei so ziemlich alles erlaubt. Doch in dem Augenblick, in dem der Wähler die Wahlzelle betritt, um geheim seine Stimme abzugeben, wird alles anders: „Aber der Moment, in dem er dann wirklich wählt, ist beinahe heilig, heilig sind die versiegelten Urnen, die die Wahlzettel enthalten; heilig der Vorgang des Zählens. Das Feierliche in all diesen Verrichtungen entstammt dem Verzicht auf den Tod als Instrument der Entscheidung. Mit jedem einzelnen Zettel wird der Tod gleichsam weggelegt. Aber was er bewirkt hätte, die Stärke des Gegners, wird in einer Zahl gewissenhaft verzeichnet. Wer mit diesen Zahlen spielt, wer sie verwischt, wer sie fälscht, lässt den Tod wieder ein und ahnt es nicht.“455
Ich lade den Leser – die Leserin – ein, sich nach Lektüre von Canettis Worten an die Symbolik des Titelbildes dieses Buches zu erinnern: Der sein Wahlrecht ausübende Nelson Mandela bei den ersten freien Wahlen in Südafrika im Jahr 1994 – ein Mann, der zuvor 27 Jahre seines Lebens in Gefangenschaft verbracht hatte und nunmehr erstmals sein Stimmrecht ausüben durfte. Vielleicht, vielleicht vermag ein Blick auf dieses Foto den einen oder die andere davon abhalten, bei der nächsten Wahl „zu Hause“ zu bleiben.
454 Die moderne Entwicklung des geheimen Wahlrechts setzt 1856 in der Kolonie Victoria in Australien ein (daher die Bezeichnung „Australian ballot“). Hierzu Hubertus Buchstein, 2000: Öffentliche und geheime Stimmabgabe. Eine wahlrechtshistorische und ideengeschichtliche Studie, 318–325. In dieser bemerkenswerten, von der Antike bis in die Moderne reichenden Studie werden auch grundsätzliche Erwägungen zu Aufweichungen (Briefwahl, Internetwahl) und demokratiepolitischen Problemen des geheimen Wahlrechts angestellt. 455 Elias Canetti, 1980 (1960): Masse und Macht, Fischer Taschenbuch, 222.
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Conclusio: Die beiden Brennpunkte der modernen Isonomie
Die vorhin genannten sechs Komponenten der politischen Lebensform zumindest in jenen Ländern, die sich in der Gegenwart auf Demokratie und Menschenrechte berufen, möchte ich mit dem gemeinsamen Namen „Moderne Isonomie“ bezeichnen. In jeder der sechs genannten Komponenten steht der einzelne Mensch als Rechtsperson im Mittelpunkt. Ob als Rechtsfähiger, der „die Rechtsordnung in Bewegung setzen“ kann (1), ob als Träger „gleicher Rechte“ (2), ob als Träger von in der Verfassung verankerten „Grundrechten“ – wenn auch noch ohne Klagerecht (3) –, ob als potenzieller Kläger oder Beschwerdeführer wegen Verletzung von durch die Verfassung gewährleisteten Grundrechten (4), ob als Beschwerdeführer vor einem transnationalen Menschenrechtsgerichtshof – Stichwort „Individualbeschwerde (5) – oder last but not least als Wahl- bzw. Stimmberechtigter in einem demokratischen politischen System (6) – in all diesen Fällen steht das Individuum als „Rechtsperson“ im Mittelpunkt. Dass es zahlreiche Defizite und Mängel in zahlreichen Ländern, vor allem im verfahrensrechtlichen Bereich gibt, wird keineswegs geleugnet, doch können diese Defizite dem Entwurf einer idealtypischen Isonomie nicht Abbruch tun. Aus diesen sechs Komponenten möchte ich zwei Eigenschaften des Individuums als Rechtsperson herausgreifen, die von besonderer Bedeutung für eine isonome politische Ordnung und Rechtsordnung sind: Erstens: Die Rechtsperson als Trägerin des Rechts auf politische Teilhabe, kulminierend im Wahl- oder Stimmrecht. Zweitens: Die Rechtsperson als Trägerin des Rechtes, „die Rechtsordnung in Bewegung zu setzen“ und, gewissermaßen als Kulminationspunkt dieses Rechts, Verfassungsbeschwerden zu erheben oder sogar den Staat wegen Menschenrechtsverletzungen vor einem Menschenrechtsgerichtshof zu klagen. Dies lässt sich mit etwas Fantasie in Gestalt einer Ellipse mit zwei Brennpunkten darstellen.
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Der eine Brennpunkt: Die Rechtsperson als Trägerin des Rechts auf politische Teilhabe: Dieses Recht besteht nicht nur im aktiven Wahl- oder Stimmrecht von der lokalen Ebene bis zu nationalen oder auch Europa-Wahlen. Dazu zählt auch das passive Wahlrecht, also das Recht, als Kandidat oder Kandidatin bei öffentlichen Wahlen ebenfalls auf allen Ebenen, von der Gemeinde- bis zur Europawahl, aufzutreten und gegebenenfalls gewählt zu werden. Die Tätigkeit in gewählten Entscheidungsgremien, wiederum von der lokalen Ebene über Zwischenparlamente in Staaten mit föderaler Gestaltung oder direkt zu den nationalen Parlamenten und in Europa noch weiter zum Europäischen Parlament, zählt ebenso zur politischen Teilhabe wie die Möglichkeit, als Mitglied von politischen Parteien oder Interessenvertretungen an der Vorbereitung politischer Entscheidungen teilzunehmen. Im Zentrum all dieser Möglichkeiten – und als wichtigstes Symbol der politischen Teilhabe – steht aber nach wie vor das Stimmrecht: das aktive Wahlrecht oder gegebenenfalls das Stimmrecht bei Sachentscheidungen (Referenden). Der zweite Brennpunkt: Die Rechtsperson als Trägerin des Rechts, „die Rechtsordnung in Bewegung zu setzen“: Aus diesem sehr umfassenden Recht mit vielfachen Ausprägungen, insbesondere im Bereich des Privatrechts, aber auch im Bereich des Verwaltungsrechts von Anfechtungen von Bescheiden bis zu den (neueren) Beschwerdemöglichkeiten bei Ombudsleuten, greife ich das Recht heraus, Beschwerden gegen Verletzung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechte zu erheben oder sogar den eigenen Staat vor einem internationalen Gericht wegen Menschenrechtsverletzungen zu klagen. Die moderne Isonomie hat also zwei Brennpunkte: einen demokratischen Brennpunkt und einen im weiteren Sinne rechtsstaatlichen, im engeren Sinne jedoch grundrechts- und menschenrechtsschützenden Brennpunkt. Ich befürworte die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit, insbesondere in ihrer Funktion als Grundrechtsgerichtsbarkeit, obgleich Fehlurteile keineswegs auszuschließen sind. Ich erinnere an zwei berüchtigte Fehlurteile des amerikanischen Supreme Court, den Dred-Scott-Fall von 1857, der das Weiterbestehen der Sklaverei billigte, und den Fall Plessy v. Ferguson von 1896, der rassentrennende Einrichtungen billigte, solange sie „gleich“ wären – was in der Praxis aber nie der Fall war. In Europa kommen zur weitverbreiteten staatlichen Verfassungsgerichtsbarkeit noch der europäische Grundrechtsschutz des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg (Europäische Union, Europa der 28) und der Menschenrechtsschutz des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (Europarat, Europa der 47).
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Es gibt manche Stimmen, die aus Sorge um eine Ausdünnung der Demokratie den zunehmenden Einfluss der Verfassungsgerichtsbarkeit oder auch der transnationalen Menschenrechtsgerichtsbarkeit skeptisch sehen. Ich nenne drei solcher Stimmen: den Kanadier Ran Hirschl in seinem Buch „Towards Juristocracy. The Origins and Consequences of the New Constitutionalism“ von 2004, das sich mit vier außereuropäischen Staaten – Kanada, Israel, Neuseeland und Südafrika – befasst, die Schweizer Juristin Gret Haller in ihrem Buch „Menschenrechte ohne Demokratie?“ und die deutsche Politologin Ingeborg Maus in einem Aufsatz von 1999.456 Neuestens haben Armin von Bogdandy und Ingo Venzke den Versuch unternommen, verschiedene Methoden zur nachhaltigeren demokratischen Legitimität internationaler Gerichtshöfe zur Diskussion zu stellen.457 Als bestes Mittel der Transparenz und insofern einer demokratiefreundlichen Gerichtsbarkeit sehe ich die Praxis veröffentlichter Minderheitsvoten und Separatvoten an, wie sie im anglo-amerikanischen Raum, aber auch beim deutschen Bundesverfassungsgericht, beim Straßburger Menschenrechtsgerichtshof und beim Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof praktiziert wird – leider nicht etwa beim Europäischen Gerichtshof der EU oder beim österreichischen Verfassungsgerichtshof. Diese Praxis ist ein großartiges Instrument zur „Verlebendigung“, zur Veranschaulichung des Rechts und des juristischen Diskurses.458 Wie etwa amerikanische Höchstrichter innerhalb ein und derselben Entscheidung einander gegenseitig kritisieren, wenngleich der Mehrheitsentscheid sogleich zu geltendem Recht mutiert, ist lehrreich.459 Den Skeptikern möchte ich auch entgegenhalten, dass der Siegeszug der individuellen Verfassungsbeschwerde oder Individualbeschwerde in den Ländern, wo sie zugelassen ist, außerordentlich ist. Versuche, die Individualbeschwerde abzuschaffen, hat es gegeben und kann es wieder geben; solche Versuche sind als Angriff der Machtträger auf den Grundrechtsschutz oder Menschenrechtsschutz zu qualifizie-
456 Ran Hirschl, 2004: Towards Juristocracy. The Origins and Consequences of the New Constitutionalism; Haller, 2012; Maus, 2011 (1999). 457 Armin von Bogdandy/Ingo Venzke, 2014: In wessen Namen? Internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens. 458 Eine überzeugende theoretische Begründung der Veröffentlichung von Sondervoten findet sich bei: Thomas Osterkamp, 2004: Juristische Gerechtigkeit. Rechtswissenschaft jenseits von Positivismus und Naturrecht, 186. 459 Die bereits erwähnten Fälle Schuette v. Coalition to Defend Affirmative Action vom April 2014 und Obergefell v. Hodges vom Juni 2015 liefern eindrucksvolle Beispiele gegenseitiger sehr kritischer Wortmeldungen, die jedoch am Grundsatz, dass der Mehrheitsentscheid geltendes Recht schafft, nichts ändern.
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ren.460 Individualbeschwerden vor Verfassungsgerichten stützen sich, wie bereits erwähnt, besonders häufig auf die behauptete Verletzung des Gleichheitssatzes. Bezüglich des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte möchte ich an die in Abschnitt 5 des Kapitels III genannte, schier unglaubliche Zahl von Beschwerden erinnern, die an ihn herangetragen werden. Teile der Rechtsprechung des Gerichtshofs rufen, nicht überraschend, Kritik von Mitgliedstaaten hervor. Erst kürzlich hat der britische Premier Cameron damit gedroht, das Vereinigte Königreich könnte aus der Europäischen Menschenrechtskonvention austreten.461 Nicht zu vergessen ist, dass nicht bloß Entscheidungen nationaler Verfassungsgerichtshöfe, sondern auch Urteile des Straßburger Gerichtshofs und auch des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft zu Änderungen in der nationalen Gesetzgebung von Mitgliedstaaten geführt haben. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs hat sogar zu einer Änderung eines Artikels des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland geführt, wie bereits erwähnt wurde.462 Der einzelnen Rechtsperson steht also – je nach Maßgabe der nationalen Verfassungsbestimmungen und der Inkorporierung internationaler Menschenrechtsinstrumente – (möglicher) Einfluss auf die Gesetzgebung nicht nur als Stimmberechtigter, sondern auch als Beschwerdeführer zur Verfügung In meinen abschließenden Überlegungen zur Isonomie möchte ich an einen Text von Thomas Jefferson anknüpfen, aus dessen erster Inaugurationsrede von 1801. Er sprach von „diesem geheiligten Prinzip, dass, obgleich der Mehrheitswille in allen Fällen zu obsiegen hat, dieser Wille, um rechtens zu sein, vernunftgemäß sein muss; dass die Minderheit ihre gleichen Rechte besitzt, die gleiche Gesetze zu beschützen haben, und die zu verletzen Unterdrückung bedeuten würde“. Im englischen Originaltext: „All, too, will bear in mind this sacred principle, that though the will of the majority is in all cases to prevail, that will to be rightful, must be reasonable; and that the minority possess their equal rights, which equal laws must protect, and to violate which would be oppression.“ 463 Die Formel „... that the minority possess their equal rights, which equal laws must protect“ kann wohl als 460 Hans Kelsen wandte sich energisch und erfolgreich gegen die Absicht der österreichischen Regierung im Jahre 1929, die Individualbeschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof abzuschaffen. Hans Kelsen, 1929: Die Verfassungsreform, in: Juristische Blätter, Bd. 58, 453–457, hier 455. 461 Am 29. September 2013 anlässlich einer Konferenz der Conservative Party in Manchester in einem Interview für BBC1; mehrfache Hinweise im Internet. 462 Vgl. oben S. 101. 463 Zit. u. a. in Gerald Stourzh/Ralph Lerner/H. C. Harlan, Hg., 1966: Readings in American Democracy, 2nd ed., New York 1966, 122 (meine Übersetzung).
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eine klassische Formulierung des Prinzips der Isonomie angesehen werden. Die kleinste Minderheit ist immer das einzelne Individuum – womit wir neuerlich beim Schutz der Rechte des einzelnen Menschen als Rechtsperson und damit letztlich beim Schutz der Rechte aller, der Menschenrechte, angelangt sind. Jeffersons blendende Rhetorik war dazu angetan, eine Aporie zu überdecken. Es sei an Kielmannseggs Hinweis erinnert, dass der Verfassungsstaat als Synthese zweier verschiedener Grundprinzipien zu verstehen sei, zwischen denen keine prästabilisierte Harmonie herrsche. Dies gilt ebenso für die moderne Isonomie. Die Aporie ist folgende: Wie kann man reagieren, wenn der Mehrheitswille nicht „reasonable“, daher nicht „rightful“, aber eben doch „in all cases“ durchzusetzen ist? Jefferson selbst, ein scharfer juristischer Denker, war sich bei dieser Mahnung an den Gesetzgeber vermutlich eines seiner eigenen bedeutendsten gesetzgeberischen Erfolge bewusst: des bereits erwähnten „Virginia Statute of Religious Freedom“, der Abschaffung der anglikanischen Staatsreligion und der Erklärung der unbeschränkten religiösen Freiheit in Virginia, von ihm 1777 konzipiert, doch erst 1786 von der Legislative als einfaches Gesetz angenommen. Ausdrücklich hieß es darin, wenn der Gesetzgeber dieses Gesetz als unwiderruflich bezeichnete, hätte dies keinerlei rechtliche Wirkung, denn die gegenwärtige Legislative könne nicht verhindern, dass eine zukünftige Legislative dieses Gesetz widerrufe oder einschränke. Aber es hieß weiter, dass die gegenwärtige Legislative die in diesem Gesetz über Religionsfreiheit beschlossenen Rechte als zu den „natural rights of mankind“, zu den natürlichen Rechten der Menschheit, gehörig ansehe und dass ein Widerruf oder eine Einschränkung ein „infringement of natural right“ – eine Verletzung des Naturrechts – wäre.464 Eine klare Lösung: ein solches Gesetz, von einer Mehrheit beschlossen, wäre rechtsgültig; aber es wäre naturrechtswidrig. Welche Konsequenzen dies haben könnte, wurde nicht erörtert. Das einfache Gesetz, von der einfachen Mehrheit beschlossen, mit revisionsfreier endgültiger Wirkung: Das ist bekanntlich heute noch – allerdings weltweit als seltene Ausnahme, Neuseeland wäre zu nennen – die Situation im Vereinigten Königreich. Verfassungswidrige, allenfalls durch ein Verfassungsgericht aufhebbare Gesetze gibt es nicht. Es gilt die vollständige Parlamentssouveränität, genauer genommen Souveränität des Mehrheitsinhabers. Die Revision ist nur auf gleicher Ebene, allenfalls durch bis zum Widerruf gehende Novellierung, möglich – obgleich Rufe nach Einführung einer höherrangigen Bill of Rights seit Jahrzehnten auch von sehr prominenter juristischer Seite erhoben wurden und in der Gegen464 Text u. a. abrufbar im Internet: http://en.wikipedia.org/wiki/Virginia_Statute_for_Religious_Freedom.
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wart auch aus politischen Gründen – Kritik an der „Straßburger“ Judikatur – zunehmen.465 England hat sich also bis jetzt der Jefferson’schen Aporie durch den klaren Primat der parlamentarischen Mehrheitsentscheidung entzogen. Auf genau entgegengesetzter Seite hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland den Mehrheitsentscheid, sogar den verfassungsändernden Mehrheitsentscheid, in bestimmten Bereichen außer Kraft gesetzt. Es handelt sich um die Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes. Wie bereits erwähnt, postuliert Artikel 1, dass die Menschenwürde unantastbar sei, und dass sich das deutsche Volk zu Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte bekennt. Artikel 1 stellt auch klar, dass die nachfolgend aufgezählten Grundrechte (Art. 2–19) Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden. In Artikel 20 werden Republik, Demokratie, Sozial-, Bundes- und Rechtsstaatlichkeit als „Wesensmerkmale“ (Horst Dreier) der Bundesrepublik festgehalten.466 Diese beiden Artikel 1 und 20 werden gemäß Artikel 79, Absatz 3 des Grundgesetzes der Abänderung durch den Verfassungsgesetzgeber entzogen. Die Festlegung von „Ewigkeitsklauseln“ hat in einigen europäischen Verfassungen, u. a. Tschechische Republik und Portugal, Nachahmung gefunden und findet sich auch in einigen lateinamerikanischen Verfassungen.467 Die Ausklammerung bestimmter zentraler Themen der staatlichen Gestaltung aus dem demokratischen Entscheidungsprozess ist historisch in Deutschland aus dem Trauma der legalen, wenn auch unter politischem Druck erfolgten NS-Machtergreifung468 und dem weiteren Trauma der zutiefst menschenverachtenden Vernichtungspolitik der NS-Zeit zu erklären. Die Übernahme von menschenrechtsschützenden „Ewigkeitsklauseln“ ähnlich jenen, die Artikel 1 des Grundgesetzes jeder mehrheitsgestützten Änderung entzieht, ist mit der bereits beschriebenen Renaissance des Menschenrechtsdenkens nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden. Hier wird also der Jefferson’schen Aporie zugunsten des Primats des Grund- und Menschenrechtsschutzes und zuungunsten des demokratischen Mehrheitsprinzips aus dem Wege gegangen. Mehrfach ist Kritik am Prinzip der Ewigkeitsartikel geübt worden, frühzeitig etwa von Ernst-Wolfgang Bö-
465 Etwa bereits 1974 Sir Leslie (später Lord) Scarman, 1974: English Law – The New Dimension, 14–21, 69, 77. Auch der Human Rights Act, in Kraft seit 2000, hat an der Souveränität des Parlaments nichts geändert. S. o. S. 118–119. 466 Horst Dreier, Hg., 1998: Grundgesetz. Kommentar, Bd. II, Artikel 20–82, 1. 467 Vorzüglich zur Gesamtproblematik Horst Dreier, 2009: Gilt das Grundgesetz ewig?, 61–62. 468 Die Mehrheit für das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933 wäre auch ohne den vorhergehenden Ausschluss der kommunistischen Abgeordneten zustande gekommen. Es stimmten nur die Sozialdemokraten dagegen.
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ckenförde, der die Frage gestellt hat, welche Selbstgewissheit ein Volk habe, „wenn es glaubt, die sogenannten Grundwerte seiner Lebensordnung und seiner politischen Ordnungsform mit Rechtszwang unantastbar festlegen zu müssen, für sich selbst und für die künftigen Generationen, denen damit ihre eigene Mündigkeit im voraus abgesprochen wird.“469 Eingehend hat Horst Dreier die „Verfassungsverewigung“ kritisiert.470 Könnte man im britischen Fall wegen der Absenz einer höherrangigen Verfassung oder einer höherrangigen Bill of Rights – jene von 1689 ist es ja eben nicht! – und daher auch dem Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit von einer „unvollständigen“ Isonomie sprechen, so könnte man andererseits die deutsche Festschreibung von der Verfassungsänderung entzogenen Grundsätzen als „Übersteigerung“ des Isonomieprinzips ansehen. Allerdings kommt bisher dieser Festschreibung keine praktische, sondern rein symbolische Bedeutung zu. Die große Mehrzahl der Staaten, die sich als liberale oder rechtsstaatliche Demokratien betrachten, hat eine stabile Balance zwischen den beiden Brennpunkten der Isonomie, Demokratie und Menschenrechtsschutz, gefunden. Dies geschieht in einem Mehrebenensystem aus einfacher Gesetzgebung, Verfassungsgesetzgebung – bisweilen selbst auf zwei Ebenen (etwa in Österreich einfache Verfassungsänderung durch Zweidrittelmehrheit, Gesamtänderung durch Volksabstimmung), fallweise speziellen Vereinbarungen zwischen strukturell verschiedenen Bevölkerungsgruppen (klassisches Beispiel Belgien), unterschiedlichen Formen der Verfassungskontrolle einschließlich der Grundrechtskontrolle sowie in Europa der Unterwerfung unter den Europäischen Gerichtshof der Menschenrechte und im EU-Rahmen unter den Europäischen Gerichtshof und in Lateinamerika unter den Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof. Dass jeder einzelne der Staaten, die zur Gruppe isonomer Staaten gezählt werden können, in ein oder anderer Weise von dem hier präsentierten Idealtypus der Isonomie abweichen, ist nicht als Defizienz anzusehen, sondern gehört zum Wesen der idealtypischen Konstruktion. Wenn Gleiches gleich, Ungleiches ungleich behandelt wurde und behandelt werden soll, dann hat sich mit den im vorigen Kapitel skizzierten Angleichungen der Status der Menschen und Menschengruppen, die früher als ungleich (an Rechten), später als „an Rechten gleich“ angesehen wurden, radikal geändert. Viele Menschengruppen, die in der ferneren und nicht so fernen Vergangenheit als „ungleich“ angesehen wurden – Sklaven, unfreie Bauern, Häretiker, Juden, Indigene, 469 Ernst-Wolfgang Böckenförde, 1969: Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: Festschrift für Adolf Arndt, 75, zit. bei Dreier 2009, 63. 470 Dreier, Kap. III, „Verfassungsverewigung“, 57–77.
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Frauen, Homosexuelle und andere –, sind im Laufe der vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte als Ergebnis unzähliger Kämpfe um Gleichberechtigung oder Gleichbehandlung und daraus folgender Angleichungen zumindest rechtlich gleichgestellt worden und damit in den Bereich einer zumindest tendenziell isonomen Rechtsordnung geraten. Die umfassendste Form von Gleichberechtigung ist jene der Rechte aller Menschen, die „Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“.471 Dass es sich um keinen abgeschlossenen Prozess handelt, ist unschwer belegbar – siehe etwa die Stichworte „Fremde“ oder „Ausländer“.472 Dass es sich um keinen endgültig abschließbaren Prozess handelt, wird etwa durch die Stichworte „Rechte ungeborener, Rechte unmündiger, Rechte mündiger Menschen“ illustriert. Dass es sich um keinen gleichförmigen Prozess handelt, sondern um zeitlich und räumlich ungleichmäßige Entwicklungen, mit gegenläufigen, teilweise katastrophalen Prozessen konfrontiert (einige Stichworte: „terreur“, napoleonische Diktatur, „Restauration“, Kolonialismus, Rassismus, Totalitarismen der kommunistischen, faschistischen und nationalsozialistischen Variante, Genozid, Apartheid, „ethnic cleansing“ und andere), ist zu betonen. Auch in der Gegenwart und in Staaten, die grundsätzlich als isonom (ausgestattet mit demokratischem Wahlrecht und mit Grundrechts- und Menschenrechtsgarantien) zu bezeichnen wären, kann es zu demokratiepolitisch bedenklichen Tendenzen der finanziellen Ungleichentwicklung ebenso wie zu gravierenden Verletzungen von grundrechtlich oder menschenrechtlich geschützten Rechten kommen. Zu Ersteren: Die in den letzten drei Jahrzehnten zu beobachtende Vergrößerung von Ungleichheiten des Einkommens ist inzwischen vielfach dokumentiert.473 Zu Letzteren: Das altmodisch so genannte Briefgeheimnis oder die Vertraulichkeit persönlicher Kommunikation wird grenzüberschreitend verletzt, wie Informationen aus dem Jahr 2013 ergeben. Das Folterverbot ist vielfach verankert, doch Folter wird offensichtlich in vielen Staaten geübt.474 Die langjährige Festhaltung von Personen ohne Gewährung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Guantánamo) ist 471 Dieses Wort geht auf Fichte zurück, s. o., S. 14. 472 Diese groben Unterscheidungen sind vielfach in der Gegenwart zu differenzieren, man denke etwa an „EU-Bürger“ und „Nicht-EU-Bürger“. 473 Anstelle der zunehmenden Literatur verweise ich auf die Berichte der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung); zuletzt: OECD, 2015: „In It Together: Why Less Inequality Benefits All“, 336 Seiten, veröffentlicht Mai 2015. Im Internet abrufbar: http://dx.doi.org/10.1787/9789264235120-en. 474 Vgl. neuestens den Bericht des U.S. Senats vom 9. Dezember 2014 über Folterpraktiken der CIA in den Jahren nach „nine/eleven“ (2001). Es dürfte wohl leider nicht wenige Staaten geben, die ähnliche Praktiken ausüben, ohne darüber Bericht zu geben.
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allgemein bekannt. Sollte die Nichteinhaltung grundrechtlicher oder völkerrechtlicher Garantien Grund dafür sein, diese Garantien wegen vielfältiger Nichteinhaltung abzuschaffen? Sicher nicht. Doch ist die Gefahr der Opferung von Grundoder Menschenrechtsgarantien auf dem Altar der „Sicherheit“ groß. Der furchtbare Angriff vom 11. September 2001 auf New York und Washington und die darauffolgenden Maßnahmen der USA (insbesondere der „Patriot Act“) sind wohl als ein Wendepunkt zu betrachten. Das Sicherheitsbedürfnis oder einfach die Angst zahlreicher Menschen vor Terroranschlägen ist im Wachsen, und die Erosion von Persönlichkeitsrechten ist, wie etwa die Enthüllungen Edward Snowdens 2013/2014 gezeigt haben, in vollem Gange. Eine neue Schreckensnachricht seit dem Sommer 2014 ist die Verbindung archaischer Grausamkeit mit modernsten Mitteln der digitalen Informationstechnologie im Nahen Osten, die in Verbindung mit neuen Anschlägen in Europa Folgewirkungen (Ruf nach Verstärkung der Kommunikationsüberwachungen, Vorratsdatenspeicherung etc.) zeitigt. Ist der Höhepunkt des Systems der Grund- und Menschenrechtssicherung überschritten? Eine starke Präsenz, ja, geradezu eine Priorität der Menschenrechts agenda orte ich jedenfalls im Vierteljahrhundert zwischen der Schlussakte von Helsinki 1975 mit ihrem „Korb 3“, der eine Öffnung für Menschenrechtsschutz im damaligen Ostblock ermöglichte,475 und dem eben genannten September 2001. Im Mai 1976 konnte in Moskau eine „Öffentliche Gruppe zur Förderung der Beschlüsse von Helsinki“ gegründet werden.476 Die „Charta 77“ Vaclav Havels in der Tschechoslowakei hat sich dem historischen Gedächtnis eingeprägt. Die Vorbereitung und der – plötzliche – Durchbruch der „Wende“ von 1989/90 fällt in dieses Vierteljahrhundert. Die bereits genannte Weltkonferenz der Menschenrechte in Wien von 1993, in deren Rahmen auch die Rechte der Frau eine besondere Rolle spielten, fällt ebenfalls in dieses Vierteljahrhundert. Die vierte Weltfrauenkonferenz in Beijing 1995, mit 6.000 offiziellen Delegierten und etwa 47.000 Teilnehmerinnen, fällt ebenfalls in diese Periode. Das Wachstum der transnationalen NGO‘s, über das genannte Vierteljahrundert hinausgehend, wobei besonders die Bedeutung von Amnesty International betont werden soll, ist ausdrücklich zu nennen.477Eine Prognose, wie sich nach dem Wendepunkt von 2001 und 475 Zu Vorbereitung und Zustandekommen der Helsinki-Dokumente vgl. ausführlich Eckel 2014, 733–745; vgl. auch Winkler 2014 (Bd. III), 711–718 sowie Samuel Moyn, 2010: The Last Utopia. Human Rights in History, 148–150. Moyn konzentriert sich stark und wohl zu einseitig auf die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. 476 Winkler 2014 (Bd. III), 717. 477 Sehr ausführlich Eckel 2014, Kap. 4, 207–259 und Kap. 6, 347–434.
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den Entwicklungen der allerletzten Zeit der Stellenwert der Menschenrechte auf der Prioritätenskala nationaler und internationaler Politik entwickeln wird, kann nicht gegeben werden. Doch soll folgende Überlegung nicht unterlassen werden: Im Kampf gegen Unterdrückung, wo und wann immer sie auch stattfindet, bildet das Korpus der Menschenrechte, auch der vorpositiven, dem Menschen „inhärenten“ Menschenrechte,478 wie es sich, nach dem ersten großen Durchbruch im 18. Jahrhundert und erneut ab 1945 entwickelt hat, ein Reservoir an moralischer Kraft, das auch unter widrigen Umständen, egal ob in West oder Ost oder Süd, zur Verfügung steht. Ein paradoxes Beispiel: Zu Beginn des Kampfes gegen die französische Kolonialmacht 1945 in Indochina hat der Kommunist Ho Chi Minh die Worte „Alle Menschen sind gleich geschaffen“ – die aus der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 stammen! – in die Unabhängigkeitserklärung der Demokratischen Republik Vietnam vom 2. September 1945 hineingeschrieben. Es wird berichtet, dass sich Ho Chi Minh bei Amerikanern, die im Zuge des Kampfes gegen Japan mit dem Fallschirm in Vietnam abgesetzt worden waren, nach Jeffersons Text erkundigte.479 Um wieder zu rezenteren Ereignissen zurückzukehren: Vaclav Havels „Charta 77“ ist gerade erwähnt worden. Die „Charta 08“ in China, mitverfasst von Liu Xiaobo, dem 2010, in China in Gefangenschaft festgehalten, der Friedensnobelpreis verliehen wurde, ist ein anderes, neueres Beispiel – ein Dokument, das es verdiene, wie kürzlich geschrieben wurde, ebenbürtig neben der Virginia Declaration of Rights von 1776 oder der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 genannt zu werden.480 Schon vor einem Vierteljahrhundert ist die „merkwürdige“ Hartnäckigkeit der Rede von den Menschen- und Grundrechten in einem Zeitalter des Relativismus bemerkt und kommentiert worden.481 Konventionen, insbesondere juristisch fixierte Konventionen, halten sich erstaunlich lange, selbst wenn es zur Erosion der sie ursprünglich motivierenden Antriebskräfte (Naturrechtsdenken der amerika478 Vgl. oben S. 120. 479 Gerald Stourzh, 1980 b: Einleitung zu dem Band „Europäisierung der Erde? Studien zur Einwirkung Europas auf die außereuropäische Welt“, Grete Klingenstein/Heinrich Lutz/ Gerald Stourzh, Hg., 9–14, hier 9. 480 Winkler 2015, 474–475, 481 Thomas L. Haskell, 1987/88: The Curious Persistence of Rights Talk in the „Age of Interpretation“, in: Journal of American History, Bd. 74, 984–1012. Er fügt allerdings hinzu, dass es sich vielleicht um „borrowed time“ handle, 984–1012. Haskells sehr bemerkenswerte Arbeit ist im deutschsprachigen Raum, soweit ich sehe, kaum rezipiert worden. Ein Hinweis jedoch bei Stefan-Ludwig Hoffmann, 2010: Einleitung. Zur Genealogie der Menschenrechte, in: Ders., Hg., Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, 37.
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nischen und französischen Revolution, Renaissance des Menschenrechtsdenkens nach dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg) kommen sollte. Und in der Tat, um es etwas plakativ zu formulieren: Manche Philosophen, wie etwa in Frankreich Derrida oder Lyotard, Vertreter eines kontextgelösten, „poststrukturalistischen“ Denkens, mögen intellektuelle Erfolge einheimsen. Gleichzeitig judiziert der Europäische Gerichtshof der Menschenrechte unverdrossen weiter, und buchstäblich Zehntausende von Reykjavík bis Wladiwostok, von Dublin bis Baku begehren Abhilfe der von ihnen behaupteten Verletzungen ihrer Menschenrechte und Grundfreiheiten, auch wenn nur einem kleinen Bruchteil Erfolg beschieden sein kann. 1835–1840 schrieb Tocqueville, es gebe nur zwei Wege, Gleichheit (im Sinne von Gleichberechtigung) in der politischen Welt herzustellen: „Man gewährt entweder jedem Bürger Rechte oder keinem.“482 Tocqueville meinte auch, dass mit dem Verfall religiösen Glaubens die Idee der von Gott kommenden Menschenrechte verschwunden sei, ja, dass auch mit dem Wechsel der „Sitten“ die moralische Idee von Rechten im Verschwinden sei. Wenn, so Tocqueville, es nicht gelänge, inmitten dieser allgemeinen Unruhe die Idee der Rechte mit dem persönlichen Interesse als dem einzigen unbeweglichen Ort im menschlichen Herzen zu verbinden, was würde dann zum Regieren der Welt übrigbleiben als die Furcht?483 Doch Furcht oder Angst – „la crainte“ –, das wusste Tocqueville als Kenner Montesquieus, war das Grundprinzip der Despotie.484 Abschließend präsentiere ich vier Erwägungen zugunsten des zur Diskussion gestellten Begriffs der Isonomie. Erstens: Isonomie ist (ebenso wie Demokratie) mühelos in den meisten Weltsprachen zu verwenden. Isonomie im Sinne von „Gleichberechtigungsordnung“ hat aber auch den Vorteil, den Begriff Gleichberechtigung, der weder im Französischen noch im Englischen in einem Wort existiert – es heißt „égalité des droits“ oder „equality of rights“ –, in einem auch im Englischen, Französischen und anderen Sprachen verständlichen Begriff wiederzugeben. Um an das in der Einleitung Gesagte zu erinnern: Die von Habermas so genannten „beiden miteinander verschränkten Legitimationssäulen politischer Herrschaft, Demokratie und Menschenrechte“ können mit dem einem Wort Isonomie in vielen Sprachen kurz und bündig ausgedrückt werden. Isonomie als Gleichberechtigungsordnung entspricht 482 Tocqueville/Zbinden 1987, I, 81 (Bd. I, Teil I, Kap. 3). 483 Tocqueville/Zbinden 1987, I, 357 (Bd. I, Teil II, Kap. 6; ich übersetze „intérêt personnel“ nicht, wie Zbinden mit „persönlicher Vorteil“, sondern „persönliches Interesse“). 484 Montesquieu 1956, I, 31 (erster Teil, Buch III, Kap. IX).
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dem im späten 18. Jahrhundert im Kontrast zu vormodernen hierarchischen Ordnungsvorstellungen entstandenen, im ersten Artikel der Deklaration von 1789 ausgesprochenen Grundsatz des „égaux en droits“ – „an Rechten gleich“. Zweitens: Isonomie reflektiert, wie schon eingangs gesagt, ein „nomistisches“, also ein näher dem Recht und damit auch den (gleichen) Rechten der einzelnen Menschen zugewandtes Denken. „Demokratie“ impliziert eher „kratistisches“ Denken, ist also eher dem Kollektiv des „Demos“ und dessen Herrschaft verpflichtet. Abgesehen davon, dass „Demos“, wie Kelsen betont hat, historisch oft die Nichtinklusion großer Bevölkerungsteile bedeutet hat, wissen wir auch aus der jüngsten Geschichte, wie klein der Schritt vom Primat des „Demos“ zum Primat des „Ethnos“ sein kann: Die NS-Machtübernahme in Deutschland 1933 lehrt, wie aus dem alle Bürger umfassenden „Demos“ der Weimarer Republik der ausgrenzende „Ethnos“ der NS-Herrschaft entstehen konnte. Drittens: Die Begriffe „Isonomie“ und „isonom“ sind eher fähig, staatliche Grenzen zu durchbrechen, als die stärker dem jeweiligen Demos, dem Staatsvolk, verpflichteten Begriffe „Demokratie“ und „demokratisch“. Die mehrfach erwähnte Internationalisierung oder Transnationalisierung des Menschenrechtsschutzes ist hier zu nennen, aber natürlich ebenso das Aufbrechen nationaler Souveränitäten in einem Staatenverbund sui generis wie der Europäischen Union. „Isonomie“ hat keine Schwierigkeiten, diese Systeme zu inkludieren, Demokratie (einzelner Staaten) schon eher. Allerdings blicke ich auch auf das Europäische Parlament und sehe, dass die Dinge im Fließen sind. Gibt es 28 europäische „demoi“ oder einen europäischen „demos“ – oder beides nebeneinander? Einen europäischen „demos“ sehe ich gegenwärtig kaum am Horizont, obgleich es ja seit 1992 (Vertrag von Maastricht) die „Unionsbürgerschaft“ gibt. Vielleicht gibt es zwar 28 europäische „demoi“ (es gibt ja noch viele andere außerhalb der EU), doch mit wachsenden, insbesondere parlamentarischen Chancen der gegenseitigen Verständigung und des gemeinsamen Agierens. Die endgültige Antwort muss offenbleiben. Viertens, last but not least: Sowohl in der Handhabung des Wortes „Demokratie“ als auch des Begriffs „Menschenrechte“ sind bisweilen gewisse Abnützungserscheinungen festzustellen, manchmal auch inflationäre Verwendungen.485 Jedenfalls scheint es nicht unangemessen, mit der Einführung, gewissermaßen mit der „Injektion“, eines positiv besetzten neuen, Demokratie und Menschenrechte ge485 Vor einer inflationären Anwendung des Begriffs „Menschenrechte“ warnte bereits 1999 Wolfgang Kersting, „Diät für Menschenrechte. Plädoyer für einen frugalen Universalismus“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 298, 21. Dezember 1999, 53.
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meinsam erfassenden Begriffs, eben der Isonomie, die Diskussion um Grundfragen unseres Zusammenlebens neu zu beleben und zu profilieren. Erinnern wir uns nochmals an Herodot, der Isonomie den „schönsten Namen von allen“, „oúnoma pántōn kálliston“, genannt hat. Ich werfe das Wort „Isonomie“ auf das weite Feld der Diskussion. Ob jemand den Ball aufheben und anderen zuwerfen wird, weiß ich nicht. Ich lasse es dabei bewenden, dass ich die im Jahr 1943 gegebene Anregung Johan Huizingas aufgegriffen, ausgearbeitet und weitergegeben habe.
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Diese Bibliografie betont das jeweilige Erscheinungsjahr durch Nennung unmittelbar nach dem Autorennamen. Bei den Anmerkungen im Text wird jede Veröffentlichung bei erstmaliger Nennung voll ausgeschrieben, bei wiederholter Nennung werden lediglich der Nachname des Autors/der Autorin sowie die Jahreszahl der Veröffentlichung angegeben. Auch wird die häufig übliche Nennung des Erscheinungsortes ohne Verlagsangabe unterlassen. Detailliertere Angaben sind nunmehr im Internet so rasch abrufbar – etwa im Karlsruher virtuellen Katalog –, dass eine Straffung der bibliografischen Angaben sinnvoll schien. Im Unterschied zur besonders in der juristischen Literatur häufigen Beschränkung der Vornamen auf Initialen werden Vornamen voll ausgeschrieben, weil die Beschränkung auf Initialen die Erkennung weiblicher Verfasser verhindert. Klassische Werke vor dem 19. Jahrhundert werden alphabetisch unter Autoren-, nicht Herausgebernamen verzeichnet. Bei wiederveröffentlichten Arbeiten aus dem 19., 20. oder 21. Jahrhundert wird, falls aus der Wiederveröffentlichung zitiert wird, zunächst das Jahr der Wiederveröffentlichung und hierauf in Klammer das Jahr der Erstveröffentlichung genannt. Gibt es mehrere Veröffentlichungen eines Autors in einem Jahr, werden die Arbeiten mit (a), (b) etc. versehen. Die Arbeiten von Gerald Stourzh sind in der Bibliografie II gesammelt. Von einer Auflistung der im Text genannten Urteile von Höchstgerichten in Deutschland, Österreich, Europa und den USA wurde Abstand genommen.
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Bibliografie II
Schriften von Gerald Stourzh zur Geschichte der Grund- und Menschen rechte, der Demokratie und der verfassungsmäßigen Gleichberechtigung
Vorbemerkung: Es werden zunächst die Erstveröffentlichungsdaten angeführt. Bei Wiederveröffentlichung werden auch die Daten der Wiederveröffentlichung genannt.
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Personenregister
Adamovich, Ludwig 68, 95, 109, 129 Adams, Willi Paul 56 Al-Midani, Mohammed Amin 125 Altwicker, Tilmann 84, 119 Arbour, Louise 123 Arendt, Hannah 23, 75 Ariès, Philippe 46, 49 Aristogeiton 22 Aristoteles 24, 27, Arndt, Ernst Moritz 85 Augustinus 31, 38, 43, 47–49, 50, 51 Baader, Franz von 134 Bader-Zaar, Birgitta 63, 96 Badinter, Robert 90, 91, 118 Bakke, Allan Paul 99 Balibar, Étienne 15, 23, 110 Ball, John 38 Battenberg, Friedrich 91 Bauböck, Rainer 110 Bauer, Otto 133 Beccaria, Cesare 53 Beck, Ulrich 16 Becker, Werner 37 Beierwaltes, Werner 43–44 Bekker, Balthasar 53 Benhabib, Seyla 109, 110 Bessette, Joseph 68 Black, Hugo 97 Blackmun, Harry A. 98, 99 Blackstone, William 58, 111
Bleicken, Jochen 24 Blickle, Peter 38, 85–86 Blum, Jerome 84, 85, 87 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 90, 143 Bodin, Jean 51 Bogdandy, Armin von 139 Boutmy, Emile 59 Boyd, Julian 58 Brown, Esther 83 Brown, Peter 32, 48 Brunner, Karl 46 Brunner, Otto 31 Buch, Walter 92 Buchstein, Hubertus 135 Buergenthal, Thomas 121, 123–124 Burlamaqui, Jean-Jacques 58 Burmeister, Karl Heinz 95 Calas, Jean 53 Calhoun, John C. 133 Calvin, Jean 88 Cameron, David 140 Canetti, Elias 135 Cartledge, Paul 25 Castellio, Sebastian 88 Chamberlayne, Edward 58 Charell, Erik 91–92 Chaunu, Pierre 46, 48 Chávez, Hugo 65 Chotek, Sophie 39 Cicero 18
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Personenregister
Clark, Stuart 51 Clemenceau, Georges 131 Clermont-Tonnerre, Stanislas de 91 Colliot-Thélène, Catherine 70 Condorcet, Marie Jean Caritat, Marquis de 94 Condorcet, Sophie de 94 Conrad, Joseph 102 Coornhert, Dirck Volkertszoon 88 Crouch, Colin 70
Erasmus von Rotterdam 49 Erdmann, Karl Dietrich 57 Eriugena, Johannes Scottus 44
Faller, Hans Joachim 115 Fauchet, Claude 57 Feller, Richard 46 Ferdinand II. von Tirol 39 Ferguson, John Howard 83, 138 Fichte, Johann Gottlieb 14, 144 Fichtenau, Heinrich 32, 41 Fikentscher, Wolfgang 71 Damiens, Robert 53 Finley, Moses 33, 76 Dann, Otto 15, 39, 43 Flaig, Egon 132, 133 Dante 44, 45, 46, 47 Flasch, Kurt 48 Dareios (Darius) 23, 24 Foucault, Michel 53 Davis, David Brion 78 Fraenkel, Ernst 66, 92 Delumeau, Jean 49, 50-51 Frank, Stefan Leo 109 Derrida, Jacques 147 Franklin, Benjamin 59 Diamond, Larry 72 Franz Ferdinand, Erzherzog-Thronfolger Dilcher, Gerhard 41, 93 39 Dinzelbacher, Peter 46 Dionysius (Dionysios) Areopagita 31, 44 Frenz, Barbara 41 Fried, Johannes 49 Dölemeyer, Barbara 94 Dohm, Christian Konrad Wilhelm 90, 96 Friedrich II. von Preußen 53 Fürst, Alfons 48 Drabek, Anna Maria 88 Funk, Bernd-Christian 109 Dreier, Horst 142-143 Furet, François 62 Duberman Martin 83 Duby, Georges 41 Gainot, Bernard 23-24 Dumont, Louis 37 van Gelderen, Martin 88 Dworkin, Ronald 98, 133 Gentile, Giovanni 64 Gentillet, Innocent 110 Eckel, Jan 119, 145 Gerhard, Ute 95, 97 Ehrenberg, Viktor 26 Gobineau, Arthur de 63 Ehrlich, Eugen 75 Goebbels, Joseph 64 Eike von Repgow 37 Gosewinkel, Dieter 81 Eisenbart, Liselotte 41 Gouges, Olympe de 68, 94–95 Elisabeth II. von England 118
Personenregister
Grabenwarter, Christoph 127, 130 Gravina, Giuseppe Maria 50 Grawert, Rolf 80 Grebing, Helga 66 Grégoire, Henri 57 Greive, Artur 59 Grimm, Dieter 80 Guèye, Lamine 108 Guggisberg, Hans R. 88 Guyomar, Pierre 95 Habermas, Jürgen 20, 62, 68, 72–74, 147 Häring, Hermann 48 Haller, Gret 70, 139 Hamilton, Alexander 28–29, 60 Hamm, Bernd 32 Harlan, John Marshall 83 Harmand, Jules 108 Harmodios 22 Haskell, Thomas L. 146 Hathaway, Ronald F. 44 Havel, Vaclav 145 Hayek, Friedrich A. 28 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 37 Heineccius, Johann Gottlieb 52 Heinrich IV. von Frankreich 53, 88 Hell, Jean-François 90 Heller, Kurt 116 Hengel, Martin 18 Herodot 13, 22–25, 149 Herolt, Johannes 49 Hesiod 26 Hintze, Otto 32, 42 Hipparch 22 Hippel, Theodor Gottlieb von 96 Hippias 22 Hirschl, Ran 139
Hobbes, Thomas 111 Hochhuth, Martin 134 Ho Chi Minh 146 Hofer, Andreas 47 Hoffmann, Stefan-Ludwig 146 Hofmann, Hasso 61 d’Holbach, Paul-Henri 59 Holz, Hans Heinz 37 Holzinger, Gerhard, 109 Honneth, Axel 37 Houphouët-Boigny, Félix 106 Hübener, Wolfgang 32 Hughes, Robert 48 Huizinga, Johan 13–14, 149 Humboldt, Alexander von 105 Isensee, Josef 110 Israel, Jonathan 53, 56, 59, 94 Jacobus de Voragine 45 Jakob I. von England 110 Jansen, Jan C. 101 Jauch, Ursula Pia 96 Jefferson, Thomas 60, 89, 140–141 Jellinek, Georg 59, 79, 89, 132–133 Jelzin, Boris Nikolajewitsch 65 Jesus von Nazaret 17–18, 38, 52, 57 Jezler, Peter 46 Joas, Hans 19, 53 Johann, Erzherzog von Österreich 39 Johannes XXIII., Papst 90 John of Salisbury 42 Josef II., Kaiser 53, 86 Jussen, Bernhard 42 Justinian, Kaiser 48 Kaegi, Werner 66, 67
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Personenregister
Kagan, Elena 99 Kaiser, Reinhold 32, 44 Kant, Immanuel 73, 96 Keane, John 69, 74 Kelsen, Hans 67, 112, 116, 140, 148 Kempny, Simon 81 Kennedy, Anthony 84 Kersting, Wolfgang 148 Kielmannsegg, Peter Graf 69, 70, 71–72, 141 Kirchhof, Paul 98 Kittsteiner, Heinz D. 52 Kleisthenes 22 Klerk, Frederik de 78 Klopstock, Friedrich Gottlieb 80 Kocka, Jürgen 41, 85, 86, 101 Kojève, Alexandre 37 Koselleck, Reinhart 32 Kreil, Tanja 101 Kudlich, Hans 86 Kupka, Thomas 74 Kusber, Jan 87 Kwiet, Konrad, 93 Kymlicka, Will 133 Las Casas, Bartolomé de 102 Lasker-Wallfisch, Anita 93 Le Bon, Gustave 108 Le Cour Grandmaison, Olivier 106 Leibholz, Gerhard 66, 82 Lemkin, Raphael 119–120 Lerner, Gerda 97 Levy, Ernst 76 Liu Xiaobo 146 Locke, John 58, 113 Lorenzetti, Ambrogio 41 Lovejoy, Arthur 43-44
Ludwig XIV. von Frankreich 40, 88 Luther, Martin 28, 49-50 Lyotard, Jean-François 147 Machiavelli, Niccolò 27 Macho, Thomas 14 Macpherson, Crawford B. 64, 66 Madison, James 60, 65 Mandela, Nelson 78, 135 Mantl, Wolfgang 66 Maria Theresia („Kaiserin“), Königin von Ungarn 88 Marie Antoinette, französische Königin 95 Markschies, Christoph 48 Marshall, John 68 Martinez-Alier, Verena 105 Marx, Karl 80, Masing, Johannes 81 Maus, Ingeborg 139 Maximilian II. von Bayern 56 Mayer, Hans 37 Meier, Christian 13, 25 Memling, Hans 49 Mendelssohn, Moses 90 Menzel, Adolf 26 Merkel, Wolfgang 65 Merkl, Adolf 112 Metzger, Wilhelm 76 Meyer, Jürgen 100, 129 Michelman, Frank 62, 70 Midelfort, H. C. Erik 52 Mitterand, François 117 Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 40 Mommsen, Theodor 17 Montesquieu, Charles de Secondat, baron de 14, 28, 34, 147
Personenregister
Morsink, Johannes 120–121 Mounier, Jean-Joseph 15 Mout, M. E. H. N., 87 Moyn, Samuel 145 Müller, Carl Werner 21 Müller, Jan-Werner 65, 70, 130 Münch, Paul 32 Napoleon I. 24, 106 Nohlen, Dieter 130 Nolte, Paul 13 Nowak, Manfred 122, 123 Obergefell, James 83-84, 139 Oexle, Gerhard 33–34, 41, 42, 43, 44 Orbán, Viktor 65 Origenes 48 Osterhammel, Jürgen 101, 107 Osterkamp, Jana 116 Osterkamp, Thomas 139 Ostwald, Martin 21, 25, 26 Otanes 23, 25 Ottmann, Henning 69 Pabel, Katharina 127, 130 Paine, Thomas 55, 61 Palmer, Robert R. 56, 59 Parlett, Kate 119 Pasquino, Pasquale 61, 114 Patterson, Orlando 31, 101 Paulus von Tarsus 17, 38, 44 Pelling, Christopher 23 Petersen, Johann Wilhelm 52–53 Pettit, Philip 69 Pillay, Navanethem 123 Pincherle, Alberto 48 Plato 27 Plazza, Benedetto 50
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Plessy, Homer 83, 138 Plochl, Anna 39 Plotin 43, Pöschl, Magdalena 82 Polybios 27–28 Pope, Alexander 43 Prantl, Heribert 127 Protagoras 24, 26–27 Pühler, Vinzenz von 47 Pulzer, Peter 66 Putin, Wladimir Wladimirowitsch 65 Rabinbach, Anson 120 Rae, Douglas 41, 43 Rahner, Johanna 49 Rahner, Karl 50 Ramos, Alberto Guerreiro 25 Ranke, Leopold von 56 Ravaillac, François 53 Rawls, John 133 Reimer, Philipp 81 Renner, Karl 133 Rilinger, Rolf 31, 42, 44 Robespierre, Maximilien 131 Robinson, Mary 123 La Rochefoucauld, Louis-Alexandre, duc de 59 Rohan-Chabot, Guy-Auguste, chevalier de 39 Rosanvallon. Pierre 16, 34, 61, 64, 69–70, 94, 95, 131 Rousseau, Jean-Jacques 23, 59, 66–67, 73, 111 Royer-Collard, Pierre-Paul 61 Saxonhouse, Arlene W. 23 Scalia, Antonin 84 Scarman, Leslie 142 Schiller, Friedrich 93
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Personenregister
Schlögl, Rudolf 90 Schmale, Wolfgang 57, 113 Schmitt, Carl 66, 67 Schneider, Karl H. 85, 86 Schöller, Rainer G. 40 Schröder, Wolfgang M. 71 Schubert, Ernst 40, 76 Schuette, Bill 100, 139 Schulze, Winfried 40 Schumpeter, Joseph 69 Schwaiger, Georg 52 Scott, Dred 138 Servet (Servetius), Michel 88 Sévigné, Marquise de 35 Siehr, Angelika 109 Sieyes, Emmanuel 55, 61, 66, 73, 114, 131 Simpson, A. W. Brian 126–127 Skogly, Sigrun 120 Smith, Melancton 112 Snowden, Edward 145 Snyder, Timothy 16, 93 Sonnenfels, Josef von 53 Sotomayor, Sonia 99 Spann, Othmar 19 Spinoza, Baruch 59 Sternberger, Dolf, 61 Stourzh, Herbert 19 Struve, Tilman 42 Talmon, Jacob 67 Taylor, Charles 51, 62 Tembra, Dr. 103-105 Theodosius I. 31 Thiers, Adolphe 131 Thomas von Aquin 45 Thomas von Villach 45
Thomas, Keith 45 Thomasius, Christian 52 Thürer, Daniel 121, 123-124 Thukydides 27 Tocqueville, Alexis de 34–37, 39, 43, 61– 63, 147 Trimborn, Cornelius 134 Tuchmann, Barbara 49 Urvoas, Jean-Jacques 118 Valla, Lorenzo 44 Vattel, Emer de 58 Venzke, Ingo 139 Vlastos, Gregory 21, 24 Voltaire (François Marie Arouet) 39 Vovelle, Michel 49 Walzer, Michael 62 Washington, George 89 Weber, Max 33, 34 Welser, Philippine 39 Weyer, Johann 52 Wieacker, Franz 80 Wildhaber, Luzius 127 Wilhelm I. von Oranien 88 Williams, Roger 88 Winkler, Heinrich August 56, 64, 120, 145, 146 Wolf-Phillips, Leslie 132 Wollstonecraft, Mary 96 Wright, Anthony D. 51 Wunder, Heide 94 Zakaria, Fareed 65 Zbinden, Hans 34, 62, 147 Zwahr, Hartmut 37
GERALD STOURZH
UM EINHEIT UND FREIHEIT STAATSVERTRAG, NEUTRALITÄT UND DAS ENDE DER OST-WESTBESETZUNG ÖSTERREICHS 1945–1955 5., DURCHGESEHENE AUFLAGE 2005. 848 S. 19 S/W-ABB. GB. ISBN 978-3-205-77333-7
„Stourzh ist und bleibt […] die ‚Bibel‘ zum Nachkriegsjahrzent, als Österreich ein zentraler Schauplatz des Kalten Krieges in Europa war.“ Die Presse
GERALD STOURZH
DER UMFANG DER ÖSTERREICHISCHEN GESCHICHTE AUSGEWÄHLTE STUDIEN 1990–2010 2011. 334 S. BR. ISBN 978-3-205-78633-7
„Die vorliegende Aufsatzsammlung bestätigt Stourzh’ Stellung als Doyen der österreichischen Zeitgeschichte und Meister der Verfassungsgeschichte.“ Historische Zeitschrift böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
GERALD STOURZH
SPUREN EINER INTELLEKTUELLEN REISE DREI ESSAYS 2009. 172 S. 8 S/W-ABB. GB. MIT SU. ISBN 978-3-205-78358-9
„Der Respekt vor der Person des Einzelnen, der alle Arbeiten von Stourzh durchzieht, soll auch für ihn selbst gelten: Respekt Professor Stourzh!“ Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung
HERBERT STOURZH
GEGEN DEN STROM AUSGEWÄHLTE SCHRIFTEN GEGEN RASSISMUS, FASCHISMUS UND NATIONALSOZIALISMUS 1924–1938 HERAUSGEGEBEN VON GERALD STOURZH 2008. 186 S. BR. ISBN 978-3-205-77875-2
Herbert Stourzh begann schon Mitte der 1920er Jahre, gegen Rassismus, Nationalismus und Staatsvergötzung zu schreiben. Er verfocht eine pazifistische Weltsicht, die auf der Ethik der Bergpredigt beruhte. böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar